Wowereits bester Mann ist auf dem Sprung

Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin könnte im April zur Bundesbank wechseln / Spekulationen über Nachfolge

Von Constanze von Bullion

Berlin - Es soll ein Treffen der angenehmen Sorte werden, in einem Barockschloss, das an der Müritz liegt. Die Abgeordneten der Berliner SPD wollen ab Freitag in Fleesensee in Klausur gehen, über neue Berliner Stadtquartiere diskutieren und über die energiesparende Sanierung der Stadt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hat ein Referat über die SPD in den Metropolen angekündigt, aber die größte Aufmerksamkeit wird sich wohl auf einen anderen richten: Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin, der für Unruhe sorgt.

In der Berliner Landesregierung und im Parlament geht man inzwischen davon aus, dass Wowereits wichtigster Mann die Finanzverwaltung bald verlässt und in den Vorstand der Bundesbank wechselt. Sarrazin sagt dazu nur, dass noch nichts entschieden ist, was auch stimmt, oder wahlweise: "Ich bin Finanzsenator und ich bin es gern." Er hat aber schon früher zu verstehen gegeben, dass er den Job in Frankfurt für einen passenden Abschluss seiner Karriere halten würde. Er ist bald 64 Jahre alt, wenn der nächste Berliner Senat gebildet wird, ist er fast 67, nochmal wird er nicht Finanzsenator. Ein gemütlicher Lebensabend in der Datsche aber passt nicht zu dem Mann. Also wird er wohl zupacken. Der Zeitpunkt ist günstig.

Bei der Bundesbank wird im April ein Vorstandsposten frei, turnusgemäß werden Berlin und Brandenburg einen Kandidaten vorschlagen. Wowereit wird die Personalie also mit Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck auskungeln. Der hat bislang keinen besseren Kandidaten, und auch wenn sich in Potsdam niemand an öffentlichen Personalspekulationen beteiligen will: Man wird Sarrazin wohl keinen Stein in den Weg legen. Auch Wowereit wäre schlecht beraten, Sarrazin am Abschied zu hindern, zwei Jahre neben einem missgelaunten Finanzsenator sind wenig verlockend.

Der Regierende Bürgermeister soll Sarrazins Wünsche denn auch wohlwollend aufgenommen haben. Das ändert aber nichts daran, dass er mit ihm die wichtigste Stütze seiner Regierung verlieren würde. Sarrazin hat zwar einen Ruf als rabiater Wadlbeißer, lästert mal über die träge Verwaltung, mal über übergewichtige Hartz-IV-Empfänger und kriegt dafür oft Ärger. Er gilt aber - auch bei der Linken - als Garant der schwierigen Haushaltskonsolidierung und als einer, der Berlins Ruf im Bund aufbessert.

Wer also kommt, wenn Sarrazin geht? Ingeborg Junge-Reyer ist da ins Spiel gebracht worden, die SPD-Bausenatorin. Dass die studierte Germanistin für den Finanzjob das Format hat, wird allerdings auch von Leuten bezweifelt, die ihr gewogen sind. Wenn überhaupt, hätte man im Senat wohl lieber einen jüngeren Finanzexperten, und es gibt Gerüchte, dass Wowereit sich in Hamburg nach einem umgesehen habe, aber "abgeblitzt" sei. Fände sich kein Externer, müsste der Posten mit Berliner Personal besetzt werden, da aber sieht es düster aus.

Wirtschaftsenator Harald Wolf will angeblich Finanzsenator werden, ist aber in der falschen Partei, der Linken. Der will die SPD ein so wichtiges Ressort nicht überlassen, zumal in Krisenzeiten. Innensenator Ehrhart Körting und Schulsenator Jürgen Zöllner gelten als zu alt und zu gut, um wegrotiert zu werden. Der SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Michael Müller, wurde als Sarrazin-Nachfolger gehandelt, winkt aber ab: "Ich will nicht Senator werden." Andere berichten, Müller sehe sich selbst als Wowereit-Nachfolger, falls der in die Bundespolitik gehe. Bleibt Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, der eine jüngere, angesehene Kollegin im Nacken sitzt: Linken-Fraktionschefin Carola Bluhm. Fragt man die, ob sie gern Senatorin wäre, sagt sie: "Eine Fraktionschefin hat viel zu tun, ich mache den Job gern." Das klingt nach einem lauten Ja. Aber so will sie das natürlich nicht gemeint haben.

Sarrazin, Thilo SPD-Landesverband Berlin: Nachfolge SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Jeder Vers ein Metallbolzen

Gut verriegelt: Dieter M. Gräfs Gedichtband "Buch Vier"

"Buch Vier" heißt der - Überraschung! - vierte Gedichtband von Dieter M. Gräf, und so unprätentiös der Titel zunächst scheint, so zeigt sich doch, dass auch Kürzelhaftes, ins Äußerste getrieben, einen geradezu barock-überbordenden Eindruck machen kann. Nicht blumige Fülle verursacht in diesen Gedichten ein beinahe Übelkeit erregendes Völlegefühl, sondern der durch und durch manierierte Gestus der Verknappung.

"N. überquert die Alpen, Taipeh" heißt eines, "Der Pockennarbige tötet W."ein anderes. Nicht, dass man von Napoleon und Winckelmann schon genug gehört hätte, das wohl auch, aber warum, fragt sich der vielleicht zu unbescholtene Leser, steht da bloß das Initial? Warum diese Verrätselung, wenn die Abkürzung im "Appendix" des Buches, den man ehrlicherweise wohl Anmerkungsapparat nennen müsste, aufgelöst wird? Genauso verhält es sich mit einigen Motti, die einzelnen Gedichten vorangestellt sind. Als Autoren werden da "P.P.P." und "R.D.B." ausgewiesen. Am Ende des Buches werden die Namen von Pier Paolo Pasolini und Rolf Dieter Brinkmann dann ausgeschrieben.

Überhaupt diese Anmerkungen! Es ist durchaus üblich, dass ein Lyriker ein paar Bezüge kennzeichnet, Quellen offenlegt, allein schon, um sich nicht des Plagiats verdächtig zu machen. Was Gräf da aber alles hineinschreibt, wirkt überaus eitel, ganz als wolle er sich als sein eigener Philologe betätigen. So knapp seine Gedichte sind, so wuchernd ist ihr Kommentar. Zu "Die Brustwarzen der Heiligen", einem bloß sechszeiligen Gedicht, liefert der Autor gar eine ganze, eng bedruckte Seite.

Und sonst? Unzugänglich wie ein Tresor wirkt Gräfs Lyrik. Mit jedem Vers hört man einen Metallbolzen, wie er sich ins Schloss schiebt. Der Verdacht aber bleibt, dass hinter der sorgsam verriegelten Tür Leere herrscht, nur das "sich aus/ drücken in ein glänzen/ des Nichts". Gerne übrigens setzt Gräf den Zeilenbruch mitten im Wort: "hin/ gegen", "Froh/ locken" "Gott/ heiten". Auch das äußerst manieriert.

Thematisch, so weit man das sagen kann, steht in "Buch Vier" der Tod im Vordergrund. Gleich zu Beginn montiert Gräf ein Gedicht aus einem Bericht über eine malaiische Ameisenart, die zur Feindabwehr Selbstmordattentate begeht, und Friedrich Hölderlins "Der Tod fürs Vaterland". Es endet so: "von der Basis der Kiefer/ bis zum hinteren Körper// ende) sterben lieb' ich nicht,/ doch lieb' ich zu fallen // auf den Feind gespritzt/ werden am Opferhügel/ fürs Vaterland, zu bluten - -".

Soll das nun ironisch sein? Grotesk? Oder ist es doch bloß Kunsthandwerk, billig verschraubt? Da will einer ganz viel, so der Eindruck, und bleibt doch ganz - steril. TOBIAS LEHMKUHL

DIETER M. GRÄF: Buch Vier. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008. 112 Seiten, 15,90 Euro.

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Thron der Herrlichkeit, Wonne des Erdenkreises

Seit Jahrhunderten studieren Architekten die Hagia Sophia in Istanbul. Ein neuer Band erzählt die Bildergeschichte des Bauwerks - bis zur Digitalisierung

"Du Himmel auf Erden, Thron der Herrlichkeit Gottes, zweite Himmelsfeste, Verkünderin der Werke Gottes, du einzigartiger Bau, einzigartiger Anblick, du edler Wurzel entsprungene Wonne des Erdenkreises!" Mit diesen Worten pries der Historiker Niketas Choniates 1204 die damalige Kathedrale Konstantinopels, die Sophienkirche. Seit ihrer schwindelerregend zügigen Entstehung (532 bis 537) unter dem spätrömischen Kaiser Justinian gibt die Hagia Sophia Rätsel auf. Man hat versucht, ihr mit Poesie nahezukommen und sie in die Reihe der Weltwunder aufgenommen. Seit dem neunzehnten Jahrhundert wurde sie vermessen und erforscht. Und immer hat man sie auf Zeichnungen, Stichen und Fotos gebannt, um in Bildern ihren Ruhm in aller Welt zu mehren.

Die Darmstädter Landesbibliothek hat nun in einem Bildband die Frage nach der "Medialisierung" der Hagia Sophia aufgeworfen. Seit dem ausgehenden Mittelalter haben sich Architekten aus Orient und Okzident intensiv mit dem Bauwerk auseinandergesetzt, Pläne, Risse und Ansichten gezeichnet, um die legendenumwobene Konstruktion verstehen zu können. Diese Bilder erzählen viel - wie nicht anders zu erwarten - über die jeweilige Zeit ihrer Entstehung. Guiliano da Sangallo etwa konturierte die ornamentale Wandfelderung so stark, dass sie an Marmorintarsien italienischer Renaissancekirchen erinnert. Das Barock liebte es, den gigantischen Raum mit Menschen zu beleben. Mal sind es kämpfende Muselmanen, mal verschleierte Damen, mal unbeteiligte Passanten, Repoussoirfiguren, die dem Betrachter den Weg zum Verstehen eröffnen sollen. Erst die Darstellungen des 19. Jahrhunderts ergründen nicht mehr allein die Raumdisposition, sondern das Raumerlebnis. Durch den Fensterkranz unter der goldgelben Kuppel dringt gleißender Sonnenglanz ins Innere, die massigen Bauglieder verlieren die Schwere und schweben im Licht.

Anlass des vorliegenden Bandes - der kein bibliophiles Meisterwerk ist, aber ausgestattet mit brillanten Abbildungen - war die digitalisierte Bearbeitung des Innenraumes durch die Technische Universität Darmstadt, die eine virtuelle Rekonstruktion des Urzustandes der Hagia Sophia ermöglichen soll. Der Leiter des Projekts, der Archäologe Rudolf Stichel, hat in Ergänzung der eigenen Aktivitäten die grandiosen Bestände der Darmstädter Bibliothek ausgewertet, um zu sehen, wie seine Vorgänger mit der Visualisierung des Raumwunders umgingen. In einer konzentrierten Einleitung blättert er im Kapitel der Rezeptionsgeschichte. Das geschieht mit großer Kenntnis und Gelassenheit, im Bewusstsein der Relativität des eigenen Bemühens und mit der Freude am architektonischen Faszinosum, die auch nach forschungsreichen Jahren nicht gemindert scheint. Man kann sich nur verneigen vor einem solch geheimnisvollen Bauwerk, das die letzte Weisheit wohl auf ewig für sich behalten wird. CHRISTIAN WELZBACHER

HELGE SVENSHON (Hrsg.) Einblicke in den virtuellen Himmel. Neue und alte Bilder vom Inneren der Hagia Sophia. Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen/Berlin 2008. 140 Seiten, 19,80 Euro.

Ein Blick in den Himmel der Hagia Sophia in Istanbul Foto: AP

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"Keine Wiederholungsgefahr"

Erst nach Monaten hat die Telekom in ihrer Spitzelaffäre den Streit mit einem "Capital"-Redakteur beendet

Ein gutes halbes Jahr, nachdem René Obermann Vorstandschef der Deutschen Telekom geworden war, sprach ihn im August 2007 ein Mitarbeiter aus der Sparte T-Mobile an. Er informierte den Chefmanager über einen heiklen Vorgang. Die Sicherheitsabteilung des Konzerns habe die Verbindungsdaten des Capital-Redakteurs Reinhard Kowalewsky ausgewertet, um festzustellen, mit welchem Aufsichtsrat der Wirtschaftsjournalist wann und wie lange telefoniert hatte. Der Mann von Capital hatte den Vorstand mit Geschichten über vertrauliche geschäftliche Vorgänge genervt.

Am nächsten Tag schon schaltete Obermann den Chefjustiziar und den Leiter Wirtschaftsrecht ein und bat die beiden, sofort Ermittlungen aufzunehmen. Der Sicherheitsbereich wurde kurz darauf komplett umstrukturiert, Kompetenzen wurden neu aufgeteilt und Mitarbeiter versetzt. Auch erarbeitete der Telefonkonzern einen neuen Verhaltenskodex. Nur Kowalewsky wurde über die Ausspähung nicht informiert. Die Telekom sei zunächst von einem Einzelfall ausgegangen, erklärte Obermann später. Die Späher hatten herausgefunden, dass der Redakteur mit dem damaligen Aufsichtsrat Wilhelm Wegner telefoniert hatte.

Erst als im Mai 2008 nach einer Strafanzeige des Konzerns publik geworden war, dass es offenkundig solche illegalen Aktionen in Serie gegeben hatte und die Spitzelaffäre die Medien bewegte, entschuldigte sich Obermann bei Kowalewsky sowie bei Wegner. Es sollte noch Monate dauern, bis die Telekom ein kleines Anliegen des Journalisten erfüllte und vor kurzem zusagte, die Verbindungsdaten seiner Telefonanschlüsse nicht ohne seine Einwilligung zu nutzen, zu verarbeiten oder weiterzugeben. Mit einer Einschränkung: "sofern dies nicht aufgrund gesetzlicher Grundlagen zulässig ist". Schließlich sind die Daten notwendig, um die Gespräche abrechnen zu können.

Dass der Telefonkonzern so lange gebraucht hat, um der Aufforderung des 49 Jahre alten Capital-Redakteurs nachzukommen, hat wohl mehrere Gründe, die von mangelndem Fingerspitzengefühl bei der Telekom bis zu juristischen Feinheiten reichen und im Nachhinein ziemlich grotesk wirken. Die Erklärung, Kowaleskys Daten nur legal zu nutzen, versteht sich eigentlich von selbst, gibt es doch das Post- und Fernmeldegeheimnis. In einem anderen Fall, bei dem ebenso von den Spähern erfassten Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske, ging das viel schneller. Der Gewerkschaftschef erhielt die von ihm geforderte Unterlassungserklärung binnen einer Woche.

Die Verbindungsdaten von Bsirske, dessen Organisation oft und heftig mit der Telekom über Tarifverträge und wegen Stellenstreichungen streitet, sollen ein einziges Mal von der Sicherheitsabteilung des Konzerns unzulässig erfasst und ausgewertet worden sein. Ganz anders als bei Kowalewsky, dem Telekom-Experten von Capital, über dessen Geschichten sich die alte Konzernspitze offenbar wiederholt geärgert hatte. Die Staatsanwaltschaft Bonn und das Bundeskriminalamt messen noch immer die Ausmaße der Affäre aus, doch eines steht schon fest: Keiner wurde so lange und so konsequent ins Visier genommen wie Kowalewsky. Insgesamt waren knapp 60 Personen, darunter vor allem Gewerkschafter und Journalisten, bespitzelt worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Ex-Vorstandschef Kai-Uwe Ricke, den früheren Aufsichtsratsvorsitzenden Klaus Zumwinkel, und weitere Beschuldigte. Ein ehemaliger Telekom-Manager sitzt in Untersuchungshaft.

Künftig droht Schadenersatz

Gut zehn Wochen nachdem die Spitzeleien öffentlich bekannt geworden waren, hatte Kowalewsky Ende Juli 2008 Klage beim Landgericht Bonn gegen die Telekom erhoben. Mit Unterstützung seines Verlags Gruner + Jahr, der offenbar gerne noch härter gegen den Telefonkonzern vorgegangen wäre als der Wirtschaftsredakteur, dem es nur um die Unterlassungserklärung ging. Doch die Frankfurter Anwälte der Telekom stellten sich stur und reichten noch im November bei Gericht einen Schriftsatz ein, der teilweise ein Ausdruck von Ignoranz war. Die "ernsthafte Gefahr einer Wiederholung" bestehe nicht, schrieben die Juristen. So werde aufgrund der intensiven Berichterstattung in der Presse künftig niemand mehr annehmen können, solche Ausforschungen seien in irgendeiner Form zulässig. Außerdem werde mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft, wer gegen das Fernmeldegeheimnis verstoße, was ebenfalls gegen eine Wiederholung spreche. Die Strafnorm hatte frühere Konzernmitarbeiter freilich nicht von den Spitzeleien abgehalten.

Andererseits trug die Telekom bei Gericht auch vor, die von Gruner + Jahr geforderte Erklärung gehe zu weit. Werde es dem Konzern verboten, die Verbindungsdaten von Kowalewsky zu erheben, dann werde der Redakteur "keine Telefonate mehr führen können". Kowalewsky wurde das alles irgendwann zu bunt. Er rief den für Datenschutz zuständigen neuen Telekon-Vorstand Manfred Balz an, und der brachte schnell die gütliche Einigung auf den Weg. In der verpflichtet sich die Telekom auch, im Falle einer Zuwiderhandlung Schadenersatz zu zahlen, den Kowalewsky bestimmen und ein Gericht überprüfen kann.

Irgendwann einmal, wenn diese Affäre ganz aufgeklärt ist, wird der Capital-Redakteur wohl ohnehin Geld erhalten, Schmerzensgeld. 10 000 Euro oder vielleicht auch 15 000. Kowalewsky will das Geld dann spenden, an "Reporter ohne Grenzen" zum Beispiel.

HANS LEYENDECKER/KLAUS OTT

Die Zentrale der Deutschen Telekom in Bonn wird streng überwacht. Ähnlich erging es auch einigen kritischen Journalisten. Foto: dpa

Spitzelaffäre bei der Telekom 2008 Capital SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alle locken Al-Wazir

Führende Grüne drängen den hessischen Landesvorsitzenden zu einem Wechsel in die Bundespolitik - der zögert aber noch

Von Daniel Brössler

Berlin - Er kann es wahlweise als Fluch oder Segen werten: Seit dem glänzenden Ergebnis seiner Partei bei der Hessenwahl wird mächtig an Tarek Al-Wazir gezerrt. Eine ganze Reihe prominenter Grüner haben offen oder weniger offen zu verstehen gegeben, dass sie sich einen Wechsel des hessischen Grünen-Chefs nach Berlin wünschen. Noch am Wahlabend hatte der Parteivorsitzende Cem Özdemir den Hessen unverhohlen in die Bundespolitik gelockt.

Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour bedrängte Al-Wazir: "Wir brauchen jeden unserer Spitzenleute für die Bundestagswahl." Deshalb solle Al-Wazir für den Bundestag kandidieren. In der gegebenen Konstellation sei Al-Wazir unverzichtbar. Renate Künast, Chefin der Grünen im Bundestag und zusammen mit Jürgen Trittin Spitzenkandidatin für die Wahl im September, ließ zwar öffentlich größere Zurückhaltung walten, gehört aber auch zu jenen, die Al-Wazir eindringlich zu einem Wechsel nach Berlin raten.

In die Hauptstadt hat Al-Wazir signalisiert, dass er nun erst einmal ein paar Tage für sich und eine Familie brauche. Die Situation für ihn ist heikel, denn die Grünen in Hessen setzen in Ermangelung weiterer Stars auf den Verbleib ihres Spitzenmannes, dem kein kleiner Teil des 13,7-Prozent-Ergebnisses bei der Landtagswahl zugeschrieben wird. "Er hat gesagt, dass er nächste Woche wieder für den Fraktionsvorsitz kandidieren will. Darüber freue ich mich und das finde ich gut", sagt Mathias Wagner, Fraktionsgeschäftsführer der hessischen Grünen. Damit sei "das Thema zunächst erledigt", die Möglichkeit, dass Al-Wazir sich dennoch um einen hessischen Listenplatz für die Bundestagswahl bemühen könnte, sei nichts als Spekulation. " Ich verstehe, dass viele in Berlin sehen, dass wir einen absoluten Spitzenmann hier in Hessen haben", sagt Wagner, aber mit so einem "phantastischen Ergebnis hat er das erste und fast das letzte Wort."

Doch genau das ist nach Meinung von Spitzen-Grünen noch nicht gesprochen. Schon lange vor dem Erfolg bei der Hessenwahl hatten sie mit der Überzeugungsarbeit bei Al-Wazir begonnen. Ein klares Nein, das dem Werben ein Ende gesetzt hätte, ist von Seiten Al-Wazirs dabei wohl nie gefallen. Es sei doch kein Zufall, dass die Listenaufstellung für die Bundestagswahl in Hessen relativ spät stattfinde, heißt es in Berlin. Alle Hintertüren in Richtung Hauptstadt seien jedenfalls offen.

Die Gründe für das Werben sind mehrschichtig. Dass es dem 38-jährigen Offenbacher in Hessen gelungen ist, zum populärsten Politiker aufzusteigen, ist dabei der offensichtlichste. Mit Al-Wazir hoffen die Grünen stärker als bisher in bürgerliche Wählerschichten vordringen zu können. Für das derzeit kaum erreichbar erscheinende Projekt, stärker zu werden als die FDP, wäre genau dies unabdingbar. Al-Wazir jedenfalls war in Hessen ein mehrfaches Kunststück gelungen: Er hatte das gescheiterte Projekt einer rot-grünen Landesregierung mit dunkelroter Duldung vorangetrieben, ohne dafür von den Wählern in Haftung genommen zu werden. Vielmehr hatte er neben der unbeirrbar wirkenden SPD-Frau Andrea Ypsilanti den seriösen Part gegeben. Vergessen ist in Berlin, dass man nicht immer glücklich war mit dem Agieren und Taktieren des Offenbachers, den nicht wenige in entscheidenden Situationen zu zögerlich, zu langsam fanden.

Mehr als die Grünen insgesamt versprechen sich die einst Realos genannten Reformer von einem Wechsel Al-Wazirs in die Bundespolitik. Es läuft schon eine ganze Weile nicht gut für das Lager; bei Listenaufstellungen hat es so manchen Dämpfer hinnehmen müssen. Parteichef Özdemir hat das beim gescheiterten Versuch, sich in Baden-Württemberg für den Bundestag zu empfehlen, selbst erlebt. "Wir brauchen Verstärkung", ist die Einschätzung führender Reformer. Al-Wazir könnte sie liefern, denn er verfügt über ein gutes Standing in der Partei. Mit einem Spitzenergebnis von 79 Prozent wurde er jüngst in den Parteirat gewählt. Fraktionschef Fritz Kuhn, der erfahrene Häuptling der Reformer, flog aus dem Gremium hinaus.

Der Offenbacher ist zum beliebtesten Politiker in Hessen aufgestiegen

al-Wazir, Tarek B90/Grüne-Landesverband Hessen: Spitzenkandidaten B90/Grüne-Bundestagsfraktion SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Londons Strippenzieher

Wirtschaftsminister Peter Mandelson gilt als Meister der politischen Intrige. Nun muss er die britische Industrie retten

Von Andreas Oldag

Peter Mandelson hat sich in diesen Tagen Studien über die britische Wirtschaftspolitik in den 40er und 50er Jahren genau angeschaut. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Briten große Teile der Industrie verstaatlicht - und damit keine guten Erfahrungen gemacht. Eine sich krakenartig ausbreitende Staatsbürokratie beherrschte damals die Kohle- und Stahlproduktion und später auch die Autofirmen - und beschleunigte Großbritanniens Abstieg als Industrienation. Eine Wiederauflage dieser Geschichte will der neue Wirtschaftsminister im Kabinett von Premierminister Gordon Brown vermeiden. Doch es ist ein schwieriger Balanceakt angesichts der dramatischen Auswirkungen der Finanzkrise. Die Insel ist stärker als andere europäische Staaten in eine schwere Rezession abgerutscht. Banken hängen am Tropf der Steuerzahler. Schon fordern einflussreiche Labour-Politiker die vollständige Verstaatlichung von Kreditinstituten. Dagegen sperrt sich Mandelson. Bislang noch erfolgreich.

Das Problem ist, dass der Wirtschaftsminister nun aber gleich an mehreren Brandherden löschen muss. Er sei für Brown ein Feuerwehrmann, der 24 Stunden lang im Einsatz sei, meinte die Boulevardzeitung Evening Standard. Autohersteller wie Jaguar und Land Rover stehen vor drastischen Personaleinschnitten. Zwischen London und Edinburgh geht die Angst um die Arbeitsplätze um. "Britische Unternehmen sind der Lebenssaft unserer Wirtschaft. Es ist entscheidend, dass die Regierung jetzt wirkungsvoll hilft", meinte der Minister.

"Prinz der Finsternis"

Mandelson, der erst im Oktober seinen Posten als EU-Handelskommissar in Brüssel aufgab und von seinem alten Widersacher Brown nach London gerufen wurde, weiß, dass es für Großbritannien in dieser dramatischen Lage um den Fortbestand als Industrienation geht: Wie kaum ein anderes EU-Land hat die Insel in den vergangenen Jahren auf den Ausbau der Finanzdienstleistungen gesetzt. Vor allem die Millionen-Metropole London profitierte davon und zog Banker und Broker aus der ganzen Welt an. Entsprechend schrumpfte der Anteil der verarbeitenden Industrie an der Wirtschaftsleistung in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 31 auf 13 Prozent. Nun will Mandelson die Industriepolitik reanimieren und Investitionen in umweltfreundliche Energieerzeugung, Elektroautos und Biotechnologe vorantreiben. "Für New Labour ist dies ein kritischer Moment", räumte der frisch gekürte Lord ein, der nun im Oberhaus einen Sitz hat.

Der 55-Jährige hat eine beeindruckende Karriere hinter sich. In der politischen Aufstiegsphase des ehemaligen Premierministers Tony Blair war Mandelson einer der Architekten von "New Labour" - jener grundlegenden Reform also, mit der sich Labour vom verstaubten Gewerkschaftsimage abwandte. Nicht zuletzt war es Mandelson, der sich zu einer liberalen Finanzmarktordnung bekannte und die Partei darauf einschwor, in diesem Punkt das Erbe der Eisernen Lady Margaret Thatcher fortzuführen.

Schon damals avancierte Mandelson aber auch zu einem der umstrittensten britischen Politiker. Der Oxford-Absolvent, Anti-Vietnamkriegs-Demonstrant und zeitweilige Sympathisant einer kommunistischen Jugendorganisation orientierte sich rasch um in Richtung britische Oberklasse. Fortan suchte er seine Freunde vor allem unter einflussreichen Managern, Bankern und Industriellen. Zugleich zog er im Parteiapparat als Kommunikationschef die Strippen. Als Blair nach seinem grandiosen Wahlsieg 1997 als Premierminister in die Downing Street 10 einzog, installierte Mandelson so viele Medienberater wie niemals zuvor am Regierungssitz. Die Presse nannte den Großmeister der politischen Intrige den "Fürsten der Finsternis".

Einladung auf die Yacht

Zumindest intransparent waren Mandelsons private Kontakte zu schwerreichen Geschäftsleuten. Wegen Korruptionsvorwürfen und angeblicher Vetternwirtschaft verlor er zweimal - 1998 und 2001 - seine Ministerämter. 2004 ging der Labour-Politiker dann als Handelskommissar nach Brüssel, wo sich "Mandy", wie er von seinen politischen Freunden genannt wird, der britischen Tradition entsprechend für eine weitere Liberalisierung des Handels einsetzte.

"Ich bin ein Kämpfer, kein Kapitulierer", sagte Mandelson einmal in einem Interview. Diese Fähigkeit stellte er auch kurz nach seiner Berufung zum Wirtschaftsminister Ende vergangenen Jahres unter Beweis. So wurden Vorwürfe in der britischen Presse laut, dass sich Mandelson im vergangenen Sommer - also noch während seiner Amtszeit in Brüssel - mit dem russischen Oligarchen Oleg Deripaska auf dessen Super-Yacht Queen K in Korfu getroffen habe.

Delikat war die Einladung deshalb, weil Deripaska für seinen Aluminium-Konzern Rusal eine Senkung der EU-Einfuhrzölle forderte. Und für dieses Thema war Mandelson zuständig. Die EU-Kommission sah in dem Yacht-Kaffeekränzchen allerdings keinen Interessenkonflikt. Zweifel äußerte die britische Presse vor kurzem auch an der Finanzierung von Mandelsons 2,5 Millionen Pfund teuren Villa nahe des Londoner Regent's Park. Angeblich könne er aus eigener Tasche nicht so viel Geld gehabt haben, heißt es. Der Minister bestreitet die Vorwürfe. Premierminister Brown hält an seinem Krisenmanager fest. Er braucht ihn auch als gewieften "Spin Doctor" für die nächsten Parlamentswahlen, die spätestens 2010 stattfinden.

Der Gegenspieler

In Krisenzeiten sind altgediente Experten gefragter denn je. Das gilt nicht nur für Wirtschaftsminister Peter Mandelson, sondern auch für seinen konservativen Gegenspieler Kenneth Clarke. Der ehemalige Finanzminister der konservativen Regierung von John Major Anfang der 90er Jahre ist nun zum Schattenwirtschaftsminister der Tories gekürt worden. Hinter dem Schachzug steckt der neue Parteichef der Konservativen, David Cameron. Er erhofft sich von dem 68 Jahre alten Clarke frische Rezepte gegen die Rezession und natürlich auch wirtschaftspolitischen Rat für die nächsten Parlamentswahlen. Die derzeitige Wirtschaftskrise sei die schwerste, die er je erlebt habe, erklärte Clarke. Er gilt übrigens als Befürworter der europäischen Gemeinschaftswährung, die bislang von der Mehrheit der Tories strikt abgelehnt wird. old.

