Der Staat als Investmentbanker

Die Großfusion von Pfizer und Wyeth wirft Fragen an die Politik auf

Von Martin Hesse

Es klingt wie eine Nachricht aus einer anderen Zeit: Für 68 Milliarden Dollar übernimmt der Pharmakonzern Pfizer den Konkurrenten Wyeth. Seit Beginn der Finanzkrise hat es derart große Übernahmen kaum noch gegeben, weil Banken sie nicht mehr finanzieren konnten. Man reibt sich nun erst einmal die Augen, wenn nun ausgezehrte Finanzkonzerne wie die Citigroup Milliarden für eine solche Fusion riskieren. Heikel ist aber vor allem, dass jetzt bei solchen Geschäften der Staat dabei ist.

Im Fall Pfizer ist das Risiko, das die Banken eingehen, relativ gering. Bei den Pharma-Multis fließt das Geld selbst in schlechten Zeiten so reichlich, dass Zinsen und Tilgung ihnen keine Probleme bereiten dürften. Die Fusion ist der defensive Schritt zweier Konzerne, die kaum noch wachsen. Sie verbünden sich, um im Abschwung die Kosten drücken und Marktmacht gewinnen zu können. Die Rezession wird weitere Zusammenschlüsse dieser Art hervorbringen.

Welche Rolle aber werden Regierungen dabei spielen? An fast allen großen Banken, die Großübernahmen finanzieren, ist der Staat beteiligt. Das birgt Gefahren: Erstens könnten die Regierungen der Versuchung erliegen, über ihre Banken Industriepolitik zu betreiben - finanziert werden nur Fusionen, die im nationalen Interesse zu liegen scheinen. Zweitens steht der Steuerzahler bei jedem Übernahmekredit mit im Risiko. Wie etwa hätte sich der Bund verhalten, wäre er bereits Großaktionär gewesen, als die Commerzbank mit anderen die waghalsige Übernahme von Continental durch Schaeffler finanzierte? Auf solche Fragen sollten die Regierungen schnell grundsätzliche Antworten finden. Denn sie werden sich noch häufig stellen.

Pfizer Inc.: Fusion Pfizer Inc.: Firmenübernahme Wyeth Pharmaceuticals: Fusion Wyeth Pharmaceuticals: Firmenübernahme Investmentbanken SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Bilanz des Klopapiers

Wie der Verbrauch von Alltagsprodukten das Klima belastet

Die Finanzkrise hat ein Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt, über das noch vor ein paar Monaten genauso heftig diskutiert wurde wie heute über die Abwrackprämie und das Konjunkturpaket: den Klimawandel. Wie sehr jeder Einzelne nicht nur davon betroffen, sondern auch daran beteiligt ist, zeigt das Pilotprojekt "Product Carbon Footprints" (PCF), dessen Ergebnisse am Montag in Berlin vorgestellt wurden.

Zehn Unternehmen haben dabei unter Trägerschaft von WWF, Öko-Institut und Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung untersucht, wie hoch die CO2-Bilanz von einzelnen Konsumgütern aus ihrem Sortiment ist. Um den "CO2-Fußabdruck" zu berechnen, haben die Teilnehmer in bis zu 68 Seiten langen Einzelstudien den Lebenszyklus der 15 Produkte verfolgt. Sie haben nicht nur berücksichtigt, wie das Produkt hergestellt und transportiert wurde, sondern auch was beim Gewinnen der Rohstoffe passiert ist, wie der Kunde zum Einkaufen gefahren ist, wie er das Produkt genutzt hat und wie es dann entsorgt wurde (www.pcf-projekt.de).

Die untersuchten Konsumgüter und ihre CO2-Fußabdrücke waren so unterschiedlich wie die beteiligten Unternehmen: Tchibo ließ eine Tasse Kaffee auf den Beitrag zum Treibhauseffekt testen (50 bis 101 Gramm), Rewe eine Packung Erdbeeren aus Spanien (442 Gramm), der dm-Drogeriemarkt Toilettenpapier (2,5 Kilogramm pro Zehnerpackung), die Telekom einen Telefonanschluss (über die Jahre 144 Kilogramm) und Tengelmann eine Sechserpackung Freiland-Bioeier (1178 Gramm). Die Bilanz hängt von jeweils unterschiedlichen Faktoren ab: Beim Kaffee schlägt vor allem zu Buche, wie der Konsument sein Heißgetränk aufbrüht - die CO2-Bilanz kann sich dadurch verdoppeln. Beim Klopapier dominiert die Produktion das Resultat, bei den Eiern entstehen fast zwei Drittel des Kohlendioxids in der Haltung der Hühner, bei den Erdbeeren ist hingegen der Transport ein großer Faktor.

Doch gerade beim Transport sind laut Josef Lüneburg-Wolthaus von Rewe die Möglichkeiten begrenzt, CO2 einzusparen. Die Transportlogistik sei nahezu ausgereizt. Kein Lastwagen fahre leer nach Spanien zurück, gleichzeitig käme ein Transport mit der Bahn wegen der langen Fahrtdauer nicht in Betracht. Wer im Winter deswegen lieber zu Äpfeln greifen möchte, sollte bedenken, dass deren Lagerung ebenfalls klimaschädlich ist.

Allein vier Tonnen CO2 pro Person entfallen in Deutschland zurzeit auf den privaten Verbrauch; das macht 40 Prozent der gesamten Emissionen aus. Viele Experten halten langfristig nur einen international einheitlichen Ausstoß von zwei Tonnen pro Kopf für vertretbar. Der Konsument hatte bislang aber kaum eine Chance, sich über die Klimarelevanz seiner Einkäufe zu informieren. Deswegen hat das Pilotprojekt jetzt vorhandene Methoden zur CO2-Ermittlung getestet. Den persönlichen "CO2-Fußabdruck" zu kennen, sei laut Christian Hochfeld vom Öko-Institut zwar keine "Allzweckwaffe gegen den Klimawandel", aber zumindest ein Schritt, um diesen zu begrenzen. LAURA WEISSMÜLLER

REWE Handelsgruppe Tchibo GmbH dm-drogerie markt GmbH & Co KG Tengelmann-Gruppe Kohlendioxid Konsumgüterindustrie in Deutschland ab 2006 Konsumgüter SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Polarstern" darf das Meer düngen

Die Wissenschaftler an Bord des deutschen Forschungsschiffes Polarstern dürfen ein umstrittenes Groß-Experiment nun doch durchführen. Vor zwei Wochen war das Vorhaben, im Südpolarmeer Eisensulfat auszustreuen, nach dem Protest von Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) gestoppt worden. Der rund vier Millionen Euro teure Versuch sollte zeigen, wie viel Treibhausgas eine von dem Eisen angeregte Algenblüte binden kann. Gabriel fürchtete, das Projekt stehe im Widerspruch zu Umweltbeschlüssen der UN. Doch vier eigens eingeholte Gutachten erklärten das Projekt nun für einwandfrei. Es stehe "im Einklang mit dem Völkerrecht" und sei "unter Umweltgesichtspunkten unbedenklich", sagt Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU). Das Experiment werde nun beginnen. Die Gutachter von internationalen Instituten loben das Projekt sogar: Es sei "mit großer Sorgfalt geplant". Das Bild zeigt die

Polarstern bei einer früheren Versorgungsfahrt in die Antarktis. boja / AFP

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Das fliegende Labor

DLR lässt Businessjet zum Forschungsflugzeug umrüsten

Die Nase verrät die Verwandtschaft. Wo andere Düsenflugzeuge unter den Cockpit-Fenstern eine wohlgerundete Rumpfspitze haben, ragt dem neuen Forschungsjet des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) ein rot-weiß-gestreifter Stachel aus dem Blech. Genau an der gleichen Stelle saß schon beim Vorgängermodell der Sensormast, der vorbeiströmende Luft vermisst. Ansonsten hat der neue Flieger zwei Flügel wie der alte, zwei Triebwerke und einen blauen Streifen auf dem weiß-lackierten Rumpf. Damit endet die Ähnlichkeit aber auch, denn der neue Jet kann höher, schneller und weiter fliegen als der alte.

Seit dem vergangenen Wochenende steht das wichtigste deutsche Forschungsflugzeug auf dem Flughafen der DLR im bayerischen Oberpfaffenhofen, wo es seine Basis haben wird. Die Besitzer, die das Flugzeug mit der Max-Planck-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und etlichen Instituten betreiben, sind reichlich stolz auf den Neuzugang. Halo nennen sie das Flugzeug als Abkürzung für "High Altitude and Long Range Research Aircraft" (Forschungsflugzeug für große Höhen und Reichweiten). Es ist ein umgebauter Businessjet des Typs Gulfstream G550. Er kann mehr als 15 Kilometer hoch fliegen, hat eine Reichweite von bis zu 11 000 Kilometern und eine Nutzlast von drei Tonnen. Für das Vorgänger-Flugzeug, die seit 1976 betriebene Dassault Falcon 20E, war bei knapp 13 Kilometern Höhe, einer Tonne Ladung und 3700 Kilometern Flugstrecke Schluss.

Mit der Halo möchten die Forscher weit oben in der Atmosphäre Klima- und Wetterphänomene untersuchen. An der Grenze zwischen Tropo- und Stratosphäre kann die Maschine Spurengase aufnehmen und analysieren oder die Ozonschicht vermessen. Unter den Rumpf soll ein Wolkenradar geschnallt werden, das Größe und Konzentration von Wassertröpfchen registriert. Aus dem Inneren werden Laserstrahlen in die Atmosphäre geschossen; die Reflektionen der Lichtblitze liefern zum Beispiel Auskunft über Aerosolpartikel. "Mit dem neuen Atmosphären-Forschungsflugzeug können wir wichtige Lücken im Verständnis der Atmosphäre, insbesondere über die Bildung von Wolken und den Abbau von Treibhausgasen, schließen", sagt der Leiter des DLR-Instituts für Physik der Atmosphäre, Ulrich Schumann.

Das Flugzeug hat eine lange Bauphase hinter sich. Es wurde bereits 2006, damals noch im matt-grünen Werksanstrich, vom Hersteller in Savannah/Georgia nach Oberbayern geflogen. Eine Spezialfirma hat dort mehr als 20 zusätzliche Öffnungen in den Rumpf geschnitten - vom Loch für ein Drei-Millimeter-Probenröhrchen bis zu vier 50-Zentimeter-Fenstern oben und unten im Rumpf, durch die Laserstrahlen gerichtet werden sollen. Die unteren Scheiben werden bei der Landung von Schiebetüren gegen aufgewirbelte Steinchen geschützt.

Dann flog die Maschine für den Innenausbau zurück nach Amerika und ist nun in glänzendem Lack zurückgekehrt. In den kommenden Monaten werden die Regale für Messgeräte in den Rumpf eingepasst. Sie müssen auch dann stabil bleiben, wenn bei Flugmanövern die neunfache Erdbeschleunigung auftritt. Außerdem testen die DLR-Experten die Anbauten, die unter den Rumpf und unter die Tragflächen gehängt werden. Zum ersten Flug im Dienst der Wissenschaft soll die rund 70 Millionen Euro teure Halo in diesem Sommer starten. CHRISTOPHER SCHRADER

Das Forschungsflugzeug "Halo" vor dem Flug nach Bayern Foto: ddp

Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) Klimaforschung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Türken zweifeln an Studie zur Integration

"Einwanderer in allen Berufszweigen erfolgreich" / Dagegen nennt die Regierungsbeauftragte Böhmer die Zahlen dramatisch

Von Roland Preuß

München - Eine Studie des Berlin-Instituts, wonach Türkischstämmige in Deutschland besonders schlecht integriert sind, hat eine neue Kontroverse über die Eingliederungspolitik entfacht. "Deutschland kann das Potenzial, das in den Zuwanderern liegt, auf gar keinen Fall brachliegen lassen", sagte Kanzlerin Angela Merkel am Montag in Berlin. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Staatsministerin Maria Böhmer (CDU), nannte die Zahlen "dramatisch". Viele türkische Zuwanderer hätten nur sehr geringe Bildungsabschlüsse mitgebracht, deshalb "können die Kinder auch nicht entsprechend gefördert werden", sagte Böhmer. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU im Bundestag, Hartmut Koschyk, sagte, die Studie zeige, dass es vor allem auf den Integrationswillen der Zuwanderer selbst ankomme. "Vor allem die Eltern vieler türkischer Familien müssen deutlich mehr für die Integration tun." Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet (CDU) sagte dagegen, die meisten türkischstämmigen Eltern wollten durchaus einen Bildungserfolg ihrer Kinder, es fehle jedoch an einer "Aufsteiger-Mentalität".

Der Islamwissenschaftler Bekir Alboga bezweifelte die Aussagefähigkeit der Studie. Das sei eine Behauptung, die wissenschaftlich nicht belegt sei, sagte der Dialogbeauftragte des Moscheen-Dachverbandes Ditib. In Deutschland lebten viele erfolgreiche türkische oder türkischstämmige Menschen, sagte Alboga der Neuen Osnabrücker Zeitung. Die Studie zeige eher die gesellschaftlichen Probleme einer Unterschicht auf, sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat.

Der Studie des Berlin-Instituts zufolge schneiden Menschen mit türkischen Wurzeln, die zweitgrößte Zuwanderer-Gruppe in Deutschland, bei Bildung, Arbeitsmarkt und der Abhängigkeit von Sozialleistungen besonders schlecht ab. Während unter den Türkischstämmigen im erwerbsfähigen Alter 30 Prozent keinen Bildungsabschluss hätten, seien es bei Zuwanderern aus dem Fernen Osten lediglich 18 Prozent. Auch Einwanderern aus Afrika und dem Nahen Osten sowie ihren Nachkommen bescheinigen die Berliner Forscher vergleichsweise schlechte Werte (siehe Tabelle).

Einen Schulabschluss, der zum Besuch einer Hochschule berechtigt, erreichten nur 14 Prozent der Türkischstämmigen, während der Schnitt unter den Deutschen ohne Zuwanderungsgeschichte bei 38 Prozent liege. Eine der Ursachen sei, dass die meisten der etwa 2,8 Millionen Türkischstämmigen in Deutschland ursprünglich als Gastarbeiter mit geringer Qualifikation gekommen seien. Die jüngere Generation lasse "wenig Bildungsmotivation erkennen".

Überraschend gut schneiden Aussiedler aus Osteuropa und Russland ab. Sie stellen mit etwa vier Millionen Menschen die größte Zuwanderer-Gruppe. Sie bringen vergleichsweise hohe Bildungsabschlüsse mit, seien selten arbeitslos (15 Prozent Erwerbslosenquote), die in Deutschland geborenen Kinder integrierten sich bereits deutlich besser als ihre Eltern. Die Untersuchung beruht auf Daten des sogenannten Mikrozensus, einer Erhebung unter 800 000 Bürgern im Jahr 2005.

Auffällig ist, dass die Zahlen teilweise im Widerspruch stehen zu bisherigen Untersuchungen. Eine Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) vom April 2007 war zu dem Ergebnis gekommen, dass sich Aussiedler besonders schwertun, eine Stelle zu finden. Die Arbeitslosigkeit unter diesen Zuwanderern sei sogar noch höher als die unter den übrigen Zuwanderern, so das IAB.

Eine aktuelle Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes für die Süddeutsche Zeitung ergibt deutlich niedrigere Werte für türkischstämmige Schulabbrecher. Demnach stehen nicht 30, sondern nur etwa zehn Prozent dieser Gruppe ohne Schulabschluss da.

Der Berliner Studie zufolge gibt es starke regionale Unterschiede beim Integrationserfolg. Hessen, Hamburg und Ostdeutschland haben vergleichsweise viele erfolgreiche Migranten, das Saarland besonders wenige. Beim Vergleich der Großstädte sind München und Bonn vorne, Nürnberg und Duisburg auf den letzten Plätzen. Erfolgreich sind vor allem Regionen mit einer starken Wirtschaftskraft wie im Fall Hessen und München, oder der Zuzug von besonders qualifizierten Zuwanderern. Im Ruhrgebiet und im Saarland dagegen ließ die Krise der Kohle- und Stahlindustrie viele ungelernte Arbeiter aus dem Ausland bis heute ohne Job zurück. (Seite 4)

Ausländer in Deutschland Integration von Türken in Deutschland Aussiedler in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Goldrichtig

Das Edelmetall ist die beste Versicherung gegen Wirtschaftskrisen

Von Catherine Hoffmann

Gold ist die Währung der Angst - und das Zittern ist groß. Die Weltwirtschaft hat sich krankgemeldet, besorgt beugen sich die Chefärzte Ben Bernanke und Barack Obama über den von Fieberschüben geschüttelten Patienten. Ob ihm noch ein paar hundert Milliarden Dollar mehr das Leben retten? Notenbankchef und Präsident wollen der US-Wirtschaft Depression und Deflation ersparen - um jeden Preis, auch den der Inflation. Nullzinspolitik, bedingungsloses Aufblähen der Geldmenge und gigantische Verschuldungsexzesse sollen den Kollaps von Banken und Wirtschaft abwenden.

Anleger haben das Spiel längst durchschaut - und Gold zu ihrem Anlagefavoriten gemacht. Das Kalkül: Wenn es gut geht und das Schlimmste - die Depression - abgewendet werden kann, dann steigt der Goldpreis Richtung 1000 Dollar. Wenn es schlecht läuft und sich die Finanzkrise nicht eindämmen lässt, verteuert sich Gold um ein Vielfaches. Ob in Zeiten deflatorischen Drucks oder künftiger Inflationierung, das Metall ist als Wertbewahrungsmittel gefragt.

Besonders begehrt sind deshalb nicht Aktien von Goldminen, Zertifikate und andere Papiere, die sich nach dem Goldpreis richten, sondern echtes Gold zum Anfassen, gelagert im Tresor einer Schweizer Bank. Sparer, die schon früh der lockeren Geldpolitik der US-Notenbank misstrauten, freuen sich jetzt. Wer seine erste Unze vor zehn Jahren kaufte, zahlte 260 Dollar, heute kostet sie 900 Dollar. Seit 1999 ist der Goldpreis um 250 Prozent gestiegen, der Deutsche Aktienindex dagegen um 20 Prozent gefallen. Goldrichtig lag, wer damals Aktien verkauft und damit das Edelmetall gekauft hat. Noch immer ist Gold die beste Versicherung gegen Wirtschaftskrisen.

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So schreitet das Pferd

Der Gang von Vierbeinern wird sogar von Fachleuten oft falsch dargestellt - Hollywood macht es besser

Eigentlich ist seit mehr als 120 Jahren bekannt, wie Pferde, Hunde, Katzen und die meisten anderen Vierbeiner gehen. Der britische Fotograf Eadweard Muybridge zeigte in den 1880er Jahren mit Serienaufnahmen von Tieren, in welcher Reihenfolge sie ihre Hufe oder Pfoten auf den Boden setzen. Trotzdem werden die Bewegungsabläufe bis heute erschreckend oft falsch dargestellt - sogar in anatomischen Fachbüchern und in naturhistorischen Museen (Current Biology, online). Der ungarische Wissenschaftler Gábor Horváth sammelte mit seinem Team 307 Darstellungen von gehenden Tieren und überprüfte sie auf ihre Korrektheit. Dabei stellte sich heraus, dass 41,1 Prozent in naturhistorischen Museen falsch waren, 63,6 Prozent in Anatomiebüchern und 50 Prozent bei Kinderspielzeug. Eine Ausnahme waren Hollywoodfilme wie "Der Herr der Ringe" oder "Jurassic Park", in denen sich die computeranimierten Vierbeiner alle richtig fortbewegten. Die Abbildung oben zeigt, in welcher Reihenfolge ein schnell schreitendes Pferd die Hufe aufsetzt. Die meisten Vierbeiner machen es genauso, weil der Körper bei dieser Art der Fortbewegung am stabilsten ist. Unterschiede gibt es vor allem in der Geschwindigkeit, in der die einzelnen Sequenzen ablaufen. Allerdings lassen manche Tiere Phase D und Phase H weg. Bei Vierbeinern, die sich sehr langsam bewegen, fehlen die Sequenzen B, D, F und H. tiba

Pferde SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spuren frühen Unglücks

Nach einer schweren Kindheit ist das Immunsystem auch Jahre später noch geschwächt

Manche Verwundungen bleiben ein Leben lang. Wer Opfer einer Misshandlung, eines Unglücks oder einer anderen Traumatisierung geworden ist, hat mit den seelischen Auswirkungen oft Jahrzehnte zu kämpfen - solche Erfahrungen verblassen nie ganz. Von "Geistern aus der Kinderstube", die immer wieder zurückkehren, sprechen Psychologen und meinen damit in erster Linie die langfristigen Folgen für das Gemüt. Schlimme Erfahrungen in der Kindheit hinterlassen jedoch nicht nur Narben in der Seele, sondern auch im Körper. Amerikanische Kinderärzte und Psychologen zeigen nun, dass Stress in der frühen Kindheit dauerhaft das Immunsystem schwächen kann (PNAS, online). "Die emotionale Umgebung wirkt sich sehr lange auf die Gesundheit aus", sagt Seth Pollak von der University of Wisconsin in Madison, der die Studie geleitet hat.

Die Wissenschaftler haben 155 Jugendliche untersucht. Von ihnen hatten 80 eine vergleichsweise glückliche Kindheit ohne Traumatisierung erlebt - ihr Immunsystem war intakt. Jene 34 Jugendlichen in der Studie, die körperlich missbraucht worden waren und daher in emotional instabilen Verhältnissen aufwuchsen, konnten sich hingegen nicht gut gegen Viren, Bakterien und andere Eindringlinge wehren.

Die Mediziner analysierten, wie das Abwehrsystem ihrer Probanden auf Herpes-Simplex-Viren, Typ 1 (HSV-1), reagierte. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung tragen die Erreger von Fieberbläschen und Halsschmerzen in sich, ohne deshalb gleich Beschwerden zu haben. Symptome treten erst auf, wenn das Virus reaktiviert wird - unter Stress, im Krankheitsfall und wenn das Immunsystem auf andere Weise beeinträchtigt ist. Jugendliche, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren, konnten in der aktuellen Studie die Herpes-Viren in ihrem Körper nicht gut in Schach halten. Sie mussten mehr Antikörper gegen die Erreger produzieren und auch andere Abwehrmechanismen ihres Immunsystems waren geschwächt. "Bei der Geburt ist unser Immunsystem noch nicht vollständig ausgeprägt", sagt Christopher Coe von der University of Wisconsin, der an der Studie beteiligt war. "Die Zellen sind zwar vorhanden, aber wie sie sich entwickeln und reguliert werden, ist davon abhängig, wie man aufwächst."

Ein weiteres Ergebnis überraschte die Forscher. Sie untersuchten in ihrer Studie auch die Immunreaktion einer dritten Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die ihre früheste Kindheit in Waisenhäusern in Rumänien zugebracht hatten, aber nun in stabilen Verhältnissen in Adoptivfamilien lebten. Das Abwehrsystem dieser 41 Probanden war ähnlich stark geschwächt wie das der Jugendlichen, die körperlich missbraucht worden waren. "Diese Kinder hatten zwar eine schwierige Kindheit, aber seit mehr als einem Jahrzehnt werden sie geliebt und erleben emotionale Sicherheit", sagt Pollak. "Trotzdem steht ihr Körper so unter Stress, als ob sie missbraucht worden wären."

Eine chronische Stressreaktion des Organismus kann das Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen stark beeinträchtigen. Pollak befürchtet, dass in Zukunft Kinder vermehrt unter solchen Einschränkungen leiden werden. Die weltweite Finanzkrise führe schließlich dazu, dass mehr Kinder in Heimen oder anderen Institutionen betreut werden müssen und weniger adoptiert werden können.

Bindungsforscher und Psychosomatiker wissen schon lange, dass frühkindlicher Missbrauch, emotionale Verwahrlosung, extreme Strenge und häufiger Familienstreit in späteren Jahren zu mehr Depressionen, Angststörungen und anderen psychischen Leiden führen. "Eine unsichere Bindungsentwicklung ist ein großer Risikofaktor", sagt Karl Heinz Brisch, Psychosomatiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In jüngster Zeit zeigen immer mehr Forschungsergebnisse, wie psychisches Leid auch starke körperliche Spuren hinterlässt. "Frühe Erfahrungen bestimmen auch die neuronalen und hormonellen Reaktionen - und zwar ein Leben lang", sagt Michael Meaney, Neurobiologe an der McGill-Universität im kanadischen Montreal. WERNER BARTENS

Immunsystem Vernachlässigung von Kindern Sexualdelikte an Kindern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Unterwegs nach Teheran

Ein Iran-Besuch von Ex-Kanzler Schröder kommt der Bundesregierung nicht sehr gelegen

Wenn ein früherer Bundeskanzler eine Reise tut, dann ist das, ganz formal, seine Privatsache. In Wirklichkeit sieht es ein wenig anders aus, zumindest dann, wenn der Weg nach Teheran führt. Auf Nachfragen zur Iran-Expedition von Gerhard Schröder ließ dessen Büro wissen, die Reise finde in "enger Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt" statt. Ist Schröder vom 19. bis 22. Februar also in diplomatischer Mission unterwegs? "Ich kann nicht bestätigen, dass der Bundeskanzler a.D. im Auftrag von Herrn Steinmeier nach Iran reist. Das ist nicht der Fall", stellte am Montag Ministersprecher Jens Plötner klar. Es sei aber "gängige Praxis", hochrangige Persönlichkeiten zu unterrichten, wenn sie in Staaten wie Iran führen. Gespräche Schröders in Teheran könnten hilfreich sein, "um die Position der Bundesregierung zu unterstreichen".

Die Position der Bundesregierung in Sachen Iran ist bekannt; jene Schröders auch. Deutschland unterstützt die Sanktionen gegen Iran, um das Land zu einem Einlenken im Streit um sein Atomprogramm zu bewegen. "Wer eine politische Lösung will, muss auch Sanktionen mittragen", betonte Plötner. Schröder hingegen hält von Sanktionen nichts. An Iran dürften "keine anderen Maßstäbe" angelegt werden als an andere Staaten, sagte der Ex-Kanzler im Mai 2006.

Nun fällt Schröders Reise ausgerechnet zusammen mit Bemühungen seines früheren Kanzleramtschefs, die bestehenden Sanktionen weiter zu verschärfen. Steinmeier (SPD) dringt innerhalb der Bundesregierung auf diese Linie. Zunächst geht es um die Frage, ob es noch Hermes-Bürgschaften für Geschäfte mit Iran geben soll. Wirtschafts- und Finanzministerium lehnen einen Stopp ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) neigt der Position Steinmeiers zu, hat aber noch nicht entschieden. "Es gibt keine Entscheidung über einen kompletten Stopp", teilte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg mit. Noch jedenfalls. In Kürze sollen Staatssekretäre aus den betroffenen Häusern die Frage nach SZ-Informationen noch einmal erörtern.

Allerdings werden Hermes-Bürgschaften für Geschäfte mit Iran längst restriktiv gehandhabt. Nach Angaben des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) haben Hermes-Bürgschaften für das Iran-Geschäft zuletzt "deutlich an Bedeutung verloren". 2004 betrug demnach das Volumen noch 2,1 Milliarden Euro, 2008 waren es nur noch 250 Millionen Euro. Nicht dazu zu passen scheint der Trend der Exporte in Richtung Iran. 2008 wuchsen sie um etwa zehn Prozent. Das gesamte Handelsvolumen belief sich auf mehr als vier Milliarden Euro.

