Union und SPD wollen Gehaltsexzesse eindämmen

Koalition kämpft gegen die Gier

Ein Gesetz soll verhindern, dass Manager sich zu sehr an der kurzfristigen Rendite orientieren

Von Daniela Kuhr

Berlin - Die große Koalition hat sich auf schärfere Regeln für Managergehälter geeinigt. Die neuen Vorgaben sollen verhindern, dass Vorstände nur auf den schnellen Erfolg aus sind. "Falsche Vergütungsanreize müssen korrigiert werden", sagte Joachim Poß (SPD), der mit Otto Bernhardt (CDU) die Arbeitsgruppe zu Managergehältern geleitet hat.

Mit den neuen Regeln will die Koalition das kurzfristige Renditedenken zurückdrängen. Dieses habe die Katastrophe an den Finanzmärkten mitbefördert, sagte Poß. So dürfen Manager ihre Aktienoptionen in Zukunft frühestens nach vier Jahren und nicht wie bisher nach zwei Jahren einlösen. Zudem soll der Aufsichtsrat eines Unternehmens das Gehalt des Vorstands im Nachhinein auch einmal herabsetzen dürfen. Für Fehler wird das Kontrollgremium stärker haften als bislang. Auch muss in Zukunft der gesamte Aufsichtsrat über das Gehalt eines Vorstandsmitglieds entscheiden und nicht mehr nur ein kleiner Ausschuss des Aufsichtsrats.

Die Arbeitsgruppe schlägt zudem neue Regeln vor für den Wechsel eines Vorstands in den Aufsichtsrat. Der Vorstand soll beispielsweise frühestens drei Jahre nach seinem Ausscheiden Mitglied in einem Prüfungsausschuss des gleichen Unternehmens werden können. Eine absolute Obergrenze für Vorstandsbezüge soll es aber nicht geben. "Mit unseren Vorschlägen wollen wir ein Umdenken bei Managern und Aufsichtsräten bewirken", sagte Poß. "Angemessenheit der Gehälter, langfristige Nachhaltigkeit und Transparenz sind jetzt gefragt."

Die Koalitionsarbeitsgruppe war im vergangenen Sommer eingesetzt worden, um Regeln gegen exzessive Managergehälter auszuarbeiten. Sie hat sechs Mal getagt. "Das Ergebnis kann sich sehen lassen, auch wenn erwartungsgemäß nicht in allen Punkten Einvernehmen erzielt werden konnte", sagten die beiden Vorsitzenden Bernhardt und Poß am Donnerstag nach der letzten Sitzung.

Die Punkte, in denen es keine Einigung gab, sollen am 4. März im Koalitionsausschuss beraten werden. In ihm sitzen die Spitzen der Koalition. Umstritten ist nach wie vor insbesondere, ob die steuerliche Absetzbarkeit von Vorstandsgehältern begrenzt werden soll. Die SPD hatte vorgeschlagen, dass Unternehmen Managergehälter nur noch bis zu einer Million Euro vollständig als Betriebsausgaben absetzen können. Was darüber hinausgeht, solle nur zur Hälfte absetzbar sein. Die Union lehnt das wegen rechtlicher Bedenken ab.

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), die ebenfalls der Arbeitsgruppe zu den Managergehältern angehörte, teilt die Bedenken nicht. "Rechtlich wäre es möglich, den Abzug zu begrenzen", hatte sie im SZ-Interview gesagt. "Bei den Gehältern der Aufsichtsräte ist das schließlich seit Jahren geltendes Recht." Doch Steuerexperten meinen, dass sich dies nicht vergleichen lasse, weil Aufsichtsräte als Selbständige arbeiten, während Vorstände bei ihren Unternehmen angestellt sind.

Strittig blieb auch die Forderung der Sozialdemokraten, Manager darauf zu verpflichten, ihre Entscheidungen stärker am Wohl der Allgemeinheit, des Unternehmens und der Arbeitnehmer auszurichten. Ebenfalls keine Einigung wurde erzielt bei dem Vorschlag, die Aufsichtsräte zu verkleinern und die Zahl der Mandate einzuschränken, die ein einzelner Aufsichtsrat wahrnehmen darf.

Auch die Frage, ob es bei den Haftpflichtversicherungen für Manager eine verbindliche Selbstbeteiligung geben solle, blieb offen. In der Wirtschaft sind diese Versicherungen, die unter dem Begriff D&O (Directors and Officers) bekannt sind, mittlerweile sehr verbreitet. Fast jedes Unternehmen schließt solch eine Police für seine Manager ab, um Schäden im Falle fahrlässigen Verhaltens abzudecken. Kritiker wenden ein, dass die Manager daher keinerlei Haftung mehr zu befüchten hätten, zumal die Beiträge für die D&O-Versicherung in aller Regel das Unternehmen zahlt.

Aktionärsschützer begrüßten das Ergebnis, auf das sich die Arbeitsgruppe geeinigt hat. "Es ist wichtig, das langfristige Denken und Handeln des Vorstands zu fördern", sagte Marco Cabras von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). In der Vergangenheit hätten sich Boni oder Aktienoptionen häufig an den Quartalszahlen orientiert, was falsche Anreize gesetzt habe. Gut sei zudem, dass es keine generelle Deckelung der Gehälter gebe. "Vorstände dürfen ruhig sehr gut verdienen, wenn sie denn sehr gute Leistung bringen."

Union und SPD wollen noch vor der Bundestagswahl Gesetzesänderungen beschließen. "Es besteht die Hoffnung, dass wir in den Punkten, in denen wir uns geeinigt haben, noch tätig werden", sagte Poß.

Einkommen von Führungskräften in Deutschland Aufsichtsräte in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentare

Raus mit den Milliarden

Obamas Konjunkturprogramm ist ein Stück Hoffnung

Von Nikolaus Piper

Ein Sieg und eine Niederlage für den neuen Präsidenten. Barack Obama hat sein Konjunkturprogramm sicher durch das Repräsentantenhaus gebracht und er wird nächste Woche wohl auch eine Mehrheit in der zweiten Kammer des Kongresses, dem Senat, dafür bekommen. Aber bisher hat er keinen einzigen Republikaner hinter seine Position gebracht. Und es wird noch viel Feilschen und Schachern im Kongress geben, ehe das Programm Gesetz wird und Obama der Weltwirtschaft den Anschub geben kann, den sie dringend braucht.

Es ist eigentümlich, dass sich all die alten Argumente gegen Staatsinterventionen in die Wirtschaft bestätigen, dass es aber trotzdem keine Alternative zu dem gigantischen Programm gibt. Der Staat ist eben nicht der weise Vater, der "über der Wirtschaft" steht, wie es sich der deutsche Ökonom Alexander Rüstow einst gewünscht hatte. Der Staat setzt sich zusammen aus Politikern, Abgeordneten und Beamten, von denen jeder seine eigenen Interessen, Wünsche und Vorurteile hat und danach handelt.

Deshalb konnte es auch gar nicht anders sein, als dass in Obamas Konjunkturprogramm lauter problematische Details stecken. Die Demokraten packten sozialpolitische Maßnahmen hinein, etwa die Ausweitung der staatlichen Krankenversicherung, die für viele Menschen sinnvoll sein mögen, die aber in einem Konjunkturpaket eigentlich nichts zu suchen haben. Ganz ähnlich werden die Republikaner jetzt im Senat das Programm mit Steuersenkungen verwä;ssern. Und man kann darauf wetten, dass Lobbyisten in Washington viele Investitionsmilliarden in vollkommen sinnlose Verwendungen umlenken werden.

Nur kommt es darauf jetzt nicht an. In einer so außerordentlichen Situation wie der jetzigen, in der das gesamte Zukunftsvertrauen in der Wirtschaft zusammengebrochen ist, entscheidet nur eines über Erfolg und Misserfolg der Konjunkturpolitik: die zusätzlich geschaffene Nachfrage. Insofern ist es wichtig, dass so viele Milliarden wie möglich so schnell wie möglich ausgegeben werden; das ganze Programm kostet immerhin mehr als der Irak-Krieg. Wahrscheinlich wäre es sogar gut, würde Obamas Programm noch großzügiger ausfallen. Unterstützt wird er von der Notenbank Federal Reserve, die am Mittwoch ankündigte, demnächst im großen Stil amerikanische Staatsanleihen aufkaufen zu wollen. Das bedeutet, dass die Fed Geld druckt, um den Kreditfluss wieder in Gang zu setzen.

All dies wird aber nicht reichen. Der Internationale Währungsfonds hat am Mittwoch ungewöhnlich deutlich die Regierungen der Industrieländer gewarnt: Zusätzliche drastische Maßnahmen sind nötig, um den Absturz der Weltwirtschaft zu stoppen. Bereits in der kommenden Woche dürfte Washington daher die Gründung einer "Bad Bank" bekanntgeben, also eines Instituts, das den normalen Banken einen Teil ihrer faulen Kredite abnimmt. Sie wird weiter viel Geld ausgeben, um Banken mit frischem Kapital auszustatten. Und sie sollte noch einen Schritt gehen, vor dem bisher alle zurückgeschreckt sind: Obamas Team muss entscheiden, ob es nicht große Banken gibt, die nicht mehr lebensfähig sind. Wenn die Antwort "ja" heißt, müssen diese Banken schnell verstaatlicht und dann abgewickelt werden. Das ehrgeizige Konjunkturprogramm kann dauerhaft nur wirken, wenn nicht laufend immer neue Katastrophennachrichten aus dem Finanzsektor kommen. (Seiten 8 und 23)

Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 Bad Bank SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Stärkster Zuwachs seit Jahren

387 000 Arbeitslose mehr

Wirtschaftskrise und Wetter verantwortlich / Gespräche über Staatshilfe für Schaeffler-Konzern ergebnislos

München - Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ist im Januar deutlich gestiegen. Aufgrund der Wirtschaftskrise und des harten Winters wuchs die Zahl im Vergleich zum Dezember um 387 000 auf 3,49 Millionen Menschen. Zudem waren erstmals seit drei Jahren weniger Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Entwicklung fachte die Debatte über Staatshilfen für angeschlagene Unternehmen an. Beratungen über eine Unterstützung für den in Bedrängnis geratenen Autozulieferer Schaeffler verliefen ergebnislos.

"Es gibt keine guten Nachrichten", sagte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, am Donnerstag bei Vorlage der Arbeitsmarktzahlen. "Die Arbeitslosigkeit stieg, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm ab und die Arbeitskräftenachfrage sinkt mittlerweile kräftig", sagte Weise. Die Arbeitslosenquote stieg um 0,9 Punkte auf 8,3 Prozent. Saisonbereinigt, also ohne jahreszeitliche Schwankungen wie die Witterung, verzeichnete die BA 56 000 Arbeitslose mehr. Dies ist der stärkste saisonbereinigte Anstieg seit November 2002. Daten vom November 2008 zeigen, dass es mit 27,91 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einen Rückgang um 105 000 gab.

Dagegen stieg die Zahl der Kurzarbeiter. Während der Kurzarbeit verringern Firmen die Arbeitszeit, weil die Aufträge wegbrechen. Die Arbeitsagenturen zahlen dabei einen Teil des Lohns, das sogenannte Kurzarbeitergeld. Die BA schätzt, dass es im Januar etwa so viel Kurzarbeiter gegeben hat, wie im Dezember. Zum Jahresende waren bei den Arbeitsagenturen 404 000 Kurzarbeiter gemeldet. Außerdem sinkt die Bereitschaft der Firmen, Mitarbeiter einzustellen. "Damit deutet sich ein Ende des fast dreijährigen stetigen Beschäftigungswachstums an", so die BA. Das gemeldete Stellenangebot verringerte sich von Dezember auf Januar um 18 000 auf 485 000.

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) appellierte an die Unternehmen, die neuen Möglichkeiten der erweiterten Kurzarbeit zu nutzen und ihren Mitarbeitern die Teilnahme an Weiterbildungen zu ermöglichen. Auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt ermunterte die Firmen, Kurzarbeit "im größstmöglichen Umfang" sinnvoll einzusetzen, um Beschäftigung so weit wie möglich zu stabilisieren. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach von einem "deutlichen Alarmsignal".

Vertreter von Bund und Ländern berieten am Donnerstag über eine Unterstützung für den Autozulieferer Schaeffler, der die Aktiengesellschaft Continental auf Pump gekauft hatte. Die Firmengruppe mit mehr als 200 000 Mitarbeitern hatte um Staatshilfen von vier Milliarden Euro nachgesucht. Nach einem Krisengipfel der Eigentümerin Maria-Elisabeth Schaeffler mit den Vertretern der Politik zeichnete sich aber keine schnelle Lösung ab. In Regierungskreisen hieß es, es sei klar, dass niemand "eine Unternehmerin, die sich verspekuliert hat, mit Steuergeldern sanieren" wolle. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sagte, "Wir können es doch keinem Menschen erklären, Unternehmen, hinter denen Milliarden-Vermögen stehen, mit Steuergeldern zu unterstützen." Schaeffler hatte für Conti zehn Milliarden Euro gezahlt. Inzwischen beträgt der Wert nur noch gut zwei Milliarden Euro.

Für den Bund wird der Fall aber problematisch, wenn sich herausstellen sollte, dass Schaeffler/Conti durch die Wirtschaftskrise so in Existenznot gerät, dass Tausende Arbeitsplätze in Gefahr sind. Dann müssten an den Konzern die gleichen Maßstäbe angelegt werden wie an andere, die um Hilfe gebeten hätten, also etwa Opel, hieß es in Regierungskreisen. Nach Angaben von Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) wollen die beteiligten Unternehmen gemeinsam mit den Banken in den nächsten Wochen ein Zukunftskonzept vorlegen. Dann soll es neue Gespräche mit Bund und Ländern geben. (Seiten 2 und 4) shs/ hul/tö

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"Es geht viel, wenn man sich anstrengt"

CDU-Fraktionschef Volker Kauder verspricht Schuldenabbau und Steuersenkung - sofern es die wirtschaftliche Entwicklung zulässt

Der Fraktionschef der Union, Volker Kauder, ist Angela Merkels wichtigster Mann. Er sichert der Kanzlerin die Zustimmung der Fraktion, auch in schwierigen Fällen. Jetzt verlangt er auch von den Ministerpräsidenten mehr Disziplin.

SZ : Herr Kauder, Sie versprechen zur Zeit mal Steuersenkungen, dann wieder die flotte Tilgung der Schulden. Was gilt?

Kauder : Beides.

SZ : Wie bitte?

Kauder : Sie haben mich richtig verstanden. Wir wollen in der nächsten Legislatur die Steuern senken und unsere Schulden zurück zahlen.

SZ : Wie soll das angesichts der Rekordverschuldung gehen?

Kauder : Beides ist möglich. Wir haben im Jahr 2005 einen Bundeshaushalt übernommen mit einem strukturellen Defizit von 60 Milliarden Euro und einer jährlichen Neuverschuldung von 30 Milliarden Euro. Wenn Finanz- und Wirtschaftskrise nicht gekommen wären, hätten wir 2011 keinen Cent neuer Schulden mehr aufgenommen. Das heißt, wir hätten in sechs Jahren Spielräume erkämpft. Es geht viel, wenn man sich anstrengt.

SZ : Die neuen Schulden schieben das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts um Jahre nach hinten. Können Sie glaubwürdig Steuersenkungen und Schuldenabbau versprechen? Günther Oettinger warnt vor unerfüllbaren Versprechen.

Kauder : Selbst Günther Oettinger sieht bis zum Ende der nächsten Legislatur Spielräume. Die Union wird das Versprechen abliefern, dass sie in den nächsten vier Jahren eine Entlastung und eine Strukturreform macht. Natürlich ist aufgrund der Krise eine neue Lage entstanden. Über konkrete Einzelheiten und über einen Zeitplan müssen wir uns deshalb noch verständigen. Beim Abbau der kalten Progression geht es noch um 19 Milliarden Euro. Das ist machbar, wenn die Wirtschaft sich erholt. Sollte sie das nicht, wird vieles schwieriger.

SZ : Tatsache ist, dass es auch in der Union umstritten ist, ob man mit dem Versprechen von Steuersenkungen in den Wahlkampf gehen soll.

Kauder : Die überwiegende Mehrheit der CDU-Führung ist der Meinung, dass es geht und richtig ist. Ich plädiere eindeutig für eine Zusage. Politik braucht eine Vorstellung von dem, was sie will. Ich gehe davon aus, dass wir mit dem Konjunkturpaket die Wirtschaft stabilisieren. Wenn ich diese Überzeugung nicht hätte, könnte ich es bleiben lassen. Außerdem hören wir erste positive Signale.

SZ : Es gibt so viele Signale. Beim Konsum gute, bei den Prognosen katastrophale. Wo befinden wir uns in der Krise?

Kauder : Ganz ehrlich: darauf kann niemand eine Antwort geben. Wir befinden uns in einem Prozess, den wir positiv zu steuern versuchen. Ich glaube, dass wir bei den Banken, trotz des Rettungspakets, noch große Probleme haben werden und deshalb mit ihnen besprechen müssen, was noch getan werden muss. Für mich ist das der zentrale Schlüssel zur Lösung.

SZ : Das heißt dann: Noch mehr Steuergelder für die Rettung des Bankensystems?

Kauder : Mehr Geld schließe ich aus. Ich sehe auch kein drittes Maßnahmenpaket auf uns zukommen. Und ich schließe aus, dass der Staat in eine Rolle kommt, in der er plötzlich Unternehmen und ihre Geschäftspolitik bewertet, um zu entscheiden, ob es Kredite, Bürgschaften oder gar Beteiligungen gibt. Die Landesbanken zeigen, dass der Staat nicht der bessere Banker ist.

SZ : Sind Sie so eindeutig auch bei der Diskussion um Bürgschaften und Hilfen für Schaeffler-Continental?

Kauder : Je einzelfallbezogener die Diskussion wird, desto problematischer wird sie. Wir können darüber reden, wie wir einer Branche helfen und das ist schon problematisch. Aber in Einzelfällen wird es ausgesprochen schwierig.

SZ : Dann ist der Vorschlag von Jürgen Rüttgers, im Notfall auch Staatsbeteiligungen zu erwägen, gar nicht so falsch.

Kauder : Um es klar zu sagen: Von einer breiten Verstaatlichung oder Beteiligung an Unternehmen rate ich dringend ab. Und deshalb habe ich auch im Fall Schaeffler-Conti erhebliche Vorbehalte.

SZ : Haben Sie keine Angst vor der Neiddebatte, dass der Staat den Banken Hunderte Milliarden gibt, aber deutlich weniger für die Unternehmen und die Menschen selber?

Kauder : Es ist unsere Aufgabe, zu erklären, warum wir das alles tun: Wir wollen den Menschen eine Perspektive geben, möglichst unbeschadet durch diese Krise zu kommen. Das heißt: das Bankensystem sichern, damit die Sparguthaben bleiben. Und es heißt, die Wirtschaft zu mobilisieren, damit möglichst wenige Arbeitsplätze verloren gehen.

SZ : Es gibt eine Debatte über das Profil der Union im Krisenmanagement. Stimmt die Analyse des Saarländers Peter Müller, die Ministerpräsidenten müssten eine stärkere Rolle übernehmen?

Kauder : Für das Profil sind alle in der Parteiführung verantwortlich, von den Ministerpräsidenten über die Fraktionsspitze bis zur Parteichefin. Was aber ist das Profil der Union? Ein zentrales Element ist, dass dort, wo die Union regiert, mit dem Geld der Steuerzahler verantwortungsvoll umgegangen wird. Das haben wir beim Schuldenabbau in der großen Koalition glasklar bewiesen. Und wir beweisen es jetzt mit der zielgerichteten Verabschiedung des Pakets aus Investitionen und Entlastungen. Ich würde mir wünschen, dass die Länder das jetzt im Umgang mit ihren Landesbanken auch beweisen. Im Übrigen bringen uns Profildebatten keinen Schritt weiter. Die Menschen fangen damit herzlich wenig an. Sie wollen gut regiert werden.

SZ : Wie wichtig ist eine Schuldenbremse?

Kauder : Entscheidend. Für mich ist ein Ja zum Konjunkturpaket ohne eine klare Schuldenbremse und Tilgungsvereinbarung undenkbar. Ich wünsche mir eine gemeinsame Lösung zwischen Bund und Ländern. Die Chance dafür besteht, die Ministerpräsidenten sind am Zug.

SZ : Mehr Spaß scheint denen zu machen, über die Strategie zu streiten.

Kauder : Wir hatten in der Präsidiumssitzung vor zwei Wochen vereinbart, hinter verschlossenen Türen die Steuerstrategie zu erarbeiten. Das hat nicht mal drei Tage gehalten. Zum Profil der Union gehört Zuverlässigkeit. Und Disziplin.

Interview: Stefan Braun und Nico Fried

"Ich glaube, dass wir bei den Banken noch große Probleme haben werden."

"Von einer breiten Verstaatlichung oder Beteiligung an Unternehmen rate ich dringend ab."

Lehnt weitere Finanzhilfen für die deutsche Wirtschaft ab: Volker Kauder, der Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag. Foto: Marco Urban

Kauder, Volker: Interviews Schulden der Öffentlichen Hand in Deutschland Steuer- und Finanzpolitik der CDU CDU/CSU-Bundestagswahlkampf 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Grüß Gott" am Hindukusch

Bayern will nach langem Zögern beim Aufbau einer Polizei in Afghanistan helfen

Von Annette Ramelsberger

München - Der Freistaat Bayern ist zwar bekannt für seine jahrelang gepflegte Neben-Außenpolitik in Richtung Albanien, Paraguay oder Südafrika; Franz Josef Strauß selig hatte die weiß-blaue Kunst der Globalzuständigkeit in seiner Zeit zur Vollendung gebracht. Seine Nachfolger dagegen pflegten lieber die splendid isolation im Schatten der Alpen - vor allem dann, wenn es im Ausland unangenehm zu werden drohte. Und in den vergangenen Jahren zeigte sich Bayern sogar bis zur Peinlichkeit verschlossen, was den Einsatz im Ausland anging: Bayern ist das einzige Land, das sich bisher weigert, in Afghanistan beim Polizeiaufbau mitzuhelfen, obwohl es ständig die Bedeutung der Sicherheitspolitik betont. Während alle anderen Bundesländer, selbst kleine wie Berlin, ihre Polizisten nach Kabul senden, um dort die afghanischen Kollegen auszubilden, hat sich Bayern dagegen vehement verwahrt. Der frühere Innenminister Günther Beckstein hatte die politische Auswirkung gefürchtet, die Bilder von Särgen mit toten bayerischen Beamten haben könnten, die vom Hindukusch zurückkehren.

Das wird sich nun ändern. Innenminister Joachim Herrmann will einen radikalen Wechsel beim bayerischen Engagement in Afghanistan einleiten. Noch im Februar wollen die Bayern die Vorbereitungen dafür treffen, damit auch bayerische Polizisten nach Afghanistan gehen können - als Teil jener etwa 150 Männer und Frauen starken Gruppe, die von der Bundespolizei geleitet wird und dort den Aufbau der landeseigenen Polizei vorantreibt. Herrmann sagte der Süddeutschen Zeitung: "Es ist ein falsches Signal, dass wir hier bisher nicht mitmachen. Wir machen das nicht den Afghanen zuliebe, sondern, weil es auch um unsere Sicherheit geht. Es war den anderen Ländern nur noch schwer zu vermitteln, dass Bayern bei dieser Aufgabe nicht dabei ist."

Immer wieder waren die Bayern auf den Innenministerkonferenzen von den anderen Ländern hart angegangen worden. Insbesondere Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hatte Kritik geäußert. Bayern ziehe sich "in seine von Bergen umstandene Sicherheit zurück", hatte er gesagt. Doch auch Unionskollegen brandmarkten die Zurückhaltung Bayerns mehr laut als leise als "Drückebergerei". Vor allem, weil aus Bayern auch der erste deutsche Selbstmordattentäter kam, der sich in Afghanistan in die Luft gesprengt hatte - Cüneyt Ciftci aus Ansbach.

Nun sollen etwa 20 Polizisten aus Bayern nach Afghanistan gehen, auf freiwilliger Basis. Keiner wird dienstverpflichtet. Die Polizisten erhalten noch in Deutschland ein spezielles Sicherheitstraining. Das allerdings bietet keinen Rundum-Schutz, wie sich im Sommer 2007 gezeigt hat: Damals starben drei deutsche Polizisten in der Nähe von Kabul, als unter ihrem Geländewagen eine Miene detonierte.

"Dieser Einsatz ist mit Gefahren verbunden, die man nicht unterschätzen darf. Da darf man sich nichts vormachen", sagt Herrmann. "Es ist ein gefährlicher Einsatz. Aber wir dürfen hier nicht länger abseits stehen." Zumal es eine Tradition zu bewahren gilt. Bayern hat in den 60er und 70er Jahren schon einmal afghanische Polizisten ausgebildet, eine ganze Reihe war zum Training an die Isar gekommen und hat offensichtlich auch viel gelernt. So kommt es noch heute vor, dass erfahrene afghanische Polizisten an Grenzübergängen mit einen freundlichen "Grüß Gott" grüßen.

Deutschland stellt Afghanistan auch Polizeiautos zur Verfügung. Foto: ddp

Herrmann, Joachim (CSU) Polizei in Afghanistan Polizei in Bayern Innenpolitik Bayerns SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ich glaube, dass wir bei den Banken noch große Probleme haben werden."

Kauder, Volker: Zitate SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Von einer breiten Verstaatlichung oder Beteiligung an Unternehmen rate ich dringend ab."

Kauder, Volker: Zitate SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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CSU fordert Gesine Schwan zum Rückzug auf

"Aussage über Horst Köhler war diffamierend" / Zunächst keine Unterstützung der SPD-Spitze für eigene Kandidatin

Von Nico Fried

Berlin - Die CSU hat die SPD-Bewerberin um das Amt des Bundespräsidenten, Gesine Schwan, zur Aufgabe ihrer Kandidatur aufgefordert. Grund sind Äußerungen Schwans über die Amtsführung von Bundespräsident Horst Köhler, die in der Union auf heftige Kritik stießen. "Diese Form der Selbst-Disqualifizierung lässt als einzig eleganten Ausweg nur noch den Rückzug ihrer Kandidatur offen", sagte CSU-Generalsekretär Karl-Theodor zu Guttenberg. "Für alle, die es noch nicht wussten, ist nach diesen diffamierenden Aussagen klar, dass Frau Schwan keine gute Bundespräsidentin wäre." Zuvor hatte bereits CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla Schwan Respektlosigkeit vorgeworfen.

Schwan war in der Wochenzeitung Die Zeit im Zusammenhang mit ihren Vorstellungen von der Amtsführung eines Bundespräsidenten mit den Worten zitiert worden: "Der Graben zwischen Politik und Gesellschaft wird in der aktuellen Amtsführung eher vertieft als überbrückt." Sie wolle Köhler keinen Vorwurf machen, "aber meinem Eindruck nach nimmt er eine Erosion der Demokratie in Kauf". Am Donnerstag erklärte Schwan, es sei ihr keineswegs um einen persönlichen Angriff auf Köhler gegangen. "Ich habe auf die legitime Frage geantwortet, was Schwerpunkt meiner Amtsführung wäre." Sie habe die Sorge, dass in Deutschland insgesamt zu wenig getan werde, um die Kluft zwischen Politik und Bürgern zu überwinden. Darin sähe sie ihre Hauptaufgabe als Bundespräsidentin. "Meine Diagnose einer Erosion der Demokratie ist keineswegs neu und ich habe schon oft betont, dass das Amt des Bundespräsidenten meiner Meinung nach zu ihrer Überwindung beitragen kann."

Aus der Spitze der SPD erhielt die Präsidentschaftskandidatin am Donnerstag zunächst keinerlei öffentliche Rückendeckung. Ein Sprecher verwies auf die Erklärung Schwans. Allerdings wurde für den Abend während eines gemeinsamen Auftritts der Kandidatin mit SPD-Chef Franz Müntefering in Berlin noch eine Stellungnahme des Parteivorsitzenden erwartet. Lediglich der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy, der im Frühjahr 2008 eine neuerliche Kandidatur Gesine Schwans maßgeblich vorangetrieben hatte, sprang Schwan öffentlich bei: "Ich denke, dass Frau Schwan mit eigenen Qualitäten glänzen kann, ohne auf Defizite des Amtsinhabers verweisen zu müssen", sagte Edathy der Süddeutschen Zeitung. "Es ist allerdings zutreffend, dass der amtierende Bundespräsident gelegentlich zu populistischen Äußerungen neigt und damit unkenntlich macht, dass demokratische Entscheidungsprozesse komplexer Natur sind."Müntefering hatte erst am Montag in der Präsidiumssitzung der SPD Berichte zurückgewiesen, die Parteispitze unterstütze Schwan nicht ausreichend. Die Kandidatin selbst hatte eine Meldung dementiert, sie habe sich bei SPD-Abgeordneten über mangelnden Rückhalt beklagt.

Die FDP lehnte am Donnerstag eine Stellungnahme zu den Äußerungen Schwans ab. Ein Sprecher der Grünen-Fraktion verwies darauf, die Grünen hätten bislang noch nicht entschieden, ob sie Schwan bei der Bundespräsidentenwahl am 23. Mai in der Bundesversammlung unterstützen wollten. Darüber solle zunächst bei einem Treffen der Fraktionschefs der Grünen aus Bund und Ländern gesprochen werden. (Seite 4)

Schwan, Gesine: Zitate Köhler, Horst: Angriffe Wahl des Bundespräsidenten 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wer nicht lügt, sagt längst nicht die Wahrheit

Im Streit um DDR-Schulden vermeidet Westerwelle harte Attacken auf die Kanzlerin

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Lügt einer, wenn er nicht die Wahrheit sagt? Auch eine noch so hochkarätige Philosophenrunde wäre vermutlich nicht in der Lage, die Frage aus dem Stegreif mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Erst recht nicht, wenn der vermeintliche Lügner - rein formal betrachtet - gar nicht gelogen hat.

Dieser Gratwanderung war sich auch Guido Westerwelle bewusst, als er Kanzlerin Angela Merkel jetzt vorwarf, über den Verbleib der DDR-Altschulden "die Unwahrheit" gesagt zu haben. Das Wort Lüge vermied er tunlichst, denn selbstverständlich weiß der FDP-Chef ganz genau, dass er im anderen Fall umgehend eine Rücktrittsforderungen hätte hinterherschicken müssen: Wer den Bundestag wissentlich belügt, dem bleibt in aller Regel nur der Amtsverzicht.

Aber hat Merkel überhaupt gelogen, als sie in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag behauptete, der Bund habe den sogenannten Erblastentilgungsfonds mit seinen DDR-Altschulden in Höhe von über 170 Milliarden in nicht einmal eineinhalb Jahrzehnten getilgt? Die Antwort lautet, siehe oben: jein. Richtig ist: Der Fonds ist beinahe leer. Richtig ist auch: Es wurde in den vergangenen 14 Jahren ordentlich getilgt. Richtig ist aber schließlich: Anders, als es Merkels Jubelmeldung suggeriert, ist die Hälfte jener 170 Milliarden Euro immer noch da, die Verbindlichkeiten werden nur mittlerweile an anderer Stelle verbucht.

Warum? Der Erblastentilgungsfonds umfasste neben einigen kleineren Posten in erster Linie Kredite, Anleihen und Ausgleichsforderungen, die die letzten DDR-Regierungen und die Treuhandanstalt aufgenommen beziehungsweise begeben hatten. Solche Kredite und Anleihen haben bestimmte Laufzeiten, beispielsweise zwei, fünf oder zehn Jahre. Nach dem Ende der Frist müssen sie zurückgezahlt werden. Um dies tun zu können, erhielt der Erblastentilgungsfonds unter anderem jedes Jahr einen Teil des Bundesbankgewinns.

In der Praxis reichten diese Zuflüsse jedoch häufig nicht aus, deshalb geschah Folgendes: Musste der Fonds zum Beispiel fünf Milliarden Euro zurückzahlen, so nahm er eine Milliarde Euro aus dem Bundesbankgewinn, die übrigen vier Milliarden Euro lieh er sich mit Hilfe der Bundesregierung auf dem Kapitalmarkt. Formal bedeutete das: Das Darlehen aus dem Erblastentilgungsfonds in Höhe von fünf Milliarden Euro war getilgt, obwohl dafür nur eine Milliarde Euro an Eigenmitteln eingesetzt worden waren. Der neue Kredit in Höhe von vier Milliarden Euro wanderte in den Bundeshaushalt.

Würde man nun die von Merkel gern bemühte "schwäbische Hausfrau" fragen, was sie unter dem Begriff "getilgt" versteht, käme sicher etwas anderes heraus als das, was die Kanzlerin gemeint haben will, aber verschwieg. Nun ist Guido Westerwelle allerdings keine schwäbische Hausfrau, sondern Vorsitzender der FDP, jener einstigen Regierungspartei also, die vor 15 Jahren die Einrichtung des Erblastentilgungsfonds mitbeschlossen hatte - inklusive Umschuldungserlaubnis. Das "Trüffelschwein" Carl-Ludwig Thiele (Westerwelle), der jetzt die Tricksereien der Kanzlerin aufgedeckt haben will, saß damals im Haushalts-, später im Finanzausschuss des Bundestags. Das wiederum verschwieg Westerwelle, weshalb auch für ihn gilt: Wer nicht lügt, sagt noch lange nicht die Wahrheit.