Peter Mandelson war einer der Architekten von Tony Blairs "New Deal", später wechselte er als EU-Kommissar nach Brüssel. Seit Oktober ist er der starke Mann im Kabinett von Gordon Brown. Foto: Bloomberg

Mandelson, Peter Regierung Brown 2007- Folgen der Finanzkrise in Großbritannien Wirtschaftspolitik in Großbritannien Wirtschaftslage in Großbritannien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Doch kein Anthrax

Die New Yorker Polizei hat das weiße Pulver, das am Mittwoch in 13 Briefumschlägen der Redaktion des Wall Street Journals zugestellt wurde, inzwischen für ungefährlich erklärt. Aus Sorge um einen möglichen Anschlag mit dem Milzbranderreger Anthrax waren zuvor zwei Etagen des Verlagsgebäudes evakuiert worden. Die mysteriösen Briefe wurden alle in Tennessee aufgegeben und waren an Führungskräfte adressiert. SZ

Anschläge mit Milzbrand-Erregern in den USA The Wall Street Journal SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Auto und die deutsche Politik: Vom Anschaffen und Abwracken

Zu wenig Geld für die Prämie

Die eingeplanten 1,5 Milliarden Euro reichen nur für jeden zweiten Interessenten. Eschborner Bundesamt berechnet die Kosten

Von Michael Kuntz

München - Schon vor der endgültigen Verabschiedung der Abwrackprämie für alte Autos im Bundeskabinett zeigt sich, dass die dafür vorgesehenen 1,5 Milliarden Euro bei weitem nicht ausreichen werden. Von diesem Geld lassen sich Prämien für maximal 600 000 Fahrzeuge finanzieren. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Puls in Nürnberg zufolge erwägen aber 1,2 Millionen Autobesitzer, ihr mehr als neun Jahre altes Fahrzeug zu verschrotten.

270 000 Anrufe an einem Tag

Die Regierung sieht den Zeitraum vom 14. Januar bis zum 31. Dezember für die Aktion vor, doch dürfte es auch nach Ansicht des Automobilclubs Europa spätestens im Herbst knapp werden. Da die Prämien erst an diejenigen ausbezahlt werden, die sie zuerst beantragen, steigt die Wahrscheinlichkeit im Jahresverlauf, bei der Verschrottung eines Altwagens leer auszugehen. Die Prognose des mit der Umsetzung beauftragten Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Eschborn bei Frankfurt fällt sogar noch um einiges vorsichtiger aus: "Angesichts des großen Programmvolumens besteht für die kommenden Wochen nicht die Gefahr, dass die Mittel bis zur Entscheidung des Bundeskabinetts am 27. Januar 2009 erschöpft sind."

Die 600 000 Autos sind zudem ein rein rechnerischer Wert. Denn von den 1,5 Milliarden Euro gehen noch die Kosten ab, die beim Bundesamt für die Abwicklung der Abwrackprämie entstehen. Da ist schon jetzt einiges los, denn bei der Telefon-Hotline gehen am Tag bis zu 270 000 Anrufe an, von denen naturgemäß nur ein kleiner Teil tatsächlich die Beamten erreicht.

Das Interesse an der Abwrackprämie ist jedenfalls riesig. Zumal sich die beteiligten Ministerien für Finanzen, Umwelt, Verkehr und Wirtschaft darauf verständigen wollen, dass auch das Leasing eines neuen Autos gefördert werden soll. Auf diese Weise würden auch Hersteller wie Audi, BMW und Mercedes etwas von der Abwrackprämie haben. Denn die Besitzer von mehr als neun Jahre alten Autos kommen wohl eher als Käufer von Gebraucht- oder neuen Kleinwagen in Frage. Das wären dann unter Umständen Autos aus italienischer, französischer, rumänischer oder koreanischer Produktion. Der deutsche Staat würde dann zwar für Arbeitsplätze sorgen, aber nicht in Deutschland, kritisieren manche Automanager.

Einzelne Autohändler berichten, ihr Verkauf von Neuwagen habe sich nach dem Kabinettsbeschluss von Mitte Januar verzehnfacht. Die Prämie wirke wie eine Initialzündung, sagt Ansgar Klein vom Bundesverband freier Kfz-Händler.

Die Unternehmensberater von Ernst & Young ermittelten bei einer Umfrage, dass 57 Prozent der Käufer, die sich aufgrund der Abwrackprämie ein neues Auto anschaffen, einen verbrauchsarmen Kleinwagen für maximal 15 000 Euro erwerben wollen. Verbraucherschützer empfehlen Käufern, trotz der Prämie nicht auf die meist weiter möglichen Rabatte zu verzichten.

Ökologische Wirkung gering

Die wirtschaftlichen Folgen bleiben abzuwarten, die ökologischen Verbesserungen durch die Abwrackprämie sind überschaubar. Die 600 000 neuen Autos der Schadstoffklasse 4 ändern am Zustand der gesamten deutschen Fahrzeugflotte wenig. Denn derzeit rollen noch viele Wagen durchs Land, die nur den Abgasnormen Euro 1 bis 3 entsprechen. Das sind etwa 20 Millionen Autos mit veralteten Benzinmotoren und rund neun Millionen Dieselfahrzeuge, die nicht mehr dem neuesten Stand der Technik entsprechen. 16 Millionen Autos kommen dem Kraftfahrtbundesamt in Flensburg zufolge für eine Abwrackprämie in Frage. Sie sind älter als neun Jahre und bei einem Verkauf weniger als 2500 Euro wert.

Alte Autos werden beispielsweise bei der Deutschen Erz- und Metall-Union in Salzgitter verschrottet. Seit der Ankündigung der Abwrackprämie haben manche Autohändler bereits einen außergewöhnlichen Anstieg der Neuwagenverkäufe registriert. Kritiker fürchten aber, dass Besitzer alter Fahrzeuge vor allem kleine Neuwagen ausländischer Konzerne kaufen. Foto: dpa

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Autorecycling in Deutschland Autohandel in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Drinks gegen den Kater

Ganz ohne Schäumchen: Das neue Foodmagazin "Effilee"

Von klein auf hat sie ihn fasziniert, die Ente. Gebraten, gegart, in jeder Form. Heute genießt er sein Lieblingsgeflügel am liebsten, nachdem es - sparsam mit Salz und Pfeffer gewürzt - etwa 80 Minuten lang im Ofen war. Und weil er es sich leisten kann, hat der Unternehmer Vijay Sapre sein Magazin auch nach der klassischen Bezeichnung für hochwertiges Geflügel benannt, das nur von seinem Darm befreit und gerupft wurde: Effilee. Mit dem neuen Heft für und über Menschen, die Essen lieben, erfüllt sich der 46-Jährige einen Traum, den sich nur einer wie er leisten kann. 1996 hatte Sapre das Internetportal mobile.de gegründet, eine Verkaufsplattform für Gebrauchtwagen, 2005 hat er sie mit hohem Gewinn an Ebay verkauft. Für Sapre, der schon als Student Geld sparte, um ein, zwei Mal im Jahr ins Nobelrestaurant zu gehen, war klar: Das nächste Mal geht es ums Essen.

Mit der Gründung des Portals kochpiraten.de, einer Art Wikipedia zum Thema, verband Sapre kulinarischen Überzeugungen und Onlinekenntnisse. Doch nach einiger Zeit wurde ihm klar, dass sich das Internetgeschäft allein nicht rechnen würde. Außerdem hatte er das Bedürfnis, nach zwölf Jahren wieder etwas Anderes zu machen, etwas zum Anfassen. Zuerst wurde aus kochpiraten.de die Seite effilee.de. Dort, quasi als Printableger, entstand dann das Heft, im eigens gegründeten Verlag in Hamburg.

Ein Neuanfang war Effilee nicht nur für Sapre, der sein Team aus ehemaligen mobile.de-Kollegen und Leuten von außen zusammenstellte. Mit sieben festen und vier freien Mitarbeitern sollte es auch ein Neuanfang im "Foodjournalismus" werden. Sapres Ziel war ein Magazin mit Geschichten von Menschen zu entwickeln, die im weitesten Sinne mit Essen zu tun haben. Hefte, in denen sich ein Rezept ans nächste reiht und jede Saison eine Zutat durch alle Menüstufen dekliniert wird, gab es seiner Meinung nach genug: "Wenn ich viele Rezepte will, kaufe ich mir ein Kochbuch, nicht ein Foodmagazin." Bei Effilee sollte die Freude am Essen im Mittelpunkt stehen. "Es gibt viele üppige, bunte oder exotische Essensmagazine", sagt Redakteur Peter Lau, der früher beim Wirtschaftsmagazin Brand eins war. "Aber Freude?"

Freude am Essen zu vermitteln klingt naheliegend, ist in dem Marktsegment aber keine Selbstverständlichkeit. Anders als in Ländern wie Frankreich gab es in Deutschland bisher nur die Extreme. Einerseits Hefte wie den Feinschmecker, die Hochglanz-Tipps für teure Menüs in abgelegenen Ferienorten präsentieren. Andererseits Publikationen wie Essen & Trinken fürs tägliche Gebrutzel. Dazwischen Diät- und Vegetariermagazine, die versuchen, den Lesern im Herbst das Kraut schmackhaft zu machen, und jene Veröffentlichungen, die bloß die Rezepte der Fernsehköche abdrucken. Sapre sagt, er habe keine Zielgruppenforschung betrieben. Seine Leser stelle er sich als Menschen zwischen 35 und 40 Jahren vor, die einen festen Rahmen aus Beziehung und Beruf haben und gutes Essen einem Clubbesuch vorziehen. "Glauben Sie nicht, dass das nur ein Kochheft ist", schrieb er in seinem ersten Vorwort.

Schneller Teller

Zumindest sieht Effilee nicht so aus. Das Layout der ersten beiden Ausgaben wirkt leicht, mit Schwarzweißfotos zur Weingeschichte und Illustrationen statt knallbunter Food-Fotografie. In jeder Ausgabe gibt es eine Modestrecke in einem Lokal und die Rubrik "Drei Töpfe". Darin kochen Menschen aus drei Kulturen die gleiche Zutat oder das gleiche Gericht; in der aktuellen zweiten Ausgabe bereiten eine Schottin, eine Thailänderin und eine Argentinierin Hühnersuppe zu. Rezepte gibt es auch, allerdings seltener als anderswo. Sie heißen "Schnelle Teller" oder sind auf eine Zutat gemünzt - aktuell Steckrüben -, und sie sind eines der wenigen Dinge im Heft, die etwas uninspiriert wirken. Originell sind dafür die Cover: Statt elegant drapierter Filets an Schäumchen mit Häubchen gibt es ein Stück Butter in der Pfanne oder, passend zum Schwerpunktthema Kater, die Zutaten für eine "Prärieauster" lose versammelt, als wäre das Gebräu gegen einen dicken Kopf gerade erst angerührt worden.

Die Konkurrenz der Kochportale schrecke ihn nicht ab, sagt Sapre. "Der Erfolg dieser Plattformen und zahlreicher Foodblogs beweist, dass Nachfrage da ist." Doch nur ein gedrucktes Heft könne man am Frühstückstisch lesen. Effilee ist mit einer Auflage von 113 000 Stück und einem Preis von 6,80 Euro gestartet. Das Magazin soll alle zwei Monate und erstmal bis Ende des Jahres erscheinen. Das habe er seiner Redaktion versprochen, sagt Sapre, das könne er sich leisten. LEA HAMPEL

Wo ist das Essen? Ein Effilee-Bild zum Thema "Fitt durch Fett". Foto: Effilee

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Journalisten fordern Waffen

Nach dem Mord an der Journalistin Anastassija Baburowa und dem Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow in Moskau hat die russische Zeitung Nowaja Gaseta die Bewaffnung ihrer Reporter verlangt. Der Verlag des Blattes beantrage eine entsprechende Lizenz beim Inlandsgeheimdienst FSB, sagte Miteigentümer Alexander Lebedew am Donnerstag in Moskau. Die Reporterin und der Anwalt waren am Montag auf offener Straße erschossen worden. dpa

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Zeugen unerwünscht

Peter McGee verkauft Nachdrucke von NS-Zeitungen - nun hat Bayerns Finanzministerium Strafantrag gegen ihn gestellt

Dürfen Deutsche im Jahr 2009 eine NS-Zeitung wie den Völkischen Beobachter von 1933 lesen? Der englische Verleger Peter McGee ist dafür, er hat am Donnerstag 150 000 Exemplare der zweiten Nummer seiner Publikation Zeitungszeugen ausliefern lassen, unter anderem mit einem Nachdruck des Völkischen Beobachters vom Tag nach dem Reichstagsbrand ("Das Maß ist voll!"). Das bayerische Finanzministerium, bei dem die Verwertungsrechte des Eher-Verlags liegen, der das Hetzblatt einst herausgab, ist dagegen. Es hatte McGee am 16. Januar, nach der Startausgabe, untersagt, Eher-Faksimiles zu verbreiten. McGee hat nicht darauf gehört. Das hat nun Folgen.

Am Donnerstag hat das Ministerium wegen der Ausgabe mit dem Völkischen Beobachter Strafantrag gestellt, unter anderem wegen Urheberrechtsverletzungen. Man werde zudem zivilrechtliche Schritte einleiten, hieß es, "um künftige Nachdrucke der NS-Hetzpresse wie dem Völkischen Beobachter zu verhindern".

McGees Berliner Anwalt Ulrich Michel gibt sich optimistisch. Er weist das Verbot im Gespräch mit der SZ aus mehreren Gründen zurück. So argumentiere das Ministerium, dass es die Urheberrechte am Völkischen Beobachter und anderen Eher-Publikationen durch öffentlich-rechtliche Akte des Alliierten Kontrollrates in den Jahren 1945 bis 1947 erhalten habe - um eine Wiederverbreitung zu verhindern. Michel zufolge gibt es für eine solche "gesonderte Rechtswahrnehmung" aber "keinen Raum mehr", da nach 1947 ordentliche Gesetze zur Verhinderung der Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen erlassen worden seien: "Die Verwaltung kann nicht über das Urheberrecht Verbote öffentlich-rechtlicher Natur durchzusetzen versuchen, für die es keine öffentlich-rechtliche Gesetzesgrundlage gibt."

Auch das Urheberrecht greife nicht. Es schütze den wirtschaftlichen Wert eines Werkes in Form der Verwertungsrechte und das Urheberpersönlichkeitsrecht. Der Freistaat habe aber betont, dass er eine Verbreitung verhindern wolle, an einer wirtschaftlichen Verwertung also kein Interesse habe. "Und dass sich das Ministerium für den Schutz des Urheberpersönlichkeitsrechtes der Autoren und Herausgeber, also Joseph Goebbels, einsetzen will, ist unvorstellbar."

Falls der Urheberrechtsschutz doch greifen sollte, gelte laut Michel die sogenannte Zitatfreiheit: "Eine Vervielfältigung wie die unseres Mandanten ist zulässig, wenn das zitierte Werk in ein selbständiges wissenschaftliches Werk aufgenommen wird. Das ist bei den Zeitungszeugen mit dem mehrseitigen Mantel, in dem renommierte Historiker die Faksimiles kommentieren, eindeutig der Fall." Und schließlich würde das Projekt noch durch die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Wissenschaft geschützt.

Und was sagt der Verleger? McGee gibt zu, dass er von dem Streit nicht überrascht worden sei; Michel und er hätten sich bereits im Juli 2008 beraten. "Dass wir das Ministerium nicht vorher um Erlaubnis gebeten haben, liegt daran, dass wir seine Haltung kannten", sagt er. Nach einem "Nein" vor dem Start wäre es für das Projekt viel schwieriger geworden. "Die Debatte, die jetzt stattfindet, begrüßen wir sehr. Wir wollen öffentlich über den Umgang mit Publikationen aus der NS-Zeit diskutieren." Juristisch will der englische Verleger "Schritt für Schritt" vorgehen, notfalls bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Er hoffe aber, sich mit dem Freistaat vorher noch zu einigen. MARC FELIX SERRAO

Zeitungen in Deutschland Deutsche Geschichte 1933 bis 1945 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Apple widersetzt sich dem Branchentrend

Der kalifornische Computerhersteller verdient zur Verblüffung aller so viel wie nie zuvor - auch wenn der Chef krank ist

Von Thorsten Riedl

München - Die Frage musste kommen. Tim Cook, Übergangschef beim Computerhersteller Apple, so lange Mitgründer Steve Jobs krank ist, hatte gerade das beste Quartalsergebnis in der Geschichte des Konzerns vorgelegt - in einer Zeit, in der fast alle Rivalen enttäuschen. Doch das war erstmal Nebensache. Wenn Jobs nicht mehr zurückkomme, wollte ein Analyst wissen, in diesem "schlimmsten aller Fälle": "Trauen Sie sich zu, das Steuer zu übernehmen?"

Tim Cook ließ sich etwas Zeit. Die Apple-Top-Manager seien "außerordentlich", sagte er dann, "und sie führen 35 000 Angestellte, die ich unheimlich clever nennen würde". Und weiter: "Wir glauben, wir sind auf diese Erde geschickt worden, um großartige Produkte zu machen - und das wird sich nicht ändern." Business as usual also, alles wie immer, auch ohne den Chef, so die Botschaft. Dem Ergebnis hat die Krankheit zumindest nicht geschadet. Vergangene Woche erst hat Steve Jobs in einem kurzen Schreiben an seine Beschäftigten mitgeteilt, sein Leiden sei schlimmer als befürchtet, und er ziehe sich bis Sommer zurück. Zwar will er weiter bei wichtigen Entscheidungen im Unternehmen mitwirken, doch zunächst übernimmt Cook, wie schon 2004, als sich Jobs wegen Bauchspeicheldrüsenkrebs hat behandeln lassen müssen. Der jüngsten E-Mail vom Apple-Mitgründer war eine schrittweise Verschlechterung der Lage vorangegangen: Im Sommer hieß es, Jobs habe einen "Bazillus", als sich Beobachter über seinen abgemagerten Zustand sorgten. Im Herbst erklärte der 53-Jährige, nach einer Operation könne er schlecht verdauen. Anfang 2009 teilte er mit, er habe eine hormonelle Störung, die leicht zu behandeln sei.

Wegen der schrittweisen Kommunikation war in den Staaten eine Debatte entbrannt, wie viel ein Unternehmen über den Gesundheitszustand des Chefs mitteilen muss, wenn solche Nachrichten wie bei Jobs den Aktienkurs bewegen. Die spärlichen Mitteilungen von Apple interessieren deshalb nun auch die US-Börsenaufsicht SEC, wie mehrere US-Medien mit Berufung auf nicht genannte Kreise berichten. Offiziell bezogen weder Apple noch die SEC zu dem Verfahren Stellung.

Die Börse störten die Ermittlungen und Spekulationen um Jobs am Donnerstag ausnahmsweise einmal nicht. Die Investoren belohnten das Rekordquartal von Apple mit einem Kurssprung von mehr als zehn Prozent. Die Anleger waren verblüfft, dass Apple trotz des für viele andere Firmen der IT-Branche schwierigen Konsumklimas im vierten Quartal so hohe Umsätze erzielt hat.

Cook konnte mit Finanzchef Peter Oppenheimer einen Umsatzsprung von sechs Prozent auf 10,2 Milliarden Dollar vorlegen - und damit zum ersten Mal in der 33-jährigen Geschichte des Konzerns über die Zehn-Milliarden-Dollar-Marke. Beim Gewinn verbuchten die beiden einen Zuwachs von knapp zwei Prozent auf 1,61 Milliarden Dollar.

Es lief in allen Bereichen von Apple gut. Von Oktober bis Dezember verkaufte das Unternehmen 2,5 Millionen Mac-Computer, ein Plus von 14 Prozent. Gefragt waren vor allem die tragbaren Macbook-Rechner. Der Trend zu Notebooks sei ungebrochen, hieß es dazu. Erstaunlich gut auch das Geschäft mit den iPod-Musikspielern. Viele Analysten hatten damit gerechnet, dass angesichts der Krise die Verbraucher lieber ihr altes Gerät behalten. Es kam anders: Drei Prozent mehr Geräte hat Apple verkauft, mit 22,7 Millionen iPod-Spielern insgesamt so viele wie nie zuvor. Verantwortlich seien vor allem die im September vorgestellten neuen Produkte gewesen, sagte Oppenheimer. Das Mobiltelefon iPhone verkaufte Apple 4,4-millionenmal. Das lag zwar unter den Erwartungen der Analysten - ist aber immer noch fast doppelt so viel wie im Jahr zuvor.

Cook, Tim Jobs, Steven: Gesundheitliches Apple Inc: Ergebnis / Geschäftsberichte Apple Inc: Vorstand Apple Computer Inc.: Gewinn SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Goldrausch in der Tiefsee

Metalle, Erze und Öl: Mit Wild-West-Methoden reißen sich Industrienationen um Rohstoffe am Meeresgrund - Umweltschützer sind alarmiert

Manchen Schätzen sieht man ihren Wert nicht an. In einer Lagerhalle am Stadtrand Hannovers beugt sich Michael Wiedicke über eine große, helle Plastikkiste. In Tüten verpackt liegen darin schwarze Klumpen, die aussehen wie schrumpelig-faule Kartoffeln. Es sind so genannte Manganknollen aus 5 000 Metern Tiefe im Pazifik. Für sie hat der Geologe der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) soeben acht Wochen auf einem Forschungsschiff zugebracht. Für sie hat er den Tropensturm Polo über sich ergehen lassen. Für sie hat er tagein tagaus schweres Gerät im wogenden Pazifik versenkt - und gemeinsam mit seinen Kollegen 400 Kilogramm Manganknollen an Bord geholt. Nun will er sie in Hannover genau untersuchen.

Es war die erste Expedition in ein Gebiet, das Wiedicke scherzhaft "Deutschlands 17. Bundesland" nennt - dabei liegt es 15 000 Kilometer von Berlin entfernt. Kaum jemand weiß, dass Deutschland seit 2006 die Rechte an einem riesigen Areal des Meeresbodens im Pazifik besitzt. Gekauft im Auftrag der Bundesregierung bei der Internationalen Seebodenbehörde in Jamaika, die Schürfrechte in internationalen Gewässern vergeben darf. Das deutsche Gebiet umfasst 75 000 Quadratkilometer - eine Fläche so groß wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein zusammen.

16 Anker halten ein Schiff

"Die Knollen stecken voller wertvoller Buntmetalle. Vor allem Kupfer, Nickel und Kobalt enthalten sie in viel höheren Konzentrationen als wir sie aus Erzminen an Land kennen", schwärmt Wiedicke. Er zeigt neue Fotos aus dem Pazifik: Dicht an dicht liegen massenhaft Manganknollen auf dem Meeresboden, über Hunderte von Kilometern. "So sieht es zwischen Hawaii und Mexiko fast überall aus, auf einer Fläche so groß wie die USA", sagt der Geologe. Nach Wiedickes Berechnungen könnten die Knollen den weltweiten Bedarf an Buntmetallen einhundert Jahre lang decken. Ihren Wert schätzt er auf bis zu 400 Dollar pro Tonne. Auf dem Tiefseeboden im Pazifik liegen Milliarden.

Deutschland ist nicht das einzige Land, das es auf die Manganknollen abgesehen hat. In seinem Büro zeigt Wiedicke eine Karte des Knollengebiets. Sie sieht aus wie ein buntes Schachbrett: Mitten im Pazifik liegt der deutsche Abschnitt, olivgrün gefärbt. Direkt daneben: Koreas Lizenzgebiet in rot, das eines osteuropäischen Staatenverbunds in gelb. Auch Russland, China, Japan und Frankreich haben hier ihre Claims abgesteckt, nur durch Linealstriche voneinander entfernt. Immer mehr Staaten entwickeln derzeit Techniken, um die Manganknollen zu heben. Am Meeresboden des Pazifiks liegen die Rohstoffe der Zukunft.

Diese Zukunft hat in Angola bereits begonnen. Hier fliegen Helikopter täglich von Angolas Hauptstadt Luanda aus weit vor die Westküste Afrikas. Sie setzen die Mitarbeiter des französischen Erdölkonzerns Total auf zwei gigantischen Ölförderschiffen ab. Mit ihnen erobert der viertgrößte Erdölkonzern der Welt schon heute die Tiefsee. Die sogenannten "Floating Production, Storage and Offloading Vessels" (FPSO) sind groß wie drei Bohrinseln - und kosten mehrere Milliarden Dollar. 16 Anker halten eine der schwimmenden Fabriken, während das schwarze Gold der Tiefsee in ihre Bäuche strömt. Bis auf 1 400 Meter Tiefe reichen die Ölleitungen von den Förderschiffen hinab, von dort aus gehen die Bohrungen weitere 1 000 Meter tief in den Meeresboden.

Noch vor zehn Jahren hatte das niemand für möglich gehalten. Die Öl-Förderung aus großen Wassertiefen galt als zu teuer und zu kompliziert. Heute pumpt Total 70 Millionen Liter Öl aus der Tiefsee vor Angola. Tag für Tag. Wichtigste Abnehmer sind China und die USA. Amerika bezieht bereits mehr Öl aus Angola als aus Kuwait. Aus einem der ärmsten Länder Afrikas ist das neue Dorado der Erdölindustrie geworden. Alle großen Öl-Konzerne lassen sich inzwischen in Luanda nieder. Während Experten warnen, dass die Förderung an Land zur Neige geht, wurden allein vor der Westküste Afrikas bisher zehn Prozent der weltweit bekannten Ölreserven entdeckt. Und je mehr gesucht wird, desto mehr wird gefunden.

Krisenherde unter Wasser

Ob Erdöl, Manganknollen oder sogar Gold - weltweit stoßen Forscher und Konzerne in der Tiefsee auf immer neue Lagerstätten. So auch vor Neuseeland. Das deutsche Forschungsschiff Sonne war dort im August 2007 drei Wochen lang unterwegs. Ein Team rund um Peter Herzig, den eigens angereisten Leiter des Kieler Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften IFM-Geomar, testete vor Neuseeland erstmals sein neuestes Forschungsgerät. Der Tauchroboter Kiel 6000, groß wie ein PKW und knallgelb gestrichen, war über ein sechs Kilometer langes Kabel mit dem Mutterschiff verbunden. Vom Kontrollraum der Sonne aus lenkten die Forscher das Hightech-Gerät ferngesteuert in die dunkle Tiefsee und prüften, ob seine Videokameras, Lampen und Greifarme einwandfrei funktionierten.

In 1600 Metern Tiefe erreichten sie ihr Ziel. Auf den Monitoren tauchten so genannte Schwarze Raucher auf, heiße Quellen am Meeresboden. Bis zu 400 Grad Celsius ist das Wasser warm, das diese meterhohen Schlote in die kalte Tiefsee speien. In dem Wasser haben sich Gold, Silber, Kupfer und Zink aus der Erdkruste gelöst. Mineralien, die sich nach und nach am Meeresboden absetzen, in meterdicken Schichten. "Wir müssen hier noch die Gehalte der Erze bestimmen. Aber vom Prinzip her ist das schon ein sehr attraktives Gebiet", sagt Peter Herzig. Er ist weltweit anerkannt als Experte für die rätselhaften unterseeischen Quellen. Attraktiv ist das Gebiet vor allem für die Bergbauindustrie. Neuseeland hat als eines der ersten Länder der Welt eine Erkundungslizenz für die Gold- und Kupferablagerungen am Meeresgrund verkauft - an das britisch-australische Unternehmen Neptune Minerals. Sie wollen die neuen Erzminen von 2010 an abbauen. Ein Projekt mit Signalwirkung: Schwarze Raucher gibt es auch vor den Küsten anderer Staaten, von Papua-Neuguinea bis Italien.

Dabei ist an vielen Stellen der Erde nicht klar, wem die Schätze der Tiefsee gehören. Zuletzt zeigte sich das am Nordpol. Im Sommer 2007 postierte dort ein russisches U-Boot die Nationalflagge am Meeresboden. Die Aktion sorgte weltweit für Aufsehen.

Geologen vermuten auch unter dem Eis der Arktis enorme Mengen Erdöl und Gas. Seither streitet Russland mit Norwegen, Dänemark, Kanada und den USA darüber, wem der Meeresboden der Arktis gehört - und wer über die dort enthaltenen Rohstoffe in Zukunft verfügen darf. Unter Wasser spielten Staatsgrenzen jahrhundertelang keine Rolle. Doch seit die Tiefsee technisch erschließbar wird, entbrennen neue Konflikte.

Auch vor Angola droht Streit. Innerhalb der 200-Seemeilen-Zone - einer Wirtschaftszone vor der Küste, die jedem Küstenstaat zusteht - verkauft Angolas Regierung die begehrten Tiefsee-Lizenzen für bis zu eine Milliarde US-Dollar an die Ölkonzerne. Kein Wunder also, dass der Staat seine Wirtschaftszone nun auf 350 Seemeilen erweitern will. Die beiden Nachbarstaaten Namibia und Kongo protestieren jedoch. Am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg rechnen die Völkerrechtler für die Zukunft mit zahlreichen ähnlichen Konflikten. Schon jetzt seien die Grenzverläufe auf See an rund 100 Orten weltweit umstritten. Der Streit eskaliert, wenn dort Rohstoffe gefunden werden.

Ein Gebiet ohne Regeln

Biologen und Umweltschützer verfolgen den Goldrausch in der Tiefsee mit Sorge. Im Labor des französischen Meeresforschungsinstituts Ifremer in Brest, wenige Hundert Meter von den steilen Klippen der Bretagneküste entfernt, untersuchen sie Proben aus allen Meeren der Welt. Sie kommen mit ihrer Arbeit kaum hinterher: Jede Expedition in die Tiefsee fördert Hunderte Lebewesen zutage, die die Forscher nie zuvor gesehen haben. Bis zu 10 Millionen Tierarten vermuten sie in den Ozeanen. Und gerade mal zwei Prozent davon haben bisher überhaupt einen Namen. Joelle Galéron und Lenaick Menot werten Videoaufnahmen aus, die sie im Pazifik gemacht haben - genau dort, wo die deutsche Regierung Manganknollen abbauen lassen will. Über den Monitor schwimmen knallbunte Seegurken, Anemonen biegen sich in der Strömung, und fremdartige Krebse verschwinden inmitten der Knollen. Doch dann stoßen die Biologen auf Spuren im Meeresboden, die wirken, als sei erst gestern dort ein Bagger durchgefahren. Es sind die Hinterlassenschaften eines Abbautests von vor 30 Jahren. Damals förderte ein Firmen-Konsortium, dem auch die deutsche Preussag angehörte, 800 Tonnen Manganknollen an Bord. Doch bald darauf brachen die Rohstoffpreise ein und der teure Tiefseebergbau wurde gestoppt.