Zahlen sind das, die vor allem in Israel aufmerksam registriert werden. Aus Jerusalem wird immer wieder der Vorwurf erhoben, europäische Länder wollten sich - Atomgefahr hin oder her - das Geschäft mit Iran nicht verderben. Mehr noch als die Mahnungen aus Israel ist es aber die neue Weltlage nach dem Amtsantritt von US-Präsident Barack Obama, die Steinmeier verschärfte Sanktionen fordern lässt. Der Minister ist überzeugt, dass ein Gesprächsangebot Obamas an die Führung in Teheran nur erfolgreich sein und die immer noch vorhandene Kriegsgefahr bannen kann, wenn sie von einer verschärften Drohkulisse flankiert wird. In Berlin herrscht die Sorge, Obama könnte sich von den Mullahs eine Abfuhr holen und dann unter Druck stehen, militärisch zu antworten. Neue Sanktionen könnten etwa aus der weiteren Schließung einer Bank, zusätzlichen Einreiseverboten und neuen Exportsanktionen bestehen. Steinmeier will bald im Kreis der Sechsergruppe, in der Deutschland, Großbritannien, Frankreich, die USA, Russland und China ihre Iran-Politik koordinieren, für die härtere Linie werben. Daniel Brössler/Thomas Öchsner

Außenminister Steinmeier will die Sanktionen gegenüber Iran weiter verschärfen.

Schröder, Gerhard (SPD): Dienstreisen Deutsche Haltung im Atomkonflikt mit dem Iran Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Iran SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das entfesselte Wort

Spätstil der kurzen Sätze: Franz Müntefering liest ein Buch über Friedrich Nietzsche, um seine politische Rhetorik zu schulen

Münte hat Kante. Zur Zeit der rot-grünen Koalition wurde der SPD-Parteisoldat Franz Müntefering für sein lakonisches, prägnantes Sprechen in kurzen Sätzen berühmt, nach dem Muster Schröder gut, Agenda gut, SPD gut . . . Und seit seinem Wiederantritt als Parteivorsitzender mochte die deutsche Öffentlichkeit den Eindruck gewinnen, dass sich diese Redeweise Münteferings gleichsam aus sich selbst heraus zu einem eigentümlichen, gelegentlich bis zum Kryptischen verdichteten Spätstil entwickelt habe.

Doch trügt der Schein, die Sprache des angeblich letzten politischen Urgesteins speise sich bloß aus "Volksschule Sauerland" (Müntefering) und seiner Lebens- und Redeerfahrung. Müntefering hat sich nicht nur einst als moderner Literat versucht (SZ vom 3. Januar), er ist auch heute ein belesener Mann. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab er gerade wieder Auskunft über seine Lektüre in der ruhigeren Zeit vor seinem zweiten Parteivorsitz (Lesehaltung: "Ich saß mit Pantoffeln zu Hause, Füße auf dem Tisch"). Neben "Romantik" von Rüdiger Safranski - von dem Müntefering ausdrücklich die Ansicht übernimmt, Politik und Romantik gehörten nicht zusammen - und einem Buch über die Geschichte der Mobilität nannte er "ein interessantes Werk über die Rhetorik bei Nietzsche, über die kurzen Sätze und was man mit Pausen und Ausrufezeichen so alles machen kann".

Was hat Müntefering da studiert? Es handelt sich um das vor zwei Jahren erschienene Werk "Das entfesselte Wort" des emeritierten Stuttgarter Germanisten Heinz Schlaffer. Nietzsche, das ist ja nicht gerade ein Held der Arbeiterbewegung, aber bei ihm lässt sich mit Hilfe von Schlaffers Analysen unter anderem lernen, "wie die Sätze zur Spruchform drängen". Solch markante Prägnanz hat Münte ja soeben auch mit der Zuschreibung einer "nationalen sozialen Politik" an die Linkspartei wieder vorgeführt.

Des Weiteren wird in dem Buch an Nietzsches Spätstil demonstriert, mit welchen Mitteln man in schriftlich präparierten Texten die Illusion spontaner Mündlichkeit erzeugt. Das dabei als Beispiel behandelte "Wohlan!" in einem Text Nietzsches erinnert nicht von ungefähr an Münteferings "Glückauf!". Und wie auf dessen Parteitagsrhetorik gemünzt, kann man mit Müntefering über Nietzsche bei Heinz Schlaffer lesen: "Gerade das Schwanken zwischen poetischer Euphorie und prosaischer Ernüchterung ruft einen Zustand leidenschaftlicher Ungeduld hervor."

Der späte Münte lernt also beim späten Nietzsche - und spricht nicht in der Tat auch aus Franz Münteferings Sprache, wie Schlaffer über Nietzsche schreibt, "der tragische und dennoch hoffnungsvolle Heroismus einer unbestimmten, jedenfalls aber gewaltigen Aufgabe"? JOHAN SCHLOEMANN

Müntefering, Franz: Reden Nietzsche, Friedrich: Werk Schlaffer, Heinz: Veröffentlichung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Weltwirtschaftsforum in Davos: Die Elite aus Wirtschaft und Politik sucht Antworten auf Finanz- und Klimakrise

Säkularisierte Loge

Der Verleger Hubert Burda ist schon vor drei Jahrzehnten ins globale Dorf gereist, als kaum jemand das Treffen kannte

Von Ulrich Schäfer

Davos - Er kennt sie alle, und alle kennen ihn. Hubert Burda gleitet durch die Gänge und Säle des Belvedere-Hotels in Davos, als befände er sich auf einer Familienfeier. Es ist Freitagabend, der vierte Tag des Weltwirtschaftsforums. Goldman Sachs, Google, Infosys, Citigroup haben zu Empfängen geladen, und natürlich steht der Verleger aus München (Bunte, Focus) überall auf der Gästeliste. "Great to see you", sagt Howard Stringer, der Chef von Sony. "How are you, my friend?", fragt Peter Sutherland, der Verwaltungsratschef von Goldman Sachs. Im Schlepptau hat Burda seine wichtigsten Mitarbeiter. Eine Viertelstunde bleibt er auf jedem Fest, vielleicht 20 Minuten, schüttelt Hände, grüßt Bekannte, knüpft neue Kontakte, dann zieht er samt Entourage weiter.

"Davos ist ein wahrhaft globales Dorf. Nirgends kann man in so kurzer Zeit so viele Menschen treffen", sagt Burda. Hier trifft er den indischen Finanzminister oder die Gründer des Internet-Videoportals YouTube. Oder es steht plötzlich Josef Ackermann auf dem Gang, der Chef der Deutschen Bank, und beide sprechen über die Rede, die Bill Gates am Abend zuvor beim Weltwirtschaftsforum gehalten hat. Gates' Idee vom kreativen Kapitalismus, von Konzernen, die nicht bloß Gewinn machen, sondern auch den Armen in der Welt helfen und dafür ein Prozent ihrer Forschungsausgaben verwenden, geht Burda nicht aus dem Kopf. Was der Microsoft-Gründer angestoßen hat, will er nach Deutschland tragen. "Wir müssen etwas tun", sagt er. Unbedingt, sagt Ackermann. Man wird telefonieren. Vielleicht schon bald.

Hubert Burda, 67, ist der Davos-Mensch schlechthin. Er ist bereits vor drei Jahrzehnten zum Weltwirtschaftsforum gereist, als dieses Treffen der Mächtigen kaum jemand kannte. Er pflegt hier seine Beziehungen und saugt Ideen auf, fürs Verlagsgeschäft, aber auch darüber hinaus. Er weiß, dass er in den Augen jener, die sich vor der Globalisierung fürchten, auf der falschen Seite steht - als Vertreter eines elitären Treffens, als Teil einer "säkularisierten Loge", wie er es selber nennt. Er selber hat diese Idee der Vernetzung mit in die Graubündener Berge getragen. Das Burda-Fest, bei dem sich die deutsche Wirtschaftselite und amerikanische Spitzenmanager treffen und das stets am Anfang der Davos-Woche steht, war einst die erste Veranstaltung dieser Art beim Weltwirtschaftsforum.

Doch Burda ist auch ein nachdenklicher Mensch. Er hat Kunstgeschichte studiert, einer seiner besten Freunde lehrt marxistische Ökonomie, er hat viel gelesen, sehr viel. Burda spürt, dass sich etwas verändert, draußen in der Welt, aber auch in Davos selber. Er beobachtet eine wachsende Bereitschaft unter Managern, gerade unter "elder businessmen" wie ihm, über die Schattenseiten der Marktwirtschaft nachzudenken.

Rasanter Kapitalismus

"Diejenigen, die von der Globalisierung profitiert haben, merken, wie dieser Prozess immer größer und schneller wird. Und sie erkennen, dass dies zu handfesten Konflikten führen kann, die die Wirtschaft destabilisieren", sagt er. Es sei "etwas in Bewegung geraten", es sei "ein epochaler Wandel" im Gange.

Burda hat erlebt, wie sich das Treffen in den Graubündener Bergen allmählich verändert hat. Wie es anfangs nur ums Geschäft ging und alle unter sich blieben, auch die Verleger, Leute wie Kathie Graham von der Washington Post oder er. Oder wie Rupert Murdoch und Robert Maxwell, die sich vor allem darin einig waren, dass sie uneins sind. In den neunziger Jahren öffnete sich die Welt von Davos allmählich, die Mauern begannen zu bröckeln. Microsoft und das Internet veränderten alles. 1993, im Geburtsjahr von Focus, trafen sich in Davos erstmals die Verleger mit den Telekommunikationskonzernen. Sie hatten sich zunächst noch nicht viel zu sagen. Niemand ahnte damals, wie sehr die Medienindustrie zusammenwachsen und Inhalt und Technik miteinander verschmelzen würden.

Heute sitzen Google, Yahoo oder YouTube mit am Tisch, wenn die Medienmenschen sich in Davos treffen. Die Chefs der jungen Internetunternehmen fragen, wozu man die alten Verlage noch braucht. "Die digitale Revolution hat alles verändert, sie hat uns eine neue Perspektive verschafft", sagt Burda.

Diese Revolution hat den Kapitalismus schneller gemacht, rasanter - und sie hat, wenn man Burda folgt, zugleich dazu geführt, dass die nachdenklichen Stimmen in der Bevölkerung sich leichter Gehör verschaffen können.

Aber auch die Stimmen von Afrika-Aktivist Bono, Börsenkritiker George Soros und Klimaschützer Al Gore. Oder nun auch von Bill Gates. Die Empfänge in Davos, die vielen Feste sieht Burda dabei nicht als Widerspruch hierzu. Im Gegenteil. Die gesellschaftlichen Veranstaltungen haben seiner Ansicht nach einen ähnlichen Effekt wie die Live-Aid-Konzerte, die Bono und Bob Geldorf organisiert haben. Es bedürfe des "Entertainments", der Unterhaltung, um neue Ideen und soziale Kampagnen zu transportieren.

Letztlich, glaubt Burda, geht es bei dem, was die Unternehmen jenseits ihres Geschäfts für die Gesellschaft leisten können, um mehr als klassische Philanthropie. Es gehe darum, den Kapitalismus so zu gestalten, dass er allen nutzt. "Wir sind", sagt Burda, "dabei aber erst die Hälfte des Weges gegangen."

Kämpfer für eine bessere Welt: Der Verleger Hubert Burda und der Rocksänger Bono in Davos. Foto: Reuters

Burda, Hubert: Soziales Engagement Weltwirtschaftsforum Weltwirtschaftsforum 2008 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spaltung im Kern

Siemens beschleunigt den Ausstieg aus dem Atomgeschäft mit der französischen Areva

Von Markus Balser

München - Schon die Einladung signalisierte den Siemens-Aufsichtsräten entscheidende Veränderungen. Einen Tag vor der Hauptversammlung an diesem Dienstag in München trommelte der Konzern am Montag seine Kontrolleure zur Sondersitzung in der Zentrale zusammen. Einziges Thema auf der überschaubaren Agenda: Der bevorstehende Ausstieg aus dem deutsch-französischen Atom-Gemeinschaftsunternehmen Areva NP.

Noch schweigen die Konzernstrategen zu allen Spekulationen. Doch das Ende der holprigen Kooperation gilt intern längst als besiegelt. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung hat der Vorstand den Ausstieg auf einer Sitzung am Freitag bereits besiegelt. Nun gehe es um die Details der Vertragsauflösung, heißt es aus dem Unternehmen. "Und die birgt viele Gefahren", warnt ein Aufsichtsrat.

Siemens-Emissäre sollen nun in Paris vor allem gegen eine Klausel vorgehen, die es den Münchnern für acht Jahre verbietet, Areva Konkurrenz zu machen. Denn Siemens will sich keineswegs aus dem lukrativen Atomgeschäft zurückziehen. "Der Konzern wird nur die Seiten wechseln", verlautet aus dem Aufsichtsrat weiter - und sich so ein größeres Stück vom Kuchen sichern, als die Areva-Beteiligung erlaubt.

Die seit 2001 bestehende Kooperation zwischen Siemens und Areva umfasst den Bau von Atomreaktoren und die Kerntechnik. Als Junior-Partner mit einer Beteiligung von 34 Prozent fehlt es dem deutschen Konzern an unternehmerischen Gestaltungsmöglichkeiten und Mitspracherechten. Deutlich wird dieses Problem beim Bau des finnischen Reaktors Olkiluoto. Verzögerungen bei dem Projekt haben den Elektrokonzern bereits viel Geld gekostet.

Ziel der Siemens-Führung ist eine neue Partnerschaft mit dem russischen Staatsunternehmen Atomenergoprom. Ähnlich wie Areva verfügen die Russen über große eigene Forschungsprogramme in der Kernenergie und Kapazitäten zum Bau ganzer Kraftwerke. Geplant sei eine Gemeinschaftsfirma, die Siemens an der operativen Führung beteilige, hieß es am Montag weiter.

Die Eile des eigenen Managements überrascht selbst Aufsichtsräte. Noch Mitte 2007 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit ihrem Veto das Drängen des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy gestoppt, Siemens aus Areva herauszudrängen. Der Franzose wollte, dass der Staatskonzern Areva eine Option zieht, im Jahr 2011 den 34-Prozent-Anteil von Siemens am Atomreaktorbauer Areva NP zu übernehmen. Siemens-Chef Peter Löscher betonte 2008 noch, langfristig an der Partnerschaft interessiert zu sein. Allerdings betrachtet der Konzern dem Vernehmen nach seinen strategischen Einfluss als zu gering. Der Ausstieg bei Areva NP sei mit der Bundesregierung abgestimmt, hieß es in den Kreisen.

Nun will Siemens offenbar selbst den Ausstieg beschleunigen. Die vertraglich festgelegte Trennungsfrist von drei Jahren sei nicht mehr in Stein gemeißelt, hieß es am Montag aus dem Unternehmen. Stimmt der Aufsichtsrat dem Ausstieg zu, winken dem Konzern Milliardeneinnahmen. Den Siemens-Anteil an der Areva-Tochter schätzen Aufsichtsräte auf mindestens zwei Milliarden Euro.

Der internationale Markt für Atomtechnik gilt in vielen Chefetagen als vielversprechendes Geschäft. Bis 2030 ist weltweit der Bau von mehr als 400 neuen Atomkraftwerken geplant. Projektvolumen: eine Billion Euro. Allein in China sollen bis 2020 etwa 30 neue Meiler entstehen. Der wachsende Energiebedarf und die begrenzten Ressourcen treiben den Boom an.

Siemens will sein Engagement beim französischen Kraftwerksbauer Areva möglichst schnell aufgeben. Foto: AFP

Areva: Unternehmensbeteiligungen Siemens AG: Unternehmensbeteiligungen Atomenergie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentare

Was in Davos fehlte

Krise? Welche Krise? Die Banken wollen keine Lehren ziehen

Von Ulrich Schaefer

Wenn man Davos als Maßstab dafür nimmt, wie es um die Weltwirtschaft bestellt ist, so lautet die Diagnose: Der Patient ahnt, dass er krank ist und es sich nicht bloß um eine Erkältung handelt. Doch er will nicht wahrhaben, dass ihm eine Lungenentzündung droht, falls er sich nicht bald in Behandlung begibt.

Noch nie war das Treffen in den Schweizer Bergen in einer derart turbulenten Woche an den Finanzmärkten wie in diesem Jahr. Doch diese Krise hinterließ in Davos keine bleibenden Spuren. Dabei ist es eigentlich das Ziel der Macher, die großen Probleme dieser Welt anzugehen. Und so diskutierte man wie gehabt auch über den Friedensprozess im Nahen Osten, über Klimaschutz, Energieversorgung und Welthandel. Doch die brennendste Frage, die sich die Anhänger der Marktwirtschaft derzeit stellen müssten, blieb weitgehend ausgeblendet: Was läuft falsch im globalen Finanzsystem? Wo haben Banken und Fonds in den vergangenen Jahren überdreht? Und was muss sich von Grund auf ändern?

Allenfalls in Hinterzimmern wurde vorsichtig darüber diskutiert, nicht aber in offener Runde - und schon gar nicht in der Deutlichkeit, die notwendig wäre. Der Crash, zum Teil befördert durch einen einzelnen waghalsigen Händler, hätte Anlass zu einer kritischen Debatte sein müssen, ob man sich auf die Kontrollmechanismen der Banken noch verlassen kann - und damit auf die Banken als solche. Stattdessen wurden die Taten des Händlers Jérôme Kerviel als Einzelfall hingestellt. Bedauerlich, aber kein Anlass für generelle Selbstzweifel.

Auch eine andere Schwäche des Weltfinanzsystems wurde nur gestreift: Ist es legitim, dass die Banken milliardenschwere Risiken aus ihrer Bilanz auslagern und in Steuerparadiesen verstecken? Haben sie damit nicht den Anlass für diese Krise geschaffen? Die Geldhäuser verteidigen sich damit, dass ohne die Kredite, die außerhalb der Bilanz vergeben wurden, die Weltwirtschaft in den letzten Jahren nicht so schnell gewachsen wäre. Das ist einerseits richtig. Andererseits haben die Banken damit das klassische System der Geldschöpfung ausgehebelt. Bis weit in die 90er Jahre konnten die Zentralbanken relativ genau steuern, welche Geldmenge einer Volkswirtschaft zur Verfügung steht und was dieses Geld kostet. Die Notenbanker hatten dazu zwei Instrumente in der Hand - zum einen die Mindestreserve, die vorschreibt, wie viel Geld die Banken für jeden Kredit vorhalten müssen, zum anderen die Zinsen, die den Preis des Geldes beeinflussen - und damit am Ende auch die Inflationsrate.

Das Instrument der Mindestreserve versagt jedoch, wenn ein beträchtlicher Teil der Kredite nicht mehr in den Büchern der Geldhäuser auftaucht. Stattdessen haben die Banken die Geldmenge erheblich kräftiger ausgeweitet, als den Notenbanken lieb sein kann; und weil das viele Geld ja auch ausgegeben wird, steigt die Inflation inzwischen schneller als erwünscht.

Auch das zweite Instrument der Notenbanken, der Zins, hat im Zeitalter der entfesselten Finanzmärkte an Einfluss verloren. Dies zeigt die geradezu verzweifelte Entscheidung der amerikanischen Notenbank. Sie senkte die Zinsen so stark wie seit 25 Jahren nicht mehr. Doch die Federal Reserve tat dies nicht, um die amerikanische Wirtschaft vor einer Rezession zu bewahren - sondern die Aktienmärkte vor dem Absturz. Eigentlich jedoch sollen sich Notenbanken nur um das Wachstum und die Inflation kümmern; es gehört nicht zu ihren Aufgaben, Spekulanten vor Verlusten zu schützen.

Natürlich kann man hiergegen einwenden, dass ein Crash die globale Wirtschaft empfindlich getroffen hätte; denn er hätte die eine oder andere Bankenpleite zur Folge gehabt. Wenn man dieses Argument allerdings genauer betrachtet, gelangt man schnell zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück: Sind die Banken im Glauben, jedes Risiko lasse sich anderswo ablagern, zu weit gegangen?

All dies hätte man in Davos ausführlich diskutieren und daraus Lehren ziehen können. Doch welcher Banker räumt schon gerne ein, dass jenes System, das so viele so lange so reich gemacht hat, ein paar grundlegende Probleme hat?

Krise an den internationalen Finanzmärkten 2008 Weltwirtschaftsforum Weltwirtschaftsforum 2008 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schneebälle gegen die Tabus der Bosse

Um die Globalisierungskritiker ist es in Davos still geworden / WEF als "geniales Geschäftsmodell"

Von Gerd Zitzelsberger

Davos - Zum Glück hatten sie viele bunte Luftballons und eine Portion Selbstironie dabei. Sonst wäre es ein trauriges Häuflein gewesen, das am Samstagmittag durch Davos zog. "Wipe out WEF", den alten Schlachtruf, versuchten sie noch einmal zu skandieren - und brachen später lachend ab. Die Demonstranten spürten es selbst: Sie werden das World Economic Forum (WEF), vor wenigen Jahren noch hochkontroverses Symbol des weltumspannenden Kapitalismus, nicht auslöschen. Ihre "Wurfgeschosse" waren ein paar Schneebälle, aber nicht einmal ihnen bot sich ein Ziel.

Vorbei sind die Zeiten, als aus Frankreich, Italien und Deutschland noch Gesinnungsgenossen nach Davos kamen, um beim WEF gegen Multis und den Filz von Politik und Wirtschaft zu demonstrieren. Die Globalisierungsgegner sind - jedenfalls auf der Straße - zu kleinen Grüppchen zusammengeschrumpft. Ausgerechnet während die Globalisierung die internationalen Finanzmärkte in die Krise reißt, wird es um die traditionellen Kritiker still. "Die Repression" sei schuld daran, dass sich diesmal so wenige zur Demonstration in Davos eingefunden hätten, sagt ein junger Mann. Fünfmal sei er auf dem Weg hierher kontrolliert worden.

Richtig daran ist, dass die Schweizer Behörden keine großen Demonstrationen am Rande des WEF mehr dulden. Die Lektion des Jahres 2003 wirkt immer noch: Damals machten sich 8000 Leute auf den Weg. Aber nur 1000 kamen an; den Rest hielt die Polizei auf, bis alles vorbei war. Doch die "Repression" ist nicht einmal die halbe Wahrheit: Auch andernorts blieb der Zustrom zu Protestveranstaltungen bescheiden. Am größten war noch die Demonstration am Samstag in Bern mit 500 Teilnehmern. Und dass gleichzeitig der weltweite Aktionstag des Weltsozialforums - der früher größten Gegenorganisation zum WEF - stattfand, hat außerhalb der alternativen Szene gar keiner mitbekommen.

Viel dazu beigetragen hat das WEF selbst. "Wir haben immer neue Themen, die anderen haben nur ihre alten", sagt zufrieden einer der unzähligen Marketingexperten, die der Verein bezahlt. Beim WEF treten die Prominenten auf, die Gegenbewegung dagegen ist zersplittert und hat keine bekannten Namen.

Schlauer als früher handhabt das WEF mittlerweile auch die Öffentlichkeitsarbeit. Inzwischen sorgen fein differenzierte Gefälligkeiten gegenüber Medien, die schiere Menge von Diskussionen und Spitzenmanagern für ein rundum freundliches Bild in der Öffentlichkeit: Keiner denkt mehr an Mauscheleien.

Zudem üben die Manager schließlich selbst Wirtschaftskritik - etwa an der Erderwärmung oder am drohenden Wassermangel. Über Managergehälter beispielsweise oder über Bonuszahlungen für Banker, die kurz zuvor Milliarden in den Sand gesetzt haben, redet keiner. Außen vor bleibt etwa auch, "dass jeder Mensch doch das gleiche Recht haben müsste, die Luft zu verschmutzen", wie Oliver Classen formuliert. Er arbeitet für die "Erklärung von Bern", eine Art Denkfabrik der Schweizer Globalisierungskritiker. Am Ende käme es womöglich nur zu riesigen Kompensationszahlungen der großen Industriekonzerne an die Entwicklungsländer.

Hauptpreis für Areva

"Das Geschäftsmodell des WEF ist beinahe genial", erkennt sogar Classen an: "Vorne auf dem Podium ruft Bill Gates zur Hilfe für die Dritte Welt auf, und George Soros macht Bankenkritik. Hinter dem Paravent können sich die anderen Bosse gleichzeitig die Welt aufteilen, ohne dass es überhaupt jemand bemerkt." Mit Demonstrationen sei der Meinungsführerschaft der Multis nicht beizukommen. Die vormaligen Rebellen führen deshalb nun am Rande des WEF einzelne Unternehmen vor, die fernab der (entwickelten) Welt die Natur zerstören oder Beschäftigte ausbeuten. Sie vergaben ihren "Hauptpreis" an den französischen Energiekonzern Areva wegen seines Uranabbaus in Niger.

Das WEF können die Alternativen freilich nicht antasten. Jetzt hofft mancher auf eine Errungenschaft des Kapitalismus - die Konkurrenz: Die "Clinton Global Initiative" des früheren US-Präsidenten werde vielleicht zu einem Gegengewicht. Wer dort eingeladen werden will, erzählt ein Demonstrant, "zahlt keinen astronomischen Mitgliedsbeitrag an den Veranstalter, sondern muss richtig Geld für gute Zwecke spenden."

Effektvoll, aber wirkungslos: Die Demonstranten gegen das Wirtschaftsforum in Davos finden jedes Jahr weniger Aufmerksamkeit. Foto: Reuters

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Freude, harter Götterhammer

Absurd: Das Weltwirtschaftsforum endete mit der "Ode an die Freude"

Zum Abschluss des "World Economic Forum" in Davos am Sonntag trat ein Dirigent vor das Publikum. Benjamin Zander, im zivilen Leben musikalischer Leiter des Boston Philharmonic Orchestra, ein schlanker älterer Herr mit weißem Schopf und roter Krawatte, hielt einen Vortrag über "orchestrating collaboration" - "wie man Zusammenarbeit orchestriert". Als die Vorlesung, in der viel geklatscht und viel gelacht wurde, ihrem Ende zuging, studierte er mit seinem Publikum ein Lied ein: Die "Ode an die Freude" aus dem vierten Satz der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven. "Fry - der sher - ner getter - foon - ken" stand auf dem Zettel, den seine schon sehr enthusiasmierten Zuhörer unter ihren Stühlen fanden, "toch - ter - ouse - e - lyse - ium". Soviel Deutsch musste sein. Viermal hatte das Publikum die erste Strophe zu singen, zweimal im Sitzen, zweimal im Stehen, vom Dirigenten immer weiter aufgepeitscht zu noch größerem Engagement. Das Spiel gefiel den Leuten sehr.

"This is the song to the possibilities that human beings are", hatte Benjamin Zander erklärt, und diese Definition trifft zu, insoweit dieses Lied tatsächlich an "die menschlichen Wesen" als solche adressiert ist. Und beliebt ist es auch: Romain Rolland nannte das Werk eine "Marseillaise der Menschheit". Es wurde zum Abschluss der Reichsmusiktage von 1938 gespielt, bei der Olympischen Spielen der fünfziger und sechziger Jahre begleitete es die Vergabe von Medaillen an west- und ostdeutsche Sportler, und seit 1972 gilt das Stück in einer Instrumentalversion als die Hymne der Europäischen Union (wobei sich zumindest die deutschsprachigen Hörer den Text meist mitdenken dürften). Der hohe - um nicht zu sagen: laute - Ton dieser Hymne scheint mitreißend genug für die verschiedensten Anliegen der Mobilisierung von Massen zu sein. Und die Botschaft "Alle Menschen werden Brüder" ist abstrakt genug, um Glanz selbst in die Augen des ideologischen Gegners zu zaubern.

Schaurig ist der Doppelrumms

Seltsam. Oder doch nicht? Roh ist Friedrich Schillers "Ode an die Freude", missglückt in vielem, angefangen im Kleinen, bei unfreiwillig komischen Formulierungen wie "Wollust ward dem Wurm gegeben" oder "Brüder fliegt von euren Sitzen", bis ins Große, bis zu der diesem Gedicht zugrunde liegenden Idee: Denn lässt sich Freude befehlen? Ist es nicht eher so, dass alle Freude, wenn sie gefordert wird, auf der Stelle verschwindet? Dass sie ein höchst zartes, flüchtiges Wesen ist, das sich jedem Kommando entzieht und so gar nicht zusammengehören will mit dem schlagenden Jambus, dem monoton alternierenden Akzent, der diese Ode ihre einprägsame Wirkung verdankt: rumm-ta, rumm-ta, rummt-ta, rumm-ta. "If you want to be a leader you have to open up possibilities people don't even think of", predigte Benjamin Zander im spiritistischen Jargon eines Seminars für leitende Angestellte, "wenn Sie Menschen führen wollen, müssen Sie ihnen Möglichkeiten eröffnen, von denen sie nicht einmal geträumt haben." Dazu passt das Gedicht. Denn im selben Maße, in dem es die Menschen zur Gemeinschaft verdonnert - als Pamphlet und Manifest -, verliert es als Kunstwerk.