Merkel, Angela: Angriffe Westerwelle, Guido Finanzen der ehemaligen DDR SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Streiflicht

(SZ) Als Latein noch Pflicht war, hatten die meisten Gymnasiasten einen Fundus an Zitaten, mit denen sie sich von Fall zu Fall als Humanisten auswiesen. Eins davon war aus Vergils "Aeneis", aus einer Schlachtenschilderung: "Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum." Das Lautmalerische dieses Hexameters ist augen- bzw. ohrenfällig, man hört den Hufschlag förmlich. Umso interessanter ist die Übersetzung der Zeile. Aus der Fülle der Varianten seien zwei wiedergegeben: "Donnernd zerstampft im Galoppe der Huf den trockenen Boden" und "Malmend zerstampfet das Feld mit gevierteltem Trabe der Hufschlag". Einmal Galopp also und einmal Trab. Für den nur poetisch Interessierten mag das gehupft wie gesprungen sein. Der Pferdekenner wird das so nicht stehenlassen, sondern auf die Unterschiede zwischen den Gangarten hinweisen: auf das zweitaktig Schwingende des Trabs einerseits, das viertaktig Ratternde des Galopps andererseits, das man mit vier Fingern auf der Tischplatte nachmachen kann, wenn auf dem Bildschirm wieder mal die Sioux heranbrausen.

Alles Mögliche glaubt der Mensch von den Tieren zu kennen: den Hunger der Löwen und den Durst der Kamele, das Lachen der Hühner und das Schweigen der Lämmer. Von ihren Gangarten hat er jedoch kaum eine Ahnung. Da begnügt er sich mit dem, was ihm von der Biologiestunde her noch im Gedächtnis ist, beispielsweise dass der Bär ein Sohlen-, der Hund hingegen ein Zehengänger ist, und an ganz guten Tagen gibt er im Freundeskreis zum Besten, dass der Fuchs schnürt - "nur nicht, wie unsereins, den Gürtel enger", wie er vielleicht, und natürlich schmunzelnd, hinzufügt. Muss man erwähnen, dass das alles höchst beschämend ist? Das Tierreich hat schließlich auch in dem Punkt eine große Vielfalt vorzuweisen. Man denke nur an die Kröte, die ihre vier Beine bemerkenswert koordiniert zu bewegen weiß, oder an die Indische Stabschrecke, die von ihren sechs Beinen drei stets am Boden lässt; mit dieser Systematik hat sie die Entwicklung statisch stabiler Laufroboter nicht unwesentlich beeinflusst.

Der ungarische Forscher Gábor Horváth und sein Team sind dieser Unwissenheit nun genauer nachgegangen. Anhand von 307 Darstellungen gehender oder laufender Tiere konnten sie nachweisen, dass deren Gangart in ungefähr der Hälfte der Fälle fehlerhaft dargestellt wird. Das Erstaunlichste an der Sache: Während es in veterinär-anatomischen Büchern und in naturhistorischen Museen von Ungenauigkeiten wimmelt, bewegen sich die in Hollywood computeranimierten Filmtiere so korrekt wie nur möglich. Für die gern als liederlich ausgeschimpfte Traumfabrik ist das so was wie ein Oscar. Für unsere Schulen aber müsste es ein Ansporn sein, in Bio mal eine etwas härtere Gangart einzuschlagen.

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Knobloch stoppt Dialog mit Kirche

Präsidentin des Zentralrats der Juden über Papst empört

München - Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden, hat erklärt, dass sie "momentan" keinen Dialog mit der katholischen Kirche führen werde. Sie reagierte damit auf die Entscheidung von Papst Benedikt XVI., die Exkommunikation des Traditionalisten-Bischofs Richard Williamson von der "Priesterbruderschaft Pius X" aufzuheben, der behauptet hatte, Juden seien nie in Gaskammern ermordet worden. In einer in München veröffentlichten Erklärung Knoblochs hieß es, die katholische Kirche müsse gegenüber einem Holocaust-Leugner Konsequenzen ziehen. Ihn zu rehabilitieren bedeute aber, unabhängig von allen verbalen Distanzierungen, "sich diesen Aussagen nicht zu widersetzen".

Der Papst wisse, was er da getan habe, betonte Knobloch, er sei "einer der gebildetsten und intelligentesten Menschen, die die katholische Kirche hat." Unter solche Voraussetzungen könne es keinen Dialog geben, "ich unterstreiche das Wort ,momentan'". Die Distanzierungen des Vatikans und auch der deutschen Bischofskonferenz von den Positionen Williamsons genügten ihr nicht, "ich wünsche mir einen Aufschrei in der Kirche gegen ein solches Vorgehen des Papstes", sagte sie der Badischen Zeitung. Wann, mit wem und unter welchen Bedingungen die Zentralrats-Präsidentin das Gespräch mit katholischen Kirchenvertretern wieder aufnehmen will, ließ sie offen. Das Verhältnis des Vatikans zum Judentum gilt als gespannt, seit vor einem Jahr Papst Benedikt XVI. für die tridentinische Liturgie eine Karfreitags-Fürbitte formuliert hat, in der für die Bekehrung der Juden gebetet wird.

Unterdessen verurteilte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, jede Form von Antisemitismus. "Weder für Antisemitismus noch für die Leugnung des Holocausts gibt es Platz in der katholischen Kirche", sagte er bei einem Besuch der Synagoge und des jüdischen Gemeindezentrums in Mannheim. Sein schon seit längerem geplanter Besuch in Mannheim zeige, dass die deutschen Bischöfe an einem guten Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden interessiert seien. Zollitsch sagte, er sei "unglücklich", dass der Papst bei seiner Entscheidung für das Gnadendekret die Problematik um Williamson nicht mit in Betracht gezogen habe. Im Verhältnis zum Judentum dürfe es keine "Wende rückwärts" geben. Matthias Drobinski

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Haftpflichtpflicht

Experten wollen Radfahr-Rowdys in die Verantwortung nehmen

Es sind scheinbar zwei Welten: Auf viele Autofahrer und Fußgänger wirken Radfahrer wie Kamikaze-Piloten, die sich nicht um Vorschriften scheren und so sich und andere gefährden. Die Radler dagegen fühlen sich als Opfer, benachteiligt gegenüber dem motorisierten Verkehr und gegängelt von starren Regeln. Das Ergebnis des Straßenkampfes zeigt die Statistik: 2007 wurden in Deutschland 425 Radfahrer getötet und 79 004 verletzt. Die Zahl der Todesopfer sank zwar innerhalb von 15 Jahren auf die Hälfte, dennoch bleibt Radfahren eine riskante Art der Fortbewegung. Beim 47. Deutschen Verkehrsgerichtstag am gestrigen Donnerstag in Goslar gingen Experten der Frage nach, wie die Verkehrsdisziplin und damit auch die Sicherheit der Radfahrer weiter verbessert werden könnten.

Dass Radler nicht immer Unschuldsengel sind, zeigt eine Forschungsarbeit, die die Planungsgemeinschaft Verkehr (PGV) in Hannover im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums erstellt hat. "45 Prozent der befragten Radfahrer geben zu, bei Rot über die Ampel zu fahren", sagte Dankmar Alrutz, Chef der PGV. Allerdings: "Drei Viertel davon sagen auch, sie fänden das nicht gut." Was wie ein Widerspruch klingt, lässt sich erklären: Radler wissen sehr wohl, dass sie einen Regelverstoß begehen, schließlich haben 85 bis 90 Prozent von ihnen einen Führerschein.

"Radfahrer wollen sicher und gut vorankommen, doch jede Unterbrechung, wie eine rote Ampel, reduziert das Durchschnittstempo", erklärte Roland Huhn vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC). "Ich habe für jeden Radfahrer Verständnis, der bei einer roten Ampel nach rechts abbiegt, da kann nichts passieren." Deshalb müsse die Infrastruktur auch auf die Erfordernisse des Radverkehrs ausgelegt werden, forderte Huhn. So wären weniger Ampeln durchaus eine sinnvolle Sache.

Bei 13 000 Rotlichtverstößen pro Tag alleine in Münster sieht das Udo Weiss, Leiter der Direktion Verkehr beim Polizeipräsidium Münster, naturgemäß anders. Das Fahrrad sei das Verkehrsmittel der Zukunft und müsse gleichberechtigt betrachtet werden, sagte er. Doch das bedeute, dass auch für Radfahrer gleiche Rechte und Pflichten gelten müssten. Dass sich viele nicht an die Regeln halten, führte Weiss auf ihre Anonymität zurück. Er plädierte deshalb für eine Ausweispflicht ab 16 Jahren und eine obligatorische Haftpflichtversicherung. Denn Radler sind nicht nur Opfer: Bei Unfällen mit Fußgängern sind sie die Hauptschuldigen, so ein Ergebnis der PGV-Studie. Doch aus Angst vor Schadenersatzforderungen machen sich Radfahrer häufig aus dem Staub.

Burkhard Horn von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung verlangte, die Politik müsse auch finanziell eine Gleichberechtigung des Fahrrads mit anderen Verkehrsmitteln herstellen. Schließlich seien Radfahrer heute in allen Schichten und Altersgruppen zu finden. Auch aus "aus umwelt-, klima- und verkehrspolitischen Gründen" werde das Fahrrad immer wichtiger. So zeige ein Blick nach Kopenhagen, dass gute Infrastruktur, etwa eine "grüne Welle für Radler", sowie Aufklärungsarbeit den Radverkehr fördern und sich positiv auf die Sicherheit auswirken.

Wie das finanziert werden soll, wusste Friedrich Denker, der Präsident des Verkehrsgerichtstages, zu sagen: mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket. Einen Teil davon sollten die Kommunen für den Bau von Radwegen einsetzen. Marion Zellner

Fahrradfahren in Deutschland Verkehrsrecht in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Niemanden bespitzelt"

Ermittler der Bahn rechtfertigt die Fahndungsmethode

Von Hans Leyendecker

Berlin - Der Anti-Korruptionsbeauftragte der Bahn, der frühere Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner, hat die heimliche Überprüfung von Mitarbeitern des Unternehmens verteidigt. Zum "Einmaleins der Kontrolle" gehöre auch die Massendatenanalyse, erklärte er der Süddeutschen Zeitung. "Fraud-Screening" sei in großen Unternehmen ein "ganz üblicher Vorgang" und werde auch von Wirtschaftsprüfern empfohlen. Nur durch ein Wechselspiel von "flächendeckender und gezielter Kontrolle" seien effektive Korruptionsbekämpfung und erfolgreiche Prävention möglich. Wenn eine Unternehmensleitung solche Kontrollen strikt ablehne, könnten Staatsanwälte sogar Verfahren wegen "Untreue durch unterlassene Kontrolle" einleiten.

Schaupensteiner, der seit Sommer 2007 für die Bahn in Berlin arbeitet, wandte sich gegen "die Skandalisierung eines Routinevorgangs". Niemand sei bespitzelt oder überwacht worden. Lediglich Daten von Mitarbeitern und Lieferanten seien gegenübergestellt worden, um zu prüfen, ob Mitarbeiter sich über Strohfirmen selbst Aufträge gäben. Als Korruptions-Staatsanwalt in Frankfurt habe er "etliche solcher Fälle" bei der Bahn bearbeitet.

Bei der Gegenüberstellung der Stammdaten von Mitarbeitern seien der Name, die private Anschrift, die Bankverbindung und - "soweit vorhanden" - die private Telefonnummer eingegeben worden. Bei den Lieferanten seien diese Daten ebenfalls eingegeben worden. "Wir sind in vielen Fällen fündig geworden", sagte Schaupensteiner. Die Bahn, die im Jahr Aufträge in zweistelliger Milliardenhöhe vergebe und auch Milliarden an Steuergeldern für Investitionen erhalte, müsse solche Kontrollen durchführen.

Dass bei der großen Massendatenanalyse, die auch "Rasterfahndung" genannt wird, zwei von drei Bahn-Mitarbeitern überprüft worden sind, ist nach Aussage Schaupensteiners darauf zurückzuführen, dass 2002 in den EDV-Listen nur 173 000 der mehr als 230 000 Bahn-Beschäftigten elektronisch erfasst worden seien. Dass auch Lokomotivführer oder Zugbegleiter, die keine Aufträge vergeben, überprüft wurden, hänge mit der Methode zusammen. Auf die Frage, ob es korrekt gewesen sei, dass die Bahn-Mitarbeiter weder vorher, noch nachher informiert wurden, wollte der Anti-Korruptions-Beauftragte nicht eingehen. Das Ergebnis der rechtlichen Untersuchung müsse abgewartet werden.

Diese offenkundig ausgebliebene Benachrichtigung der Beschäftigten wird von einem anderen Bahn-Manager als "äußerst unangenehm" bezeichnet: "An diesem Punkt kann sich noch Sprengstoff entwickeln", sagte er der SZ. Es gibt Hinweise, dass sich angeblich der Betriebsrat 1998 mit solchen Ausforschungen einverstanden erklärt haben soll. Entsprechende Unterlagen wurden aber noch nicht gefunden. (Seite 4)

Schaupensteiner, Wolfgang: Zitate Spitzelaffäre bei der Deutschen Bahn AG 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kopftücher willkommen

Für muslimische Mädchen ist Sport auch in Deutschland keine Selbstverständlichkeit - die Begeisterung wächst trotzdem spürbar

Seit zwanzig Jahren ist Gabriele Kremkow Sportlehrerin, sie hat ein Gespür für Talente, doch manchmal hilft ihr das wenig. Vor kurzem wollte sie ein Mädchen mit türkischer Herkunft für einen Leichtathletikverein empfehlen. Das Mädchen war selbstbewusst, pfiffig, es hatte gute Ausdauer und lief schneller als alle anderen. Gabriele Kremkow glaubte fest daran, dass das Mädchen viele Medaillen gewinnen könnte, bei einem Verein landete es nicht. Die Eltern hatten etwas dagegen, sie wollten nicht mit sich reden lassen - und wieder blieb ein Talent unentdeckt.

Kreuzberg, nahe Südstern. Die Carl-von-Ossietzky-Oberschule ist eine der größten Schulen Berlins, 120 Lehrer, 1300 Schüler, neunzig Prozent von ihnen stammen aus Einwandererfamilien. Die Schule liegt in einer Umgebung, die allgemein als sozialer Brennpunkt umschrieben wird. Gabriele Kremkow, die pädagogische Koordinatorin, könnte lange über ihre Sorgen reden; über Kinder, die allein aufstehen, ohne Frühstück, weil ihre Eltern morgens nicht aus dem Bett kommen, oder über den dramatischen Bildungsabsturz. Aber sie nähert sich den Problemen von der anderen Seite, spricht lieber über Lösungen. "Der Sport ist für unsere Arbeit von groß;;er Bedeutung", sagt sie. Wenn sie bei den Berliner Politikern einen Wunsch frei hätte, würde sie die Zahl der wöchentlichen Sportstunden von drei auf fünf erhöhen. Für die tägliche Auslastung.

Es geht Gabriele Kremkow nicht nur um Konzepte gegen den Bewegungsmangel, es geht ihr vor allem um Integration. Studien haben nachgewiesen, dass körperliche Betätigung in Gruppen die Kommunikation und den Gemeinschaftssinn fördert - unabhängig von der Herkunft. Das Selbstbewusstsein, das Schüler im Turnen oder im Basketball gewinnen, übertragen sie auf den Mathe- oder Erdkundeunterricht. Hört sich gut an? Ist aber nicht leicht umzusetzen. Trainingsübungen anzubieten oder beim Weitsprung Hilfestellung zu geben, ist nicht genug. Gabriele Kremkow muss sich mit Religion auseinandersetzen, mit Glaubensfragen - und mit der Bedeutung des Kopftuches.

Mit dem Ende der Grundschule und dem Beginn der Pubertät werden Mädchen und Jungen im Sport wie fast überall getrennt unterrichtet. Im Schnitt sind es fünf muslimische Mädchen pro Klasse, die mit dreizehn oder vierzehn ein Kopftuch anlegen, auch im Sport. Die Gründe dafür liegen in der traditionellen und religiösen Erziehung. Sobald Jungen durch die Fenster in die Halle schauen, setzt Gekreische ein, und die Mädchen laufen in eine sichtgeschützte Ecke. "Wir können eine Meinung haben, aber es steht uns nicht zu, über Religion zu urteilen", sagt Kremkow. Sie achtet genau auf die Kopfbedeckungen, wegen der Verletzungsgefahr. Die Tücher müssen speziell gewickelt und im Nacken gebunden sein, der Hals muss frei bleiben. Deshalb springen und sprinten die Mädchen im Sommer mit Rollkragenpullover, um den Körper ganz zu bedecken.

Die Ehre der Eltern

Rund 400 000 muslimische Mädchen leben in Deutschland, die meisten stammen aus der Türkei. Gabriele Kremkow führt viele Gespräche mit den Eltern, um für den Sportunterricht zu werben, unterstützt von den Sozialpädagogen der Schule. Bei einer Sportart hat sie größere Probleme: Immer wieder kommt es vor, dass Muslime ihren Töchtern das Schwimmen verbieten. Sie fürchten, dass Bewegungen und Kleidung der Mädchen aufreizend sein könnten und ihre Jungfräulichkeit untergraben werde. 1993 entschied des Bundesverwaltungsgericht, dass dieser Boykott zulässig ist, sofern er stichhaltig begründet wird. Die Mädchen stürzt dies oft in einen Gewissenskonflikt. Zum einen respektieren sie die Ehre der Eltern, zum anderen wollen sie von Mitschülern nicht ausgeschlossen werden. Notfalls schwimmen sie in Radlerhosen und Hemden.

Kremkow sieht sich als Vermittlerin. In Kreuzberg hat nur jedes vierte Kind zu Hause schwimmen gelernt, im Berliner Schnitt jedes zweite. An den Schulen in Kreuzberg lernen es aber bei weitem nicht alle. Mehr als ein Viertel bleibt hier Nichtschwimmer, im bürgerlichen Zehlendorf sind es nur fünf Prozent. Ein Beweis für Verweigerung? "Sport muss Spaß machen", sagt Gabriele Kremkow, ihr geht es um die Wirkung. "Wir dürfen niemanden mit Leistungsdruck abschrecken." An vielen Schulen schicken Lehrer muslimische Schülerinnen zum Frauenschwimmen, das inzwischen in zahlreichen Badeanstalten angeboten wird.

Nicht alle Lehrer siedeln das Thema Integration so hoch an, viele sind davon überfordert. Ihre Stundenzahlen wachsen, Vertretungen werden selten eingestellt, manchmal muss der Unterricht ganz ausfallen. In der Carl-von-Ossietzky-Oberschule wurden dennoch Arbeitsgemeinschaften im Basketball, Badminton, Volleyball gegründet, besonders beliebt ist Mädchenfußball. Die Schülerinnen reißen sich um einen Platz beim jährlichen Antigewaltturnier - der Erfolg wird hier nicht nur in Toren gemessen.

Osnabrü;ck, Universität. Der Sportdidaktiker Ulf Gebken kennt dieses Prinzip. Mit Hilfe des DFB fördert er in Niedersachsen Projekte für Fußballerinnen mit Migrationshintergrund, die Kooperationen zwischen Schulen und Vereinen sind in ganz Deutschland anerkannt, "Wir fördern das Selbsthilfepotenzial", sagt Gebken. "Mädchen können Übungsleiterinnen oder Schiedsrichterinnen werden und damit Verantwortung in unserer Gesellschaft übernehmen."

Schulen haben es nicht immer leicht, Musliminnen für Sport zu begeistern - Vereine haben es richtig schwer. Laut einer Studie der Universität Frankfurt am Main von 2002 sind weniger als fünf Prozent der erwachsenen Einwanderer in Sportklubs aktiv, bei ihren Töchtern ist die Zahl noch niedriger. "Wir müssen die Mädchen sorgsam an unsere Strukturen gewöhnen", erzählt Gebken. In einigen islamischen Ländern sind Vereine Männerdomäne. In Deutschland schrecken Sprachbarrieren und Anmeldebürokratie ab, vielen Familien fehlt das Geld. So kommen die Kinder in der Grundschule erstmals zum Sport.

Ulf Gebken ist in Hannover-Vahrenheide, dem Ausgangspunkt seiner Projekte, auf viele Hindernisse gestoßen, die auch Kollegen in anderen Städten kennen. "Wenn wir muslimische Mädchen für den Sport gewinnen möchten, müssen wir die ganze Familie ansprechen", sagt er. Vereinsvertreter führen besorgte Väter durch Duschkabinen oder Umkleidetrakte, sie verweisen auf den freundlichen Hausmeister und die gute Straßenbeleuchtung des Heimweges, oder sie fahren die Mädchen selbst nach Hause. Vor Auswärtsreisen oder Trainingslagern werden Bedingungen wieder und wieder besprochen: Alkoholverbot, getrennte Schlafräume, vegetarisches Essen.

"Leider wird dieses Thema nicht überall ernst genommen", kritisiert Gebken. Vor einem Jahr schickte ein Schiedsrichter in Bremen eine muslimische Nachwuchsspielerin des KSV Vatan Spor vom Platz. Wegen ihres Kopftuches. Der Schiedsrichter berief sich auf die Regeln des Weltfußballverbandes Fifa, der religiöse Botschaften verbietet. Hatte der Unparteiische Recht? War er unwissend? Oder doch intolerant? Die Empörung war groß. Theo Zwanziger, der Präsident des DFB, ein Förderer des Frauenfußballs, stellt klar: "Kein Mädchen soll dem Fußball verloren gehen, weil es ein Kopftuch trägt." Legt man den demografischen Wandel zu Grunde, dürften Sportverbände wie der DFB bald auch im Leistungssport auf Migrantinnen angewiesen sein. Sportartikelhersteller haben reagiert und moderne, sichere Kopftücher, so genannte Tschadors, in ihr Sortiment aufgenommen.

Frankfurt am Main, Westend. Hanane ist eine bescheidene Frau, ihren Nachnamen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Dass sie ein gelungenes Beispiel für Integration durch Sport sein soll, ist ihr fast unangenehm. Hanane, 23, wurde in Marokko geboren. Vor sechs Jahren kam sie mit ihrem Ehemann nach Deutschland. Das Kopftuch gehört zu ihrer Religion wie Fasten und Beten. "Ich trage es für mich, nicht für meine Eltern, niemand zwingt mich dazu." Wenn in Deutschland über innerfamiliäre Gewalt diskutiert wird, haben viele das Kopftuch vor Augen. "Das ist oberflächlich", sagt Hanane. Sie möchte keine Exotin sein: "Ich bin keine Fremde mehr."

Sie bestimmt, wen sie heiratet

Hanane gehört zu einer neuen, selbstbewussten Generation von Musliminnen, die sich für ihr Kopftuch entscheiden, es ist ein Symbol ihrer Identität und kein Zeichen von Unterdrückung. Sie bestimmt, wen sie heiratet, wo sie lebt und für wen sie arbeitet. In Frankfurt hat sie den Realschulabschluss nachgeholt und wurde Arzthelferin. In dieser Zeit hat sie sich einem Projekt des Landessportbundes Hessen angeschlossen. In einer Gymnastikgruppe lernte sie andere Frauen kennen und verbesserte ihr Deutsch.

Vor einem Jahr ließ sie sich zur Übungsleiterin ausbilden. Seit kurzem leitet sie eine Sportgruppe für Mütter und Kinder. Es sind Frauen, die unter sich sein wollen und einen Verein meiden, weil sie glauben, dort mehr leisten zu müssen als ihre deutschen Kolleginnen. Noch sind Frauen wie Hanane selten, die Scheu vor einem Ehrenamt ist groß. Es gibt wenige nichtdeutsche Schiedsrichterinnen, Funktionärinnen oder Trainerinnen.

"Eine Fußballtrainerin mit Kopftuch?" - Hanane sinniert etwas, aber der Gedanke gefällt ihr: "Das wäre wirklich ein Farbtupfer!" Ronny Blaschke

"Es steht uns nicht zu, über Religion zu urteilen," sagt Sportlehrerin Kremkow. Schwimmen wird muslimischen Schülerinnen oft verboten, die Mädchen sind auf reine Frauenschwimmkurse angewiesen. Foto: dpa

Migranten-Schüler in Deutschland Unterrichtsfach: Sport Muslimische Frauen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Tiefensee macht der Bahn-Führung Druck

Verkehrsminister fordert rasche Aufklärung der Datenaffäre / Der Aufsichtsrat will unabhängige Ermittler einsetzen

Von Michael Bauchmüller und Klaus Ott

Berlin/München - In der Datenaffäre bei der Deutschen Bahn wächst der Druck auf Bahnchef Hartmut Mehdorn. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) forderte am Donnerstag eine umfassende und schnelle Aufklärung. "Es geht nicht an, dass immer neue Tatsachen scheibchenweise an die Öffentlichkeit gelangen", sagte Tiefensee der Süddeutschen Zeitung. "Wenn die Bahn sich im Rahmen der Korruptionsbekämpfung, die zweifellos eine wichtige Aufgabe ist, korrekt verhalten hat, dann kann dies ja schnell und umfassend dargelegt werden", sagte Tiefensee.

Die Bahn hatte, wie am Mittwoch bekannt geworden war, die Daten von 173 000 ihrer 240 000 Mitarbeiter an eine Detektei weitergegeben. Diese sollte anhand von Adressdaten und Bankverbindungen überprüfen, ob Mitarbeiter mit Scheinfirmen Geschäfte zu Lasten der Bahn abwickeln. Dazu waren die Daten mit jenen von 80 000 Lieferanten abgeglichen worden. Bei Datenschützern und Gewerkschaften hatte das heftige Kritik ausgelöst, bis hin zum Vorwurf der "Rasterfahndung".

Nach SZ-Informationen will der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn (DB) nun unabhängige Ermittler mit einer umfassenden Untersuchung beauftragen. Das war am Donnerstag aus Aufsichtsratskreisen zu erfahren. Der Prüfungausschuss des Aufsichtsrats trifft sich diesen Freitag zu einer Sondersitzung in Berlin. Geplant ist, eine von der Bahn unabhängige große Anwaltskanzlei oder eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft einzuschalten, die den Vorgang prüft.

Mitglieder des Kontrollgremiums sagten, man wolle wissen, wer die massenhafte Überprüfung der Belegschaft angeordnet habe und was genau vor sich gegangen sei. Außerdem hat Aufsichtsratschef Werner Müller nach Angaben seines Sprechers den Vorstandsvorsitzenden Hartmut Mehdorn aufgefordert, dem Kontrollgremium "noch einmal umfassend zu diesem Themenkomplex zu berichten".

Letzte Woche hatte Mehdorn dem Aufsichtsrat geschrieben, es gebe keine Hinweise darauf, dass es bei der Überprüfung der Mitarbeiter zu Gesetzesverstößen gekommen sei. Zu diesem Zeitpunkt war öffentlich nur von 1000 Beschäftigten die Rede, die durchleuchtet worden seien. Mehdorn erwähnte in dem Brief den Datenabgleich bei 173 000 Mitarbeitern nicht. Aus dem Aufsichtsrat heißt es dazu, man sei "zu keiner Zeit und in keiner Form" über die Massenkontrolle informiert worden. Die Aktion unter dem Codenamen "Babylon" war eine von 43 Nachforschungen, mit denen die Bahn zwischen 1998 und 2007 die Detektei "Network Deutschland" beauftragte. Ob die Bahn nach 2007 möglicherweise selbst Daten abglich, war am Donnerstag von der Bahn nicht zu erfahren. Die Detektei war auch in den Datenskandal der Telekom verwickelt.

Die Bahn-Gewerkschaften wollen nun Konsequenzen sehen. Der Kampf gegen die Korruption sei "richtig und wichtig", erklärten die Gewerkschaften Transnet und GDBA. Es gebe aber Grenzen. Dazu zähle die pauschale Kontrolle von über 170 000 Mitarbeitern. Eine "Rasterfahndung" gehe zu weit, sagte Transnet-Chef Alexander Kirchner. GDBA-Chef Klaus-Dieter Hommel schrieb Bahnchef Mehdorn, das Vertrauen der Belegschaft in den Vorstand sei beschädigt. Auf Seiten der Arbeitgebervertreter im Aufsichtsrat wird von einem "GAU" für das Klima im Konzern gesprochen. Auch die SPD macht Druck. "Bei der Angelegenheit werden wir nicht lockerlassen", sagte ihr verkehrspolitischer Sprecher Uwe Beckmeyer der SZ. "Da hört der Spaß auf." (Seite 4)

Auch eine Art von Transparenz: Um Korruption aufzudecken, wurden die Daten von 173 000 Bahn-Mitarbeitern mit denen von Lieferanten verglichen. Foto: ddp

Tiefensee, Wolfgang Spitzelaffäre bei der Deutschen Bahn AG 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ein Zusammenbruch unserer Bank birgt hohe Risiken"

Vorstandschef Axel Wieandt über die schwierige Rettung der Hypo Real Estate

Der Mann ist korrekt. Er kommt pünktlich auf die Minute. In der linken Hand trägt er eine dicke grüne Aktenmappe. Der Anzug, die Manschettenknöpfe, der Scheitel - alles sitzt genau. Axel Wieandt, 42, gibt sein erstes Interview als Chef der Hypo Real Estate, der Krisenbank schlechthin. Im Oktober übernahm er von einem Tag auf den anderen den Job als Sanierer, den Josef Ackermann, sein Chef bei der Deutschen Bank, ihm angetragen hatte. Seither lebt Wieandt in einem Münchner Drei-Sterne-Hotel und sieht seine Familie in Frankfurt nur noch am Wochenende.

SZ: Herr Wieandt, Ihr inzwischen verstorbener Vater war ein bekannter Banker und hat unter anderem die BfG-Bank saniert und später die Schmidt-Bank in Hof abgewickelt. Liegt das Retten von Banken in Ihren Genen?

Wieandt: Mein familiärer Hintergrund hat bei der Entscheidung für diese Aufgabe bei der Hypo Real Estate sicher auch eine Rolle gespielt. Ich hatte zu meinem Vater ein enges und vertrauensvolles Verhältnis. Aber das Sanieren von Banken wird nicht mit den Genen weitergegeben. Und ob uns die Sanierung der HRE gelingt, muss sich erst noch zeigen.

SZ: Sie hatten einen sicheren Job bei einem sicheren Geldhaus, der Deutschen Bank. Nun leiten Sie Deutschlands Krisen-Institut Nummer eins. Haben Sie den Wechsel schon bereut?

Wieandt: Nein. Ich habe von meinem Vater auch gelernt, dass man sich in die Pflicht nehmen lassen muss. Als mir diese Herausforderung angetragen worden ist, habe ich sofort zugesagt.

SZ: Warum?

Wieandt: Weil die Rettung der HRE wichtig für das Finanzsystem und die Wirtschaft in Deutschland und auch in Europa ist.

SZ: Sie haben keine Erfahrung im Führen einer Bank. Ein Nachteil?

Wieandt: Ich fühle mich dieser Herausforderung gewachsen. Und die, die mich mit dieser Aufgabe betraut haben, sehen das offenbar genauso.

SZ: Wie weit sind Sie mit der Sanierung der Bank?

Wieandt: Wir haben in den ersten 100 Tagen einiges bewegt: Transparenz über die Lage der Bank geschaffen, ein strategisches Konzept zur Neuausrichtung vorgelegt und die Unternehmensstruktur vereinfacht. Dazu kommt der personelle Neuanfang. Der Aufsichtsrat wurde neu besetzt und hat mittlerweile alle Vorstände ausgetauscht. Wir haben damit überzeugend dokumentiert, dass wir einen Neuanfang wollen. Es sind alle wesentlichen Voraussetzungen geschaffen, dass der Bund jetzt seinerseits über weitere Maßnahmen zur Unterstützung der Hypo Real Estate entscheiden kann.

SZ: Ihr früherer Chef Josef Ackermann hat gesagt, die Deutsche Bank würde sich schämen, Staatsgeld anzunehmen. Schämen Sie sich?

Wieandt : Ich weiß nicht, ob Sie Dr. Ackermann da richtig zitieren.

SZ: Wir denken schon.

Wieandt: Unabhängig davon gilt: Die Hypo Real Estate hat nur mit Unterstützung des Bundes eine positive Zukunft. Wir haben immer deutlich gesagt, dass Eigenkapitalhilfen nötig sind, um die Fortführung der Bank zu ermöglichen. Und die Fortführung ist im Interesse des deutschen Finanzsystems. Wenn der Bund einsteigt, stärkt das an den Kapitalmärkten und bei den Kunden wieder das dringend benötigte Vertrauen.

SZ: Wie viel muss der Bund übernehmen, ein Viertel der Anteile, eine Mehrheit oder die ganze Bank?

Wieandt: Ich begrüße einen Einstieg des Staates. Ob, wie und in welcher Höhe dieser erfolgt, entscheidet zunächst der Bund.

SZ: Haben Sie als Mann, der sein ganzes Leben bei einer privaten Bank gearbeitet hat, kein Problem damit, dass Ihr Haupteigentümer künftig der Staat ist?

Wieandt: Nein, überhaupt nicht. Besondere Zeiten erfordern besondere Lösungen.

SZ: Teuer wird es auf jeden Fall. Die Steuerzahler haben bisher 92 Milliarden Euro bereitgestellt, so viel wie noch nie für ein Unternehmen in Deutschland. Ist die Bank ein Fass ohne Boden?