Heute sind die Pläne aktueller denn je. Die Biologen haben Proben genommen aus dem Meeresboden unter den Knollen. Und sind alarmiert. "Dort leben Tiere, die nur einige Millionstel Meter klein sind", staunt Joelle Galéron. "Aber genau sie machen die ungeheuer reiche Artenvielfalt im Meeresboden aus." Ihr Kollege Lenaick Menot erläutert, dass ein Abbau über dem Meeresboden eine gigantische Staubwolke aufwirbeln könnte, jahrzehntelang. Er bezweifelt, dass sich die Lebensgemeinschaften der Tiefsee von einem solchen Eingriff erholen würden - es sei denn, man ließe große Flächen zwischen den Abbaugebieten unberührt.

Auch vor Angola waren die französischen Biologen unterwegs, zum Teil finanziert von Total. Ganz in der Nähe der Ölförderanlagen haben sie sensible Ökosysteme entdeckt: Kaltwasserkorallen sowie zahllose unbekannte Lebewesen am Meeresboden. Welche Folgen eine Ölpest in einer solchen Umgebung hätte, ist noch völlig unklar. Für dringend notwendige, umfassende Umweltstudien fehlt den Forschern das Geld. Verbindliche Umweltregeln gibt es in der Tiefsee bisher fast nirgendwo, auch Schutzgebiete fehlen. Der Meeresboden droht zum Pionierland wie einst der Wilde Westen zu werden - ein Gebiet ohne Regeln und Kontrollen, in dem sich jeder greift, was er kann. SARAH ZIERUL

Am Montag, 26. Januar, um 22 Uhr zeigt das WDR den Film der Autorin "Wem gehört das Meer? Wettlauf um die letzten Rohstoffe".

Gigantische Ölförderschiffe saugen den Meeresgrund vor Angola aus - mit gravierenden Folgen für die Umwelt. Ähnliches befürchten Biologen, wenn auch erzhaltige Manganknollen im großen Stil abgebaut werden. Fotos: Laif / Blickwinkel

Bodenschätze aus dem Meer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Seen

Der australische Meeresbiologe Lloyd Goodson verbrachte zwölf Tage in einem Container auf dem Grund eines Sees. Algen, die er mit seinem Urin goss, sorgten in dieser Zeit für zusätzliche Sauerstoffzufuhr.

Im Jahr 1986 starben an den Ufern des Nyossees in Kamerun binnen Minuten 1746 Menschen und mehr als 2000 Tiere. Aus dem Wasser quollen plötzlich 1,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid, das zuvor darin gelöst war. Die Bewohner der umliegenden Dörfer erstickten.

Der Vansee ist der größte See der Türkei. In seiner Umgebung leben auch die Van-Katzen, die einzige Katzen-Rasse, die gerne schwimmt.

Als sich in Grönland im Jahr 2006 ein Schmelzwassersee schlagartig leerte, entstand ein mächtiger Wasserfall: Pro Sekunde stürzten etwa 8,7 Millionen Liter Wasser aus dem See. Die Niagara-Fälle schaffen nur 2,8 Millionen Liter pro Sekunde.

Im Krater eines unterseeischen Vulkans im Marianengraben befindet sich ein See aus flüssigem Schwefel. Einen ähnlichen See gibt es sonst nur auf dem Jupiter-Mond Io.

Die Wissenschaft hat trocken anmutende Begriffe für manche Gewässer. So werden Seen, die seit mindestens einer Million Jahre Wasser enthalten, als Langzeitseen bezeichnet. Blumiger sind Gewässernamen, die auf mancher Landkarte zu finden sind: etwa der Süße See in Sachsen-Anhalt. Er wird von der Bösen Sieben gespeist.

Lacus Excellentiae, der See der Vortrefflichkeit, ist ein erstarrter Lava-See auf dem Mond. Dort zerschellte planmäßig die erste europäische Mondsonde Smart-1.

Im Baikalsee befindet sich in etwa 1100 Meter Wassertiefe ein Teleskop, mit dem Teilchen aus dem Inneren von Sternen erforscht werden: Neutrinos. Dazu registrieren Hunderte Sensoren diese kosmischen Winzlinge. Und zwar nachdem sie beinahe die ganze Erde durchdrungen haben und sich gerade auf dem Weg zurück an die Oberfläche befinden.

Unter dem gigantischen Eispanzer der Antarktis haben Geologen etwa 150 Süßwasserseen entdeckt. Der größte ist der Wostoksee. Sein Wasser ist wegen des hohen Drucks der Eismassen flüssig, obwohl es etwa minus drei Grad Celsius kalt ist.

Die Konstanzer Wasserwerke überprüfen mit Daphnien die Qualität des Trinkwassers, das sie aus dem Bodensee entnehmen. Taumeln die Wassertierchen auffallend, stimmt etwas nicht. SEBASTIAN HERRMANN

Illustration: Schifferdecker

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Wälder unter Stress

In den USA hat ein verheerendes Baumsterben begonnen

In den vom Menschen weitgehend unberührten Wäldern im Westen der USA sterben die Bäume. Die Sterberate hat sich seit 1955 mehr als verdoppelt. Das entnehmen der kalifornische Ökologe Phillip van Mantgem vom geologischen Dienst der USA und Kollegen den Aufzeichnungen über die Bestände. Van Mantgem spricht von einem demographischen Wandel im Wald. Es sei normal, dass in einem Bestand regelmäßig Bäume sterben. "Doch unsere Langzeitbeobachtungen haben gezeigt, dass die Sterberate gestiegen, aber der Nachwuchs konstant geblieben ist." Diese Veränderung könnten langfristig gesehen den gesamten Wald treffen und schließlich dazu führen, dass die Bestände insgesamt mehr von dem Treibhausgas Kohlendioxid ausstoßen, als sie bei ihrem Wachstum aufnehmen, sagt van Mantgem. Wenn viele abgestorbene Bäume verrotten, könnten die Wälder so den Klimawandel beschleunigen, statt ihm entgegenzuwirken.

In den ansonsten gesund aussehenden Wäldern seien alle Baumarten gleichermaßen betroffen, stellen die Forscher fest. Auch das Alter, ihre Größe oder die Höhe des Standortes spiele keine Rolle, berichten sie in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals Science (Bd. 323, S. 521, 2009). Aus diesem Befund folgert das Team, dass nicht einfacher Ressourcenmangel das Sterben verursacht. Zwischen 1970 und 2006 sei jedoch die durchschnittliche Jahrestemperatur im Untersuchungsgebiet um mindestens ein Grad Celsius gestiegen. Diesen Anstieg machen die Forscher nun für das Sterben verantwortlich. Er könne zu Wassermangel, Wärmestress und einer allgemeinen Anfälligkeit für Krankheiten und Schädlinge führen. Die Trockenheit halten die Forscher für "die wahrscheinlichste Kraft" hinter dem Baumsterben.

Auch beim nördlichen Nachbarn Kanada sterben in manchen Gebieten inzwischen mehr Bäume als nachwachsen. Untersuchungen der kanadischen Forstverwaltung haben gezeigt, dass sich die Wälder insbesondere in den vergangenen zehn Jahren von einem Kohlendioxidspeicher in eine Kohlendioxidquelle verwandelt haben. Der Effekt ist bereits so groß, dass die Regierung die Wälder bei der CO2-Bilanz im Rahmen des Kyoto-Abkommens stillschweigend hat ausklammern lassen. Noch sehen Experten keine Möglichkeit, um das Sterben rasch zu stoppen. HANNO CHARISIUS

Natur und Umwelt in den USA Wälder SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hoffnung für Gilad Schalit

Im Tausch gegen den entführten Soldaten will Israel angeblich 1500 Häftlinge entlassen

Von Thorsten Schmitz

Tel Aviv - Der israelische Regierungschef Ehud Olmert hat am Donnerstag erstmals erklärt, dass der Gaza-Krieg die Chancen auf eine Freilassung des entführten Soldaten Gilad Schalit erhöht habe. Olmert sagte im israelischen Rundfunk, die Offensive habe "eine Reihe von Hebeln in Bewegung gesetzt", die zur Freilassung Schalits beitragen könnten.

Wenn Schalit nach Israel zurückgekehrt sei, "wird es möglich sein, die ganze Geschichte zu erzählen, und zu berichten, wer Druck ausgeübt und wer welche Position unterstützt hat". Zuvor hatten israelische Medien in der Nacht zu Donnerstag gemeldet, dass inzwischen auch eine Mehrheit des Kabinetts für die Freilassung von 1500 palästinensischen Gefangenen sei, darunter auch Häftlinge, die in tödliche Terroranschläge verwickelt gewesen sind. Bislang hatte sich eine Mehrheit der israelischen Minister gegen eine Freilassung von palästinensischen Terroristen ausgesprochen.

Der israelische Soldat Schalit ist im Juni 2006 von Mitgliedern der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt worden. In Israel geht man davon aus, dass Schalit lebt. In der Nacht zu Donnerstag hatte sich Verteidigungsminister Ehud Barak ähnlich positiv wie Olmert über eine baldige Freilassung geäußert. In Interviews mit israelischen Fernsehsendern hatte Barak erklärt, die Offensive im Gaza-Streifen habe die Chancen auf eine Freilassung Schalits "deutlich verbessert". Bei der Offensive sind palästinensischen Angaben zufolge 1300 Menschen getötet und mehr als 5000 verletzt worden.

Der politische Berater im israelischen Verteidigungsministerium, Amos Gilad, hielt sich am Donnerstag zu Gesprächen mit Ägyptens Geheimdienstchef Omar Suleiman in Kairo auf. Nach Angaben israelischer Medien ging es um die Forderung von Hamas nach einer Öffnung der Grenzen im Gaza-Streifen. Israel will nach den Worten von Außenministerin Tzipi Livni die Grenzen jedoch nur dann öffnen, wenn eine Einigung über Schalits Freilassung erzielt worden sei. Sprecher der Hamas und des "Komitees für Volksbefreiung" erklärten, es habe keine Fortschritte in den Verhandlungen zu einem Gefangenenaustausch gegeben. Israel kündigte an, es werde von diesem Freitag an die Grenze zum Gaza-Streifen für Journalisten öffnen.

Der UN-Nothilfekoordinator John Holmes hat am Donnerstag den Gaza-Streifen bereist und sich dort ein Bild von den Schäden nach der dreiwöchigen israelischen Militäroffensive verschafft. Die Zahl der Opfer sei "extrem schockierend", sagte Holmes. Unmittelbar würden nun sauberes Wasser, Abwasserentsorgung, Strom und Unterkünfte benötigt. Die Grenzübergänge müssten geöffnet werden, um Baumaterialien einführen zu können. Holmes forderte Israel außerdem auf, die Angriffe auf UN-Gebäude in Gaza gründlich zu untersuchen.

Die Schmuggler nach Gaza sind wieder aktiv - Israels Verteidigungsminister Ehud Barak drohte ihnen am Donnerstag mit weiteren Angriffen. Reuters

Entführungsfall Gilad Schalit 2006 Militärischer Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Computer-Firmen streichen Tausende Jobs

Auch Microsoft muss erstmals kündigen: Wegen des Abschwungs häufen sich die Verluste in der erfolgsverwöhnten Industrie

Von Thorsten Riedl

München - Donnerstag war ein Tag der schwarzen Nachrichten für Angestellte in der Informationstechnik (IT) und Unterhaltungselektronik. Die Wirtschaftsflaute erwischt beide Branchen mit voller Wucht: Der Softwarekonzern Microsoft entlässt 5000 Mitarbeiter - die ersten Kündigungen in der 34-jährigen Firmengeschichte. Der Chiphersteller Intel schließt Fabriken in den USA und Asien: Bis zu 6000 Beschäftigte sind betroffen, viele verlieren ihren Job. Der Unterhaltungskonzern Sony erwartet das erste verlustreiche Geschäftsjahr seit 14 Jahren; der weltweit größte Festplattenhersteller Seagate erwirtschaftete einen hohen Verlust und gab zugleich eine Umsatzwarnung; das Online-Auktionshaus Ebay verfehlt den Umschwung, dem Unternehmen laufen die Verkäufer davon. Einen Lichtblick gab es allein vom Computerhersteller Apple (Artikel unten).

Einen Tag nur hat die gute Stimmung angehalten, die IBM am Mittwoch verbreitet hatte. Der weltweit zweitgrößte Computerkonzern hatte Quartalszahlen vorgelegt, die so gut waren, dass sie die Wirtschaftskrise für einen Moment vergessen machten. Am Donnerstag trübte sich das Klima schnell wieder ein. Softwarehersteller, Chipproduzent, Hardwarefirma, Unterhaltungskonzern, Onlineportal: Quer durch die Industrie summierten sich die schlechten Nachrichten.

Schwer traf es Microsoft. Seit Wochen gab es Gerüchte, das Unternehmen plane Entlassungen. Von bis zu 15 000 Stellen war zeitweise die Rede. Am Donnerstag nun zog Konzernchef Steve Ballmer unerwartet die Veröffentlichung der Quartalsbilanz vor: Statt abends nach Börsenschluss gab er sie morgens bekannt. Der Umsatz für das zweite Geschäftsquartal des Unternehmens stieg zwar leicht um zwei Prozent auf 16,7 Milliarden Dollar. Der Gewinn brach allerdings ein: um elf Prozent auf 4,2 Milliarden Dollar. Schuld trägt der Abschwung, den Microsoft-Deutschland-Chef Achim Berg als "sturzflugartige Konjunkturentwicklung" bezeichnete, sein Chef Ballmer als "schlimmste Rezession in zwei Generationen". Ballmer sagte weiter: "Unsere Antwort auf das wirtschaftliche Umfeld muss beides umfassen, das Festhalten an langfristigen Investitionen in Innovationen und die schnelle Reaktion, unsere Kosten zu reduzieren."

5000 Mitarbeiter müssen nun gehen. Das sind rund fünf Prozent der weltweit 91 000 Beschäftigten. Deutschland sei "nur in geringem Umfang betroffen", hieß es in einer Mitteilung des Unternehmens. Eine "kleine zweistellige Zahl an Stellen" werde beim Kundendienst wegfallen, die nicht für den deutschen Markt arbeiteten.

Auch Intel wird vor allem in anderen Teilen der Welt streichen. Das Unternehmen hatte in der vergangenen Woche einen Gewinneinbruch von 90 Prozent vermeldet. Intel schließt jetzt die letzte Chipfabrik im Silicon Valley, eine in der Nähe der Zentrale im kalifornischen Santa Clara, eine in Oregon, und zwei Fabriken in Malaysia und auf den Philippinen. Betroffen sind 6000 Mitarbeiter, einigen werden andere Positionen bei Intel angeboten. Weltweit beschäftigt Intel 83 000 Angestellte, 530 davon in Deutschland. In den vergangenen drei Jahren hat das Unternehmen 20 000 Stellen abgebaut. Das solle eigentlich genügen, um die Krise zu überstehen, hatte es noch vergangene Woche von Seiten Intels geheißen.

Sony, Ebay und Seagate gaben keine neuen Entlassungen bekannt. Die drei haben in den vergangenen Wochen und Monaten annähernd 20 000 Stellen gestrichen. Ebay und Seagate zogen Bilanz für das vierte Quartal. Ebay, weltweit größtes Online-Auktionshaus, schafft nicht den Umschwung. Zum zweiten Mal in der Firmengeschichte ging die Zahl der auf der Plattform gehandelten Güter zurück, dieses Mal um zwölf Prozent auf 11,5 Milliarden Dollar. Der Quartalsumsatz fiel um sieben Prozent auf zwei Milliarden Dollar, der Gewinn um 31 Prozent auf 367 Millionen Dollar. Der Ausblick war schlecht. Festplattenhersteller Seagate gab für das laufende Quartal sogar eine Umsatzwarnung bei Präsentation der aktuellen Bilanz. Sony erwartet für das aktuelle Geschäftsjahr, das noch bis Ende März geht, einen Verlust von 1,7 Milliarden Dollar - zuvor war mit einem Gewinn in dieser Höhe gerechnet worden. Die miesen Zahlen erhöhen den Druck auf Sony-Chef Howard Stringer.

Als Microsoft-Chef Steve Ballmer kürzlich auf der Messe CES eine Rede hielt, gab es schon Gerüchte über einen Stellenabbau. Am Donnerstag kündigte er nun die ersten Entlassungen der 34-jährigen Firmengeschichte an. Foto: Bloomberg

Ballmer, Steve: Zitate Intel Corp.: Personalabbau Intel Corp.: Sparmaßnahmen Microsoft Corp. Redmond: Personalabbau eBay Inc: Verlust eBay Inc: Ergebnis / Geschäftsberichte IT-Industrie Weltwirtschaftslage SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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NOKIA

Düstere Prognose

Helsinki - Der weltgrößte Handy-Hersteller Nokia will sich mit Kostensenkungen von 700 Millionen Euro jährlich gegen die Folgen der weltweiten wirtschaftlichen Krise wappnen. Die Konsumzurückhaltung brachte Nokia im Weihnachtsquartal einen stärkeren Gewinnrückgang ein als von Experten erwartet. Für die Branche zeichneten die Finnen ein noch pessimistischeres Bild als zuletzt, was die Aktie mehr als sechs Prozent ins Minus drückte. Nokia teilte mit, für 2009 mit einem Rückgang des weltweiten Handy-Absatzes um zehn Prozent zu rechnen. Der Abschwung werde im 1. Halbjahr kräftiger sein. Reuters

Nokia verbreitete am Donnerstag schlechte Stimmung. Foto: AFP

Nokia Group: Sparmaßnahmen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hiobsbotschaften aus Turin

Fiat kämpft gegen Kapitalnot und 21 Prozent Absatzrückgang

Von Ulrike Sauer

Rom - Als Fiat vor drei Tagen den Einstieg beim krisengebeutelten US-Hersteller Chrysler ankündigte, überschlugen sich in Rom die Minister mit Komplimenten. "Das ist ein Zeichen außerordentlicher Vitalität", frohlockte Finanzminister Giulio Tremonti. Die Unternehmer im Lande wüssten sich selbst zu helfen, lobte er. Ihrerseits hat die römische Regierung bisher keinen Finger gerührt, um den Konjunktureinbruch abzufedern. Doch dann kam am Donnerstag die Vorlage des Jahresergebnisses des Turiner Autokonzerns. Nach dem Abschmieren der Fiat-Aktie sprang Silvio Berlusconi in die Bresche: "Hilfen für die Autoindustrie sind notwendig geworden", erklärte der Premier auf einmal. Am Dienstag will er darüber beraten lassen.

Die Turiner Hiobsbotschaften hatten den Aktienkurs kurz nach ihrer Verkündung um 14 Prozent nach unten getrieben: Italiens größter Industriekonzern zahlt trotz 1,7 Milliarden Euro Nettogewinn in 2008 keine Dividende. Das Aktienrückkaufprogramm ist gestrichen. Und im vierten Quartal fiel der Umsatz der Autosparte um 21 Prozent. Für 2009 rechnet Fiat-Lenker Sergio Marchionne für die gesamte Produktpalette mit einem Absatzrückgang um 20 Prozent. Zum ersten Mal seit seinem Antritt bei Fiat 2004 rückte der Sanierer von Zielvorgaben ab und kürzte die Gewinnprognose für 2009 von drei Milliarden Euro auf mehr als 300 Millionen Euro. Die Schulden stiegen unerwartet auf knapp sechs Milliarden Euro. Kürzlich hatte die Ratingagentur Moody's Fiat auf die Beobachtungsliste gesetzt, mit dem Ausblick, die Kreditwürdigkeit herabzustufen.

Spekulationen über mögliche Schritte zur Überwindung der Kapitalnot hielten am Donnerstag die Börse in Atem. Ein Konzernsprecher dementierte Gerüchte, nach denen die Aktionärsfamilie Agnelli eine Kapitalerhöhung bei Fiat um zwei Milliarden Euro erwäge. Die Finanzspritze solle in dem Fall gesetzt werden, dass sich der Konzern mit dem französischen Partner Peugeot zusammenschließe, schrieb die Zeitung La Repubblica. Das Wirtschaftsblatt Il Sole 24 Ore berichtete, Fiat bemühe sich in Gesprächen mit Banken seit einem Monat um eine Kreditlinie von bis zu fünf Milliarden Euro.

Trotz der sich rapide verschlechternden Lage werde Fiat "die Strategie gezielter Allianzen fortsetzen, um den Kapitaleinsatz zu verbessern und die Risiken zu senken", teilte der Konzern mit. Bereits Anfang der Woche hatte sich Marchionne beim Einstieg bei Chrysler offen für weitere Partnerschaften gezeigt. In Washington regt sich aber Widerstand gegen die strategische Allianz zwischen Fiat und dem am staatlichen Tropf hängenden US-Hersteller. Der bisher mit vier Milliarden Dollar gestützte Detroiter Konzern besteht auf zusätzliche Hilfen in Höhe von drei Milliarden Dollar. Kongresspolitiker kritisieren die mögliche Vergabe weiterer Kredite an Chrysler wegen des künftigen Großaktionärs Fiat. Sie fürchten, das Geld werde nicht der US-Wirtschaft zugute kommen.

Fiat Group SpA: Ergebnis / Geschäftsberichte Fiat Group SpA: Aktie Fiat Group SpA: Liquidität Wirtschaftspolitik in Italien Wirtschaftslage in Italien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mitarbeiter sollen Investoren werden

Berlin - Arbeitnehmer sollen stärker vom Erfolg ihres Arbeitgebers profitieren. Der Bundestag beschloss am Donnerstag ein Gesetz, das Mitarbeitern mehr Möglichkeiten gewährt, sich am eigenen Unternehmen zu beteiligen. So können Angestellte künftig 360 statt bislang nur 135 Euro steuer- und sozialabgabenfrei in Anteile ihrer Firma stecken.

Außerdem sollen vom 1. April an neue Mitarbeiterbeteiligungsfonds entstehen, in die Arbeitnehmer direkt investieren können. Bei solchen Fonds können sich zum Beispiel mehrere Arbeitgeber einer bestimmten Branche zusammenschließen. Die Fonds sind vor allem für die Angestellten kleiner und mittlerer Unternehmen interessant, denen es bislang nicht möglich war, sich etwa durch den Erwerb von Aktien an ihrem Arbeitgeber zu beteiligen. Die Fonds müssen 75 Prozent des eingesammelten Gelds in das Unternehmen stecken, von dessen Mitarbeitern es gekommen ist. Zudem haben künftig mehr Menschen Anspruch auf die Arbeitnehmer-Sparzulage. Bislang bekamen nur Arbeitnehmer, die weniger als 17 900 Euro (Verheiratete: 35 800 Euro) jährlich verdienten, einen Zuschlag vom Staat. Künftig steigen die Einkommensgrenzen auf 20 000 Euro für Alleinstehende und 40 000 Euro für Verheiratete. Die Arbeitnehmer-Sparzulage selbst steigt von 18 auf 20 Prozent.

Den Arbeitnehmern stehe "ein fairer Anteil am Erfolg der Unternehmen zu, für die sie ihre Arbeitskraft einsetzen", heißt es in der Gesetzesbegründung aus dem Haus von Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Der Ausbau der Kapitalbeteiligung mache Unternehmen für Mitarbeiter attraktiver und verbessere die Eigenkapitalbasis.

Wissenschaftler dagegen hatten das Vorhaben von Anfang an kritisiert. Es verkenne, "dass sich hohe Kapitalerträge auch mit hohem Risiko verbinden" hieß es in einem Brief des Wissenschaftlichen Beirats an Glos. Der Wissenschaftliche Beirat, dem mehr als 30 Experten angehören, soll den Bundeswirtschaftsminister unabhängig in allen Fragen der Wirtschaftspolitik beraten. Die Mitarbeiterbeteiligung erhöhe das Risiko für die Arbeitnehmer, schrieben die Experten. Geht es dem Unternehmen schlecht, verlieren die Mitarbeiter nämlich im Zweifelsfall nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch noch ihr Erspartes.

Der Unionspolitiker Klaus-Peter Flosbach verteidigte das Gesetz dagegen: "Die Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist ein zentraler Baustein dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft auch im 21. Jahrhundert ihre Erfolgsgeschichte weiterschreiben wird", sagte er. Daniela Kuhr

Kapital- und Erfolgsbeteiligungen von Arbeitnehmern in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Jobverluste wegen Einweg-Flaschen

München - Der Rückzug der Mehrwegflasche im Getränkehandel gefährdet nach Ansicht der Gewerkschaft Nahrung Genuss und Gaststätten (NGG) viele Arbeitsplätze. "Bis zu 10 000 Stellen könnten in den nächsten Jahren wegfallen", sagte der NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg am Donnerstag. Stark unter Druck gerieten vor allem kleinere und regionale Produzenten, die sich die Anschaffung einer zusätzlichen Abfüllanlage für Einwegflaschen nicht leisten könnten. In der deutschen Getränkeindustrie sind über 55 000 Menschen beschäftigt.

Mit der wachsenden Verwendung von Einwegflaschen habe der Bund sein Ziel, die Mehrwegquote auf 80 Prozent zu steigern, eindeutig verfehlt, ergänzte Möllenberg. Er kritisierte zudem, dass für Käufer häufig nicht erkennbar sei, ob es sich nun um Einweg- oder Mehrwegflaschen handelt, weil in beiden Fällen ein Pfand anfällt, das bei Rückgabe der Flaschen rückerstattet wird. Er plädierte für eine Abgabe für Einwegflaschen, die den finanziellen Nachteil des Mehrwegsystems ausgleichen soll.

Ursache für die starke Zunahme bei Einwegflaschen ist vor allem der wachsende Marktanteil von Discountern wie Aldi und Lidl, die inzwischen gut die Hälfte des in Deutschland hergestellten Mineralwassers verkaufen - ausschließlich in Einwegflaschen. Ein 1,5-Liter-Behälter kostet in der Regel 19 Cent plus 25 Cent Pfand. Möllenberg befürchtet, dass der Discounter-Marktanteil in den nächsten Jahren weiter wächst und vor allem kleine und mittelgroße Hersteller die Verlierer sein werden. slb

Getränkeindustrie in Deutschland Getränkeverpackungen in Deutschland Arbeitsplatzabbau in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Interview

"Verträge vor Gericht wasserdicht"

Der Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB) und die Eigentümerschutz-Gemeinschaft Haus & Grund haben gemeinsam zwei neue Bauvertragsmuster entwickelt: eines zur Vergabe von Handwerkerleistungen und einen Einfamilienhaus-Vertrag für Aufträge an Bauunternehmen. Karl Robl, Hauptgeschäftsführer des ZDB, erklärt, welche Vorteile diese Dokumente für Hauskäufer haben.

SZ: Warum haben Sie die Bauvertragsmuster entworfen?

Robl: Da der Bundesgerichtshof die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/B) in Verträgen mit privaten Bauherren seit seinem Urteil vom 24. Juli 2008 nur noch eingeschränkt für wirksam hält, wollten wir ein allgemein anerkanntes, ausgewogenes Vertragswerk erarbeiten. Auf diese Weise sollen sichere Voraussetzungen für einen möglichst reibungslosen Ablauf des Bauprozesses geschaffen und Streitigkeiten vermieden werden.

SZ: Welche Aspekte regeln die neuen Verträge?

Robl: Die Verträge bieten die Gewähr, dass sie vor Gericht wasserdicht sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten beider beteiligter Parteien. Geregelt wird, wer für Wasser- und Stromanschluss zuständig ist, wer im Schadensfall haftet, wie hoch die Abschlagszahlungen sind und welche Versicherungen abgeschlossen werden müssen. Kernstück des Bauvertrags ist die Leistungsbeschreibung, die detailliert auflistet, was mit welchem Material gebaut werden soll. Der Vertrag schreibt auch Aspekte der Bauqualität fest und dokumentiert die termingerechte Baufertigstellung.

SZ: Ist es nicht dennoch besser, den Vertrag individuell auszuhandeln, statt ein Formular zu verwenden?

Robl: Der Vertrag gestattet große Flexibilität und gibt auch Wahlmöglichkeiten, zum Beispiel ob man eine Gewährleistungssicherheit vereinbaren will oder nicht. Sie räumt dem Bauherren die Möglichkeit ein, etwaige Mängel auf Kosten des Bauunternehmens beseitigen zu lassen. Einzelne Klauseln lassen sich individuell verändern. Die Bauverträge kann man kostenlos im Internet herunterladen, unter www.zdb.de.

SZ: Wird es mit diesen Mustern weniger Rechtsstreitigkeiten geben?

Robl: Das hoffen wir. Wir wollen dazu beitragen, dass die juristischen Streitigkeiten zurückgehen. Entscheidend ist, dass die Vertragspartner seriös sind. Denn was nützt der beste Vertrag, wenn sie sich nicht an die Vereinbarungen halten. Der beste Bauvertrag ist derjenige, der nach Unterzeichnung in der Schublade bleibt, weil alles nach Plan läuft.

Interview: Andrea Nasemann

Karl Robl Foto: privat

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Lehman-Kunden bald entschädigt

Soffin springt ein, aber die meisten Privatleute gehen trotzdem leer aus

Berlin/Brüssel - Die Entschädigung von Kunden der deutschen Tochter der Pleite gegangenen US-Investmentbank Lehman Brothers rückt näher. Die EU-Kommission billigte am Donnerstag eine Garantie des Banken-Rettungsfonds Soffin von 6,7 Milliarden Euro für die Sicherungseinrichtungsgesellschaft deutscher Banken (SdB). Im Dezember hatte der Bankenverband angekündigt, dass deutsche Lehman-Kunden Ende Januar mit einer Entschädigung rechnen könnten.

Die neu gegründete SdB unterstützt die Einlagensicherung bei Entschädigungen von Einlegern. Die dank der Staatsgarantie möglich gewordene Ausgabe von Anleihen der SdB soll unter anderem dazu dienen, die Rückflüsse aus der Insolvenz der "Lehman Brothers Bankhaus Aktiengesellschaft" vorzufinanzieren, teilte der Bankenverband mit.

Damit erhalten auch Krankenversicherer wie die Barmer oder Träger der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung Geld zurück; sie hatten mehrere Millionen Euro bei Lehman angelegt. Die deutsche Tochter des US-Instituts hatte nach früheren Angaben von Anlegerschützern nur wenige direkte Privatkunden. Nicht abgesichert sind Privatkunden, die beispielsweise bei Sparkassen Lehman-Zertifikate gekauft haben.