Als Beethoven Strophen und Verse aus der "Ode an die Freude" für den letzten Satz seiner letzten Symphonie übernahm, wird er sich über deren Charakter als latent totalitäre Verschmelzungshymne im Klaren gewesen sein: Denn so viel Tonika war nie. Was im Gedicht noch schlägt, kommt in der Vertonung mit der Wucht von Schmiedehämmern daher. Alle zwei Takte ein Doppelrumms. Nein, so komponiert kein Enthusiast, keiner, der in einem gewaltigen künstlerischen Werk einen ganzen Kosmos von feinen und feinsten Ausdrucksmöglichkeiten erschloss, der das Komponieren vorantrieb bis an die Grenzen der Tonalität.

Nichts ist in der musikalischen Fassung der Ode geblieben von der individuellen Gefühlskultur, vom Geist der Freiheit und des Eigensinns, die das Zeitalter der Aufklärung zu einer so hoffnungsfrohen Epoche gemacht hatten. Verlangt ist nun die Fähigkeit zur Hingabe - und zum Ausschluss aller, die nicht dazugehören: "Und wer's nie gekonnt, der stehle / Weinend sich aus diesem Bund." Dieser vierte Satz ist ein Dokument rettungsloser Verzweiflung, es ist eines der bittersten Stücke der Musikgeschichte. Und wenn am Ende die Formel die Formel vom "schönen Götterfunken" ein letztes Mal gesungen wird und dann das Orchester im Prestissimo davonjagt, dann ist das kein Jubel mehr, sondern schon die Qual der wilden Jagd.

Die Macht der Möglichkeit, "the power of possibility", beschwor Benjamin Zander. Er tat es vor ein paar hundert Zuhörern, die offenbar Grund zu der Annahme hatten, in sich eine Auswahl der einflussreichsten Menschen auf der Welt zu erkennen. "Dies war das Lied, das auf dem Platz des Himmlischen Friedens gesungen wurde. Das Lied, das beim Fall der Mauer gesungen wurde." Und bei keinem Versuch war der Enthusiamus auch der Enthusiasmierten heftig genug: "You're still holding back" - "Sie geben immer noch nicht alles." Und das Publikum folgte dem Aufruf, sich ebenso freiwillig wie rückhaltlos zu binden, um einer völlig abstrakten, zwecklosen Gemeinsamkeit willen. Das Treffen von Davos endete mit einer ebenso absurd heiteren wie abgrundtief schaurigen Darbietung. THOMAS STEINFELD

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Kultureller New Deal

Obama will Kultur fördern. Ideell - aber auch finanziell?

Viel können Amerikas Kulturinstitutionen nicht aus öffentlichen Töpfen erwarten. Städte und Bundesstaaten geben hier und dort etwas, aber aus Washington kommt verschwindend wenig. Mit gerade einmal 150 Millionen Dollar jährlich fördert das National Endowment for the Arts (NEA) Theater, Ausstellungen und Festivals im ganzen Land. Die staatliche Zurückhaltung geht nicht nur auf ein traditionell distanzierteres Verhältnis zwischen Staat und Kultur in den USA zurück, sondern auch auf die culture wars der neunziger Jahre, als das NEA immer wieder beschuldigt wurde, politisch verdächtige Projekte zu fördern - und dafür finanziell abgestraft wurde.

Nun wittern Amerikas Kulturschaffende die Chance auf eine freundlichere Behandlung durch die Washingtoner Regierung. Obama kam im Wahlkampf - sensationell für einen Präsidentschaftskandidaten - immer wieder auf die Künste zu sprechen; schlug vor, junge Künstler in Schulen zu schicken; und mahnte neue Initiativen in Kulturdiplomatie an. Mit Spannung wird deshalb erwartet, wen er zum Nachfolger des NEA-Direktors Dana Gioia ernennen wird, der am Tag der Vereidigung des neuen Präsidenten sein Amt niederlegte. Einer der Favoriten für den Posten ist der Anwalt Michael Dorf, der sich mit staatlicher Kunstförderung beschäftigt hat und in den Neunzigern mithalf, die unter Beschuss stehende NEA zu verteidigen. Im Gespräch sind aber auch der Jazzmusiker Wynton Marsalis und Agnes Gund, die frühere Präsidentin des Boards des New Yorker Museum of Modern Art.

Dass Obama die Kultur wichtig ist, zeigt sich auch daran, dass er erwägt, einen eigenen Kulturbeauftragten im Weißen Haus zu installieren. Doch der Organisation Americans for the Arts ist das nicht genug. Sie fordert einen Kulturminister nach europäischem Vorbild, wie Amerika ihn unter Kennedy, Nixon und Johnson hatte. Viele der Hoffnungen richten sich auf das zur Zeit kontrovers diskutierte 825 Milliarden Dollar schwere Konjunkturpaket. Die 50 Millionen-Dollar-Spritze für die NEA, die zwischen Steuererleichterungen, Geld für Breitbandverkabelung ländlicher Haushalte und der Förderung von Windenergie versteckt ist, ist hochwillkommen, aber reicht vielen nicht aus. Americans for the Arts schlägt vor, dass die Ministerien, die die staatlichen Investitionsgelder verteilen, auch einen Teil für Kunst ausgeben. Was den Kulturmanagern vorschwebt sind Programme, die an die deutschen ABM-Maßnahmen und an Kunst am Bau denken lassen. Vor allem aber an die Kunstinitiativen während des New Deal. Tausende Maler, Fotografen und Schriftsteller fanden damals Lohn und Brot als staatliche Angestellte. Und es kam keineswegs nur blutarme Subventionskunst dabei heraus. Die Fotografien, die Dorothea Lange, Walker Evans und andere im Auftrag der Farm Security Administration von den notleidenden Bauern der "Dust Bowl" machten, gehören zu den bedeutendsten Dokumentarfotografien des 20. Jahrhunderts. JÖRG HÄNTZSCHEL

Regierung Obama 2009 Kultur in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spitzentreffen zu Conti/Schaeffler

Berlin - Bund und Länder wollen bei einem Spitzentreffen in Berlin über mögliche Hilfen für die Autozulieferer Schaeffler und Continental beraten. Am Donnerstag soll es ein Treffen von Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) mit seinen Amtskollegen Horst Seehofer (CSU), Günther Oettinger (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) geben, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Montag. Das Treffen werde in der niedersächsischen Landesvertretung in der Hauptstadt stattfinden. Bayern und Niedersachsen prüfen Hilfen für den neuen Autozulieferer-Verbund, der in der Auto- und Finanzkrise stark unter Druck geraten ist. Der Bund will sich an den Hilfen nicht beteiligen.

Die Continental AG benötigt nach eigenen Angaben aber derzeit keine staatliche Unterstützung. Man habe sich in Verhandlungen mit Banken einen stabilen Finanzrahmen gesichert, sagte ein Conti-Sprecher am Montag in Hannover. "Wir verfügen über eine Liquidität von 3,5 Milliarden Euro aus Barmitteln und ungenutzten Kreditlinien", betonte er. Schaeffler wollte sich nicht zu Hilfen äußern. (Kommentare, Seite 27) dpa

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Krise Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität Continental AG: Liquidität Continental AG: Krise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Letzte Chance für Umweltgesetz

Gabriel verhandelt in München mit Seehofer

Berlin - Industrieunternehmen und Gewerbebetriebe schimpfen gern auf das deutsche Umweltrecht: zu kompliziert, zu teuer, zu viele Wege. Jetzt könnte es reformiert werden - doch die Reform droht zu scheitern. Ein neues deutsches Umweltgesetzbuch sollte nach dem Willen der großen Koalition die Genehmigungsprozesse vereinheitlichen und straffen. Inzwischen ist der Entwurf des Gesetzes fertig, er findet den Rückhalt von 15 der 16 deutschen Bundesländer. Nur ein Land wehrt sich dagegen: Bayern. Und ohne Bayern stirbt die Reform.

In einem Akt nahezu flehentlichen Bittens reiste am Montag Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nach München. Im Gespräch mit CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer und dessen Umweltminister Markus Söder versuchte er, die Widerstände aus dem Weg zu räumen. Über Erfolg oder Misserfolg der Mission wurde zunächst nichts bekannt.

Dem Freistaat sind die neuen Regeln offenbar zu bauernfeindlich. Statt eine einfache Genehmigung einzuholen, müsste etwa ein Landwirt sich für einen neuen Stall dann eine "integrierte Vorhabengenehmigung" abholen, die auch Aspekte prüft, die vielleicht gar nicht Gegenstand seiner Anfrage waren. Die neue CSU/FDP-Regierung im Freistaat hält davon nichts. Und ohne die CSU will auch die CDU im Bund nicht mitmachen - obwohl sich die Kanzlerin schon wiederholt für ein neues Umweltrecht stark gemacht hatte. Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD ist das Unterfangen ebenfalls fest verabredet. Aufwand und Kosten der Bürokratie, so bescheinigt der Normenkontrollrat, seien mit den neuen Regeln überdies nicht höher, sondern niedriger als bisher.

Sollte die CSU sich nicht erweichen lassen, wäre das Umweltgesetzbuch faktisch tot. In dieser Legislaturperiode lässt es sich dann nicht mehr durchsetzen - und danach auch nicht mehr. Denn von 2010 an gelten im Umweltschutz die Regeln der Föderalismusreform. Da der Bund nichts anderes bestimmen konnte, regeln die Länder Wasserrecht und Naturschutzrecht selbst. "Die Folge werden 16 verschiedene Umweltgesetze", klagt auch der FDP-Umweltpolitiker Horst Meierhofer. "Die Standards werden dann vermutlich sinken." Ohnehin scheint der Zwist eher parteitaktischer als inhaltlicher Natur zu sein. "Die Umweltpolitiker in allen Fraktionen", sagt Meierhofer, "liegen da eigentlich dicht beieinander." Michael Bauchmüller

Umweltrecht in Deutschland Umweltpolitik in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Obamas grüner Symbolismus

Es grünt so grün in Amerika. In Washington gehen manch ökologische Blütenträume auf: Präsident Barack Obama strebt eine nachhaltige Erneuerung der Vereinigten Staaten an, die nun endlich einen Beitrag im Kampf gegen den globalen Klimawandel leisten wollen. Die Entscheidung, ein stures und recht stupides Verbot der Bush-Regierung gegen Kaliforniens strenge Auto-Abgasnormen überprüfen zu lassen, läutet eine Wende ein. Die Politik in der Hauptstadt vollzieht damit nach, was Amerikas Gesellschaft seit Jahren als vages Bauchgrimmen verspürt: Dass der American Way of Life sich pekuniär wie ökologisch längst nicht mehr bezahlen lässt.

Strengere Spritnormen für US-Autos sind ein Schritt in die richtige Richtung. Nur, sehr weit führt Obamas Symbolismus noch nicht. Denn viele der gutmeinenden Impulse, endlich gesünder und grüner zu wirtschaften, drohen zu verpuffen, seit die Ölpreise weltweit eingebrochen sind. Der Liter Benzin kostet in den Vereinigten Staaten derzeit umgerechnet nur 0,38 Euro. Das liegt vor allem daran, dass sich bisher kein amerikanischer Politiker traut, die lächerlich geringe Benzinsteuer (nicht einmal 0,04 Euro pro Liter) zu erhöhen.

Gerade jetzt, in Zeiten billigen Öls, wäre aber der beste Augenblick, die Ampeln neu zu stellen. Eine Benzinsteuer, die Amerikas spottbilliges Benzin verteuert und so die Menschen erzieht, statt bulliger Vehikel sparsamere Limousinen zu kaufen, müsste dauerhaft jede Fahrt zur Tankstelle verteuern. Der Staat könnte seinen Bürger das Geld, etwa per Senkung von Sozialabgaben oder der Einkommensteuer, ja wieder zurückgeben. Solange Obama dies nicht riskiert, klingt sein grünes Selbstlob zu billig. cwe

Klimapolitik in den USA ab 2006 Steuerwesen in den USA Energiepolitik in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Inakzeptable Aussagen"

Deutsche Bischöfe auf Distanz zu Holocaust-Leugner

Bonn/Rom - Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich von den Äußerungen des britischen Bischofs Richard Williamson zum Holocaust distanziert; Papst Benedikt hatte diesen jüngst wieder in die katholische Kirche aufgenommen. Die Leugnung des Holocaust sei "inakzeptabel" und gehöre nicht zur Lehre der Kirche, sagte der Sprecher der Bischofskonferenz, Matthias Kopp, im ZDF. "Williamson wird früher oder später seine Äußerungen zurückziehen müssen", sagte Kopp, die Kirche habe Mechanismen, auf ihn einzuwirken. Erneut ging auch der Vatikan auf Distanz. Solche "dummen" Äußerungen seien unannehmbar, sagte Kurienkardinal Walter Kasper. "Den Holocaust zu leugnen ist absolut nicht die Position der katholischen Kirche", sagte er der Zeitung La Repubblica.

In einem Fernsehinterview hatte Williamson gesagt, historische Fakten sprächen gegen die Existenz von Gaskammern. Es seien nicht sechs Millionen Juden von den Nazis ermordet worden, sondern 200 000 bis 300 000 - aber keiner von ihnen in Gaskammern. Williamson ist einer von vier Bischöfen der ultratraditionalistischen Bruderschaft Pius X., deren Exkommunikation Papst Benedikt XVI. am Samstag nach mehr als 20 Jahren wieder aufgehoben hatte.

Benedikts Entscheidung sorgte vor allem bei Juden für Empörung und Unverständnis. Williamson habe sich verpflichtet, die Lehre der katholischen Kirche anzuerkennen, sagte Kopp im ZDF weiter. Dazu gehöre auch das Versprechen von Papst Johannes XXIII. seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, den Dialog mit dem Judentum voranzutreiben und jede Form von Antisemitismus zu bekämpfen. Der Vatikan werde aufmerksam beobachten, wie sich Bischof Williamson künftig äußere. Er erwarte, dass der Bischof das Gespräch mit dem Vatikan suchen werde, sagte Kopp. Auch der Leiter der Priesterbruderschaft, Bernard Fellay, setzte sich klar von den Äußerungen ab. "Williamson ist allein dafür verantwortlich, unsere Bruderschaft leugnet den Holocaust nicht."

Die Dauer der Ermittlungen wegen Volksverhetzung gegen den Geistlichen ist noch nicht absehbar. Die Untersuchung des Falls stehe noch ganz am Anfang, sagte der Leitende Regensburger Oberstaatsanwalt Günther Ruckdäschel am Montag. Williamson hatte in der Nähe von Regensburg das umstrittene Fernsehinterview zum Holocaust gegeben. Williamson, 67, ist in London geboren, arbeitet als Geistlicher allerdings seit Jahrzehnten in Nord- und Südamerika. dpa

Williamson, Richard Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum Katholische Bischöfe Leugnen des Holocaust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bin Ladens deutscher Freund

Behörden halten den in Bonn aufgewachsenen Bekkay Harrach für extrem gefährlich

Von Annette Ramelsberger

München - Deutsche Sicherheitsbehörden halten den in Deutschland aufgewachsenen, gebürtigen Marokkaner Bekkay Harrach aus Bonn für einen der engsten Gefolgsleute von Osama bin Laden. Er soll, so heißt es in Sicherheitskreisen, in höchsten Zirkeln der al-Qaida verkehren. Vor ihm war nur der aus Bochum stammende Deutsche Christian Ganczarski näher an den Terrorführer herangekommen. Ganczarski steht gerade in Paris wegen des Terroranschlags auf eine deutsche Touristengruppe auf der Ferieninsel Djerba vor Gericht, bei der im Jahr 2002 21 Menschen ums Leben gekommen waren. Ganczarski hatte viele Monate in den Lagern Bin Ladens verbracht und mit ihm auch die Insulin-Vorräte geteilt, die er für seine diabeteskranke Tochter mitgebracht hatte.

Bekkay Harrach soll nun für terroristische Operationen im Ausland zuständig sein, berichtet das Nachrichtenmagazin Spiegel. Er stehe unter dem Schutz des örtlichen Warlords in Afghanistan und werde für seine Kenntnisse geschätzt, Bomben fernzuzünden. Der 31 Jahre alte Harrach, der mit einer Deutschen verheiratet ist, hat die Bundesregierung aufgerüttelt, als vor einer Woche ein Video im Internet erschien, in dem er Deutschland Terroranschläge in Berlin, Köln und Bremen androht - für den Fall, dass die Deutschen ihre Truppen nicht aus Afghanistan zurückziehen. Die Behörden messen Harrachs Drohung großes Gewicht zu. Harrach kam als Vierjähriger aus Marokko nach Nordrhein-Westfalen und spricht ein Deutsch, um das ihn manch Einheimischer beneiden würde. Gewählt berichtet er darüber, wie die Bundeswehr die Trinkwasserversorgung im afghanischen Herat saniert hat. "Danke schön für die Investition", sagt er und spottet darüber, dass die Bundeswehr lieber den zivilen Aufbau in Afghanistan betreibe als sich den Taliban zu stellen. "Glaubt nicht, dass Ihr ungeschoren davonkommt", sagt Harrach.

"Diesen Mann muss man ernst nehmen", sagt der Leiter des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, Hartwig Möller. "Der weiß, wie wir ticken, wie wir zu verunsichern sind." Harrach sei gefährlicher als all die anderen wilden jungen Männer, die bisher nach Afghanistan gegangen seien: der Ansbacher Cüneyt Ciftic, der sich in die Luft gesprengt hat und unter die Kategorie "Kanonenfutter" fällt oder der Saarländer Eric Breininger, der als Wirrkopf angesehen wird. Harrach soll eine Reihe von Deutschen um sich scharen, die nur darauf warten, in Deutschland zuzuschlagen. Die Behörden halten die Zeit kurz vor der Bundestagswahl für besonders gefährlich.

"Der weiß, wie wir ticken": Bekkay Harrach in dem Drohvideo vergangene Woche. Foto: AP

Harrach, Bekkay Muslimische Fundamentalisten in Deutschland Islamistische Terroristen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Narreteien von Gottes Gnaden

Kaiser Wilhelm II., der vor 150 Jahren zur Welt kam, war kein Mann der Tat, er liebte die Show

Der Überlieferung zufolge brachte seine Lektüre Wilhelm II. dazu, auf den Bau einer starken Flotte zu drängen: 1890 erschien Alfred T. Mahans einflussreiches Werk über die Bedeutung von Seestreitkräften, "The Influence of Sea-Power upon History". Der Kaiser las es, war angetan und wollte nun auch eine starke Kriegsflotte haben. Admiral Tirpitz, der das ähnlich sah, kam Wilhelm wie gerufen. Und so begab sich das Deutsche Reich 1897 in einen maritimen Rüstungswettlauf mit Großbritannien, was zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrug.

Wilhelms Mahan-Lektüre bestätigte aber nur ein altes Ärgernis: Der Enkel der Queen Victoria war in seinen jüngeren Jahren gelegentlich im englischen Yachthafen Cowes zu Gast, wo Lebemänner dem Regattasport frönten. So elegant ging es in deutschen Häfen nicht zu. Wilhelm war neidisch. Und es wurmte ihn, dass deutsche Werften nicht in der Lage waren, so schnelle Segelschiffe zu bauen wie die Briten. In Kiel, dessen Marine-Regatta-Verein 1891 auf sein Geheiß zum "Kaiserlichen Yacht Club" wurde, tat er groß auf seiner Segelyacht namens "Meteor", die freilich von einer englischen Werft gebaut worden war. In den neunziger Jahren lagen oftmals imposante Schiffe der britischen Kriegsmarine in Kiel vor Anker: Auch das noch! Der Kaiser, der sein Minderwertigkeitsgefühl mit Protzigkeit zu kompensieren suchte, muss es als persönliche Kränkung wahrgenommen haben.

Im Bund mit der Vorsehung

Für Wilhelms schlechtes Selbstgefühl gab es gute Gründe: Nicht nur verstümmelten die Ärzte ihm bei der Geburt am 27. Januar 1859 einen Arm. Schlimmer noch mag gewesen sein, dass er deshalb während seiner ersten Jahre vielen medizinischen Torturen ausgesetzt wurde, quacksalberischen Quälereien - das Englische hielt für dergleichen den Ausdruck "heroic medicine" bereit. Am schlimmsten war wohl, dass die Mutter ihren ältesten Sohn nicht mochte. Das fiel auch der Großmutter auf: Queen Victorias Ermahnung an die Tochter - "Du musst Dich Deinem Kind zuwenden" - war aber in den Wind gesprochen.

Der deutsche Thronfolger wuchs zu einem Mann heran, der so gut wie jeden für klug hielt, der ihm schmeichelte. Dies ergab sich auch daraus, dass Wilhelm nicht besonders intelligent war. Der Historiker Christopher Clark meint zwar, er sei sicherlich intelligent gewesen, lediglich an Urteilskraft habe es ihm gemangelt. Das läuft am Ende aber auf dasselbe hinaus: Mangels Urteilskraft war der Kaiser nicht fähig, eine Situation richtig einzuschätzen. Seine kaiserlichen Meinungen, die er in die Welt setzte, wie andere Leute niesen, waren sprunghaft. "Wilhelm der Plötzliche" hieß er im Volksmund.

Sein aufgesetztes Sendungsbewusstsein machte ihn megaloman. Zwar verstand er sich nicht auf viel, doch er interessierte sich für fast alles, so auch für Archäologie. Als er einmal auf Korfu neben einer Ausgrabungsstätte stand, sagte er: "Es ist sehr gut möglich, dass die Vorsehung mich, obwohl ich Laie bin, auserwählt hat, der Archäologie neue Wege zu weisen." Mit der gleichen Emphase erklärte er: "Ich bin der einzige Lenker & Herr der deutschen Außenpolitik." Man kann verstehen, warum Hans-Ulrich Wehler sagt: Wilhelms Intelligenz hätte dazu hingereicht, ein Beamter oder mittelmäßiger Schulmeister zu werden.

Wären die Zeiten nicht so angespannt gewesen, Wilhelm II. wäre als unbedeutender Sprücheklopfer in die Geschichte eingegangen, bekannt vor allem dafür, dass er sich seine Glitzerorden selbst entwarf. Man würde ihn als Monarchen würdigen, der die mediale Bedeutung der Selbstinszenierung verstanden hatte. Unglücklicherweise übernahm er die Regentschaft über ein Land, das der große Bismarck darauf zugeschnitten hatte, dass er selbst es führte: gewieft, verschlagen, nüchtern, umsichtig. Das Parlament hatte Bismarck weitgehend zu dem reduziert, als was er es betitelte: zu einer Schwatzbude. Um seine Legitimität als Kanzler zu stärken, hatte er die Bedeutung des Kaisers ganz hoch gehängt; er war davon ausgegangen, dass der Kaiser, einerlei wie er heißen mochte, tun würde, wozu der Kanzler ihm riet.

Nachdem der einunddreißig Jahre alte Wilhelm II. den betagten Bismarck 1890 - mit schlechten Gründen, aber nicht ganz zu Unrecht - geschasst hatte, durfte er sich einbilden, nun wirklich autokratisch zu regieren. "Persönliche Monarchie" nannte sich das. Bismarck ließ ein Reich zurück, in dem quasi byzantinische Verhältnisse herrschten. Wem es gelang, dem Kaiser zu suggerieren, dass er, Wilhelm II., die Entscheidungen fälle, konnte seine Politik durchsetzen. Wilhelm durchschaute die Ränke nicht.

So ging er 1900 dem neuen Reichskanzler Bernhard von Bülow auf den Leim. 1908 gewährte Wilhelm dem Daily Telegraph ein Interview, in dem er sich herablassend über die britische Politik äußerte. Es ist nicht ganz klar, ob von Bülow ihn absichtlich ins offene Messer rennen ließ - den Text, den Wilhelm ihm zur Prüfung vorlegen ließ, hat der Reichskanzler jedenfalls nicht bearbeitet. In London reagierte man empört. Hernach gab von Bülow sich enragiert: Den Geheimrat Klehmet, der den Artikel des Daily Telegraph gegengelesen hatte, fuhr er an: "Haben Sie noch nicht erfasst, dass die persönlichen Wünsche seiner Majestät bisweilen Narreteien sind?" Im deutschen Offizierskorps war von da an von Wilhelms "Soldatenspielerei" die Rede.

Die "persönliche Monarchie" Wilhelms II.: Sie war ein Sammelsurium von Narreteien. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben einige Autoren sein Andenken retten wollen. Die meisten hängen romantischen Ideen von Reich und Kaisertum nach, die sie mit dem Rückgriff auf mittelalterliche Vorstellungen zu untermauern suchen. Der 2008 verstorbene Nicolaus Sombart zum Beispiel hat die vielen Vergnügungsreisen, die der Kaiser in Europa unternahm, mythographisch überhöht. So habe Wilhelm "die sakrale Position des Reiches, als Reich der Mitte, in allen vier Himmelsrichtungen demonstrativ markiert". Vergleichbares findet sich in Büchern, die jetzt, anlässlich Wilhelms 150. Geburtstag, erschienen sind.

Selbst wo der Kaiser recht hatte, kann man ihm dafür keinen Kranz winden. Allzu zahlreich waren jeweils die Gelegenheiten, bei denen er das Gegenteil sagte. Den Ersten Weltkrieg wollte er zwar nicht, aber zu seinem Ausbruch hat er dennoch beigetragen. Seit Beginn der neunziger Jahre wollten viele Politiker und Generale einen neuen Krieg. Wilhelm griff das auf. 1912 forderte er von den führenden Politikern und Militärs, sie sollten Deutschland auf einen Krieg vorbereiten. Als der dann 1914 kam, hatte Wilhelm seine Meinung wieder geändert. Da Reichskanzler Bethmann-Hollweg ihn nicht mehr ganz ernst nahm, war Wilhelms Votum nebensächlich. Die Entscheidungen der Obersten Heeresleitung beeinflusste der Kaiser nur insofern, als er den Generalen durch seine ständige Anwesenheit in Nähe ihres Hauptquartiers auf die Nerven ging. Nach dem üblichen egozentrischen Ausflug in die Rhetorik ("Das beste wird schon sein, ich schieße mich tot") reiste er am 10. November 1918 ohne Absprache mit der Regierung ins holländische Exil.

Das Volk, die "Schweinebande"

Als Walter Rathenau nach der Niederlage gefragt wurde, ob der Kaiser Schuld am Ausbruch des Kriegs gewesen sei, antwortete er, die Frage stelle sich nicht. Damit hatte Rathenau recht. Bemerkenswerterweise standen die wahren Entscheidungsträger ihrem Kaiser an Unfähigkeit kaum nach. Volker Ullrich hat die deutsche Politik in der Vorkriegsphase als ein "merkwürdiges Gemisch aus übertriebenen Befürchtungen, irrationalen Erwartungen und dilettantischen Fehlrechnungen" beschrieben.