Wieandt: Manche Menschen befürchten, das ganze Geld sei weg. Aber das ist überhaupt nicht so. 42 Milliarden Euro sind staatliche Garantien, die nur in Anspruch genommen würden, wenn die HRE nicht mehr leistungsfähig wäre. Und 50 Milliarden Euro sind von uns mit Sicherheiten unterlegte Kreditlinien, die unter anderem von einem Finanzkonsortium kommen und für die teilweise der Bund bürgt. Der Steuerzahler hat bis heute keinen Euro verloren. Gleichzeitig bezahlen wir, und das ist richtig so, Gebühren für die Garantien an den Staat.

SZ: Wie hoch ist der maximale Verlust des Staates, wenn alles ausfällt?

Wieandt: Das ist eine rein hypothetische Frage. Wir haben ein Konzept für die Sanierung präsentiert. Wir konzentrieren uns künftig auf das Immobilien- und Staatsfinanzierungsgeschäft auf der Grundlage des Pfandbriefs. Aus dem internationalen Geschäft außerhalb Europas werden wir uns weitgehend zurückziehen. Und wir werden uns an der goldenen Bankregel orientieren, langfristige Engagements auch langfristig zu refinanzieren. So können wir wieder wettbewerbsfähig werden.

SZ: Bekommen Sie derzeit überhaupt noch frisches Geld von privater Seite?

Wieandt: Für uns ist es im Moment sehr schwierig, uns an den Finanzmärkten zu refinanzieren. Aber wenn der Bund einsteigt, wäre dies das Vertrauenssignal, auf das die Märkte warten. Dann sind wieder ganz andere Kredite an uns m glich.

SZ: Warum soll der Staat die Bank überhaupt retten? Wäre es nicht billiger für alle Bürger, die Hypo Real Estate einfach pleitegehen zu lassen?

Wieandt: Ein Zusammenbruch unserer Bank birgt hohe Risiken für andere Elemente des Finanzsystems. Wir haben eine Bilanzsumme von 400 Milliarden Euro, die ist vergleichbar mit der der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers. Die Eskalation der Finanzkrise nach dem Fall von Lehman hat gezeigt, welche Auswirkungen Kettenreaktionen an den Märkten haben können.

SZ: Wann bekommen die Steuerzahler ihr Geld zurück?

Wieandt: Wir haben erklärt, dass wir für die Restrukturierung sicher zwei bis drei Jahre brauchen. Das wird ein steiniger Weg werden.

SZ: Welche Fehler haben Ihre Vorgänger im Vorstand gemacht?

Wieandt : Ich konzentriere mich auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit, die zudem bekanntermaßen Gegenstand von Untersuchungen des Aufsichtsrates und von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ist.

SZ: Für ehemalige Vorstände wie Vorstandschef Georg Funke waren teilweise großzügige Abfindungen und Ruhegehälter vorgesehen. Die meisten Deutschen haben dafür kein Verständnis.

Wieandt : Die Vergütungen für Vorstände sind Sache des Aufsichtsrats. Mein Eindruck ist, dass sich unser Aufsichtsrat seiner Verantwortung gegenüber dem Unternehmen, aber auch der Öffentlichkeit sehr wohl bewusst ist.

SZ: Wenn der Aufsichtsrat den kritischen Zeitgeist in Sachen Managergehälter kennt: Wie viel verdienen Sie?

Wieandt: Ich habe einen Fünf-Jahresvertrag und werde alles zur Rettung dieser Bank tun. Einzelheiten meines Vertrages werden gemäß den Corporate-Governance-Regeln veröffentlicht.

SZ: Wenn der Staat einsteigt, würden die Vorstandsgehälter ohnehin auf 500 000 Euro beschränkt.

Wieandt: Der Vorstand würde das natürlich akzeptieren und die Gehälter, wo erforderlich, auf das notwendige Niveau senken.

SZ: Der Namen Hypo Real Estate dürfte für alle Zeiten verbrannt sein. Planen Sie schon eine Umbenennung?

Wieandt: Wir prüfen diese Frage, und es gibt erste Überlegungen in diese Richtung. Aber im Vordergrund steht jetzt nicht die Verpackung. Wir arbeiten mit Vorrang am Inhalt.

Interview: Caspar Busse, Alexander

Hagelüken, Ulrich Schäfer

"Die Hypo Real Estate hat

nur mit Unterstützung

des Bundes eine Zukunft"

"Der Steuerzahler hat

bis heute noch

keinen Euro verloren"

Der Vater Banker, die Schwester Bankerin, der Schwager Banker: Axel Wieandt bestreitet, dass "das Sanieren von Banken mit den Genen weitergegeben wird." Er prüft, ob die Hypo Real Estate einen neuen Namen erhält. Foto: Schellnegger

Wieandt, Axel: Interviews HVB Real Estate Bank: Krise HVB Real Estate Bank: Verstaatlichung Hypo Real Estate: Sanierung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Familie, die Kreditinstitute saniert

"Ich habe noch nie eine Aufgabe auf halber Strecke beendet", war einer der Sprüche von Paul Wieandt. Der Banker, der 2007 mit 71 Jahren gestorben ist, hat sich in Deutschland einen Namen als energischer Sanierer gemacht. 1984 übernahm der Vater von Axel Wieandt die Führung der Landesbank Rheinland-Pfalz. Das Institut war durch riskante Leasinggeschäfte in Schwierigkeiten, Wieandt senior brachte sie wieder auf Kurs. Ab 1990 erledigte er den nächsten Sanierungsfall, bei der ehemals gewerkschaftseigenen BfG-Bank. Ende 2001, nach seiner Pensionierung, wurde er als Retter für die Schmidt-Bank verpflichtet. Die fränkische Privatbank stand kurz vor dem Aus und wurde nur durch die Milliardenhilfe der großen Privatbanken gerettet. Wieandt wickelte das Institut geräuschlos ab und verkaufte die Reste an die Commerzbank. Sein Sohn Axel hat nun einen noch schwierigeren Sanierungsjob übernommen. Der promovierte Betriebswirt, der seine Karriere bei McKinsey und bei Morgan Stanley begann, wechselte 1998 zur Deutschen Bank, zuletzt diente er Konzernchef Josef Ackermann als Strategiechef. Im Oktober 2008 wurde er überraschend zum Chef der Hypo Real Estate berufen. Rat kann er sich dabei im Familienkreis holen. Sein jüngerer Bruder ist bei McKinsey. Seine Schwester ist Partnerin bei der Investmentbank Goldman Sachs und verheiratet mit Martin Blessing, seit 2008 Chef der Commerzbank - der Bank, an der sich der Staat bereits mit 25 Prozent beteiligt hat. cbu

Wieandt, Axel: Biographie Wieandt, Paul: Biographie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Genossen komplett

Der Bundesverband der Volksbanken und Raiffeisenbanken hat seinen Vorstand komplettiert. Der Verwaltungsrat berief den 49-jährigen Volkswirt Andreas Martin, derzeit im Vorstand des Deutschen Genossenschafts-Verlags, in das Leitungsgremium - als drittes Mitglied neben dem Präsidenten Uwe Fröhlich und Gerhard Hofmann. Reuters

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In Wartestellung bei Conti

Der Continental-Manager Nikolai Setzer übernimmt kommissarisch die Leitung der Sparte Pkw-Reifen. Er untersteht Hans-Joachim Nikolin, der im Vorstand zusätzlich zur Sparte Nutzfahrzeug-Reifen vorübergehend auch die Sparte Pkw-Reifen vertritt, wie aus einem internen Conti-Papier hervorgeht. An der Struktur mit zwei Reifen-Sparten ändert sich nichts. Reuters

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SAF-Holland holt neuen Chef

Führungswechsel beim Lkw-Zulieferer SAF-Holland. Rudi Ludwig, der die frühere SAF Otto Sauer Achsenfabrik mit der US-Firma Holland zusammengeschlossen und an die Börse gebracht hatte, zieht sich Ende Februar aus dem operativen Geschäft zurück. Nachfolger wird bereits an diesem Montag Rainer Beutel, der zuletzt Chef des Autospiegelherstellers Schefenacker war. SZ

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Genauigkeit in fünf Schritten

Die Pflegestufen sollen erweitert werden - das könnte den Hilfebedarf älterer Menschen präziser erfassen

Von Charlotte Frank und Nina von Hardenberg

München - Demenzkranke Menschen könnten künftig deutlich mehr Geld aus der Pflegeversicherung bekommen. Sie würden am stärksten von einem neuen Einstufungssystem der Pflegekassen profitieren, das am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Ein Expertengremium schlug vor, die bisherige Einteilung in drei Stufen durch ein fünfstufiges Modell abzulösen und die Definition der Kassen, wann ein Mensch pflegebedürftig ist, weiter zu fassen. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) stellte sich hinter das Konzept, obwohl dies nach Einschätzung von Experten zu höheren Kosten führen dürfte. Der Bundestag soll nach dem Willen der Ministerin noch vor der Wahl im Herbst eine Entschließung verabschieden. Zu einer Gesetzesänderung wird es aber in dieser Legislaturperiode nicht mehr kommen.

Statt wie bislang hilfsbedürftige Menschen allein nach dem zeitlichen Pflegeaufwand zu beurteilen, sollen nach dem Vorschlag der Expertenrunde nun auch kognitive und soziale Beeinträchtigungen einbezogen werden. Maßgeblich für die Einstufung soll also der Grad der Selbstständigkeit insgesamt werden.

Ministerin Schmidt lobte das Konzept. Damit werde der tatsächliche Hilfebedarf des Einzelnen besser abgebildet. Die oft kritisierte "Minutenpflege" werde der Vergangenheit angehören. Die große Koalition hatte bereits bei den Koalitionsverhandlungen 2005 betont, dass der bisherige Begriff der Pflegebedürftigkeit zu eng gefasst ist und vor allem geistig verwirrte Menschen zu wenig berücksichtigt. Seit November 2006 befasst sich das Expertengremium deshalb im Auftrag der Regierung mit einer Neudefinition des Pflegebegriffs.

Das vorgeschlagene System unterscheidet von "selbständig" und "geringe Beeinträchtigung" bis "schwere Beeinträchtigung" und "völliger/weitgehender Verlust von Selbstständigkeit" fünf Pflegestufen. Für die Einteilung haben Wissenschaftler der Universität Bielefeld ein neues Instrument entwickelt, das "neue Begutachtungsassessment". Dieses stellt zwar - wie das geltende System - weiterhin darauf ab, wie stark ein Mensch in seiner Mobilität und Selbstversorgung beeinträchtig ist. Ebenso wichtig werden aber die Faktoren Kognition, das Verhalten, die Gestaltung des Alltagslebens, soziale Kontakte und die Selbstständigkeit im Umgang mit der eigenen Krankheit. Zudem legt auch die Einstufung in einen der fünf Bedarfsgrade nur noch die Höhe der Leistungen fest, keineswegs aber ihre Art.

Dies hilft vor allem demenzkranken Patienten, die durch das geltende System oft benachteiligt wurden. Es nimmt die Einteilung in die drei Pflegestufen allein auf Basis der Einschätzung vor, ob ein Mensch 90, 180 oder 300 Minuten Unterstützung am Tag braucht, um Alltagsaufgaben wie das Ankleiden oder etwa das Öffnen einer Zahnpastatube zu bewältigen. Gerade Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen aber sind oft noch körperlich fit - im Alltag kommen sie deshalb trotzdem nicht alleine zurecht.

Daneben könnten durch die Einführung des niedrigschwelligen ersten Bedarfsgrades ("selbständig") auch Menschen mit Behinderungen bessergestellt werden, deren Einschränkungen bislang nicht ausreichen, um als pflegebedürftig angesehen zu werden. Im geltenden System werden sie noch unter der "Pflegestufe null" gehandelt. Diese erfasst Versicherte, die zwar Hilfsbedarf haben, jedoch nicht gleich auf die täglichen 90 Minuten Unterstützung der Pflegestufe I angewiesen sind. So steht ihnen bislang nur der Weg offen, zusätzliche Sozialhilfeleistungen zu beantragen.

Auch nach oben hin musste das geltende System bereits erweitert werden: Wenn der Pflegeaufwand das Maß der Pflegestufe drei übersteigt, kann ein Härtefall beantragt werden. Diese hilfsweisen Ergänzungen des dreistufigen Systems zeigen bereits, wie dringend eine Neudefinition ist. Dennoch wurde das Vorhaben bei der Pflegereform im Juli 2008 ausgelassen. Schon damals stiegen die Beiträge der Versicherten um 0,2 Prozentpunkte. Durch die Neudefinition, schätzen die Experten, würden auf Pflege- und Sozialversicherung noch einmal mindestens 240 Millionen Euro Mehrkosten im Jahr zukommen.

Vertreter der Pflegebranche forderten die Regierung auf, das Konzept schnell umzusetzen. Bis eine Reform in Kraft tritt, kann es allerdings noch dauern: Zunächst wurde der Beirat damit beauftragt, bis Ostern 2009 konkrete Strategien zur Einführung des neuen Pflegebegriffs zu entwickeln. (Seite 4)

Die neue Definition würde die Kassen jährlich 240 Millionen Euro kosten

Nur wer körperlich behindert ist, wird im heutigen System einigermaßen genau eingestuft. Foto: Hartmut Pöstges

Schmidt, Ulla: Zitate Pflegeversicherung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Blickpunkt

Vier Milliarden Dollar zuviel

Staatsanwälte ermitteln gegen Ex-Merrill-Lynch-Chef John Thain

New Yorks Generalstaatsanwalt Andrew Cuomo nennt es "die Vier-Milliarden-Dollar-Frage". Warum hat der Verwaltungsrat der Investmentbank Merrill Lynch noch kurz vor Veröffentlichung der hohen Verluste kräftige Bonuszahlungen an Führungskräfte und Broker genehmigt? Wurden die Kontrolleure getäuscht? Und warum hat die Bank of America, die Merrill kurze Zeit später übernahm, die Zahlungen nicht verhindert? Die Strafverfolger haben die Ermittlungen aufgenommen. Schon in den kommenden Tagen sollen Ex-Merrill-Lynch-Chef John Thain und zwei führende Bank of America-Manager vernommen werden.

Die Ausschüttung der Boni gehörte zu Thains letzten Amtshandlungen. Im Dezember, einen Monat früher als gewöhnlich und nur drei Tage vor dem Abschluss der schon vereinbarten Übernahme durch die Bank of America, gönnte der Bankchef seinen Managern vier Milliarden Dollar aus der Unternehmenskasse. Es war sein Abschiedgeschenk gewissermaßen. Als Erfolgsbeteiligungen jedenfalls lassen sich die Boni nicht rechtfertigen. Merrill Lynch hat allein im vierten Quartal einen Verlust von mehr als 15 Milliarden Dollar eingefahren. Ohne die Übernahme durch die Bank of America wäre die Investmentbank wohl pleite.

Ziel der Ermittlungen Cuomos ist es, herauszufinden, ob es Wege gibt, die Bonuszahlungen zurückzufordern. Außerdem untersuchen die Strafverfolger, ob Thain gegen Wertpapiergesetze verstoßen hat. Mehrere Verwaltungsratsmitglieder behaupten jedenfalls, von den enormen Verlusten im vierten Quartal nichts gewusst zu haben, als sie die Ausschüttung genehmigten. Thain hatte seinen Job bei Merrill Lynch erst im November 2007 angetreten. Der frühere Goldman-Sachs-Chef war als Sanierer gekommen und ging in Schande. Bank of America-Chef Kenneth Lewis drängte ihn vor einer Woche aus dem Amt, empört über die Bonus-Zahlungen und die 1,2 Millionen Dollar teure Renovierung des Vorstandsbüros, die Thain mitten in der Finanzkrise in Auftrag gegeben hatte. Offenbar wollte sich Thain zudem einen 40-Millionen-Dollar-Zuschlag genehmigen lassen. Am Ende gab er sich allerdings ohne Prämie zufrieden. Auch die Renovierungskosten hat er inzwischen erstattet - und nun erhebt er seinerseits Vorwürfe gegen Lewis. Die Bank of America habe von den Bonuszahlungen gewusst, behauptet Thain.

Lewis steht unter Druck. Die Merrill-Übernahme sah anfangs aus wie ein Coup, doch sie wurde zum Desaster. 50 Milliarden Dollar zahlte die Bank of America für Merrill. Das schlechte Geschäft habe nicht nur den Aktionären geschadet, argumentiert die Staatsanwaltschaft, sondern auch den Steuerzahlern. Und so erstrecken sich die Ermittlungen inzwischen auch auf die Bank of America. Schließlich musste die Bank aus North Carolina schon zum zweiten Mal den staatlichen Rettungsfonds anzapfen. Immerhin: Kenneth Lewis muss sich keine Bonus-Verschwendung vorwerfen lassen. Die Bank of America hat die Auszahlungen an ihre Mitarbeiter drastisch zusammengestrichen. Moritz Koch

John Thain Foto: AP

Thain, John A.: Berufsvergehen Thain, John A.: Rechtliches Thain, John A.: Einkommen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Drohungen eines Dienstes

Im Bundestag beklagt ein Kritiker die Praktiken des BND

Von Peter Blechschmidt

Berlin - Bizarre Einblicke in die Welt der Geheimdienste hat am Donnerstag die Vernehmung des Publizisten Erich Schmidt-Eenboom im BND-Untersuchungsausschuss des Bundestages erbracht, als es um die Bespitzelung von Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst ging. Von Menschen als "lebendigem Briefkasten" und "zweibeinigen Wanzen" sprach Schmidt-Eenboom, und davon, dass ihm gedroht worden sei, man würde ihn "schlachten" oder ihm "die Bude auf den Kopf" stellen. Letztere Drohungen waren zwar anonym, doch legte Schmidt-Eenboom die Vermutung nahe, sei seien aus dem BND gekommen.

Seit vielen Jahren ärgert der Publizist den Dienst mit Büchern über dessen Interna. Eine Veröffentlichung im Jahr 1993 löste eine großangelegte Suchaktion des BND nach den Quellen Schmidt-Eenbooms innerhalb des Dienstes aus. Über drei Jahre hinweg wurde der Autor observiert, noch von 2000 bis 2003 wurde sein Altpapier durchsucht. Die Operation war rechtswidrig, wie heute niemand bestreitet. Die undichten Stellen fand der BND nicht.

Das alles ist seit geraumer Zeit bekannt, nicht zuletzt durch den Bericht eines vom Parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste (PKG) bestellten Sonderermittlers aus dem Frühjahr 2006. Dieser Bericht enthalte jedoch viele falsche, vom BND stammende Einzelheiten, sagte Schmidt-Eenboom am Donnerstag. Vor allem trat er der Schlussfolgerung des Ermittlers entgegen, er sei ein Vertrauensmann (V-Mann) des BND gewesen. Schmidt-Eenboom räumte ein, dass er zwischen 1997 und 2005 etwa zehn Gespräche mit einem Abgesandten des BND geführt habe. Dabei sei er immer wieder nach seinen Quellen gefragt worden, für Informationen seien ihm schon mal eine Einbauküche oder 20 000 Mark Honorar versprochen worden. Er habe jedoch keinerlei verfängliche Angaben gemacht, vielmehr sogar gelegentlich "Desinformation" betrieben.

Erst im Mai 2005 habe ihm einer der BND-Observierer von der Ausspähaktion gegen ihn erzählt, sagte Schmidt-Eenboom. Dieser Informant habe ihm auch gesagt, dass er mit Richtmikrofonen belauscht worden sei. Außerdem sei sein Telefon abgehört worden. Abhörmaßnahmen hat der BND allerdings bestritten. Schmidt-Eenboom hielt es für wahrscheinlich, dass die Leitung des BND und auch das übergeordnete Bundeskanzleramt zumindest vom Ausmaß der Überwachungsaktion gegen ihn nicht informiert gewesen seien. Nach seinem Wissen hätten untergeordnete Ebenen im Dienst ein starkes Eigenleben geführt. "Beim BND gibt es einen substantiellen Mangel an Dienstaufsicht", sagte der Geheimdienstexperte.

"Beim BND gibt es einen substantiellen Mangel an Dienstaufsicht"

Deutscher Bundestag BND-Affären um Bespitzelung von deutschen Journalisten Bespitzelung von Erich Schmidt-Eenboom durch den BND 2005- SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wunderkind ist abgebrannt - schon wieder

Der einstige Jungstar Lars Windhorst hat erneut Insolvenz angemeldet. Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft. Eine Anklage wird nicht ausgeschlossen

Von Uwe Ritzer

Die Dame, die sich am Handy von Lars Windhorst meldet, macht wenig Hoffnung. Nein, Herr Windhorst sei nicht zu sprechen. Auch später nicht. Sie könne sich auch nicht vorstellen, dass Herr Windhorst zurückrufen oder überhaupt Fragen beantworten werde. Lars Windhorst, einst von Kanzler Helmut Kohl als neues deutsches Wirtschaftswunderkind gepriesen, redet prinzipiell nicht gerne öffentlich über seine Geschäfte. Vor allem dann nicht, wenn er mit diesen wieder einmal eine Millionenpleite hingelegt hat. Am Dienstag stellten Windhorst und sein Geschäftsführerkollege Peter Ogrisek beim zuständigen Amtsgericht Berlin-Charlottenburg Insolvenzantrag für die Vatas Holding GmbH. Der Finanzinvestor, der zeitweise an der Fluggesellschaft Air Berlin und am Mobilfunk- und Internetdienstleister Freenet beteiligt war, scheint schon länger ins Trudeln geraten zu sein. Den Ausschlag gab wohl eine 150-Millionen-Euro-Klage der Norddeutschen Landesbank (NordLB).

Dabei geht es um eines der merkwürdigsten Aktiengeschäfte im vergangenen Jahr. Zwischen Herbst 2007 und Anfang 2008 kaufte die NordLB für 234 Millionen Euro Aktien an unterschiedlichen Firmen wie dem Kabelausrüster Euromicron, dem Handyzulieferer Balda und dem Altenheimbetreiber Curanum. Doch der Auftraggeber für die Käufe, die Vatas GmbH mit ihrem Geschäftsführer Windhorst, holte die Anteilscheine nie ab. Die NordLB blieb darauf sitzen und musste eine millionenschwere Risikovorsorge in ihre Bilanz einstellen.

Der Fall sorgte für Aufsehen und löste erneut Interesse an Lars Windhorst und seinen Geschäften aus. Öffentliche Aufmerksamkeit ist der Handwerkersohn aus Westfalen ja gewohnt, seit Helmut Kohl den damals 18-Jährigen auf eine Vietnamreise mitnahm und ausgiebig mit ihm für Fotos posierte. Der "Junge, der an die Zukunft glaubt" (Kohl) wurde fortan von höchsten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kreisen hofiert.

Große Steherqualitäten

Damals firmierte Windhorst als Chef einer Firmengruppe. Die gibt es schon lange nicht mehr, und hinter Windhorst, heute 32, liegt eine beispiellose Kette bestehend aus Insolvenzen, Offenbarungseid, Schulden und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. Dabei bewies der Mann mit dem Milchgesicht, dem selbst Feinde Charisma nachsagen, große Steherqualitäten.

Die Umstände seiner Abstürze waren immer schillernd und dubios. Das gilt auch für den mysteriösen Crash jenes Privatflugzeuges, das am zweiten Weihnachtsfeiertag 2007 mit Windhorst als Passagier bei bestem Wetter am Flughafen im kasachischen Almaty zerschellte. Der Pilot starb, Windhorst überlebte schwerverletzt. Auch geschäftlich havarierte Windhorst mehrfach.

2005 meldete er Privatinsolvenz an. 60 Gläubiger, darunter namhafte Banken und Konzerne, sowie US-Filmstar Michael Douglas, machten 72 Millionen Euro an Forderungen geltend, um sich anschließend erstaunlicherweise mit 1,6 Millionen Euro zufriedenzugeben.

Einer der damaligen Gläubiger war Robert Hersov, Spross einer südafrikanischen Industriellenfamilie. Angeblich schuldete Windhorst Hersov 4,28 Millionen Euro. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Windhorst arbeite zumindest einen Teil dieser Schulden bei Hersov ab, zu dessen Firmengeflecht auch die Vatas-Gesellschafterin Sapinda International Limited mit Sitz in London gehört. Wie hoch die Vatas-Verbindlichkeiten sind, konnte der vorläufige Insolvenzverwalter Rüdiger Wienberg nicht beziffern. Ein Sanierungsfall sei die Windhorst-Firma schon länger. Ein Sanierungsplan sei nun an der NordLB-Klage gescheitert, sagte Wienberg.

Die Umstände der Pleite beschäftigen inzwischen auch die Berliner Staatsanwaltschaft. Sie hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, nachdem der britische Finanzinvestor Audley Capital im Mai 2008 Strafanzeige gegen Windhorst und dessen Kompagnon Ogrisek wegen Insolvenzverschleppung gestellt hat. Audley hatte für 29,4 Millionen Euro Anteile am Altenheimbetreiber Curanum gekauft, und Vatas soll zugesichert haben, diese zum selben Preis im Frühjahr 2008 zurückzukaufen. Audley vermutet, dass Vatas damals schon pleite war.

Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt jedoch auch in anderem Zusammenhang gegen Windhorst. Seit mittlerweile sechs Jahren geht es unter dem Aktenzeichen 5 Wi Js 1160/03 um einen möglichen Betrug am Hamburger Geschäftsmann Ulrich Marseille, einem der größten privaten Betreiber von Kliniken, Pflege- und Senioren-Einrichtungen in Deutschland. Dieser hatte Windhorst zehn Millionen Euro geliehen; er hat sie größtenteils bis heute nicht zurückerhalten. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte nun, die Ermittlungen in diesem Fall seien abgeschlossen. Momentan werde behördenintern entschieden, ob das Verfahren eingestellt oder aber Anklage gegen Lars Windhorst erhoben wird. Es könnte eng werden für das einstige Wunderkind.

Auf Partys zeigt er sich gern: Lars Windhorst - hier mit dem Berliner Unternehmer Hans Wall - bei einem Diplomaten-Diner in Berlin. Foto: Schroewig / PA

Windhorst, Lars VATAS Holding GmbH: Konkurs SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aktuelles Lexikon

Septuaginta

Die Septuaginta ist die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Legenden zufolge wünschte der Leiter der Bibliothek von Alexandria eine griechische Ausgabe der Thora, der fünf Bücher Moses. Daraufhin erarbeiteten 72 jüdische Gelehrte in 72 Tagen die Übersetzung, jeder für sich und doch entstand 72-mal derselbe Wortlaut. So erklärt sich der lateinische Titel Septuaginta (siebzig). Tatsächlich wird die Übersetzung für die hellenistischen Juden entstanden sein, die das Hebräische nicht mehr beherrschten. Die Septuaginta ist zunächst ein Zeugnis des Zusammentreffens von Judentum und Griechentum, hier kann man erkennen, wie das griechische Denken auf die hebräische Begrifflichkeit einwirkte. Die Septuaginta war stark verbreitet, auch die Autoren des Neuen Testamentes benutzten sie, wenn sie sich auf die Bücher des Alten Bundes bezogen; bis heute ist sie maßgebend für die Griechisch-Orthodoxen. Und zuletzt ist sie auch ein selbständiger Textzeuge. Die Juden, die im 3. Jahrhundert v. Chr. und später ihre heiligen Schriften ins Griechische übersetzen, arbeiteten mit älteren Textstufen als dem sogenannten masoretischen Text, jener Revision des hebräischen Textes, die nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. entstand. Erstmals ist nun eine deutsche Übersetzung der Septuaginta erschienen. Ein zweibändiger Kommentar ist erarbeitet und wird bis zum nächsten Frühjahr vorliegen. stsp

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Atommüll vor der Haustür

Karlsruhe - Das Bundesverfassungsgericht hat den Rechtsschutz von Anwohnern gegen Atommüll-Transporte unmittelbar vor ihrer Haustür gestärkt. Das Gericht hob am Donnerstag zwei Entscheidungen des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts auf. Dieses hatte die Berufung zweier Bürger aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg, die ohne Erfolg vor dem Verwaltungsgericht gegen einen Castor-Transport geklagt hatten, von vornherein als unzulässig abgewiesen. Das "spezifische Gefährdungspotential bei der Beförderung von Kernbrennstoffen" hätte aus Sicht der Karlsruher Richter aber eine inhaltliche Überprüfung nahegelegt. dpa

Atommülltransporte in Deutschland Fälle beim Bundesverfassungsgericht SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spitzentreffen in den Bergen: Wie sich Politiker und Manager Mut zureden

"Wir werden es überleben"

Während die Wirtschaftsführer in Davos eher verzagt auftreten, üben sich Politiker wie Ex-Präsident Bill Clinton in Optimismus

Von Marc Beise

Davos - Victor Pinchuk, 48, hat sein Geld in der Ukraine mit Stahl und Medien gemacht. Er ist ein leidenschaftlicher Unternehmer, aber auch ein Kunstfreund und ein passionierter Wohltäter. Also hat er eine eigene millionenschwere Stiftung für Gesundheit, Erziehung, Kultur und Menschenrechte ins Leben gerufen und im Jahr 2008 mit einem "Philanthropic Roundtable" die Davoser Bildfläche betreten. Damals war beim Welttreffen der Mächtigen und Reichen viel die Rede von einer Art Revolution im Wohltätigkeitsmarkt: dem massenhaften Engagement erfolgreicher Unternehmer, die ihre geschäftliche Erfahrung auch sozial nutzbar machen und einen Teil der verdienten Milliarden für das Wohl insbesondere von Menschen in der Dritten Welt einsetzen.Das Zauberwort lautete "Philanthrocapitalism", und die Verbindung von Kapitalismus und Wohltätigkeit schien der große Wurf. Namentlich das Microsoft-Ehepaar Bill und Melinda Gates engagierte sich mit bis dahin nicht gekannten Summen zum Beispiel gegen die Malaria in Afrika. Jetzt aber ist der Kapitalismus in die größte Krise seit 60 Jahren geraten; keine Sitzung findet im diesjährigen Davos statt, ohne dass diese geschichtliche Dimension mit Leidensmiene beschworen wird. Und plötzlich scheint die geniale Wortschöpfung eine ganz dumme Idee.

Pinchuk aber ist Unternehmer genug, aus der Not eine Tugend zu machen. Kurzerhand benannte er seinen 2. Davoser Roundtable "From Philanthrocapitalism to Philanthrocrisis" und gewann Promis wie den früheren US-Präsidenten Bill Clinton, Ex-Premier Tony Blair und Nobelpreisträger Mohammed Yunus aus Bangladesh als Mitwirkende. Diese setzten am Donnerstag mitten in die allgemeine Davoser Depression ein Zeichen der Hoffnung. Es sei nämlich keinesfalls so, berichteten die Spendensammler Clinton und Blair sowie andere Teilnehmer der Runde übereinstimmend, dass schwindende Gewinne automatisch auch wegbrechende Großspenden bedeuteten. Als lebendes Beispiel saß Internet-Milliardär Bill Gates auf der Bühne und bekundete, trotz schrumpfendem (aber immer noch gigantischem) Privatvermögen mehr denn je in seine Stiftung zu überführen. Man müsse allerdings, so der Aids-Bekämpfer Clinton, nicht immer nur Projekte benennen und Geld einfordern, sondern sich verstärkt Gedanken über die Art und Weise der Hilfe machen: "Das Wie wird unser großes Thema."

Dass solche Runden immer noch eher an der Peripherie von Davos stattfinden, hatte zuvor in einer anderen Session der Washingtoner Prediger Jim Wallis beklagt und eine ethische Diskussion über Chancen und Grenzen des Kapitalismus gefordert. Versatzstücke für eine solche Diskussion finden sich allerdings durchaus in vielen Stellungnahmen - vorzugsweise von Wirtschaftsführern selbst, die sich hier in Davos jedenfalls auf dem Podium häufig betont nachdenklich bis demütig geben. Er habe den Eindruck, mokierte sich darüber der israelische Präsident Schimon Peres, es sei ein Wettbewerb im Gange zum Küren des größten Pessimisten von Davos. Er selbst lasse sich den Optimismus nicht nehmen, sagte das Staatsoberhaupt eines Landes, das gerade einen Krieg in Gaza geführt hat.

Da traf sich Peres stimmungsmäßig mit seinem Ex-Kollegen Bill Clinton, der sich am Morgen vor Wirtschaftsführern zuversichtlich gezeigt hatte, dass die USA und die Welt die derzeitige Krise bewältigen werden: "Wir werden es überleben." Allerdings sei dazu eine enge internationale Zusammenarbeit nötig. "Eine Scheidung ist nicht drin, wir können uns nicht trennen."Clinton gab zu, dass die USA die Krise ausgelöst haben. An ihrer Bewältigung müsse weltweit gearbeitet werden. Allerdings würden die USA und damit der neue Präsident Barack Obama die Richtung vorgeben. Die USA könnten allerdings die Ausgaben und Pläne Obamas nur finanzieren, "wenn andere unsere Staatsanleihen kaufen". Dies sei etwa ohne die Unterstützung Chinas nicht zu schaffen. "Wir müssen handeln. Pessimismus ist eine Ausrede, nichts zu tun", sagte Clinton.

Der chinesische und der russische Regierungschef, Wen Jiabao und Wladimir Putin, hatten in ihren Eröffnungsreden den USA Zusammenarbeit angeboten, allerdings auch auf neuen Regeln für die Weltwirtschaft bestanden, die gemeinsam erarbeitet werden müssten. Putin hatte sich obendrein gegen die Dominanz des Dollar gewandt und mehrere gleichberechtigte Währungen gefordert.