Lehman hatte Mitte September Insolvenz angemeldet. Die deutsche Finanzaufsicht Bafin hatte daraufhin die Geschäfte der deutschen Lehman-Tochter gestoppt und Ende Oktober bei der Lehman Brothers Bankhaus AG (Frankfurt/Main) den Entschädigungsfall festgestellt. Damit wurde die rechtliche Voraussetzung für die Entschädigung betroffener Anleger geschaffen. Dazu gehören vor allem große institutionelle Kunden wie Banken oder Versicherungen.

Die Kundeneinlagen einschließlich auf den Namen lautender Sparbriefe sind laut Bankenverband von der Entschädigungseinrichtung deutscher Banken und darüber hinaus vom Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken bis zur Sicherungsgrenze von rund 285,105 Millionen Euro je Einleger geschützt. dpa

Lehman Brothers Holdings Inc: Konkurs Sonderfonds Finanzmarktstabilität SoFFin Bankeinlagenschutz in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Postbank prüft Staatshilfen

Konzern könnte riskante Papiere in Milliardenhöhe auslagern

Von Caspar Dohmen

Düsseldorf - Noch gehört die Postbank zu den wenigen großen Banken in Deutschland, die während der derzeitigen Weltwirtschaftskrise keine Hilfen des Staates beansprucht haben. Doch dies könnte sich schon bald ändern: Der Bonner Konzern prüft, ob er strukturierte Kreditpapiere in staatliche Hände geben soll. "Wenn die Bedingungen stimmen, wollen wir das Portfolio auslagern", sagte ein Banksprecher am Donnerstag auf Anfrage. Noch stört sich die Bank laut Finanzkreisen daran, dass sie ihre Kreditpapiere nur für drei Jahre bei dem staatlichen Rettungsfonds Soffin parken kann, dann aber in die eigenen Bücher zurücknehmen muss. Liebend gerne sähe es Postbank-Chef Wolfgang Klein deswegen, wenn die Bundesregierung eine "Bad Bank" schaffen würde, eine vom Staat finanzierte Spezialbank also, die dauerhaft die faulen Wertpapiere übernehmen würde. Dort würde Klein dann gerne ein Kreditpaket in Höhe von sechs Milliarden Euro loswerden.

Unverkäufliches in der Bilanz

Die Bundesregierung ist angesichts erwarteter Milliardenkosten bisher strikt gegen eine solche Institution. In der Regierung werde weder im Finanzministerium noch an anderer Stelle an Plänen für eine Bad Bank gearbeitet, sagte ein Sprecher. In der Bankenbranche mehren sich wegen hoher Verluste dagegen die Forderungen nach einem solchen Institut.

Wie die meisten ihrer Konkurrenten hatte die Postbank in den vergangenen Jahren verbriefte Kredite in großem Ausmaß eingekauft. Seit dem Platzen der Kreditblase sind die Preise für diese Papiere drastisch gesunken, viele sind unverkäuflich. Besonders hart traf die Postbank die Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008: 317 Millionen Euro hat die Postbank bislang schon auf ihre Lehman-Risiken wertberichtigt. In Island, das vom Staatsbankrott bedroht ist, hatte die Postbank 31 Millionen Euro abgeschrieben. Nach hohen Verlusten im dritten Quartal dürfte Deutschlands größte Privatkundenbank das abgelaufene Jahr mit Verlusten beendet haben. Jahrelang hatte die Postbank hohe Gewinne erzielt, indem sie die Einlagen ihrer Kunden an den Kapitalmärkten anlegte. In der Krise rächte sich dieses Geschäftsmodell.

Zuletzt hatte das Institut schon sein geschrumpftes Eigenkapital um eine Milliarde Euro aufgestockt. Da kein anderer Anleger zu den Konditionen mitmachen wollte, zeichnete der Mehrheitseigentümer Deutsche Post alleine die Aktien der blau-gelben Postbank. Anders als viele Konkurrenten hat die Postbank jedoch keine Liquiditätsprobleme, da sie über hohe Einlagen ihrer Kunden beispielsweise auf Sparbüchern verfügt. Dies ist ein Grund dafür, dass die Deutsche Bank die Postbank übernehmen will.

Logos von Postbank und Deutscher Bank: Die beiden Institute sollen bald fusionieren. Vorher könnte der Staat dem Institut beispringen. Foto: AP

Deutsche Postbank AG: Finanzen Deutsche Postbank AG: Liquidität Sonderfonds Finanzmarktstabilität SoFFin Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Vertreter der

Arbeitnehmer will vermitteln.

Dabei ist der Stellenabbau schon beschlossene Sache.

Stochern im Nebel

Gespannt warten BayernLB-Mitarbeiter auf Neuigkeiten zum Jobabbau. Sie rechnen damit, dass ganze Abteilungen wegfallen

Von Thomas Fromm

München - Diethard Irrgang ist in einer besondern Situation. Seit Ende vergangener Woche sitzt der 53-jährige Personalratschef der BayernLB als erster Mitarbeitervertreter überhaupt im Verwaltungsrat der Bank. Dort soll er die Interessen seiner Kollegen vertreten, auf die ein harter Sparkurs zukommt. Und er wird trotzdem nicht viel ändern können an den Weichenstellungen des Instituts. Das Management der Landesbank, die mit Finanzspritzen und Garantien von rund 30 Milliarden Euro gestützt werden muss, will Tausende von Stellen abbauen - und auch der Arbeitnehmervertreter weiß, dass es dazu im Grunde keine Alternative gibt. So klingt sein Programm für die nächste Zeit auch wenig kämpferisch. "Ich verstehe mich hier als Vermittler und muss für Interessenausgleich sorgen", sagt er der Süddeutschen Zeitung. Das, was nun auf ihn zukomme, sei ein "notwendiger Spagat".

An diesem Donnerstag hatte Irrgang seinen ersten großen Termin. Tausende von BayernLB-Mitarbeitern waren am späten Nachmittag zur Personalversammlung ins Kongresszentrum MOC im Münchner Norden gepilgert, wo Bankchef Michael Kemmer über den neuesten Stand der Sparmaßnahmen unterrichten wollte. Einige gingen mit großen Erwartungen, andere rechneten nur mit Motivationsübungen des Managements. "Zurzeit ist es wie das berühmte Stochern im Nebel", sagt ein Sachbearbeiter am Standort München. "Wir wissen nur, wie viele Arbeitsplätze abgebaut werden sollen. Wo genau, wissen wir nicht."

Tatsächlich hatte BayernLB-Chef Michael Kemmer im Dezember angekündigt, bis 2012 insgesamt 5600 der 19 200 Stellen zu streichen. Klar ist nur: So lange wird das Management nicht warten. "2012 ist eine langfristige Planung; vieles wird schon früher abgearbeitet", heißt es im Unternehmen. Klar ist auch: Die BayernLB der Zukunft wird sich auf den Mittelstand, Großkunden, gewerbliches Immobiliengeschäft und Privatkunden konzentrieren. Die Bank wird dabei zu einem bayerischen Institut geschrumpft; im Ausland werden in den nächsten Jahren Niederlassungen dichtgemacht, so etwa in Asien. Standorte wie New York und London werden auf ein Minimum reduziert.

Nach außen hin scheint alles ruhig. Hinter den Kulissen aber wird die Bank in diesen Tagen und Wochen durchleuchtet wie niemals zuvor. Jetzt geht es um die bitteren Details des Abbaus.

"In vier bis fünf Wochen werden alle genau wissen, wohin die Reise geht", sagt ein Manager. Eine Kernmannschaft von 200 Mitarbeitern kämmt in diesen Tagen Abteilung für Abteilung durch, begleitet von einem Team des US-Beraterhauses Boston Consulting. 18 Teilprojekte gibt es zurzeit, dabei geht es um Themen wie Informationstechnologie (IT), Personal und Unternehmenskultur. Jede Woche kommt mindestens einmal der Vorstand um Michael Kemmer zusammen, um über den Stand der Dinge zu beraten.

Bis Ende Mai müssen die detaillierten Pläne dann zur Prüfung an die EU-Kommission nach Brüssel geschickt werden. Jeder BayernLBler weiß, dass sich die Bank von einigen ihrer zahlreichen Beteiligungen wird trennen müssen. Aber von welchen? Dass die Landesbankentochter SaarLB weitergereicht wird, gilt bereits als ausgemachte Sache. Aber sonst? Auf den Fluren der BayernLB wird seit Wochen darüber gemunkelt, die Kapitalanlagetochter BayernInvest könnte auf dem Verkaufstisch stehen. Andererseits: Hier bündelt die Bank große Teile ihres Anlagegeschäfts, hier arbeitet sie mit den Sparkassen zusammen, hier geht auch der bayerische Mittelstand ein und aus. "Wir haben über die BayernInvest viele gute Kunden", heißt es aus der Bank. Daher wäre es "unlogisch", die Tochter einfach ziehen zu lassen.

Was Kemmer auf jeden Fall behalten möchte, sind seine beiden wichtigsten und auch größten Töchter: die Kärntner Osteuropa-Bank Hypo Group Alpe Adria und die Direktbank DKB. Ob er sie tatsächlich behalten kann, wird sich erst im Frühjahr oder Sommer entscheiden - und zwar in Brüssel.

Und dann ist da noch die Frage, ob die Gespräche der BayernLB mit der Landesbank Baden Württemberg (LBBW) jemals in einer Fusion münden werden. Auch dies würde Jobs in München kosten. "Wir sind in konkreten Gesprächen", sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) jetzt. Das aber hat nicht viel zu bedeuten. Schon häufig wurde von Gesprächen zwischen den beiden Banken berichtet. Und mindestens genauso oft wurden sie wieder vertagt. Auch in Stuttgart weiß man: Solange die Regierung im Freistaat nicht bereit ist, für ihre Landesbank eine Juniorrolle an der Seite der Stuttgarter zu akzeptieren, wird es nicht zu einem Zusammenschluss kommen.

Ein Arbeiter reinigt eine Fensterscheibe der BayernLB- Zentrale in München: Die Mitarbeiter wollen Klarheit über die Zukunft der angeschlagenen Bank. Fest steht nur, dass tausende Jobs gestrichen werden. Foto: ddp

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Todesurteile im Milchskandal

Drei Chinesen werden hingerichtet, weil sie Babynahrung mit Melamin gestreckt haben

Von Henrik Bork

Peking - Mit drei Todesurteilen und hohen Haftstrafen hat Chinas Regierung am Donnerstag versucht, in dem Skandal um verseuchtes Babymilchpulver das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Ein Gericht in der Provinzstadt Shijiazhuang verurteilte drei M nner zu Tode, die aus Profitgier Milch mit der Industriechemikalie Melamin gestreckt hatten, berichtete die Nachrichtenagentur Xinhua. Sechs Kleinkinder waren in China gestorben und 300 000 weitere Babys mit Nierenbeschwerden und anderen Krankheiten stationär behandelt worden. Der in China lange und absichtlich vertuschte Skandal war erst nach den Olympischen Spielen durch Protestbriefe aus dem Ausland aufgeflogen.

Die prominenteste Angeklagte in den Milchpulver-Prozessen, die Chefin des Milchunternehmens Sanlu, wurde ebenfalls am Donnerstag vom selben Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Tian Wenhua hatte sich schuldig bekannt, obwohl politische Beobachter den Verdacht äußerten, die Managerin sei als "Sündenbock" angeprangert worden, um die aufgebrachte Öffentlichkeit zu beruhigen.

Auch am Donnerstag protestierten Angehörige erkrankter oder verstorbener Kinder vor dem Gerichtsgebäude in der chinesischen Provinzstadt. "Ich denke, sie sollte erschossen werden. Ein Tod für einen Tod", sagte die 48-jährige Zhen Shuzhen, deren einjährige Enkeltochter im Juni an Nierenversagen verstorben war, über die Sanlu-Managerin.

Die profitgierigen Pantscher hatten Milch mit Wasser gestreckt und dann mit Melamin versetzt, weil so bei Qualitätskontrollen ein höherer Proteingehalt vorgetäuscht werden kann. Das Melamin ist jedoch vor allem für Kinder hochgiftig. Hinweise aus der Bevölkerung waren von örtlichen Beamten und Kadern der kommunistischen Partei sowie von Managern und kommunistischen Parteisekretären großer Milchunternehmen monatelang verheimlicht worden, unter dem Vorwand, Chinas Image im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele im August 2008 nicht zu gefährden.

Die Regierung war am Donnerstag erkennbar bemüht, die Wut in der Bevölkerung zu beschwichtigen. Etliche Eltern, die vor dem Gericht demonstrieren wollten, wurden von der Polizei noch bei der Anreise abgefangen und vorübergehend festgenommen.

Die Eltern eines verstorbenen Babys haben in der Zwischenzeit eine Entschädigung in Höhe von etwa 22 000 Euro erhalten. Doch ein loses Netzwerk von Eltern, das seit Monaten für ein Schuldgeständnis der Behörden und für Entschädigung kämpft, bezeichnete diese Summe als unzureichend. Auch ist bei weitem noch nicht klar, ob alle geschädigten Familien entschädigt werden. 200 Eltern haben daher versucht, die Regierung zu verklagen, was in China jedoch kaum Aussicht auf Erfolg hat.

Tian Wenhua Sanlu Group: Management Skandal um verseuchte Babynahrung in China 2008 Todesstrafe in China SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Er sieht gut aus"

Ein Lebenszeichen von Fidel Castro

Buenos Aires - Kubas vormaliger Staatschef Fidel Castro hat sich nach längerem Schweigen wieder zu Wort gemeldet. Er hat die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner empfangen und Zweifel an der Politik des neuen US-Präsidenten Barack Obama geäußert. Obama habe "edle Absichten", doch es blieben "viele Fragezeichen", schrieb der schwerkranke Politiker in einem Leitartikel in der Parteizeitung Granma. Es sei unklar, wie ein "so verschwenderisches und konsumorientiertes System (wie die USA) die Umwelt schützen kann". Auch verwies der 82 Jahre alte Castro darauf, dass in den vergangenen 50 Jahren "trotz ihrer immensen Macht" zehn US-Präsidenten die kubanische Revolution nicht hätten zerstören können.

Dieser Beitrag war seit mehreren Wochen die erste seiner zuvor regelmäßigen "Reflexionen". Das Lebenszeichen und der Besuch der Argentinierin Fernández sollen Gerüchte über eine weitere Verschlechterung seiner Gesundheit zerstreuen. Zuletzt hatten mehrere Staatsgäste vergeblich auf ein Treffen mit ihm gehofft.

Fernández berichtete nach dem offenbar 40 Minuten langen Gespräch in Havanna, Castro habe gut ausgesehen. Allerdings gab es von dieser Begegnung anders als bei solchen Gelegenheiten sonst üblich bis zuletzt kein Foto. Zuvor hatte Cristina Fernández de Kirchner mit Fidel Castros Bruder und Nachfolger als Staatschef Raúl Castro mehrere Verträge unterzeichnet. pb

Castro, Fidel Fernandez de Kirchner, Cristina SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Annäherung im Irak

Bagdad - Die Bewegung des radikalen irakischen Schiiten-Predigers Muktada al-Sadr will sich mit der schiitischen Dawa-Partei von Ministerpräsident Nuri al-Maliki versöhnen. Baha al-Aradschi, ein Abgeordneter der Sadr-Bewegung, sagte der Tageszeitung Al-Sabah Al-Dschadid: "Eine Delegation der Sadr-Fraktion hat al-Maliki getroffen und mit ihm über die ungerechte Art und Weise gesprochen, wie Angehörige unserer Bewegung von den Behörden behandelt werden." Das Gespräch habe sich unter anderem um die Misshandlung von Gefangenen gedreht. Al-Maliki und die Delegation hätten sich darauf geeinigt, in mehreren Provinzen Komitees einzurichten, die sich mit diesen Fällen befassen sollten. Al-Maliki hatte die Miliz der Sadr-Bewegung, die Mahdi-Armee, zuletzt im März 2008 mit Unterstützung der US-Armee angegriffen. dpa

Parteien im Irak SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Karikatur

Nothilfe SZ-Zeichnung: Ironimus

Merkel, Angela: Karikaturen Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nachdem BMW Kurzarbeit angekündigt hat

Das Jahr des Zitterns hat begonnen

Überall in Bayern bangen die Beschäftigten, wie lange ihre Firmen durchhalten, ohne Leute zu entlassen

München - Mit Kurzarbeit in den BMW-Werken Dingolfing, Regensburg und Landshut sowie bei zahlreichen Zulieferern hat die Autokrise nun Bayern voll erfasst. Allein an den drei BMW-Standorten werden ungefähr 26 000 Beschäftigte im Februar und im März weniger arbeiten. Bei den Zulieferern spitzt sich die Lage ebenso dramatisch zu. So werden in Nürnberg in den ersten beiden Monaten mindestens 17 000 Beschäftigte kurzarbeiten müssen. Betroffen sind 16 Betriebe, darunter MAN, Bosch und Diehl Metall. In Bamberg arbeiten 3500 Beschäftigte bei Bosch kurz. Bei FTE im unterfränkischen Ebern sind 1700 Beschäftige betroffen. Und im unterfränkischen Zulieferbetrieb Wagon Automotive droht momentan jedem Vierten der 650 Mitarbeiter in Waldaschaff die Entlassung.

Glaubt man Hans Peter Staber, so sieht es vor allem um die Zukunft der Automobilzulieferer finster aus. Der Geschäftsführer des Nürnberger Zulieferbetriebs FCI hat gerade angekündigt, mehr als jeden sechsten Mitarbeiter entlassen zu müssen. Von den 600 Beschäftigen des Betriebs im Nürnberger Norden werden demnächst 108 die Firma verlassen müssen. Nürnbergs IG Metall-Chef Jürgen Wechsler erklärt, die Geschäftsführung des Anbieters von Steckverbindungen spiele "offenkundig verrückt". Durch die Drohung, den Standort notfalls schließen zu müssen, würden bei FCI "Belegschaft und Betriebsräte erpresst".

Allerdings befürchtet auch die IG Metall, dass vor allem die Zulieferer die Belegschaft die Krise spüren lassen. Mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 250 Beschäftigten seien sie oft nicht in der Lage, über Arbeitszeitkonten, Abbau von Überstunden und ähnliche Instrumente so flexibel zu reagieren wie ein Großunternehmen, sagte Metallerchef Werner Neugebauer. Auch verfügten kleinere und mittlere Unternehmen oft nur über eine geringe Kapitalausstatung und seien von der derzeit schleppenden Kreditvergabe durch die Banken besonders betroffen. Neugebauer forderte deshalb von der Staatsregierung einen "eigenen Mittelstandsschirm".

FCI-Geschäftsführer Staber will seit Oktober sämtliche Möglichkeiten ausgereizt haben: Kurzarbeit, die Trennung von Zeitarbeitern, Überstundenabbau. Den Weihnachtsfrieden habe man noch wahren wollen. Im neuen Jahr aber glaubt der Firmenchef zu wissen, dass "einfaches Aussitzen nicht mehr weiterhelfen wird". Staber prognostiziert, was die Entlassungen betrifft, sei sein Betrieb "nur die Speerspitze" in Franken - andere mittelständische Unternehmen "werden uns demnächst folgen".

Auch in Schwaben geht die Furcht vor Entlassungen um. Anlässlich eines Krisengesprächs im Augsburger Rathaus verabschiedeten zahlreiche Betriebsräte eine Resolution, 2009 dürfe nicht das Jahr der Entlassungen werden. Nach Angaben von Jürgen Kerner, dem Chef der IG Metall in Augsburg, hätten nahezu alle Autozulieferer in seinem Zuständigkeitsgebiet Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt. "Wir reden von 3500 Beschäftigten", sagt Kerner. Er geht davon aus, dass sich die Zahl im kommenden Monat noch verdoppeln werde. Bei den Zulieferbetrieben Federal Mogul in Friedberg und Emcon in Augsburg etwa ginge die Zahl der neuen Aufträge dramatisch zurück. "Wir rechnen damit, dass die Kurzarbeit in vielen Betrieben das ganze Jahr über anhält", so Kerner. Sorgen bereitet ihm auch der traditionell in Augsburg stark vertretene Maschinenbau. Konzerne wie der Schiffsmotorenbauer MAN-Diesel haben zwar derzeit noch volle Auftragsbücher, spüren aber ebenfalls bereits die Kaufzurückhaltung. Mit zeitlicher Verzögerung werde die Krise auch diese Firmen treffen, so Kerner.

In Ostbayern ist die Stimmung trotz der Kurzarbeit bei BMW noch einigermaßen zuversichtlich. Heinrich Trapp, der SPD-Landrat des Kreises Dingolfing-Landau, rechnet zwar mit einer Durststrecke von zwei bis drei Jahren. Aber BMW werde diese dank der guten Qualität seiner Autos besser überstehen als andere Unternehmen. Trapp betonte, dass der Konzern zu seinen Mitarbeitern stehe. Dies zeige sich daran, dass sie während der Kurzarbeit 93 Prozent des Nettogehalts erhielten. Auch der Regensburger OB Hans Schaidinger betonte, dass die Regelung für die Beschäftigten fair sei. Die Belegschaften treiben derweil vor allem Detailfragen um. "Die Kollegen wollen natürlich wissen, wie das ist, wenn sie während der Kurzarbeit krank werden oder was es auch für die Altersteilzeit bedeutet", sagte Thomas Zitzelsberger, der stellvertretende Betriebsratschef des Dingolfinger BMW-Werks. "Ansonsten ist die Lage hier vergleichweise ruhig." msz/prz/cws

Jetzt stoppt auch Audi in Ingolstadt für fünf Tage die Produktion. Foto: ddp

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"Manche Manager sprechen wie Faschisten"

Der Schweizer Autor Urs Widmer über die Sprache der Wirtschaftselite, wie er Banker zum Weinen bringt und warum der Crash von 1929 sein Leben bis heute prägt

Wer zu Urs Widmer, 70, vordringen will, muss länger suchen. Sein Häuschen liegt versteckt zwischen prachtvollen Gründerzeithäusern in der Zürcher Innenstadt. Vor der Eingangstür wuchern schneebedeckte Büsche, die Besucher zum Bücken zwingen. Hier schreibt Widmer seine Bücher auf einer hässlichen elektrischen Schreibmaschine. Heute schreibt er nicht. Heute spricht er über das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück.

SZ: UrsWidmer, reden wir über Geld.

Urs Widmer: Ja, das Geld. Habe ich welches, kümmert es mich nicht sonderlich. Habe ich aber keins, rotiere ich wild herum. Als Kind wusste ich nie, waren wir reich oder arm. Wir lebten mit Bauhaus-Möbeln, aber meine Mutter redete sich und uns ein, wir seien am Verlumpen. Der Crash von 1929 ist in unserer Familiengeschichte präsent geblieben.

SZ: Wie das?

Widmer: Der Crash hat meinen Großvater getroffen. Er war gerade ein reicher Mann geworden - Villa am Rheinufer -, und schon war er wieder arm.

SZ: Was machte Ihr Großvater?

Widmer: Er wuchs mausarm auf, in Norditalien, studierte Chemie und fing bei einer kleinen Klitsche an. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Klitsche eine große Firma geworden, und mein Großvater einer ihrer Vizedirektoren. Er hatte eines der ersten Autos in Basel, einen Fiat, den er selber in Turin abholte.

SZ: Woran ist er gestorben?

Widmer: Er hat sich umgebracht.

SZ: Wegen des Crashs?

Widmer: Weiß ich nicht. Bald danach jedenfalls.

SZ: Und Ihre Mutter lebte stets mit der Angst vor dem plötzlichen Verarmen?

Widmer: (zögert) Ja, tat sie wohl. Völlig unbegründet: Mein Vater war Gymnasiallehrer und hatte einen redlichen Beamtenlohn. Ich habe die florierende Geld-Neurose meiner Eltern - Türenschlagen und Tränen - nicht geerbt. Das erstaunt mich selbst am allermeisten. Ich habe kein Chaos in meinen Geldgeschäften. Ich mache aber auch keine.

SZ: Noch nie?

Widmer: Ich habe zweimal in meinem Leben Aktien besessen. Zuerst die Aktien meiner Mutter, die ich punktgenau an jenem Tag im Oktober 1987 verkaufte, da die Kurse so tief abstürzten wie erst heute wieder. Das zweite Mal war's ein Erbe meines Cousins. Die verkaufte ich beim Höchststand 2006. Beide Male Zufälle. Aber ein Fall von ausgleichender Gerechtigkeit.

SZ: Gab es Zeiten, als Sie wenig Geld hatten?

Widmer: O ja. In den ersten Jahren nach 1969. Da hatte ich nämlich meinen Brotberuf aufgegeben und beschlossen, vom Dichten zu leben. Meine Frau verdiente auch noch kein Geld. Komischerweise erinnere ich mich nicht, dass wir irgendeine Not hatten.

SZ: Nicht einmal Geldnot?

Widmer: Wir flogen auf den Flügeln des Optimismus.

SZ: War es die beste Zeit?

Widmer: Eigentlich ja. (Überlegt.) Ja. Ich war grad 30, voll im Schwung, hatte eine entzückende Frau, war weg aus meiner Heimatstadt, war Schriftsteller geworden - ja, das war wohl so was wie die blühendste Zeit.

SZ: Wie entdeckten Sie das Thema Geld für Ihre Theaterstücke?

Widmer: Geld hat mit Macht zu tun, und Macht ist ein Kernthema des Theaters. Als wir 1996 "Top Dogs" machten, habe ich mich ins Thema verbissen.

SZ: Warum?

Widmer: Wir wollten ein Stück über Ökonomie machen, denn so was gab's noch gar nicht. Damals war die Arbeitslosigkeit der höheren Etagen ein neues Phänomen. Rein theatralisch gesehen ist es viel spannender zu sehen, wie der König stürzt, als wenn der Stallknecht zum 1. 1. gehängt wird.

SZ: Und wie haben Sie sich in die Bankenwelt eingearbeitet?

Widmer: Ich habe mich kundig gemacht. Mit entlassenen Managern gesprochen, mit vielen.

SZ: Die haben offen mit Ihnen gesprochen?

Widmer: Ja. Die haben mir die verrücktesten Geschichten erzählt. Da hatte sich einer, just vor seiner Entlassung, einen Porsche gekauft. Der stand nun in der Garage, mit 56 Kilometern auf dem Tacho. Der Mann setzte sich jeden Tag hinein, startete den Motor und trat aufs Gas. Brrrummmmm. Er ist nie aus der Garage hinausgefahren.

SZ: Warum gibt es kaum Theaterstücke über Wirtschaft?

Widmer: Weil das Theater von Individuen handelt, von einzelnen Menschen mit ihrer Psychologie. In der Ökonomie aber sind die Protagonisten austauschbar. Einer ist wie der andere. CEOs machen alle die gleichen Scherze und haben die gleichen Hobbys. Auch die rituelle Verkleidung ist bei allen gleich, nur Kardinäle sind noch komischer angezogen. Machen Sie mal mit braunen Schuhen eine Bankkarriere (lacht).

SZ: Die Credit Suisse hat ihr eigenes Theaterstück "Bankgeheimnisse" unterstützt. Sie leben vom Geld derer, die Sie kritisieren.

Widmer: Ich habe mein ganzes Leben nie um eine einzige Subvention angesucht. Aber das Theater hat damals von der Credit Suisse Geld bekommen. War dann auch ein schlechtes Stück.

SZ: Das auch noch.

Widmer: Ja. Ganz mein Fehler.

SZ: Saßen Banker von Credit Suisse im Publikum?

Widmer: Vielleicht. Bei "Top Dogs" jedenfalls haben mehrere Unternehmen ganze Vorstellungen gekauft und ihre Mitarbeiter reingeschickt. Vielleicht wollten sie denen ihre Zukunft zeigen (lacht). Es gab Manager, die sind tränenüberströmt aus dem Stück rausgelaufen.

SZ: Sie haben Manager zum Weinen gebracht.

Widmer: Erkenntnis wäre noch schöner gewesen. Allerdings will ich nicht einer sein, der mit erhobenem Zeigefinger dasitzt und andere belehrt.

SZ: In Ihren Stücken gibt es keine Lösungsvorschläge. Sie machen es sich einfach.

Widmer: Ein Stück bietet nie eine fixfertige Lösung an.

SZ: Warum?

Widmer: Weil es Fragen stellt. Und weil es ein Spiel ist. Weil es die Ambivalenzen sichtbar macht, die in jedem Menschen leben.

SZ: Was machen Sie persönlich mit Ihrem Geld?

Widmer: Ich habe es just eben von der UBS zur Zürcher Kantonalbank transferiert. Vom Teufel zum Beelzebub, kann sein (lacht). Im Übrigen fürchte ich mich weniger vor einem Crash der Bank als davor, dass uns die Inflation unser liebes Geld wegfrisst.

SZ: Also doch Ängste wie Ihre Mutter?

Widmer: Nein. Wenn ich Ängste hatte und habe, sind die von einem andern Kaliber. Ängste mit Großbuchstaben, sozusagen. Sie haben mich zum Schriftsteller gemacht. Meine Literatur war zu einem bedeutsamen Teil Angstbewältigung. Und ich habe mir mit einer Psychoanalyse geholfen. Heute haben mich die Ängste mehr oder minder verlassen.

SZ: Sie als Moralist müssen es wissen: Gibt es Hoffnung, dass alles besser wird?

Widmer: "Alles" ist wohl ein bisschen viel verlangt. Was die Ökonomie betrifft: Wenn wir es den Wahnsinnigen, die das derzeitige Desaster herbeigeführt haben, überlassen, ihr eigenes Wahnsystem zu stabilisieren, führt das in die nächste Katastrophe. Das Geld, das an der Börse gehandelt wird, muss wieder, wie einst, direkt auf real produzierte Waren bezogen sein. Alles andere, der Zocker- und Kasinoteil, muss ersatzlos gestrichen werden. Das können nur Leute von außen tun. Natürlich ist jetzt die Politik gefordert, und sie muss mehr tun, als einfach unser Steuergeld zu den Banken hinüberzuschieben. Mir gehört ja inzwischen die halbe UBS!

SZ: Und uns die Commerzbank.

Widmer: Asylantenwohnungen sollten wir daraus machen (lacht).

SZ: Als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging, sprachen Banker von einem Blutbad und Massaker. Was bedeuten diese drastischen Worte?

Widmer: Die Sprache der Ökonomie mag ein militärisches Vokabular. Sie ist auf Eindeutigkeit aus und verleugnet alle Widersprüchlichkeit. Sie errichtet eine Art Potemkinsches Sprach-Dorf aus lauter Euphemismen. Und sie will eine Sprache der Sieger sein. Wer sie spricht, gibt zu erkennen, dass auch er zu diesen Siegern gehören will.