Der Kaiser - kluge Zeitgenossen sahen das schon zu seinen Lebzeiten - war das Spiegelbild all dessen, was das Kaiserreich zu einem bornierten, autoritären Militärstaat machte. Tirpitz' Flottenaufrüstung ist beispielhaft für die damals herrschende verantwortungslose Politik. Tirpitz hatte lächerlich hohe Ziele: Er wollte Großbritannien zwingen, es hinzunehmen, dass Deutschland sich ein ausgedehntes Kolonialreich schuf. Das, so meinte er, werde helfen, den Einfluss von Parlament und Sozialdemokratie in Deutschland einzudämmen. Nichts davon war realisierbar. Dass ein neuer Krieg vor allem zu Land ausgefochten werden würde, war absehbar. Doch das war ein Detail, auf das die deutschen Machthaber nicht viel gaben. Der Flottenbau konsumierte immense Summen - in die Aufrüstung des Heeres wurde umso weniger investiert. Bis 1916 war die kaiserdeutsche Flotte vor allem damit beschäftigt, sich vor den britischen Schiffen in Sicherheit zu bringen. Der größte Effekt der maritimen Aufrüstung: Als die Matrosen Ende Oktober 1918 erfuhren, dass sie in einem letzten "Todeskampf" vor der sicheren Niederlage ihr Leben opfern sollten, meuterten sie. Das war der Ausbruch der Revolution.

Wie Adolf Hitler war Kaiser Wilhelm von "seinem" Volk am Ende enttäuscht: Er nannte es "eine Schweinebande". Die Weimarer Republik war eine "Saurepublik". Vor Hitlers Wahlsieg 1933 setzte er darauf, dass die Nationalsozialisten ihn nach Deutschland zurückholen würden. Als das fehlschlug, war er beleidigt und verdammte die Nazis. Der Historiker John Röhl hat mit staunenswerter Sorgfalt allen Blödsinn zusammengesucht, den Wilhelm geäußert hat. Röhls biographische Vernichtung des Kaisers kulminiert darin, dass Wilhelm - Rassist war er auch - erklärte, die Juden müssten "vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet" werden: "Das beste wäre wohl Gas."

Nein, auch diese Idee hätte Wilhelm nie umgesetzt. Es wäre falsch, ihn als Hitlers Vorläufer zu bezeichnen. Seine Fähigkeit beschränkte sich darauf, große Worte zu machen. Er hat sein Leben lang den Monarchen vor allem gemimt. Zu mehr reichte es nicht. FRANZISKA AUGSTEIN

Eine Sammlung von Bildern und Zitaten zum Thema finden Sie im Internet unter www.sueddeutsche.de/wilhelm.

Die Pose war alles: Wilhelm II., von Ferdinand Keller, 1893 Foto: Prisma/F1 Online

Wilhelm 2, Kaiser Deutsche Geschichte 1871 bis 1918 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentare

Können wir helfen?

Das war zu erwarten: Die Rettung von Unternehmen wird Mode - leider

Von Marc Beise

Das Bestechende an der Politik ist, dass sie häufig so berechenbar ist. Vom ersten Tag an, da über Hilfsmaßnahmen der Politik für bedrohte Banken beraten worden ist, war klar, dass diese Debatte, einmal losgetreten, nicht mehr gestoppt werden könnte. Wer anfängt, Banken zu stützen, rettet bald auch Autokonzerne und dann Maschinenbauer, Porzellanfabrikanten und so weiter. Es ist so unendlich schwer, diese beinahe zwangsläufige Folge der Ereignisse abzuwenden.

Wahrscheinlich war es richtig (jedenfalls wird das von praktisch allen Politikern und ebenso fast allen Wissenschaftlern so behauptet), einen Schirm über 500 Milliarden Euro zu spannen, um die deutschen Banken in der aktuellen Krise vor dem Absturz zu sichern. Es ging um das systemische Risiko: Wenn Banker und Bürger in Panik geraten, bricht das ganze Wirtschaftssystem zusammen, das auf eben diesem Geldverkehr beruht.

Seitdem folgt eine Versuchung nach der anderen. Wenigstens noch in der sachlichen Nähe der Ursprungsrettung war die finanzielle Absicherung des Verkauf der Dresdner Bank von der Allianz an die Commerzbank. Es war ein Ausstieg der Allianz, die sich mit der Dresdner Bank ungeachtet aller ursprünglichen Beteuerungen grandios verhoben hatte, in letzter Minute - und doch schon zu spät, weil der Commerzbank am Ende das Geld ausging. Aber siehe da, der Staat sicherte den Verkauf ab - obwohl bisher niemand nachgewiesen hat, dass die Allianz ihre Probleme nicht auch hätte selbst lösen können.

Einen anderen Weg ging gerade noch die Deutsche Bank, der der Kauf der Postbank zu misslingen drohte. Sie beschaffte sich das Geld beim Verkäufer Post, an dem zwar der Staat beteiligt ist, allerdings in einer Minderheitsposition. Noch gilt also das Wort des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann, dass man ohne die Politik auskommen wolle. Dafür wird Ackermann seitdem öffentlich verprügelt, während etwa die Manager von Opel im Kanzleramt mit offenen Armen empfangen wurden: Können wir helfen?

Wenn ein großer Konzern zusammenbricht, heißt es, habe das Kettenreaktionen zur Folge. Erst ein Autobauer, dann der nächste, und dann die ganze Zulieferindustrie. Bei dieser Begründung kann man das Geld für eine Subventionierung von BMW und Daimer bereits zurechtlegen. Und Bosch? Und Siemens? Vollends dreist wird es nun bei der Übernahme des Automobilzulieferers Continental durch das fränkische Familienunternehmen Schaeffler. Auch dieses Geschäft droht in der Finanzkrise zu scheitern - und schon denken Landesregierungen ernsthaft darüber nach, mit Rat und Geld zur Verfügung zu stehen.

Dabei war dieses Geschäft zur Übernahme einer dreimal größeren Aktiengesellschaft durch ein Familienunternehmen von Anfang an - um es vorsichtig zusagen - ambitioniert. Ein ganz trickreiches Projekt, das alles bedacht hatte, nur nicht die aufkeimende Finanzkrise. Größenwahn oder nur Pech? Jedenfalls fehlen jetzt etliche Milliarden Euro. Man darf erwarten, dass die Unternehmerin Schaeffler sich das Geld gegen entsprechende Sicherheiten und Risikoaufschläge privat besorgt. Die Selbstachtung sollte ihr Bettelgespräche mit der Politik verbieten, und die politische Klugheit dem Staat umgekehrt entsprechende Hilfe.

Zwei Argumente führen Politiker gerne an, eines davon ist ehrenwert: Man möchte Arbeitsplätze retten. Ja, wenn die Übernahme im Chaos endet, sind beide Firmen in Schwierigkeiten. Das allerdings ist Teil des unternehmerischen Risikos. Wenn der Staat jeden Fehler heilt, fehlt die automatische Selbstkontrolle, und es wird es immer mehr Fehler geben.

Das zweite Argument ist inakzeptabel: Das Land brauche große Einheiten, heißt es. Mit diesem Argument hat der Bund schon den Verkauf der Dresdner Bank unterstützt: Man brauche einen zweiten großen Bankchampion. Und jetzt einen super-großen Zulieferer - wer sagt, dass das wirklich sein muss? Plausibler ist die umgekehrte Argumentation: Was sich nicht aus eigener Kraft am Markt organisieren lässt, wird auch im Staatsauftrag keinen Erfolg haben. Aber viel Steuergeld verschlingen. (Seite 27)

Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Was bitte war daran erfolgreich?

Wie in Israel über den Krieg geredet wird / Von Assaf Gavron

Jeder Krieg brennt Bilder in das Gedächtnis, die einen eine Zeit lang verfolgen. Eines der Bilder aus dem Gazakrieg vom letzten Monat wird das Bild des weinenden Dr. Abu El-Aish sein, eines palästinensischen Gynäkologen, der in einem israelischen Krankenhaus arbeitet: Nachdem sein Haus von Israelis bombardiert und drei seiner acht Kinder getötet wurden, weinte er hemmungslos vor dem Krankenhaus, in dem eine seiner Töchter um ihr Leben kämpfte. In diesem Moment kam die Israelin Levana Stern auf ihn zu und beschimpfte ihn: "Sie sollten sich schämen, wie sollten wir wissen, was Sie in Ihrem Haus verstecken?"

Levana Sterns' Verhalten spiegelt die innere Haltung der meisten Israeli während dieses Krieges wider: eine Art Unzugänglichkeit, ein blinder Glaube an die israelische Armee und all ihre Handlungen, ein Verschließen der Sinne vor dem Leid der Gegenseite, selbst wenn der Leidende direkt vor einem steht, selbst wenn er ein bekannter Arzt ist, der in einem israelischen Krankenhaus arbeitet und vielen israelischen Frauen bei der Geburt ihrer Kinder geholfen hat, einen Verfechter des Friedens und der Koexistenz, dessen Welt gerade untergeht.

Hier und da wurden Stimmen laut, die Sterns Verhalten unsensibel oder barbarisch nannten. Aber es ist schwer, ihr Vorwürfe zu machen. Schließlich spuckte sie in diesem nur das aus, womit sie der Mainstream zuvor wochenlang gefüttert hatte. Und sie ist beileibe keine Ausnahme, Abu El-Aish wurde unflätigst beschimpft, sei es im Radio, in den Zeitungen oder im Internet, wo jeder seine Meinung anonym verbreiten kann.

Nachrichten als Gehirnwäsche

Was ich während des Gazakriegs als besonders niederschmetternd und verstörend empfand, war die wachsende Intoleranz auf israelischer Seite - nicht nur gegenüber dem Leid der Palästinenser, sondern gegenüber jedweder Meinung, die dem Chor des Mainstreams zuwiderlief, gegenüber jedem Argument, das die Operation in Frage stellte. Es ist schwer, einen zutreffenderen Begriff als den der "Gehirnwäsche" zu finden, um zu beschreiben, wie der Krieg und seine Folgen in den Medien behandelt wurden. Bilder von Tod und Zerstörung auf palästinensischer Seite wurden kaum gezeigt, an allen palästinensischen Opfer in der Zivilbevölkerung wurde der Hamas die Schuld gegeben; beinahe jeder Kommentator rühmte die Aktionen der Israelis, konträre oder kritische Gedanken wurden dazu nicht geäußert. Anti-Kriegs-Demonstrationen wurden ins Lächerliche gezogen, die Protestierenden als ein marginaler Haufen von verrückten Spinnern karikiert (selbst als über 10 000 Leute demonstrierten); und als eine Nachrichtensprecherin Mitleid mit dem palästinensischen Elend zeigte, wurde eine Petition aufgesetzt, sie vom Bildschirm zu verbannen, die in zwei Tagen von 30 000 Menschen unterschrieben wurde.

"Wir" hatten immer recht, waren gezwungen, es zu tun, haben keine Fehler gemacht und verhielten uns vollkommen moralisch. Die Folgen dieser Berichterstattung waren beeindruckend: Laut einer Umfrage hielten 78 Prozent der Israelis (was beinahe alle Juden bedeutet) die Operation für "erfolgreich".

Ich finde es schwierig, eine militärische Operation als erfolgreich zu bezeichnen, wenn nach drei Wochen über 1300 Palästinenser tot und tausende von Bombardierten verletzt und obdachlos sind, die Hamas immer noch tausend Raketen besitzt und der Schmuggel durch die Tunnel nicht gestoppt wurde. Worin liegt der Erfolg, wenn unter den Toten 300 Kinder sind? Wenn in der ersten Woche des Krieges vier israelische Bürger von Raketen getötet wurden, nachdem im ganzen vergangenen Jahr nur ein Einziger getroffen worden war? Was ist so gut an Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, am Streit mit den USA, an den weltweiten anti-israelischen Demonstrationen oder daran, das Venezuela und Bolivien ihre diplomatischen Beziehungen zu uns abgebrochen haben?

Wenn wir eine solche Stufe der Aggressivität erreichen, dass wir es nicht einmal mehr ertragen, der Stimme eines anderen zuzuhören, dann verspielen wir nicht nur die Aussicht auf Ruhe und Frieden in unserer Region, sondern verlieren auch den Anspruch darauf, als zivile, zurechnungsfähige und demokratische Gesellschaft zu gelten. Ich spreche nicht über eine verdüsterte Zukunft, ich spreche darüber, dass in der vergangenen Woche zwei arabischen Parteien, der Balad und der Vereinigten Arabischen Liste Ta'al, die Teilnahme an den Wahlen vom zentralen Wahlkomitee der Knesset verboten wurde. Es ist kein Zufall, dass diese Entscheidung während des Krieges getroffen wurde, in dieser aufgeheizten Atmosphäre, und nicht während der Zeit, als diese Parteien und ihre Mitglieder gewählt wurden und im israelischen Parlament saßen. Wenige Tage später revidierte der Oberste Gerichtshof diese Entscheidung - nachdem der Krieg vorbei war. Der Oberste Gerichtshof hat uns und unsere Demokratie diesmal noch vor einer großen Schande bewahrt. Aber es ist beängstigend zu sehen, wie zerbrechlich die Demokratie manchmal ist.

Der Autor lebt als Schriftsteller und Sänger der Band "The Mouth and Foot" in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihm auf deutsch der Roman "Ein schönes Attentat" (Luchterhand 2008).

Aus dem Englischen von Susanne Weinhart.

Gavron, Assaf: Gastbeiträge Reaktionen auf den Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Großer Schritt zur Gleichberechtigung

Vor 90 Jahren durften Frauen in Deutschland erstmals wählen / Merkel und ihre Ministerinnen fordern beim Festakt noch mehr Engagement

Von Susanne Höll

Berlin - Das Jubiläumsjahr 2009 hat begonnen, mit der ersten größeren offiziellen Veranstaltung. Regierungschefin Angela Merkel hatte zu einer Matinee ins Kanzleramt gebeten, um an die Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren zu erinnern. Das Ereignis jährte sich zwar schon vor Wochenfrist. Doch das war der Tag nach der hessischen Landtagswahl, an dem weder die Kanzlerin noch die geladenen Damen, knapp 200 dürften es gewesen sein, Zeit und Muße für eine Feierstunde gehabt hätten. Die Zahl der Herren ließ sich an einer Hand abzählen: In der ersten Reihe saß als einziger Mann der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet (CDU), zuständig auch für Gleichstellungsfragen. Er kam zu Wort, allerdings nur kurz. Denn dies war trotz einiger Wahlkampftöne eine überparteiliche und außerordentlich harmonische Veranstaltung von und für Frauen aus der Politik, wenngleich ohne klare Botschaft.

Zurückblicken, Bestandsaufnahme machen, in die Zukunft blicken - das war das erklärte Ziel der Bundeskanzlerin. Beim Blick zurück auf den 19. Januar 1919, jenem Tag, als die Frauen in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik auf Drängen der Sozialdemokraten erstmals abstimmen durften, waren sich alle Frauen an den Mikrophonen - von der Feministin Alice Schwarzer über die Grande Dame der FDP, Hildegard Hamm-Brücher, bis hin zu Merkel einig: Es ist viel erreicht worden. Schließlich ist in Deutschland eine Frau Kanzlerin. Wenig überraschend auch der Appell der Kanzlerin und ihrer Ministerinnen aus SPD und CDU an die Frauen, sich nicht abschrecken zu lassen von einem Engagement in Politik und Wirtschaft, Begeisterung zu entwickeln für die öffentlichen Dinge. 1919, so erinnerte die Kanzlerin, waren 82,7 Prozent der Frauen zur Wahl gegangen. Heutzutage ist es mancherorts bestenfalls die Hälfte, wenngleich auch die Männer wahlmüder werden.

Die Politikerinnen teilen, wie deutlich wurde, heutzutage vor allem ein Problem: In eine Spitzenposition kommen sie zumeist dann und unverhofft, wenn die männlichen Kollegen den Posten für unattraktiv, aussichtslos oder beides halten. So widerfuhr es der SPD-Bürgermeisterin von Wismar, Rosemarie Wilcken, die 1990 als Spitzenkandidatin bei der Kommunalwahl antrat, weil sich kein anderer Bewerber fand. Als sie den CDU-Kandidaten schlug, meldeten sich plötzlich doch Interessenten, die meinten, als Spitzenkandidatin müsse man ja nicht unbedingt Stadtoberhaupt werden. Wilcken ließ sich nicht abschrecken, wurde Bürgermeisterin und 2002 im Amt bestätigt. "Frauen zu wählen ist nicht das Problem. Die Hürde ist, nominiert zu werden", sagt sie am Montag im Kanzleramt. Und Merkel, die Parteivorsitzende wurde, weil nach der Spendenaffäre von Ex-Kanzler Helmut Kohl kein Mann nach dem Amt gierte, sagt an die Adresse der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth: "Frankfurt war für die CDU nicht unbedingt ein sicheres Terrain. Ich weiß nicht, ob Sie sich ansonsten so lang gehalten hätten."

Dass Frauen grundsätzlich bessere Politiker sind, behauptete keine der Damen. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), die es, wie ihre männlichen Kollegen als Innenstaatssekretärin mit ihrem Chef Otto Schily (SPD) wahrlich nicht immer leicht hatte, widersprach gar solchen Thesen: "Stress hat man mit jedem Vorgesetzten. Deshalb muss man dafür sorgen, dass man möglichst wenig hat. Es kommt weniger auf das Geschlecht als auf den Charakter an". Sie befand zwar, dass die Kanzlerin im Kabinett stärker moderiere als ihr Vorgänger Gerhard Schröder (SPD). Doch das sei keine typisch weibliche Eigenschaft. Außenminister und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier (SPD) sei ein ebenso guter Moderator wie Merkel. Schließlich seien sie sich beide in ihrer Struktur ähnlich.

"Herr Steinmeier würde das Kabinett genauso moderieren wie Frau Merkel, auch weil sie in der Struktur ähnliche Typen sind."

Justizministerin Brigitte Zypries

Langer Kampf: Vor 90 Jahren durften Frauen erstmals zur Abstimmung gehen - bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19.1.1919; im Bild ein Plakat zum Frauentag 1914. epd/akg-images

Premiere im Januar 1919: Die SPD in Berlin erinnert die Frauen an ihr Wahlrecht. Foto: SZ-Photo

Politikerinnen in Deutschland Gedenktage in Deutschland Wahlrecht in Deutschland Gleichberechtigung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Last der Familie

Gavin O'Connors Polizeidrama "Das Gesetz der Ehre"

Die armen Polizisten. Darauf läuft es doch immer hinaus. So viel Loyalität sind sie so vielen schuldig. Ihren Kollegen beispielsweise. Ihrem Gewissen. Ihrem Bankkonto. Den Bürgern ihrer Stadt, und, richtig, dem Gesetz. Zu all diesen Verpflichtungen, die sich im normalen Polizeifilm schon aufeinanderstapeln, kommen in Gavin O'Connors "Das Gesetz der Ehre" noch ein paar mehr dazu: der Zusammenhalt in der Familie und der Stolz auf ein traditionelles Milieu, denn diese Familie ist irisch. Alter Cop-Stammbaum, Väter, Brüder, Schwiegersöhne - alle außerordentlich rechtschaffen irisch. Sie liefern das klassische Bild einer New Yorker Polizisten-Sippschaft, die sich im Beruf und im Privatleben miteinander arrangiert, oder andersherum, die das private Arrangement auch im Beruf nicht vernachlässigt.

So weit die eine Seite des Gesetzes. Die andere spricht Spanisch, hat Sex und legt ebenfalls Wert aufs Familiäre. Das wirkt insgesamt vielleicht ein wenig eindimensional, aber hier lässt sich jedes Verbrechen eben nur auf Spanisch aufklären, was will man machen. Spanisch wiederum kann nur jener Ire, der von Edward Norton verkörpert wird. Deshalb gilt der als Ass unter den Ermittlern, als Spezialist für Fälle im Drogenmilieu, wo er flüsternd den Zeugen die entscheidenden Informationen entlockt. Trotz dieses Vorsprungs durch Fremdsprachenkenntnisse ist Edward Norton nicht froh in seinem Beruf. Bei der Untersuchung eines Hinterhalts mit vier erschossenen Kollegen stößt er auf die Spur eines Korruptionsskandals. Umflort von Gewissenskonflikten ermittelt er direkt hinein in die eigene Familie - das kann dem Gemüt ja nicht förderlich sein.

Auch die anderen Familienmitglieder werden emotional bald schwer in Mitleidenschaft gezogen. Jon Voight muss zu viel trinken und zu laut reden. Colin Farrell weint nicht wie sonst erst kurz vor Schluss, sondern diesmal schon in den ersten zehn Minuten. Die Kamera zeigt immer dunklere Bilder, damit die Düsternis des Stoffes sichtbar wird. Nichts passiert, was auch nur ein wenig über die Klischees des Polizeifilms hinausginge. Irgendwann wünscht man sich, all diese Menschen würden etwas Unterhaltsames tun. Ganz kurz nur, ein Lied singen vielleicht, "Danny Boy" würde sich anbieten. Aber umsonst. DORIS KUHN

PRIDE AND GLORY, USA 2008 - Regie: Gavin O'Connor. Buch: Joe Carnahan, Gavin O'Connor. Kamera: Declan Quin. Darsteller: Edward Norton, Colin Farrell, Jon Voight. Verleih: Warner Bros, 125 Minuten.

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"Menschen verbluten innerlich"

Palästinenser sprechen von unbekannten Verletzungen durch neuartige Waffen, bleiben aber Beweise schuldig

Von Tomas Avenarius

Gaza-Stadt - Der israelischen Armee werden im Gaza-Krieg Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das internationale Kriegsrecht vorgeworfen. Die Vorwürfe kommen bisher von palästinensischer Seite und von internationalen Menschenrechtsorganisationen. Aber auch die Vereinten Nationen verlangen eine vollständige Untersuchung des Beschusses von vier ihrer Schulen und ihres Hauptquartiers in Gaza. Der israelische Premierminister Ehud Olmert stellte sich vor die eigenen Soldaten. Er sagte: "Die Befehlshaber und Soldaten, die nach Gaza geschickt wurden, sollen wissen, dass sie sicher sind vor den Tribunalen. Israel wird sie unterstützen an dieser Front. So wie sie uns mit ihren Körpern geschützt haben während der Gaza-Operation." Seine Reaktion zeigt, dass Israel den Vorwurf eines Verstoßes gegen das internationale Kriegsrecht oder gar der Kriegsverbrechen ernst nimmt. Auch gegen die Hamas, die inmitten der Bevölkerung kämpfte, erheben Menschenrechtler den Vorwurf der Kriegsverbrechen.

Das Kriegsrecht versucht die Kriegsführung mit Hilfe der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konventionen zu lenken. Zivilisten, Krankenhäuser, Schulen und nicht-militärische Einrichtungen sollen geschützt, der Einsatz von Waffen auf das zwingend nötige Maß reduziert werden. Verstöße sind in jedem Krieg zu sehen. Der Vorwurf des Kriegsverbrechens reicht aber weiter: Es geht um Verbrechen gegen Zivilisten oder gegnerische Soldaten, die mit krimineller Absicht begangen werden oder durch rücksichtslosen und erkennbar übermäßigen Gewalteinsatz.

Von palästinensischer Seite wird der Vorwurf der Kriegsverbrechen laut erhoben. So sahen sich Ärzte in den Kliniken mit unbekannten Verletzungen konfrontiert. Sie führen dies auf den Einsatz neuer oder unerlaubter Kampfmittel zurück. Der Chirurg Sobhi Skaik sagte der Süddeutschen Zeitung in Gaza: "Wir haben es mit bisher neuartigen Verletzungen zu tun. Menschen verbluteten innerlich ohne große äußere Verletzung. Bei anderen verbrannten Organe wie die Leber ohne große Außenwunde." Die Ärzte wüssten nicht, welche Folgen solche Verletzungen "langfristig haben und wie wir die Patienten behandeln müssen".

Bisher gibt es aber keine Beweise für den Einsatz unerlaubter Munition. Unbestritten ist hingegen der Einsatz des intensiv brennenden und schwerste Verletzungen verursachenden weißen Phosphors. Dieser hat viele Opfer unter Zivilisten gefordert. Einzelne Menschenrechtler und Militärexperten sind daher vorsichtiger. Zwar erhebt Amnesty International weitgehende Vorwürfe. Human Rights Watch (HRW) äußert sich dagegen zurückhaltender. Am großflächigen Einsatz von Phosphor-Munition gegen Wohnviertel bestehe kein Zweifel, sagte Marc Garlasco von HRW der SZ. Er war im US-Verteidigungsministerium zuständig für Zielauswahl und Waffeneinsatz. Er zweifelt am Einsatz neuartiger Waffen: "Was wir in Gaza zu sehen bekommen haben, sind die Folgen sehr massiven und unproportionalen Einsatzes altbekannter Waffen wie Bomben, Raketen und Artillerie." Der absehbare Vorwurf an Israel laute "ohne jeden Zweifel", ob der unproportionale Einsatz militärischer Mittel gegen ein extrem dicht besiedeltes Gebiet wie Gaza gerechtfertigt sei. Falls nicht, könnte er einem Kriegsverbrechen gleichkommen.

Der Einsatz von Phosphor sei rechtlich gestattet, so Garlasco. Phosphor-Munition wird mit Artillerie verschossen. Sie vernebelt das Schlachtfeld tagsüber und beleuchtet es nachts. Ihr Rauchschleier schützt vor Panzerabwehrwaffen, die mittels Infrarot-Sensoren gezielt verschossen werden. Problematisch sei die Verwendung in dicht besiedeltem Gelände. Israel habe weißen Phosphor gegen Städte eingesetzt und mit dem Schutz der eigenen Truppen begründet. Die meisten Phosphor-Granaten seien in der Luft explodiert und hätten ihr Brandmaterial großflächig verteilt. Man könne solche Granaten so zünden, dass sie am Boden explodierten. Dies schränke ihren Brandradius ein und schone Zivilisten.

Auch der massive Einsatz von 155-Millimeter-Artillerie werfe die Frage des rücksichtslosen Vorgehens und eines möglichen Kriegsverbrechens auf. Artillerie-Granaten haben eine Zielabweichung von bis zu 50 Metern und verletzen Menschen im Umkreis bis zu 300 Metern. Der Beschuss von Stadtteilen mit Artillerie müsse zwangsläufig zu zivilen Opfern führen. Israel habe genug Präzisionswaffen im Arsenal, die punktgenau träfen: Von Drohnen oder Helikoptern abgefeuerte Hellfire-Raketen sowie GPS-gesteuerte Mörsergranaten.

Garlasco betonte, es gebe bisher wenig Anzeichen für harte Bodenkämpfe zwischen Israelis und der Hamas. An den umkämpften Orten fänden sich wenig Kalaschnikow-Patronenhülsen oder Rückstände von Waffen wie den Panzerfäusten, die die Hamas meist einsetze. "Wir finden zwar Abschussorte von Kassam-Raketen. Aber an den Häusern finden sich wenig Einschusslöcher von Kleinwaffen, wie sie bei Straßenkämpfen üblich sind." Die Hamas habe offenbar wenig gekämpft. "Die Hamas-Leute waren wie Geister." Auch der Hamas werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Der Beschuss von Wohngebieten mit Kassam- und Grad-Raketen sei ein Kriegsverbrechen: "Diese Waffen sind extrem zielungenau", sagte Fred Abrahams von HRW. Was den Gebrauch menschlicher Schutzschilde angehe, bestünden wenig Zweifel zumindest in Einzelfällen. Der Nachweis sei aber schwierig. (Seite 4)

"Die Raketen der Hamas sind extrem zielungenau."

Human Rights Watch

Wie in allen Kriegen sind besonders Kinder die Leidtragenden. Im Shifa-Hospital in Gaza-Stadt wechseln Ärzte die Verbände bei einem vierjährigen Mädchen. Foto: AP

Zivile und militärische Opfer im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Kampfhandlungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Kriegsverbrechen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Dem Papst die Hand geküsst

Kirill, der selbstbewusste Metropolit von Smolensk, gilt als Favorit für die Nachfolge Alexijs als Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche

Von Frank Nienhuysen

Moskau - In sich versunken, vielleicht auch nur etwas gelangweilt wegen der langen Warterei, standen die jungen Aktivisten in der Moskauer Kälte und verkündeten stumm ihre Botschaft. "Außerhalb der Kirche gibt es keine Erlösung" war auf ihrem Transparent zu lesen, derweil drinnen in der Christi-Erlöser-Kathedrale die für Russland wohl bedeutendste Personalentscheidung des Jahres eingeleitet wurde. Die wichtigsten Kirchenvertreter einigten sich auf drei Kandidaten für das Amt des neuen Patriarchen; einer von ihnen wird an diesem Dienstag von den 711 Delegierten des Landeskonzils zum Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche gewählt. Am Sonntag soll der neue Patriarch in sein Amt eingeführt werden, und vieles deutet darauf hin, dass es Kirill sein wird, der Metropolit von Smolensk und Kaliningrad.