Spender unter sich (von links): Tony Blair, der chinesische Schauspieler Jet Li, Bill Gates, Moderator Matthew Bishop, Mohammed Yunus, Flugunternehmer Richard Branson. Vorne rechts Ex-Präsident Bill Clinton. Foto: AFP

Pintschuk, Wiktor Weltwirtschaftsforum 2009 Internationale Hilfsaktionen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Herausforderer drehen auf

BCG legt Studie über große Unternehmen aus Schwellenländern vor

Von Karl-Heinz Büschemann

München - Die Konkurrenz zwischen etablierten westlichen Konzernen und neuen Wirtschaftsgrößen aus Schwellenländern wird durch die Finanzkrise nicht nachlassen. Das besagt eine Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting (BCG), die auf dem Wirtschaftsforum in Davos vorgestellt wurde. Multinationale Konzerne aus Europa, den USA oder Japan sollten nicht damit rechnen, dass die jetzige Krise die neue Konkurrenz aus Schwellenländern existenziell schwächt. "Selbst wenn einige der Herausforderer ins Straucheln geraten sollten, stehen viele andere in zweiter Reihe bereit, um ihren Platz einzunehmen", erklärt David Michael, BCG-Partner in Peking und Studienautor.

BCG hat in diesem Jahr 19 neue Unternehmen in die Liste der 100 größten Herausforderer der westlichen Weltmarktführer aufgenommen. Die Herausforderer seien mit Geschäften in der sogenannten Bric-Region, also in Brasilien, Russland, Indien und China, groß geworden, strebten aber inzwischen verstärkt auch am Weltmarkt an die Spitze. Die Unternehmen dieser Gruppe hätten in den vergangenen Jahren ein durchschnittliches Wachstum von 29 Prozent im Jahr erreicht. Das ist weit mehr, als die Konzerne schafften, die in den großen Börsenindizes Amerikas, Japans und Deutschlands vertreten sind. Mit einer Rendite von 17 Prozent 2007 seien diese Unternehmen besonders rentabel gewachsen.

Die meisten der neuen Konzerne sitzen in China (36), gefolgt von Indien (20), Brasilien (14), Mexiko (7) und Russland (6). Erstmals sind mit Agility, Dubai World, Emaar Properties, Emirates Airlines und Etisalat auch fünf Unternehmen aus dem Nahen Osten in der Liste vertreten. Das zeige, wie schnell sich die Golfregion wegbewege von der Ölförderung und in neue Geschäftsfelder rund um Immobilien, Logistik und Tourismus diversifiziere.

Aus China wurde das Photovoltaikunternehmen Suntec Power in die Liste aufgenommen. Suntec gehört zu den größten Herstellern von Solarzellen zur Stromgewinnung und machte 2007 einen Umsatz von 1,3 Milliarden Dollar. Suntec hat vor einem Jahr in Deutschland die KSL-Kuttler Automation Systems übernommen. Am stärksten ist in der Liste der 100 größten Herausforderer mit 20 Unternehmen die Rohstoffbranche einschließlich Metallurgie vertreten. Es folgt mit 13 Nennungen die Lebensmittelindustrie. Die Autohersteller und -zulieferer sind mit zehn genannten Konzernen die drittgrößte Branche.

Schwellenländer BRIC-Investmentfonds SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Deserteur mit leerem Magen

Ein hungriger russischer Soldat hat sich nach Georgien abgesetzt - Moskau spricht von Entführung

Von Frank Nienhuysen

Moskau - Alexander Gluchow wirkt entspannt in dem Video, vor ihm liegen Pommes und ein Big Mac in einer Schachtel. Doch zum Essen kommt er nicht. Denn Gluchow hat viel zu erzählen - er berichtet, wie er bei McDonalds in der georgischen Hauptstadt Tiflis gelandet ist. Gluchow ist russischer Unteroffizier, und falls die Version stimmt, die er bei Tisch berichtet, hat er sich freiwillig von seiner Truppe in Südossetien abgesetzt und auf die Seite Georgiens geschlagen. Ausgehungert sei er gewesen, weil er kaum etwas zu essen bekommen habe. Duschen habe er schon lange nicht mehr können, und obwohl er all seine Aufgaben erfüllt habe, sei sein Kommandeur mit ihm ständig unzufrieden gewesen. Politische Gründe habe er für seine Flucht nach Georgien nicht gehabt, sagte der junge Mann. "Wenn es in der Nähe eine Grenze zu einem anderen Staat gegeben hätte, wäre ich ebenso gegangen.

Dass sich wenige Monate nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien ein russischer Soldat auf der anderen Seite verköstigen lässt und später bei einem Fernsehauftritt auch noch Präsident Michail Saakaschwili um Asyl bittet, hat sich zu einem diplomatischen Scharmützel ausgewachsen. Das russische Verteidigungsministerium hält die Angelegenheit für eine Provokation Georgiens und für den "Versuch, die russische Armee zu diskreditieren". Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax wirft Moskau den Georgiern vor, Gluchow von seiner Einheit entführt zu haben. Nun wird von Tiflis gefordert, den Soldaten freizulassen. "Geben Sie es zu", sagte laut Interfax ein Militärkommissar aus Gluchows Heimatregion Udmurtien, "um zu flüchten und Asyl zu beantragen, braucht man Gründe. Aber wegen der schlechten Bedingungen und weil er lange nicht geduscht hat? Das ist lachhaft."

Gluchow hat nach russischen Medienberichten vor eineinhalb Jahren den Dienst bei der Armee begonnen. Als Angehöriger eines Motschützen-Bataillons, einer mobilen Infanterie-Einheit, wurde er im Juni - vor Ausbruch des Krieges - nach Südossetien versetzt. Bei den Kämpfen sei er aber nicht dabei gewesen.

Für Georgiens Führung, insbesondere für Präsident Michail Saakaschwili, wäre die Desertion eines russischen Soldaten nach der militärischen Niederlage im August natürlich eine Genugtuung. Erst am Donnerstag hatten mehrere Oppositionsparteien Saakaschwili in einer gemeinsamen Erklärung zum Rücktritt aufgerufen und vorgezogene Neuwahlen gefordert. Sie werfen ihm unter anderem vor, das Land in den Krieg mit Russland getrieben zu haben.

Der Vorsitzende des georgischen Parlaments, David Bakradse, rief Russland auf, "seine Zeit sinnvoller zu verbringen, als sich zu propagandistischen Zwecken mit dem Schicksal Gluchows zu beschäftigen". Dieser habe auf eigenen Wunsch seine Einheit verlassen und sei nach Tiflis gekommen. In einer weiteren Videoaufnahme, in der sich der russische Soldat in Uniform zeigt, spricht er auffällig langsam, macht immer wieder Pausen. Für russische Medien ist daher klar, dass Gluchow von georgischer Seite eingespannt worden ist. "Es sieht ganz danach aus, als sage er einen fremden Text auf", schreibt die russische Zeitung Moskowskij Komsomolez. "Seine Stimme ist leblos, die fremde Hand ist deutlich zu merken."

In einem Interview mit dem russischen Radiosender Echo Moskaus beteuerte Gluchow jedoch, er sei auf eigene Initiative nach Georgien geflüchtet. Aber er sei kein Verräter. Doch auch seine Mutter Galina Gluchowa gab ein Interview. Der Rossijskaja Gaseta sagte sie, "ich fürchte, dass man ihn mitgenommen hat. Er ist gern zur Armee gegangen."

Glücklich über Fast-Food: der fahnenflüchtige Alexander Gluchow. rtr

Beziehungen Russlands zu Georgien Verteidigungswesen in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Deutscher Tanker vor Somalia entführt

Kampala - Am Horn von Afrika ist ein deutscher Tanker, der Flüssiggas transportiert, von mutmaßlich somalischen Piraten entführt worden. Die MV Longchamp, die unter der Flagge der Bahamas fährt, ist am Donnerstag in den frühen Morgenstunden im Golf von Aden attackiert worden. Nach Angaben der ostafrikanischen Seefahrerverbandes hat es "einen heftigen Schusswechsel an Bord gegeben"; angeblich sei die Crew aber unversehrt, hieß es. Den Angriff bestätigte auch das Unternehmen "Bernhard Schulte Shipmanagement", die Betreiberfirma der Longchamp in Hamburg. Deutsche Seeleute sind nicht an Bord. Von den 13 Besatzungsmitgliedern kommen zwölf von den Philippinen und einer aus Indonesien. Der 3400-Tonnen-Tanker wurde in Japan gebaut und ging 1990 in Betrieb.

Die Kaperung der Longchamp ist bereits der dritte Piratenüberfall am Horn von Afrika in diesem Jahr. Die weltweite Piraterie hat sich seit dem Jahr 2008 erheblich verschärft, die Gewässer entlang der somalischen Küste und im Golf von Aden gelten als besonders gefährlich. Dort gab es im vergangenen Jahr allein 111 Angriffe, 42 Schiffe wurden dabei entführt. Weltweit wurden 293 Schiffsüberfälle registriert, so viele wie noch nie zuvor.

Etwa 20 Marineschiffe aus Europa, Asien und den USA überwachen das Seegebiet, um Angriffe auf Frachtschiffe zu vermeiden. Erst vor einigen Tagen nahm eine französische Fregatte neun Piraten fest. Dennoch geraten weiterhin Schiffe in die Gewalt von Seeräubern. Die Piraten sind mit modernen Booten und neuester Waffentechnik ausgerüstet. Im vergangenen Jahr haben sie mit ihren Entführungen nach Schätzungen von Experten mehr als 30 Millionen Euro Lösegeld erpresst. perr

Piraterie in Somalia Handelsschiffahrt Reedereien in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heuschrecke hilf!

Finanzinvestor will mit Staatskapital den Mittelstand rauspauken

Die Idee wirkt auf den ersten Blick bizarr. "Der Bund könnte die Expertise der Beteiligungsgesellschaften nutzen, um dem Mittelstand mit Kapital zu helfen", schlug Wilken von Hodenberg am Donnerstag vor. Er ist Chef der Deutschen Beteiligungs AG, einem alteingesessenen Mittelstandsinvestor. Ein Finanzinvestor bietet sich also an, Staatsgeld in Firmen zu investieren, die durch die Wirtschaftskrise in Geldnot geraten sind. Wie soll das gehen? Waren diese Investoren nicht als Heuschrecken verschrien, weil sie selbst durch ihr Gebaren Firmen in Bedrängnis bringen?

Bei näherem Hinsehen ist die Überlegung nicht ganz abwegig. Hodenberg regt an, von den 100 Milliarden Euro, die der Bund im Zuge des zweiten Konjunkturprogramms vor allem als Kreditbürgschaften vergeben will, bis zu 20 Milliarden für Kapitalhilfen abzuzweigen. Das Geld könne über die Förderbank KfW in neue Beteiligungsfonds fließen. "Finanzinvestoren wie wir könnten eigenes Geld zuschießen und die Mittel in Firmen investieren", sagt Hodenberg. Etwa 250 Finanzinvestoren in Deutschland hätten die Expertise, sich daran zu beteiligen.

"Die Unternehmen brauchen gerade jetzt nicht mehr Schulden, sondern Eigenkapital." Das Argument ist richtig. In vielen Branchen brechen Umsätze und Gewinne rapide weg. Nur wenn die Kapitaldecke dick genug ist, finanzieren Banken Firmen irgendwann auch wieder ohne Staatsgarantie. Richtig ist auch, dass der Bund damit überfordert wäre zu entscheiden, welche Firmen er unterstützen soll. Finanzinvestoren kennen den Markt. Wenn sie zusätzlich ihr eigenes Geld investieren, hätten sie auch einen Anreiz, das Staatskapital umsichtig einzusetzen.

Warum aber geben die Finanzinvestoren den Firmen das Kapital nicht einfach selbst? Hodenberg sagt, fast alle Beteiligungsgesellschaften wollten die volle Kontrolle, sie gingen daher keine Minderheitsbeteiligungen ein. Im Bund mit dem Bund könnten sie aber die Risiken begrenzen. Dennoch dürfte das Geld eines Staats-Heuschrecken-Fonds vermutlich nicht bei den Firmen mit der größten Not landen. Der entscheidende Haken aber ist ein anderer: Zwar stehen die meisten Firmen der DBAG passabel da, obwohl Hodenberg nicht ausschließt, dass der Investor bei der ein oder anderen Firma Geld nachschießen muss. Aber Fachleute rechnen damit, dass vielen Unternehmen von Finanzinvestoren dieses Jahr die Insolvenz droht, weil sie mit zu hohen Schulden in die Rezession gehen. Als Krisenmanager empfehlen sich viele dieser Investoren daher nicht. Martin Hesse

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Arm und reich - in der Not gleich?

Wer was offenlegen muss

Von Claus Hulverscheidt und Thomas Öchsner

Den Reichen gibt er's, den Armen nimmt er's. Wer sich die Diskussion um Milliardenhilfen für die Wirtschaft einerseits und den Streit über die Höhe der Hartz-IV-Sätze anderseits anschaut, der könnte auf den Gedanken kommen, der Staat messe mit zweierlei Maß - frei nach dem Motto: Bedürftige müssen sich bis auf das Hemd ausziehen, Milliardäre wie Maria-Elisabeth Schaeffler müssen dagegen keinen einzigen eigenen Cent einsetzen, bevor sie Geld vom Staat bekommen. Wie nicht anders zu erwarten, ist die Realität ein wenig komplizierter.

Arbeitslosengeld II (Hartz IV) wird nur gezahlt, wenn der Empfänger den Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft finanzieren kann. Dazu prüfen die Arbeitsagenturen nicht nur penibel, ob ein Arbeitslosengeld-Empfänger mit einem Partner zusammenlebt, der für ihn sorgen kann. Sie haken auch nach, ob Vermögen vorhanden ist, das sich vor Auszahlung der Staatshilfe verwerten lässt.

Das Geld der Arbeitslosen

Dafür gibt es Regeln: Wer Arbeitslosengeld II beantragt und nach 1947 geboren wurde, darf für sich und seinen Partner einen Freibetrag von je 150 Euro pro Lebensjahr behalten, mindestens aber 3100 Euro. Dieser Freibetrag gilt auch für jedes hilfebedürftige minderjährige Kind. Wer vor 1948 auf die Welt kam, erhält einen Freibetrag von 520 Euro pro Lebensjahr. Ein Beispiel: Ein 38-jähriger Mann käme auf 5700 (38 x 150), seine 32-jährige Frau auf 4800, die 17-jährige Tochter auf 3100 Euro. Die Familie dürfte Rücklagen von 13 600 Euro behalten. Hinzu kommen 750 Euro pro Kopf für "notwendige Anschaffungen", Freibeträge für die Altersvorsorge und Härtefallregelungen für Lebensversicherungen.

Gerät ein Unternehmen in Not, hat es keinerlei Anspruch auf Staatshilfe. Seit jedoch die Bundesregierung einen Rettungsfonds für die deutschen Banken errichtet hat, bitten auch Industriekonzerne den Bund um Hilfe.

Eine Bank, die Geld aus dem Rettungsfonds haben will, muss dem Staat ihre Bücher öffnen. Geht es nur um Bundesbürgschaften, belässt es der Staat bei einer Überprüfung der Kerndaten. Benötigt die Bank dagegen Eigenkapital, also tatsächlich Geld, wird das Zahlenwerk auch im Detail durchleuchtet. Entscheidend ist dabei unter anderem eine Frage: Ist das Institut trotz oder wegen seines Geschäftsmodells in die Krise geraten? Letzteres ist etwa bei der Hypo Real Estate der Fall, deren Konzept in der bisherigen Form wohl nie wieder funktionieren wird. Der Staat gibt dennoch Geld, weil er Zeit gewinnen will, um das Institut "geordnet" abzuwickeln. Jeder, der Eigenkapitalhilfen erhält, muss zudem hohe Zinsen zahlen.

Das Vermögen der Unternehmer

Um zu verhindern, dass die Profiteure einer staatlichen Rettungsaktion am Ende die Altaktionäre sind, kann der Bund auch selbst als Anteilseigner einsteigen. Dazu werden neue Aktien ausgegeben, die der Finanzminister kauft. Für die Altaktionäre bedeutet das, dass ihre Beteiligung schrumpft. Denkbar ist auch, dass der Staat seine Miteigentümer drängt, ihre Aktien zum aktuellen Marktpreis zu verkaufen. Für manchen Aktionär der Hypo Real Estate käme das einem Kapitalverlust von 90 Prozent gleich. Im Extremfall behält sich der Bund sogar Enteignungen vor. Von Milliardärinnen wie Schaeffler würde er zudem einen Sanierungsbeitrag aus dem Privatvermögen verlangen. Dazu zwingen könnte er sie wohl nicht, doch wahrscheinlich würde eine Entscheidung davon abhängig gemacht werden. Denn auch die Bankvorstände müssen Auflagen erfüllen. Gibt der Fonds Eigenkapital, werden die Jahresgehälter der Manager auf 500 000 Euro begrenzt.

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität Rezession in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spritfresser bleiben stehen

Autofahrer reagieren sensibel auf Kraftstoffpreise

Von Hans-Willy Bein

Düsseldorf - Die deutschen Autofahrer reagieren sehr sensibel auf die Preissprünge beim Sprit. Die Rekordpreise für Normal- und Superkraftstoff veranlassten viele Verbraucher im vergangenen Jahr, häufiger ihr Fahrzeug stehen zu lassen. Nach der Verbilligung der letzten Monate wird wieder kräftiger Gas gegeben. Diese Beobachtung von Konsumforschern und Verkehrsverbänden wird von der größten deutschen Tankstellenkette Aral bestätigt.

Die deutschen Tankstellen setzten 2008 mit 19,9 Millionen Tonnen Ottokraftstoff 2,7 Prozent weniger Benzin und Super ab. Grund hierfür seien die höheren Preise und der Trend zu Fahrzeugen mit niedrigerem Verbrauch, sagte Aral-Chef Stefan Brok. Der Diesel-Absatz nahm dagegen noch um drei Prozent auf 15,4 Millionen Tonnen zu, weil die positive Konjunktur in den ersten neun Monaten 2008 zu mehr Frachttransporten geführt habe. Weil Diesel über längere Zeit aber fast so viel kostete wie Ottokraftstoff, entschieden sich wieder mehr Verbraucher beim Neuwagenkauf für einen Benziner. Der Diesel-Anteil bei den Neuzulassungen sank von gut 48 Prozent auf 44,5 Prozent. Für dieses Jahr rechnen die Tankstellen generell mit geringerem Absatz. Auswirken dürfte sich auch die Abwrackprämie, wenn Autofahrer von alten Fahrzeugen auf Autos mit effizienteren Motoren umsteigen.

Das extreme Auf und Ab an den Tankstellen zeigt sich auch an der Zahl der Preisveränderungen. 155 Tagen mit teilweise kräftigen Preiserhöhungen standen im vergangenen Jahr 148 Tage mit Senkungen gegenüber. Diese Schwankungen setzten sich in diesem Jahr fort. 2009 gab es bisher elf Tage mit Preissenkungen. Auf der anderen Seite läuft gegenwärtig die zwölfte Runde mit Verteuerungen. Schon seit einiger Zeit ist Normalbenzin mit seiner geringeren Klopffestigkeit an den Zapfsäulen kaum noch billiger als Super. Während Shell Benzin deswegen vom Markt nehmen will, bietet Konkurrent Aral den Kraftstoff vorerst weiter an. "Solange der Kunde Benzin haben will, bekommt er das auch", sagte Brok. Bei Aral hat Benzin noch einen Anteil von acht bis zehn Prozent am Absatz von Ottokraftstoff.

Das seit Jahren zu beobachtende Tankstellensterben setzte sich mit geringerer Geschwindigkeit fort. Mitte 2008 gab es in Deutschland noch 14 883 Stationen, 21 weniger als zu Jahresbeginn. Vor zehn Jahren konnte noch an fast 16 600 Stationen in Deutschland getankt werden. Der Tankstellenpächter arbeitet nach Branchenangaben im Schnitt mit einer Marge von ein Cent pro Liter Sprit. Für die durchschnittliche Station stünde unter dem Strich ein Jahresgewinn von 50 000 Euro. Finanziert werden müssen davon aber noch die Investitionen.

Negativ wirkte sich aus, dass die Autofahrer häufiger einen Bogen um die Tankstellen-Shops machen, die mit einem Anteil von 60 Prozent wichtigste Einnahmequelle der Pächter sind. Aral musste in den Shops Umsatzeinbußen von fünf Prozent auf 1,55 Milliarden Euro hinnehmen.

Gemessen am Kraftstoffabsatz hat Aral mit seinen insgesamt 2429 Tankstellen nach eigenen Angaben einen Marktanteil von 23 Prozent. Nach Schätzungen folgen Shell - ohne die Billigstationen Rheinland - mit 22 Prozent, Jet mit 10 Prozent sowie Esso und Total mit je 8,5 Prozent. Aral wird dieses Jahr 74 Stationen mittelständischer Händler von Shell auf die eigene Marke umstellen.

Sobald Benzin billiger wird, geben Autofahrer wieder mehr Gas. Foto: ddp

Tankstellen in Deutschland Benzinpreise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Massenstreiks in Frankreich

Paris - Der als schwarzer Donnerstag angekündigte Streiktag in Frankreich wurde nach Ansicht der Gewerkschaften zu einem schwarzen Tag für Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Die Gewerkschaften sprachen von bis zu 70 Prozent Beteiligung in einzelnen Branchen, während die öffentlichen Arbeitgeber weit geringere Zahlen präsentierten. Vor allem in Paris fiel das befürchtete Chaos in der Métro aus, allenfalls 20 Prozent der U-Bahn-Fahrer beteiligten sich an dem Streik. Schwieriger war es für die Bewohner der Vororte; einige S-Bahn-Linien standen still. Auch beim Zugverkehr kam es - abgesehen vom Eurostar zwischen Paris und London, sowie beim Thalys von Paris Richtung Westen - zu erheblichen Einschränkungen. Der Schaden des landesweiten Streiks wurde am Donnerstag von Beobachtern auf etwa eine halbe Milliarde Euro veranschlagt. Gleichwohl sympathisiert die Mehrheit der Franzosen mit den Streikenden. kr.

Streiks in Frankreich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Embraer mag es etwas größer

Der brasilianische Hersteller will nicht mehr nur kleine Flugzeuge bauen - und könnte so ein ernster Herausforderer für Airbus werden

Von Jens Flottau

São José dos Campos - Der brasilianische Flugzeughersteller Embraer erwägt, seine Produktpalette nach oben zu erweitern und größere Flugzeuge als bisher zu bauen. Das Unternehmen prüft derzeit mehrere Szenarien und will sich voraussichtlich in etwa zwei Jahren auf einen Weg festlegen, wie Embraer-Chef Frederico Curado im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte. Wegen der Weltwirtschaftskrise reduziert Embraer die Produktion aber deutlich.

Der drittgrößte Flugzeugproduzent der Welt baut Maschinen mit bis zu 120 Sitzen, die damit kleiner sind als die kleinsten Modelle von Airbus und Boeing. Mit einer weiteren Modellreihe darüber, würde sich Embraer erstmals direkt in Konkurrenz zu den beiden Herstellern begeben, die sich bislang den Weltmarkt bei großen Passagierflugzeugen teilen.

Kapazitäten steigen

"Die Kapazität neuer Flugzeuge wird im Durchschnitt wachsen", so Curado. Maschinen, die weniger als 70 oder 80 Sitze hätten, würden langsam vom Markt verschwinden, weil die Stückkosten den Airlines einen profitablen Einsatz nicht mehr erlauben würden, prognostiziert der Embraer-Chef. Deswegen sei es auch "sehr unwahrscheinlich", dass Embraer in diesem Segment investieren werde. Andererseits wolle er auch noch warten, bis wichtige Technologien serienreif sind. "Wir wollen keine halben Schritte machen", sagt Curado. Ein neues Flugzeug müsse mindestens 15 bis 20 Prozent geringere Kosten erreichen als die bislang existierenden Modelle. Entscheidend dafür, dass dies gelinge, seien neue Triebwerke.

Airbus und Boeing haben ebenfalls erste Studien für die Nachfolger ihrer Verkaufsschlager A320 und 737 gestartet. Die beiden Konzerne streben derzeit an, um das Jahr 2020 ein neues Flugzeug auf den Markt zu bringen. Embraer wäre mit dem Konkurrenzmodell drei bis vier Jahre früher bereit, wenn der aktuelle Zeitplan eingehalten wird. Allerdings gibt es Überlegungen, dass die neuen Airbus- und Boeing-Jets deutlich größer werden könnten als ihre derzeit eingesetzten Vorgänger. Dadurch würde sich eine Marktlücke ergeben, die Embraer und der kanadische Hersteller Bombardier (mit seiner C-Serie) füllen könnten. "Wir behalten natürlich im Auge, was Airbus und Boeing tun", sagt Curado. "Aber wir können heute nicht voraussagen, wie sie sich entscheiden werden."

Die strategischen Überlegungen sowohl Embraers als auch Bombardiers machen deutlich, dass die beiden bisherigen Marktführer in einem wichtigen Teil ihres Geschäftes neue Konkurrenz bekommen. Darüber hinaus entwickeln russische, chinesische und japanische Hersteller neue Regionalflugzeuge, die ihrerseits den traditionellen Anbietern in diesem Segment - Embraer und Bombardier - Konkurrenz machen werden.

Zunächst aber will Embraer mit einer äußerst vorsichtigen Strategie den aktuellen Abschwung überwinden. Das Unternehmen reduziert die Produktion seiner Regionalflugzeuge von 160 im Jahr 2008 auf nur noch 125 im laufenden Jahr, obwohl bislang noch keine Abbestellungen eingegangen sind und bislang nur wenige Kunden Termine verschieben wollen. "Fehlende Finanzierungsmöglichkeiten sind eine Tatsache", so Curado. Der brasilianische Staat unterstützt die Kunden fallweise mit Bürgschaften, hat aber anders als Frankreich und Deutschland keine über die bisherige Exportförderung hinausgehenden Pläne.

Embraer-Fabrik in Brasilien: Der Flugzeughersteller baut bislang Maschinen mit bis zu 120 Sitzen. Doch größere Modelle sind geplant. Foto: Bloomberg

Embraer: Produkt Embraer: Strategie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Angst vor der reinen Lehre

Viele Politiker würden die Firmen gern sich selbst überlassen,doch sie fürchten die Konsequenzen

Von Nico Fried

Am vergangenen Sonntag äußerte der niedersächsische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Vorsitzende Christian Wulff eine sehr klare Meinung: "Die CDU muss viel deutlicher vertreten, dass wir eher für einen Rückzug des Staates eintreten, als dass jetzt mitgemacht wird", sagte Wulff im ZDF. Fast zur selben Zeit wurde bekannt, dass die Firma Schaeffler bei der Übernahme des Hannoveraner Reifenherstellers Conti in Nöte geraten ist. Seither verhandeln mehrere Bundesländer, wie man den beiden Unternehmen helfen kann, darunter auch Niedersachsen mit seinem Ministerpräsidenten Wulff. Das Beispiel zeigt, wie schnell die reine Lehre und die Realität des Lebens in Zeiten der Wirtschaftskrise in Konflikt geraten können. Bei den Banken hat der Staat aus Angst um den gesamten ökonomischen Kreislauf geholfen. Bei privaten Wirtschaftsunternehmen gehen die Meinungen auseinander - und zwar quer durch die Parteien.

So bekam es die CDU schon auf ihrer Klausurtagung Anfang des Jahres mit einem Vorstoß des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers zu tun, der Staat solle im Zweifel zum Erhalt von Arbeitsplätzen direkt bei Firmen einsteigen. Damit konnte sich Rüttgers zwar nicht durchsetzen, gleichwohl wollte die CDU einen solchen Einstieg aber auch nicht für alle Zeiten ausschließen. Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel legte sich später ebenfalls nicht öffentlich fest und verwies auf Einzelbeispiele aus den Ländern, wo es derartige Rettungsaktionen bereits gegeben habe. Ansonsten aber wird von ihr überliefert, dass sie derartige Interventionen des Staates im Prinzip sehr befremdlich finde.

Deutlich rigorosere Ablehnung kam nun von einer Seite, wo man es weniger erwartet hätte: aus der SPD. Finanzminister und Parteivize Peer Steinbrück sagte am Donnerstag der Berliner Zeitung zum Fall Schaeffler, es sei "nicht Aufgabe des Staates, in solchen Fällen einzugreifen, in denen unternehmerische Entscheidungen möglicherweise nicht durchdacht genug waren". Vom Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier wird man eine solche Festlegung wohl nicht hören: Steinmeier hat unter dem Ministerpräsidenten Gerhard Schröder viele Jahre in Niedersachsen gearbeitet, schon damals manche Krise mit Conti durchlebt; er dürfte nun auch Rücksicht auf die Sorgen der Belegschaft dort nehmen. Dieser Gegensatz zwischen einer Überforderung des Staates im Allgemeinen und den konkreten Nöten von Betroffenen kann sich gerade in der SPD zu einem schweren Konflikt ausweiten.

Im Wirtschaftsministerium von Michael Glos (CSU) kursiert nun die Idee, einen Wirtschaftsfonds aufzulegen, der - ähnlich wie der Rettungsfonds bei Banken - bei Unternehmen in Not einspringt. Allerdings ist das Konzept noch nicht sehr weit gediehen, zum Beispiel in der Frage, nach welchen Kriterien den Unternehmen geholfen werden solle. Und woher eigentlich das Geld kommen soll.

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Teure Trennung

Fraport gibt Beteiligung am Airport Hahn für symbolischen Preis ab

Von Harald Schwarz

Frankfurt - Eigentlich hätte die Angelegenheit am Mittwoch dieser Woche publik gemacht werden sollen. Doch das klappte nicht, weil Politiker ein Wörtchen mitzureden haben. Nun wollen der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport und die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Hessen nach Informationen der Süddeutschen Zeitung am nächsten Mittwoch bekanntgeben, wie es mit dem Hunsrück-Flughafen Hahn weitergehen soll. "Das ist so gut wie spruchreif und somit nur noch eine Sache von Tagen", sagte eine mit den Vorgängen vertraute Person, was in Kreisen der Landesregierung in Mainz bestätigt wurde.

Diesen Angaben zufolge ist sich Fraport mit dem Wirtschafts- und Verkehrsminister von Rheinland-Pfalz, Hendrik Hering, bereits einig: Dessen Land, das ebenso wie Hessen mit 17,5 Prozent "am Hahn" beteiligt ist, übernimmt die 65 Prozent aus dem Besitz des Frankfurter Flughafenbetreibers. Hessen strebt eine Kompensation für jene Zahlungen respektive Subventionen in rheinland-pfälzische Infrastruktur rund um den Hunsrück-Airport an und reicht dann seine 17,5 Prozent an Rheinland-Pfalz weiter. Der "Hahn", ein ehemals wichtiger Luftwaffen-Stützpunkt der US-Streitkräfte in Europa, wäre wieder komplett in Landeseigentum. Offiziell äußern will sich dazu noch keine der an den Transaktionen beteiligten drei Adressen.

Seit Jahren produziert der Flughafen Hahn nur Verluste. Um diese kurzfristig zu verringern und auf mittlere Sicht Gewinne anpeilen zu können, wollte Fraport dort eine Terminalgebühr, den sogenannten Hahn-Taler, von drei Euro je Passagier einführen. Dagegen lief der Billigflieger Ryanair Sturm. Er ist Hauptkunde auf dem Hunsrück-Flughafen. Er hatte Erfolg: Minister Hering verhinderte den Hahn-Taler. Seither ist klar: Fraport will seine Beteiligung loswerden. Auf einen hohen Kaufpreis für das rote Zahlen schreibende Unternehmen können die Frankfurter nicht spekulieren. Der Preis werde "nur von symbolischer Natur" sein, heißt es. Das bedeutet: Statt des Hahn-Talers wird es für Fraport einen Hahn-Euro geben.

Zudem wird bei dem Flughafen-Konzern eine Abschreibung auf das Engagement im Hunsrück in Höhe von etwa 35 Millionen Euro fällig. Dem Vernehmen nach hofft Fraport, die 2008 "am Hahn" entstandenen Verluste in Höhe von 20 Millionen Euro auf den neuen Airport-Eigentümer abwälzen zu können. "Diese Chance gibt es. Das würde die Fraport-Bilanz für 2008 entlasten", so die mit den Vorgängen vertraute Person. Rheinland-Pfalz müsste diesem Konzept zufolge auch die Hahn-Schulden von 120 Millionen Euro übernehmen.

Für den Frankfurter Flughafenbetreiber endet somit in Kürze der Ausflug in die 120 Kilometer entfernte Provinz im Hunsrück. In den Aufbau des dortigen Flughafens steckte Fraport in den zurückliegenden Jahren 130 Millionen Euro. Der Charme des Projekts war unter anderem, dass es "am Hahn" kein Nachtflugverbot gibt, wovon vor allem der Cargo-Verkehr profitiert.

Das politische Veto gegen den Hahn-Taler machte ein Festhalten an dem Engagement für Fraport aber uninteressant. Der Frankfurter Konzern hofft nach den Worten von Vize-Chef Stefan Schulte, weiterhin "in der einen oder anderen Form" mit Hahn kooperieren zu können. Schulte hält nun Ausschau nach neuen Airport-Beteiligungen.