SZ: Woher kommt diese Sprache?

Widmer: So richtig in Schwung kam sie in der Zeit Reagans und Frau Thatchers. Es ist eine Sprache, die die Gefühle, die sich auch im Business nicht ganz ausschalten lassen, wenigstens in den Griff kriegen will. Wer den neoliberalen Jargon spricht, will den Schwächeren ausschalten.

SZ: Wie bei Darwin?

Widmer: So was. Nur dass Menschen keine Schildkröten oder Salate sind. Manche Manager sprechen wie Faschisten. Das müssten sie spüren. Es müsste sie tief erschrecken.

SZ: Ist denn die Sprache der Banker immer brutaler geworden?

Widmer: Wer triumphal von Sieg zu Sieg eilt, lässt seiner Sprache freieren Lauf. "Lead, follow or get out of the way": Das haben wir vor noch nicht allzu langer Zeit aus dem Mund eines der großen Banker gehört.

SZ: Jetzt ist das Modell der Investmentbank gescheitert - mit ihm auch die Sprache der Banker?

Widmer: Die Sprache - diese Nebelwand, hinter der das reale Desaster verschwinden soll - wird jetzt noch mehr benötigt.

SZ: In Ihrem Theaterstück "Top Dogs" kritisierten Sie bereits 1996 die verharmlosende Sprache der Manager . . .

Widmer: Ich habe mich damals auch in die einschlägigen Bars rund um den Paradeplatz gesetzt und den Herren und Damen zugehört. Wenn sie den Feierabend genossen. Oder sich in Herzensangelegenheiten austauschten. Das Befremdliche war, dass sie auch dann keine andere Sprache hatten, auf die sie zurückgreifen konnten. Emotional war das alles doch sehr eng. Wenn du eine reiche Dame heiratest, die dich vergöttert, ist das eine Win-win-Situation.

SZ: Gibt es jetzt die Chance, dies zu ändern?

Widmer: Schön wär's. Nochmals: Die bisherigen Teilnehmer am Spiel werden allein schon deshalb die Spielregeln nicht radikal ändern wollen und können, weil sie andere Regeln gar nicht kennen. Die Lotterie- oder Kasino-Börse muss verschwinden. Natürlich wird sie dadurch massiv kleiner.

SZ: Dann müssen Betriebe zusperren, weil sie keinen Kredit mehr bekommen.

Widmer: Die Schraubenfabrik da vorn an der Ecke, die braucht einen Kredit, und die soll ihn kriegen. Normal investiertes Geld mit einer normalen Rendite. Heute! Die Börsensendungen im Fernsehen sind wie Berichte aus einem Tollhaus. Mit ernster Miene werden die neuesten Lottozahlen verlesen und analysiert - als hätten sie irgendetwas mit unserem normalen Leben zu tun, gar mit unseren Interessen.

SZ: Jetzt wird das Kasino zur Wirklichkeit. Die Konjunktur leidet, das Wachstum bricht ein, die Menschen verlieren ihre Arbeit.

Widmer: Ja. Die virtuelle Welt ist nicht völlig abgekoppelt von der realen. Es leiden die, die mit der Wall-Street-Welt gar nichts zu tun haben. Wetten, dass genau jetzt irgendwo einer von den Haifischen irgendwelche Schrottpapiere kauft, mit denen er in einem Jahr ein Riesengeld zu machen hofft?

Interview: Alexander Mühlauer

und Hannah Wilhelm

Biographie

Urs Widmer wird 1938 in Basel geboren. Er studiert Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach seiner Promotion ist er als Lektor tätig, beim Frankfurter Suhrkamp Verlag bleibt er 17 Jahre. Seitdem arbeitet der Schweizer als Autor. Neben Büchern schreibt er auch Theaterstücke. Sein bekanntestes heißt "Top Dogs", eine Sozialsatire über Top-Manager. Aus entlassenen Führungskräften, den sogenannten Top Dogs, werden darin Underdogs. In einem Outplacement-Center erleben sie selbst, was sie ihren Mitarbeitern angetan haben: wie entwürdigend es ist, plötzlich ohne Job zu leben. Widmer ist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, der gerne ökonomische Themen aufgreift. am

"Ich habe die florierende

Geld-Neurose meiner Eltern

- Türenschlagen und Tränen -

nicht geerbt."

"Börsensendungen sind wie Berichte aus einem Tollhaus. Mit ernster Miene werden

die Lottozahlen verlesen."

Spiegelbild eines Schriftstellers: Urs Widmer, auf der Frankfurter Buchmesse an einer Glasscheibe lehnend. Foto: ddp

Widmer, Urs: Interviews SZ-Serie Reden wir über Geld SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ausgesetzt auf hoher See

Thailands Marine soll Motoren von Flüchtlingsbooten abmontiert haben / Hunderte Birmanen verschollen

Von Oliver Meiler

Singapur - Ein ungeheuerlicher Verdacht lastet auf Thailand. Die Erzählung der Opfer, die überlebt haben und diese Geschichte vor kurzem bekannt machten, hört sich so unmenschlich an, dass der thailändische Armeechef die Vorwürfe zunächst abstritt, noch bevor die Untersuchungen des Falls begonnen hatten.

Im vergangenen Dezember soll die thailändische Marine 992 Flüchtlinge aus Birma auf einer Insel in der Andamanischen See aufgespürt und sie in ihren Schiffen zurück ins Meer gestoßen haben, jedoch ohne Motoren. Diese hatte die Marine angeblich abmontiert. Versorgt wurden die Flüchtlinge nicht, obwohl Trinkwasser und Nahrung an Bord knapp waren. Nur zwei Säcke Reis und zwei Fässer Wasser wurde ihnen mitgegeben. Sie waren der See ausgeliefert.

Die indische Küstenwache rettete 107 der Flüchtlinge kurz vor Weihnachten vor den Andamanen. Ihr Zeugnis war der erste Hinweis auf den Fall. Am 7. Januar strandeten 193 Schiffbrüchige auf einer Insel vor Aceh in Indonesien. Wenige Tage später konnten 150 weitere Flüchtlinge auf der indischen Nikobaren-Insel Tillanchong an Land gehen. Die Hälfte jener 992 Birmanen, die Thailand offenbar ohne Rücksicht auf internationales Recht abschob, gilt noch als verschollen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie tot sind. Alle stammten sie aus Birmas westlichem Arakan-Staat, der neu Rakhaing heißt, genauer: aus dessen nördlicher Grenzregion zu Bangladesch, wo die Rohingyas leben, eine kleine muslimische Minderheit, der rund 750 000 Menschen angehören.

Volk ohne Heimat

Es ist ein heimatloses Volk. Die schlechte Behandlung durch das Militärregime im mehrheitlich buddhistischen Birma, das sie nicht als eigenständige Ethnie betrachtet und schon gar nicht als Ureinwohner des Staates, sondern als illegale Einwanderer aus Bangladesch, treibt viele von ihnen in die Flucht, vorzugsweise in Staaten mit muslimischer Mehrheit: Pakistan, Saudiarabien, Indonesien, Bangladesch. Oder, wie wahrscheinlich in diesem Fall, nach Malaysia.

In Malaysia dürfen Rohingyas arbeiten, wenn sie denn einen Job finden. In ihrer Heimat verbietet man ihnen sogar, sich frei von einem ins andere Dorf zu bewegen. Dafür braucht es eine Bewilligung. Die Rohingyas haben keine Bürgerrechte, weder in Birma noch in Bangladesch. Birmas Militär ging seit der Unabhängigkeit 1948 oft mit brutalen Offensiven gegen seine vielen Minderheiten vor, so auch gegen die Rohingyas. Es zerstörte Siedlungen, brannte Moscheen nieder und vertrieb Hunderttausende. 1992 zum Beispiel, nach der bisher letzten großen Militäroffensive, flüchtete fast ein Drittel der Rohingyas ins Nachbarland. Doch auch in Bangladesch sind sie nicht willkommen. Mehrere internationale Organisationen sind im Norden Arakans tätig, ohne deren Hilfe die Rohingyas kaum überleben könnten. So auch das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), das seit vielen Jahren auf die besondere Not des staatenlosen Volkes hinweist.

Vor einigen Tagen forderte das UNHCR die thailändische Regierung auf, dass sie ihm schnell Zugang gewähre zu einem Camp auf einer thailändischen Insel, in dem 126 Rohingyas vom Militär festgehalten werden sollen. Den Hinweis erhielten die UN von Menschenrechtsgruppen, die Thailand vorwerfen, es gehe systematisch gegen Rohingyas vor, die skrupellosen Abschiebungen seien nicht neu. Als Grund für die Praxis vermuten sie die Sorge Bangkoks, dass es unter den Flüchtlingen solche haben könnte, die sich, wenn man sie passieren ließe, dem Aufstand islamistischer Gruppen im Süden Thailands anschließen würden. In den vergangenen Monaten strandeten laut thailändischer Armee mehr als 4000 Rohingyas an den Küsten des Landes.

Nutzlose Beweise

Thailands neuer Premierminister, Abhisit Vejjajiva, der sein Amt erst seit einigen Wochen innehat, versicherte, er werde dieser Angelegenheit mit aller Konsequenz auf den Grund gehen. Doch dem UNHCR will er vorerst nur einen bedingten Zugang verschaffen zu den 126 mutmaßlich festgehaltenen Flüchtlingen. "Wir wollen schon mit den Vereinten Nationen kooperieren, doch zu unseren Bedingungen", sagte Abhisit, "sie sollten verstehen, dass jedes Land seine Probleme hat mit der Einwanderung". Er habe die Marine gebeten, ihm Fotomaterial zu unterbreiten, das ihren Umgang mit Migranten dokumentiere. Das Material stammt also genau von jener Einheit, die unter Verdacht steht.

Die indische Küstenwache hat mehr als hundert Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet von Birma und Bangladesch aus höchster Seenot gerettet. Überlebende beschuldigen die thailändische Marine, die Boote mit den Flüchtlingen von einer Insel in der Andamanischen See ins Wasser gestoßen zu haben. Thailand will den Fall angeblich untersuchen, zeigt dabei allerdings nur geringes Bemühen. Foto: AFP

Sozialstruktur in Birma Ausländer in Thailand Verteidigungswesen in Thailand Flüchtlingskommissariat der UNO (UNHCR) SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Basistarif? Den gibt's noch nicht

Eigentlich müssen sich alle Bürger seit Jahresbeginn krankenversichern. Doch die Anbieter stellen sich quer

Von Marco Völklein

München - Bei der Krankenversicherung ist seit 1. Januar 2009 einiges neu: Für die gesetzlich Versicherten gibt es nun den Gesundheitsfonds, der das eingenommene Geld unter den gesetzlichen Krankenkassen verteilt. Und bei der privaten Krankenversicherung, abgekürzt PKV, existiert seit Januar der neue Basistarif - eine Art Grundversorgung innerhalb des Systems der PKV. Mehreren Verbraucherzentralen im Bundesgebiet liegen nun Beschwerden von Versicherten vor, die bei der Suche nach einem Basistarif von den Versicherungsgesellschaften offenbar "abgewimmelt" wurden, wie es die Verbraucherschützer ausdrücken.

Das ist besonders ärgerlich, da der Gesetzgeber zusammen mit den vielen Neuerungen auch eine generelle Krankenversicherungspflicht eingeführt hat. Wer sich nicht krankenversichert und dies kommt zum Beispiel bei einer schweren Krankheit oder nach einem Unfall heraus, muss sich spätestens dann versichern - auf die Versicherungsprämie werden aber Strafzuschläge fällig. "Das kann ein paar tausend Euro ausmachen", sagt Andrea Hoffmann, Versicherungsexpertin bei der Verbraucherzentrale Sachsen.

Die Leistungen des PKV-Basistarifs entsprechen denen der gesetzlichen Versicherung. Jede PKV-Gesellschaft muss einen solchen Tarif anbieten. Die Versicherungsprämie darf den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung von derzeit 570 Euro im Monat nicht überschreiten. Vor allem Kleinselbständigen, die bisher weder im gesetzlichen noch im privaten System versichert waren, soll der Basistarif helfen.

Doch die Verbraucherzentrale Sachsen berichtet von einem 55-Jährigen aus Zwickau, der seit 2006 ohne Krankenversicherungsschutz lebt. Er will nun zurück in die Private und fragte bei mehreren Gesellschaften an. "Bis Mitte Januar ist es ihm nicht ansatzweise gelungen, sich zu versichern", sagt Hoffmann. Mit verschiedenen Ausreden hätten die Unternehmen ihn abgewimmelt - unter anderem hieß es, die Tarifinformationen lägen noch nicht vor. Oder ein Rückruf wurde versprochen, erfolgte aber nicht. Ähnliche Erfahrungen machten nach Angaben der Verbraucherzentrale Interessenten aus Torgau, Leipzig und Dresden. Auch bei den Verbraucherzentralen Hamburg, Thüringen und Rheinland-Pfalz liegen erste Beschwerden vor.

Verbraucherschützerin Hoffmann macht das geringe Interesse der PKV-Unternehmen am Basistarif dafür verantwortlich. Laut Gesetz müssen die PKV-Unternehmen Menschen, die bisher nicht versichert waren, ohne Rücksicht auf Vorerkrankungen aufnehmen und dürfen diesbezüglich auch keine Risikozuschläge erheben. Das hebelt das bisherige System der privaten Krankenversicherung im Grundsatz aus und verursacht bei den Gesellschaften nach Darstellung des PKV-Verbandes hohe Kosten. 30 Unternehmen der Branche haben deshalb bereits Verfassungsbeschwerde gegen die neuen Regeln eingelegt.

"Wer abgewimmelt wird, sollte hartnäckig bleiben", rät Verbraucherschützerin Hoffmann - immerhin bestehe eine gesetzliche Versicherungspflicht. "Im Zweifelsfall muss man die Anfrage an den Versicherer schriftlich einreichen, als Einschreiben mit Rückschein", ergänzt Charlotte Henkel von der Verbraucherzentrale Hamburg. Wer dennoch nicht weiterkommt, sollte die Versicherungsaufsicht bei der Bafin , der Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht, einschalten. Infos: 01805/122 346.

Spätestens im Krankenhaus kommt es heraus, wenn jemand nicht krankenversichert ist. Gerade Kleinselbständige sind bislang oft nicht versichert. Ein Basistarif soll das jetzt ändern. Foto: ddp

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Winter im Casino

Von Martin Hesse

Frankfurt im Januar, das ist schon in guten Jahren ein unwirtlicher Ort. Die kühlen Hochhausfronten im Bankenviertel wirken noch etwas eisiger und abweisender als sonst. Obdachlose drücken sich in die Häusernischen des Bahnhofviertels, kauern am Fuße der Katharinenkirche, verkriechen sich aus den Zwischengeschossen der U-Bahnstationen Hauptwache und Konstablerwache auf die Bahnsteige eine Etage tiefer. Wärme suchend. Nur um dort wieder verscheucht zu werden von übereifrigen Ordnungshütern, begleitet vom Kopfschütteln gut verpackter, wenn auch immer häufiger arbeitsloser Bankangestellter.

Schnell stecken die Passanten ihre Nasen verschämt wieder in Zeitungen, auf deren Titelseiten von der endlosen Misere ihrer Geldgeber und Geldvernichter die Rede ist. Wer noch Arbeit hat, und das sind hier noch immer die meisten, drängt rasch auf die Rolltreppe - "rechts stehen, links gehen!" -, nur schnell nach oben, weg von allem, was an den möglichen Absturz erinnert. Doch oben ragen die Skelette neuer Bankentürme unfertig in den aschgrauen Himmel und scheinen an den trostlosen Zustand der Finanzindustrie zu gemahnen. "Casino schließen", steht auf den angekratzten Wahlplakaten der Linken. "In Zeiten wie diesen kämpfen wir um jeden Arbeitsplatz", grinst Roland Koch von rechts.

In Zeiten wie diesen lieber schnell rein in die Kuschelkisten der Noch-Gutverdiener. Ins Café Opera zum Beispiel. Hier, wo die Welt noch in Ordnung ist, erwärmt man sich bei Loup de Mer auf Kürbischutney am neusten Krisentratsch. Ist das nicht Herr Großkotz von der Pleitebank? Und haben Sie schon das allerallerneueste gehört? Rasch noch eine Cappucinomousse in der Schokoladenträne. Ach! Und dann Kragen hoch und zurück ins Büro. Bank abwickeln, eingraben, auf den Frühling warten. Will denn der Winter niemals enden?

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Wirbel um Interview mit Skandalhändler Kerviel

Paris - Der ehemalige Händler der Société Générale, Jérôme Kerviel, ist am Donnerstag offenbar das letzte Mal von den Untersuchungsrichtern in Paris vernommen worden. Die Beweisaufnahme soll damit endgültig beendet sein. Am Donnerstagmorgen erschien in der Boulevard-Zeitung Le Parisien eine lange Sammlung von Kerviel-Zitaten, die das Surrogat von sechs Gesprächen sein soll. Kerviel dementierte im Radio, dem Parisien jemals ein Interview gegeben zu haben. Die Zeitung blieb bei ihrer Version.

In dem Blatt wirft Kerviel den Untersuchungsrichtern Parteilichkeit vor: "Es ist so, als ob die Ermittlungen von der Société Générale gesponsert worden sind." Eine ungewöhnliche Aussage in einem schwebenden Verfahren. Überhaupt schlägt Kerviel in dem Blatt einen mitunter aggressiven Ton an. Inhaltlich bleibt er aber bei seinen Aussagen: Alle Kollegen hätten von seinen Spekulationen gewusst. Er sei eine wahre "Geldmaschine" für die Bank gewesen, aber ein "Sozialhilfe-Empfänger unter den Händlern".

Nicht zitiert wird er mit der Aussage, er habe gegenüber den Ermittlern eingestanden, dass sein Handelslimit bei 125 Millionen Euro lag. Kerviel handelte am Schluß mit 50 Milliarden Euro. Am Ende seines Prozesses drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe. kläs

Kerviel, Jérome: Rechtliches Societe Generale: Management Societe Generale: Rechtliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erfolg für Exil-Iraner

EU nimmt Volksmudschaheddin von der Terrorliste

Brüssel - Der jahrelange juristische Kampf der iranischen Volksmudschaheddin (PMOI), von der Terrorliste der Europäischen Union gestrichen zu werden, hat jetzt offenbar Erfolg. Wie die Süddeutsche Zeitung aus dem EU-Ministerrat erfuhr, steht die Exilgruppe nicht mehr auf der regelmäßig von nationalen Sicherheitsexperten aktualisierten Liste, die von den europäischen Außenministern auf ihrer Sitzung am Montag als sogenannter A-Punkt verabschiedet werden soll. A-Punkt bedeutet, dass die Angelegenheit ohne Beratung verabschiedet wird.

Die Terrorliste der EU enthält zur Zeit rund 50 Personen und rund 50 Gruppen, deren Vermögen auf europäischen Konten beschlagnahmt wurde, weil sie terroristischer Aktivitäten verdächtigt werden. Die Volksmudschaheddin kam 2002 auf die Liste. Als militante Oppositionsgruppe hatte sie gegen den Schah und das islamistische Nachfolgeregime gekämpft, aber seit 2001 nach eigenen Angaben der Gewalt abgeschworen.

Mehrere europäische Gerichte, darunter der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, hatten in den vergangenen zwei Jahren mehrmals Urteile zugunsten der Exil-Iraner gefällt. Es gebe keine Beweise dafür, dass sie Terroristen seien, befanden die Richter. Auf die Seite der PMOI hatten sich zuletzt auch viele Parlamentarier, Menschenrechtsgruppen und prominente Juristen gestellt. Sie warfen der EU vor, die PMOI nur aus politischen Motiven zu sanktionieren. cob

Volksmudschahedin im Iran Terrorismusbekämpfung in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ausverkauf in der Türkei

Viele Westeuropäer haben sich in den vergangenen Jahren eine Haus oder eine Wohnung an den türkischen Sonnenküsten gekauft. Doch nun verlassen die Ausländer die Türkei in Scharen, wie die Wirtschaftszeitung "Referans" meldete. Gründe seien Probleme bei den rechtlichen Regelungen sowie die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise. AFP

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Unter Abwertungsdruck

Immobilienaktien verlieren kräftig an Wert, doch bestimmt das jeweilige Geschäftsmodell, wie stark

Von Peter Horn

Deutsche Immobilienaktien befinden sich seit Monaten auf Talfahrt. Teilweise verloren einige Unternehmen bis zu 90 Prozent ihres Börsenwertes. Zwar sind davon praktisch alle Gesellschaften betroffen, doch gibt es dennoch Unterschiede zu beobachten. Das Bankhaus Lampe analysiert in einer Branchenstudie, wie sich die Kurse von Unternehmen mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen entwickelt haben. Danach kommen Bestandhalter besser weg als Immobilienhändler und Dienstleister. Während sich die Aktie eines Shopping-Center-Investors gut halten konnte, sind andere geradezu abgestürzt.

"Bei der aktuellen Marktlage achten Investoren ganz genau auf das Geschäftsmodell der Gesellschaften. Wir sehen kurzfristig vor allem Geschäftsmodelle mit einer klaren Fokussierung im Vorteil", sagt Frank Neumann, Immobilienanalyst beim Bankhaus Lampe. Letzteres gelte wohl vor allem für Geschäftsmodelle mit dem Fokus auf Wohnimmobilien. Aufgrund der Konjunktureintrübung sei der Abwertungsdruck bei Büroimmobilien am größten. "Bei Wohnimmobilien gehen wir in nächster Zeit von einem moderaten Abschreibungsbedarf aus", sagt Neumann.

Regionale Ausrichtung

Johann Kowar, Vorstandschef des Wiener Wohnungsunternehmens Concert, meint, dass Wohnungsbestandhalter in Zeiten eines Wirtschaftsabschwungs bei ihren Immobilien tendenziell weniger Abschreibungen vornehmen müssen als Bestandhalter von Gewerbeimmobilien. "Bei der Nutzungsart Wohnen entscheiden weniger der jeweilige Wirtschaftszyklus, sondern vielmehr die regionale Ausrichtung und demographische Trends über Erfolg und Misserfolg", sagt Kowar. Dabei sollten in Deutschland nicht nur Großstädte wie München, Hamburg oder Berlin berücksichtigt werden. Auch Standorte wie Leipzig und Dresden seien attraktiv. Udo Scheffel, Vorstandschef der GBW Gruppe, investiert beispielsweise ausschließlich in Bayern. Mit mehr als 33 000 Wohneinheiten ist die GBW Gruppe die größte bayerische Wohnungsgesellschaft. Bei Bayern denken Investoren in der Regel an München, dessen Bevölkerung seit Jahren wächst. Doch angesichts der teuren Münchner Preise kann sich ein Blick auf andere Standorte durchaus lohnen. Chancenreich seien zum Beispiel die Städte Ingolstadt, Regensburg, Nürnberg, Erlangen, Würzburg und Aschaffenburg mit ihren jeweiligen Ballungsräumen. Dort werde nach Schätzungen des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung bis 2020 die Zahl der Haushalte zum Großteil um mehr als zehn Prozent zunehmen. In München dagegen werde die Haushaltszahl maximal um drei Prozent steigen. "In Städten wie Nürnberg, Aschaffenburg oder Würzburg gibt es schon heute ein vergleichsweise geringes, aber noch ausreichendes Angebot an Wohnraum", sagt Scheffel. Die durchschnittlichen Nettokaltmieten für den Erstbezug im Neubau liegen nach Angaben des Immobilienverbands IVD in Nürnberg bei 8,40 Euro pro Quadratmeter und Monat, in Aschaffenburg bei 8 und in Würzburg bei 7,77 Euro. Laut Scheffel konzentriert sich die Nachfrage in diesen Städten vor allem auf zwei Wohnungstypen: zum einen auf kleinere Wohnungen für Singles, zum anderen auf familiengerechte Wohnungen mit mindestens vier Zimmern. Folglich lohnten sich in Bayern langfristig in erster Linie Investitionen in Objekte, die Wohnungen dieser beiden Kategorien zu bieten haben.

Neben Bestandshaltern sind Geschäftsmodelle mit einem speziellen Fokus für Anleger interessant. Laut Neumann können zurzeit auch jene Firmen punkten, die sich mit ihrem Geschäftsmodell auf eine bestimmte Nische konzentrieren. Im Eigenheimsegment treffe dies auf Design Bau zu. Das Unternehmen plant für institutionelle Investoren zusammenhängende Baugebiete in den Speckgürteln norddeutscher Großstädte wie Hamburg oder Berlin und errichtet dort Einfamilien-, Doppel- und Reihenhäuser. Die einzelnen Häuser werden im Anschluss durch den Vertriebspartner Alt und Kelber im Auftrag des Investors an Privatpersonen verkauft oder zunächst vermietet.

Schnell reagieren

Die Mieter der Häuser haben die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt das gemietete Haus zu kaufen. Ein Zwang hierzu besteht allerdings nicht. Der herkömmliche Bau von Eigenheimen für Selbstnutzer ist dagegen eher ein schrumpfendes Marktsegment. "Wer in einem solchen Marktumfeld bestehen möchte, muss eine Marktlücke identifizieren und sein Geschäftsmodell darauf ausrichten", sagt Werner Mattner, Vorstandsvorsitzender der Design Bau AG. Im Markt für Eigenheime übersteige die Nachfrage nach mietbaren Häusern deutlich das Angebot. "Diese Nische besetzen wir mit dem Konzept ,Mieten oder Kaufen', sagt Mattner.

Neben dem Geschäftsmodell achten Investoren natürlich verstärkt auf eine solide Finanzierung. "Der Kapitalmarkt hat die Freude an Unternehmen verloren, die mit hohen Fremdkapitalquoten versuchen, die Eigenkapitalrenditen in die Höhe zu treiben", sagt Neumann. Kowar bestätigt, dass Banken generell kleinteiliger agierende Investoren mit hoher Bewirtschaftungskompetenz und solider Finanzierungsstruktur suchen.

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Musterknabe mit Tendenz zum Schwächeln

Der Gewerbe-Immobilienmarkt wartet mit einem passablen Jahresergebnis auf, doch das Klima wird zunehmend rauer

Immobilienunternehmen wie Colliers, Jones Lang LaSalle, CB Richard Ellis oder Savills sind sich in ihren Bewertungen des Standortes München weitgehend einig. Bezogen auf den gewerblichen Immobilienmarkt konnte die bayerische Landeshauptstadt im Jahresrückblick ihren ersten Platz behaupten. Wie in allen anderen Immobilienhochburgen trübten sich im letzten Quartal des Vorjahres natürlich Stimmung und Umsatz zunehmend ein. Mit der Folge, dass es weniger Flächenumsätze gab.

Colliers zog Mitte Januar Bilanz und meldete einen Rückgang um 6,7 Prozent oder 780 200 Quadratmeter. Auch der Leerstand erhöhte sich für München und Umgebung nach Angaben von Colliers. Er stieg um 23 800 Quadratmeter und erreichte eine Höhe von 1,55 Millionen Quadratmetern. Atisreal kommt zu Zahlen in ähnlicher Höhe. Ebenso Jones Lang LaSalle. Die Analysten ermittelten für München mit knapp sechs Prozent den geringsten, für Düsseldorf mit 16 Prozent den höchsten Rückgang. Einen bemerkenswerten Kommentar steuert der Immobiliendienstleister Savills bei. Demzufolge wurden in der Landeshauptadt im vergangenen Jahr mehr Büroflächen umgesetzt als in allen anderen deutschen Städten zusammen. Am aktivsten waren am Markt Beratungsunternehmen und Anwaltskanzleien, gefolgt von Industrieunternehmen, Firmen der Computer- und Informationstechnik sowie Medien- und Agenturen. Alle Makler gehen für dieses Jahr von einer deutlichen Abwärtstendenz aus. Denn zuletzt gaben mehrere Indikatoren Grund zur Beunruhigung. Das führt unmittelbar zum Investmentumsatz. Er erreichte bei gewerblichen Immobilien in München für das vergangene Jahr die Höhe von 1,46 Milliarden Euro.

Damit lag er um 78 Prozent unter dem des Vorjahres. Wie auch an anderen Standorten haben in München vor allem die, wegen der schwierigen Finanzierungssituation, stark rückläufigen Großprojekte jenseits der 50 Millionen Euro zum spürbar niedrigeren Transaktionsvolumen beigetragen. Die in die Analyse einbezogenen verkauften Immobilien haben sich im Jahresvergleich mit 76 Verträgen (Vorjahr: 197) erheblich verringert, vor allem aufgrund der nur wenigen Portfolioverkäufe. Auch das durchschnittliche Volumen pro Verkauf ist von 34 Millionen Euro (2007) auf gut 19 Millionen Euro gesunken. Immobilieninvestoren bevorzugen aktuell Anlagen, die Stabilität versprechen. Eine Strategie, die grundsätzlich gilt. Trotz aller negativer Wirtschaftsprognosen haben Investoren starke Wirtschaftszentren im Blick. München zählt aufgrund ihrer diversifizierten Wirtschafts- und Branchenstruktur sowie des drittgrößten Büromarktes sicher zu einem der führenden Immobilieninvestmentmärkte.

Sechs Käufergruppen investierten vergangenes Jahr in nennenswerter Größenordnung. Angeführt von den offenen Immobilienfonds, gefolgt von Projektentwicklern und Bauträgern bis hin zu Immobiliengesellschaften. Erste Schätzungen gehen von einem Rückgang von 25 Prozent aus. Peter Horn

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Interview

"Maß aller Dinge"

Wohnimmobilien in deutschen Zentren für Investoren attraktiv

Förmlich eingebrochen ist das Transaktionsvolumen der großen deutschen börsennotierten Immobilien-Aktiengesellschaften. Eine Folge der Krise an den Finanz- und Immobilienmärkten. Chancen der Besserung, vor allem was den deutschen Markt angeht, sieht Arwed Fischer, Finanzvorstand der Patrizia Immobilien AG.

SZ: Wie bewerten Sie die derzeitige Situation für Immobilienaktien?

Fischer: Auch für die Immobilienaktie ist die derzeitige Situation maßgeblich durch die Finanzkrise geprägt. Wegen ihrer Finanzierungsstruktur leiden Aktienkurse von Immobilienunternehmen besonders unter den Auswirkungen. Die Finanzierung ein wichtiger Baustein im Immobiliengeschäft, gleichwohl darf man den Blick für das Ganze und das operative Geschäft nicht verlieren.