Kirill, 62 Jahre alt und seit dem Tod von Alexij II. Anfang Dezember bereits Interims-Patriarch, erhielt fast die Hälfte aller Stimmen. Die beiden anderen Kandidaten sind die Metropoliten Kliment und Filaret. Kontinuität in der Orthodoxie soll der Neue sichern, und doch bedeutet die Wahl eine Zäsur. Es ist die erste nach dem Ende der Sowjetunion. 18 Jahre lang hatte Patriarch Alexij die russisch-orthodoxe Kirche geführt und sie nach den schweren Jahrzehnten im Kommunismus wieder zu einem wichtigen Machtzentrum der russischen Gesellschaft gemacht. Nach eigenen Angaben gehören ihr weltweit 150 Millionen Gläubige an, in Russland etwa 100 Millionen. Alexij hat Staat und Kirche miteinander versöhnt, so sehr, dass beide einander zu unverzichtbaren Stützen der Macht geworden sind. Anders als seine Konkurrenten gilt Kirill als Kandidat, der selbstbewusst auf etwas mehr Distanz zum Kreml gehen könnte. Viele erhoffen sich von dem langjährigen "Außenminister" der russischen Orthodoxie eine stärkere Öffnung zu anderen Kirchen.

Die Worte des Pastors

Der 59-jährige Kliment, Metropolit von Kaluga und Borowsk, gilt dagegen vor allem als Vertreter des konservativen Flügels. Filaret, 73, werden wegen seines Alters lediglich Chancen als Übergangspatriarch eingeräumt. Sollte Kirill die Wahl gewinnen, dürfte dies große Erwartungen im Westen auslösen. Während der Ära Alexijs hatte der Vatikan vergeblich auf einen Besuch des Papstes in das Reich der russischen Orthodoxie gehofft. Der Patriarch beschuldigte den Vatikan, in Russland zu missionieren und Gläubige abzuwerben. Ein Reflex, um die gerade zurückgewonnene Autorität zu schützen. Die Spannungen zwischen Russlands Kirche und dem Katholizismus erhöhten sich weiter, als vor vier Jahren in der Ukraine die mit Rom verbündete unierte Kirche ihren Sitz von Lemberg ausgerechnet nach Kiew verlegte - in eine der wichtigsten Bastionen der russisch-orthodoxen Kirche.

Kirill, mit bürgerlichem Namen Wladimir Gundjajew, traf Benedikt XVI. bereits mehrere Male, und seine Kritiker haben dabei ganz genau hingeschaut. Sie werfen ihm vor, dem Papst nach dessen Wahl allzu unterwürfig die Hand geküsst zu haben, aber es sollte sich in dem Metropoliten auch niemand täuschen. Seine wöchentliche Fernsehsendung "Die Worte des Pastors" nutzt er mitunter zur Geißelung westlicher Werte, und derart radikal-fundamental sind manche Strömungen innerhalb der russischen Orthodoxie, dass er auf die nötige Balance achten muss.

"Es wird keine großen Unterschiede zwischen den Kandidaten geben", sagt der Mönchpriester Sawwa Tutunow von der Moskauer Geistigen Orthodoxen Akademie. "Es gibt nun einmal unkorrekte Elemente in der katholischen Kirche. Dass ein Besuch des Papstes in Russland bisher nicht möglich ist, lag nicht an Patriarch Alexij, es lag an der ganzen russisch-orthodoxen Kirche."

Kirill, Metropolit Russisch-Orthodoxe Kirche in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Griechenland blockiert

Bauern weiten Proteste gegen Regierung in Athen aus

Athen - Griechische Bauern haben ihre Proteste gegen die Agrarpreispolitik der Regierung in Athen am Montag ausgeweitet. Zu Beginn der zweiten Protestwoche blockierten sie mit Traktoren erstmals die einzige Straßenverbindung über den Kanal von Korinth und legten damit den Verkehr zwischen der Halbinsel Peloponnes und dem übrigen griechischen Festland lahm. Die Bauern setzten zudem die Blockaden an 35 wichtigen Knotenpunkten und Grenzübergängen nach Bulgarien und in die Türkei fort. Am Morgen öffneten sie vorübergehend zwei Grenzübergänge nach Mazedonien. Vor der Grenze nach Bulgarien stauten sich die wartenden Lastwagen auf fast 20 Kilometern Länge, wie das nationale Fernsehen berichtete.

"Ich habe mich seit einer Woche nicht richtig gewaschen. Ich stinke", schimpfte ein rumänischer Lastwagenfahrer. Ein griechischer Kollege meinte: "Die Orangen, die ich transportiere, sind verfault. Die kann ich gleich hier wegschmeißen." Auf der bulgarischen Seite waren die Lkw-Schlangen noch länger. Am Übergang Kulata-Promahon warteten 300 Lastwagen auf die Einreise, teilte die bulgarische Grenzpolizei mit. Das bulgarische Rote Kreuz versorgte die Fernfahrer mit Wasser und Lebensmitteln. Bulgariens Spediteure forderten die Regierung in Sofia auf, Griechenland wegen der Ausfälle zu verklagen. Die Verluste wegen der Grenzblockade gehen Schätzungen zufolge in die Millionen.

Der griechische Industrieverband warnte vor "enormen Verlusten" für die Wirtschaft. Die Bauern fordern wegen sinkender Subventionen der Europäischen Union und fallender Weltmarktpreise mehr Hilfe vom Staat. Das Durchschnittseinkommen der Landwirte sei im vergangenen Jahrzehnt um rund ein Viertel zurückgegangen, klagt die Bauerngewerkschaft. Am Montagabend waren neue Gespräche mit der Regierung geplant.

Die griechische Presse kritisierte, es gebe in der Landwirtschaft seit Jahrzehnten einen Reformstau. "Die EU-Subventionen sind statt in die Modernisierung der Produktion direkt in den Konsum geflossen. Bauern haben sich in den letzten 20 Jahren mit den von der Europäischen Union kassierten Subventionen Wohnungen in Athen gekauft und Reisen ins Ausland gemacht oder sich teure Geländewagen angeschafft anstatt umzustrukturieren", hieß es in einem Kommentar. dpa

Lastwagen stauen sich an der Grenze zu Bulgarien. Foto: Reuters

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Mitten in der Wirtschaftskrise

Mega-Fusion in Pharmabranche

Viagra-Hersteller Pfizer kauft den US-Rivalen Wyeth für 68 Milliarden Dollar

Von Kristina Läsker

München - In der Pharmabranche kommt es mitten in der Finanzkrise zur größten Übernahme seit neun Jahren. Finanziert von fünf Banken, kauft Branchenprimus Pfizer für 68 Milliarden Dollar den US-Rivalen Wyeth. Damit stemmt sich Pfizer gegen drohende Verluste aus Patentabläufen und verstärkt sich mit biotechnologischen Arzneien.

Seit dem Zusammenschluss von Sanofi und Aventis im Jahr 2004 hat es in der Arzneimittelbranche keine Groß-Fusionen mehr gegeben. Nun plant der Viagra-Hersteller Pfizer einen der umfangreichsten Deals aller Zeiten: Der weltweit größte Arzneimittelhersteller mit Sitz in New York will den halb so großen Wettbewerber Wyeth aus Madison (New Jersey) kaufen und einen auf gentechnologisch veränderte Medikamente ausgerichteten Hersteller formen. "Durch die Kombination von Pfizer und Wyeth entsteht der weltweit beste Biotechnologie-Konzern", sagte Pfizer-Chef Jeffrey Kindler am Montag. Der 53-Jährige soll die Führung übernehmen und ist künftig verantwortlich für einen Jahresumsatz von 71,3 Milliarden Dollar, 129 500 Mitarbeiter und einen Arzneimittel-Vertrieb in mehr als 150 Ländern.

Der Zusammenschluss der Pharmakonzerne ist die erste bedeutende Übernahme seit der Verschärfung der Finanzkrise im vergangenen Jahr und die größte in den USA seit langem. In der Krise waren die Banken nicht mehr bereit, die für solche Geschäfte nötigen Milliardenkredite zu vergeben. Die Fusion könnte nach Meinung von Experten auch der Auftakt sein zu weiteren Zusammenschlüssen in der Branche. Dort fürchten viele Originalhersteller den Ablauf von Patenten, verbunden mit Umsatzeinbrüchen durch die Konkurrenz von billigeren Nachahmermedikamenten (Generika). In etlichen Konzernen schwächelt zudem die Forschung, es gibt zu wenig Nachschub mit neuen Mitteln.

Die Führungsgremien beider Konzerne hatten die Fusion am Sonntag abgesegnet. Sie ist verbunden mit dem Abtritt des Wyeth-Chefs Bernard Poussot und seinem Team. Pfizer finanziert den Zukauf zu etwa einem Drittel mit eigenem Bargeld, zu einem Drittel mit Aktien und zu einem Drittel mit geliehenem Geld eines Bankenkonsortiums. Für den Wyeth-Kauf hat sich Pfizer trotz Bankenkrise eine Finanzierung von 22,5 Milliarden Dollar gesichert. Die US-Kreditinstitute Goldman Sachs, Bank of America, J. P. Morgan Chase, Barclays Capital and Citigroup haben Pfizer dazu mit jeweils 4,5 Milliarden Dollar ausgestattet.

Für den Fall, dass der Zusammenschluss noch scheitern sollte, hat sich Pfizer außerdem zu einer außergewöhnlich hohen Rücktrittszahlung von 4,5 Milliarden Dollar bereit erklärt. Das ist das Doppelte der sonst in der Branche üblichen Prämie und zeigt die Verunsicherung in der Finanzbranche.

Den Zukauf will Pfizer spätestens im Verlauf des vierten Quartals abschließen. Der Hersteller bietet den Wyeth-Aktionären insgesamt 50,19 Dollar pro Aktie. Davon soll es je 33 Dollar in bar geben sowie 0,985 Pfizer-Aktien. Dies entspricht einem Aufschlag von 29 Prozent auf den Schlusskurs vom vergangenen Donnerstag, ehe am Markt Gerüchte über das Geschäft auftauchten. Die Aktionäre von Wyeth halten künftig etwa 16 Prozent am neuen Konzern. Sie müssen sich allerdings auch auf Einschnitte bei der Dividende einstellen, die Pfizer wegen der Übernahme halbieren will.

Jede zehnte Stelle bedroht

Im Zuge der Übernahme sollen etwa zehn Prozent der Stellen wegfallen. Ab dem dritten Jahr nach der Fusion erhofft sich der neue Konzern jährliche Einsparungen von vier Milliarden Dollar.

Pfizer und Wyeth legten wegen der Fusion bereits am Montag ihre Bilanzen vor. Der Branchenprimus erlitt im vierten Quartal 2008 einen drastischen Rückgang des Gewinns. Er ging wegen des umfangreichen Sparprogramms und teurer Rechtsstreitigkeiten um 90 Prozent auf 266 Millionen Dollar zurück. Der Umsatz sank im letzten Quartal wegen des Patentverlusts bei einigen Arzneien um vier Prozent auf 12,3 Milliarden Dollar - der gesamte Jahresumsatz stagnierte bei etwa 48,3 Milliarden Dollar.

Wyeth setzte im Schlussquartal mit 5,3 Milliarden Dollar sogar sieben Prozent weniger um als vor einem Jahr, der Jahresumsatz legte daher nur leicht auf 22,8 Milliarden Dollar zu. Wegen höherer Forschungskosten habe Wyeth auch weniger verdient, teilte der Konzern mit. Der Überschuss sank von 4,6 auf 4,4 Milliarden Dollar. (Kommentare, Seite 28)

Pfizer

Die Wurzeln sind deutsch. Die aus Ludwigsburg stammenden Auswanderer Charles Pfizer und Charles Erhart haben vor 160 den heute größten Pharmakonzern der Welt gegründet. Zu Beginn produzierten sie Mottenkugeln und Zitronensäure. Heute ist Pfizer vor allem für die Potenzpille Viagra bekannt und für das weltweit meistverkaufte Medikament, den Blutfettsenker Lipitor. Groß wurde Pfizer durch die Übernahme der Rivalen Warner-Lambert (2000) für 90 Milliarden Dollar und Pharmacia (2003) für 64 Milliarden Dollar. läs

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Regierung stürzt über Finanzkrise

Islands Sozialdemokraten kippen Koalition vor Neuwahl

Stockholm - Die isländische Regierung ist am Montag an den Folgen der Finanzkrise zerbrochen. Ministerpräsident Geir Haarde reichte am Nachmittag seinen Rücktritt ein, nachdem seine konservative Unabhängigkeitspartei sich nicht mit den Sozialdemokraten auf eine Fortsetzung der Koalition einigen konnte. Die 320 000 Isländer sind besonders hart von der Finanzkrise betroffen: Im Oktober waren die drei größten Banken des Landes nach waghalsigen Spekulationen zusammengebrochen. Das Land stand danach kurz vor dem Staatsbankrott.

Viele Bürger geben der Regierung eine Mitschuld an dem Desaster. Seit Monaten demonstrieren sie regelmäßig in Reykjavik. In den vergangenen Tagen sind diese Proteste heftiger geworden. Tausende forderten den sofortigen Rücktritt des Kabinetts und vorgezogene Neuwahlen. Eigentlich hätte die Amtszeit des Parlaments noch bis 2011 gedauert. Ende vergangener Woche spitzte sich die Situation zu. Unter anderem attackierte ein aufgebrachter Mob mit Schneebällen und Eiern Haardes Dienstwagen.

Finanzaufseher entlassen

Am Freitag kündigte der Ministerpräsident dann Neuwahlen für den 9. Mai an. Er selbst werde wegen einer Krebserkrankung nicht mehr kandidieren, sagte er. Trotz dieses Zugeständnisses gingen die Proteste auch am Wochenende weiter. Am Sonntag legte dann der sozialdemokratische Handelsminister Björgvin Sigurdsson sein Amt nieder. Zuvor feuerte er noch den Chef der Finanzaufsicht.

Haarde sagte am Montagnachmittag: "Ich bedaure den Bruch der Koalition wirklich. Es wäre die beste Lösung gewesen, wenn wir bis zu den Wahlen weiter zusammengearbeitet hätten." In hektischen Diskussionen hatten die Spitzen der beiden Koalitionspartner am Montagvormittag versucht, ihr Bündnis zu retten. Letztlich waren laut Medienberichten die Wünsche der Sozialdemokraten für die Unabhängigkeitspartei nicht annehmbar. Der kleinere der beiden Koalitionspartner soll demnach bis zum Wahltermin im Mai den Posten des Ministerpräsidenten beansprucht haben. Außerdem forderten die Sozialdemokraten eine Annäherung Islands an die EU. Die Partei befürwortet schon lange einen Beitritt zur Union - die Unabhängigkeitspartei und allen voran ihr Parteichef Haarde lehnten diesen Schritt bislang ab.

Ein wichtiger Grund für den Bruch war vermutlich auch, dass es für die Sozialdemokraten in der Koalition kaum noch etwas zu gewinnen gegeben hätte. Sie regieren erst seit 2007 in Reykjavik mit, davor waren sie lange in der Opposition. Die Unabhängigkeitspartei ist dagegen schon seit Jahren in wechselnden Koalitionen an der Macht. Daher geben die aufgebrachten Bürger vor allem ihr die Schuld am Zusammenbruch der Wirtschaft. Neben Ministerpräsident Haarde gehört auch der mittlerweile sehr unpopuläre Zentralbankchef David Oddson der Unabhängigkeitspartei an. Vor allem gegen diese beiden richtet sich die Wut der Demonstranten. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen musste den Sozialdemokraten daran gelegen sein, sich möglichst von ihnen zu distanzieren.

Vermutlich wird die sozialdemokratische Parteichefin Ingibjörg Gisladottir versuchen, mit den Linksgrünen und den Liberalen eine Übergangsregierung zu bilden. Die Linksgrünen haben von der Krise bislang am stärksten profitiert, laut Umfragen sind sie derzeit stärkste politische Kraft. Die Partei lehnt einen EU-Beitritt strikt ab, was die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten erschweren könnte. Gunnar Herrmann

Haarde, Geir Regierungen Islands SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schwere Vorwürfe gegen türkische Justiz

Anwälte sehen hohe Beamte in den Mord an dem Journalisten Hrant Dink verwickelt

Von Kai Strittmatter

Istanbul - Zwei Jahre nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten und Verleger Hrant Dink sind laut Dinks Anwälten die wahren Verantwortlichen noch immer auf freiem Fuß. Am Montag fand in Istanbul der achte Verhandlungstag gegen den mutmaßlichen Mörder, den zur Tatzeit 17-jährigen Ogün Samast, und seine Anstifter statt: Ultranationalisten aus der Schwarzmeerregion mit Verbindungen zu Polizei und Geheimdiensten. Vor der Verhandlung erhoben die Anwälte Dinks, Fethiye Cetin und Deniz Tuna, schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden, denen sie die Verdunkelung des Verfahrens vorwarfen. Es habe im vergangenen Jahr "keine positiven Entwicklungen" gegeben, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Anwälte; der Fall erschüttere "das Vertrauen der Bürger in die Justiz". Die Anwälte beklagen vor allem, die Justiz gehe nicht gegen hohe Polizeibeamte vor, die vor der Tat von den Mordplänen wussten.

Der 53-jährige Dink war am 19. Januar 2007 vor den Räumen seiner armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos erschossen worden. Als Täter gefasst wurde der arbeitslose Jugendliche Samast; die Ermittlungen ergaben jedoch schnell, dass er nur auf Auftrag gehandelt hatte. Bis heute stehen 19 Verdächtige vor Gericht. "Dink wurde umgebracht nach einer detaillierten Vorbereitung", sagt Anwältin Cetin. Für viele schockierend war die Enthüllung, dass leitende Polizeibeamte über V-Leute von den Mordplänen informiert waren und nichts unternahmen - eine Tatsache, die von höchster Stelle bestätigt wurde: "Polizei und Gendarmerie wussten von der Bedrohung für Hrant Dink", heißt es in dem Bericht der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments über den Mord: "Er starb, weil diesen Hinweisen nicht nachgegangen wurde." Und der Abschlussbericht eines Komitees des Premierministers befand: "Die Polizei der Provinz Trabzon erfuhr schon ein Jahr vor der Tat von dem geplanten Mord."

Dennoch müssen die betreffenden hohen Beamten bis heute nicht vor Gericht. Wo kleine Beamte angeklagt wurden wie in der Stadt Samsun - wo sie den festgenommenen Samast auf der Wache als Helden feierten - , wurden sie schnell freigesprochen. In Istanbul verschwanden derweil Aufzeichnungen der Überwachungskameras rund um den Tatort. "Es gibt Beamte, die vielleicht in den Mord verwickelt sind", sagte Anwältin Cetin der Zeitung Sabah: "Solange die noch im Amt sind, werden wir nie alle Beweise bekommen oder aber sie werden gefälscht." Dinks Anwälte fordern ein Ende der Immunität hoher Beamter und zudem die Zusammenlegung der über Istanbul, Trabzon und Samsun verteilten Prozesse: "Sonst bekommen wir nie das ganze Bild." Premier Tayyip Erdogan immerhin hat unlängst den Weg frei gemacht für Ermittlungen gegen zwei Beamte des Polizeigeheimdienstes: Ramazan Akyürek, oberster Chef des Dienstes, und Ali Fuat Yilmazer, Chef der Istanbuler Abteilung, müssen sich demnächst Inspektoren des Innenministeriums stellen.

Anhänger des ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink fordern vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul "Gerechtigkeit für Hrant". Foto: AP

Dink, Hrant: Tod Dink, Hrant: Attentat Justizwesen in der Türkei Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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El-Masri verklagt Mazedonien

Belgrad - Der Deutsch-Libanese Khaled el-Masri hat Mazedonien auf 50 000 Euro Schmerzensgeld verklagt, weil er dort Anfang 2004 vermutlich vom US-Geheimdienst CIA verschleppt worden war. "Wir fordern eine Entschädigung für seine Zeit hier, für die Folter, die er 24 Tage lang in Mazedonien erleiden musste", sagte sein Anwalt Filip Medarski am Montag. In den USA hat el-Masri bereits eine Klage gegen den Geheimdienst CIA verloren, in der er 75 000 Dollar Schmerzensgeld forderte. El-Masri war nach eigenen Angaben im Dezember 2003 in Mazedonien verschleppt und später nach Afghanistan gebracht worden, wo er gefoltert wurde. Monate später wurde er in Albanien ausgesetzt. Beim Verwaltungsgericht Köln ist eine weitere Klage el-Masris anhängig: Der 45-Jährige verlangt darin von der Bundesregierung, bei den USA die Auslieferung der CIA-Agenten zu beantragen, die in seine Verschleppung verwickelt sein sollen.Reuters

Belgrad

- Der Deutsch-Libanese Khaled el-Masri hat Mazedonien auf 50 000 Euro Schmerzensgeld verklagt, weil er dort Anfang 2004 vermutlich vom US-Geheimdienst CIA verschleppt worden war. "Wir fordern eine Entschädigung für seine Zeit hier, für die Folter, die er 24 Tage lang in Mazedonien erleiden musste", sagte sein Anwalt Filip Medarski am Montag. In den USA hat el-Masri bereits eine Klage gegen den Geheimdienst CIA verloren, in der er 75 000 Dollar Schmerzensgeld forderte. El-Masri war nach eigenen Angaben im Dezember 2003 in Mazedonien verschleppt und später nach Afghanistan gebracht worden, wo er gefoltert wurde. Monate später wurde er in Albanien ausgesetzt. Beim Verwaltungsgericht Köln ist eine weitere Klage el-Masris anhängig: Der 45-Jährige verlangt darin von der Bundesregierung, bei den USA die Auslieferung der CIA-Agenten zu beantragen, die in seine Verschleppung verwickelt sein sollen.

El-Masri, Khaled: Rechtliches Verwicklung deutscher Behörden in den CIA-Skandal SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zwischenzeit

Goethes Lebenskunst

Wollte man Flauberts Lexikon der Gemeinplätze fortsetzen, müssten im Eintrag zu Goethe mindestens zwei Sätze stehen: "Über ihn ist alles schon gesagt." Und: "Über ihn ist noch längst nicht alles gesagt." Eine dritte, nicht so vollmundige Behauptung träfe wohl das Richtige: Vieles von dem, was über ihn gesagt wurde, ist wieder vergessen worden, obwohl es gut und richtig ist.

So bemüht sich die Goethe-Forschung in den letzten Jahren wieder darum, die reale Umwelt der Weimarer Klassik am herzoglichen Musenhof auszuleuchten. Goethe, der Hofmann und Geheimrat, der Verwaltungsbeamte und Bildungspolitiker, der Unterhaltungskünstler und Stratege im Literaturkampf - das sind neue, in gewichtigen Forschungsschwerpunkten untersuchte Themen. Doch wer sich ein Bild davon machen möchte, findet die farbigste und detailreichste Erzählung immer noch in der neun Bände zählenden, bis zum Jahre 1798 reichenden Goethe-Biographie, die der Schriftsteller Wilhelm Bode zu Anfang der zwanziger Jahre vorlegte.

Bode (1862-1922) war kein Professor, sondern ein unermüdlicher Sammler. Die Forschung benutzt bis heute dankbar die drei Bände "Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen". Bodes Biographie von Goethes Sohn August wurde die wichtigste Quelle für Thomas Manns "Lotte in Weimar". Bode schreibt eine unangestrengte, immer sachhaltige Prosa, die nur bei der Darstellung von Goethes Liebesaffären einen allzu süßen Ton annimmt, wilhelminisches Rokoko. Da er aber zu einer Zeit lebte, in der die reichsstädtische und kleinhöfische Welt Goethes noch zu sehen war, ist er auf seine Weise ein unüberholbarer Zeuge. Verglichen mit ihm wirken die präzisen neuen Forschungen wie Google-Earth im Verhältnis zu Landschaftsmalerei.

Auch hält sich Bodes Biographie überraschend gut im Vergleich zu dem gleichzeitigen, so viel anspruchsvolleren Wälzer des George-Schülers Friedrich Gundolf von 1916. Der Germanist Gundolf, einer der besten Leser seiner Zunft, zeigt uns einen Geistestitanen im Weltschicksal, dessen Bahn der Deuter besser versteht als dieser selbst. Die konkrete Person verschwindet in einer fernblickenden Kantigkeit, als sei sie eine Kyffhäuser-Statue: grässlich, unerträglich.

Eins der erfolgreichsten Goethe-Bücher aller Zeiten war Bodes Brevier über "Goethes Lebenskunst" von 1899. Man befürchtet Schlimmes, aber wenn man es aufschlägt, findet man eine nach Themen geordnete Sammlung von Zitaten und Sachverhalten, die Goethe aus der Nähe zeigen, ohne sich anzumaßen, aus seinem Innersten zu sprechen. Wie war Goethes Einstellung zu seinen Feinden? Hierzu listet Bode ein paar Maximen aus den Werken auf, aber vor allem zeigt er, wie der Dichter sich praktisch verhielt. Den Schriftsteller August von Kotzebue beispielsweise konnte er nicht ausstehen. Aber er nutzte als Theaterdirektor, der den Spielplan füllen musste, doch das schnellfertige Talent eines Gegners, der ihm oft am Zeuge flickte: 84 Stücke Kotzebues ließ Goethe zwischen 1791 und 1817 an weit über 600 Abenden über die Bretter des Weimarer Hoftheaters gehen.

Feindschaften sind etwas Unpraktisches, sie verschwenden Energie. Dem Frankfurter Verwandten J.F.H. Schlosser, der einen Mitbürger öffentlich angegriffen hatte, schrieb Goethe 1816, wenn er bedenke, dass dieser nun mit dem Angegriffenen zeitlebens in einer Stadt, als Ratsherr gar in einem Kollegium zusammenleben müsse, "so stelle ich mir Ihre Lage so schrecklich vor, dass ich mich kaum darüber beruhigen kann". Denn der Hass, so Goethe in einem Vers, ist eine läst'ge Bürde, "und sie legt sich wie ein Grabstein schwer auf alle Freuden". Nebenbei begreift man, warum die Literaturkritik letzthin so nett geworden ist: Seit sich in Berlin alle treffen, Autoren, Kritiker, Verleger, müssen sich Feindschaften immer öfter von Angesicht zu Angesicht bewähren. Wer erträgt das schon? GUSTAV SEIBT

Goethe, Johann Wolfgang von: Biographie Bode, Wilhelm von SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Härtere EU-Sanktionen gegen Mugabes Regime

München - Die Entwicklungsgemeinschaft südafrikanischer Staaten SADC hat am Montag erneut versucht, eine Lösung für die Krise in Simbabwe zu finden. Auf einem Sondergipfel in Südafrika forderten die Präsidenten ihren Kollegen Robert Mugabe und Oppositionsführer Morgan Tsvangirai auf, sich über die Machtteilung zu einigen. Die katholischen Bischöfe in Afrika warnten die SADC, Mugabe nicht länger zu stützen. Sie würde sich sonst des "passiven Völkermordes" schuldig machen. Seit September verhandelt Mugabe mit Tsvangirai über eine Koalitionsregierung. Doch Mugabe blockiert die Gespräche. Er ließ viele Oppositionelle entführen und will alle Schlüsselministerien behalten.