Das Land Rheinland-Pfalz will den Flughafen übernehmen. Foto: dpa

Flughafen Frankfurt-Hahn: Verlust Flughafen Frankfurt-Hahn: Verkauf Fraport AG: Unternehmensbeteiligungen Fraport AG: Verkauf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Angebote an den Gegner

Obama will in der Krise auch Stimmen der Republikaner

Von Nikolaus Piper

New York - Präsident Barack Obama hat mit seinem Programm gegen die Wirtschaftskrise eine erste Niederlage einstecken müssen. Zwar hat die große Mehrheit der demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus dem 819-Milliarden-Dollar-Konjunkturprogramm des Präsidenten zugestimmt - und dem Programm damit über die erste Hürde geholfen. Aber die 177 Republikaner stimmten mit Nein; elf Demokraten schlossen sich ihnen an. Für den neuen US-Präsidenten ist dies Sieg und Niederlage zugleich. Er wird nun den Republikanern entgegenkommen müssen. Diese kritisieren, dass das Konjunkturpaket - sein Volumen übersteigt die direkten Kosten des Irak-Kriegs - zu viel zusätzliche Staatsausgaben und zu wenig Steuersenkungen enthalte.

Am Montag soll eine leicht veränderte Fassung des Pakets im Senat beraten werden. Von der Debatte in der zweiten Kammer des Kongresses hängt der weitere Fortgang des Verfahrens ab. Wenn es Obama im Senat nicht gelingt, einige Republikaner auf seine Seite zu ziehen, könnte die Opposition dort das Paket durch "Filibustern", also durch Endlosdebatten blockieren. Angesichts der dramatischen Lage der amerikanischen Wirtschaft gilt es zwar als unwahrscheinlich, dass sie dies tatsächlich tun werden. Aber es wäre ein Rückschlag für die Reformbemühungen des neuen Präsidenten, könnte er nicht bei seinem ersten wichtigen Gesetz ein Stück von jener Überparteilichkeit verwirklichen, die er im Wahlkampf versprochen hatte.

"Die Strategie dieses Gesetzes ist es, Milliarden Dollar in alle bürokratischen Richtungen zu werfen und dann die Daumen zu drücken, dass alles gutgeht," sagte der republikanische Abgeordnete Ken Calvert aus Kalifornien. Um eine größere Mehrheit im Senat zu bekommen, dürften die Demokraten den Republikanern nun vermutlich anbieten, den Anteil der Steuersenkungen im Paket erhöhen. Nach US-Medienberichten könnte die so genannte Alternative Minimum Tax substantiell gesenkt werden; das ist eine Art Mindeststeuer, die eigentlich verhindern soll, dass sich Reiche durch Buchführungstricks ganz der Steuerpflicht entziehen, die aber inzwischen auch mehr und mehr mittlere Einkommen und kleine Geschäftsleute betrifft. Dieser Schritt würde jedoch die Kosten des Pakets auf mehr als 900 Milliarden Dollar erhöhen. In einem symbolischen Punkt sind die Demokraten den Republikanern schon entgegengekommen: Sie nahmen ein Programm zur Förderung der Geburtenkontrolle aus dem Paket.

Der größte Teil des Konjunkturprogramms, zusammen 526 Milliarden Dollar, soll dieses und nächstes Jahr wirksam werden. Es enthält eine Fülle von Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und Energieversorgung, auch sozialpolitische Maßnahmen. So wird der Zugang für Arbeitnehmer zur staatlichen Krankenversicherung Medicaid erleichtert.

Republican Party Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schäuble mahnt Karlsruhe

Karlsruhe - Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat das Bundesverfassungsgericht an den Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung erinnert. Dieser müsse in der rechtspolitischen Debatte gestärkt werden, sagte er nach einem vorab verbreiteten Redemanuskript an der Universität Karlsruhe. Es gehe darum, "den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten". Alle Beteiligten sollten sich der daraus folgenden gegenseitigen Respekt bewusst bleiben. ker.

Schäuble, Wolfgang: Zitate Bundesverfassungsgericht (BVerfG) SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zug nach Polen

Deutsche Bahn kauft bedeutenden Gütertransporteur auf der Schiene

Von Michael Bauchmüller

Berlin - Ungeachtet der Wirtschaftskrise setzt die Deutsche Bahn ihren Expansionskurs fort. Am Donnerstag unterzeichneten Bahnchef Hartmut Mehdorn und Logistikvorstand Norbert Bensel in Warschau die Verträge zur Übernahme von PCC Logistics, der größten privaten Eisenbahn in Polen. Über den Kaufpreis wahrten beide Seiten Stillschweigen. PCC Logistics setzte im vorigen Jahr 350 Millionen Euro um. Das Unternehmen beschäftigt 5800 Mitarbeiter. Die Bahn übernimmt PCC Logistics komplett.

Nach Plänen der Bahn soll die neue Tochter zum Ausgangspunkt der weiteren Expansion Richtung Osten werden. "Wir wollen die PCC Logistics in unserem europäischen Netzwerk zum zentralen Standbein für Osteuropa weiterentwickeln", sagte Bensel. Schon jetzt betreibe das Unternehmen "leistungsfähige Verbindungen" in alle polnischen Wirtschaftszentren. Auch Mehdorn äußerte sich optimistisch. "Mit diesem Kauf baut die Deutsche Bahn Leistungen und Service für ihre Kunden in einem wachsenden Europa weiter aus", sagte er. "Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten setzen wir damit ein Zeichen für unsere Zukunftsfähigkeit." In Deutschland kämpft die Bahn derzeit mit sinkenden Aufträgen für den Güterverkehr auf der Schiene. Im Gespräch ist mittlerweile auch Kurzarbeit. Dagegen gelten die Geschäfte in Polen als einigermaßen stabil.

PCC Logistics hat in Polen einen Marktanteil von knapp acht Prozent - allerdings dominiert die Staatsbahn PKP immer noch drei Viertel des Marktes. Mit einem Transportvolumen auf der Schiene von 54 Milliarden Tonnenkilometern (zum Vergleich: in Deutschland sind es 120 Milliarden Tonnenkilometer, in Frankreich 41) hat der Schienengüterverkehr einen wichtigen Anteil am gesamten Transportgeschäft, er liegt bei rund einem Drittel. Das Unternehmen gehörte bislang dem deutsch-polnischen Unternehmer Waldemar Preussner, der Hauptsitz ist Duisburg. Er hatte 1993 die "Petro Carbo Chem", kurz PCC gegründet; zunächst als Handelsgesellschaft für chemische Grundstoffe. Seine Eisenbahn diente ursprünglich vor allem dem Transport petrochemischer Produkte. Der Schwerpunkt liegt in Schlesien. Inzwischen verfügt das Unternehmen über 400 Lokomotiven und 7700 Waggons. Der Zustand der Fahrzeuge ist nach Angaben aus Branchenkreisen gut.

Für die Bahn setzt sich damit eine ganze Serie von Zukäufen im Güterverkehr fort. Erst im vergangenen September hatte sich Railion bei der italienischen Nord-Cargo eingekauft und damit den Nord-Süd-Transit ausgebaut. In Spanien hat sich die Logistiksparte die Güterbahn Transfesa einverleibt, in Großbritannien EWS. In Ungarn und Rumänien ist die Deutsche Bahn unter der Marke "DB Schenker Rail" ebenfalls aktiv. Auch die neue Tochter dürfte diesen Namen wohl bald annehmen.

Das Engagement in Polen stärkt indirekt auch die deutschen Seehäfen. Denn mit der neuen Tochterfirma kann die Bahn leichter Güter und Container von den Häfen Richtung Osten transportieren. Eine deutsche Railion-Lok fährt die Züge bis zur deutsch-polnischen Grenze, eine Lok der neuen Tochterfirma nimmt sie dort in Empfang und fährt dann weiter. Nach Auffassung Mehdorns jedenfalls stärkt die Akquisition auch die deutsche Güterbahn-Sparte. "Wir werden gemeinsam mehr Verkehr auf die Schiene holen", sagte Mehdorn. Dies sichere Jobs sowohl in Deutschland als auch in Polen.

Deutsche Bahn AG: Kauf Verkehrswesen in Polen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rechnungen mit Unbekannten

Wie in der Finanzkrise aus einer oft gelobten Unternehmerin eine Bittstellerin wurde

Von Uwe Ritzer und Martin Hesse

Günther Beckstein war einst der erste Spitzenpolitiker, der Maria-Elisabeth Schaeffler zur Seite sprang. "Ich halte das Engagement von Schaeffler bei Continental für wohlüberlegt und ambitioniert", sagte der damalige bayerische Ministerpräsident. "Zwei fortschrittliche Unternehmen" würden sich hier zusammentun und die Stärke von Schaeffler sei es, sich "nicht wie viele börsennotierte Unternehmen allzu stark an der kurzfristigen Kursentwicklung orientieren zu müssen." Das war im Juli vergangenen Jahres.

Wenn Maria-Elisabeth Schaeffler jetzt mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos über Staatsbeihilfen verhandelt, ist sie zur Bittstellerin geworden. Und ob es der Milliardärin am Ende hilft, dass sie den CSU-Politiker gut kennt, dass man hört, sie duze ihn? Es ist zumindest wohl nicht bedeutungslos für ihr Anliegen, dass die Stadt Schweinfurt im Wahlkreis des Ministers liegt und Schaeffler dort im Jahr 2001 den Kugellagerhersteller FAG gekauft hat.

Im Verborgenen

Die Franken kämpfen nun gegen die Schulden, die sie sich aufgeladen haben mit der Übernahme der Hannoveraner Continental AG. Es ist eine Geschichte, die im Verborgenen begann, und die jetzt, da die Rechnungen nicht aufgehen, eine allzu öffentliche geworden ist.

Alles begann am 28. Februar 2008. Als Privatperson kaufte Maria-Elisabeth Schaeffler 2500 Conti-Aktien zu 67,20 Euro das Stück. Macht 168 000 Euro - überschaubar für eine Frau, deren Privatvermögen auf mehr als sechs Milliarden Euro taxiert wird. Dann kauft Schaeffler immer neue Aktienpakete. Vor allem aber schließt sie Geschäfte mit Investmentbanken ab. Vereinfacht gesagt kaufen die Banken Conti-Aktien und räumen Schaeffler Anwartschaften auf diese ein. Erst nach Monaten, am 12. Juli 2008, wird alles bekannt. Kurz darauf bestätigt Schaeffler, über mehr als 20 Prozent der Anteile an Conti zu verfügen.

Jedoch wolle man sich mit 30 Prozent begnügen, was für die Kontrolle über die Hauptversammlung reichen würde. Die Conti-Spitze schäumt. Der überrumpelte Vorstandschef Wennemer wettert, Schaeffler habe sich "auf rechtswidrige Weise angeschlichen, um die Kontrolle über Continental zu erlangen". Er schaltet die Börsenaufsicht ein. Doch das Vorgehen der Franken mag trickreich gewesen sein, rechtlich war es in Ordnung. Am 30. Juli veröffentlicht Schaeffler ein offizielles Übernahmeangebot. Man bietet 70,12 Euro pro Aktie. Zu wenig, heißt es seitens Conti. Am 21. August kommt es zur Einigung. Derzufolge zahlt Schaeffler 75 Euro. Ein Preis, der nach damaligem Stand hoch aber vertretbar erscheint. Zugleich verpflichten sich die Franken, sich vier Jahre mit 49,99 Prozent der Conti-Anteile zu begnügen.

Dann trifft die Finanzkrise mit voller Wucht die Automobilwirtschaft. Wohl auch deshalb werden Schaeffler nun von den Aktionären 90 Prozent der Conti-Anteile angeboten, weit mehr als erhofft. Und entsprechend seinem Übernahmeangebot muss das Familienunternehmen diese auch zum Garantiepreis von 75 Euro übernehmen. Nun werden die sechs Banken nervös, die Schaeffler das Geschäft mit einem 16-Milliarden-Euro-Kredit finanzieren. Als Sicherheiten sollten eigentlich die Conti-Aktien dienen, doch deren Wert ist auf einen Bruchteil der 75 Euro gefallen. Schaeffler pocht auf die Kreditzusagen und betont das eigene "langfristige strategische Interesse" bei Conti. Nach dem Motto: Auf Dauer wird alles gut. Kurz vor Weihnachten 2008 genehmigt die EU-Kommission die Übernahme kartellrechtlich. Am 8. Januar 2009 zahlt Schaeffler vereinbarungsgemäß die Conti-Aktionäre aus. Seither hält man 49,99 Prozent der Anteile; weitere 40 Prozent werden bei Banken geparkt für etwaige Co-Investoren. Doch die bleiben aus. Und die Krise verschärft sich.

Schließlich bleibt Maria-Elisabeth Schaeffler nur noch, den Staat um Hilfe zu bitten. In Bankenkreisen heißt es, dass nur frisches Kapital in Höhe von mindestens drei Milliarden Euro Schaeffler und Conti helfen könne. Staatsgarantien würden nur kurzfristig helfen. "Außerdem werden die Schulden wegen des Abschwungs weiter steigen", sagte ein mit der Situation vertrauter Banker. Es gebe nur drei Möglichkeiten: Entweder Schaeffler finde einen ausländischen Staatsfonds, der sich beteiligt, oder gewinne den Staat als Kapitalgeber. Gelinge das beides nicht, müssten die Banken Teile von Schaeffler übernehmen. Dazu sind die Banken aber nach SZ-Informationen nur als Ultima Ratio bereit.

Unternehmer schaffen Arbeit, und sie haben in guten Zeiten Gewinne gemacht. Wenn es darum geht, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, argumentieren sie wie Maria-Elisabeth Schaeffler (oben) mit Arbeitsplätzen. Doch der Staat interessiert sich auch für die Gewinne aus der Vergangenheit und das Geschäftsmodell des Unternehmens, wenn er in der Krise helfen soll. dpa/Bloomberg

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Firmenübernahme Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität Continental AG: Aktie Continental AG: Verkauf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schaeffler und der Staat

Eine fränkische Firma kauft einen Dax-Konzern, das Geschäft wurde von manchen Politikern und Managern sogar gefeiert. Heute gehört Continental zum Familienunternehmen Schaeffler; aber nun wird klar, dass die Franken sich Conti nicht leisten konnten. Die Schulden sind immens. Jetzt soll die Politik helfen, weil es um Arbeitsplätze geht. Doch muss der Staat dafür einstehen, wenn Unternehmer sich verheben?

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Täter im Schatten

Nach der Selbsttötung eines Offiziers dringen in der Türkei immer mehr Details über eine Geheim-Truppe ans Licht, die Morde an Kurden beging

Von Kai Strittmatter

Istanbul - Oberst Abdülkerim Kirca war querschnittsgelähmt. Die Kugel in den Rücken, heißt es, habe er sich 1999 im Kampf gegen kurdische Aufständische von der PKK eingefangen. Im Jahr 2004 zeichnete ihn Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer mit dem Ehrenorden des türkischen Staates aus. Am Montag letzter Woche frühstückte Kirca noch gemeinsam mit seiner Frau und Tochter. Dann bat er seine Frau, ihn zu baden. Er nahm die - gläubigen Muslimen vorgeschriebenen - rituellen Waschungen vor. Seine Frau brachte ihn ins Schlafzimmer. Er bat sie, ihn allein zu lassen. Dann schoss er sich eine Kugel in den Kopf. Oberst Kirca ist tot. Die Debatte über sein Leben und Tun aber ist entbrannt. Seit dem Selbstmord des Gendarmerieoffiziers kommt die Türkei aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Kirca hat dafür gesorgt, dass eine der geheimnisvollsten Organisationen der Türkei ans Licht gezerrt wird - eine Schattentruppe, deren Existenz bis heute von Staat und Armee offiziell geleugnet wird und um deren Verbrechen doch viele wissen. Fünf Buchstaben stehen für diese Truppe, die lange Jahre Angst und Schrecken verbreiteten - vor allem unter den Kurden der Türkei im Südosten des Landes: Kirca nämlich arbeitete für Jitem, "Nachrichtendienst und Terrorabwehr der Gendarmerie". Nach allem, was man bislang weiß, waren dies die Todesschwadronen des Staates, eingesetzt vor allem während des Bürgerkrieges zwischen Armee und PKK Ende der 1980er bis zum Beginn des neuen Jahrtausends - und verantwortlich für einen Großteil der vielen tausend ungeklärten Morde. Jitem verschleppte und ermordete vor allem Zivilisten, die angeblich Sympathisanten der PKK waren. Die PKK ihrerseits ging oft ähnlich brutal vor und ließ staatstreue Kurden abschlachten.

Jitem erledigte den Job, den Polizei und Armee nicht erledigen konnten oder wollten. Und der sah so aus: "Eine Person ohne Haftbefehl schnappen, sie zum Hauptquartier bringen, sie verhören, foltern, dann hinrichten und schließlich verbrennen oder vergraben." So zumindest beschreibt ein Mann seinen Job, der von sich selber sagt, er sei von 1991 an ein Jahrzehnt lang Agent von Jitem gewesen: Abdülkadir Aygan. Er ist selbst Kurde und Ex-PKK-Kämpfer, und Jitem rekrutierte ihn offenbar, nachdem er gefasst wurde und seinen Militärdienst leisten musste.

Oberst Kirca ist wohl auch deshalb tot, weil Abdülkadir Aygan nun spricht. Zum Beispiel erzählt Aygan von drei jungen kurdischen Gewerkschaftern, die von einem Gericht freigesprochen worden waren. Kirca persönlich habe sie vor seinen Augen durch Genickschuss getötet, auf einer Autobahn, sagt Aygan. Er erzählt auch von jenem Jungen, den man mit Kopfschuss auf offenem Feld habe liegen lassen und der sich wie durch ein Wunder ins nächste Krankenhaus schleppte. Oberst Kirca habe daraufhin die zweite Exekution des jungen Mannes befohlen, diesmal war sie erfolgreich. Oder von jenem Pärchen, das händchenhaltend durch die Straßen von Diyarbakir ging, als Jitem sie aufgriff. "Abdülkerim Kirca hat das Mädchen selbst gefoltert", behauptet Aygan. Beide seien ermordet worden. "Eine Jitem-Operation endete immer mit dem Tod", sagt Aygan, "ganz egal, ob einer redete oder nicht."

Aygan lebt heute in Schweden. 2004 hat er ein Buch veröffentlicht über sein Leben bei Jitem ("Der Überläufer"). "Damals hat die türkische Presse seine schockierenden Geständnisse komplett ignoriert", erinnert sich die Autorin und Kolumnistin Perihan Magden. "Die Zeiten haben sich geändert." Tatsächlich stoßen Aygans Enthüllungen heute auf neues Interesse - denn einige Staatsanwälte begreifen zum ersten Mal die Aufarbeitung der düsteren Vergangenheit als nationale Aufgabe. Die mutige liberale Zeitung Taraf hat einem Interview mit Aygan diese Woche drei ganze Seiten gewidmet. Teile der Presse versuchen nun, Aygans Glaubwürdigkeit zu diskreditieren, weil er "ein PKK-Mann" sei. Ümit Kardas, selbst ehemaliger Militärrichter in Diyarbakir und heute Anwalt in Istanbul, glaubt Aygan indes: "Was er erzählt, deckt sich mit dem, was man im Südosten erlebt hat", sagt Kardas: "Seine Enthüllungen sind wichtig und ernstzunehmen." Gibt es Jitem heute noch? "Natürlich", sagt Kardas.

Zentren des Bösen

Aygan ist nicht der erste, der über Jitem auspackt. In Diyarbakir lief seit kurzem ein Prozess gegen Oberst Kirca. 1996 gab es sogar einen Bericht des Premierministeriums, in dem Jitem im Allgemeinen und dem Oberst im Besonderen vorgeworfen wurde, "Planer und Ausführer" vieler ungeklärter Verbrechen im Umfeld der Armee zu sein. Die Gendarmerie untersteht der Armee. Der Bericht hatte nie Folgen - was vor allem an der Macht der Armee in der Türkei lag.

Und so war auch das Bild, das sich der türkischen Öffentlichkeit letzte Woche beim Begräbnis von Oberst Kirca bot, als Signal gedacht: Der komplette Generalstab erwies dem Toten die letzte Ehre. Die Offizier stellten sich hinter die Familie Kircas, die eine schriftliche Erklärung verteilte, in der es hieß: "Dies ist ein Beispiel dafür, wie Menschen, die ihrer Nation loyal gedient haben, sich das Leben nehmen, weil Zentren des Bösen Negatives verbreiten."

Die türkische Armeeführung stand stramm bei der Beerdigung von Oberst Abdulkerim Kirca in Ankara. Ihm wird die Tötung von Kurden vorgeworfen. Foto: AP

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Zu viel Feinstaub

Brüssel - Wegen einer zu hohen Feinstaub-Belastung drohen Deutschland hohe Geldbußen. Die EU-Kommission eröffnete am Donnerstag in Brüssel ein Verfahren gegen die Bundesregierung, weil die seit vier Jahren geltenden Partikel-Grenzwerte nicht eingehalten werden. Unter einer überhöhten Luftverschmutzung litten demnach vor allem Bürger in Großstädten wie München, Köln oder Leipzig. Feinstaub wird von Industrie, Verkehr und Heizanlagen erzeugt und kann Asthma und Lungenkrebs auslösen. EU-Umweltkommissar Stavros Dimas sagte, die Einhaltung der seit Januar 2005 geltenden EU-Grenzwerte müsse "allerhöchste Priorität" haben. AFP

Autoabgase in Deutschland Luftverschmutzung in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aufstand der Rechtlosen

Die Aktionäre wollen auf der Porsche-Hauptversammlung das Management unter Wiedeking kritisieren, abstimmen können sie nicht

Von Michael Kuntz

München - Ungemütlich dürfte dieser Freitag für den Porsche-Vorstand und seinen Chef Wendelin Wiedeking werden. Denn im Vorfeld der Hauptversammlung - die erste nach der Mehrheitsübernahme von Porsche an Volkswagen - haben Aktionäre und Aktionärsvertreter deutliche Kritik angekündigt. So haben sich fünf Investmentfonds verbündet und wollen dem Porsche-Management Kursmanipulation vorwerfen. Thema wird wohl auch das Gehalt von Porsche-Chef Wendelin Wiedeking sein. Mit einem Einkommen von geschätzt fast 80 Millionen Euro ist er Deutschlands am besten bezahlter Manager.

Porsche weist noch immer nur die Gesamtbezüge seines Vorstandes aus, keine Einzelzahlen - anders als im Corporate Governance Codex vorgesehen. Die Aktionärsvertreter wollen thematisieren, wie die in diesem Jahr wegen der Optionsgeschäfte beim Kauf von VW besonders hohe Vergütung von Wiedeking zustande kam. Dabei sollen auch Optionen auf VW-Aktionen berücksichtigt worden sein, obwohl sie am Stichtag für die Festsetzung der Wiedeking-Bezüge noch liefen - also noch nicht abgerechnet waren.

Die Opposition der fünf Großinvestoren wird angeführt von Hans-Christoph Hirt, der als Sprecher des britischen Fonds Hermes zuletzt bei Siemens oder auch schon bei Volkswagen im Mai 2008 Fragen gestellt hatte. Hirt forderte im Vorfeld des Treffens der Porsche-Aktionäre von Wiedeking, seinen Sitz in der Regierungskommission zur Corporate Governance aufzugeben: "Er hat mit seiner Übernahmetaktik bei VW dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland geschadet." Den Handel von Porsche mit VW-Aktien sowie -Optionen kritisiert der Fonds-Manager als undurchschaubar. Insbesondere nimmt er Anstoß an dem Manöver, mit dem Porsche Ende Oktober etliche Hedgefonds und andere Marktteilnehmer ausgetrickst hat.

Damals hatte Porsche eine Erhöhung seines Anteiles an VW von 36 auf 43 Prozent mitgeteilt und hinzugefügt, man verfüge über weitere 32 Prozent in Form sogenannter cashgesettelter Optionen, habe also faktisch Zugriff auf 74 Prozent des VW-Kapitals. Das nötigte Marktteilnehmer, die auf einen fallenden VW-Kurs gewettet hatten, zum Kauf zur Unzeit. Der Kurs der VW-Aktie schoss vorübergehend über 1000 Euro und einige Spekulanten verloren sehr viel Geld.

Hermes-Mann Hirt aus London spricht für die Pensionsfonds von British Telecom BTPS, den Lehrerfonds USS, die Alterskasse der Eisenbahner Railpen sowie den holländischen Fonds ABP und den schwedischen AP2 - sie vertreten ein Anlagevolumen von insgesamt 300 Milliarden Euro. Bei Porsche allerdings besitzen sie nur stimmrechtslose Vorzugsaktien. "Sollen sie sagen, was sie wollen", kommentiert ein Insider. Das Sagen haben andere. Denn sämtliche Stammaktien liegen bei den Familien Porsche und Piëch. Selbst Verstöße gegen den Corporate Government Codex bleiben deshalb folgenlos, wenn Porsche/Piëch das so wollen - er ist lediglich eine freiwillige Richtlinie. Auch Wendelin Wiedeking sieht der Hauptversammlung gelassen entgegen. Er habe eine Menge Geld verdient und sei sehr unabhängig. Dem Magazin Fortune empfahl Wiedeking: "Fragen Sie meine Kollegen: Niemals war ich so entspannt wie heute."

Großverdiener Wendelin Wiedeking, 56, posiert an einem Porsche 911 Cabrio: Der Porsche-Chef gibt sich betont gelassen. Foto: Sven Simon

Wiedeking, Wendelin: Einkommen Porsche AG: Management Porsche AG: Aktie Porsche AG: Veranstaltungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Fahnen, Furcht und Fatalismus

Nach dem Krieg ist vor der Wahl: Die Gaza-Offensive hat die Sehnsucht der Israelis nach Sicherheit nicht erfüllen können. Viele setzen ihre Hoffnungen nun wieder auf den Rechten Benjamin Netanjahu, andere wenden sich enttäuscht ganz von der Politik ab

Von Thorsten Schmitz

Sderot/Jerusalem - Auf der Fahrt in den Süden Israels, nach Sderot, glaubt man, sich in der Zeit zu irren. An allen Masten entlang der Landstraßen, auf Balkonen, an Gartenzäunen, über Hauseingängen und an Bushaltestellen hängen blau-weiße israelische Fahnen, wie sie sonst nur zum Unabhängigkeitstag im Mai zu sehen sind. Überall, wo eine Flagge hängt, ist Israel, so lautet die Botschaft der Fahnen. Mit ihnen soll ein Gefühl von Heimat gestiftet werden in einer Gegend, die wenig Heimatliches besitzt. Schula Sasson hat gleich zwei in ihrem Vorgarten in Sderot aufgehängt. Sie flattern im warmen Wind, und wenn sie dreckig sind, sagt Sasson, dann kämen die Fahnen in die Waschmaschine.

Mehr als 11000 Raketen und Mörsergranaten haben Palästinenser aus dem Gaza-Streifen in den vergangenen acht Jahren auf Städte und Dörfer im Süden Israels gefeuert. Die meisten sind in der Kleinstadt Sderot mit ihren 20000 Einwohnern eingeschlagen, eine davon im Vorgarten der Sassons, direkt neben den Behältern fürs Kochgas.

Die Sassons, das sind Mutter, Vater und sechs Kinder. Eine Familie, die seit vier Jahren mit Angst einschläft und mit Angst aufwacht. Frau Sasson ist Hausfrau, der Mann Gefängnisaufseher, und die Kinder Schüler, Studenten oder Soldaten. Frau Sasson zeigt die Kassam-Rakete, die vor vier Jahren im Garten eingeschlagen ist. Ihre Kinder haben sie gelb angestrichen, "weil Gelb schöner aussieht als rostiges Braun". Die Sassons schlafen seit dem Raketenangriff zu acht auf Matratzen im Wohnzimmer, "wie die Beduinen", sagt Schula Sasson, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Seitdem eine Rakete nur wenige Meter von ihrem 14-jährigen Sohn eingeschlagen ist, lege er sich jede Nacht zwischen sie und ihren Mann schlafen. Wenn der Alarm in Sderot vor einer herannahenden Rakete warne, fange ihr Sohn an zu weinen und mache sich in die Hosen. "Er trägt jetzt immer lange, weite T-Shirts, damit man ihn in der Schule nicht hänselt", sagt Schula Sasson. "Mit 14 Jahren in die Hosen machen und bei den Eltern schlafen!", klagt sie. "Die Hamas hat unseren Alltag zerstört."

Den Alltag reparieren soll nun "Bibi". Schula Sasson sagt, Israels Armee hätte viel früher in den Gaza-Streifen einmarschieren müssen, und die Soldaten hätten den Krieg gegen die Hamas vor zwei Wochen nicht beenden dürfen: "In einem halben Jahr schießen die wieder auf uns, und dann werden die Raketen auch Tel Aviv erreichen", ist sie überzeugt. Hamas müsse zerschlagen, vernichtet werden, "welcher Mensch will schon mit dieser Raketenangst leben? Jeden Morgen, wenn ich meine Kinder verabschiede, weiß ich nicht, ob sie lebend wieder zurückkehren." Tag und Nacht gucken die Sassons Fernsehen. Der älteste Sohn hat im Wohnzimmer einen zwei Quadratmeter großen Ersatz-Bunker gebaut aus Metallplatten, in dem die Familie bei Alarm im Stehen die Gefahr abwartet. "In welchem Land leben wir eigentlich?", fragt Schula Sasson und muss nicht lange überlegen, wenn man sie fragt, wen sie am 10. Februar wählen wird. "Bibi", sagt sie knapp, den Chef der rechten Likud-Partei Benjamin Netanjahu, der Ende der neunziger Jahre schon einmal Premierminister war und es jetzt wieder werden könnte, wenn man den Umfragen glaubt. "Bibi ist stark. Er wird Schluss machen mit Hamas und den Terroristen." Sie empfinde kein Siegesgefühl, eher, sagt Sasson, dass "die Armee den Job in Gaza nicht vollendet hat. Ich fühle mich nicht sicherer jetzt."

Sicherheit ist das Zauberwort im kurzen Wahlkampf, der wegen des Krieges für drei Wochen ausgesetzt und jetzt wieder aufgenommen wurde. "Bibi" Netanjahu wirbt auf Plakaten mit wenigen Worten und einem Premierministerblick im ganzen Land: "Stark in der Sicherheit. Stark in der Wirtschaft." Am 10. Februar wählt Israel zum fünften Mal innerhalb von nur zehn Jahren eine neue Regierung. Und wie in jedem Wahlkampf versprechen die Politiker Schutz. Schutz vor palästinensischem Terror, Schutz vor Iran, Schutz vor einem Absinken in die Arbeitslosigkeit. Eine Lösung des Nahost-Konflikts versprechen sie nicht.

Nicht mehr. Der Schriftsteller Tom Segev sagt: "Ich glaube nicht mehr an eine wirkliche Lösung des Konflikts." Der Konflikt könne nur noch gemanagt, nicht aber ein für allemal gelöst werden. So wie Segev denken viele in Israel. Die Hausfrau in Sderot, der Holocaust-Überlebende in Tel Aviv, der Geschichtsprofessor in Jerusalem, und auch die Popsängerin. Wer sich auf die Reise begibt durch das Land, trifft nur noch selten Israelis, die den Palästinensern leichten Herzens auch das Westjordanland überlassen möchten. Und auf zwei weitere Phänomene: Der Gaza-Krieg hat den rechten und orthodoxen Parteien einen enormen Auftrieb verschafft - obwohl Politiker wie Netanjahu gar nicht in der Regierung saßen und den Krieg nur als Zaungäste kommentiert haben. Und man trifft auf viele Menschen, die einfach keine Lust mehr haben zum Urnengang und sich fatalistisch in einem unpolitischen Alltag eingerichtet haben. Weil bislang jeder Politiker vom Frieden geredet hat - und dann doch in den Krieg gezogen oder in einem Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft versunken ist.

Das Stichwort ist Korruption, und sofort wird Zvi Birnbaum hellwach. Es ist morgens um sechs, und der sehr kleine Birnbaum steht in der Küche des gleichnamigen vegetarischen Restaurants in Tel Avivs proletarischem Süden und schnippelt Gurken. Das Radio läuft auf voller Lautstärke, Zvi Birnbaum verfolgt die Nachrichten wie viele Israelis seiner Generation, die alle halbe Stunde wissen müssen, wo gerade eine Bombe hochgegangen ist, dass die israelische Zentralbank den Leitzins erneut gesenkt hat und dass es in den kommenden Tagen heißer und nicht regnen wird. Zvi Birnbaum müsste nicht arbeiten, immerhin ist er schon 87 Jahre alt. Er könnte das Tomaten- und Gurkenschnippeln seinen zwei Töchtern Pnina und Sima überlassen, die das Mittagslokal betreiben. "Aber ich will mir mein Frühstück doch verdienen", sagt er.

Er ist die Personifizierung von Korrektheit, hält einem die Tür auf, reicht einem die Hand, zieht sich ein frisches Hemd über, wenn er weiß, dass man ihn fotografieren will. Zvi Birnbaum hat Auschwitz berlebt, jeden Tag sieht er auf seine tätowierte Nummer 132272 am linken Unterarm und ist froh, "dass ich der Hölle entkommen bin". "Israel", sagt der aus Polen stammende Birnbaum und nimmt sich eine Handvoll Gurken, "ist meine Heimat geworden." Als er 1948 mit dem Schiff im Hafen von Haifa landete, "dachte ich, ich bin im Paradies gelandet". Doch heute verzweifelt er an seiner Heimat: "Lügen ist Mode geworden", klagt er. Von Politikern halte er "gar nichts". Die wirtschafteten in die eigene Tasche, seien auf den eigenen Vorteil bedacht und ließen sich bestechen. Er könne nicht glauben, dass ein Premierminister wie Ehud Olmert Dienstreisen doppelt abgerechnet und sogar Organisationen wie die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem betrogen habe. "Die Politiker in Israel haben keine Moral mehr", sagt er. Er könne sie nur von Weitem ertragen, ein Wahllokal habe er schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht. "Wir sind die Generation, die Israel aufgebaut hat", sagt Birnbaum, "und die heutige Generation zerstört unser Land."

