3.5.2. Odyssee-Reader

Ludwig Wittgenstein: Die Traktatusodyssee für die FinderApp WiTTFind.

3.5.2.1. weiterführende Protokolle:

3.5.2.2. von Dr. Martin Pilch:

Ich habe mir am Wochenende überlegt, was man mit den von mir in den letzten Jahren herausgearbeiteten Daten zum PT und zur Arbeitsweise Wittgensteins am besten anfangen kann – ich meine aus Sicht neuer computerunterstützter Darstellungsformen und habe folgende Idee entwickelt, die ich Dir vorstellen möchte.

Das eigentlich Wertvolle an meiner Arbeit ist weniger das Aufbereiten von Texten wie dem PT (neue Lesarten, Sichtbarmachen von überschiebenem Text etc.), sondern die ganz neue Sichtweise auf den Komplex: dabei ist das Wichtigste, das MS 104 als eine Art Logbuch zu verstehen, das nicht nur die Erstfassung des Tractatus enthält, sondern auch alle Information um seine Entstehung in chronologischer Reihenfolge zu rekonstruieren.

Meine bisherige Darstellung in den Prototractatus Tools (PTT) bei Alois in Bergen versucht das zwar (mit der Hilfe von Farben) sichtbar zu machen, aber die Serie von pdf hat immer noch etwas sehr Statisches. Man kann mit diesem Hilfsmittel die Dynamik des Ganzen nur schwer zeigen. Dabei ist durch die Analyse fast alle Information Information vorhanden, die man braucht um den Schreibprozeß Wittgensteins dynamisch – d.h. in der Art einer Animation – darzustellen, und zwar Zeile für Zeile, von Bemerkung zu Bemerkung und von Korrektur zu Korrektur, z.T. in zwei oder drei Manuskripten/Typoskripten gleichzeitig. Meines Wissens ist noch nie versucht worden, ein bedeutendes philosophisches Werk so in seiner Genese zu präsentieren. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, eine geeignete Präsentationsform zu entwickeln – aber das müßte genau in Deinem Aufgabenfeld liegen.

Was mir vorschwebt, möchte ich kurz skizzieren:

Das Ganze soll in eine Darstellung des Tractatus münden, die Wittgenstein konkret an der Arbeit zeigt, während wir ihm über die Schulter blicken; ein Titel könnte etwa sein:

“Early Wittgenstein at Work: the Tractatus Odyssee – line by line in chronological development”

Mit der vorhandenen Information kann man nicht nur die Entstehung von MS 104 genau nachzeichnen, sondern auch die Korrekturphase im Übergang von MS 104 zu TS 204 und TS 202. Dabei hat Wittgenstein ein TS des PT zerschnitten und die Textstreifen neu zusammengesetzt und handschriftlich korrigiert. Das müßte in einer Art Animation sichtbar gemacht werden. Die Anwendung, die ich mir vorstelle, wäre so aufzubauen, daß sie einen internen Ordnungsparameter hat, der die Abfolge aller Schritte eindeutig festlegt. Die Navigation erlaubt dem Anwender einzelne Schritte vor und zurück zu vollziehen oder Sprünge zu definierten Stellen (zu einem bestimmten Datum oder einem Hauptabschnitt in einem MS etc.) Jeder Schritt ist entweder das Einfügen einer Textzeile oder die Korrektur einer Textzeile in einem (oder mehreren) der betroffenen Manuskripte (oder Typoskripte). Am Anfang zeigt der Viewer das leere MS 104, noch ohne jeden Eintrag. Der erste Schritt ist das Einfügen der Überschrift („Logsich-Philosophische Abhandlung“), der zweite das Einfügen des Mottos, der dritte der Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ usw. Am Ende, nach dem letzten Schritt zeigt der Viewer die frischerschienene zweisprachige Ausgabe des Tractatus von 1922 zum Durchblättern. Dazwischen können alle Schritte Wittgensteins beim Verfassen nachvollzogen werden – und immer ist der jeweilige Text im Hauptviewer vollständig durchblätterbar in dem (Korrektur-)Zustand, in dem er zu einem bestimmten Zeitpunkt eben befindet.

Die Oberfläche der Anwendung könnte etwa folgende Struktur haben:

Der doppelseitige Hauptviewer zeigt jeweils das Hauptdokument, an dem Wittgenstein gerade arbeitet, also am Anfang der Zeitleiste (ab Sept. 1915) MS 104; der Hauptviewer sollte in 4 Modi arbeiten:

  1. chronologisch-genetischer Modus (doppelseitig); zum durchblättern

  2. Facsimile-Modus (doppelseitig); zum Durchblättern der Facsimile-Bilder

  3. Mixed Modus (je eine Seite nebeneinander); zum Vergleich von 1 und 2

  4. PTT-Modus (einseitig); zum Aufruf der Darstellung meiner Edition

Für MS 104 (mit dem Prototractatus) wäre der Ausgangspunkt meine Darstellung PTT_A_1, also die diplomatische Transkription. Diese würde ich in einzelne Zeilen zerlegen. MS 104 hat 198 Seiten, jede Seite 26 Zeilen. Jede Seite besteht aus einer Nummernspalte und einem Textteil; also müßte sich jede Zeile in einen Block für die Satznummer (und Randzeichen) und in einen eigentlichen Textteil gliedern. Jede Zeile bekommt einen Ortsindex (MS, Seite, Zeile), einen Zeitindex (Ordnungsindex, ab wann sie sichtbar ist) und eine Versionsnummer (d.h. mit einem späteren Zeitindex kann jede Zeile wieder überschrieben werden, um Korrekturen und Streichungen oder Radierungen) darzustellen. Der interne Zeit- bzw. Ordnungsparameter läßt sich mit einem echten externen verbinden, da für jeden Schritt eine Datierung oder zumindest ein Zeitfenster rekonstruierbar ist. Neben den Zeilen müßte man auf bestimmten Seiten noch eigene Textboxen definieren für Einträge, die sich nicht an das Zeilenschema halten, wie Tabellen, Formeln. Manchmal beginnt der Text auch schon unbeabsichtigt in der Nummernspalte. Solche Sonderfälle müßten gelöst werden.

Für die Darstellung sind nur zwei Textfarben (schwarz und rot) drei Schreibweisen notwendig:

  1. Normaltext (schwarz) für Wittgensteins Handschrift

  2. Fett für Überschreibungen und

  3. abgeschattet/grau für radierten, aber noch erkennbaren Text

Wenn ein Wort im Zuge einer Korrektur überschrieben wurde, dann sollten, solange man sich mit der Maus über die (fettgeschriebene) Überschreibung bewegt, oberhalb als Kontext die Vorfassungen der betreffenden Stelle aufscheinen. Wenn man eine Bemerkung anklickt, wird in den beiden Fenstern darüber gezeigt, aus welchem anderen Vorgängermanuskript die Bemerkung stammt und worin sie sich unterscheiden; im andern Fenster sieht man, wie die Bemerkung zuletzt im Tractatus selbst aussieht.

Diese beiden Zusatzdarstellungen müßten (bei Bedarf) vom Anwender in den Hauptviewer geholt werden können, um das Umfeld jeder Bemerkung zu studieren (für MSS 101–103 ist der Text ja schon bei Alois in xml vorhanden).

Wozu braucht es den 2. und 3. Viewer? Hier wird die Sache komplizierter. Als Wittgenstein die S. 7 in MS 104 erreicht hat, schneidet er eine Seite (die jetzt zwischen Seite 2 und 3 fehlende) heraus und beginnt alle Bemerkungen auf lose Blätter zu kopieren, die die Bemerkungen der Abhandlung in der richtigen Reihenfolge nach ihren Nummern zeigen.

Dieser Stapel müßte im Viewer 2 zum Durchblättern gezeigt werden. Mit jedem weiteren Schritt wird jetzt eine Bemerkung in MS 104 dazugefügt (oder korrigiert) und gleichzeitig eine Kopie davon (oder die Korrektur) in den Stapel (im Viewer 2) an der richtigen Stelle eingeordnet.

Der Benutzer hat damit für jede Phase der Komposition (wie damals auch Wittgesntein selbst) eine komplette geordnete Version zum Studieren.

Im Moment, als Wittgenstein die S. 103 erreicht hat (März 1918), wird es spannend: der PT ist jetzt fertig; wir gehen davon aus, daß er ein Typoscript davon diktiert hat (jetzt verloren). Wenn man von den gleichen Konventionen wie beim Diktat von TS 204 ausgeht, läßt es sich aber hübsch rekonstruieren (siehe Beilage PT-TS.pdf). Arbeitsdokument (im Hauptviewer) ist jetzt dieses (rekonstruierte) Typoscript; MS 104 wandert in den Viewer 3. Die nächsten Schritte sind jetzt Korrekturen an diesem Typoscript. Immer wenn Wittgenstein dabei neue Bemerkungen formuliert und einfügt, notiert er sie in MS 104 ab S. 103 (diese Ergänzungen zeigt Viewer 3). Ab Satz 3.1 wird es aber noch komplizierter, denn jetzt beginnt Wittgenstein das PT-Typoscript in Textstreifen zu zerschneiden und die Streifen neu anzuordnen: Das TS-Typoscript wandert in Viewer 2, der Hauptviewer zeigt die neu angeordnete Version aus alten Textstreifen und neuen Korrekturen und Ergänzungen.

Ich habe einmal in einem Powerpoint-Vortrag versucht, diesen Prozeß zu zeigen (siehe Beilage Animation_Korrektur.pdf); die vollständig rekonstruierte „Korrektur“ habe ich Dir auch beigelegt (PT_Korrektur_pdf). Insgesamt gibt es 4 Hauptphasen bis zum fertigen Druck 1922:

  1. MS 104 (Sept 1915 – März 1918)

  2. „Korrektur“ (= Übergang PT zum TLP) (März 2928 – Aug. 1918)

  3. Korrekturen an TS 202 (1918/1919)

  4. Drucklegung (1921)

Für die ersten drei Phasen ist die chronologische Information im Prinzip schon jetzt vollständig vorhanden. Natürlich ist sie nicht lückenlos. Viele wesentliche Korrekturen kann man zeitlich genau einordnen. Es gibt aber immer wieder auch (kleinere) Korrekturen, für die einfach nicht erkennbar ist, wann sie durchgeführt wurden. Hier würde ich vorschlagen, dem Nutzer die Wahl zu lassen, ob sie jeweils nach Erreichen des Seitenendes eingefügt werden, oder am Ende des jeweiligen Textes.