Zu leiden hat unter dem politischen Stillstand vor allem die Bevölkerung. Die Lebensmittelversorgung und das Gesundheitssystem sind zusammengebrochen. Die meisten Schulen und Krankenhäuser sind geschlossen. 50 000 Menschen sind an Cholera erkrankt, 3000 sind daran gestorben. Die Bundesregierung will nun ihre Hilfe um eine Million Euro auf 3,2 Millionen aufstocken. Dem Roten Kreuz fehlen trotzdem immer noch vier Millionen Euro zur Cholerabekämpfung in Simbabwe.

Unterdessen hat die Europäische Union am Montag die Sanktionen gegen Mugabe und seine Getreuen verschärft. Die EU-Außenminister beschlossen auf ihrem Treffen in Brüssel Strafmaßnahmen gegen weitere 26 Funktionäre und 36 Unternehmen. Insgesamt stehen nun 203 Personen und 40 Firmen auf der Liste. Die Betroffenen dürfen nicht in die EU reisen, ihre Vermögen auf europäischen Konten werden eingefroren und mit den genannten Firmen dürfen Europäer keine Geschäfte machen. jth

Beziehungen der EU zu Simbabwe SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heikler Besuch beim Nachbarn

Die erste Reise Obamas führt zu Kanadas Premier Harper

Vancouver - Für viele Kanadier ist die Welt wieder in Ordnung: US-Präsident Barack Obama wird seinen ersten offiziellen Auslandsbesuch dem Nachbarland abstatten. Dass US-Präsidenten zuerst Kanada besuchen, ist zwar Tradition, aber Obamas Vorgänger George W. Bush hatte die Kanadier vor acht Jahren brüskiert und zuerst Mexiko besucht. Während Bush bei einer Mehrheit der Kanadier unbeliebt war, hat Kanada eine Obama-Euphorie erfasst. Heute sind Eishockey-Spiele vergessen, bei denen Kanadier die US-Nationalhymne mit Buhrufen bedachten. In weiten Kreisen der Bevölkerung, in der während der Bush-Ära eine anti-amerikanische Stimmung verbreitet war, blickt man jetzt mit Sympathie nach Washington.

Aber Obama und Kanadas konservativer Premier Stephen Harper werden bei ihrem Treffen, das in einigen Wochen stattfinden dürfte, heikle Themen zu besprechen haben. Bereits mit seiner ersten Amtshandlung hat Obama der Regierung Kanadas ein Problem beschert. Im Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba, das Obama schließen wird, ist seit sieben Jahren Omar Khadr, ein kanadischer Kindersoldat der al-Qaida, interniert. Ihm warf man bislang in den USA vor, im Alter von 15 Jahren einen amerikanischen Soldaten mit einer Handgranate getötet zu haben. Harper weigert sich bis heute, den 22-jährigen Khadr nach Kanada zu holen. Vor kurzem erklärte Harper, er betrachte Khadr gar nicht als Kindersoldat, weil er nie einer Armee angehört habe. Politische Beobachter erwarten, dass Obama Kanada bald zum Handeln auffordern dürfte.

Die Regierung in Ottawa bereitet sich auch darauf vor, die Ölsand-Minen in der Provinz Alberta gegenüber der neuen Obama-Administration zu verteidigen. Der neue US-Präsident hatte während seines Wahlkampfes immer wieder schmutzige Energiequellen kritisiert. Umweltschützer und manche Politiker in den USA prangern schon lange die große Umweltbelastung durch kanadische Ölsand-Verarbeitung, bei der große Mengen Wasser verbraucht werden, an. Harper ist ein Politiker aus Alberta und hat als junger Mann zeitweilig für eine Ölfirma gearbeitet.

Ende der Schonfrist

Harper, der früher als Oppositionspolitiker den Krieg im Irak befürwortete, wird oft als politischer Freund von Bush bezeichnet. Aber genau betrachtet hielt sich die Übereinstimmung zwischen den beiden in Grenzen. So widersetzte sich Harper konsequent dem Anspruch der Bush-Administration, die Gewässer der Arktis seien internationale Schiffswege und nicht kanadisches Hoheitsgebiet. Das behauptete ein US-Dokument noch wenige Tage vor Bushs Abschied aus der Politik. Ein Dorn im Auge der USA war auch stets Kanadas Weigerung gewesen, am Krieg im Irak teilzunehmen. Obama, der selbst gegen den Krieg war, wird das - anders als Bush - den Kanadiern nicht übelnehmen. Da Afghanistan eine von Obamas Prioritäten ist, wird in Kanada allgemein erwartet, dass der US-Präsident versuchen wird, ein Umdenken in Ottawa zu erreichen: Die kanadische Regierung will nämlich ihre Kampftruppen im Jahr 2011 aus Afghanistan abziehen, wo bereits 107 kanadische Soldaten umgekommen sind.

Für Harper geht mit der Ära Bush auch eine gewisse Schonfrist zu Ende. Die Kanadier haben begonnen, ihren Premier mit dem charismatischen Obama zu vergleichen. Ein Blogger schrieb auf der Internetseite der kanadischen Zeitung The National Post über Harper: "Vorbei sind die Tage, als George ihn gut aussehen ließ." Bernadette Calonego

Harper, Stephen Joseph: Empfänge Obama, Barack: Dienstreisen Beziehungen der USA zu Kanada SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Herrscher über Kinderarmee

Prozess gegen Kongos Ex-Milizenchef Lubanga eröffnet

Von Judith Raupp

München - Der ehemalige kongolesische Rebellenführer Thomas Lubanga hat am Montag vor dem Internationalen Strafgerichtshof jede Verantwortung für Kriegsverbrechen in der Provinz Ituri von sich gewiesen. "Unser Klient möchte auf unschuldig plädieren", sagte seine Anwältin Catherine Mabille am ersten Prozesstag in Den Haag. Chefankläger Luis Moreno-Ocampo wirft Lubanga vor, von 2002 bis 2003, während des Krieges zwischen Lubangas Volksgruppe der Hema und den Lendu, Hunderte Kindersoldaten eingesetzt zu haben. Insgesamt kämpften 30 000 Kinder in dem Krieg.

Der Prozess gegen Lubanga ist das erste Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Er wird im Internet und auch über Satellit im Kongo, in zahlreichen weiteren afrikanischen und in asiatischen Ländern übertragen. Es sei wichtig, dass die Menschen sehen könnten, dass ihnen Gerechtigkeit widerfahre, erklärte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

Lubanga, studierter Psychologe und einst Chef des bewaffneten Teils der Partei Union kongolesischer Patrioten, verfolgte die zweistündigen Ausführungen des Chefanklägers reglos. Moreno-Ocampo sagte, die ehemaligen Kindersoldaten könnten den Lärm der Maschinengewehre nicht vergessen. "Und sie können nicht vergessen, dass sie getötet haben, dass sie vergewaltigten und vergewaltigt wurden." Besonders schlimm hätten die Mädchen gelitten, sagte Moreno-Ocampo. Sie hätten als Sexsklavinnen dienen müssen, viele lebten nun als Prostituierte, weil sie sich nicht mehr nach Hause trauten. Jede Hema-Familie habe Lubanga ein Kind geben müssen. Wer sich weigerte, wurde getötet, berichtete der Staatsanwalt.

Moreno-Ocampo will seine Anschuldigungen durch Fotos, Videoaufnahmen und mehr als 1700 Dokumente belegen. Zudem sollen 34 Zeugen aussagen, darunter auch ehemalige Kindersoldaten. In einem Video ist Lubanga zu sehen, wie er lachend neben einem schmächtigen Jungen in Uniform steht, der sich unter großer Anstrengung bemüht, eine Kalaschnikow auf einen Jeep zu heben. In dem Verfahren vertreten auch mehrere Anwälte die Interessen von dreiundneunzig Opfern. Der Prozess wird voraussichtlich mehrere Monate dauern. Sollte Lubanga verurteilt werden, könnte er eine Haftstrafe von dreißig Jahren bekommen.

Muss sich vor dem Weltgerichtshof verantworten: Thomas Lubanga (rechts), studierter Psychologe und ehemaliger Rebellenchef im Ostkongo. Foto: dpa

Lubanga, Thomas: Rechtliches Internationaler Strafgerichtshof Den Haag Fälle beim Internationalen Strafgerichtshof ab 2007 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heiter verharmlost

Christian Thielemann dirigiert den "Rosenkavalier" in Baden-Baden

Es war eine problematische Idee, Herbert Wernickes einstige Salzburger "Rosenkavalier"-Inszenierung von 1995 nun fürs Baden-Badener Festspielhaus (durch Alejandro Stadler) neu einstudieren zu lassen. Die Aufführung wirkte optisch und musikalisch uneinheitlich, inhomogen - teils überraffiniert mit ihren Spiegel-Effekten, teils auch forciert derb. So war Christian Thielemanns Hinweis im Programmheft, es sei gar keine schlechte Idee, Opern "nur noch konzertant" aufzuführen, durchaus ernst gemeint. . .

Bei der Premiere in Baden-Baden, die auch in Paris und in München konzertant wiederholt werden soll, interessierte die Rosenkavalier-Gemeinde hauptsächlich Folgendes: Wie meistern die opern-ungewohnten Münchner Philharmoniker unter ihrem genialischen Chef Thielemann die berühmte Strauss-Partitur? Und: Was macht die als größte Strauss-Sängerin der Gegenwart gefeierte Renée Fleming aus der Marschallin?

Thielemanns interpretatorischer Ansatz war überdeutlich: Er wollte die Komödie für Musik nicht wagnerianisch-wuchtig überfahren, sondern mozartisch anmutig verzaubern. Wunderbar wehmütige Übergänge betörten, zartes Verdämmern ließ sich erleben. Bereits die "stürmisch bewegte" Einleitung, also das Vorspiel, das "Agitato und sehr überschwänglich" vorgetragen werden soll, von Liebeslust vibrierend, hatte eine zartmeditative Aura. Erst beim ruhig expressiven Motiv der Marschallin schien die Musik ganz zu sich selbst gekommen zu sein. Der gelungenste, bewegend wunderschöne Augenblick des Abends war - was sonst oft so banal bleibt - die gläsern poetische Innigkeit, mit der im zweiten Akt die Überreichung der silbernen Rose stattfand (erlesen zart und vollkommen rein Diana Damrau als Sophie und auch Sophie Koch als Octavian). Sonst freilich kostete Thielemanns Diskretion manchmal ihren Preis: Man hatte oft das Gefühl, einer handfesten Schauspielkomödie mit bis zum Überdruss wohlbekannter Bühnenmusik beizuwohnen. Die notwendige symphonische Homogenität dürfte sich bei den folgenden Aufführungen noch herstellen.

Entscheidend wäre dabei, dass die Interpretation weit mehr Nachdruck zu legen versuchte auch auf die düstere Aura mancher Strauss'schen Eingebungen! Verächter des "Rosenkavalier"-Komponisten spötteln gern, er habe Hofmannsthals hoch poetischen Zartsinn derben fabelhaften Effekten geopfert. Aber - Leonard Bernstein führte es einst in Wien unvergesslich vor - beispielsweise das Motiv des Ochs von Lerchenau, eine scheinbar rätsellose 32stel-Girlande, kann auch abgründig dunkel klingen! Kann also der Figur eine Aura verleihen, die weit über Hofmannsthals Komödienintention hinausgeht.

Und die Marschallin? Gewiss nicht leicht zu gestalten, in ihrer Mischung aus Souveränität und amouröser Leichtfertigkeit, aus aristokratischem Selbstbewusstsein und Wiener Wehmut. Renée Fleming wirkte wunderbar jung, jugendlich, geradezu atemberaubend schön. Über der Figur, ihrer Präsenz, ihrer Stimme schien stets ein Lächeln zu liegen, wie es recht gut zur Vergänglichkeitswehmut passt. Es gab zarte, leise, zögernde Momente seelischer Stille. Und trotzdem hat (mich) Renée Flemings Marschallin enttäuscht. Immer nur lächeln, holdselig: Das genügt für eine solche Strauss-Rolle nicht. Der betörend süßen, lyrischen Stimme fehlt die eindringliche Christa- Ludwig-Fülle mannigfacher dunkler Farben, fehlt die dramatische Kraft jugendlich-weiblicher Passion. Hinzu kam, dass ihr Timbre demjenigen des Octavian manchmal bis zum Verwechseln ähnlich schien, was bei einer jugendlichen Hosenrolle und einer doch 20 Jahre älteren Liebhaberin zu einer gewissen Verwirrung führt.

Unerwarteterweise tendierte die Aufführung zu einer Nobilitierung des Ochs von Lerchenau (Franz Hawlata). Der war nie, so idiotisch wüst sich seine Begleiter auch aufführten, ein töricht-verbauerter Provinztrottel. Sondern er wirkte jung, fast elegant. Kein schlechter Kerl, aber auch nicht im mindesten komisch. Die Aufführung dauerte viereinhalb Stunden und erntete umfänglichen Beifall. Gleichwohl hat es nach großen "Rosenkavalier"-Premieren schon weitaus heftigere Ovationen gegeben. JOACHIM KAISER

Der selige Augenblick: Octavian (Sophie Koch) übergibt Sophie (Diana Damrau) die silberne Rose. Foto: Andrea Kemper

Thielemann, Christian Fleming, Renée Münchner Philharmoniker Inszenierungen in Deutschland Der Rosenkavalier SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Mädchenzauberland

Schimmelpfennigs "Alice" am Münchner Volkstheater

Natürlich könnte man den aktuellen Stand der inzwischen sehr kritischen Forschung erzählen. Man könnte das merkwürdige Leben des Charles Lutwidge Dodgson auf die Bühne bringen, die Diskrepanz zwischen seiner Tätigkeit als Dozent für Naturwissenschaften und seiner Faszination für junge Mädchen. Man könnte darauf hinweisen, auch ohne jede sexuelle Anspielung, dass der Mann, der als Lewis Carroll sein Glück in der Poesie suchte, nur dann froh war, wenn er seinen "childfriends" (es sollen an die 300 gewesen sein) Geschichten erzählen konnte. Weil er dann die Zeit anhalten, wieder selbst ein Kind werden konnte. Man könnte all dies erzählen, wenn man "Alice im Wunderland" inszeniert. Aber, ehrlich gesagt, wer wollte dies sehen?

Was man hingegen gern sehen will, ist die Inszenierung von Bettina Bruinier am Münchner Volkstheater. Als Textgrundlage nutzt sie die Fassung von Roland Schimmelpfennig, die einst, 2003, einem Musical als Basis diente. Geblieben ist davon die Grundstruktur von Theater mit eingeschobenen Songtexten und die leicht schnoddrige Sprache, die immer dann, wenn Schimmelpfennig sich nicht direkt des blühenden Unsinns Carrolls annimmt, eine grimmige Alltagstauglichkeit vorzuweisen versucht. Wie jede Dramatisierung ist auch diese nur ein Ausschnitt des am wenigsten kindgerechten Kinderbuches aller Zeiten; bei Schimmelpfennig fehlen einige der reizenden Tiere und auch das Krocketspiel.

Aber was fehlt, vermisst man nicht, weil das, was da ist, so schön ist. Bettina Bruiniers Theater ist eigentlich immer eine Reise in ein Wunderland, weil die junge Regisseurin (Jahrgang 1975) ohne viel Gedöns tatsächlich wundersame Zaubereien auf der Bühne entwickeln kann. Ihre Phantasie ist weit und im Bedarfsfall abgründig, deren Umsetzung so präzise, dass sie auch einfach die Dinge, die zufällig auf der Bühne herumliegen, in die Hand nehmen und dramatische Sensationen damit vollführen könnte.

In "Alice" fasziniert das Ensemble in Bruiniers Verwandlung; der verrückte Hutmacher (Nico Holonics) schaut aus wie aus einem Tim-Burton-Film und benimmt sich auch so, Diedeldum und Diedeldei (Xenia Tiling und Stefan Murr) exerzieren mit dem großen Ernst wahrer Komiker Carrolls Nonsens-Gedichte, Sophie Wendt ist eine kreischende Schmerzenskönigin. Krachend rutscht der Bühnenboden unter den Darstellern weg, die Band unter Oliver Urbanski spielt dazu erfrischende Polka-Rumpeleien. Die Darsteller singen und tanzen, als gäb's kein Morgen und überspielen so geschickt, dass die Inszenierung noch drei, vier Aufführungen braucht, um dem Zuschauer mit Wucht jede Möglichkeit des mäkelnden Nachdenkens zu rauben.

Doch die Schönste ist Alice, weil Barbara Romaner mit Trotz und Selbstbewusstsein durch diese Wunderwelt stapft, ohne sich selbst zu verlieren. Der Märzhase sagt zu ihr, ein Mädchen wie sie müsste jeden Sommer vorbeikommen. Damit sich die Wunderlandwesen wahrnehmen können. Alice, der lebendige, existenzverschaffende Spiegel, jedoch verschwindet. Und das ist so ergreifend traurig, wie es das Leben von Charles Lutwidge Dodgson vermutlich war. EGBERT THOLL

Münchner Volkstheater: Inszenierungen Alice im Wunderland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Es werde Recht!

Von Nicolas Richter

Charles Taylor, der ehemalige Despot aus Liberia, liebte große Auftritte. Mal zeigte er sich im Kampfanzug, mal im weißen Engelsgewand, mal verglich er sich mit Jesus. Heute steht der Selbstdarsteller vor einem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag, und von seiner Maßlosigkeit zeugt höchstens noch seine Aktenmappe, an die er so viele bunte Textmarker gesteckt hat, wie diese nur aufnehmen kann. Mal fährt Taylor mit einem gelben Neonstift über seine Akten, mal mit der Farbe Orange. Seine Opfer in Sierra Leone könnten nicht mal mehr das: Ihnen wurden Hände oder Unterarme abgehackt, von Rebellen, die Taylor angestiftet hatte. Ein blutiges Geschehen endet hier in der kühlen, sachlichen Atmosphäre eines Gerichtssaals; es ist das beste Ende, das eine trostlose Geschichte wie diese noch finden kann.

Der Mythos unberührbarer Tyrannen löst sich langsam auf. Die Tribunale für Jugoslawien, Ruanda oder Sierra Leone haben Gewaltherrscher verfolgt und verurteilt, und nach 13 Jahren auf der Flucht ist nun endlich auch der mutmaßliche Massenmörder Radovan Karadzic verhaftet worden. Unterdessen etabliert sich das Weltstrafgericht, das vor zehn Jahren in Rom geschaffen wurde. Es hat sich kein geringeres Ziel gesetzt, als der Straflosigkeit weltweit ein Ende zu setzen und damit Staatsverbrechen zu verhüten, denen in der Geschichte Millionen Kinder, Frauen und Männer zum Opfer fielen. Vor zehn Jahren sprachen die Staatsgesandten in Rom: Es werde Recht! Es klang ein bisschen anmaßend, als seien wie Gott, der in der Genesis mal eben das Licht herbeiverfügte.

Erst in diesen Tagen hat die Politik die Wucht dieses Mandats von 1998 erkannt. Der Chefankläger Luis Moreno-Ocampo will einen amtierenden Präsidenten verhaften lassen, den Sudanesen Omar al-Bashir, dessen Milizen erbarmungslos durch die Provinz Darfur ziehen. Etliche Politiker und Diplomaten, an ihrer Spitze der UN-Generalsekretär, sind jetzt irritiert: Sabotieren die Fahnder die vagen Friedenspläne für den Sudan, setzen sie die UN-Soldaten im Land dem Zorn des Despoten aus? Ist die Weltjustiz bloß die fixe Idee eitler Juristen, die in klimatisierten Büros auf Strafe beharren und damit sogar Menschenleben riskieren?

Sadisten als Friedensfürsten

Gerechtigkeit und Friede scheinen sich nicht zum ersten Mal im Wege zu stehen. Despoten wie Slobodan Milosevic oder Charles Taylor haben immer versucht, sich mit wolkigen Friedensversprechen ihren Strafverfolgern zu entziehen. In der Tat kann die Aussicht auf Amnestie ein wichtiges Pfand in Friedensgesprächen sein: Die Missetäter verschwinden, dafür müssen sie nicht für ihre Verbrechen zahlen. Genau dies versuchen gerade Rebellen in Uganda, die das Weltstrafgericht wegen ihres sadistischen Treibens sucht: Die Täter drohen, die Pforten der Hölle zu öffnen, falls sie ausgeliefert werden. Wie also reagieren: Frieden um des Friedens Willen? Oder fiat justitia pereat mundus - Recht geschehe, selbst wenn dabei die Welt untergeht?

Der Internationale Strafgerichtshof hat nie einen solch absoluten Anspruch erhoben, er hält sich heraus, wo Krisenstaaten ihre Massaker selbst aufklären, und er lässt jeden Raum für Versöhnungsrituale nach Landestradition. Auf der Jagd nach den Anführern und Anstiftern aber, die sonst unbehelligt blieben, darf das Gericht nicht zurückweichen.

Ja, Konflikte enden auch dadurch, dass mit widerwärtigen Machthabern geredet wird. Das ist Realpolitik. Manche Tyrannen aber haben sich mit ihrem Vernichtungswillen so weit von der Zivilisation entfernt, dass die Welt dies ahnden muss. Auf Dauer gibt es keine Versöhnung, wenn ein Taylor oder ein Karadzic frei herumläuft und seine Opfer verhöhnt, und es ist skurril zu glauben, dass frühere Schlächter, plötzlich bekehrt, eine gerechte Gesellschaft gründen könnten. Ein Haftbefehl bietet da Orientierung für die Politik: Mit bestimmten Verbrechern darf sie nicht mehr ins Geschäft kommen. Der Haftbefehl gegen Karadzic, vom Sicherheitsrat gebilligt, war sein politischer Tod. Karadzic konnte keine Bedingungen mehr für einen Frieden in Bosnien diktieren. Stattdessen musste er verschwinden.

Insofern machen Strafverfolger durchaus Politik im weiteren Sinne. Aber sie können Politikern schon deswegen nichts diktieren, weil letztlich Regierungen entscheiden, wer tatsächlich verhaftet und ausgeliefert wird. Und die Politik selbst beschließt, wie sie dieses Ziel erreicht. Bei Taylor klappte es mit einem Trick: Die Amerikaner lockten ihn ins Exil, um zunächst die Region zu stabilisieren, anschließend ließen sie ihn verhaften. Selbst wenn Tyrannen noch regieren, öffnen Haftbefehle neue Optionen in der Diplomatie. Bashir, der vom UN-Sicherheitsrat jahrelang geschont wurde, gerät jetzt erstmals selbst in die Enge. Als mutmaßlicher Völkermörder wirft er auch auf die verbündeten Chinesen einen Schatten, die ein Interesse haben müssen, dass er nicht weiteres Unheil anrichtet. Neue Verbrechen seines Regimes, noch dazu gegen die UN-Soldaten im Land, können sie kaum noch tolerieren.

Und Guantanamo?

Von Anklägern und Richtern der Weltjustiz kann niemand erwarten, dass sie sich nach der tagespolitischen Bequemlichkeit richten, denn damit würden sie sich selbst abschaffen. Das Tribunal ist entstanden alsWarnung an Gewaltverbrecher. Sollte sich die Strafjustiz so opportunistisch verhalten, wie es die Weltdiplomatie auch im Fall des Sudan so oft getan hat, verlöre sie jeden Anspruch, unabhängig und universell abschreckend zu sein. Sie kann Gerechtigkeit nicht à la carte anbieten, wenn die Politik darauf gerade Appetit hat.

Auch deswegen kann das Gericht seine Glaubwürdigkeit langfristig nur festigen, wenn sich neben den bisherigen 106 Vertragsstaaten auch Großmächte wie die USA oder China anschließen. In den Entwicklungsländern herrscht leider zu Recht der Eindruck, dass vor allem Afrikas Kriminelle in Den Haag sitzen, während Kriegsverbrechen der Amerikaner schnell vergessen sind. Abu Ghraib und Guantanamo sind grundsätzlich Fälle für ein solches Tribunal, sofern die USA ihre Exzesse nicht selbst ahnden. Doch weigert sich Washington, das Strafgericht überhaupt anzuerkennen; die USA verschließen sich damit einer globalen Gerechtigkeitsidee, die sie anderswo stets verordnen.

Immerhin haben allein die Fortschritte der vergangenen Jahre nahezu alle Erwartungen übertroffen. Der Fall Karadzic zeigt, welche Schlagkraft das Zusammenspiel von Justiz und Politik entwickeln kann. Die EU bietet Serbien eine Perspektive, wenn es mit seiner Vergangenheit bricht. Weil diese Dynamik unwiderstehlich war, wurde Karadzic jetzt von seinen eigenen serbischen Landsleuten verhaftet. Kaum ein Despot ist mehr sicher davor, dass sich irgendwann der Wind dreht. Das ist das Verdienst der jungen Weltjustiz und der Regierungen, die an sie glauben: Ein Tyrann kann nunmehr so tief stürzen, dass er am Ende nur noch ein Angeklagter ist, der im Haager Gerichtssaal aus Verlegenheit mit seinen Leuchtstiften spielt.

Taylor, Charles Internationales Kriegsverbrechertribunal Internationaler Strafgerichtshof Den Haag Anklage von und Fahndung nach Radovan Karadzic SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Morales fühlt sich als Sieger

Boliviens neue Verfassung gibt den Indios mehr Rechte

Von Peter Burghardt

Buenos Aires - In der Nacht nach der Abstimmung feierten sich wieder beide Seiten als Sieger, wie so oft im zerrissenen Bolivien. Evo Morales versammelte seine Anhänger im Regierungssitz La Paz. "Heute, am 25. Januar 2009, wird ein neues Bolivien gegründet, mit gleichen Möglichkeiten für alle, auch für die Bedürftigen und Randgruppen, die Bauern und Indios", rief der erste indianische Präsident des südamerikanischen Landes. Knapp 60 Prozent der Wähler hatten am Sonntag für eine neue Verfassung gestimmt. Sie verspricht den 36 sogenannten Urvölkern wie Ayamara, Quetschua und Guaraní eine weitgehende Gleichberechtigung ihrer Kultur, Justiz und Sprache. Die Bodenschätze werden als nationaler Besitz festgeschrieben, ausländische Militärbasen werden verboten. Der Staatschef darf einmal wieder gewählt werden, Morales will für Dezember Neuwahlen ansetzen und kann bei einem Erfolg bis 2014 regieren. In einem parallelen Referendum wurde außerdem Landbesitz auf 5000 Hektar begrenzt.

Besonders groß war die Zustimmung für die Verfassung im kargen Hochland, der Basis von Morales und seiner Partei Bewegung zum Sozialismus. Sie gewannen souverän die Regionen La Paz, Potosí, Oruro und Cochabamba. Acht von zehn Einwohnern gelten landesweit als Nachkommen der Ureinwohner, sie sicherten die deutliche Mehrheit der Ja-Stimmen.

Gegner wollen nachverhandeln

Etwas weniger Sympathisanten hatte Morales wie gewöhnlich im üppigen Tiefland. Im Wirtschaftszentrum Santa Cruz, Bastion der Opposition, sowie in Tarija, Beni und Pando setzte sich das Nein durch, dort gilt Morales' Projekt als sozialistischer Vorstoß nach Art von Hugo Chávez in Venezuela. "Wir lehnen diese rassistische und trennende Verfassung ab", verkündete in Santa Cruz der Gouverneur Rubén Costas, Anführer der Herausforderer. Mitstreiter Branko Marinkovic vom rechtslastigen Bürgerkomitee forderte die Regierung auf, den Text neu zu verhandeln. "Es gibt ein großes nationales Patt, das nur mit einem großen nationalen Abkommen aufgelöst werden kann."