Zur Zerstörung Israels tragen auch die jüdischen Siedler im Westjordanland bei. Sie seien "Israels Fluch". So sieht es Zeev Sternhell, der berühmte Geschichtsprofessor. Er hat den Fluch am eigenen Leib gespürt. Sternhell gilt weltweit als einer der wichtigsten Faschismustheoretiker - und er ist ein expliziter Gegner der jüdischen Siedlungen. In Hörsälen, Talkshows, Aufsätzen und in Interviews hat Sternhell in den vergangenen Jahren unablässig das Siedlungsprojekt gegeißelt. Im vergangenen September hätte er für seine Kritik fast mit dem Leben bezahlt. Seine Frau und er waren gerade von einem mehrwöchigen USA-Aufenthalt nach Jerusalem zurückgekehrt. Sternhell schloss die Wohnungstür auf, als die Zündung einer Rohrbombe aktiviert wurde. Die Detonation verletzte Sternhell an den Beinen, aber er überlebte wie durch ein Wunder. Am Tatort fand die Polizei Flugblätter, die Belohnungen versprachen für die Ermordung prominenter Siedlungskritiker.

Heute sitzt der 73 Jahre alte Professor Sternhell in seinem hell ausgeleuchteten Wohnzimmer und sagt: "Angst habe ich keine." Die Polizei hatte ihm empfohlen, eine Kamera am Hauseingang zu installieren und abends die Rollläden herunterzulassen, doch die Sternhells verzichten darauf. Auch eine Direktleitung ins nächstgelegene Polizeirevier wollen sie sich nicht legen lassen. Zeev Sternhell und seine Frau möchten sich nicht "von jemand anderem einen Lebensstil diktieren" lassen. Allein über den Anschlag zu reden, ist für Sternhell Zeitverschwendung. Lieber möchte er über sein Thema reden, den "Siedlerstaat", wie er es nennt. Er tut das, als gelte es, keine Zeit zu verlieren.

"Seit 30 Jahren sage ich mehr oder weniger dasselbe und warne vor dem Einfluss der jüdischen Siedler. Aber die Situation wird immer schlimmer." Alle Welt habe in den vergangenen Monaten ihr Augenmerk auf den Gaza-Streifen gerichtet, "doch die Zeitbombe tickt im Westjordanland. Inzwischen leben dort fast 300 000 Menschen und in Ost-Jerusalem noch einmal 200 000. Ich sehe nicht, wie damit ein palästinensischer Staat gegründet werden könnte."

Der Siedlerstaat sei ein "großes echtes Unglück". Und eine Gefahr für Israel, denn "kein Land der Welt kann ein anderes Volk beherrschen, ohne nicht selbst Schaden zu nehmen." Schaden an der Demokratie, denn de facto, so Sternhell, herrschten "zwei Rechte, eines für Israelis und eines für Palästinenser". Dennoch alimentiere Israel die Siedler, päppele sie, gewähre ihnen Wohnraum und Baurecht, und "im Endeffekt machen die Siedler, was sie wollen". Zudem stärke der Terror der Palästinenser die Siedlerbewegung noch und rücke eine Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne: "Welcher Israeli ist schon bereit, den Palästinensern einen Staat zuzugestehen, wenn sie unsere Existenz mit Raketen bedrohen können?" Sternhell sieht schwarz, wenn er in die Zukunft blickt. Einen kompletten Rückzug Israels aus dem Westjordanland werde es nicht geben, "nicht, solange ich lebe, und womöglich auch nicht, solange meine Kinder leben". Nur ein paar unorthodoxe, unideologische Siedler würden freiwillig ihre Häuser im Westjordanland aufgeben, wenn sie vom Staat entschädigt würden. Langfristig aber, sagt Sternhell, "sehe ich keine Lösung. Um alle Siedler zu entschädigen, bräuchten wir gigantische Summen. Aber wegen der Finanzkrise sind die Kassen leer." Ohnehin, ist Sternhell sicher, werde es nach der Wahl einen Premierminister geben, der aus seiner "Zuneigung zu den Siedlern" keinen Hehl mache: "Bibi", Benjamin Netanjahu.

Über Politik reden mag Emily Karpel öffentlich lieber nicht. Wer in Israel im Rampenlicht steht wie sie, im Radio und im Fernsehen zu hören und auf Zeitschriftencovern zu sehen ist, muss sich vor politischen Diskussionen hüten. Denn schnell werden Auftritte gecancelt, wenn der Popstar die falsche, also nicht die Mehrheitsmeinung vertritt, oder man spielt seine Lieder nicht im Radio. Es ist kurz vor Mitternacht im Tel Aviver Club "Katze und Hund", und Emily Karpel feiert mit 200 Gästen ihren 30. Geburtstag. Die Pop-Diva, die in Israel mit Madonna verglichen wird, hat gerade ihr erstes Album herausgebracht, "Sommersprossen" heißt es. In ihren Songs ist viel von Sommer, Beziehungsschmerz, Liebe und Hitze die Rede. Der harte erbarmungslose Nahost-Alltag findet in ihnen nicht statt. Karpels Elektropop entführt einen in eine Welt, in der Israel, Gaza-Streifen und Westjordanland weit weg sind. In eine sorgenfreie Welt also. Und das soll auch so sein.

In dieser Nacht schenkt Karpel ihren Freunden und Bekannten ein kleines Konzert und will sechs Lieder singen. Champagner und Wein fließen, Klatschreporter verfolgen jeden Schritt von Karpel, die Stimmung im Club rennt gegen die bösen Nachrichten von draußen an. Denn leider fällt Karpels Geburtstag mitten in den Gaza-Krieg. Als sie die Bühne betritt, strahlt sie. Und wird gleich wieder ernst. Es wäre "komisch, wenn ich jetzt nichts sagen würde zu der Situation", sagt sie. Beide Hände umklammern das Mikrophon, sie wägt ihre Worte ab, und entschließt sich, politisch korrekt zu bleiben. Sie sagt, sie wünsche, dass der Krieg bald vorbei sei, und: "Lasst uns positive Energie senden, hierhin und nach drüben." Mit "drüben" sind die Palästinenser gemeint. Aber das Wort kommt ihr nicht über die Lippen.

Ein paar Tage später sitzt Karpel in einem Café im Flohmarkt von Jaffa, dem arabischen Stadtteil von Tel Aviv, wo sie auch wohnt. Sie bestellt sich einen Kräutertee und sagt, sie sei "froh, dass der Krieg endlich zu Ende ist". Aber ihr Gesicht wirkt ganz besorgt, als sie das sagt. Sie findet es "hart, in Israel zu leben". Die Realität sei "schmerzhaft, gespannt, hässlich, schnell" und der Alltag vom Militär geprägt. Sie erinnere sich noch heute an ihren ersten Tag in der Armee, als ihr eine Waffe in die Hand gedrückt wurde.

Karpel sieht ihre Musik als Fluchtvehikel. Man könne sich mit ihr in eine bessere Welt beamen. Karpel tritt auch vor Soldatengruppen auf, eine der Haupteinnahmequellen für Musiker in Israel, weshalb sie es eigentlich vermeiden möchte, über Politik zu reden. Sie sagt, wenn man sie die Armee kritisieren hören würde, würde man ihre Auftritte absagen. Das sei schon anderen Kollegen passiert. Stattdessen redet sie von ihrem Vater, der in Kanada lebt, "weil er Israel hasst". Ihr Vater wollte "immer frei sein". Wer aber Platz im Leben brauche, der könne in Israel nicht leben, denn Israel sei "zu klein".

Am Ende des Gesprächs siegt Karpels Unmut über die selbstauferlegte Zurückhaltung. "Ich bin nicht zufrieden, wie in Israel Politik betrieben wird. Es fehlt an Weisheit, Geduld und Diplomatie", sagt sie. Und dass sie geradezu verzweifelt sei: "Was mich verrückt macht: In ein paar Tagen sind Wahlen, und ich weiß nicht, für wen ich stimmen soll." Fast alle Parteien glaubten an die Macht des Militärs. Sie denkt anders: "Ich will nicht, dass die Armee unser Land managt."

Die Hausfrau aus Sderot gibt der Hamas die Schuld an allem

Der kritische Professor sieht den Siedlerstaat als Unglück

Für die Sängerin ist es sehr schwierig, in ihrer Heimat zu leben

"Die Politiker haben keine Moral mehr": Zvi Birnbaum (kleines Bild) ist Israeli der ersten Stunde, aber am 10. Februar will er nicht zur Wahl gehen. In Sderot trotzen die Menschen der Hamas-Bedrohung mit Flaggen. AP, Dinu Mendrea

Militärischer Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Parlamentswahlen in Israel SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Flexibilität am Arbeitsplatz

Norbert Hansen wurde vom Bahn-Gewerkschafter zum Bahn-Vorstand. Selbst im Tarifstreit möchte er den alten Kollegen noch beweisen, dass er kein Verräter ist

Von Detlef Esslinger

Berlin - Zwei Wochen ist das Foto nun alt, es entstand beim Auftakt der Tarifverhandlungen, es täuscht ein bisschen und erzählt doch viel. Zwei Männer geben sich die Hand, das heißt, eigentlich reicht sie nur der eine, der andere lässt es halt geschehen. Der eine, der Größere, hält den Arm angewinkelt und lächelt den anderen an, er sucht erkennbar die Nähe. Der Kleinere aber? Durchgedrückter Arm, Kopf abgewandt und das Kinn gesenkt - der ganze Körper verrät, dass dieser Mann auf diese Begegnung nicht rasend scharf gewesen ist. Ein bisschen täuscht das Bild deshalb, weil knapp eine Sekunde zuvor die Szene noch anders aussah. Da schenkte auch der Kleinere dem Größeren einen Blick und sogar ein Lächeln. Aber nun ist es gut damit. Schluss mit den Freundlichkeiten.

Norbert Hansen, 56, dürfte noch einige Arbeit zu verrichten haben, bevor es für seinen alten Kollegen Alexander Kirchner wieder opportun ist, sich mit ihm nett auf einem Foto zu zeigen. Seit Jahren hat es sich kein Gewerkschafter mehr so stark mit den Seinen verdorben wie Hansen - obwohl er im Grunde nur etwas gemacht hat, was nach den Regeln der deutschen Mitbestimmung sogar erwünscht ist: Er hat die Seiten gewechselt, er kümmert sich zwar weiter um Beschäftigte, aber dies nun in der sehr angenehm bezahlten Funktion eines Personalvorstands der Deutschen Bahn. Solch eine Konstellation gibt es in vielen Großunternehmen, auch bei der Post kommt der Personalvorstand von einer Gewerkschaft, in dem Fall von Verdi, und der Pressesprecher des Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske ist soeben als Arbeitsdirektor zum Tüv Nord gewechselt. Hat niemanden aufgeregt. Im Fall Hansen war es anders, aus vielen Gründen: Er war nicht Pressesprecher, sondern Vorsitzender der Gewerkschaft Transnet. Er hatte jahrelang für einen Börsengang der Bahn geworben, trotz der Skepsis der meisten Mitglieder. Er handelte kurz vor seinem Wechsel eine Beschäftigungssicherung aus, die keine war. Und dann gab er vor Dienstantritt der Bild-Zeitung ein Interview, in dem er Stellenabbau ankündigte und die Lokführer zum Saubermachen von Abteilen aufforderte.

Nun sitzt er in seinem Eckbüro im 23. Stock des Bahntowers am Potsdamer Platz und will den Beschäftigten beweisen, dass er kein Verräter ist. "Unsere Gewerkschaft", sagt er, habe eine lange Tradition. Nie habe sie das Prinzip des fundamentalen Widerstands verfolgt, immer habe sie versucht, pragmatisch mitzugestalten. Hansen sagt: "Vergleichen Sie doch mal die Arbeitsbedingungen bei der Bahn mit denen bei der Telekom und den Postdiensten." Bei der Bahn, da hätten die Beschäftigten über all die Jahre ihren Besitzstand gehalten, hier sei niemand mit seinem Betrieb ausgelagert und danach zu schlechteren Bedingungen weiterbeschäftigt worden. So gesehen, hat Hansen sich nicht geändert und auch nichts verraten, sein neuer Job, das ist die Fortsetzung des Pragmatismus mit anderen Mitteln. Er sagt: "Ich sehe mich als Gewerkschafter mit Verantwortung im Vorstand." Hansen trägt weiter seine knallroten, locker gebundenen Krawatten, im linken Ohrläppchen funkelt wie immer der Brilli, und als sein Nachfolger bei Transnet, Alexander Kirchner, ihm Anfang Dezember die Forderungen für die Tarifrunde in Form eines mannshohen Adventskalenders präsentierte, stellte Hansen sich das Teil ins Büro, hinter den Schreibtisch.

Welche Zugeständnisse muss einer gewähren, damit ihm die Beschäftigten vielleicht wieder vertrauen, die neuen Kollegen im Vorstand ihn aber nicht als deren fünfte Kolonne sehen? Am Münchner Hauptbahnhof steht Donnerstagfrüh der Schaffner Bernhard Mayer, 43, zusammen mit ein paar Dutzend Kollegen; mit ihrem Warnstreik wollen sie familienfreundlichere Arbeitszeiten durchsetzen. Dass eine Schicht maximal neuneinhalb Stunden dauert, nicht aber zwölf. Dass sie wenigstens ein Wochenende im Monat wirklich frei haben. Dass sie nicht immer zwei Stunden auf dem Bahnhof von Memmingen rumsitzen müssen, bis in einem anderen Zug endlich ihr Dienst weitergeht. Seit Jahren ist das ein großes, strittiges Thema, und wenn nicht alles täuscht, was aus den Verhandlungen dringt, wird es nun Fortschritte geben, jetzt, da der Gewerkschafter im Vorstand sitzt. Also Punkt für Hansen? Nicht beim Schaffner Mayer, nicht bei den Männern um ihn herum. "Wie man seine Ideale nur so verraten kann!" - "Man fühlt sich schon verarscht." - "Er sagt jetzt das Gegenteil von dem, was er früher gesagt hat."

Das ist wohl der Preis, den Norbert Hansen zu bezahlen hat: dass die Beschäftigten alle Fortschritte ihrem Kampfeswillen zuschreiben, für alle Rückschritte aber diesen Personalvorstand verantwortlich machen. Vor genau einem Jahr, im Februar 2008, ließ der Transnet-Vorsitzende Hansen dagegen protestieren, dass nun auch die Bahn Pläne fürs Auslagern hat, dass sie den Regionalverkehr künftig in Tochterfirmen betreiben will, für die der Tarifvertrag nicht gilt. Und nun muss der Personalvorstand Hansen begründen, warum genau das gut sein soll - am Beispiel des Regionalverkehrs in Franken, wo es von Dezember 2011 an so laufen wird. "Unsere Konkurrenten haben niedrigere Personalkosten als wir. Wenn wir mit unseren Kosten gegen die antreten, können wir das Geschäftsfeld Nahverkehr auch gleich aufgeben."

Er schaut sich die Pressemitteilung vom Februar 2008 an, die man ihm reicht. "Transnet warnt Deutsche Bahn vor Tarifflucht", das war damals die Überschrift, Hansen nickt, er streicht sich über die Augenbraue. Dann sagt er: "Der letzte Satz ist entscheidend", liest vor: "Es gebe ausreichend Möglichkeiten, steigende Personalkosten auszugleichen." Hansen spricht von mehr Flexibilität und mehr Effizienz, so wie es auch bei anderen Unternehmen üblich sei. Dort würden Mitarbeiter "häufiger als bei uns" für unterschiedliche Tätigkeiten eingesetzt. Was er meinen könnte: Schaffner verkaufen auch mal Tickets, Lokführer helfen in der Werkstatt. Mit dem Ergebnis, dass das Unternehmen weniger Personal braucht, ohne das vorhandene schlechter bezahlen zu müssen. Er nennt die Beispiele nicht selber, und das mit dem Saubermachen schon gar nicht, er ist auch so schon ausgelastet, Widersprüche aufzulösen, zwischen damaligem Reden und heutigem Tun. Wie findet er eigentlich inzwischen sein Verhältnis zu den alten Kollegen? Die Antwort kommt sofort, er wird auch einen Tick lauter dabei: "Täglich besser!"

"Ich sehe mich als Gewerkschafter mit Verantwortung im Vorstand": Norbert Hansen (links) beim Versuch, seinen Nachfolger bei Transnet, Alexander Kirchner, vor Tarifgesprächen zu begrüßen. Foto: dpa

Hansen, Norbert SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der ungeliebte Mieter

Während der Hertie-Insolvenzverwalter nach Investoren sucht, treibt der britische Eigentümer den Verkauf der Immobilien voran

Von Stefan Weber

Düsseldorf - Die Überlebenschancen der insolventen Warenhauskette Hertie schwinden. Denn neben den 19 Standorten, deren Schließung für Ende Februar Insolvenzverwalter Biner Bähr am Mittwoch ankündigte, werden möglicherweise auch einige der verbleibenden 54 Standorte bald nicht mehr von Hertie genutzt werden können. Der Haupteigentümer der Immobilien, der britische Finanzinvestor Dawnay Day, hat die Mietverträge mit dem Warenhausunternehmen zum 19. Januar 2009 gekündigt. Jetzt wird der Verkauf der ihm gehörenden insgesamt 64 Hertie-Häuser vorangetrieben. Das Mandat dafür hat die Immobiliengesellschaft Atisreal. "Per Ende Dezember sind sechs Verkäufe notariell beurkundet", sagte Christoph Meyer, Mitglied der Geschäftsführung von Atisreal, der Süddeutschen Zeitung. Er hofft, in den nächsten Wochen weitere Transaktionen perfekt zu machen. Trotz der Krise sei das Investoreninteresse für Häuser an guten Standorten nach wie vor sehr groß. In allen bisher beurkundeten Fällen hätten die Erwerber kein Interesse, die Häuser weiter an Hertie zu vermieten. Im Gegenteil: Für die neuen Eigentümer sei wichtig, dass das Warenhausunternehmen zügig ausziehe, um das Haus an andere Nutzer zu vermieten, sagte Meyer.

Hertie und Insolvenzverwalter Bähr weisen diese Darstellung zurück. Sie betonen, dass vier der sechs beurkundeten Verkäufe noch nicht in den Grundbüchern eingetragen seien. Damit seien die Transaktionen noch nicht rechtskräftig. Auch hätten die Erwerber sehr wohl Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit mit Hertie geäußert - unter der Voraussetzung, dass das Unternehmen die vereinbarte Miete zahle. Bähr verhandelt nach eigenen Angaben mit einer "Handvoll" Investoren, die an einem Kauf sowohl der Immobilien als auch an deren Betrieb durch Hertie interessiert sind.

Der Insolvenzverwalter hatte Dawnay Day am Mittwoch ein Ultimatum gestellt: Wenn die Briten nicht binnen eines Monats zu Zugeständnissen bei den Mieten bereit seien, müsse die gesamte Warenhauskette geschlossen werden. "Dawnay Day hat Hertie Mieten aufgeb rdet, die von keinem Kaufhausunternehmen der Welt erwirtschaftet werden können", klagt Bähr. Mit teilweise mehr als 20 Prozent vom Umsatz seien die Mieten etwa vier Mal so hoch wie in der Branche üblich. Die aktuell hohe Quote erklärt sich allerdings auch durch den inzwischen deutlich geschrumpften Umsatz von Hertie: Als Dawnay Day die Häuser vor vier Jahren dem damaligen Karstadt-Quelle Konzern (heute Arcandor) abkaufte, erwirtschafteten sie einen Umsatz von 680 Millionen Euro. Im vergangenen Jahr sollen es nur noch 450 Millionen Euro gewesen sein.

Wie es in Finanzkreisen heißt, steht die inzwischen selbst insolvente Dawnay Day-Gruppe unter erheblichem Druck. Sie hat den Hertie-Kauf zu einem großen Teil per Kredit finanziert und benötigt hohe Mieteinnahmen für Zins und Tilgung. Da aber der insolvente Hertie-Konzern derzeit keine Miete zahlt, ist Dawnay Day offenbar gezwungen, sich durch den Verkauf einzelner Häuser Liquidität zu verschaffen. Die Briten werfen dem Insolvenzverwalter vor, bisher nicht das Gespräch gesucht zu haben. Dieser Darstellung widerspricht Bähr energisch: Er stehe seit Anmeldung der Insolvenz von Hertie im Sommer 2008 in regelmäßigem Kontakt zu den Eigentümern. In der kommenden Woche will er erneut nach London reisen, um über Mietsenkungen für die Warenhäuser zu verhandeln. Dagegen sieht Atisreal-Geschäftsführer Meyer für Hertie keine Zukunft: "Ich erwarte, dass der Insolvenzverwalter, Hertie Ende Februar komplett schließt."

Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH: Niederlassungen Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH: Verkauf Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH: Konkurs SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ford fährt 2008 Rekordverlust ein

Der angeschlagene Autohersteller verbrennt 15 Milliarden Dollar

Dearborn - Der US-Autohersteller Ford hat auf seiner immer steileren Talfahrt 2008 einen Rekordverlust von fast 15 Milliarden Dollar erlitten, will aber weiter auf Staatshilfen verzichten. Es war bereits das dritte Minus in Folge nach einem Fehlbetrag von 2,7 Milliarden Dollar im Jahr 2007. Ford rechnet angesichts der schwersten Branchenkrise seit Jahrzehnten weiterhin frühestens 2011 mit operativen Gewinnen, wie der Konzern in Dearborn bei Detroit (Michigan) mitteilte. Im Schlussquartal hat sich der Verlust mit fast 5,9 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt. Der Umsatz brach um mehr als ein Drittel auf 29,2 Milliarden Dollar (22,2 Milliarden Euro) ein. Auch in Europa machte Ford Verluste. "Wir haben den richtigen Plan", zeigte sich Konzernchef Alan Mulally jedoch überzeugt.

Ford betonte erneut, keine staatlichen Milliardenhilfen zu benötigen. General Motors (GM) und Chrysler können derzeit nur durch Notkredite der Regierung überleben. Ford verbrannte im Schlussquartal etwa 5,5 Milliarden Dollar seiner Bargeldreserven. Der Konzern nutzt bestehende Kreditlinien und holt sich Darlehen von 10,2 Milliarden Dollar. Damit sei die Liquidität ausreichend.

Der Autobauer will 1200 Jobs in der Finanzierungssparte streichen. Insgesamt baute Ford schon Zehntausende Arbeitsplätze ab und beschäftigte zuletzt etwa 220 000 Mitarbeiter. Fords weltweiter Absatz stürzte im vierten Quartal um mehr als 30 Prozent auf knapp 1,14 Millionen Autos ab. Im Gesamtjahr verkaufte der Konzern 5,40 Millionen Autos - ein Minus von rund 18 Prozent zum Vorjahr. In Deutschland steigerte Ford Absatz und Marktanteil zuletzt. Der weltweite Automarkt wird nach Schätzung des Konzerns 2009 um etwa zehn Prozent einbrechen. 2008 fiel Fords Umsatz um 15 Prozent auf 146,3 Milliarden Dollar. Das Konzernergebnis war noch schlechter, als Experten befürchtet hatten. Mit dem jüngsten Minus von 14,6 Milliarden Dollar addieren sich die Verluste seit 2006 auf etwa 30 Milliarden Dollar. dpa

Ford Motor Company: Verlust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Friedenszeichen

Porsche-Chef Wiedeking will sich während der Hauptversammlung zum Streit um die Mitbestimmung in der neuen Holding äußern. Offenbar haben sich die Betriebsräte von VW und Porsche angenähert. In den Aufsichtsrat ziehen mit Bernd Osterloh (VW) und Peter Mosch (Audi) zwei Vertreter der 320 000 VW-Arbeitnehmer ein. Details will IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber im Februar verkünden. Derzeit gibt es eine Klage der VW-Leute. Osterloh braucht Klarheit bis zur nächsten Betriebsversammlung, die wegen Kurzarbeit in Wolfsburg erst Anfang März ist. mik

Porsche Automobil Holding SE: Betriebsrat SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kahlschlag trotz Milliardengewinn

Der britische Pharmakonzern Astra Zeneca streicht jede fünfte Stelle

Von Kristina Läsker

München - Der britisch-schwedische Pharmakonzern Astra Zeneca reagiert mit verschärftem Stellenabbau auf den anhaltenden Preisdruck im Gesundheitswesen und die zunehmende Konkurrenz durch günstige Nachahmermedikamente (Generika). Bis 2013 sollen 15 000 Stellen wegfallen, teilte der sechstgrößte Pharmakonzern bei Vorlage der Bilanz 2008 mit. Bisher war ein Abbau von 9000 Stellen geplant, nun will Astra Zeneca zusätzliche 6000 Jobs kürzen. "Die Marktbedingungen waren niemals härter", sagte Konzernchef David Brennan. Astra Zeneca mit Stammsitz in London beschäftigt weltweit 67 000 Mitarbeiter, darauf bezogen fällt bis 2013 jeder fünfte Arbeitsplatz weg. In Deutschland hatten im Jahr 2007 noch 2300 Beschäftigte für den Hersteller gearbeitet. Nach dem Verkauf eines Werkes und etlichen Kündigungen sind es heute nur noch 1300 Menschen.

Der Konzern entlässt, obwohl er üppige Gewinne macht: Weltweit erlitt Astra Zeneca zwar im vierten Quartal einen Gewinnrückgang , dennoch stieg der operative Jahresgewinn 2008 vor Steuern um neun Prozent auf knapp elf Milliarden Dollar. Der Umsatz kletterte im vergangenen Jahr um drei Prozent auf 31,6 Milliarden Dollar. Das ist für die Pharmabranche ein langsamer Anstieg: 2008 haben die Wettbewerber im Schnitt zwischen fünf und sechs Prozent zugelegt. Für dieses Jahr rechnet Konzernchef Brennan nur mit stagnierenden Umsätzen.

AstraZeneca Gruppe: Personalabbau AstraZeneca Gruppe: Gewinn SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Messe Leipzig ohne Computerspiele

München - Die Leipziger Messe veranstaltet im Sommer doch keine Ausstellung für die Computerspielebranche. "Wir setzen die Vorbereitungen aus", sagte Messechef Wolfgang Marzin der SZ. Entgegen seinen ursprünglichen Plänen tritt er damit nicht in Konkurrenz zur Kölner Messe. Am Rhein findet 2009 zum ersten Mal die Gamescom statt. Der Verband der Computerspieleindustrie BIU hatte sich nach sieben Jahren in Leipzig für einen neuen Ausstellungsort entschieden. Marzin wollte eigentlich weiter an der eigenen Games Convention festhalten. Nun gibt es im Osten Ende Juli bis Anfang August nur eine Messe für Onlinespiele. Die beiden deutschen Branchengrößen Bigpoint und Gameforge wollen teilnehmen. Als Partnerland wird Südkorea Onlinespiele-Firmen nach Leipzig schicken. Marzin hofft auf bis zu 70 000 Besucher und 70 bis 100 Aussteller. "Wir steigen ein, wie auch die Games Convention begonnen hat", sagte er. Auch in Köln werden Onlinespiele Thema sein. rdl

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Amerikas guter Krieg

Obama sucht eine neue Afghanistan-Strategie - Europa sollte sich einmischen, ehe er sie findet.

Von Christian Wernicke

Afghanistan ist Amerikas "guter Krieg". So glaubt, laut Umfragen, das Volk, so sieht es der neue Präsident. Barack Obama, dessen nationale Karriere als früher Gegner des wüsten Bush-Krieges im Irak begann, war und ist kein Pazifist. Er sah zu Recht keinen Grund für den Irrmarsch auf Bagdad - aber er hegte nie Zweifel, dass der Kampf gegen al-Qaida und Taliban gerecht ist. Also will er, als 44. Oberkommandierender, nun raus aus Mesopotamien. Und umso mehr ist der Hindukusch fortan seine entscheidende Front: Da will, ja da muss der amerikanische Präsident siegen.

Genau deshalb unterwirft die neue Regierung ihr Afghanistan-Dossier jetzt einer rigorosen Überprüfung. Und der Einsatz (mit bislang immerhin über 600 toten US-Soldaten) liest sich nicht eben wie eine Erfolgsgeschichte: Osama bin-Laden ist nach wie vor auf freiem Fuß, die Taliban sind auf dem Vormarsch, die Regierung in Kabul versinkt in Korruption, lässt den Drogenhandel wuchern und oft finstere Warlords in den Provinzen gewähren. Mit simplen Durchhalteparolen, mit einem sturen "Weiter so", kommen die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten nicht mehr voran.

Der Neuanfang in Washington eröffnet die (vielleicht letzte) Chance, in Afghanistan einen anderen, besseren Kurs einzuschlagen. Dazu sucht Amerika nun eine neue Strategie. Und die ersten Signale der Regierung bedeuten den Alliierten in Europa wie dem Präsidenten in Afghanistan, dass die Obama-Mannschaft dabei nur ein Tabu kennt - den Rückzug, die eigene Niederlage. Nein, Amerika rüstet auf, will bis zu 30 000 Soldaten zusätzlich entsenden. Die Verbündeten in Brüssel ahnen, dass dies auch ihnen mehr abverlangen wird - mehr Truppen, mehr zivile Aufbauhelfer, mehr Geld. Es ist höchste Zeit, dass Europas Regierungen auch eigene Ideen investieren - und zwar, ehe die Führungsmacht ihre Suche nach neuen Pfaden beenden wird.

Auf Hamid Karsai, den einsamen Präsidenten in Kabul, kommen raue Zeiten zu. Er hat inzwischen erfahren müssen, dass er nicht länger Washingtons Liebling ist. Die virtuellen Audienzen im Weißen Haus, die Karsai unter George W. Bush per Videoschaltung fast wöchentlich genoss, hat Barack Obama bereits abgeschafft. Soll heißen: Wir können auch anders. Längst gilt es nicht mehr als ausgeschlossen, dass sich Washington vor den afghanischen Präsidentschaftswahlen im August einen anderen Lieblingskandidaten ausguckt. Der erste schwarze US-Präsident kennt da keine Treue, keine Schuldigkeiten: Amerikas bisheriger Mohr in Kabul kann auch gehen.

Derweil zeichnet sich erst in Umrissen ab, was die neue US-Regierung am Hindukusch vorhat. Klar ist nur, dass Amerika mehr als bisher den Afghanistan-Krieg als Regionalkonflikt begreifen wird: Die labile Regierung in Pakistan wie auch das iranische Mullah-Regime werden unter Druck geraten, mehr als bislang mitzuhelfen im Kampf um Afghanistan. Dafür steht der Name Richard Holbrooke, der neue, für seine Ruppigkeit bekannte US-Sonderbeauftragte für die Region.

Ein anderer Name dürfte derweil für die Taktik stehen, mit der Washington künftig in den Schluchten des Hindukusch vorankommen will: David Petraeus. Der Vier-Sterne-General, inzwischen der Chef des US-Zentralkommandos, gilt als Vater von Amerikas spätem Erfolg im Irak. Petraeus will, getreu seinem Lehrbuch zur erfolgreichen Aufstandsbekämpfung, mit mehr amerikanischen Soldaten in Afghanistan erneut in die Schlacht ziehen. Mehr Bodentruppen verheißen, zumindest vorübergehend, mehr Blutvergießen - aber hoffentlich weniger blindes Bomben per Drohnen wie bisher.

Der Irak als Lektion für Afghanistan: Obama mag es nicht so sagen, aber er wird es tun. Er will, um seinen guten Krieg zu gewinnen, jetzt vom schlechten Krieg das Siegen lernen.

Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Modekette H&M schafft 7000 Jobs

Die Schweden möchten in der Krise 225 Filialen eröffnen

Stockholm - Der schwedische Textilkonzern Hennes & Mauritz (H&M) will trotz der weltweiten Wirtschaftskrise bis zum Jahresende 6000 bis 7000 neue Stellen schaffen. Wie die weltweit größte Bekleidungskette am Donnerstag in Stockholm mitteilte, stieg der Gewinn nach Steuern im vergangenen Geschäftsjahr, das am 30. November endete, gegenüber 2007 um 12,5 Prozent auf 15,3 Milliarden Kronen, also 1,4 Milliarden Euro. Beim Umsatz - ohne Mehrwertsteuer - legte H&M um 13 Prozent auf 88,5 Milliarden Kronen zu.

"Angesichts der globalen Wirtschaftslage ist das ein starkes Ergebnis. Wir sind zufrieden mit unserem Absatz", sagte Konzernchef Rolf Eriksson. Auch im vierten Quartal, von September bis November, konnte die Textilkette den Umsatz um 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf 26,3 Milliarden Kronen steigern. Der Gewinn stieg um 9,4 Prozent auf 5,1 Milliarden Kronen. Einschränkend hieß es über die ersten beiden Monate des neuen Geschäftsjahres: "Das anhaltende Konjunkturtief hat den Absatz von H&M im Dezember und Januar negativ beeinflusst." Die Kette, die auch dank niedriger Preise erfolgreich ist, glaubt aber, zugleich "Vorteile aus der derzeitigen wirtschaftlichen Lage erzielen" zu können. So könnte der Konzern wegen der Krise eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber Partnern bekommen und mehr Möglichkeiten haben, neue Filialen in guter Lage zu erwerben. Unternehmenschef Eriksson verwies außerdem darauf, dass seine Firma "sich selbst finanzieren kann und nicht wie andere auf den Kreditmarkt angewiesen ist".