SZ: Inwieweit hängt der Erfolg vom jeweiligen Geschäftsmodell ab?

Fischer: Die Qualität, der Standort der Immobilien sowie das Know-how des Managements sind das Maß aller Dinge. Es wird immer einen Markt für hochwertige Qualitätsimmobilien an sehr guten Standorten geben, die sich durch geringen Leerstand, steigende Mieteinnahmen und eine nachhaltige Wertentwicklung auszeichnen. Sie sind die Grundlage für den Erfolg.

SZ: Worauf achten aus Ihrer Sicht die Investoren?

Fischer: Für sie ist ein stabiler Cash-Flow sowie die Finanzierungsstruktur des Unternehmens wichtig. Dabei wird darauf geachtet, wer seine Kreditbedingungen einhalten und wer den finanzierenden Banken aufgrund der guten Qualität seiner Immobilien konstante Mieteinnahmen und stabile Marktwerte seiner Immobilien aufzeigen kann.

SZ: Welche Entwicklungen sehen Sie für dieses Marktsegment?

Fischer: Die Immobilie wird im Vergleich zur Aktie oder Anleihe als zukunftssicheres Investment wieder an Bedeutung gewinnen. Wohnimmobilien in attraktiven Lagen in deutschen Ballungszentren werden aufgrund ihrer Wertstabilität und konstanter Cash-Flows für Investoren zunehmend attraktiver.

SZ: Welche Entwicklung im europäischen Rahmen wäre denkbar?

Fischer: Im europäischen Rahmen zeichnet sich Deutschland dadurch aus, dass die Preise nicht in dem Maße gestiegen sind wie in anderen europäischen Ländern. Der deutsche Markt bietet im internationalen Vergleich attraktive Chancen. Eigenkapitalstarke Investoren bestimmen den Transaktionsmarkt.

Interview: Peter Horn

Arwed Fischer Foto: privat

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Korrektur

Der Artikel "Geld vom Staat"auf der Immobiliemarktseite vom 16. Januar enthielt eine unkorrekte Angabe: Wir berichteten, dass das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) eine Vor-Ort-Beratung zur Energieeinsparung in Wohngebäuden fördert. Dabei ließen wir die neuen, höheren Beträge, die seit Mai 2008 gelten, versehentlich außer Acht. Inzwischen werden Ein- und Zweifamilienhäuser mit 300 Euro bezuschusst. Für Häuser mit mindestens drei Wohnungen werden 360 Euro gewährt. Zusätzlich wird ein weiterer Zuschuss von jeweils 50 Euro gezahlt, wenn eine Beratung zur Stromeinsparung integriert ist. Der sich daraus ergebende Förderbetrag ist jedoch auf 50 Prozent der Beratungskosten (brutto) begrenzt. Er kann aber durch die Integration thermographischer Untersuchungen zusätzlich um bis zu 100 Euro gesteigert werden.

Weitere Informationen unter: www.bafa.de/bafa/de/energie/energiesparberatung/index.html SZ

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Villa in Kärnten per Los für 99 Euro verkauft

Zum ersten Mal ist in Österreich eine Villa im Rahmen einer Verlosung verkauft worden. Glücklicher Gewinner des Hauses in Klagenfurt wurde ein Mann aus Kärnten. Er hatte zuvor - wie weitere 9998 Landsleute - ein Los für 99 Euro vom alten Besitzer gekauft, der so insgesamt 989 901 Euro einnahm. Die Verlosung der 400 Quadratmeter großen Villa hatte in Österreich Aufsehen erregt. Der Besitzer hatte für die Aktion die Zustimmung des österreichischen Finanzministeriums eingeholt, um mögliche rechtliche Schritte durch erfolglose Mitspieler zu verhindern. Für die 9999 Lose hatte es den Berichten zufolge weit mehr Bewerber gegeben, denn die Chance, für 99 Euro eine moderne Villa zu gewinnen, war verlockend genug. Der glückliche Gewinner des Hauses wurde nach Angaben der Nachrichtenagentur APA am Dienstag von seinem Glück auf einem Zahnarztstuhl überrascht. Seine erste Reaktion beschränkte sich deshalb auf ein schlichtes: "A Wahnsinn!" dpa

Immobilienmarkt Europa Kärnten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Finanzkrise bringt Islands Regierung ins Wanken

Nach wütenden Protesten der Bevölkerung steht das besonders stark betroffene Land vor Neuwahlen

Von Gunnar Herrmann

Stockholm - Nach monatelangen Bürgerprotesten steht Islands Regierung vor ihrem Ende. Sozialdemokratische Politiker forderten ihre Parteiführung auf, die Koalition mit den Konservativen zu verlassen und den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Damit könnte die Finanzkrise erstmals eine amtierende Regierung zu Fall bringen. Selbst Ministerpräsident Geir Haarde schloss ein vorzeitiges Ende seiner Amtszeit nicht mehr aus. Uneins sind sich die Politiker jedoch über den Zeitpunkt für eine Wahl. Die ersten Sitzungstage des Parlaments nach der Weihnachtspause wurden in dieser Woche von schweren Unruhen begleitet. Tausende Menschen belagerten das Parlament, ein Polizist wurde verletzt.

Haardes konservative Unabhängigkeitspartei regiert seit 2007 gemeinsam mit den Sozialdemokraten. Wahlen stünden eigentlich erst 2011 an. Aber kaum jemand rechnet damit, dass die Regierung durchhält. Die Proteste, die schon drei Monaten dauern, werden immer heftiger. Die Polizei setzte in den vergangenen Tagen Pfefferspray ein und verhaftete Dutzende Demonstranten. Am Mittwoch sollen sich in Reykjavik mehr als 3000 Bürger versammelt haben, das entspricht einem Prozent der Bevölkerung.

Die Demonstranten geben der Regierung eine Mitschuld an der Bankenpleite vom Oktober. Waghalsige Spekulationen im Ausland hatten das Finanzsystem der Insel zusammenbrechen lassen. Mittlerweile mussten viele Unternehmen Konkurs anmelden. Rentner verloren ihr Erspartes, Arbeiter ihre Jobs. Experten erwarten, dass die Erwerbslosenquote bald auf mehr als zehn Prozent steigt. Viele Privathaushalte sind zudem hoch verschuldet.

Die Wut über die Misere richtete sich von Anfang an nicht nur gegen die Banker, sondern auch gegen die Politiker. Premier Haarde wurde am Mittwoch Ziel von Attacken. Demonstranten bewarfen seinen Dienstwagen mit Eiern und Schneebällen. Wenig später trat er vor die Kameras und wies die Forderungen der Menge erneut zurück. Ein sofortiger Regierungswechsel sei unvernünftig, das Land stehe vor wichtigen Entscheidungen. "Die Koalition ist stabil", behauptete er. Er kam den Demonstranten aber etwas entgegen und sagte, er habe nichts gegen Neuwahlen bis Jahresende.

Ob die Regierung sich so lange halten kann, ist zweifelhaft. Ebenfalls am Mittwoch versammelte sich der Ortsverein der Reykjaviker Sozialdemokraten zu einer Sondersitzung. Medienberichten zufolge demonstrierten Hunderte Isländer während des Treffens vor dem Gebäude. Am späten Abend verbreitete sich Partystimmung in der Protestgemeinde. Die Sozialdemokraten der Hauptstadt hatten mehrheitlich für ein Ende der Regierungskoalition und Neuwahlen noch in diesem Frühjahr gestimmt.

Ob der Reykjaviker Ortsverein diesen Wunsch in der Partei durchsetzen kann, war am Donnerstag offen. Eine Entscheidung wurde dadurch erschwert, dass Parteichefin Ingibjorg Solrun Gissladottir in Schweden weilte. Die Außenministerin war kürzlich wegen eines Tumors operiert worden und musste sich in einer Stockholmer Klinik einer Nachbehandlung unterziehen. Zum Wochenende wollte sie wieder in Reykjavik sein.

Ursprünglich hatten die Sozialdemokraten angekündigt, über eine Fortsetzung der Regierungskoalition Ende des Monats zu entscheiden. Dann hält die Unabhängigkeitspartei des Ministerpräsidenten einen Parteitag ab und diskutiert über ihren künftigen Kurs. Die wichtigste Frage ist die Haltung zur EU. Bislang war Islands Bevölkerung sehr europaskeptisch, aber in der Krise sehnen sich nun viele nach der Stabilität der Gemeinschaft. Haarde und seine Partei lehnten einen Beitritt bislang ab. Die Sozialdemokraten befürworten die Mitgliedschaft.

Protest in Reykjavik: Erzürnt über die Finanzkrise fordern die Isländer den Sturz der Regierung von Premierminister Geir Haarde. Foto: Reuters

Haarde, Geir Innenpolitik Islands Folgen der internationalen Finanzkrise Wirtschaftsraum Island SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentare

Das ungeliebte Wunderkind

Zehn Jahre nach seiner Geburt widerlegt der Euro alle Skeptiker

Von Alexander Hagelüken

Es lassen sich schönere Arten denken, seine Existenz zu beginnen. Als der Säugling vor genau zehn Jahren das kalte Licht der Welt erblickte, spürte er so-fort Abneigung. Einer der Patenonkel blieb der Geburtsfeier des Euro am 1. Januar 1999 einfach fern. Der deutsche Finanzminister, ein gewisser Oskar Lafontaine, hatte Besseres vor, als der größten Währungsvereinigung der Menschheitsgeschichte beizuwohnen. Der Affront ist typisch für das Verhältnis vieler Deutscher zu diesem neuen Geld. Sie lehnen es ab, misstrauen ihm, fürchten einen Betrug. Eines lässt sich sicher sagen: Wäre der Euro ein Wesen aus Fleisch und Blut, er wäre frühzeitig wegen Liebesmangels verkümmert.

Weil er aber seelenloses Hartgeld ist, hat er stur funktioniert, als misstraue ihm niemand. Gerade in den vergangenen Monaten sah jeder, der wollte, was die Währungsunion leistet. Frühere Krisen rissen Europas Volkswirtschaften auseinander. Spekulanten zwangen angeschlagene Währungen in die Knie. Anfang der Neunziger Jahre stürzte die italienische Lira um 30 Prozent ab. Solche Einbrüche schadeten den Deutschen immer besonders, weil sie auf ihren plötzlich so teuren Autos und Maschinen für den Export sitzen blieben.

Leuchtturm im Meer

Und nun, in der schwersten Finanzkrise seit 1929? Nichts. Der Euro steht wie ein Leuchtturm im Meer, Währungschaos jedenfalls bremst die Exporte nicht, eine Sorge weniger für die Unternehmen. Und für die Politik: Es fiel Europas Regierungen schwer genug, sich auf eine Rettung des Bankensystems ohne nationale Alleingänge zu verständigen. Wäre die Atmosphäre wie früher durch Währungsabwertungen vergiftet, durch den Argwohn stolzer Briten oder Italiener gegenüber der Mark - der Rettungsversuch wäre womöglich gescheitert. Die Europäer hätten ihre Banken gestürmt wie 1931.

Wie in diesem Fall erweist sich der Euro häufig als wertvoll, ohne dass es vielen Menschen auffallen würde. Um mit einem Cartoonisten der Neuen Frankfurter Schule zu sprechen: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein. Erstaunliche Zahlen zeigen, was das gemeinsame Geld bewirkt, weil es Europas Unternehmen ohne Währungsschwankungen Handel treiben lässt. In den heutigen Euro-Staaten entstanden in den Jahren vor der Währungsunion nur 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze - seither aber zehn Millionen. Ein gewaltiger Unterschied, selbst wenn sich dem Euro nur ein Teil des Ergebnisses zurechnen lässt. Alle gefühlten oder - bei einzelnen Produkten - echten Teuerungen verblassen dagegen, zumal die allgemeine Preissteigerung nachweislich geringer ist als zu Mark-Zeiten.

Der wahre Erfolg der Währungsunion lässt sich wohl nur durch den Blick nach außen ermessen, auf jene, die noch keinen Euro haben, ihn aber gerne wollen. Polnische Häuslebauer zum Beispiel. Weil die Zinsen in Euroland niedriger sind als in Polen, nahmen einige Hausbauer ihre Kredite in Euro auf. In der Finanzkrise hat der polnische Zloty stark an Wert verloren. Dadurch sind die Euro-Kredite für die polnischen Hausbauer auf einmal sehr teuer geworden. Sie hätten ihn gerne ganz schnell als Währung, diesen Euro. Und ihre bisher so europaskeptischen Politiker beeilen sich, ihre Sympathie für das Gemeinschaftsgeld zu versichern.

Einstürzende Altbauten

Die Finanzkrise ist dabei, politische Blöcke in Europa aufzubrechen. Seit die Krise den Wert einer großen, stabilen Währung demonstrierte, hat der Euro auf einmal viele Fans. Die Osteuropäer gehören dazu, die am 1. Januar mit der Slowakei das zweite Neumitglied schicken, die Dänen, Schweden, Isländer - und selbst die Briten, die Europaskepsis bisher in den Rang eines nationalen Identitätsmerkmals erhoben. Das britische Pfund rutscht dieses Jahr so tief wie seit Dekaden nicht. Die Briten stehen in den Trümmern einer Strategie, die auf Arbeitsplätze in der Finanzbranche statt in der Industrie setzte, auf billiges Geld und unbeaufsichtigte Spekulation, auf ewig steigende Immobilienpreise und ein unabhängiges Pfund, das zwischen den Giganten Euro und Dollar überlebt. Die Finanzkrise fegt alle Pfeiler dieser Strategie auf einmal weg. In ihren einstürzenden Altbauten fragen sich die Briten, ob sich ihre zelebrierte Europhobie womöglich als teurer Irrtum erweist. Sie waren dem Eurobeitritt noch nie so nahe wie heute.

Natürlich birgt der Ansturm der Interessenten Risiken. Die Währungsunion muss schon viele Spannungen aushalten, zwischen staatsgläubigen Franzosen und liberalen Deutschen, ausgabefreudigen Griechen und sparsamen Finnen. Damit solche Fliehkräfte den Euro nicht ausei-nanderreißen, bedarf er eines Korsetts an Regeln. Dazu gehören Aufnahmekriterien, die auch in der Finanzkrise keine Ausnahmen dulden. Und dazu gehören die Schuldengrenzen des Stabilitätspakts, den Franzosen und Italiener gerade mal wieder schleifen wollen.

Der Euro braucht diese Regeln, weil Europas Politiker noch zu national denken. Das ist zehn Jahre nach dem Start der Währungsunion ein Phänomen. Weil er stur funktioniert, beschert der Euro, das ungeliebte Wunderkind, dem Kontinent ungekannte wirtschaftliche Macht - auch gegenüber dem kranken Riesen USA. Doch Europas Politiker schaffen es nicht, diese Macht zu nutzen, ob durch gemeinsam gesteuerte Konjunkturpakete oder neue Regeln für die Finanzbranche. Der Euro ist moderner als Europas Politiker. Wahrscheinlich wird dies noch länger so bleiben.

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Kritik an Sarkozy

Paris - In Frankreich hat Europastaatssekretär Bruno Le Maire Deutschland in seiner Kritik am Projekt der Mittelmeerunion beigepflichtet. Zwar habe Präsident Nicolas Sarkozy Recht gehabt, die Beziehungen zu den Mittelmeerstaaten auf eine neue Grundlage zu stellen. "Es war aber gleichzeitig eine Vision, die Europas Einheit als politisches Ganzes in Frage stellte, weil sie einen Teil der europäischen Staaten ausgeschlossen hat." Sarkozy hatte im November 2007 angekündigt, er wolle die Union nur mit Anrainern aus der Taufe heben und nicht mit allen EU-Staaten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte daraufhin gewarnt, das Projekt könne Europa spalten. Deutschland und andere Länder setzten dann durch, dass alle EU-Mitglieder beteiligt werden. AFP

Mittelmeerunion SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neue Verhaftungswelle

Istanbul - Die türkische Polizei hat am Donnerstag weitere 30 Personen unter dem Verdacht festgenommen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Wie die Nachrichtenagentur Anatolien meldete, sind darunter mehrere aktive Offiziere der Armee, Polizisten sowie ein Gewerkschaftsfunktionär und ein Journalist. Bereits Anfang des Monats hatte es Dutzende Festnahmen gegeben. Die Aktionen dürften das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen der religiös-konservativen Regierung und dem weltlich ausgerichteten Establishment in Armee und Justiz weiter verschlechtern. Reuters

Istanbul

- Die türkische Polizei hat am Donnerstag weitere 30 Personen unter dem Verdacht festgenommen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Wie die Nachrichtenagentur Anatolien meldete, sind darunter mehrere aktive Offiziere der Armee, Polizisten sowie ein Gewerkschaftsfunktionär und ein Journalist. Bereits Anfang des Monats hatte es Dutzende Festnahmen gegeben. Die Aktionen dürften das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen der religiös-konservativen Regierung und dem weltlich ausgerichteten Establishment in Armee und Justiz weiter verschlechtern.

Innenpolitik der Türkei SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bei dem Konzept "Design Ready" kann der Käufer selbst über Raumaufteilung und Innendesign bestimmen

Von Jürgen Hoffmann

Im Jahr 1271 brach Marco Polo zu seiner Reise in eine damals unbekannte Welt auf. Ihn trieben Sehnsucht und Abenteuerlust. Eine gewisse Lust am Abenteuer - in puncto Wohnen - dürften auch die künftigen Bewohner des nach dem Seefahrer benannten Turms in der Hamburger Hafen-City verspüren. Dessen Vermarktungskonzept könnte Schule machen: Wer im neuen Marco Polo Tower in der Hamburger HafenCity eine Eigentumswohnung erwirbt, bekommt seine vier Wände als Halbfertigprodukt. Keine Innenwand steht, keine Dusche, keine Küche. Es gibt keine Steckdosen und keine Türen. Nur der Eingangsbereich, die Flure, Balkone und andere allgemeine Bereiche sind ausgebaut. Der Käufer muss sein Appartement in Eigenregie komplettieren. "Design Ready" nennen Projektentwickler Dietrich Rogge und Makler Björn Dahler ihr Konzept, das im Segment hochwertiger Eigentumswohnungen den Beginn eines neuen Vermarktungstrends markieren könnte.

Im exklusiven Wohnungsbau ist neben einer zunehmenden Markenbildung - von Star-Designern wie Philippe Starck oder Renzo Rosso entworfene Appartements erzielen Höchstpreise - eine Tendenz zur Individualisierung erkennbar: Je teurer eine Wohnung, desto größer der Wunsch, sie innen möglichst weitgehend nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Häufig reißen Wohnungskäufer große Teile der miterworbenen Ausstattung heraus und ersetzen sie durch eine andere - selbst bei Neubauwohnungen. Nach Überzeugung von Dietrich Rogge ist es daher nur logisch, Käufern die Freiheit zu geben, das Innere ihrer künftigen Wohnung von vornherein individuell zu gestalten: "Jeder entscheidet, wo er schlafen, kochen, baden, essen und entspannen will. Es gibt keine Vorgaben." Wer im Marco Polo Tower kauft, kann für seine Planungen Computer-Simulationen nutzen. Die offene Küche mit schwarzem Tresen im weiß eingerichteten Wohnzimmer? So würde das aussehen. Rogge: "Die Bilder helfen den Käufern, Ideen zu entwickeln und ihre Aufträge an Innenarchitekten zu konkretisieren." Damit nicht genug: Sieben Designer haben der Projektgesellschaft Marco Polo Tower, ein Konsortium aus DC Residential und Hochtief Projektentwicklung, Entwürfe für einen Ausbau vorgelegt. Die Profis von Behnisch Architekten über Graft und Villa Harteneck bis Davide Rizzo durften ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Ihre Varianten gehören nicht zu den billigsten. Wer feinsten Marmor, einen vier Meter breiten Kamin oder goldene Wasserhähne haben möchte, muss tief in die Tasche greifen. Dass es auch günstiger geht, beweist ein Entwurf von KBNK Architekten, dessen Realisierung etwa 1200 Euro pro Quadratmeter kosten würde. Rogge: "Nach oben gibt es preislich keine Grenze." Er schätzt das Marktpotential der Idee, Luxus-Wohnungen im "veredelten Rohbau" zu verkaufen, in Metropolen auf etwa fünf Prozent. In Hamburg sind das Neubauwohnungen ab etwa 6000 Euro pro Quadratmeter, in Berlin ab circa 5500 Euro, in München ab knapp 6800 Euro. Insgesamt besitzt der 17-geschossige Marco Polo Tower 58 Luxus-Appartements, wobei circa 25 Prozent bereits verkauft sind. Die Wohnungen sind 57 bis 340 Quadratmeter groß. Die Preise belaufen sich auf bis zu 11 000 Euro pro Quadratmeter, je weiter oben ein Appartement, desto teurer.

Damit zum Rohbau verschiedene Innenausstattungen passen, müssen alle am Bau Beteiligten frühzeitig und intensiv zusammen arbeiten. Im Marco Polo Tower beispielsweise sind Fußböden und Decken bis zu 53 Zentimeter dick, damit der Käufer die Räume flexibel aufteilen und gestalten kann. Egal ob ein Wohnungseigentümer seine Badewanne direkt am Fenster platzieren oder hochmoderne Haustechnik einsetzen möchte - die Projektentwickler haben die notwendigen Voraussetzungen geschaffen. Und das Tragwerk im noblen Wohn-Turm unweit des Kreuzfahrtschiff-Terminals ist so konzipiert, dass auch große und hohe Räume die Last ihrer Decken tragen können, ohne dass Säulen zwingend notwendig sind. "Der Eigentümer kann dadurch fast völlig frei entscheiden, wo und in welcher Größe er seine Räume haben möchte", weist Hochtief-Projektentwicklerin Vera Spörl auf die gestalterische Freiheit hin. Für ihren Konzern sei das "Design Ready"-Konzept etwas Neues: "Unser Vorstand steht voll hinter dieser Idee, weil sie eine neue, Erfolg versprechende Entwicklung einläutet."

Könnten Finanzmarktkrise und Rezessionsängste die kühnen Konzepte für die Wohlhabenden nicht Makulatur werden lassen? Makler Björn Dahler gibt sich gelassen: "Die Käufer solcher Objekte verfügen meist über einen hohen Anteil an Eigenkapital. Die brauchen das Wohlwollen von Banken nicht. Im Übrigen schichten viele Gutbetuchte derzeit von Aktien oder Fonds auf Immobilien um."

Individualisten zieht der Marco Polo Tower in der Hamburger Hafen-City besonders an. Nur der Rohbau ist vorgegeben - über die Raumaufteilung und das Ambiente seiner Wohnung kann der Käufer frei entscheiden. Oder einen der sieben Entwürfe zum Innenausbau von verschiedenen Designern wählen. Fotos: Projektgesellschaft Marco Polo Tower

Immobilienmarkt Deutschland Innenarchitektur Bauwerke und Gebäude in Hamburg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schöne Bauten aus subjektiver Sicht

Architektur-Netzwerk Be Urban zeichnet zehn Amateur- und Profi-Fotografen für ihre Arbeiten aus

Die gebaute Umwelt aus individueller Perspektive zu präsentieren - dies war Ziel des Architekturfotografie-Wettbewerb "Hottest Building in Town". Nun stehen die Sieger fest: Zehn Teilnehmer, die ihre ganz persönlichen Ansichten ihres Lieblings-Gebäudes eingereicht hatten, wurden vor kurzem in Berlin ausgezeichnet.

Ausgelobt hat den Wettbewerb das Münchner Architektur-Netzwerk Be Urban in Zusammenarbeit mit dem Berliner Verlag Archimappublishers. "Mit mehr als 100 Teilnehmern aus sieben Ländern und mehr als 600 eingereichten Fotos sind unsere Erwartungen weit übertroffen worden", zog Architekt und Jurymitglied Nils Peters von Archimappublishers Bilanz. Die Bewerber stammen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg, Liechtenstein, England und Spanien.

Für die eingereichten Arbeiten spielte es keine Rolle, ob es sich um ein berühmtes Gebäude handelte oder ein unbekanntes. Hobbyfotografen konnten genauso teilnehmen wie Profis. Die zehn Sieger erhielten Sachpreise, darunter einen von Hadi Teherani designten Stuhl und eine Leuchte von Artemide. Der fünfköpfigen Jury gehörte unter anderem auch Regine Geibel, Architektin und Mitbegründerin von Be Urban, der Grazer Architekt Erich Prödl, Friedrich Löhrer von der Kronacher Löwe AG sowie der Architektur-Fotograf Werner Huthmacher an.

"Uns geht es mit solchen Wettbewerben darum, Menschen mit Architektur zu konfrontieren und die aktive Auseinandersetzung mit Bauten zu fördern", erklärt Geibel, die den Wettbewerb zum ersten Mal veranstaltet hat. In Planung ist eine weitere Ausschreibung zum Thema Architekturfotografie. Allerdings sollen nächstes Mal nicht die Ansichten von aus individueller Sicht besonders attraktiven, sondern missglückten Bauten gekürt werden. ssc

Gebrauchte Immobilien sind im Schnitt um ein Drittel billiger als Neubauten. Doch auch Bauherren, die sich ein nagelneues Domizil wünschen, haben viele Möglichkeiten, Geld zu sparen. Laut einer aktuellen Umfrage, die TNS Infratest unter anderem im Auftrag der Landesbausparkassen vorgenommen hat, gaben neun von zehn Befragten an, bewusst kostensenkende Maßnahmen angewandt zu haben. 59 Prozent der Häuslebauer setzten auf Eigenleistungen am Bau. 39 Prozent verzichteten auf den Keller, um den Geldbeutel zu schonen, 25 Prozent gaben dem Carport gegenüber der teureren Garage den Vorzug. An die 30 Prozent der Bauherren wählten ein kleineres Grundstück. Quelle: LBS Research

Futuristisch wirkt dieses Treppenhaus der Kartause Ittingen in Warth am Bodensee. Dabei handelt es sich um ein zum Seminarzentrum umgebautes, ehemaliges Kloster (Foto rechts). Einen Preis gab es auch für die Ansicht des Dokumentationszentrums Bergen-Belsen. Fotos: Stefan Müller, Katrin Derleth (von links)

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Rebellenquartier erobert

Colombo - In Sri Lanka hat die Armee nach eigenen Angaben das Hauptquartier der tamilischen Rebellen im Norden der Insel eingenommen. Das verlassene Versteck im Bezirk Mullaitivu bestehe aus einem Versammlungsraum und einer Kommunikationszentrale, berichtete der britische Sender BBC am Donnerstag. Die Soldaten hätten in den teils unterirdischen Räumen Kartenmaterial mit wichtigen Armeestützpunkten gefunden. Die Rebellen der "Befreiungstiger von Tamil Eelam" (LTTE) seien nun auf ihre einzige verbleibende Bastion im Norden, den Dschungel in Mullaitivu, zurückgedrängt. Die Angaben der Armee lassen sich nicht überprüfen, weil nach wie vor keine unabhängigen Journalisten in das Kampfgebiet reisen dürfen. epd

Colombo

- In Sri Lanka hat die Armee nach eigenen Angaben das Hauptquartier der tamilischen Rebellen im Norden der Insel eingenommen. Das verlassene Versteck im Bezirk Mullaitivu bestehe aus einem Versammlungsraum und einer Kommunikationszentrale, berichtete der britische Sender BBC am Donnerstag. Die Soldaten hätten in den teils unterirdischen Räumen Kartenmaterial mit wichtigen Armeestützpunkten gefunden. Die Rebellen der "Befreiungstiger von Tamil Eelam" (LTTE) seien nun auf ihre einzige verbleibende Bastion im Norden, den Dschungel in Mullaitivu, zurückgedrängt. Die Angaben der Armee lassen sich nicht überprüfen, weil nach wie vor keine unabhängigen Journalisten in das Kampfgebiet reisen dürfen.

Bürgerkrieg in Sri Lanka SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Fest verwurzelt

Gertraud Eibl wohnt seit 60 Jahren in derselben Wohnung. Als sie einzog, gackerten in Laim noch die Hühner

Von Ingrid Brunner

Wenn Gertraud Eibl aus ihrem Wohnzimmerfenster im Münchner Stadtteil Laim blickt, sieht sie einen begrünten Innenhof - eine Wiese mit stattlichen Bäumen, dazwischen Teppichstangen. "Ich hab' mal nachgezählt", erinnert sich Gertraud Eibl, "da draußen haben Anfang der fünfziger Jahre, als meine Tochter klein war, 51 Kinder gespielt." Damals, nach dem Krieg, ging es im Freien lebhaft zu - Kindergeschrei, Frauen, die Wäsche aufhängten. Auch vor der Haustür sah es noch anders aus als heute, die Straße war ein Sandweg, Gehsteige gab es noch keine, zwei Autos gab es da im ganzen Block. Längst ist die schmale, kaum hundert Meter lange Heinrich-Goebel-Straße geteert, auf den Gehsteigen drängt sich ein Auto so dicht ans andere, dass kaum noch ein Fußgänger durchkommt. Und in der gepflegten Grünzone ist es still geworden, nur noch wenige Kinder leben im Wohnblock, die meisten Mieter sind älter als vierzig Jahre, manche auch viel älter.

Viel Leben auf der Straße

So wie Gertraud Eibl. Von ihren bald 84 Lebensjahren hat sie mehr als sechzig in derselben Wohnung gelebt. Auf 57,5 Quadratmetern, unterteilt in zweieinhalb Zimmer. In einer Zeit grenzenloser Mobilität, in der viele Menschen bereit sind, für ihren Job überall hin zu ziehen, mutet diese Sesshaftigkeit schon fast exotischer an als eine lange Umzugskarriere. Frau Eibl findet daran nichts Besonderes. Umgezogen sei sie schließlich oft genug in ihrem Leben. Geboren ist sie 1925 in Berlin, als Gertraud Hacker. Ihr Vater war angestellt bei der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein, 1935 wurde er von der Hauptstadt nach München versetzt. "Wir hatten eine Dienstwohnung in der Neumarkter Straße", berichtet sie. Dort wuchs sie auf. "Ich war in der kaufmännischen Lehre, als der Krieg kam", doch dann unterbrachen die Kriegszeiten ihre berufliche Laufbahn. Sie wurde erst einmal für drei Monate nach Landsberg am Lech geschickt, wo sie zur Funkerin ausgebildet wurde. Nach Kriegsende arbeitete sie als kaufmännische Angestellte bei Möbel Storz im Tal.