Die Hochburgen des konservativen Widerstands wenden sich gegen das Vertragswerk, obwohl Morales nach blutigen Auseinandersetzungen Kompromissen wie dem Verzicht auf eine unbegrenzte Amtszeit zugestimmt hatte. Seine Gegner verlangen vor allem mehr Autonomie, fünf Departemente hatten nach regionalen Volksabstimmungen weitgehend unabhängige Regeln beschlossen. Es geht dabei besonders um die Verteilung von Boden und den Einnahmen aus dem Export von Erdgas. Auch ist den europäischstämmigen Rivalen und vielen Mestizen das Grundgesetz zu einseitig indianisch ausgerichtet. Die christlichen Kirchen unterstützten ebenfalls das Nein. Ihnen missfällt die Trennung von Staat und Religion, auch befürchten sie die Genehmigung von Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe. Knapp wurde das Ergebnis in der Region Chuquisaca um die Hauptstadt Sucre mit Morales' indianischer Kontrahentin Savina Cuéllar.

Der Präsident forderte, das Ergebnis zu achten. Alle gewählten Autoritäten stünden in der Pflicht, die neue Verfassung umzusetzen. Morales sagte dies in seinem Amtssitz, der wegen früherer Aufstände gegen die Macht "Palacio Quemado" genannt wird, verbrannter Palast. (Seite 4)

Präsident Evo Morales feiert ein "neues Bolivien mit gleichen Möglichkeiten für alle". Foto: Reuters

Morales, Evo Wahlen in Bolivien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Angst lähmt"

Rigider Personalabbau führt zum Verlust von Kreativität und Risikobereitschaft und schadet damit den Unternehmen. Vor allem sichere Arbeitsplätze stärken den privaten Konsum / Von Meinhard Knoche

In den Unternehmen läuten die Alarmglocken: Die Weltwirtschaftskrise hat im letzten Quartal 2008 auch Deutschland erfasst, und in diesem Jahr werden uns die Auswirkungen der schwersten Rezession der Nachkriegszeit voll treffen. Doch Angststarre oder Panik wären fatal. Die Weltwirtschaft befindet sich nicht "im Abbruch"; 2010 oder vielleicht auch erst 2011 wird sie wieder Fahrt aufnehmen. Unternehmen, die jetzt Arbeitsplätze sichern, stärken ihre Zukunftsfähigkeit und leisten zugleich einen Beitrag, die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Rezession abzumildern.

Deutschland erlebt nun die Schattenseiten eines Exportweltmeisters und wird von der Krise der Weltwirtschaft besonders hart getroffen. Die USA, die mit ihrer Subprime-Blase die Finanzmarktkrise auslösten, werden ihre Rolle als Motor der Weltkonjunktur erst einmal verlieren. Die Hoffnungen ruhen nun auf den Volkswirtschaften, die hohe Leistungsüberschüsse erwirtschafteten, wie China, Deutschland und Japan. Sie sollten auch den Konsum ankurbeln, um so die Weltwirtschaft wieder in Fahrt zu bringen.

Die deutschen Verbraucher nehmen die Krise bisher erstaunlich gelassen; noch läuft der Konsum. Die Verbraucher aber in Kauflaune zu halten und der spätestens im nächsten Winter drohenden Abschwächung des Konsums vorzubeugen, ist gar nicht einfach. Es setzt voraus, dass die Verbraucher sich dauerhaft finanziell gestärkt fühlen und die liquiden Mittel nicht aus Ungewissheit auf das Sparkonto legen. Wenn Politik und Wirtschaft, aber auch die Medien an einem Strang ziehen und die Verbraucher nicht verunsichern, kann die Konsumbereitschaft erhalten und gestärkt werden.

Die Bundesregierung hat gehandelt und im Rahmen des Konjunkturpakets II neben anderen Maßnahmen mehr als 20 Milliarden Euro bereitgestellt, die dem privaten Konsum zugute kommen sollen. Durch den Maßnahmenmix hat die große Koalition dafür gesorgt, dass die Verbraucher demnächst mehr Geld im Geldbeutel haben. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen wird durch fallende Zinsen und niedrige Öl- und Kraftstoffpreise gefördert. Schätzungsweise 200000 vom Abbau bedrohte Arbeitsplätze können mit Hilfe des Konjunkturpakets II gesichert werden.

Nun sind die Unternehmen am Zug, damit es nicht zum Angstsparen kommt. Das passiert, wenn genügend Geld vorhanden ist, aber das Geld aus Angst vor der Zukunft auf die hohe Kante gelegt wird. Angst vor der Zukunft ist vor allem die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Arbeitsplatzsicherung durch die Unternehmen reduziert die Tendenz zum Angstsparen. Werden die Verbraucher dagegen von Nachrichten über Massenentlassungen überschwemmt, nimmt das Sicherheitsdenken zu, der private Konsum geht zurück und die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller.

Im Umgang mit dem Schlüsselfaktor Personal ist deshalb auch in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche Fingerspitzengefühl gefragt. Rigider Personalabbau, schon die schwelende Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, schadet den Unternehmen sowohl bei der Krisenbewältigung als auch mit Blick auf die langfristige Wettbewerbsfähigkeit: Es ist ein Irrglaube, dass die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes die Beschäftigten zu besonderem Eifer anspornt. Angst lähmt! Das Arbeitsklima wird frostig. Das Einzige, was kocht, ist die Gerüchteküche. Gleichzeitig schwinden das Vertrauen in das Management und die emotionale Bindung der Beschäftigten an die Firma. Wer keine Solidarität durch das Management spürt, verliert die Identifikation mit dem Unternehmen. Das alles geht zu Lasten der Schlagkraft, die die Unternehmen in Krisenzeiten in besonderer Weise benötigen. Wer dagegen jetzt seine Fach- und Führungskräfte an das Unternehmen bindet, hat einen Zeitvorsprung, wenn die Konjunktur wieder anzieht.

Doch welche Chance hat die Forderung nach einer nachhaltigen Personalpolitik? Die aktuelle Krise ist das Ergebnis von Geschäftspraktiken, die das Gegenstück zum nachhaltig orientierten Unternehmertum darstellen. Das gilt nicht nur für die um ein Haar abgestürzte Finanzwelt, sondern auch für einen großen Teil der Realwirtschaft. Auch dort war der "Short-Terminism", also das überzogene Interesse, kurzfristig Unternehmensgewinn, Aktienkurs und damit das eigene Einkommen zu steigern, weit verbreitet. Doch nichts verändert das Verhalten so stark wie existentielle Krisen. Die neuen Herausforderungen an die Unternehmen (schwierige Kapitalbeschaffung, Engpässe bei der Gewinnung von Fach- und Führungskräften, stärkere Verankerung in den Heimatmärkten, zunehmende umweltorientierte Gesetzgebung, wachsendes ökologisches Bewusstsein der Verbraucher, extreme Unsicherheiten) zwingen zur Neubesinnung.

Die letzte, erst wenige Jahre zurückliegende Schwächephase der deutschen Wirtschaft setzte einen enormen Lernprozess in Gang, auf den die Unternehmen bei der Bewältigung der aktuellen Krise aufbauen können. Damals wurden Fehler beim Personalabbau gemacht, aber auch gute Instrumente entwickelt und erprobt, um die Personalkosten intelligent zu reduzieren und die Fach- und Führungskräfte im Unternehmen zu halten.

Das Spektrum reicht vom flexiblen langfristigen Zeitmanagement über die (durch das Konjunkturpaket II neu geregelte) Kurzarbeit und Arbeitszeitreduzierung bis hin zu Verschiebungen bereits vereinbarter Erhöhungen der Tariflöhne sowie betrieblichen Bündnissen, um nur einige Instrumente zu nennen. Aus diesem Instrumentenkasten können sich die Unternehmensleitungen heute bedienen. Dabei werden sie in erheblichem Maß auf die Bereitschaft der Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften zählen können, vorübergehend Einschränkungen hinzunehmen, wenn auf diese Weise Arbeitsplätze gesichert werden können.

Fast so wichtig wie die richtige Maßnahme ist die richtige Kommunikation. Eine frühzeitige, offene und glaubhafte Information über das geplante Krisenmanagement verhindert lähmende Unsicherheit in der Belegschaft. Interne Kommunikation hat Vorrang vor externer Öffentlichkeitsarbeit. Wer meint, zunächst mit Pressemitteilungen Shareholder und Analysten mit geplanten Strategien beeindrucken zu müssen, hat das kleine Einmaleins des Krisenmanagements nicht verstanden.

Meinhard Knoche ist Vorstandsmitglied des Ifo-Instituts und Hochschuldozent für Personalführung. Foto: oh

Konsumverhalten in Deutschland Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in Deutschland ab 2008 Rezession in Deutschland Arbeitsplatzabbau in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Obama zieht Schlussstrich unter Bushs Klimapolitik

US-Präsident will Industrie zur Produktion abgasarmer Autos zwingen / Grüne Ziele auch im Konjunkturpaket

Von Christian Wernicke

Washington - US-Präsident Barack Obama setzt Amerikas Autoindustrie unter Druck, weitaus schneller weniger umweltschädliche Fahrzeuge zu produzieren. Obama wies dazu am Montag seine Umweltbehörde EPA an, ein 2007 von der Bush-Regierung erlassenes Verbot zu überprüfen, das Kalifornien und 13 anderen Bundesstaaten die Durchsetzung strengerer Abgasnormen untersagt hatte. Zugleich soll das Transportministerium unverzüglich benzinsparende Verbrauchsstandards für alle Neuwagen ab 2011 festlegen. Obama begründete den Kurswechsel als Teil einer energiepolitischen Erneuerung, die Amerikas Abhängigkeit von Ölimporten und den Ausstoß von Klimagasen reduziere.

Mit seiner symbolhaften Doppelentscheidung will Obama sich sichtbar absetzen von der oft nur zögerlichen Klimapolitik seines Vorgängers. Experten erwarten, dass die EPA sehr bald Kaliforniens strengere Ökostandards genehmigen wird. Diese verlangen von den Autokonzernen, den Abgasausstoß ihrer Fahrzeugflotten bis zum Jahr 2020 so drastisch zu senken, dass sämtliche PKW und Kleinlaster eines Herstellers im Durchschnitt nur noch umgerechnet 5,6 Liter Benzin je hundert Kilometer verbrauchen würden. Dieses Ziel scheint Experten ohne eine massive Mehrproduktion etwa von Hybrid-Autos nicht erreichbar.

Bisher hatten die drei großen krisengeschüttelten Autokonzerne in Detroit - General Motors, Ford und Chrysler - wie auch die Auto-Gewerkschaft stets Kaliforniens drastischere Abgasnormen mit der Begründung abgelehnt, diese würden den US-Markt spalten. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt in Bundesstaaten, die Kaliforniens Normen umsetzen wollen. De facto wäre die Industrie deshalb gezwungen, überall im Land spritsparende Autos anzubieten. Die Abgase amerikanischer PKW machen etwa ein Viertel des gesamten CO2-Ausstoßes der Vereinigten Staaten aus. Gouverneur Arnold Schwarzenegger hatte stets argumentiert, Kalifornien wolle mit seinen Regeln den Benzinverbrauch in acht Jahren um 30 Prozent senken.

Obamas Vorstoß folgt nun dieser Linie und beschleunigt den Zwang zum Benzinsparen. Die aktuelle US-Bundesnorm für den maximalen Flottenverbrauch eines Herstellers liegt bei 8,7 Litern je hundert Kilometer. Im Falle einer Genehmigung durch die EPA würde Kaliforniens Modellgesetz jedoch vorsehen, bis zum Jahr 2016 einen Grenzwert von umgerechnet 6,7 Litern durchzusetzen. Mit dem von Bush verantworteten Bundesgesetz würde dieser Zielwert hingegen frühestens im Jahr 2020 erreicht werden.

"Ein Mann, der Wort hält"

Zudem hatte es die alte Regierung versäumt, ihr Bundesgesetz durch eine Verschärfung in Schritten umzusetzen. Im vorigen Herbst erwog Washingtons Transportministerium zwar einen strengeren Zielwert von 7,4 Litern für das Jahr 2015. Aber erst vor zwei Wochen hatte die Behörde offenbar nach Rücksprache mit dem Weißen Haus darauf verzichtet, diese Grenze auch in Kraft zu setzen. Obama wies das Ministerium nun an, diese Lücke bis März zu schließen und Normen zu verfügen, die schon 2011 für Neuwagen gelten sollen.

Umweltschützer lobten am Montag Obamas Entscheidungen. Der neue Präsident habe ein zentrales klimapolitisches Versprechen seines Wahlkampfes eingelöst und "sich als ein Mann erwiesen, der Wort hält," erklärte Frank O' Donnell, der Präsident von Clean Air Watch. Sprecher von Detroits Autoindustrie hielten sich mit Stellungnahmen zurück.

Obama präsentierte beide Auto-Direktiven als Symbole einer neuen Energie- und Klimapolitik. Der Präsident verwies auf zahlreiche grüne Elemente in seinem 825 Milliarden Dollar schweren Konjunkturpaket, das der Kongress diese Woche erstmals debattieren wird. Demnach will die Regierung binnen drei Jahren die Energieproduktion aus erneuerbaren Quellen verdoppeln. Das würde den Bedarf von sechs Millionen Haushalten decken. Zugleich will Obama das nationale Stromnetz auf knapp 5000 Kilometern modernisieren, die Wärmedämmung von mindestens zwei Millionen Privathäusern subventionieren und einen Förder-Fonds gründen, der Energiespar-Investitionen von über 100 Milliarden Dollar in von drei Jahren anregen soll. Umweltpolitische Effekte hat auch der Plan, 1300 neue Kläranlagen und verbesserte Abwassersysteme für 1,5 Millionen Bürger zu bauen. (Seite 4)

Weg mit schweren Autos: Die USA wollen den Bau spritfressender Wagen begrenzen, trotz der Krise bei den Herstellern. Hier eine Ford-Filiale in Claycomo. AP

Obama, Barack: Zitate Umweltpolitik in den USA Klimapolitik in den USA ab 2006 Autoindustrie in den USA Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nebulöse Exzentrik

Die Berliner Konferenz Club Transmediale musealisiert den Pop

In Berlin sind Popkulturwochen. "Es liegt wohl gerade was in der Luft", formulierte der Musikjournalist Tobias Rapp am Samstag treffend, als im Rahmen des seit 1999 jährlich stattfindenden Club Transmediale die Kuratoren von "Dancing With Myself", einer Tagung, die am vorvergangenen Wochenende angetreten war, den großen Zusammenhang von Musik, Geld und Gemeinschaft nach der Digitalisierung zu ergründen, ein Resümee zogen. "Dancing With Myself" hatte im Berliner Hebbel-Theater den Anfang des großen Status-Quo-Vadis-Rummels gemacht, der zehntägige Club Transmediale zieht seit vergangenen Donnerstag nach mit einem bewährt avancierten, gefühlvoll das Interessanteste an aktueller Independent-Popproduktion aufblätternden Musikprogramm sowie erstmalig einem Diskussionsprogramm zum Thema. Am zweiten Februarwochenende folgt als dritte tief auf den Grund schürfende Veranstaltung, die Konferenz "Audio Poverty" im Haus der Kulturen der Welt, wo man sich über Musik als einer neuen Arte povera den Kopf zerbrechen wird. Drei Mal also Bestandsaufnahme und Selbstverortung eines offensichtlich verunsicherten Teils des popkulturellen Felds, drei Mal genährt aus den Töpfen der öffentlichen Hand, drei Mal Kreisen um "die Krise der Musikindustrie", "Digitalisierung" und "Strukturwandel", Schlagworte, die augenscheinlich zur Zeit das Potenzial haben, ebenjene Töpfe spendabel zu machen.

Zunächst einmal sei das, was da so in der Luft liegt, "eine relativ komplizierte Gegenwart", konstatierten Ex-Spex-Chef Christoph Gurk und sein "Dancing With Myself"-Co-Kurator Tobi Müller am Samstag. Eine Gegenwart, die man aber anhand der Analyse von dem, was mit und in der Musik passiert, lesbar machen könne, prophezeie Musik doch anstehende gesellschaftliche Transformationen. Das Fazit auf dem Podium fiel in dieser Hinsicht allerdings eher pessimistisch aus. Popmusik sei dabei, in drei vollkommen voneinander abgekoppelte Bereiche zu zerfallen: die außerhalb jedes Marktgeschehens agierenden Hobbyisten, die Klingeltonkonsumenten und die High-End-Verbraucher, die sich geschmacksgebildet und finanzstark Musik weiterhin Deluxe-Box-Lifestyle leisten. Das alte klassenüberschreitende, universale Versprechen von Pop verschwinde. Was sich also in der Popmusik avant la lettre abzeichne, sei ein massiver sozialer Desintegrationsprozess.

Die Kraft der Arroganz

Dass der netzwerkende, partizipierende "Prosumer" eine vielversprechende Antwort auf diese Tendenz ist, wurde einhellig in Frage gestellt, immerhin sei der Imperativ des Kreativ-Seins schon bis auf niedere Angestelltenebenen gesickert und habe repressive Formen angenommen. Was von Gurk und Müller als einziger schmaler Hoffnungsstreif in Sachen popkultureller Handlungsmöglichkeiten gewertet wurde und als "Staffelstab" an den Club Transmediale weitergereicht wurde, bezog sich auf das, was der englische Postpunk-Musiker Mark Stewart bei "Dancing With Myself" eingefordert hatte: Wieder mehr auf die "Kraft der Arroganz" setzen, den Möglichkeitsraum der Exzentrik wieder beherzter ausschöpfen.

Das ist ein angemessen nebulöser Tip für eine ganze Kulturform in Auflösung, aber immerhin konnte der traditionell dem anpolitisierten Graswurzel-Schaffen zugewandte Club Transmediale hier gut anknüpfen. Er räumte am Sonntag dem von den Färöer-Inseln stammenden Musiker Goodiepal anderthalb Stunden ein, um in einem betörend exzentrischen Vortrag die "utopische Idee im Gebrauch der Technologie" mit Mickey Mouse, Apportierhunden und dem Vakuum zu beschwören. Bill Drummond, ehemals eine Hälfte des Projekts The KLF wurde deutlicher. Für ihn war klar: Die Zeit der Musik auf Tonträgern ist abgelaufen. Die Verfügbarkeit von sämtlicher jemals aufgenommener Musik im Netz stößt keine Bewusstseinstüren mehr auf. Nicht zuletzt deshalb tourt er seit zwei Jahren mit dem Projekt The 17, das die Zeit nach den Plattensammlungen, Festplatten, Kanonisierungen, Historisierungen und Nerdismen vorwegzunehmen versucht und für das Drummond Laiensänger den Klang seines Landrovermotors nachbrummen lässt. Drummonds Vision der Musik von morgen - die menschliche Stimme, die sich ausschließlich in actu gemeinschaftlich artikuliert und die nicht aufgezeichnet wird - war etwas seltsam essentialistisch einer Dogmatik des Unverstellten, Reinen verpflichtet.

Geradezu befreiend war da, was die Musik selbst entgegenzusetzen hatte: Beim Eröffnungsabend hetzten Musiker aus aller Herren Länder Baile Funk, Breakbeat, Arabesk, Cumbia, Reggaeton, Kwaito und Kuduro aufeinander. Sehr selbstverständlich verband sich kreolisierte Tanzbarkeit und ein wenig verbissener Hang zur Alter-Globalisierung zu einer erfrischenden Pop-Option. Ohne den Rahmen des Festivals allerdings würde man solcherlei an wenigen Tagen massiv verdichtete Perspektiven wohl nicht aufgezeigt bekommen. Das also wäre die Zwischenstandsmeldung von den Berliner Popkulturwochen: Hier inszeniert eine in die Jahre gekommene Pop-linke am Tropf der staatlichen Fonds ihre mal kritischeren, mal aktivistischeren Überbleibsel einer Gegenkultur, in der Pop noch mehr war als bloß Musik. Ob das so stimmt und ob diese Form der Musealisierung gut so ist, darüber wird man zum Glück noch weiter reden können. KIRSTEN RIESSELMANN

Musikszene in Berlin Pop- und Rockmusik SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Selbstversuch in Waffentechnik

Die Schau "Embedded Art" in Berlin lädt zu einer Geisterbahnfahrt der Inneren Sicherheit

Die schusssicheren Westen in zartem Seidenrosa hat der südafrikanische Künstler Jacques Coetzer entworfen. Die Sicherheitsleute der Akademie der Künste tragen sie seit diesem Freitag, die Waffenattrappe neckisch eingesteckt - und so scheuchen sie Besucher wortkarg auf videoüberwachten, zeitlimitierten Blitzführungen durch die düsteren Kellergeschosse der Akademie. Vorbei an Fotos, Videos, Gemälden und Installationen von 41 Künstlern, die sich mit Waffen- und Überwachungstechnik, mit Krieg und Kampf im Namen der Sicherheit, mit Polizeigewalt und Selbstmordattentäterinnen beschäftigen. Ausgedacht hat sich den Rundgang die kuratierende Künstlergruppe "BBM", "Beobachter der Bediener von Maschinen" - Gründungsmitglied Olaf Arndt sammelt Material zu nichttödlichen Waffensystemen.

Das klingt nach einer Geisterbahn der Inneren Sicherheit und fühlt sich auch so an. Dass es funktionieren kann, zeigt sich aber, wenn sich die Türen des Lastenaufzugs der Akademie im zweiten Kellergeschoss auf einen kargen Bunkerflur öffnen: Im Innern bleibt die Besuchergruppe dicht gedrängt - darf ja hier nicht jeder gucken wie er will! - von draußen knallt ihr Gruselpop entgegen, ein bonbonbunter LSD-Trip auf Leinwand, gemalt von Moritz Reichelt. Dazu die tonlose Stimme des Sicherheitsmanns, der die Kurzbiografie einer CIA-Beraterin von einer Tafel abliest: "Janet Morris: Ex-Hippie, Science Fiction Autorin, Waffenproduzentin und Pferdezüchterin". Und schon schließen sich Türen und Rezeptionsfenster wieder. Der Guide verschränkt die Arme vor Coetzers kugelsicherer rosa Blütenmuster-Weste.

So konsequent surrealistisch durchgeknallt und eigensinnig kann die Auseinandersetzung mit Sicherheitsparanoia aussehen - das biografische Material für seine "Peace Monsters", eine davon die CIA-Frau, hat Reichelt dem "BBM"-Archiv entnommen; Besucher können es im Erdgeschoss einsehen. Dort, im frei zugänglichen Teil der Schau, widmen sich die meisten Künstler jedoch leider eher der getreuen Dokumentation des sicherheitstechnischen Rüstungsstands: Das Duo Andrée Korpys und Markus Löffler hat eine Schulung der rheinland-pfälzischen Polizei zum Umgang mit einer neuen Elektroschockpistole gefilmt - einer nichttödlichen "Maximalschmerzwaffe", mit der etwa allzu renitente Demonstranten ausgeschaltet werden könnten; die deutschen Behörden bestreiten bislang jeden Einsatz. Im Film sieht man, wie die Beamten die Wirkung der Waffe am eigenen Körper erfahren, wie schmerzverkrümmte Körper stöhnend zu Boden sinken. Schockierend ist das, Rechercheleistung und Aufklärung allemal, für Freunde von Michel Foucaults "Überwachen und Strafen" ein Fest - enttäuscht werden jedoch alle, die sich von Kunst so etwas wie ein eigenes Idiom, eine eigene Sprache erhoffen.

Eher als gelungene Demonstration moderner Überwachungstechnologie denn als überraschendes Kunstwerk lassen sich auch die CCTV-Kontrollkameras von Zsolt Barat verstehen, die in den Kellergeschossen installiert sind und deren Aufnahmen in das Erdgeschoss übertragen werden - so dass man nie wissen kann, wer einen gerade beobachtet. Am schwächsten ist die Schau da, wo sie ihre Künstler als "Embedded Artists" an die Front schickt. Etwa, wenn man im Keller im Eiltempo durch Alexander Krohns Installation "Westbank" geschleust wird. Zwischen fingierten Betontrümmern und Blutlachen bahnt man sich im Halbdunkel einen Weg zu einem Bildschirm, über den der Dokumentarfilm "Jenin Jenin" des palästinensischen Regisseurs Mohammad Bakri flimmert, der den Überfall der israelischen Armee auf das Flüchtlingslager in Dschenin im Jahr 2002 zeigen will - dem aber nicht nur die Israelis, sondern auch ausländische Journalisten Bildmanipulationen vorwerfen. In der Ausstellung dazu kein Wort - so kann "Embedded Art" eben aussehen.

Ein Kellergeschoss weiter die Videoinstallation des Al Dschasira-Kameramanns Vassilios Georgiadis, der zwischen Aufnahmen von Explosionen, Leichen und den Schmuggeltunneln der Hamas eine palästinensische Selbstmordattentäterin allgemein-medienkritisch aus Adornos "Minima Moralia" rezitieren lässt. Es bleibt bei der plumpen Behauptung, weder werden die TV-Bilder en detail dekonstruiert, noch irgendwie künstlerisch überformt.

Dabei leuchtet die Idee der Ausstellungsmacher ein: Wo könnte man in Berlin das Aufrüsten des öffentlichen Raums zur Sicherheitszone besser kommentieren als am Pariser Platz - mit seinen Botschaftsbunkern, Banken und dem Hotel Adlon einer der bestüberwachten Plätze der Republik. So funktioniert die Schau weniger als Kunstschau denn als Sensibilisierungs- und Trainingscamp: In der Akademie lässt man sich filmen und mit waffentauglichem Infrasound beschallen, bestaunt den eigenen digitalen Fingerabdruck und informiert sich über neueste Mikrowellenwaffen. Um dann, wieder auf dem Pariser Platz, die Festungsfassaden nach den wirklich dezent angebrachten Kameras abzutasten - und sich zu fragen, welches strategische Arsenal dieses Zentrum der Macht eigentlich ganz konkret für Störenfriede bereit hält. ALEXANDRA MANGEL

"Embedded Art. Kunst im Namen der Sicherheit", Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin, bis 22. März. Begleitbuch 30 Euro (25 Euro in der Schau).

Im Keller versteckt: Christina Zücks Bild eines Schlafenden ("Defence Phase II Karachi") © Christina Zück 2008

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Allein unter Freunden

Surreale Welt: Das jugendliche Onlinenetzwerk "Facebook" mausert sich zum Massenmedium für Sozialkontakte

Als ich den virtuellen Raum betrat, waren sie alle schon da. Erst freute ich mich, sie zu sehen; dann war ich überrascht, dass sie auf mich gewartet hatten; dann fragte ich mich, woher sie überhaupt wussten, dass ich da war. Was wollten sie von mir, was wollte ich von ihnen? Eine Maschine hatte uns zusammengeführt; jetzt mussten wir Menschen übernehmen.

Sie nannten sich Freunde, die Menschen, die auf mich warteten. Früher hätte man vielleicht Bekannte dazu gesagt, aber Facebook gibt einem keine Wahl. Man existiert als Freund oder gar nicht. So ist das im Internet - Dinge sind hier ähnlich, aber nicht gleich wie in der wirklichen Welt. Der Unterschied ist nicht mehr zwischen real und nicht real - sondern zwischen real und surreal. Wenn die neunziger Jahre durch MTV und die Sendung "The Real World" definiert wurden, dann sind die Nullerjahre durch Facebooks leicht surreale Welt bestimmt.

Ich war überrascht. Ich hatte die digitale Welt von Facebook sehr spät entdeckt. Aber warum waren auch all die anderen hier so spät dran? Eigentlich, so heißt es doch immer, ist Twitter das Medium unserer Zeit, kurze Nachrichten, die vom Handy verschickt und von jedem empfangen werden können, der sich mit einem vernetzt hat. Die Notlandung auf dem Hudson wurde so gemeldet, der Terror von Mumbai. Twitter ist schnell und etwas spröde. Twitter ist für 20-Jährige.

Facebook dagegen ist nicht mehr so schnell und auch nicht mehr so schmutzig, wie es am Anfang war - um das Jahr 2006 herum, als betrunkene Collegestudenten auf dieser Webseite gern von Parties, Saufen und Sex erzählten und Fotos ins Internet stellten, für die sie mal enterbt und mal gefeuert werden konnten. Das Facebook von heute hat die größten Zuwachsraten bei den über 35-jährigen und funktioniert eher wie ein virtueller Salon, in dem sich erwachsene Menschen gegenseitig Freunde nennen. Eine Art globale Boheme, die den digitalen Rückzug ins Private probt.