Im laufenden Geschäftsjahr will H&M weltweit 225 Textilhäuser eröffnen und damit das Wachstumstempo von 2008 mit 214 neuen Filialen noch leicht steigern. Die Gesamtzahl der H&M-Häuser betrug zum Jahresende 1738 mit 53 430 Beschäftigten im Konzern. Deutschland ist weiterhin der mit Abstand wichtigste Markt für das schwedische Unternehmen. Hier legte 2008 der Umsatz um 15 Prozent auf 25,4 Milliarden Kronen zu. Die Zahl der H&M-Warenhäuser stieg in Deutschland um 25 - bei fünf Schließungen - auf 339. (Kommentare) dpa

Hennes & Mauritz AB: Niederlassungen Hennes & Mauritz AB: Einstellung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der überforderte Staat

Von Guido Bohsem

Es ist vor allem Hollywood, das die Denkmuster für Krisenzeiten prägt. Kino und Fernsehen haben uns daran gewöhnt, Krisen und Konflikte als zeitlich begrenzt und als lösbar zu betrachten, wenn der Held es nur wirklich will. Das Dilemma kann noch so groß, der Kampf noch so gefährlich sein - wir bestehen auf einem Happy End und auf einem Ritter in glänzender Rüstung, der durch seine Kraft und seinen Willen alles wieder in Ordnung bringt, und zwar schnell. In der schlimmsten Wirtschafts- und Finanzkrise der Geschichte der Bundesrepublik gilt das erst recht und deshalb ertönt der Ruf nach dem Staat. An wen auch sonst? Wer außer ihm sollte angesichts der Masse und Größe der Probleme einspringen? Und weil die Repräsentanten des Staates, die Politiker, im Zuge der Globalisierung so lange unter schleichender Entmachtung gelitten haben, nehmen sie diese Rolle gerne und dankbar an.

Viele Dinge, die in den vergangenen Wochen und Monaten in Berlin diskutiert, geplant und entschieden wurden, passen gut in das Traumfabrik-Muster: Jetzt ist Krise, und jetzt handeln wir: das größte Rettungspaket, die höchste Staatsverschuldung, und das alles in kürzester Zeit. Und doch ist naiv, wer auf den Staat als Retter aus der Krise setzt, und leichtgläubig, wer meint, die regierende Klasse wisse so genau, was sie tue. In Wirklichkeit bestimmen Versuch und Irrtum das Handeln. Vieles davon hat nur noch wenig mit den ordnungspolitischen Leitsätzen zu tun, die nicht nur die Union, sondern auch der wirtschaftsnahe Flügel der SPD bis vor kurzem als wahr und richtig erkannt haben.

Nirgends lässt sich die Orientierungslosigkeit der Politiker besser studieren als bei den Überlegungen, Industrieunternehmen mit Staatsgeld über die Runden zu helfen, und nirgends besser erklären als am Fall des Autozulieferers Schaeffler. Dazu ist eine kurze Rückschau nötig: Vor etwa einem Jahr kannte die breite Öffentlichkeit den Namen Maria-Elisabeth Schaeffler nicht. In aller Stille führte die Milliardärin einen erfolgreichen Konzern im fränkischen Herzogenaurach. Allenfalls der ubiquitäre Autobranchenexperte Ferdinand Dudenhöffer hätte gewusst, was Schaeffler so alles herstellt. Das änderte sich im Sommer dann schlagartig. Das Unternehmen entschloss sich, den dreimal so großen Konkurrenten Continental zu übernehmen. Mit vielen Tricks und noch mehr Chuzpe gelang der gewagte Handstreich, während die wirtschaftliche Lage des Landes und speziell die der deutschen Automobilindustrie von Tag zu Tag schlechter wurde. Das Ergebnis ist jetzt zu besichtigen: Beide Unternehmen sitzen auf geschätzten 20 Milliarden Euro Schulden, und kaum eine Bank ist noch bereit, weitere Kredite auszugeben.

Frau Schaeffler muss daher die Bundesregierung um Hilfe bitten. Eine Milliardärin fragt nach Steuergeldern, um ein Unternehmen am Leben zu halten, das sie durch eine gewagte Übernahme an den Rand des Ruins geführt hat. Kann man das einer Friseurin erklären, die in Erfurt brav ihre Steuern zahlt? Oder einem Hartz-IV-Empfänger im Ruhrpott, der seinen Kindern ein Spielzeug verweigern muss, weil die Hilfe vom Staat nicht reicht? Nein, man kann es nicht. Der Staat sollte Schaeffler nicht helfen, nicht mit einer Bürgschaft und erst recht nicht, indem er in das Unternehmen einsteigt.

Unternehmertum ist vor allem deshalb einträglicher als ein Beamtenjob, weil mit ihm das volle Risiko für die eigenen Entscheidungen verbunden ist. Geht der Staat hin und übernimmt dieses Risiko auf Kosten der Steuerzahler - das Ende der klugen unternehmerischen Abwägung und der kaufmännischen Vorsicht wäre gekommen. Selbst der größte Hasardeur und Abenteurer könnte sich darauf verlassen, dass der Staat einspringt und ihm aus der Patsche hilft. Das Conti-Abenteuer war eine kalkulierte Entscheidung, für die Schaeffler nun die Konsequenzen zu tragen hat. Wäre der Coup geglückt, das Unternehmen hätte den Staat wohl kaum am Profit beteiligt.

Sicher, durch die finanzielle Schieflage der Schaeffler-Gruppe sind dort und bei Conti Tausende Arbeitsplätze bedroht. Doch das alleine darf kein Argument sein, sonst müsste der Staat all den bedrohten Unternehmen helfen, die auch nur einen einzigen Angestellten beschäftigen. Es liegt auf der Hand, dass die insgesamt bereitgestellten 100 Milliarden Euro dazu bei weitem nicht ausreichen würden. Für ein so umfassendes Hilfsangebot sind Summen notwendig, die auch eine der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt nicht aufbringen kann. Der Staat würde sich überheben.

Und nicht nur das. Er hätte weder das Personal noch die Expertise, um zu entscheiden, ob ein Unternehmen unverschuldet in eine Notlage geraten ist oder durch schlechte Entscheidungen wie bei Schaeffler geschehen. Konkursverwalter wissen nur zu gut, wie schwierig es ist, den Grund für den Zusammenbruch eines Unternehmens herauszufinden. Es spricht daher eine Portion Größenwahn aus der Idee, eine Art Weisengremium zu schaffen, das darüber entscheidet, welches Unternehmen Geld bekommt und welches nicht. Der Staat ist kein Hollywood-Held. Er sollte sich raushalten.

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität Rezession in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die zweite Lüge

Die Pflegeversicherung startete im Jahr 1995 mit einer Lüge. Künftig würden alle gebrechlichen Menschen Hilfe bei der Pflege bekommen, hieß es. Dabei wusste die Regierung damals genau, dass das neue System vor allem Menschen mit körperlichen Leiden nutzen würde. Demenzkranke hatte man bei der Definition, wann ein Mensch pflegebedürftig ist, aus Kostengründen herausgelassen. Diese Diskriminierung muss enden, sagen Pflegeexperten wie auch die Gesundheitsministerin. Allein - Ulla Schmidt tischt den Demenzkranken eine neue Lüge auf, wenn sie ihnen jetzt Gleichbehandlung verspricht.

Zwar wäre das nun vorgeschlagene System gerechter. Statt minutengenau zu prüfen, wie viel Hilfe ein Mensch beim Zähneputzen oder Kochen braucht, sollen Gutachter beurteilen, ob er seinen Alltag insgesamt noch meistern kann. Damit würden die Einschränkungen von Demenzpatienten, aber auch von psychisch Kranken besser erkannt. Das Problem ist nur: Die Regierung hat nie ernsthaft geplant, das neue System einzuführen.

Die Chance dazu hätte sie schon bei der Pflegereform 2008 gehabt. Damals beschloss sie Hilfen für Demenzkranke, aber keine Gleichstellung. Mit dieser Frage beschäftigte sie ein Expertengremium. Als die Fachleute nun ihren Bericht vorlegten, wurden eilig Folgestudien gefordert. Das Gesetz wird die Regierung in dieser Legislaturperiode nicht mehr ändern. Denn die Reform würde die Kassen mit weiteren Milliarden belasten. In der Wirtschaftskrise will die Koalition die Beiträge aber nicht weiter erhöhen. Das ist kurzsichtig und beschämend. Wie eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, darf nicht von der Haushaltslage abhängen. nvh

Pflegeversicherung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Düstere Aussichten

Die Arbeitslosigkeit ist so stark gestiegen wie lange nicht mehr. Im Januar waren fast 400 000 mehr Menschen auf Arbeitssuche als im Dezember. Das ist ein bedrückend hoher Wert, der in etwa der Einwohnerzahl von Bochum entspricht. Der Wirtschaftsabschwung hat sich also endgültig in den Arbeitslosenzahlen niedergeschlagen. Daran ist nicht zu rütteln, auch wenn die Arbeitslosigkeit im Winter traditionell steigt, weil in vielen Branchen wegen des schlechten Wetters nicht gearbeitet wird und Mitarbeiter entlassen werden.

Wie schlecht es inzwischen am Arbeitsmarkt aussieht, zeigt ganz besonders eine weitere Meldung der Bundesagentur für Arbeit. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm erstmals seit drei Jahren ab. Das lässt aufhorchen, denn gemeint sind die klassischen Arbeitsverhältnisse. Die Firmen sind immer seltener bereit, Mitarbeiter einzustellen. Stattdessen nutzen sie vermehrt die Kurzarbeit. Mit der Kurzarbeit bei Auftragsmangel - der von der Bundesagentur für Arbeit quasi finanzierten Arbeitszeitverkürzung - werden Entlassungen vermieden.

Es ist gut, dass die Bundesregierung in ihren Konjunkturpaketen diese Möglichkeit erleichtert hat, denn mit Kurzarbeit kann die Arbeitslosigkeit für einige Zeit gebremst werden. Kommt dann der Aufschwung, ist es gerade noch einmal gutgegangen. Verschärft sich die Krise aber noch, dann landen die Kurzarbeiter in der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik steht vor dem härtesten Wirtschaftsjahr ihrer Geschichte. Die Entwicklung der Konjunktur schlägt sich stets erst einige Monate später am Arbeitsmarkt nieder: Die Aussichten für Menschen ohne Arbeit bleiben düster. shs

Arbeitsmarkt in Deutschland Arbeitslosenquoten in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein falscher Mausklick, und du bist ein Terrorist

Das sogenannte Terrorcamp-Gesetz verfolgt angebliche Täter, ohne dass es eine Straftat gibt

Von Heribert Prantl

Bisher war Sinn und Zweck des Strafrechts die Bestrafung des Straftäters. Was sonst. Aber das so Selbstverständliche gilt nicht mehr, wenn es um Terrorbekämpfung geht. Der Bundestag hat in erster Lesung ein Gesetz verhandelt, das nicht mehr zur Bestrafung, sondern nur zur Verfolgung taugt, ja nur diese bezweckt: Der Gesetzgeber weiß, dass es zu einer Bestrafung der angeblich gefährlichen Person nach dem neuen Gesetz nicht kommen wird; aber das ist ihm ziemlich egal. Die Hauptsache ist, dass der Staat ermitteln, belauschen und Computer durchsuchen darf. Die Straftat wird quasi fingiert, weil man sie braucht, um massiv in die Grundrechte des Beschuldigten eingreifen zu können.

Schon der amtliche Titel des neuen Gesetzes verrät dies. Es lautet: "Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten". Das Gesetz wird landläufig Terrorcamp-Gesetz genannt, weil mit ihm angeblich die Leute gepackt werden sollen, die sich dort ausbilden lassen. Davon findet sich im Gesetzestext kein Wort. Er umfasst jegliche Unterweisung, die sich ein Einzelner im Umgang mit gefährlichen Stoffen oder mit Stoffen geben lässt, aus denen gefährliche Stoffe hergestellt werden können - auch per Internet. Ein falscher Mausklick, und du bist ein Terrorist. Die neuen Paragraphen 89 a und b sowie 91 im Strafgesetz sind so vage und konturlos, dass man sich nicht vorstellen kann, ein deutsches Gericht würde nach diesen Vorschriften Beschuldigte verurteilen. Das ist aber auch gar nicht die Absicht von Schäuble, Zypries & Co - deren wirkliche Absicht spiegelt sich schon im Titel des Gesetzes wider.

Unter Strafe gestellt wird die noch nicht konkrete Vorbereitung von noch nicht konkreten Straftaten. Die zu einer rechtsstaatlichen Verurteilung untauglichen Strafvorschriften werden deshalb geschaffen, weil der Staat zur Verfolgung dieser neuen nebulösen Delikte das schwere Instrumentarium der Strafprozessordnung auspacken kann: Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation, Lauschangriff, Hausdurchsuchung bei Kontaktpersonen, Kontrollstellen auf Straßen und Plätzen, Vermögensbeschlagnahme, Verhaftung und Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr. Die schwersten denkbaren Maßnahmen und Grundrechtseingriffe werden also auf allerdünnstes Eis gestellt.

Gäbe es den Straftatbestand der Missachtung der Gerichte, dann wäre er mit diesem Gesetz verwirklicht. Es verhöhnt die Strafjustiz. Es missachtet Normenklarheit und Normenwahrheit. Es räumt die Einschränkungen beiseite, die der Bundesgerichtshof aufgestellt hat für die Straftaten der Bildung von und der Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen. Der keiner Organisation angehörende Einzelne wird jetzt für genauso gefährlich gehalten wie das Mitglied einer Terrorgruppe. Damit löst sich jede Strafrechtssystematik auf. Das neue Strafrecht verfolgt einen angeblichen Täter, ohne dass es eine Straftat gibt.

Sicherheitsgesetze in Deutschland Ausbildungslager für Terroristen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Karikatur

SZ-Zeichnung: Hanitzsch

Weltwirtschaftsforum 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vorwurf ohne Substanz

Gesine Schwan sagt, ihr großes Thema sei die Demokratie. Irgendein Thema muss sie ja ihrer Kandidatur als Bundespräsidentin voranstellen, einer Kandidatur, deren ursprüngliche Gründe persönlicher Ehrgeiz Schwans und vereinzelte Bitten aus der SPD waren, sowie die Unfähigkeit der Parteispitze, sie zu verhindern. Mit der Botschaft, die Demokratie sei bedroht, ist Gesine Schwan seither durch die Lande gezogen, ohne dass der Widerhall allzu groß gewesen wäre. Also ist die Kandidatin nun einen Schritt weiter gegangen und hat einen Mitverantwortlichen für die von ihr diagnostizierte Gefährdung der Demokratie benannt: Horst Köhler.

Sie wolle dem Bundespräsidenten nichts vorwerfen, hat Schwan gesagt - und ihm dann einen sehr harten Vorwurf gemacht: Köhler nehme die Erosion der Demokratie in Kauf. Einen Beleg bleibt sie schuldig. Weil das Wort das einzige politische Instrument eines Bundespräsidenten ist, kann sich diese Kritik nur auf Köhlers Reden beziehen, wie ja auch Schwans Vergleich mit Richard von Weizsäcker nahelegt. Auch dann bleibt ihr Vorwurf unberechtigt, weil sie die begrenzten rhetorischen Fähigkeiten des Bundespräsidenten einfach gleichsetzt mit einem bewussten politischen Fehlverhalten, für das es keinen Hinweis gibt.

Schwan will einen Wahlkampf provozieren, den ihr Köhler bislang zu Recht verweigert hat. Sie möchte die öffentliche Stimmung drehen, weil Köhler hohe Beliebtheitswerte hat. Sie ignoriert dabei, dass der Bundespräsident nicht vom Volk gewählt wird. Und sie bedient sich einer Form der politischen Auseinandersetzung, die sie bei anderen ganz bestimmt als Ursache für die Erosion der Demokratie beklagen würde. nif

Schwan, Gesine Köhler, Horst: Angriffe Wahl des Bundespräsidenten 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wolfgang Schaupensteiner Ex-Staatsanwalt, Kämpfer gegen Korruption bei der Bahn

Als Oberstaatsanwalt verkörperte Wolfgang Schaupensteiner die Korruptionsbekämpfung in Deutschland. Kein anderer Strafverfolger hat mehr über den Kampf gegen die Korruption geredet, geschrieben und ihn auch praktiziert als der langjährige Leiter der entsprechenden Frankfurter Schwerpunktabteilung. "Gelegenheit macht Diebe. Fehlende Kontrolle macht korrupt. Nur Vorbeugung kann Korruption verhindern", waren seine Standardsätze. Berühmt wurden seine "zehn Gebote" zur Korruptionsbekämpfung, die er gemeinsam mit der Gießener Professorin Britta Bannenberg verfasste.

Im Juli 2007 hatte Schaupensteiner den Posten des Anti-Korruptions-Beauftragten bei der Deutschen Bahn übernommen, danach war es etwas still um ihn geworden. Die Daten-Affäre des Staatsunternehmens hat den inzwischen 60-Jährigen wieder ins Scheinwerferlicht zurückgebracht. Nun predigt er in die ihm entgegengereckten Mikrophone, dass der Abgleich von Massendaten ein "Routinevorgang" sei und dass er die öffentliche Reaktion auf den "angeblichen Daten-Skandal so absurd" finde "wie die Frage, warum atmest du?" Er fragt: "Warum will jetzt keiner verstehen, dass Korruption ein Kontrolldelikt ist?"

Schaupensteiner hatte schon als Staatsanwalt häufig Warum-Fragen. Warum gibt es noch kein bundesweites Korruptionsregister? Zeitlich begrenzt könnten Unternehmen, die gesudelt haben, von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. (Die Lobby hat ein solches Register verhindert.) Warum sei die Abgeordneten-Bestechung "ein typisches Placebo-Gesetz geblieben?" (Weil viele Abgeordnete gerade im Wahlkampf den Besuch des Strafverfolgers fürchten wie den des Leibhaftigen.) Mit seinen Betrachtungen zur Lage hat er jedenfalls keine Anhänger in der Politik gewonnen.

"Einmal Jäger, immer Jäger" ist einer seiner Sprüche, aber er wurde auch manchmal selbst gejagt. In der Welt der Ministerialen gab es Neider, die ihm durch Mimik seine Berühmtheit vorwarfen, er hatte echte Gegner, weil er verlangte, bei der Korruptionsbekämpfung "zu agieren statt zu lavieren". In Hessen scheiterte er krachend mit der Forderung nach einer einzigen Schwerpunktabteilung im Lande für Korruptionsbekämpfung - die er natürlich selbst leiten wollte. 1987 war er der erste Sonderdezernent zur Korruptionsbekämpfung in Frankfurt gewesen, 1993 Abteilungsleiter geworden. Mehr konnte er mit seiner Prominenz nicht werden. Er hat dann mit dem hessischen Justizministerium über eine "Freistellung mit Rückkehrmöglichkeit" verhandelt, und nur weil die Bahn ein Staatsunternehmen ist, lag sein Wechsel im öffentlichen Interesse.

Der beurlaubte Beamte hat auch erfahren, dass es in der angeblich so freien Wirtschaft viele Flure mit vielen wichtigen Entscheidungsträgern gibt. Die Abstimmungsprozesse seien "gewaltig", klagt er. Als Chef der Korruptionsermittler in Frankfurt brauchte er nur zu rufen, und alle verstanden ihn auf dem einzigen Flur. Jetzt arbeitet er noch viel mehr als früher und verirrt sich doch gelegentlich im Berliner Labyrinth der Bahn. Der Jäger nennt sich jetzt "präventiver Berater". Hans Leyendecker

Foto: AP

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Die Entlarvung des 20. Juli

Man darf Stauffenberg nicht als einen Helden unserer heutigen Zeit sehen - eine Antwort auf die Thesen des Historikers Richard J. Evans / Von Karl Heinz Bohrer

Es ist das Verdienst des von dem englischen Historiker Richard J. Evans verfertigten Urteils (SZ Magazin vom 23.1.2009) über den Attentäter Stauffenberg als neudeutschen "Helden", dass es das oberflächliche Interesse vom Film und seiner Erzählung hin zur moralischen und politischen Substanz diesen Heldenbilds gelenkt hat. Wenn er dabei darauf aus gewesen sein sollte, einer deutschen Leserschaft Aufklärung zu verabreichen, dann liegt ein doppelter Irrtum vor: Zum einen besteht diese Aufklärung von Evans aus historischen Halbwahrheiten, widersprüchlichen Thesen und ehrabschneiderischen Allusionen, die Person Stauffenbergs betreffend. Zum anderen aber sind diese Verzerrungen selbst mehr oder weniger die in der bundesrepublikanischen Intelligenz geläufige Ansicht zum 20. Juli und zu den hauptsächlich adligen Verschwörern aus alten preußischen Familien. Insofern trug Evans Eulen nach Athen. Wenn man die aktuelle Rezeption und Beurteilung des Attentats, das Hitler im Juli 1944 töten sollte, angemessen verstehen will, muss man den versetzten Horizont von 2009 im Blick haben.

Bevor ich also auf die Schwächen von Evans' Thesen eingehe, zunächst ein kurzer Blick auf den aktuellen deutschen Horizont: Man hat sich daran zu erinnern, dass bis Ende der fünfziger Jahre und länger die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Attentat und seine führenden Männer geradezu stigmatisierte (Die Zeit vom 8. 1. 2009). Die Motive hierfür, das deutet Evans Text mit Recht an, speisten sich einerseits aus Überbleibseln der nazistischen Mentalität der Bevölkerungsmehrheit, zum anderen aber aus dem Ressentiment einer neuen kleinbürgerlichen Mittelschicht, die mit Charakteren wie Stauffenberg, Tresckow, Kleist, Schulenburg, Bussche, Trott zu Solz, aber auch Moltke und Yorck von Wartenburg kulturell, politisch und psychologisch nichts mehr anfangen konnte. Dass auch eine Reihe bürgerlicher Männer von Rang und Namen - der bekannteste ist wohl Dietrich Bonhoeffer - als frühe Widerständler ihr Leben verloren, hat dieses Vergessen nicht verhindern können.

Wenn die Namen der unmittelbaren Attentatsverschwörer überhaupt noch in der Erinnerung des BRD-Publikums auftauchten, dann eher - den offiziösen Gedenktagen zum Trotz - als wohlfeile Sündenböcke: Konnten diese Mitglieder einer elitären Oberschicht, indem sie verschwanden, zugleich doch den Makel der nazistischen Vergangenheit abtragen helfen, der sich die westdeutsche Mehrheit zunächst nicht gestellt hat (bis dann die Kinder und Enkelkinder eben dieser Nazis nicht müde wurden, mit ihren "antifaschistischen" Selbstdarstellungen das intellektuelle Klima zu verkitschen).

Insofern kommt Evans' Entstellung des 20. Juli und seiner zentralen Gestalt, die sich in seinem wichtigen Buch "The Third Reich At War" (2008) nicht findet, diesem Milieu nunmehr nachdrücklich entgegen, ja, man gewinnt bei der Lektüre seines Textes zuweilen den Eindruck, er sei ihm aus diesem zum Teil akademisch-westdeutschen Kreisen souffliert worden. Die zweifelhafte Darstellung hat zwei Brennpunkte: 1. die Problematisierung des "moralischen Motivs Stauffenbergs", 2. die Problematisierung seines Vorbildcharakters. Beim ersten Aspekt beginnt schon der innere Widerspruch und die unklare Identifizierung.

Wenn denn, wie Evans zu Eingang noch sachlich vermerkt, Stauffenberg durch ein emphatisches Moralverständnis markiert war, sei es aristokratischer Ehrenkodex, katholische Lehre oder romantische Dichtung, dann galt dies auch für seine anfängliche Affinität zum Nationalsozialismus, den Stauffenberg als "geistige Erneuerung" missdeutete. Wenn denn "wahre Spiritualität" am Anfang von Stauffenbergs politischem Impuls lag - neben Stefan Georges mystischem Nationalismus war es vor allem wohl die Sprache Hölderlins, sein Wort vom "Vaterland", dem "heiligen Herz der Völker", sein Bekenntnis "das Heilige sei mein Wort" -, dann wäre konsequenterweise von dieser Spiritualität aus, die bei Hölderlin noch pietistisch gefärbt war, Stauffenbergs moralischer roter Faden zu verfolgen. Es überzeugt deshalb nicht, Stauffenbergs anfängliches patriotisches Engagement im Krieg zum moralischen Defizit zu erklären.

Um die Motive Stauffenbergs zu verunklären, operiert Evans gern mit Jahreszahlen. "Erst 1941" seien Stauffenberg Zweifel gekommen. Zweifel wegen was? Wegen der Erfolgsmöglichkeit des nationalsozialistischen Kriegs oder wegen der nationalsozialistischen Verbrechen in Russland? Evans' Rhetorik wird an dieser Stelle opak: Wenn er zugeben muss, dass es eindeutig die nationalsozialistischen Massentötungen waren, die Stauffenberg, den spirituell motivierten Soldaten, zum Attentäter machten, warum dann die Relativierung dieses Motivs durch den Hinweis auf Stauffenbergs Einsicht in die militärische Zwecklosigkeit dieser Verbrechen, eine Einsicht, die auch hohen SS-Führern gekommen ist?

Evans verfolgt ohnehin die Taktik, mit Hinweis auf den angeblich späten Zeitpunkt zum Attentatsentschluss dessen moralische Motivation in Zweifel zu ziehen, als ob die Angst vor dem absehbar verlorengehenden Krieg und nicht Sittlichkeit die Verschwörer motiviert hätte. So behauptet Evans im zitierten, ansonsten durchweg fairer historischer Beobachtung geschuldeten Buch "The Third Reich At War", Fritz Dietlof von der Schulenburg, einer von Stauffenbergs frühen politischen Mentoren, habe erst 1943, nach der Katastrophe von Stalingrad, den Entschluss zum Attentat gefasst. In Anbetracht der Tatsache, dass es unstrittige Dokumente dafür gibt, dass Schulenburg schon 1939, vor Ausbruch des Krieges, in konspirativem Gespräch die Notwendigkeit einer Beseitigung Hitlers erwog - nicht zuletzt wegen der offensichtlich gewordenen Kriminalität des Regimes -, ist Evans' Verschiebung des Zeitpunkts ehrabschneiderisch verleumderisch zu nennen, impliziert sie doch, dass es ausschließlich militärische Gesichtspunkte waren, die Schulenburg gegen Hitler motivierten. Diese im Buch nur angedeutete Sicht wird jetzt zur Methode. Dass Schulenburg wie Stauffenberg auch in Kategorien eines uns heute fremd gewordenen preußisch-deutschen Patriotismus dachten, scheint Evans eindimensionale historische Phantasie zu überanstrengen.

Unklar in der Argumentation, spielt Evans nunmehr immer wieder die "militärische" gegen die "moralische" Motivation aus bis hin zum Punkt des glatten Selbstwiderspruchs: Während er einerseits Stauffenbergs Haltung "eher von militärischen als von moralischen Überlegungen geprägt" sieht, spricht er im nächsten Absatz von dessen "moralischer Überzeugung", um diese gleichzeitig den anderen Verschwörern abzusprechen, obwohl ihm die Haltung jüngerer Putschoffiziere, etwa von dem Bussche oder Ewald Heinrich von Kleist, bekannt sein müsste, wie sein Werk über das Dritte Reich im Krieg durchaus belegt. Diese falsche Identifizierung erreicht schließlich ihren grotesken letzten Schritt, wenn Stauffenbergs Hinrichtung und Hitlers Selbstmord im Begriff des Selbstopfers gleichgeschaltet werden: Stauffenberg beabsichtigte nicht sich zu opfern, sondern vor allem als Täter für weiteres zu überleben. Und Hitler opferte mitnichten sich selbst, sondern expressis verbis das deutsche Volk.

Ist die Beurteilung des moralischen Motivs nicht ohne Infamie, so die politische Folgerung nahezu begriffsstutzig. Dass Evans preußischen Offizieren vorwirft, deutsche Nationalisten zu sein, die wie Hitler eine Revision des Vertrags von Versailles beabsichtigten und eine europäische Machtpolitik des Reichs guthießen, ist allein schon reichlich naiv, aber auch scheinheilig.

Wenn englische Politiker und Intellektuelle der dreißiger Jahre Adam von Trott zu Solz' Versuchen, über seine alten Oxforder Beziehungen Gehör für ein geheimes Deutschland des Widerstands zu finden, misstrauten, weil sie darin ihnen unakzeptabel erscheinende patriotische Motive entdeckten und ihn deshalb allzu gern als Nazi verstanden und als solchen bei seinen amerikanischen Gesprächspartnern verdächtigten, dann hatte das seine Gründe. Dieses Misstrauen entsprang einem intellektuell begründeten Argument, wie die Briefe von Trotts Oxforder Freunden Sheila Grant Duff und Isaiah Berlin zeigen.

Evans kann diese verständliche Unsicherheit über Trotts "hegelianische" Mentalität aber nicht für sich in Anspruch nehmen. Seine für einen Historiker unserer Epoche erstaunliches Argument, die Verschwörer seien, weil keine Demokraten, untauglich für jede Ehrung, lässt seine Argumentation jenseits der falschen Tatsachenbehauptungen in die Blindheit jener politischen Correctness entgleisen, die man auch aus einschlägigen Kategorien deutscher Zeithistoriker kennt, die deutsche Geschichte unter dem sozialdemokratisierten Gesichtswinkel schreiben.

Es ist gar nicht strittig, dass Stauffenbergs erster geistiger Einfluss, Stefan George, ähnlich wie Ernst Jünger und Gottfried Benn, präfaschistische Phantasmen bereithielt. Und es ist ebenso wenig strittig, dass des jungen Stauffenberg Reverenz an das mittelalterliche "Reich" reaktionär war - ähnlich wie einige Ideen von Novalis in "Die Christenheit oder Europa". Aber was folgt daraus? Es folgt daraus, dass beider politisches Denken zweifellos kein Modell ist für die sozialstaatlich organisierten europäischen Gesellschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese sozusagen tautologische Einsicht nun aber dahingehend zu fundamentalisieren, dass man den Verschwörern jede moralische und kulturelle Relevanz abspricht, ist ein intellektuell beschränktes Vorgehen, ist geistige Bigotterie. So wie Georges, Jüngers und Benns präfaschistische Phantasien zugleich bedeutende Symbole der Moderne enthielten und also nicht einfach dem Verdikt des politischen Moralismus anheimfallen, so repräsentierten Stauffenberg und seine Freunde - in anderer Weise als der Kreis um die ebenso "idealistischen" Geschwister Scholl - eine Höhe des sittlichen, charakterlichen und kulturellen Formats, von dem heutige Politiker und andere Mitglieder der Funktionselite nur träumen können.

Evans hätte der Hinweis des durchaus kritischen Hans Mommsen tiefer zu denken geben müssen, dass man über die heute anachronistisch wirkenden politischen Ideen nicht nur Stauffenbergs und Schulenburgs, sondern auch des Kreisauer Kreises nicht die Noblesse und Charakterstärke dieser zweifellos nachdrücklich konservativen Männer vergessen dürfe. Evans hat sie nicht bloß vergessen, sondern offenbar gar nicht erkannt.

Es ist nun, wie englische Kritiker des Films "Operation Walküre" zu Recht gesagt haben, dessen spezifisches Defizit, dass der geistige Hintergrund der Verschwörer nicht einmal angedeutet wird. Das hätte allerdings eine neue "Suche nach der verlorenen Zeit" verlangt, die in einem solchen Filmgenre nicht möglich ist. Die Dokumente für eine solch verlorengegangene geistig-moralische Zone existieren ja, man braucht bloß die partiell zugänglichen Briefe von Trott zu Solz oder Schulenburg, die Tagebücher einer Marie "Missie" Wassiltschikow oder Ursula von Kardoffs zu lesen, um Evans summierende gänzliche Aberkennung als Tendenzschrift zu erkennen.

Es handelt sich, abgesehen von der verwischten Ordnung der historischen Fakten, vor allem um einen zentralen Denkfehler: Den Glauben, man könne ein geistiges und kulturelles Paradigma verneinen, wenn man - durchaus zu Recht - die politische Vorbildfunktion in Frage stellen kann. Wie philiströs und geschichtsphilosophisch naiv zu meinen, der Nutzen von heute sei das einzige Kriterium der damaligen Tat. Aber um diesen Nutzen geht es ja gar nicht!