Im April 1948 zog Gertraud Eibl, frisch verheiratet, in der Heinrich-Goebel-Straße bei ihrem Mann, in ihre jetzige Wohnung ein. Vier Jahre lang teilte sich das junge Paar die Wohnung mit einem anderen Ehepaar - zwei Familien mit je einem Kleinkind. "Wir haben uns immer gut vertragen", sagt die alerte alte Dame. Konflikte wegen der Wohnsituation habe es nicht gegeben. "Das geht alles", sagt Gertraud Eibl, "man kannte das ja gar nicht anders, die Wohnungen hier im Viertel waren alle so stark belegt, entweder durch Ausgebombte oder durch kinderreiche Familien." Viel mehr als heute spielte sich das Leben auf der Straße ab. "Damals hat man noch mehr Kontakt mit den Nachbarn gehabt, man hat sich getroffen, sich gegenseitig geholfen und stundenlang auf der Straße gestanden und geratscht - über die Kinder, über Gott und die Welt." Frau Eibl kann sich noch gut erinnern, und was sie erzählt, ist ein Stück Münchner Zeitgeschichte des Stadtteils Laim. Damals, als sie jung war, ging es noch ländlich zu im Quartier, "da liefen sogar noch Hühner auf manchen Straßen herum".

Geheizt wurde mit Holz, Kohle und Eierbriketts - aber nicht in jedem Raum stand ein Ofen. Im Bad stand eine Wanne auf Tatzenfüßen, wollten man baden, musste erst der Badeofen mit dem Wasserkessel angeheizt werden. Im Winter zog es trotz Doppelfenstern in die Zimmer. "Die Öfen haben wir erst nach und nach bei der Heimag beantragt", erinnert sie sich. Die Heimag München GmbH, gegründet 1919 mit dem Ziel, "gesunde Wohnungen zu billigen Preisen für minderbemittelte Familien und Einzelpersonen" zu schaffen, hat bis heute einen gemeinnützigen Auftrag. 4788 Wohnung habe die Heimag im Bestand, davon 513 Wohnungen in Laim, sagt Barbara Schlumpp, Assistentin der Heimag-Geschäftsführung. "Die Heimag hat sich uns Mietern gegenüber immer sehr kulant gezeigt", meint Eibl. Diese Einschätzung ist sicher ein Grund dafür, dass es mehr solch langjährige Mieter gibt, besonders in Laim. Es sei sogar üblich, den Mietern zum fünfzigjährigen Wohn-Jubiläum zu gratulieren. "Eine Dame aus Laim musste kürzlich altersbedingt ihre Wohnung kündigen. Ihr Mietvertrag war vom erstem September 1943", berichtet Schlumpp.

Wanne mit Tatzenfüßen

Viel hat sich verändert in Frau Eibls Heim im Laufe von sechzig Jahren. Sie zeigt mit dem Finger nach unten. Direkt unter dem Wohnzimmer, sagt sie, sei früher die Waschküche gewesen, mit Waschkessel und Schleuder. Wäsche waschen war damals noch ein tagesfüllendes und sehr anstrengendes Unterfangen. "Und im zweiten Stock links", diesesmal deutet sie mit dem Finger nach oben, "da hat nach dem Krieg der Doktor Erhardt seine Praxis angefangen. Ich kenne den Sohn, seit er ein kleiner Bub war, der kommt noch immer auf Hausbesuch zu mir."

Die größte Verbesserung? "Anständige Öfen", erwidert sie spontan, später kamen die winddichten Isolierfenster, sogar Balkone hat die Heimag den Wohnungen in der gesamten Siedlung angebaut. Tatsächlich ist es wohlig warm im Wohnzimmer, behaglich hat die alte Dame es sich gemacht. An den Wänden hängen Erinnerungen, alte Fotografien, eine Zeichnung von München mit Frauendom und Rathaus sowie Souvenirs von Reisen in die weite Welt. Ihre Augen leuchten, wenn sie von vergangenen Zeiten erzählt, doch wehmütig blickt sie nicht zurück, auch wenn sie schon seit 45 Jahren Witwe ist. Der ältere Herr im Bilderrahmen ist Gegenwart. "Dieser Herr war mal mein Chef und ist heute mein Freund", sagt sie stolz. Ihre beruflichen Wege hatten sich getrennt, aber Jahre später seien sie sich dann privat näher gekommen.

Gesundheitliche Probleme schränken den Aktionsradius der alten Dame stark ein. Schwere körperliche Arbeiten erledigt heute der Zivi eines privaten Pflegedienstes, eine Krankenschwester wechselt regelmäßig ihr Morphiumpflaster. "Aber ich koche mir noch selbst", sagt sie, selbst gemacht ist eben doch besser als das Essen auf Rädern. Ein Alarmknopf verständigt im Notfall sofort den Malteser Hilfsdienst. Langeweile? "Hab' ich nie", sagt sie, sie lese viel und halte sich mit Kreuzworträtseln geistig fit. Ihre Tochter sieht regelmäßig nach dem Rechten und außerdem telefoniert sie mehrmals täglich mit ihrem Freund. Nochmal umziehen? "Wieso sollte ich?"

Ob Nachbarn, die Straße oder die Häuser: Vieles in Gertraud Eibls Umgebung hat sich im Laufe von sechs Jahrzehnten verändert, sie selbst ist geblieben. Als sie kurz nach dem Krieg in ihre Wohnung einzog, ging es es im Stadtteil München-Laim noch ländlich zu, statt geteerter Straßen gab es noch Sandwege. Foto: Robert Haas

Wohnungsmarkt in München Stadtteil Laim Münchner Nachkriegszeit SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schlag gegen al-Qaida

Islamabad - Die pakistanische Polizei hat im Nordwesten des Landes einen Terrorverdächtigen verhaftet, der in die Londoner Anschläge von 2005 verwickelt sein soll. Bei der Explosion mehrerer Sprengsätze im öffentlichen Nahverkehr wurden damals 52 Menschen getötet. Der Verdächtige, ein saudiarabischer Staatsbürger, soll mit al-Qaida in Verbindung stehen und wurde zusammen mit sechs weiteren Männern bei Peshawar festgenommen, wie Sicherheitsbeamte mitteilten. Der Razzia ging demnach ein Hinweis des US-Geheimdienstes voraus. Die Männer waren von einem unbemannten Flugzeug und drei Hubschraubern beobachtet worden. AP

Al-Qaida: Mitglieder Justizwesen in Pakistan Bombenanschläge in London 2005 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gesucht und gefunden

Die Münchner sind weniger umzugsfreudig als andere Bundesbürger

Wer in München wohnt, will dort meist auch bleiben. Im Vergleich zu anderen deutschen Städten ziehen die Münchner deutlich seltener um. Und wenn jemand doch das Weite sucht, dann richtig: Etwa die Hälfte der Wegzügler geht ins Ausland. Diese und andere Umzugsgewohnheiten erläutert Elmar Huss, stellvertretender Leiter des Statistischen Amtes der Stadt.

SZ: Sind die Münchner besonders umzugsfreudig?

Huss: Die Münchner sind viel weniger umzugsfreudig als andere Bundesbürger. Sie haben gefunden, was sie suchten, eine Stadt, die seit Jahren nach allen Umfragen stabil die Listen anführt, wenn es um die Bewertung wichtiger Standortfaktoren geht.

SZ: Gibt es Bevölkerungsgruppen, die etwas mobiler sind?

Huss: Das sind die jungen Einpersonenhaushalte der 20- bis 35-Jährigen, die entweder dem ansässigen, elterlichen Haushalt entwachsen oder frisch zugezogen sind. Sie realisieren den Weg von der "Bude" in eine der teuren Lagen des Innenstadtrands. Eine weitere Mobilitätswelle trägt die Münchner in den verschiedenen Lebensphasen der Familie. Wenn zum Beispiel Kinder geplant sind, zieht man tendenziell in ruhigere Quartiere des mittleren Stadtgürtels oder in die mehrgeschossigen Wohngebäude einiger Randbezirke.

SZ: Wie sehen die Umzugsbewegungen aus, gibt es Besonderheiten in bestimmten Vierteln?

Huss: Je länger man im Viertel wohnt, desto mehr ist man dort zu Hause, kennt sich aus, hat ein soziales Netz geknüpft. Erwachsene und Kinder haben Freunde, Bekannte in der Nachbarschaft, hier sind Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen. Wenn man tatsächlich umziehen muss, gibt man das alles nur ungern auf. Grundsätzlich finden wir deshalb die höchsten Umzugsraten innerhalb des eigenen Viertels - jeder dritte Umzug hat Ausgangspunkt und Ziel im gleichen Stadtbezirk. Besonders standortgebunden sind die Bürger zum Beispiel in Bogenhausen, Obersendling, Fürstenried, Solln oder Milbertshofen. Durchgangsstationen sind dagegen die Innenstadt und ihre Vorstädte. Ansonsten gilt der Trend: von innen nach außen, also vom Zentrum in den Rand. Was in der Innenstadt frei wird, füllen Zuzüge von außerhalb wieder auf.

SZ: Wie lang wohnt denn ein Münchner in seiner Wohnung?

Huss: Ein Münchner wohnt im Schnitt zwölfeinhalb Jahre an ein und derselben Adresse. In nahezu allen Vierteln mit überwiegendem Altbestand an Ein-, und Zweifamilienhäusern - vorwiegend am Stadtrand gelegen - wohnen die Menschen deutlich länger. Spitzenwerte erzielen zum Beispiel Lochhausen mit 17 Jahren oder Waldperlach mit 16 Jahren. Überdurchschnittliche Sesshaftigkeit finden wir aber auch in Stadtteilen, die von älteren, mehrgeschossigen Großsiedlungen geprägt werden. In diese Kategorie gehören etwa Fürstenried West oder die Blumenau. Umgekehrt sind Quartiere mit stark unterdurchschnittlicher Aufenthaltsdauer zum Beispiel Riem oder Marsfeld. Hier und in anderen Bereichen mit vielen Wohnungs-Neubauten liegt ja der Bezug erst kurze Zeit zurück, was den statistischen Mittelwert natürlich nach unten zieht.

SZ: Der Region München wird ein Bevölkerungszuwachs von 20 Prozent bis zum Jahr 2025 vorausgesagt - vor allem durch Zuzug. Woher kommen die Neubürger vorwiegend?

Huss: Der Zuwachs stammt etwa zur Hälfte aus dem eigenen Land und zur anderen Hälfte aus dem Ausland. Wir rechnen damit, dass Neubürger künftig zunehmend aus dem Ausland zuwandern werden, vor allem aus den Staaten Europas, besonders aus osteuropäischen EU-Saaten. Ohne Zweifel wird aber auch der anwachsende Wanderungsaustausch mit Asien ein stetig steigendes Wanderungsplus für die Landeshauptstadt erbringen.

SZ: Und wohin gehen die Wegzügler?

Huss: Die eine Hälfte geht ins Ausland, die andere Hälfte bleibt in der Republik. Dabei ist der Trend ins Umland seit Jahren stabil und ungebrochen. Allein in die Region 14, das sind die acht Landkreise des unmittelbaren Münchner Umlands, zogen 2007 fast 18 000 Münchner. Das ist ein Viertel aller Abwanderer.

SZ: Alte Menschen ziehen deutlich seltener um als Jüngere. Erwarten Sie da eine Veränderung angesichts der demographischen Entwicklung?

Huss: Ja, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zunächst wird der Anteil der Senioren steigen, die allein leben und Unterstützung familienfremder Dienstleister brauchen und in ein geeignetes Wohnumfeld umziehen müssen. Das Spektrum reicht von der barrierefreien über die WG-geeignete Wohnung bis zum Seniorenheim. Es wird auch immer mehr Ältere geben, die finanziell in der Lage sind, in teure Luxusappartements mit jedem denkbaren Service umzuziehen.

Interview: Ingrid Brunner

Interview

Elmar Huss Foto: oh

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Lage 26 war nicht gefragt

Panorama des Scheiterns: Der Film "1972" von Sarah Morris arbeitet das Attentat während der Olympischen Spiele in München auf

Man muss sich das vorstellen, wie deutsche Polizisten in hellblauen Safarianzügen vom Pariser Edelschneider André Courrèges im Olympischen Dorf Blumen und Bonbons verteilten, statt in Uniform Knüppel zu schwenken; eigentlich hatten diese hippiesken Wellness-Ordnungshüter kaum etwas zu tun während der Olympischen Spiele 1972 in München - bis der 5. September kam und alles auf einmal anders wurde: die Spiele, die Stadt, die Republik und die Wirkung des Terrors, der erstmals zum Medienereignis wurde, damals live vom ZDF übertragen.

Die "Münchner Linie", das war eine Polizeitaktik im Geiste der Modernisierung und der öffentlichkeitswirksamen Abgrenzung vom Bild, das die Welt aus der Geschichte vom deutschen Ordnungsstaat gewonnen hatte. Entworfen hatte diesen Manöverplan für die Olympischen Spiele der Polizeipsychologe Georg Sieber mit seiner "Poko-Studiengruppe" im Auftrag der Münchner Polizei und des Olympia-Organisationskomitees.

Der SDS und die Polizei

Der Film "1972" der Künstlerin Sarah Morris, der vom Samstag an im Lenbachhaus gezeigt wird, ist ein Porträt Siebers - oder besser: Er ist eine Studie über Kontrollmechanismen und deren Scheitern, im Lichte der Geiselnahme von israelischen Athleten durch die palästinensische Gruppierung "Schwarzer September" und des anschließenden Desasters am Flughafen Fürstenfeldbruck mit vielen Toten.

Morris sieht die Welt als Reich der Zeichen. Wenn sie ein Porträt der Stadt Los Angeles dreht - der Film ist im Besitz des Lenbachhauses -, kommen die prominenten Bewohner von Beverly Hills nur am Rande vor; vielmehr vermitteln nächtlich leergefegte Freeways, wartendes Sicherheitspersonal oder Bilder einer Botox-Injektion die Atmosphäre einer hysterisierten Metropole zwischen Schönheitswahn und Sicherheitsparanoia; derart werden auch Strukturen der Macht, des Marktes, der sozialen Bewegungen, die eine Stadt prägen, sichtbar. Vergleichbares gelang der Künstlerin mit Arbeiten über Washington oder Las Vegas.

Morris' abstrakte Bilder dagegen - derzeit im Lenbachhaus in der Schau "Rhythmus 21 - Positionen des Abstrakten" - sind komplexe Farbdiagramme der optischen Sensationen, die Städte nun einmal aufbieten, vom grellen Türkis von L.A. bis zu den gedeckten Smogfarben von Peking, wo Morris derzeit tatsächlich oft arbeitet: Sie plant einen Film über die Olympischen Spiele, wird bei der Eröffnungsfeier dabei sein, nach jahrelangen, aufwendigen Rechercheanstrengungen, bei der sie, wie sie erzählt, lernen musste, dass "ja" oft "nein" bedeutet - und umgekehrt. Die zeitgleich entstehenden abstrakten Gemälde basieren auf den Mustern der Olympischen Ringe. Diese werden aufgesplittert und labyrinthisch verschachtelt; Morris berichtet, Peking bestehe aus einem System von Ringstraßen, man verfranse sich darin immer wieder hoffnungslos.

Morris' Filme wirken wie wortlose Panoramen, sie schildern ihre Sujets kommentarlos eingebettet in sprechende Details. Sieber ist ein Zukunftsexperte; er musste mögliche Szenarien für Anschläge während der Spiele 1972 entwerfen; er war Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, auch in dessen linksradikaler Phase nach 1961 - und sah, Reformer, der er war, keinen Konflikt mit seiner Arbeit für die Polizei. So wurde er zu einer widersprüchlichen und doch tragenden Figur der Jahre um 1968, einer, der bislang im Schatten der Geschichte blieb, weil sein Projekt gewaltfreier Deeskalation zwar heute anerkannt ist, er selbst aber für die Geschichtsschreiber von '68 nicht recht zu verorten war - und ist. Solche Figuren, ihr offenes Profil, ihr freies Flottieren, interessieren Morris.

"Wer Gewalt anwendet, hat schon verloren", so Siebers Motto. Wenn er erzählt, was passierte an jenem unglückseligen 5. September, wie er früh erkannte, dass seine Konzepte nicht gefragt seien und er dann seinen Dienst quittierte und den Rest des Tages vor dem Fernseher saß, sehen wir Bilder des paradiesischen Geländes im Olympiapark, Bilder der heiteren Design-Farben von Günter Behnisch und Otl Aicher, sehen Schwenks über das Olympiadorf, das Stadion. Die Farben der Siebziger: hellblau (eine Uniform), orange und grün (Schalensitze, ein Vorführraum).

Aber wir sehen auch, in Siebers Büro, eine Pinocchio-Figur mit langer Lügen-Nase sowie eine große, leere Sprechblase, ein Kunstwerk. Sieber, der Experte, der immer wieder Gefragte, wenn es um Deeskalation von Konflikten geht - und der Hilflose, der doch nicht verhindern konnte, was im "Schwarzen September" geschah. Der Produzent von Sprechblasen.

Kontrolle des Krisenstabs

Er hatte, damals, das Attentat vorhergesehen. In seinem Szenario "Lage 26" war es detailliert beschrieben, auch die psychologischen Profile der Geiselnehmer. Heute behauptet Sieber, die Israelis hätten damals die Kontrolle über den Krisenstab übernommen. "Wir hätten es vielleicht ein bisschen besser hinbekommen", sagt er. "Denn schlechter hätte man es nicht machen können".

Einmal versteigt er sich zu dem Satz, das Spezialkommando der GSG9 habe nichts bewirken können. Und Mogadischu, die Geiselbefreiung 1977? Sieber ist weiterhin überzeugt davon, dass man "mit einem Polizeigesetz keinen Krieg" führen könne. Doch er relativiert auch. Es gebe keine historische Wahrheit. Wie man damals vorgegangen sei, sei aus deutscher Sicht plausibel gewesen. Und: Die deutsche Polizei sei nun einmal für einen Einsatz dieser Art nicht gerüstet gewesen.

Sieber bleibt eine schillernde Figur. Morris hat keine Reportage gedreht. Sie schildert, unterlegt von der hypnotischen Musik von Liam Gillick, die Geschichte eines Kontrollverlusts und eines gescheiterten Projektes der Deeskalation. Sieber hat noch im Jahr 1972 dichtmachen müssen. Er bekam keinen Auftrag mehr. Doch er erfand sich und sein Unternehmen neu, mit einem griffigen Namen: "Intelligence System Transfer". Als Polizeipsychologe ist er heute wieder sehr gefragt. HOLGER LIEBS

Sarah Morris, 1972, Lenbachhaus München, bis 3. August. Katalog (Walther König) 16,80 Euro. Info: www.lenbachhaus.de

Paradies-Landschaft - und Terror-Schauplatz: Die Stadt und ihr Stadion (Sarah Morris "1972", 2007) Foto: Lenbachhaus

Morris, Sarah Film-Rezensionen zu Filmproduktionen aus München Olympia-Attentat 1972 in München Städtische Galerie im Lenbachhaus SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schwere Rüge für Bern

Regierung hätte Atom-Akten nicht vernichten dürfen

Bern/München - Als eine Art "Bananenrepublik" am Gängelband der USA lässt ein Untersuchungsbericht die Schweiz erscheinen, der am Donnerstag in Bern veröffentlicht worden ist. Es geht um den größten bekannten Schmuggel von Atomtechnologie in Staaten wie Libyen, Iran und Nordkorea. Zu den zentralen Figuren des Skandals gehören der "Vater" der pakistanischen Atombombe, Abdul Qadir Khan, der amerikanische Geheimdienst CIA sowie der Schweizer Geschäftsmann Friedrich Tinner und seine beiden Söhne Urs und Marco. Das für die Kontrolle geheimer Regierungstätigkeiten zuständige Parlamentsgremium in der Schweiz erhebt in dem Bericht schwere Vorwürfe gegen den früheren Schweizer Justizminister Christoph Blocher, die Galionsfigur der konservativen Schweizerischen Volkspartei.

Die Geschäftsprüfungsdelegation kommt zu dem Schluss, es habe keinen zwingenden Grund gegeben, umfangreiche Beweismittel in dem Strafverfahren gegen die Tinner-Brüder zu vernichten. Die Akten enthielten unter anderem Hinweise über illegale Tätigkeiten der CIA in der Schweiz. Der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heißt, hatte im November 2007 auf Anraten Blochers beschlossen, die Dokumente unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vernichten zu lassen. Dies war damit begründet worden, dass die Dokumente auch Baupläne für Atomwaffen enthielten, welche die Schweiz gemäß dem Atomwaffensperrvertrag nicht besitzen dürfe.

Nach Ansicht der Untersuchungskommission kann davon jedoch keine Rede sein. Die Schweiz sei in der Lage gewesen, für eine sichere Aufbewahrung zu sorgen, sagte Kommissionsvorsitzender Claude Janiak in Bern. Die Delegation rügt, die Schweiz hätte selbst die Atomwaffenpläne in dem Strafverfahren nutzen dürfen. Zudem habe es die Möglichkeit gegeben, diese Dokumente auszusondern und nur sie zu vernichten statt das gesamte Beweismaterial. Das Justizministerium habe dafür 16 Monate Zeit gehabt, da es schon Mitte 2006 davon erfahren habe, dass die Akten auch Waffenpläne enthielten. Zudem hätten die als Atomwaffenstaat zum Besitz solcher Pläne berechtigten USA angeboten, diese zu verwahren und für das Strafverfahren zur Verfügung zu stellen. Auch geht aus dem Bericht hervor, dass die Schweizer Behörden gut zwei Jahre lang Kopien der brisanten Pläne bei den Tinners ließen.

Merkwürdigerweise gebe es für manche Gespräche und Vorgänge in dem Zusammenhang keine schriftlichen Unterlagen. Deutlich wird aus dem Parlamentarier-Bericht, dass der USA-Geheimdienst ein erhebliches Interesse an der Aktenvernichtung hatte. Er war im Zuge der Affäre auch in der Schweiz illegal tätig geworden. So hatte die CIA etwa im Jahr 2003 eine regelrechte Hausdurchsuchung bei Tinners durchgeführt. Gegen ein Ermittlungsverfahren über die Operationen der CIA hat die Schweizer Regierung ihr Veto eingelegt. Warum die Regierung in Bern sich per Aktenvernichtung den amerikanischen Wünschen fügte, lässt der Untersuchungsbericht offen.

Durch die von Blocher vorangetrieben Schredderaktion steht infrage, ob die Rolle der Tinner-Brüder im Schmugglerring des pakistanischen Atomwissenschaftlers Abdul Qadir Khan je aufgeklärt werden kann. Das von Khan geführte Netzwerk hatte Libyen eine komplette Bombenfabrik verkauft. Urs Tinner war am Bau von Zentrifugen zur Urananreicherung in Malaysia beteiligt. Gegen ihn und seinen Bruder Marco ermitteln die Schweizer Behörden wegen Verstößen gegen das Güterkontrollgesetz und das Kriegsmaterialgesetz sowie wegen Geldwäsche. Auch wegen der Aktenvernichtung gibt es bis heute keine Anklage. Urs Tinner wurde deshalb nach mehr als vier Jahren Untersuchungshaft vor Weihnachten auf freien Fuß gesetzt, sein Bruder Marco soll nach einem Urteil der Bundesstrafgerichts in Bellinzona trotz Fluchtgefahr und dringendem Tatverdacht ebenfalls freikommen.

Urs Tinner sagte in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme dem Schweizer Fernsehen SF1, er habe erst während seiner Tätigkeit gemerkt, dass er am Bau einer Atomanlage mitgewirkt habe. Daraufhin habe er sich an die CIA gewandt und seine Mitarbeit angeboten. Er habe geholfen, Teile der Bombenfabrik zu sabotieren und beigetragen, dass die Dienste die größte Lieferung an den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi 2003 im italienischen Taranto abfangen konnten. Dies war der schlagende Beweis, damit sich Gaddafi drängen ließ, seine Massenvernichtungswaffen aufzugeben. Gerd Zitzelsberger/Paul-Anton Krüger

Der Schweizer Urs Tinner soll in den weltgrößten Fall von Atomschmuggel verwickelt sein. Foto: dpa

Blocher, Christoph: Angriffe Khan, Abdul Qadir Kriminalität in der Schweiz Regierungen der Schweiz Internationaler Atomschmuggel SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Strafe wegen Islam-Hetze

Graz - Die rechte österreichische Parlamentsabgeordnete Susanne Winter, 51, ist wegen herabwürdigender Äußerungen gegen den Islam zu drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Sie muss auch eine Strafe von 24 000 Euro zahlen. Das Gericht sprach sie der "Verhetzung und Herabwürdigung religiöser Lehren" für schuldig. Sie hatte im Wahlkampf den Propheten Mohammed als "Kinderschänder" bezeichnet und gefordert, im Stadtpark ein "Tierbordell" einzurichten, "damit sich Grazer Moslems nicht an Mädchen vergreifen". dpa

Graz

- Die rechte österreichische Parlamentsabgeordnete Susanne Winter, 51, ist wegen herabwürdigender Äußerungen gegen den Islam zu drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Sie muss auch eine Strafe von 24 000 Euro zahlen. Das Gericht sprach sie der "Verhetzung und Herabwürdigung religiöser Lehren" für schuldig. Sie hatte im Wahlkampf den Propheten Mohammed als "Kinderschänder" bezeichnet und gefordert, im Stadtpark ein "Tierbordell" einzurichten, "damit sich Grazer Moslems nicht an Mädchen vergreifen".

Winter, Susanne: Rechtliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Preis der Arbeit

Am Anfang standen die Bauarbeiter, Gebäudereiniger und Briefträger - für diese 1,8 Millionen Arbeitnehmer gilt bereits ein Mindestlohn. Am Donnerstag hat der Bundestag nun sechs weitere Branchen in das sogenannte Entsendegesetz aufgenommen. So erhält eine weitere Million Menschen künftig ein Mindesteinkommen pro Stunde. Der Bundesrat muss aber noch zustimmen. Auch für die Zeitarbeit mit etwa 700 000 Beschäftigten hat der Koalitionsausschuss bereits das Einziehen einer Lohnuntergrenze vereinbart. SZ

Mindestlöhne in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Für Guantanamo ist auch Berlin zuständig

Deutschland sollte den USA anbieten, entlassene Häftlinge aus dem Rechtsbruch-Lager aufzunehmen

Von Kurt Kister

Wer in Deutschland etwas tut oder sagt, wofür er als "nicht zuständig" gilt, der macht sich in der Firma, im Sportverein und natürlich in der Politik unbeliebt bis verdächtig. Viele Juristen sind wahre Zuständigkeitsfanatiker, die schlimmsten unter ihnen sind jene, die sich als Politiker mit der inneren Sicherheit beschäftigen. Ja, die Rede ist wieder einmal auch von Wolfgang Schäuble. Der hat darauf hingewiesen, dass für die Aufnahme etwelcher aus Guantanamo Entlassener allein die Innenminister von Bund und Ländern zuständig seien - was implizit auch bedeutet, dass die sich schon dagegen aussprechen würden.

Der Innenminister irrt. Zuständig für die Aufnahme ehemaliger Guantanamo-Häftlinge sind alle Staaten, alle Politiker, denen Menschlichkeit etwas bedeutet. Bei jenen, die hoffentlich bald aus dem Rechtsbruch-Lager freikommen, handelt es sich um Leute, gegen die in den USA mangels Anlass keine ordentlichen Strafverfahren geführt werden. Auch die Regierung Obama wird durchaus die mutmaßlichen Terroristen oder Mordplaner unter den Bush-Internierten strafrechtlich verfolgen.

Viele derer aber, die man jahrelang in Käfigen gehalten hat, weil sie in Afghanistan oder im Irak zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren, erfüllen so ziemlich alle Kriterien, die in der EU für die Anerkennung als Asylbewerber wichtig sind. Wenn sie nach ihrer Entlassung nicht in den USA bleiben wollen, ist das sehr verständlich. Die Europäer sollten der Regierung Obama anbieten, diese Leute aufzunehmen. Man wird in jedem Einzelfall die Umstände oder gar eine mögliche Gefahr zu prüfen haben. Aber das tut man bei jedem Asylbewerber.

Gerade Deutschland hat sehr gute Gründe, sich offen und zuständig zu zeigen. Es geht darum, Gequälten zu helfen, denen die Internierung auch die Heimat genommen hat. Es ist außerdem eine Geste an die Neuen in Washington, dass alte Freunde zu einer veränderten Politik gerne die Hände reichen. Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist leider deutlich abgekühlt. Das hat mit den Zeitläuften und der Regierung Bush zu tun. Es gibt aber auf beiden Seiten auch ein manchmal bis über die Grenze der Ablehnung hinausreichendes Desinteresse aneinander.

Hinzu kommt, dass die rot-grüne Regierung und speziell der heutige Kanzlerkandidat Steinmeier Mitverantwortung für die lange Inhaftierung eines Menschen in Guantanamo tragen. Der Fall Kurnaz sollte nicht Motiv einer großzügigen Politik sein, aber dennoch ein Teil der Motivation dafür. Anders als Schäuble befürwortet Steinmeier die Aufnahme entlassener Guantanamo-Häftlinge. Auf keinen Fall darf daraus ein parteipolitischer Streit werden, ob es besser ist, großzügig oder sicherheitsbewusst zu sein. Zwar kennt die Berliner politische Klasse, zumal im Vorwahlkampf, kaum Tabus. Die Aufnahme von ein oder zwei Dutzend Traumatisierter aber sollte dem Gekeife entzogen werden - und sei es durch ein klares Wort der Kanzlerin.

Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo Asylbewerber in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Direkter Weg ins Oval Office

Die wachsende Macht des Vize

Kein Satz hat das Bild vom Amt des US-Vizepräsidenten so verfälscht wie die bittere Zeile von John N. Garner. Den ersten jener insgesamt drei Stellvertreter, die der legendäre Franklin D. Roosevelt einst verschliss, macht bis heute die Sentenz berühmt, der zweithöchste Job der Nation sei "nicht so viel Wert wie ein Eimer warmer Spucke". Das Zitat ist geschönt, in seiner Originalform hatte Garner sogar von einem Eimer Urinat ("Piss") gepoltert.