Die Gefahr, dass in der Vorstellung eines historisch ungebildeten Kinopublikums die Figur des amerikanischen Schauspielers mit der seines deutschen Originals zur Figur eines vorbildlich heroischen Helden von heute zusammenschmelze, ist kein ausreichender Grund, Stauffenberg seine historische Würde zu nehmen. Vielmehr lässt sich Bertolt Brechts Satz: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat" auf den Sommer 1944 münzen: Diese Tat war notwendig, weil es ein unglückliches, aus der Gemeinschaft der Völker sich verabschiedendes Land war. In diesem Sinne waren es Helden. Aber schließlich auch in einem aktuellen Sinne, den Evans völlig übersieht. Es waren Leute mit enormer Zivilcourage, das heißt mit der Fähigkeit und Bereitschaft zur absoluten Isolation. Das ist eine sehr aktuelle Tugend. Man möchte Vergleichbares von den politisch korrekten, relativ konformistischen Nachkommen der Nazis in einer postheroischen Gesellschaft gar nicht fordern. Es steht die Wette, dass dieser politisch korrekte Konformismus damals das Attentat lauthals verdammt hätte. Deshalb sollten seine Vertreter - und ebenso ihr neuer Stichwortgeber Evans - aufhören, aus dem vergangenen historischen Ereignis die Funken eines aktuellen moralischen Triumphalismus gegen dessen Autoren zu schlagen. Die Deutschen als Nation politisch verantwortlich zu machen, ist vernünftig und geboten. Aber ihren politischen Minderheiten die Ehre zu geben, die ihnen gebührt, dazu gehört offenbar mehr an Finesse als jene, über die Professor Evans verfügt. Das zu erkennen ist um so nützlicher, als das angedeutete deutsche Milieu Evans' Entlarvung des 20. Juli ihm lammfromm vom Mund ablesen wird.

Der Autor ist Professor der Literaturwissenschaft an der Stanford University und Herausgeber der Monatszeitschrift "Merkur".

Stauffenberg dachte in Kategorien eines heute fremden preußisch-deutschen Patriotismus

Sie sollten aufhören, daraus die Funken eines moralischen Triumphalismus zu schlagen

Verschmilzt die Figur des amerikanischen Schauspielers mit dem Helden Stauffenberg? Abb.: AKG/Gebhardt

Stauffenberg, Claus Schenk Graf von Evans, Richard J. Attentat auf Hitler 20. Juli 1944 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ich habe erst angefangen zu leben, als ich bekannt war"

Die frühere Erotikdarstellerin Dolly Buster über die Vermarktung ihres Namens, die erste Lebenskrise und den Preis eines totalen Exhibitionismus

Eine Galerie in Garmisch stellt zur Zeit Bilder von Katja-Nora Baumberger aus. Die 39-Jährige hat vor mehr als zehn Jahren aufgehört, in Pornofilmen zu agieren. Unter ihrem Künstlernamen Dolly Buster, den 98 Prozent der Deutschen kennen, vermarktet sie jetzt selbstgemachte Bilder, Bücher und Filme. Frau Baumberger sagt, sie wollte schon immer unbedingt bekannt werden. Ein Gespräch über ein Leben als öffentliche Person.

SZ: Dolly Buster, reden wir über Geld. Sie verkaufen nun Ihre eigenen Bilder. Verdient man da gut?

Dolly Buster: Es geht nicht unbedingt ums Verdienen. Ich habe gerade 14 Bilder in Duisburg ausgestellt, davon wurden sieben verkauft. Das ist ein Kompliment.

SZ: Klar geht es ums Verkaufen, sonst würden Sie die Bilder ja verschenken.

Buster: Natürlich. Ich bin in allem, was ich mache, ein bisschen kommerziell.

SZ: Ihr Mann hat mal gesagt, Sie seien die perfekte Geschäftsfrau ...

Buster: Er dagegen ist kein guter Geschäftsmann. Er ist zu human.

SZ: Ihr Mann, der Pornoproduzent Dino Baumberger, ist zu human?

Buster: In der Erotikbranche gibt es immer mal jemanden, der nicht zahlt und mit Ausreden ankommt, etwa ein Sex-Shop-Besitzer. Mein Mann lässt sich oft hinhalten. Ich nicht. Ich bin knallhart.

SZ: Warum fingen Sie an zu malen?

Buster: Ich ging schon als Jugendliche in Prag zur Kunstschule, aber nur kurz. Ich ließ es wieder, weil mir der Weg mit der Straßenbahn zu weit war. Wir zogen dann als Aussiedler nach Deutschland, da musste ich erst mal Deutsch lernen. Erst als ich 1997 aufhörte, als Pornodarstellerin vor der Kamera zu arbeiten, fing ich wieder mit dem Malen an.

SZ: Waren Sie nochmal auf der Kunstschule?

Buster: F reunde stellten mir Arnim Tölke von der Kunstakademie Düsseldorf vor. Ich besuchte ihn im Unterricht, das war spannend. Was die da gemacht haben, hat mich aber wenig beeindruckt. Mal ehrlich: Was ich da für Müll gesehen habe! Das Malen als solches ist da Nebensache. Da sitzt ein Nacktmodell, das ein bisschen mehr Sport vertragen könnte, und dann wird geredet, albern gelacht und Wodka getrunken. Da standen sicher 200 leere Wodka-Flaschen rum.

SZ: Was verlangen Sie für ein Bild?

Buster: Die liegen verhältnismäßig günstig, bis 3500 Euro.

SZ: Vor zwei Jahren verlangten Sie bis zu 10 000 Euro. Ist Ihr Marktwert gesunken?

Buster: Es macht ja keinen Spaß, wenn die Bilder das kosten, was ein Kunsthistoriker schätzt, aber kein Mensch sich das leisten kann.

SZ: Sie waren Deutschlands bekannteste Pornodarstellerin, laut Umfragen kannten einmal 98 Prozent der Deutschen Ihren Namen. Vor zehn Jahren haben Sie aufgehört, bei Pornos mitzuspielen. Wie lange können Sie Ihre Bilder, Bücher und so weiter über Ihren Namen vermarkten?

Buster: Ich hätte mit meinem Namen besser aufpassen müssen. Viele dieser Pseudo-Kunst-Galeristen boykottieren mich, wo sie können.

SZ: Wegen Ihrer Pornos?

Buster: Vor allem, weil ich so viel in Boulevard-Medien vorkomme. Ich lasse mich immer noch zu oft zu Sachen überreden, die ich eigentlich blöd finde. Das Dschungelcamp von RTL etwa. Im Nachhinein denke ich: Hätte ich das mal nicht gemacht, da macht man sich nur lächerlich.

SZ: Aber es sichert Ihre Bekanntheit, von der Sie leben, oder?

Buster: Das ist der Grund, warum man es macht. Ich will nicht vergessen werden. Aber es ist ein schmaler Grat. Durch den Boulevard geht man auch unter.

SZ: Haben die Deutschen Sie schon vergessen?

Buster: Nein. Wenn ich Autogrammstunden gebe, kommen viele junge Leute. Manchmal kommen kleine süße Mädchen bei mir zu Hause vorbei und werfen selbstgemalte Bildchen ein.

SZ: Woher kennen bitte kleine, süße Mädchen Dolly Buster?

Buster: Aus den Boulevardshows im Fernsehen. Manche verwechseln mich mit Pamela Anderson.

SZ: Mal ehrlich: Ihre Bilder und Bücher und die Pornofilme, die Sie nun als Produzentin hinter der Kamera herstellen, verkaufen sich doch vor allem über Ihre Bekanntheit.

Buster: Dafür habe ich hart gearbeitet. Aber was nutzt mir 98 Prozent Bekanntheitsgrad in einem kaputten Land? Es würde 20 Prozent reichen, wenn die alle DVDs kaufen würden.

SZ: Sie finden Deutschland kaputt?

Buster: Absolut. Ich bin so viel damit beschäftigt, Inkassobüros zu beauftragen. Es ist ernüchternd: Ich leiste, arbeite, habe Ideen - und nichts geht voran. Vor zehn Jahren lief das anders. Da konnte man richtig etwas schaffen, da lebte ich mit einem beständigen Glücksgefühl.

SZ: Steckt die Erotikbranche in einer Krise?

Buster: Absolut. Das Internet ist schuld. Die Amerikaner finden es wahnsinnig toll, sich beim Sex zu filmen und die Aufnahmen kostenlos ins Netz zu stellen. Das ist für uns eine Katastrophe.

SZ: Sie verkaufen weniger DVDs?

Buster: In Deutschland sind wir Marktführer. Aber es geht uns schlechter. Wir haben zwölf Angestellte, mussten uns gerade von ein paar trennen. Es gibt einen Preisverfall bei DVDs. Mit dem Euro wurde alles teurer, nur Pornos nicht.

SZ: Versuchen Sie, in andere Länder zu expandieren?

Buster: Ich versuche seit Jahren, in den russischen Markt reinzukommen. Es läuft einfach nicht. Die reichen Russen lassen sich professionelle Teams kommen und von denen beim Sex aufnehmen. Diese Filme schauen sie dann an.

SZ: Wenn alles so schwierig ist, könnten Sie nicht einfach aufhören zu arbeiten, nach all Ihren Filmen?

Buster: Dazu habe ich nicht genug verdient.

SZ: Sie werden dieses Jahr 40. Haben Sie Angst vor einer Krise?

Buster: Die habe ich schon hinter mir. Das vergangene Jahr war schlimm für mich. Meine beiden Hunde sind gestorben, das hat mich sehr getroffen. Das hat meine Einstellung zu allem verändert. Es war eine unglückliche Geschichte: Ein Privatsender drehte eine Reportage über mich, bei mir zu Hause. Dann habe ich erfahren, dass einer meiner Hunde Leberkrebs hat. Er starb am letzten Drehtag. (Sie beginnt zu weinen.) Eigentlich hätte ich sagen sollen: Ihr hört jetzt auf zu drehen. Aber ich wollte so professionell sein, wie ich mein ganzes Leben war.

SZ: Und dann?

Buster: Zwei Monate später wurde der Beitrag gesendet. Vorher lief immer wieder die Vorschau: Ich heulend neben dem toten Hund. Dadurch bekam ich ein richtiges Trauma. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich zugelassen habe, dass der tote Hund gedreht wurde. Zwei Wochen später starb mein zweiter Hund. Das war einfach zu viel. Ich hatte Albträume, in denen ich selbst tot umfalle und dabei gefilmt werde. Mein Mann musste mich manchmal in die Notaufnahme fahren, weil ich wirklich dachte, ich sterbe. Ich habe ein dreiviertel Jahr Pause gemacht. Nicht gemalt, keine Auftritte, nichts.

SZ: Alles, weil Sie um jeden Preis professionell sein wollten?

Buster: Ich habe mich immer für unverwundbar gehalten. Ich war eine perfekte Geschäftsfrau. Alles hat geklappt, was ich mir vorgenommen habe. Letztes Jahr war das erste Mal, dass mir eine Sache so aus der Hand geglitten ist. In meinen Augen war ich plötzlich ein Loser.

SZ: Hat Ihre Krise Sie verändert?

Buster: Ja, früher habe ich professionell gelebt, war immer diszipliniert. Vor Aufnahmen habe ich tagelang keine Süßigkeiten gegessen. Ich hatte höchste Verachtung für alle Leute, die nicht so diszipliniert sind. Erst jetzt begreife ich: Die anderen leben einfach ihr Leben, die genießen es, ganz normal. Das lerne ich jetzt.

SZ: Wollten Sie mal Kinder haben?

Buster: Das hätte nicht in mein Leben gepasst. Erst nach der Krise letztes Jahr habe ich den Gedanken zugelassen. Aber jetzt werde ich 40. Ich finde, das ist zu alt, um Mutter zu werden.

SZ: Sie bereuen, dass Sie die Homestory mit dem Sender gemacht haben. Bereuen Sie andere Dinge in Ihrem Leben?

Buster: Nein, es gibt nichts zu bereuen. Es gab immer nur den einen Weg. Ich wollte bekannt werden.

SZ: Sie wollten um jeden Preis bekannt werden?

Buster: Transvestiten wissen oft schon als kleine Kinder, dass sie transsexuell sind. Und ich wusste als kleines Mädchen, dass ich ein Star werden will. Das war, was wichtig war. Dafür habe ich alles getan. Das war der einzige Weg. Schon als Kind fand ich es indiskutabel, so zu sein wie die anderen. Mit zehn habe ich mir die blonde Perücke meiner Tante geliehen und mich geschminkt.

SZ: Deshalb haben Sie Pornofilme gedreht? Um anders zu sein?

Buster: Es war für mich ein Tabubruch, eine Rebellion gegen die Normalität. Als mich ein Fotograf ansprach, ob ich Fotos machen wollte, habe ich sofort zugesagt. Mir war klar, dass es um Nacktfotos ging. Das Ganze war für mich der Schritt aus dem Nichts. Ich habe erst angefangen zu leben, als ich bekannt war.

SZ: Dachten Sie nie, dass Sie dafür einen hohen Preis bezahlen? Dass andere die Kontrolle über Sie haben, zum Beispiel Zuschauer, die Sie beim Sex beglotzen?

Buster: Nein. Ich habe nur gemacht, was ich wollte. An das Publikum habe ich nicht gedacht. Das ist für mich eine uninteressante Frage.

SZ: Pornos suggerieren doch eine ständige Verfügbarkeit der Frau und verleiten manche Männer dazu, alle Frauen für verfügbar zu halten.

Buster: Ich bitte Sie. Diese Diskussion ist 15 Jahre alt und völlig überholt.

SZ: Sie haben immer viel von sich gezeigt und erzählt. Haben Sie noch ein Geheimnis vor der Öffentlichkeit?

Buster: Eigentlich nicht.

SZ: Und das ist in Ordnung?

Buster (zögert): Es ist in Ordnung. Man kann es auch anders machen, aber ich habe diesen Weg gewählt.

SZ: Wie reagieren Menschen auf Sie?

Buster: Die meisten verhalten sich zivilisiert. Was mich nervt, sind Jugendliche, 18-, 19-Jährige, die vor meinem Haus auftauchen. Da habe ich schon öfter die Polizei gerufen. Die Jugendlichen kommen angefahren, zum Spaß, vor einer Hochzeit oder so, mit einem Großraumtaxi. Taxifahrer bringen sie her, die ganz stolz sind zu wissen, wo ich wohne. Manchmal stehen die schon da, wenn ich nach Hause komme. Die sagen teilweise schlimme Sachen. Die stellen sich vor mein Haus und brüllen: ,,Komm raus, du Sau, wir wollen Dich ficken!''

SZ: Jugendliche belästigen Sie vor Ihrem Haus?

Buster: Einmal kamen welche aus dem Ort, die haben geschrien "Komm raus" und gegen die Tür gehauen. Mein Mann war nicht da, ich hatte Angst. Da habe ich die Polizei gerufen. Die haben gesagt: Wir haben ein Problem, wir haben eine Geiselnahmeübung. Da können wir nicht kommen.

Interview: Alexander Hagelüken und Hannah Wilhelm

"Mit dem Euro wurde

alles teurer,

nur Erotikfilme nicht"

"Manchmal brüllen

Jugendliche vor meinem Haus: Komm raus, du Sau!"

Dolly Buster: Oben in einem Selbstporträt, unten als lebende Person. Mit Hut. Foto: dpa

Buster, Dolly: Lebensstil Buster, Dolly: Interviews Buster, Dolly: Einkommen Prominente Personen SZ-Serie Reden wir über Geld SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Marine ehrt Vater Bush

Washington - Die US-Marine hat am Samstag den Flugzeugträger "George H.W. Bush" in Dienst gestellt. An der Feier beteiligten sich der frühere US-Präsident und Namensgeber des Schiffs, George Bush senior, sowie sein Sohn, der scheidende Präsident George W. Bush. Der Flugzeugträger hat ein 330 Meter langes Deck und 5500 Mann Besatzung. George Bush senior war im Zweiten Weltkrieg hochdekorierter Torpedoflieger, der seine Einsätze gegen die japanischen Streitkräfte im Pazifik vom Flugzeugträger "USS San Jacinto" flog. dpa

Der frühere Präsident George Bush senior (Mitte) schaut sich den nach ihm benannten Flugzeugträger an. AP

Washington

- Die US-Marine hat am Samstag den Flugzeugträger "George H.W. Bush" in Dienst gestellt. An der Feier beteiligten sich der frühere US-Präsident und Namensgeber des Schiffs, George Bush senior, sowie sein Sohn, der scheidende Präsident George W. Bush. Der Flugzeugträger hat ein 330 Meter langes Deck und 5500 Mann Besatzung. George Bush senior war im Zweiten Weltkrieg hochdekorierter Torpedoflieger, der seine Einsätze gegen die japanischen Streitkräfte im Pazifik vom Flugzeugträger "USS San Jacinto" flog.

Bush, George sen.: Würdigungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Wir haben keine Zeit zu verlieren"

Merkel: Konjunkturpaket rasch umsetzen / Koalition vertagt Mindestlohn für Leiharbeit

Berlin - Die Bundesregierung hat am Dienstag das zweite Konjunkturpaket beschlossen. Mit dem Mix aus Investitionen, Förderprogrammen sowie niedrigeren Steuern und Abgaben will sie sich gegen die tiefste Rezession der Nachkriegszeit stemmen. Dazu plant sie, in den Jahren 2009 und 2010 insgesamt 50 Milliarden Euro einzusetzen. Im Anschluss an die Kabinettssitzung rief Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Parlament und Länderkammer auf, das Vorhaben schnell und zügig umzusetzen. "Wir haben keine Zeit zu verlieren", betonte sie. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) verteidigte den sprunghaften Anstieg der Neuverschuldung des Bundes, die zur Finanzierung des Pakets notwendig ist. Zugleich wandte er sich entschieden gegen Spekulationen, wonach die Regierung die Hilfen noch einmal ausweiten will. "Ich für meinen Teil möchte nicht über ein weiteres Konjunkturpaket reden. Und ich hoffe, ich kann auch alle anderen bremsen."

Die Koalition konnte sich hingegen nicht auf die Einführung eines Mindestlohns für Zeitarbeiter verständigen. Die Union hatte Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) vorgeworfen, sich nicht an die getroffenen Absprachen gehalten zu haben. "Mit uns wird es eine Lohnuntergrenze bei der Zeitarbeit nur unter Wahrung der Tarifvertragsautonomie geben", sagte der Geschäftsführer der Unionsfraktion, Norbert Röttgen (CDU). Scholz ließ der Darstellung widersprechen. Alle Vorschläge des Arbeitsministers entsprächen den Vereinbarungen, die die Spitzenpolitiker der Koalition zuvor getroffen hätten. Der Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche ist zwar kein Teil des Konjunkturpakets und hängt auch inhaltlich nicht damit zusammen. Die Vereinbarung war jedoch durch Kompromisse zustande gekommen, welche die SPD in den Verhandlungen über die Wirtschaftshilfen eingegangen war. Beides sollte deshalb zusammen im Kabinett beschlossen und noch am Freitag in den Bundestag eingebracht werden. Kommende Woche will die Regierung nun erneut über die Zeitarbeit verhandeln. Hier eine Übersicht über zentrale Punkte des Konjunkturpakets:

Kosten : Der Bund will alleine 2009 rund 36,8 Milliarden Euro neue Schulden machen. Das sind 18,3 Milliarden Euro mehr als bisher geplant. Steinbrück bleibt damit formal unter dem Schuldenrekord von 40 Milliarden Euro, den sein Vorgänger Theo Waigel (CSU) hält. Dies gelingt ihm aber nur, weil die Regierung gleichzeitig einen vom Haushalt getrennten Fonds auflegt, in den nochmal 16,9 Milliarden Euro fließen, die der Bund ebenfalls noch im laufendem Jahr am Kapitalmarkt aufnimmt. Regelmäßige Tilgungen sind vorgesehen.

Steuersenkungen: Beschäftigte und mittelständische Unternehmer sollen weniger Steuern zahlen. In einem ersten Schritt will die Koalition daher rückwirkend zum 1. Januar den Freibetrag um 170 auf 7834 Euro anheben und den von dieser Grenze an geltenden Steuersatz von 15 auf 14 Prozent senken. Zugleich sollen die Steuersätze erst bei höheren Einkommen einsetzen. 2010 soll der Freibetrag dann um weitere 170 Euro steigen und der Tarifverlauf erneut zu Gunsten der Steuerzahler geändert werden.

Krankenkassenbeiträge: Mitte des Jahres sollen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung um 0,6 Punkte auf dann 14,9 Prozent sinken. Dazu schießt der Staat dem Gesundheitsfonds 2009 etwa 3,2 Milliarden Euro zu, im kommenden Jahr sollen es 6,3 Milliarden Euro sein. Ein Durchschnittsverdiener wird dadurch ebenso wie sein Arbeitgeber um etwa sieben Euro im Monat entlastet.

Kinderzuschuss: Jedes Kind erhält noch im laufenden Jahr 100 Euro. Gutverdiener profitieren nur kurzfristig, denn der Betrag wird 2010 im Rahmen der Einkommensteuererklärung vollständig mit dem Kinderfreibetrag verrechnet.

Abwrackprämie: Wer sich noch 2009 einen umweltfreundlichen Neu- oder Jahreswagen kauft und dafür sein mindestens neun Jahre altes Auto verschrottet, kann mit einem Zuschuss des Staats in Höhe von 2500 Euro rechnen. Dies stimuliert bereits jetzt die Nachfrage.

Bauinvestitionen: Insgesamt zehn Milliarden Euro will die Koalition den Ländern und Kommunen noch im laufenden Jahr zur Verfügung stellen. Etwa 65 Prozent stehen zur Verfügung, um zum Beispiel Schulen und Kindergärten zu sanieren. Mit den restlichen Bundesmitteln sollen Krankenhäuser modernisiert und Straßen ausgebaut werden. Die Länder sollen die Mittel eigentlich aufstocken. In einigen gibt es jedoch Widerstand gegen diese Beteiligung.

Straßen: Weitere zwei Milliarden Euro sollen pro Jahr in den Ausbau von Bundesstraßen oder Schienen und Wasserstraßen fließen. Damit die Investitionen schnell wirken können, will die Bundesregierung die Regeln deutlich vereinfachen, nach denen die Verwaltungen ihre Aufträge erteilen.

Kurzarbeit: Die Bundesagentur für Arbeit (BA) erstattet den Arbeitgebern in diesem und im nächsten Jahr bei Kurzarbeit die Sozialversicherungsbeiträge zur Hälfte. Dies war bislang nicht der Fall. In den Zeiten, in denen sich ein Kurzarbeiter weiterqualifiziert, kommt die BA auf Antrag sogar für die vollen Sozialversicherungsbeiträge auf. Zudem soll es für die Unternehmen einfacher werden, Kurzarbeit zu beantragen. Die Voraussetzungen werden gelockert.

Arbeitslosenversicherung: Diese wird vorerst auf 2,8 Prozent festgeschrieben, um Beitragserhöhungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Zukunft zu vermeiden. Sollte die BA mehr Mittel benötigen, springt der Bund ein, um einen Anstieg der Beiträge zu verhindern.

Sicherung von Beschäftigung: 2009 und 2010 sollen zusätzlich rund 1,2 Milliarden Euro in die Qualifizierung von Arbeitslosen gesteckt werden. Zudem will der Arbeitsminister zusätzlich 5000 feste Stellen in den Agenturen oder Jobcentern schaffen, um Arbeitslose besser vermitteln zu können. Umschulungen zu Alten- oder Krankenpflegern sollen im laufenden und im nächsten Jahr komplett von der Bundesagentur finanziert werden. (Seite 4) Guido Bohsem

"Ich für meinen Teil möchte nicht über ein weiteres Konjunkturpaket reden"

Finanzminister Peer Steinbrück

Kanzlerin Angela Merkel fordert, das Konjunkturpaket ohne Zeitverzug umzusetzen. Nur Zeitarbeiter müssen weiter auf Mindestlohn warten. Foto: Uwe Schmid

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Angst vor einem starken Mann

Zentralstaat oder Land mit autonomen Regionen: Die Provinzwahlen könnten über die Zukunft des Irak entscheiden

Von Rudolph Chimelli

Paris - Bei den irakischen Provinzwahlen am Samstag geht es um mehr als um die Zusammensetzung regionaler Vertretungen. Als erste landesweite Abstimmung, seit Premierminister Nuri al-Maliki vor zweieinhalb Jahren sein Amt übernahm, sind diese Wahlen zugleich ein Gradmesser für dessen Ansehen. Ferner wird sie als Auftakt zu den Parlamentswahlen verstanden, die Ende des Jahres stattfinden sollen. In 14 der 18 irakischen Provinzen wird gewählt. Die drei Provinzen der autonomen kurdischen Region nehmen nicht teil, und der Wahltermin für die Provinz Kirkuk (Arabisch: Tamim), um deren Zugehörigkeit Kurden und Araber streiten, wird erst später festgesetzt werden.

Insgesamt bewerben sich 14 400 Kandidaten um nur 440 Sitze in den Provinzräten. Von den 28 Millionen Einwohnern des Irak haben sich 14,4 Millionen als Wähler registrieren lassen. Vor vier Jahren, als im ganzen Land gewählt wurde, waren 15,5 Millionen eingeschrieben. Dies lässt eine höhere Wahlbeteiligung erwarten, noch mehr indessen die Tatsache, dass Kandidaten sich zum ersten Mal mit Namen präsentieren müssen und sich auf Plakaten meistens auch mit Bild zeigen. Frühere Abstimmungen erfolgten anonym mit Listen, weshalb sich die Wähler überwiegend nach Religion oder Stammeszugehörigkeit richteten. Unter amerikanischem Druck hat die Regierung eine 25-Prozent-Quote für Frauen festgesetzt.

Indirekt geht es bei den Provinzwahlen auch um die Frage, ob der Irak sich in Zukunft als zentralistisch regierter Staat entwickelt. Die größte schiitische Partei des Landes, der Oberste Islamische Rat SCI, hofft auf eine Mehrheit in den neun südlichen Provinzen, in denen sich der Großteil des Erdöls befindet. Der SCI strebt danach, aus dem Süden eine autonome Region nach dem Beispiel von Kurdistan zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der SCI vor allem die heilige Stadt Nadschaf beherrschen, die als Hauptstadt der autonomen Region vorgesehen ist. Dort residiert auch der angesehenste geistliche Würdenträger des Irak, Ayatollah Ali al-Sistani.

Suheir al-Hakim, ein SCI-Führer aus der Gelehrtenfamilie der Hakim, die seit Generationen die Stadt beherrscht, erklärt die Autonomie zu "unserem Recht nach Buchstaben und Geist der Verfassung". Einer autonomen Region, die durch Referendum geschaffen werden kann, stehen laut irakischer Verfassung erhebliche Rechte zu. Sie kann ihre eigene Verfassung erlassen, Bundesgesetze ändern, falls sie den örtlichen Gepflogenheiten widersprechen, die innere Sicherheit wahrnehmen und "Vertretungen" im Ausland errichten. Nach Ansicht der Gegner dieses Projekts würde das Entstehen einer zweiten autonomen Region neben Kurdistan de facto das Ende des Irak durch Spaltung nach konfessionellen und ethnischen Linien bedeuten und wachsendem iranischen Einfluss die Tür öffnen.

Die Amerikaner stellt dieses Problem vor ein Dilemma. Sie haben seit Jahren aus Gründen der Stabilität den SCI unterstützt, obgleich dieser enge Beziehungen zur Regierung in Teheran unterhält. Ferner sind die Vereinigten Staaten stets für Dezentralisierung und mehr Vollmachten für die Provinzen eingetreten. Damit soll nach ihren Vorstellungen verhindert werden, dass ein neuer starker Mann nach dem Vorbild des gestürzten Diktators Saddam Hussein die Zentralmacht übernimmt. Der neue Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Joe Biden, hatte vor zwei Jahren in der New York Times die Bildung dreier autonomer Regionen für Kurden, Sunniten und Schiiten vorgeschlagen, um die damaligen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Irakern zu beenden. Bidens Idee schlug sich in einer Senats-Entschließung nieder, die für den Präsidenten freilich nicht bindend war.

Premierminister Nuri al-Maliki, der gleichfalls die Unterstützung der USA genießt, ist ein entschiedener Gegner der Dezentralisierung. "Ohne einen starken Staat sind wir erledigt", sagte er vergangene Woche. Er ist dafür nicht nur vom SIC heftig kritisiert worden, sondern auch vom Präsidenten der kurdischen Region, Massud Barsani. Ohne Maliki beim Namen zu nennen, sagte Barsani vor Studenten: "Wir wissen, da ist jemand, der die Diktatur im Irak über die Kontrolle von Armee und Polizei wieder herstellen will."

In der Tat beobachten viele Iraker mit Missbehagen, dass Maliki seine persönliche Macht ausdehnt. Er hat militärische Befehlshaber abgelöst und zwei Sonder-Verbände gegründet, die nur ihm verantwortlich sind, nicht dem Verteidigungs- oder dem Innenministerium. Der eine, die Bagdad-Brigade, soll 3000 Mann umfassen. Sie hält auch Gefangene in der Grünen Zone fest, dem geschützten Regierungs-Areal im Zentrum der Hauptstadt, darunter Muntasser al-Saidi, der den scheidenden amerikanischen Präsidenten George W. Bush mit seinen Schuhen bewarf. Der andere Verband ist eine Antiterrorismus-Einheit, deren Größe und Aufgaben ungeklärt sind. Außerdem sucht Maliki die Unterstützung von Stammesführern - was auch Saddam Hussein tat.

Die Logik von Malikis Vorgehen liegt darin, dass die Kurden, der SCI und der oppositionelle Schiiten-Führer Muktada al-Sadr ihre bewaffneten Milizen haben, die Dawa-Partei, welcher der Regierungschef angehört, aber nicht. Bisher kontrolliert die Dawa nur eine einzige Provinz im Süden, Kerbela. Wie der SCI hofft auch die Dawa auf Ausweitung ihres Einflusses durch die Wahlen. Die Bewegung von Sadr, die sich vor allem auf die Masse der Armen in der schiitischen Volksgruppe stützt, ist nicht als Partei zugelassen. Ihre Kandidaten treten deshalb als "Unabhängige" auf. Im vorletzten Jahr hatte Sadr seine Minister aus der Regierung Malikis wegen dessen Zusammenarbeit mit den Amerikanern abgezogen. Selbst relativ geringe Wahlerfolge könnten die Sadristen wieder zu unentbehrlichen Koalitionspartnern für andere schiitische Kräfte machen. Unter den Sunniten ist die Irakisch-Islamische Partei die stärkste Gruppe.

Umfragen zeigen, dass den Irakern die Versorgung mit Wasser und Strom, die nach wie vor katastrophal ist, wichtiger ist als die Politik. Dieses Problem hat sogar die Sicherheit als Hauptsorge verdrängt. Nur 16 Prozent der Befragten zeigten sich landesweit zufrieden mit der Elektrizitätsversorgung. Um Zwischenfälle am Wahltag zu verhindern, werden Landgrenzen und Flughäfen geschlossen. In größeren Städten wird auch der Autoverkehr unterbunden.

Unter amerikanischem Druck hat die Regierung eine Quote für Frauen festgesetzt

Den Irakern ist die Versorgung mit Wasser und Strom wichtiger als die Sicherheitslage

Die Kandidaten bei den Wahlen im Irak müssen sich erstmals mit Namen präsentieren und zeigen sich auf Plakaten oft auch mit Bild - wie hier in Basra. Getty

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Blackwater ohne Lizenz

Bagdad/Straßburg - Die USA müssen eine neue Sicherheitsfirma zum Schutz ihrer Diplomaten im Irak engagieren. Die irakischen Behörden haben dem bisher damit betrauten Unternehmen Blackwater die Lizenz entzogen, wie ein Sprecher des Innenministeriums bestätigte. Die Entscheidung sei der US-Botschaft übermittelt worden. Blackwater war im September 2007 in Verruf geraten: Wachleuten der privaten Sicherheitsfirma wird vorgeworfen, grundlos 17 Iraker erschossen zu haben. Blackwater erklärte dagegen, die Wachleute seien angegriffen worden und hätten in Notwehr gehandelt. Fünf ehemalige Mitarbeiter der Firma sind in den USA wegen Totschlags angeklagt. Mit der wachsenden Bedeutung privater Sicherheitsfirmen befasste sich am Donnerstag der Europarat in Straßburg. Der SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg zählt weltweit über tausend solcher privaten Militär-Agenturen. Die größten dieser Sicherheitsfirmen seien Aktiengesellschaften. Jeder Konflikt bedeute für sie mehr Profit, so Wodarg. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats forderte die 47 Mitgliedsstaaten auf, ihr staatliches Gewaltmonopol zu verteidigen und Einsätze von Sicherheitsfirmen scharf zu kontrollieren. AP/cob

Bagdad/Straßburg

- Die USA müssen eine neue Sicherheitsfirma zum Schutz ihrer Diplomaten im Irak engagieren. Die irakischen Behörden haben dem bisher damit betrauten Unternehmen Blackwater die Lizenz entzogen, wie ein Sprecher des Innenministeriums bestätigte. Die Entscheidung sei der US-Botschaft übermittelt worden. Blackwater war im September 2007 in Verruf geraten: Wachleuten der privaten Sicherheitsfirma wird vorgeworfen, grundlos 17 Iraker erschossen zu haben. Blackwater erklärte dagegen, die Wachleute seien angegriffen worden und hätten in Notwehr gehandelt. Fünf ehemalige Mitarbeiter der Firma sind in den USA wegen Totschlags angeklagt. Mit der wachsenden Bedeutung privater Sicherheitsfirmen befasste sich am Donnerstag der Europarat in Straßburg. Der SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg zählt weltweit über tausend solcher privaten Militär-Agenturen. Die größten dieser Sicherheitsfirmen seien Aktiengesellschaften. Jeder Konflikt bedeute für sie mehr Profit, so Wodarg. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats forderte die 47 Mitgliedsstaaten auf, ihr staatliches Gewaltmonopol zu verteidigen und Einsätze von Sicherheitsfirmen scharf zu kontrollieren.

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