Das war einmal. Längst vorbei sind die Zeiten, da ein Harry Truman 1945 nach dem Tod eines US-Präsidenten ins Oval Office vorrückt und erst dort gewahr wird, dass sein Land seit Jahren an der Atombombe bastelt. Die Aufwertung von Amerikas Vize-Präsidenten ist weniger der Verfassungsänderung geschuldet, mit der die Nation erst 1967 auch juristisch festlegte, dass der zweite Mann tatsächlich nur den berühmten "einen Herzschlag entfernt" vom mächtigsten Posten der Supermacht lebt. Wichtiger war die Praxis - das Erlebnis, dass der VeePee tatsächlich mehr zu tun hat als ab und an die Sitzungen des Senats zu leiten und dort mit seiner Stimme ein Patt zu brechen.

Der Aufstieg der Stellvertreter begann mit Richard Nixon. Der spätere Präsident durfte, als Vize von Dwight D. Eisenhower in den fünfziger Jahren, erstmals Kabinettssitzungen leiten. Später lehrte die Ermordung von John F. Kennedy alle Amerikaner, wie wichtig der Mann ihrer zweiten Wahl sein kann. In den neunziger Jahren galt Al Gore, Vertreter wie Vertrauter Bill Clintons, als "einflussreichster Vizepräsident der US-Geschichte".

Und dann kam Dick Cheney. Der knurrige Republikaner an der Seite von George W. Bush hat das Amt regelrecht revolutioniert. Als jahrzehntelanger Insider beriet er den in Washington fremdelnden Präsidenten 2001 bei der Besetzung fast sämtlicher Schlüsselposten - und platzierte vielerorts Konfidenten. Donald Rumsfeld, der Verteidigungsminister, war die berühmteste von Cheneys Personalien. Cheney erlangte wahre, bis heute währende Macht. Dieses Netzwerk sorgte dafür, dass viele heikle Dossiers - Details der Planungen für die Irak-Invasion, die Internierung mutmaßlicher Terroristen auf Guantanamo - erst über den Tisch des Vizepräsidenten gingen, ehe sie das Oval Office erreichten. Vieles klärt Cheney sehr persönlich - beim wöchentlichen Lunch mit Bush. Christian Wernicke

Präsidentschaft in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Mensch als Koffer

Wenn Strafprozesse endlos dauern: Was sich die Gerichte dann so alles einfallen lassen

Von Heribert Prantl

Jeder Flugreisende weiß, dass ein "Priority"-Zettel am Gepäck nicht immer die gewünschte Wirkung hat. Manchmal kommt der Koffer trotzdem nicht als Erster, sondern als Letzter aufs Band; manchmal kommt er gar nicht. Das ist ärgerlich, greift aber in die Existenz des Reisenden nicht wirklich gravierend ein.

Im Strafverfahren gibt es auch so einen Priority-Vermerk: Dort nennt er sich "Haftsache". Der dicke Stempel auf dem roten Aktendeckel soll Richtern und Staatsanwälten signalisieren: Der Beschuldigte sitzt, die Sache eilt; sie soll möglichst schnell per Urteil abgeschlossen werden. Das klappt leider ziemlich oft nicht. Die Gerichte sind überlastet, es passieren Fehler und Schlampereien. Für den Menschen ist das viel unangenehmer als für einen Koffer. Der Kofferentzug ist eine Lappalie, ein Freiheitsentzug eine Katastrophe.

Das Bundesverfassungsgericht hat daher wiederholt mit brachialen Entscheidungen versucht, Strafverfolger und Gerichte zur Eile anzuspornen. Es hat selbst mutmaßliche Schwerverbrecher auf freien Fuß gesetzt und auf die "überlange Verfahrensdauer" hingewiesen. In einer dieser Entscheidungen heißt es: "Es kann in einem Rechtsstaat von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nach acht Jahren Untersuchungshaft nicht mehr in Händen halten als einen dringenden Tatverdacht". So sieht das auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Bundesrepublik wiederholt dafür gerügt hat, Verfahren nicht in "angemessener Frist" zu Ende gebracht zu haben.

Was tun? Wenn die Justiz in den Verfahren erstickt, wäre eigentlich als Erstes daran zu denken, mehr Richter und Staatsanwälte einzustellen. Darauf hat aber die Justiz keinen Einfluss, solange es keine Selbstverwaltung der Gerichte gibt, solange sie also nicht selbst (wie es der Unabhängigkeit entspräche) ihre Ansprüche gegenüber den Parlamenten vertreten können. Sie stehen insoweit unter Kuratel der Exekutive, der Politik.

Die Gerichte behelfen sich in ihrer Not, indem sie ihr eigenes Recht schaffen. Sie haben am geschriebenen Recht vorbei den "Deal" erfunden, um die Verfahren einfacher und schneller zu machen. Staatsanwalt, Verteidiger und Richter handeln das Urteil aus; auf diese Weise wird zwar das Strafgesetzbuch zum Handelsgesetzbuch, aber das Problem der überlangen Dauer stellt sich nicht mehr. Der Deal ist ein Instrument vor allem in Wirtschaftsstrafprozessen. Doch bei Mord und Totschlag, den klassischen Schwurgerichtsverfahren, stellt sich das Problem endloser Verfahren nach wie vor. Hierfür hat nun der Bundesgerichtshof finale Regeln aufgestellt: Wenn ein Verfahren extrem lang dauert, dann soll der Angeklagte entschädigt werden. Nicht mehr, wie das bisher verschiedentlich praktiziert worden ist, mit einem Strafabschlag - nicht mehr dadurch also, dass er statt der eigentlich fälligen acht Jahre Haft nur zu fünf Jahren verurteilt wird; sondern dadurch, dass es bei der Vollstreckung der Strafe einen Abschlag gibt.

Das Urteil nach einem Endlos-Strafverfahren wird also künftig so aussehen: "Der Angeklagte wird wegen Totschlags zu acht Jahren Haft verurteilt. Davon gelten drei Jahre bereits als vollstreckt". Bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe kann das bedeuten, dass eine Entlassung auf Bewährung schon nach neun oder zehn, nicht erst nach 15 Jahren geprüft wird. Und bei der Verurteilung zu einer Geldstrafe kann dann ein Teil davon als "schon bezahlt" erklärt werden.

Das alles ist ein Härteausgleich, der im konkreten Fall gut und sinnvoll ist. Dieser Härteausgleich könnte freilich zu einem Ruhekissen werden: Erstens für die Justiz, die das Beschleunigungsgebot künftig noch ein wenig laxer nimmt. Und zweitens für die Politik, die keinen Anlass mehr sieht, die elende Personalsituation bei der Justiz zu verbessern.

Gerichte in Deutschland Strafprozesse in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Konditionen konservieren

Experten raten im Hinblick auf die Finanzierung zu einer langfristigen Zinsbindung

Von Heinz-Josef Simons

Ein Dach über dem Kopf zu haben, das nicht das eigene ist, wird zu einer immer kostspieligeren Angelegenheit. Es ist eben kein Vergnügen, wenn Mieter in Deutschland, wie der Immobilienverband Deutschland (IVD) kürzlich herausfand, mehr als ein Drittel ihres monatlichen Haushaltsnettoeinkommens für Miete und Betriebskosten ausgeben müssen. Grundlage für die IVD-Erkenntnisse waren Daten aus den 100 größten Städten Deutschlands. Jens-Ulrich Kießling, Präsident des IVD, nennt den Ausweg aus dem Dilemma: "Wir müssen über neue Wohnungen in den Städten genauso sprechen wie über deren Ausstattung. Benötigt werden überdies barrierefrei erstellte alten- und behindertengerechte Wohnungen sowie Mehrgenerationenhäuser."

Doch das ist einfacher gesagt als getan. Denn der Erwerb, also der Bau oder Kauf selbstgenutzten Wohneigentums wirft vielerorts und häufiger mehr Probleme auf als noch vor ein oder zwei Jahren. Dies hängt - wie fast alles heutzutage - mit der Finanzmarktkrise zusammen. "Banken und Sparkassen sind deutlich zurückhaltender bei der Vergabe von Hypotheken-Darlehen geworden", sagt der erfahrene Marktbeobachter und Finanzierungsexperte Max Herbst, Chef der Frankfurter FMH Finanzberatung. Dies aber trifft genau jene Zielgruppe unter den Häuslebauern, die am meisten auf sprudelnde Kreditquellen angewiesen ist: junge Familien mit Kindern. "Bei ihnen ist die Finanzierung oft auf Naht genäht, sodass kaum noch Luft bleibt für unvorhergesehene Fälle", lautet die Einschätzung von Herbst.

Bei der oft vergleichsweise geringen Eigenkapital-Ausstattung insbesondere jüngerer Menschen winken die Geldhäuser in zunehmendem Maße ab. Oder aber sie verlangen deutliche Zinsaufschläge wegen des angeblich höheren Risikos. Diese Vorgehensweise verteuert die Finanzierungskosten für die Bauherren ganz erheblich; sie lassen sich mit dem Familieneinkommen dann nicht mehr stemmen.

Dabei sind die Hypothekenzinsen weiterhin historisch niedrig, auch wenn sie sich zwischenzeitlich um den einen oder anderen Zehntel Prozentpunkt nach oben bewegen. Deshalb empfiehlt Robert Haselsteiner, Gründer und Vorstand des Münchner Finanzierungs-Beratungs-Unternehmens Interhyp AG, seit Wochen mit Nachdruck, "sich die aktuellen Konditionen zu sichern und dabei vor allem längere Laufzeiten zu bevorzugen".

Beide Empfehlungen sind sinnvoll. Baugeld ist absolut betrachtet - mit circa 4,5 Prozent - nicht nur sehr billig, sondern die Hypothekenzinsen liegen auch deutlich unter ihren langfristigen Durchschnittssätzen. Bei einer zehnjährigen Festschreibung - hier beträgt der Durchschnittspreis ungefähr sieben Prozent - kommen die Bauherren sowie die Finanzierer derzeit fast drei Prozentpunkte besser weg.

Und auch die von Haselsteiner wärmstens empfohlene sehr lange Zinsfestschreibung scheint vernünftig. Denn die Differenz zwischen fünf- und 25-jähriger Zinsbindung beträgt gerade einmal circa einen Prozentpunkt. Ein durchaus angemessener Zuschlag für ein Vierteljahrhundert Kalkulationssicherheit und dafür, dass man sich nicht vor einer späteren, sündhaft teuren Umschuldung fürchten muss. Gleichwohl sollten Eigenheim-Aspiranten den von Banken, Sparkassen und vor allem Darlehensvermittlern gepriesenen "Spitzen-Konditionen" nicht vorbehaltlos trauen. Das sind oft Schnäppchenpreise, die "aus Werbe- und Marketinggründen ins Schaufenster gestellt werden", warnt Herbst. In vielen Einzelfällen sind die Kreditzinsen am Ende deutlich höher, etwa weil der künftige Eigenheimer zu wenig Eigenkapital oder ein zu geringes verfügbares Einkommen hat, oder sein Arbeitsplatz in einer Krisenbranche ist.

Allerdings reichen die historisch niedrigen Hypothekenzinsen bei weitem nicht aus, um das Finanzierungs-Konzept für die eigenen vier Wände langfristig wetterfest zu machen. Darlehen sollten so flexibel wie möglich gestaltet werden, empfehlen übereinstimmend Verbraucherschützer und Finanzierungsexperten. Möglichkeiten in puncto Flexibilität, die vor es vor zehn Jahren noch nicht gab, sind längst Standards geworden: gebührenfreie jährliche Sondertilgungen, vertraglich fixierte Tilgungsaussetzungen bei finanziellen Engpässen, die wiederholte und ebenfalls kostenlose Veränderung der jährlichen Tilgungsrate entsprechend den finanziellen Möglichkeiten - "Forward-Darlehen" lautet hier das Stichwort. Mit deren Hilfe können Immobilieneigentümer die günstigen Konditionen mit geringfügigem Zinsaufschlag in der Spitze mehr als vier Jahre konservieren.

Ein eminent wichtiger Faktor beim Bau oder Kauf der eigenen vier Wände ist deren Lage. Denn nur wenn diese gut oder sehr gut ist, lässt sich die Immobilie zu einem angemessenen Preis wieder verkaufen. So romantisch ein Häuschen auf dem Land auch erscheinen mag - wenn die Verkehrsanbindung ungünstig ist, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen sowie Schulen und Kindergärten weiter entfernt liegen, wird ein späterer Verkauf schwierig. Denn Mängel bei der Infrastruktur schrecken potentielle Käufer erfahrungsgemäß ab. Zentrumsnahe Lagen sind gefragt. Dies wiederum "wird vergleichsweise teuer, besonders in Metropolen wie München, und ist speziell für junge Familien oft nicht zu finanzieren", räumt Marktkenner Herbst ein. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die Immobilienpreise im deutschlandweiten Schnitt seit Jahren eher stagnieren oder gar geringfügig sinken. "Das wird voraussichtlich auch noch einige Zeit so bleiben, angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land", sagt Erich Gluch, Immobilien-Analyst beim Münchner Ifo-Institut, voraus. Wobei zur statistischen Breite auch teils erhebliche Preisausschläge nach unten und nach oben gehören.

Im statistischen Durchschnitt sind Immobilien, also Häuser und Wohnungen, in etwa so teuer respektive so preiswert wie vor zehn Jahren. Anders verhält es sich in der Metropole München und an deren Peripherie. In Ostdeutschland indes finden Schnäppchenjäger mittlerweile ein sehr preisgünstiges Angebot.

Dass sich zumindest am durchschnittlich günstigen Preisniveau in Deutschland vorläufig nichts ändern dürfte, dafür sprechen mehrere Gründe. Vor allem die schärfste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg und die daraus resultierende Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Wer nicht weiß, ob er in einigen Monaten noch einen Job hat, der wird langfristige finanzielle Verpflichtungen vermeiden.

Wen das nicht kümmert, der hält sich ebenfalls zurück beim Erwerb und bei der Finanzierung. Aber aus einem anderen Grund. So haben wissenschaftliche Untersuchungen übereinstimmend ergeben, dass die Nachfrage nach Baudarlehen in Zeiten niedriger Hypothekenzinsen stagniert oder zurückgeht. Viele Häuslebauer in spe hoffen dann, dass die Zinsen weiter fallen. Sobald Baugeld teurer wird, steigt das Interesse an Krediten - aus Sorge, dass die Zinsen weiter anziehen.

Bei Darlehen kommt es

heute auf Flexibilität an

In München steigen die

Preise, im Osten fallen sie

Immobilienfinanzierung in Deutschland Hypothekendarlehen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Attraktiv, aber teuer

Wachsender Wohnraum-Bedarf prägt den Standort München

Von Christoph Neuschäffer

Eine der wenigen positiven Auswirkungen der Finanzkrise bekommen Immobilienbesitzer und Autofahrer seit einigen Wochen zu spüren. Da die weltweite Nachfrage nach Erdöl stark zurückgegangen ist, sind nicht nur die Benzinpreise, sondern auch die Heizölpreise drastisch gesunken. Kosteten 100 Liter Heizöl im Juli 2008 noch mehr als 95 Euro, so liegt der Preis derzeit bei etwas mehr als 50 Euro. Damit sind zumindest die Betriebskosten für das Wohnen wieder etwas günstiger geworden. Aus Sicht der Verbraucher weniger erfreulich stellt sich die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt dar. "Der Großraum München liegt in Bayern preislich weiterhin auf höchstem Niveau", sagt IVD-Vorstandsmitglied Martin Schäfer. Doch während nach Angaben des Immobilienverbandes Deutschland Süd die Mieten in Bayern landesweit betrachtet stabil geblieben sind, steigen sie in München ungebremst.

Die höchsten Zuwächse verzeichneten in München laut dem im Dezember 2008 vorgelegten Marktbericht des IVD Wohnungen aus dem Bestand mit einem Plus von 9,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Doppelhaushälften in Erstvermietung legten dagegen nur um 1,4 Prozent zu. "Die Wirtschaftssituation ist in Bayern und speziell im Großraum München, wie auch die Immobilienwirtschaft, bodenständig aufgestellt. Und deshalb nicht in dem Maße anfällig für die Verwerfungen der Finanzmarktkrise wie andere Standorte, speziell einige Standorte im Ausland", betont Stephan Kippes, Leiter der Marktforschung beim IVD Süd. Daher rechnet der Experte mit einer weiterhin stabilen Nachfrage am Münchner Immobilienmarkt.

Dieser stabilen Nachfrage steht aber ein eklatanter Mangel an Neubauten gegenüber. So befindet sich die Zahl der Baugenehmigungen in Bayern auf einem historischen Tiefstand. Mit insgesamt 31 771 Baugenehmigungen und 38 333 Baufertigstellungen war 2007 ein vorläufiger Tiefpunkt. Schließt man von den ersten drei Quartalen des Jahres 2008 auf das Gesamtjahr, dann ist mit einem weiteren Negativrekord zu rechnen. Auch in München sieht die Situation nicht besser aus: Mit 4498 Baugenehmigungen und 4200 Baufertigstellungen wurde 2007 das von der Stadt München postulierte Ziel von 7000 fertiggestellten Wohnungen im Jahr klar verfehlt und auch für 2008 sehen die Zahlen nicht sonderlich anders aus. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, ist mit einer Verschärfung der Situation auf dem Wohnungsmarkt zu rechnen. Das Forschungsinstitut Empirica geht davon aus, dass bis zum Jahr 2025 allein in der Region München etwa 265 000 Wohnungen fehlen. Besonders betroffen von der ungünstigen Entwicklung ist der soziale Wohnungsbau. In Bayern gibt es ohnehin nur noch 200 000 Sozialwohnungen, von denen in den kommenden fünf Jahren 70 000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen werden.

Der steigende Bedarf an Wohnraum resultiert zum einen aus dem positiven Wanderungssaldo nach Bayern und München. So wuchs die bayerische Bevölkerung in den vergangenen elf Jahren um eine halbe Million Menschen. Genauso stark ins Gewicht fällt aber auch die Zunahme an Privathaushalten, deren Zahl in Bayern bei mittlerweile fast sechs Millionen liegt. Den stärksten Zuwachs verzeichnete die Zahl der Einpersonenhaushalte, die mit circa 38 Prozent mittlerweile höher ist als die Zahl Haushalte mit Kindern (knapp 31 Prozent).

In Bayern müssten laut Staatsregierung jedes Jahr 60 000 Wohnungen gebaut werden, um den Bedarf zu decken. Doch im Jahr 2007 wurden nur 44 000 Wohnungen errichtet. Und auch 2008 sei das Soll nicht erfüllt worden, beklagt der Verband bayerischer Wohnungsunternehmen (VdW), in dem knapp 500 bayerische Wohnungsunternehmen zusammengeschlossen sind. Und auch die Aussichten für das Jahr 2009 sehen düster aus, meldet der VdW Bayern. "Durch die Finanzkrise wird die Kreditversorgung für Wohnungsunternehmen immer schwieriger", betont Verbandsvorstand Xaver Kroner. Deshalb appellierte er bereits im Dezember an die Staatsregierung, die Wohnraumförderung für 2009 zu erhöhen, um damit auch konjunkturelle Anreize für Handwerk und Bauwirtschaft zu geben. "Ohne ausreichende Förderung werden sich die Investitionen der Wohnungsunternehmen verringern", sagt Kroner.

Bislang steckt die Staatsregierung circa 200 Millionen Euro in die Wohnraumförderung. Ginge es nach dem Willen des VdW, so würde dieser Betrag um weitere 100 Millionen Euro aufgestockt. "Wenn die Förderung nicht erhöht wird, geht der Wohnungsbau noch weiter zurück und die ehrgeizigen Klimaschutzziele werden unerreichbar", erklärt Kroner. Mit den steigenden Mindestanforderungen bei energetischen Sanierungen von Altbauten durch die Energieeinsparverordnung (EnEV) sieht er weitere Belastungen auf die Wohnungsunternehmen zukommen. Verschärfte Baustandards verteuerten jede Einzelmaßnahme, weshalb bei gleichbleibender Investitionskraft immer weniger Gebäude gebaut und modernisiert werden könnten, so die Kritik des Verbandsvorstandes.

VdW fordert mehr Mittel

für die Bauwirtschaft

Gute Perspektiven für die Anbieter moderner Wohnungen in München und Umgebung: Die Nachfrage ist deutlich größer als das Angebot. Daran dürfte sich in naher Zukunft nicht viel ändern. Die Finanzierung von Bauvorhaben ist schwieriger geworden; zusätzlich bremsen verschärfte Gesetze die Investoren. Foto: A. Heddergott

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"Werthaltiger Markt"

Die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk zur lokalen Situation

Trotz Finanzkrise steigen die Mieten in München für alle Objekttypen ungebremst an. Denn während die Nachfrage nach Wohnraum stabil geblieben ist, hält die Zahl der Fertigstellungen mit dem Bedarf nicht Schritt. Die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk skizziert die Perspektiven des Wohnungsmarktes an der Isar.

SZ: Um die Wohnraum-Nachfrage zu decken, müssten in München jährlich circa 7000 Wohnungen fertiggestellt werden. Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahren jeweils nur zwischen 4000 und 5000 Wohnungen gebaut. Wie kann die Stadt diese Lücke schließen?

Merk: Sie sieht ihren Beitrag für den Wohnungsmarkt im Rahmen des Stadtratsbeschlusses "Wohnen in München IV". Das darin formulierte Ziel, Baurecht für 3500 Wohneinheiten zu schaffen, wird im langjährigen Vergleich umgesetzt. Dazu kommen Realisierungen aus dem Bestandsbaurecht in teils erheblichem Umfang. Zudem räumt OB Christian Ude generell der Schaffung von Wohnungen sehr hohe Priorität ein, etwa in der Münchner Initiative für Mietwohnungen. "Wohnen in München IV" ist das größte kommunale Wohnbauförderprogramm, doch es kann weder den Rückgang privater Neubautätigkeit, noch die Skepsis der Investoren ausgleichen. Die gestiegenen Anforderungen der Banken an die Immobilienentwickler in puncto Eigenkapital und Qualität der Konzepte lassen sich ebenfalls nicht auffangen.

SZ: Woran knüpfen Sie die Hoffnung auf eine Rückkehr privater Investoren?

Merk: Sie werden in Zukunft den Wohnungsmarkt als nachhaltigen, stabilen und werthaltigen Markt wiederentdecken. Der geringe Leerstand und die stabile Preis- und Mietenentwicklung in München sprechen für sich. Der Beitrag der Stadt zur langfristigen Stabilisierung des Mietwohnungsmarkts wird in der qualitativen Weiterentwicklung von Wohnen in München - Stichworte sind hier beispielsweise die Energiepreisentwicklung und das Wohnen für Familien - sowie der Schaffung des notwendigen Baurechts liegen. Bauen müssen die Wohnungen die Bauträger, Wohnungsgesellschaften, Genossenschaften, Baugruppen und andere interessierte Investoren.

SZ: Wo kann München nach Vollendung der Projekte entlang der Achse Hauptbahnhof-Laim-Pasing in einem vergleichbar starken Ausmaß wachsen?

Merk: Insgesamt gibt es in München mittel- bis langfristig Flächenpotentiale für circa 60 000 Wohneinheiten. Sie verteilen sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher Standorte. Den größten Beitrag in den kommenden Jahren wird sicher die Entwicklung in Freiham-Nord leisten. Daneben gibt es die Bauprojekte, die außerhalb der Bebauungsplangebiete im Rahmen des Paragraphen 34 Baugesetzbuch, also im Bestand, realisiert werden. In welchem Umfang die Investorengruppen diese Optionen wahrnehmen, ist von der Entwicklung der Bankenkrise und der Konjunktur abhängig, weniger vom Akteur Landeshauptstadt München.

SZ: Welche Chancen sehen Sie, zusätzlichen Wohnraum durch Sanierung und Umbau zu schaffen?

Merk: Sanierung und Umbau schaffen nicht immer neuen Wohnraum. Sie tun dies immer nur dann, wenn etwa nach dem Abbruch in höherer Dichte wiederaufgebaut wird. Dies tun sowohl Bauträger als auch die kommunalen Wohnungsgesellschaften, die auf diesem Weg auch zu besser bewirtschaftbaren und energetisch moderneren Wohnungsbeständen kommen. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung arbeitet derzeit an einem Konzept, bei dem es insbesondere um Prinzipien der Nachverdichtung, wie etwa auch Aufstockungen - dort, wo sie verträglich sind. Dies ist die Grundlage für die Sicherung der Entwicklungsfähigkeit der Landeshauptstadt München bei gleichzeitigem Erhalt ihrer Qualitäten.

Interview: Christoph Neuschäffer

Elisabeth Merk Foto: privat

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Großes Kino

Mit einer hinreißenden Kür gewinnen Savchenko/Szolkowy ihren dritten EM-Titel - Trainer Ingo Steuer treibt sie weiter vorwärts

Helsinki/München (sid/dpa/SZ) - Es war einer jener perfekten Momente, die den Eiskunstlauf so faszinierend machen. Alles harmonierte: die Musik, der künstlerische Ausdruck, der sportliche Vortrag. Im Mittelteil der Kür von Aljona Savchenko und Robin Szolkowy hielten 6000 Zuschauer den Atem an. Kein Radioreporter, kein TV-Kommentator gab gefühlte zwanzig Sekunden lang einen Laut von sich. Nur das Kratzen von vier Schlittschuhen war zu hören in der gigantischen Hartwall-Areena. "Mir lief ein Schauer über den Rücken", sagte Savchenko zu später Stunde, immer noch bewegt. Ihr eher nüchterner Partner Robin Szolkowy nahm die außergewöhnliche Szene mit Humor: "Ich dachte: Entweder sind die Zuschauer eingeschlafen oder sie genießen es."

"Olympia im Blick"

Gebannt wie im Kino hatten sie ihn genossen, den Lauf der alten und neuen Europameister im Paarlauf. Die Menschen in der Halle erhoben sich hinterher ergriffen von ihren Sitzen. Und sogar der Mann, der hinter dem Erfolg der beiden steckt, war diesmal zufrieden. "Ich bin sehr stolz auf die Zwei", sagte Ingo Steuer, ihr manisch ehrgeiziger Trainer. Während der Kür hatte er aus lauter Begeisterung immer wieder seine rechte Faust gen Hallendach gestoßen.

Ihr EM-Titel Nummer drei war alles andere als Routine für die amtierenden Weltmeister und deren Coach. Schon wegen der gewagtem Wahl der Kür-Musik: der Soundtrack von John Williams aus dem Film "Schindlers Liste". Vom Pathos zur Peinlichkeit ist es nur ein kleiner Schritt, zumal bei dem heiklen Thema des Films, zumal bei dieser gedämpften Musik. Im Kontrast dazu kann jede falsche Geste, jeder Fehler im Lauf verheerend wirken. Doch bei allen Schwächen, die Steuer haben mag: Er ist stilsicher, wenn es gilt, Lauf und Musik zusammenzuführen. Sein Paar setzte die Vorgaben perfekt um. Auch das empfand der Trainer als außergewöhnlich, nachdem er sich zuvor über die Arbeitsauffassung von Robin Szolkowy beklagt hatte.

"Das war die beste Kür dieses Winters, da war Spannung drin, da war Dramatik drin", redete sich der Coach geradezu in Rage. Steuer lobte das "Kämpferherz" von Robin Szolkowy, nachdem ihn dieser am Abend zuvor noch mit einem verpatzten Toeloop geärgert hatte. "Robin muss manchmal immer noch lernen, was es heißt, sich total auf ein Ziel zu konzentrieren", hatte der Coach den 29-Jährigen nach dessen Patzer in der Kurzkür kritisiert. Diesmal fand Steuer: "Der Biss war da." Dennoch kündigte er eine Aussprache zu Hause in Chemnitz an. "Wir haben die Auswertung der Leistung dann Schwarz auf Weiß, da kann keiner lügen", erklärte Steuer, "und dann werden wir uns zielstrebig auf die Olympischen Spiele in Vancouver vorbereiten."

Zwar steht noch die WM im März in Los Angeles mit der starken chinesischen Konkurrenz auf dem Programm, doch wenn die Sachsen ebenso gut laufen wie in der finnischen Hauptstadt, müssen sie niemanden fürchten. So deklassierten sie mit 199,07 Zählern die Russen Yuko Kawaguchi/Alexander Smirnow (182,77) und Maria Muchortowa/Maxim Trankow (182,07), die zuvor in Führung gelegen hatten. "Wir müssen in den nächsten Wochen noch eine Kohle drauflegen", findet aber Steuer, der sein Paradepaar in jedem Winter zu immer neuen, schwierigeren Elementen treibt. So überraschte das Duo nach dem verlorenen Grand-Prix-Finale mit einer Umstellung in der Kür, in der die Höchstschwierigkeit Dreifach-Wurfsalchow als Höhepunkt nun erst am Ende kommt. "Das ist gut, so bleibe ich bis zum Ende konzentriert", sagte Savchenko. Manch anderem Duo geht nach vier Minuten die Luft aus, die austrainierten Sachsen könnten noch eine Weile weiterlaufen.

Ein fragiler Dreier-Bund

Deshalb wollte Szolkowy auch nicht ansatzweise Ingo Steuers Kritik an seiner angeblich zu laschen Trainingseinstellung gelten lassen. "Ich wüsste nicht, was ich noch tun sollte für den Sport", meinte der Sohn eines tansanischen Arztes mit dem sächsischen Slang, "es war doch nur ein Toeloop, der daneben ging." Der Vorwurf, er würde sich nicht zu hundert Prozent auf den Eiskunstlauf konzentrieren und stattdessen lieber die Freizeit mit seinen Freunden genießen, wies er weit von sich: "Wenn ich das machen würde, könnte ich nicht einmal zehn Prozent von dem bringen, was wir hier gezeigt haben." Der stets ruhige 29-Jährige ist der Gegenpol zur energiegeladenen Savchenko sowie dem fordernden Coach und gleicht viele Meinungsverschiedenheit aus. "So lange wir erfolgreich bleiben, gehe ich gern durch diese Täler", sagte Szolkowy.

Ein sehr fragiler Dreier-Bund scheint da in Chemnitz am Werk zu sein. Täglich werden auch weiterhin in der Trainingsarbeit Kompromisse zwischen den Ehrgeizlingen Ingo Steuer und Aljona Savchenko auf der einen und dem eher unaufgeregten Robin Szolkowy auf der anderen Seite nötig sein, damit es auf dem Weg zum olympischen Paarlauf-Gold 2010 in Vancouver keine Fehltritte gibt.

"Da war Spannung drin, da war Dramatik drin": Ingo Steuer über die Kür von Aljona Savchenko und Robin Szolkowy Foto: AP

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