Mark Zuckerberg, der das Netzwerk gegründet hat, sieht das sehr viel nüchterner. "Man kann hier beobachten", sagt er, "wie sich die sozialen Normen dem anpassen, was technologisch möglich ist." Zuckerberg ist 24 Jahre alt. 2004 gründete er Facebook, da war er noch Student in Harvard; 2007 verkaufte er einen kleinen Anteil an Facebook für 240 Millionen Dollar an Microsoft, da war seine Firma 15 Milliarden Dollar wert.

Heute benutzen etwa 160 Millionen Menschen Facebook - als "soziales Netzwerk", wie das immer etwas ausweichend heißt, weil man noch keinen neuen Begriff gefunden hat. Sie suchen dort Freunde, sie sagen, wie es ihnen geht und was sie gerade gesehen, gelesen oder gedacht haben, sie stellen Fotos auf ihre Seite oder Videos, sie suchen jemanden, der Schlittschuhe in Größe 38 hat und in Berlin-Mitte lebt, oder jemanden, der zur Kunstmesse nach Miami fährt. Sie suchen aber vor allem nach Leuten, die so sind wie sie. Facebook hilft dabei, denn es funktioniert wie die automatischen Buchempfehlung auf Amazon: Menschen, die diese Menschen mögen, könnten auch diese Menschen mögen.

Verdoppelung der Beziehungen

Denn das ist das entscheidende Ordnungsprinzip von Facebook. Freund um Freund sammelt man und kuratiert sich so seine Persönlichkeit, schmückt sich mit Menschen, hat leichter Kontakt zu eigentlich Fremden, findet Verbindungen, die über das Persönliche hinausgehen. Manche sagen, dass das Internet auch an diesem Punkt die Verstellung oder gar die Lüge begünstigt. Tatsächlich ist es aber genauso möglich, dass die Offenheit und die Transparenz befördert wird, dass Vertrauen belohnt wird, weil die soziale Kontrolle des Facebook die Lüge entlarven hilft. Amerikanische Soziologen vergleichen die sehr effiziente Überwachung schon mit der Dynamik einer Kleinstadt, nur dass die in diesem Fall von Tel Aviv bis Kabul reichen kann.

"Awareness" heißt der Fachbegriff für dieses Phänomen - eine gegenseitige Aufmerksamkeit also, die sich auch als "ambient awareness" beschreiben lässt, wenn es um das ständige Grundrauschen geht, das durch all die alltäglichen kleinen Mitteilungen erzeugt wird, die davon handeln, dass jemand krank ist oder der Morgen grau oder die Liebe weg. Für sich genommen mögen das mehr oder weniger triviale Botschaften sein, in der Summe entsteht so etwas wie ein Gefühl dafür, wie den Menschen geht, mit denen man hier mehr oder weniger zufällig in Kontakt ist. Man weiß etwas, ohne etwas zu wissen. Facebook ist ein intuitives Medium und kein rationales.

Die Konsequenz daraus ist eine gewisse Latenz, was soziale Beziehungen angeht, also ein Als-Ob der Freundschaften - aber auch eine Nähe zu Menschen, von denen man nun viel genauer weiß, wann sie Migräne haben, als man das wohl will: Eigentlich Fremde erscheinen einem so auf Dauer fast bekannter als Freunde oder Geschwister, die nicht auf Facebook sind. Es verschiebt sich dadurch etwas im Gefüge der Beziehungen, so wie auch der Begriff des Freundes und von Freundschaft an sich aufgeweicht und verändert wird. Der Anthropologe Robin Dunbar hat herausgefunden, dass Affen maximal 55 soziale Beziehungen kognitiv verarbeiten können, für Menschen hat er die Zahl von Freunden oder Bekannten auf 150 festgesetzt. Auf Facebook kann sich das leicht verdoppeln. "Weiche Verbindungen", das sagt der Soziologe dazu.

Dass das mehr ist als nur ein wissenschaftliches Schlagwort, das sieht man nicht nur daran, dass diese "weichen Verbindungen" etwa die Fähigkeit der Menschen verbessern, bestimmte Probleme zu lösen. Netzwerke werden für Partner- oder Jobsuche benutzt, aber mittlerweile auch von Organspendeorganisationen. Und natürlich ist Barack Obama, der erste Präsident der Internet-Generation, ein besonderes Beispiel dafür, wie sich weiche Verbindungen in konkrete Macht verwandeln lassen. Obama eröffnet auf Facebook, dass er gern Basketball spielt und den "Paten" mag und auch Johann Sebastian Bach. Zu seiner Amtseinführung taten sich der Nachrichtensender CNN und Facebook zusammen und mehr als eineinhalb Millionen Menschen diskutierten zeitgleich über die Schönheit des Moments und die Chancen ihres Helden.

Flexible Identitäten

Solche Gruppen und Netzwerke sind für unsere Zeit oft wichtiger, als Herkunft oder Familie. Fühlt sich jemand als Türke oder als Hiphopper? Fühlt sich jemand als Schwarzer oder als Skateboarder? "Post-weiß" nennt das die Zeitschrift The Atlantic; und der Soziologe Dalton Conley spricht schon von einer "Netzwerk-Nation". Facebook oder MySpace helfen seiner Meinung nach dabei, bleibende soziale Zugehörigkeit zu schaffen. "Flexible Identität", so nennt er das. Barack Obama und Mark Zuckerberg, die beiden Harvard-Männer, wären demnach Gefährten des gesellschaftlichen Wandels.

Jede neue Technologie verändert das Verhalten der Menschen untereinander und die Gesellschaft als Ganzes, da ist Facebook nicht anders als das Auto oder der Kühlschrank. Das wirft viele Fragen auf, für die es nicht zuletzt deswegen so wenige Antworten gibt, weil der Wissenschaft noch die Herangehensweisen fehlen. Es gibt noch keine digitale Soziologie, keine Psychologie des Netzlebens, das surreale Leben ist jedoch ganz anders, als bisher.

Für mich aber stellen sich erst einmal ganz andere Fragen: Soll ich mein Profilfoto ändern? Warum ist es im narzisstischen Bildermedium Internet überhaupt so schwierig, das richtige Foto zu finden? Warum haben all meine Freunde Sonnenbrillen auf oder stehen im Halbdunkel? Sind 38 Freunde zu wenig? Vor allem aber: Was soll ich mit ihnen reden? GEORG DIEZ

Digitales Leben: Neue Internetphänomene werden immer schneller zum Alltag - und verändern uns dabei

Weil wir neue Internetphänomene sprachlich nicht fassen, beschreiben wie sie oft mit altmodischen nautischen Bildern: Wir "surfen", führen "Logbuch", treiben in Daten-"Sturzfluten". Abb.: Hokusai

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Kontrolle ist schlechter

Warum die digitale Kopie vor allem eine Chance ist

Mit dem Untergang ist Dieter Gorny vertraut. Wann immer der Geschäftsführer des Bundesverbands Musikindustrie öffentlich über das Internet und die Digitalisierung spricht, ist die Apokalypse nicht fern - zumindest für den Fall, dass digitales Kopieren und illegales Filesharing nicht bald entscheidend eingedämmt werden. Als Vertreter der Rechte-Industrie wird er mit diesem Szenario sicher auch am kommenden Dienstag argumentieren - beim nichtöffentlichen Spitzengespräch im Bundesjustizministerium. Dort sollen die Internet-Provider für die sogenannte "Three Strikes and You're Out"-Strategie gewonnen werden: Nach drei Verwarnungen wegen illegaler Downloads (ausgesprochen durch die Provider) soll die Drosselung und Sperrung des Internet-Zugangs für uneinsichtige Nutzer stehen. Ein Vorgehen, das man bislang nur aus diktatorischen Staaten kennt.

Die Argumente, die Gorny und Co. anführen, basieren auf der Annahme, niemand würde noch Musik machen oder Kultur schaffen, wenn beides nicht zu den Konditionen des bisherigen Systems produziert, vertrieben und finanziert würde. Sie übersehen dabei, dass die neuen technischen Möglichkeiten nicht nur zu einer betriebswirtschaftlichen Herausforderung (vulgo: Untergang) führen. Dass man heute ohne Qualitätseinbußen identischen Kopien erstellen kann, die von der Vorlage nicht zu unterscheiden sind und diese auch nicht in ihrem Wert mindern, ist für alle künstlerisch tätigen Menschen in erster Linie ein Traum. Die digitale Kopie eröffnet ihnen eine Form der Distribution und damit der Öffentlichkeit, die in der Geschichte der Kultur beispiellos ist.

Wer Kultur schafft, will damit an die Öffentlichkeit. Kunst kann heute zu minimalen Kosten eine maximale Verbreitung finden - eine substantielle Herausforderung für alle, die ihr Geld bisher mit verknappten Kopien verdient haben. Denn Kopieren verursacht heute keine Kosten mehr, es ist vielmehr ein selbstverständlicher Vorgang, den jeder an seinem Computer innerhalb von Sekunden ausführen kann. Die Digitalisierung hat das Kopieren von Musik zu einer skandalisierten Alltäglichkeit gemacht, genau wie die Einführung des Rundfunks seinerzeit das Musikhören veränderte. In beiden Fällen folgt dem technischen Fortschritt ein Kontrollverlust des Bisherigen: Es ist also wenig verwunderlich, dass beispielsweise die Musikindustrie alle Energie darauf setzt, die digitale Kopie einzudämmen. Sie verteufelte zunächst auch das Radio.

Auch das Radio war mal böse

Die Klage lautete damals: Niemand werde noch Musik machen, wenn diese kostenlos und unkontrolliert durch den Äther geschickt würde. Für Menschen, die Songs nur gegen Bezahlung aus der Jukebox kannten, war die Regellosigkeit des Radios genauso skandalös wie für heutige Musikmanager die Praxis der Tauschbörsen. Wir wissen aber: Das Radio hat vielleicht die Popularität der Jukebox geschmälert, zum Untergang des Abendlandes oder zum Ende der Musik hat es nicht geführt. Es hat vielmehr neue Wege der Distribution möglich gemacht - und zwar, in dem Musik das Medium nutzte und nicht etwa bekämpfte.

Kann man aus dieser Geschichte lernen? Kann man Lösungen suchen, die der Herausforderung der digitalen Kopie begegnen, indem sie deren unbestreitbare Chancen für die Kunst nutzen, statt diese zu blockieren?

Es gibt zahlreiche Modelle, die genau dies tun. Der Verkaufserfolg der Nine Inch Nails-Alben "Ghosts I-IV", die unter einer so genannten Creative Commons Lizenz stehen, kostenfrei in digitaler Form aus dem Netz geladen werden können, aber dennoch die Liste der meistverkauften CDs beim Internethändler Amazon im Jahr 2008 anführten, ist nur das jüngste Beispiel für eine Reihe alternativer aber erfolgreicher Versuche, abseits der ausgetretenen Pfade Kultur zu erschaffen, zu verbreiten und diese auch zu finanzieren. Die Creative Commons-Szene und im Softwarebereich die Open-Source-Bewegung zeigen: Es gibt tragfähige Konzepte, die sich allerdings abseits dessen bewegen, was man immer schon gemacht hat. Dass man davon vergleichsweise wenig liest und hört, liegt an der ängstlichen Fixierung auf Untergangsszenarien und Verbotsphantasien. Dabei glaubt selbst auf Seiten der Rechte-Industrie vermutlich niemand, man könne die Digitalisierung aufhalten oder gar rückgängig machen. Die Tatsache, dass Apple als größter Online-Musikhändler in Absprache mit der Musikindustrie künftig auf den Kopierschutz in Musikdateien verzichtet, muss als Beleg dafür gelesen werden. Aber an einen zeitlichen Aufschub glaubt man dort sehr wohl. Es wäre doch zu schön, könnte man die Suche nach neuen Modellen einfach der kommenden Generation überlassen und sich selber noch ein wenig an den alten, den goldenen Zeiten erfreuen. So wird ein repressives Vorgehen propagiert, das eine ganze Generation junger Kulturnutzer pauschal kriminalisiert und noch weit größeren gesellschaftlichen Schaden nach sich ziehen wird.

Wie soll sich das rechnen?

Zunächst wird so eine Kommerzialisierung der Kultur vorangetrieben, die die Frage der Finanzierbarkeit von Kunst auf oberster Ebene abhandelt. Dabei übernehmen die Verteidiger des Althergebrachten neuerdings die Position eines Familien-Patriarchen, der auf den Berufswunsch seines Sohnes, er wolle Künstler werden, lediglich antwortet: "Und, wie soll sich das rechnen?" Große Werke der Weltliteratur, der Malerei und der Kunst wären nicht entstanden, hätten sich die Söhne und Töchter der aufs Bisherige fixierten Perspektive der Väter gebeugt. Dass sie es nicht getan haben, zeigt, dass Kunst schon immer mit widrigen Bedingungen zu kämpfen hatte - und diese oft auch überwunden hat. Neu ist also nicht, dass Kunst und Kultur sich gegen Widerstände bewähren müssen. Neu ist, dass sie dabei auf eine fast kostenfreie und nahezu grenzenlose Verbreitung zählen können.

Zum zweiten schafft die aktuelle Debatte eine auf vermeintliche Originale fixierte Atomsphäre der Angst: Kultur basiert seit jeher auf dem Prinzip der Adaption, der Anspielung und der Kopie. Durch die massive Lobbyarbeit der letzten Jahre wird dieses Prinzip kriminalisiert und an den Rand gedrängt - zum Nutzen der Industrie, nicht der Kultur. Ein vermeintliches Original-Genie wie Vincent van Gogh würde unter den heutigen Bedingungen nicht mehr so selbstverständlich die Kraft der Kopie loben können, wie er das in einem Brief an seinem Bruder im 19. Jahrhundert tat: "Kopieren interessiert mich ungemein", schrieb der Maler und bekannte: "Ich finde, es lehrt einen manches, und vor allem es tröstet einen manchmal. Ich stelle mir das Schwarzweiß von Delacroix oder von Millet oder die Schwarzweiß-Wiedergabe nach ihren Sachen als Motiv vor mich hin. Und dann improvisiere ich darüber in Farbe, doch versteh mich recht - ich bin nicht ganz ich, sondern suche Erinnerung an ihre Bilder festzuhalten, aber diese Erinnerung, der ungefähre Zusammenhang der Farben, die ich gefühlsmäßig erfasse, auch wenn es nicht genau die richtigen sind - ist meine eigene Interpretation."

Ein van Gogh von heute, der vielleicht nicht mit Pinsel und Farbe, sondern mit digitalen Hilfsmitteln arbeitet, müsste zunächst die Frage nach Verwertungsrechten eines Millets beantworten. So unbeschwert, wie der Maler im 19. Jahrhundert fremde Motive mit seinen eigenen Farb-Improvisationen remixte, kann heute kein Künstler mehr arbeiten. Gerade hat das Video-Portal YouTube auf Druck der Rechte-Inhaber angekündigt, Musikclips mit ungeklärter urheberrechtlicher Rechtslage stumm zu schalten. Ein passenderes Bild für den zerstörerischen Einfluss eines repressiven Urheberrechts könnte man sich gar nicht ausdenken: Es bringt Kunst zum Schweigen!

Die Digitalisierung ist ein technischer Entwicklungsschritt, der revolutionäre Folgen nach sich zieht. Dieser in unzähligen Artikeln prophezeite Satz wird heute Realität. Die Gesellschaft und der sogenannte Kulturbetrieb müssen sich fragen, wie sie damit umgehen wollen. Die Urheberrechts-Expertin Jeanette Hofmann hat diese Frage unlängst rhetorisch auf den Punkt gebracht. "Hätten wir gewollt," fragte die promovierte Politikwissenschaftlerin der London School of Economics, "dass die Kerzenmacher im 19. Jahrhundert über die Nutzung von elektrischem Licht bestimmen?"

DIRK VON GEHLEN

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IM Deutschland

Stasi-Akten ruinieren Journalisten - wer 1945 die Wende machte, konnte immer noch Meinungs-Führer werden

Es war ein Ereignis, wie es wenige gab in der Geschichte des deutschen Fernsehens: Zwei prominente Journalisten stritten sich vor laufender Kamera, stritten über die deutsche Vergangenheit, darum, wer wen verleumdete, wem es um die Wahrheit gehe und wer nur Propaganda betreibe.

Als wäre es ein amerikanischer Gerichtsfilm, bekämpften sich am 16. Dezember 1970 der linksliberale Henri Nannen, damals Chefredakteur des Stern, und Gerhard Löwenthal, der, vorsichtig gesagt, radikalkonservative Moderator des ZDF-Magazins, plädierten 47 Minuten lang und mussten sich dann beide erschöpft dem immer wieder hinausgeschobenen Sendeschluss ergeben.

Vordergründig ging es in dem Streitgespräch darum, ob Hans Weidemann, beim Stern zuständig für die auch heute noch bestehende Aktion "Jugend forscht", im Jahr 1944 in Italien an der Erschießung von Partisanen beteiligt gewesen war und sein damaliger Untergebener Nannen womöglich ebenfalls. Für die beiden Kontrahenten stand aber viel mehr auf dem Spiel: Löwenthal kritisierte als Sekundant Axel Springers die Politik der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt, der eine Aussöhnung mit dem Ostblock anstrebte und im Warschauer Vertrag die Oder-Neiße-Linie soeben als polnische Westgrenze anerkannt hatte. Nannen und der Stern unterstützten Brandt, Löwenthal und Springer bekämpften ihn mit allen Mitteln.

Das war die Steinzeit des deutschen Fernsehens, es durfte nach Herzenslust geraucht werden, und vielleicht konnten deshalb noch halbwegs bedeutende Themen verhandelt werden. Niemand interessierte sich 1970 für die mangelnde Grazilität von Deutschlands nächstem Super-Model oder dafür, wie ein pickliger Schüler von einem dauererregten Schreihals gedisst wird, weil er nicht ganz so gut wie Frank Sinatra singt. 15 bis 20 Millionen Zuschauer, annähernd die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung im damaligen Westdeutschland, sahen das polemische Gefecht und fieberten je nach politischer Einstellung mit Nannen oder mit Löwenthal. Lale Andersen, die einst über den Soldatensender Belgrad mit "Lili Marleen" so schwermütig den Weltkrieg begleitet hatte, schickte ein Telegramm und gratulierte Nannen "im Namen aller weiblichen Zuschauer" zu seinem "größten Erfolg als Mann und Journalist". Und beim Spiegel meldete sich ein Zuschauer mit einer Frage, die ihm offenbar schon länger auf der Seele brannte: Ob "denn der Löwenthal wohl ein Jude" sei?

Ja, Gerhard Löwenthal, der in diesem öffentlich-rechtlichen Streit zu unterliegen schien, war Jude. Während der junge Nannen 1943 beim Münchner Bruckmann-Verlag arbeitete und Briefe ordnungsgemäß mit "Heil Hitler!" versah, oder unter der Rezension einer nationalsozialistischen Kunstausstellung verstand, dass "der Führer aus unserer innersten Mitte gleichsam als Verdichtung unseres ganzen Volkes wunderhaft heraufgestiegen" sei, saßen Löwenthal und sein Vater auf Wunsch eben dieses Führers im Konzentrationslager Sachsenhausen.

In den zeitgenössischen Fernsehkritiken wurde heftig die Nase gerümpft über Stil und Umgangsformen der Diskutanten. Doch war die Sendung nicht etwa ärgerlich, weil sich Löwenthal und Nannen Koseworte wie "Verleumder" und "gemeingefährlich" an den Kopf warfen, sondern weil sie typisch war für die Nachkriegsjahre. Löwenthal mag ein rechtes Scheusal gewesen sein, mit der Macht des Stern-Rechercheapparats wurde er einfach nur vorgeführt, während Nannen ungestraft den "Herrenmenschen" (wie der Reporter Claus Heinrich Meyer korrekt schrieb) spielen durfte, für den ihn seine Laufbahn vorbereitet hatte.Der Skandal bestand darin, dass Männer wie Weidemann, wie Nannen und wie genug andere nach 1945 ihre Karriere unbehindert fortsetzen konnten.

Diese Männer, die bis zur Niederlage des "Dritten Reiches" vermutlich aus Überzeugung, in jedem Fall mit aller Geisteskraft für den Nationalsozialismus getrommelt hatten, machten nach dem Ende ihres Führers mit anderen Themen, aber mit gleicher Begeisterung weiter. Schlimmer noch: Ohne sie und ihre Kollegen, die unter Hitler und Goebbels gelernt hatten, wie man wirkungsvoll schreibt, hätte es den Journalismus der Nachkriegsjahrzehnte gar nicht gegeben.

Der Luftwaffen-Propagandist Karl Holzamer brachte es zum Intendanten des ZDF (und Vorgesetzten Löwenthals). Werner Höfer, Gründer und Leiter des Internationalen Frühschoppens, war ebenso Nazi-Lohnschreiber gewesen wie Peter von Zahn, durch seine Windrose-Sendung der Inbegriff des weltkundigen Reporters. Josef Müller-Marein besang die Hölle über Frankreich und reportierte kämpferisch Panzer stoßen zum Meer (beide Bücher 1940 erschienen), um 1956 Chefredakteur der Zeit zu werden. Herbert Reinecker, der seine Derrick- und Kommissar-Drehbücher dutzendfach ans TV verkaufte, hatte vor 1945 kaum weniger erfolgreich Massenware produziert. Bereits 1936 sah der spätere Chefredakteur der HJ-Zeitschrift Der Pimpf die "Jugend in Waffen" und jauchzte zum Kriegsbeginn 1939: "Panzer nach vorn!"

Wohl gab es die Akten über die frühen Großtaten der bundesrepublikanischen Leistungsträger, doch forderte keine Birthler-Behörde eine "Aufarbeitung" dieser Geschichte, geschweige denn dass jemand, wie es Joachim Gauck kürzlich in der aktuellen Debatte um die Berliner Zeitung für Journalisten mit Stasi-Nähe gefordert hat, "Umwege auf seiner Karrierebahn" akzeptieren musste.

Solche Umwege seien nur gerecht, meint Gauck, aber was ist schon gerecht? Giselher Wirsing, der als Mitarbeiter des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg Jahrzehnte vor Osama bin Laden von einem islamischem Dschihad gegen die Juden, gegen Amerika und den Westen träumte, wurde in Anerkennung seiner Verdienste im "Dritten Reich" mit einer Strafe von 500,- Reichsmark belegt und anschließend Chefredakteur der damals wichtigsten Wochenzeitung Christ und Welt. Wie sein ehemaliger Mitarbeiter Klaus Harpprecht berichtet, sorgten ausgerechnet die Nazi-Verfolgten Willy Brandt und Herbert Wehner dafür, dass Wirsing von den SPD-nahen Zeitungen trotz seiner Vergangenheit geschont wurde. Aber schließlich hatte Bundeskanzler Adenauer 1952 höchstpersönlich zur Wiederverwendung der NSDAP-Mitglieder erklärt: "Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen."

Als 1962 der damalige Verteidigungsminister Strauß den Spiegel überfallen ließ, sah Sebastian Haffner daher bei den herrschenden Schichten und Institutionen die nämliche "Charakterlosigkeit" am Werk, die Hitlers Machtergreifung im Februar und März 1933 geduldet und mitgetragen hatte - "wobei es", wie der zurückgekehrte Emigrant in einem Beitrag für die Süddeutsche formulierte, "die Dinge nicht besser macht, dass es sich manchmal noch um dieselben Personen handelt". Haffner wusste, von wem er auch sprach; er war Mitarbeiter von Christ und Welt.

Henri Nannen konnte er nicht meinen, weil der sich sofort mit Rudolf Augstein und dem bedrängten Spiegel solidarisiert hatte. Dennoch war Nannen einer von denen, die von der Sache von früher her besonders viel verstanden. Auch er kam aus der hohen Schule der Nazi-Propaganda. In einem Stern-Heft, das 1996 zu seinem Tod erschien, wird sein selbstloser Einsatz für Volk und Vaterland etwas arg knapp wie folgt zusammengefasst: "1939-1945 Kriegsdienst bei der Luftwaffe". Ja, ein Flieger war er auch, schließlich lockte der "Rote Baron" eine ganze Generation, es ihm gleichzutun. Vor allem aber hatte der begnadete Journalist Henri Nannen in Berlin zur SS-Standarte "Kurt Eggers" gehört und in Oberitalien beim "Südstern" an antisemitischer und ein bisschen pornographischer Propaganda gegen den anrückenden Feind mitgewirkt. (Die Blätter sind nicht verloren gegangen; ein Teil der Serie findet sich heute in der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek.)

Als sich deshalb im Juni 1960 beim Stern-Chefredakteur ein Willem Sassen meldete, wird Nannen sich an die schönen gemeinsamen Tage bei der Propaganda-Kompanie erinnert haben. Der holländische SS-Mann Sassen ("Unsere Front . . . ist dünn besetzt, aber tief gestaffelt") war bei Kriegsende in Belgien in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, hatte aber fliehen und sich in Argentinien eine neue Existenz als revanchistischer Autor aufbauen können. In Buenos Aires hatte der sprachgewandte Sassen die Memoiren eines SS-Kameraden aufgezeichnet, den es zunehmend schmerzte, wie gering seine Rolle bei der "Endlösung der Judenfrage" geschätzt wurde. Als der Mossad diesen Adolf Eichmann ergriff und nach Israel brachte, reiste Sassen sofort nach Deutschland und verkaufte das Typoskript ihrer vertrauten Gespräche an den Stern. Der Stern druckte sie zwar nicht, machte sich aber so seine Gedanken. Mit einem Mal vernahmen die bis dahin mit Unterhaltung verwöhnten Leser politische Töne vom Chefredakteur. "Zumindest in einem Punkt gerät der Staat Israel jetzt in die Gefahr, das Erbe der Nazis anzutreten", schmetterte Nannen und meinte die Tatsache, dass der Kriegsverbrecher Eichmann gegen seinen Willen aus Argentinien entführt worden war. Auch in weiteren Artikeln bewies Nannen, dass er die Kunst der Propaganda ganz wie früher beherrschte. Er zeigte den "Lieben Sternlesern!" ein Bild von Eichmanns Jüngsten, dem vierjährigen Ricardo, der, einen Hund im Arm, auf die Rückkehr seines Vaters wartet, und daneben, kleiner allerdings, das Bild zweier ermordeter jüdischer Kinder. Von der "deutschen Schuld", die jetzt "noch einmal in aller Breite aufgerollt wird", schrieb der Chefredakteur und wusste auch warum: "Daran könnte Israel gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt interessiert sein, weil eine solche Demonstration die Bundesrepublik moralisch verpflichten müsste, die demnächst auslaufenden Wiedergutmachungsleistungen an Israel fortzusetzen."

Der israelische Geschäftsträger in der Bundesrepublik intervenierte zwar deshalb beim Stern-Verleger Gerd Bucerius, doch schien es in der guten alten Adenauer-Republik niemanden zu stören, dass ein ehemaliger Hitler-Besinger dem Staat Israel Nazi-Methoden vorwarf.

Holzamer, Reinecker, Höfer, Wirsing, Nannen sind gestorben. Von der Bloßstellung Höfers abgesehen sind die Kollegen recht verständnisvoll mit dem Karrierebeginn dieser Leitfiguren umgegangen. Auch ohne Stasi-Behörde war der kriegswichtige Propagandaeinsatz bekannt gewesen, eine Überprüfung fand nicht statt. Warum auch, wo es doch so viele waren?

Die Propaganda-Kompanie der deutschen Publizistik ist längst tot, aber der Krieg ist nicht vorbei. Am 23. Oktober kommt der Film Anonyma - eine Frau aus Berlin ins Kino. Die große Nina Hoss spielt die Titelrolle, spielt eine Frau, deren Name nicht mehr anonym ist (vgl. SZ vom 24. September 2003). In ihrem Tagebuch schildert die Autorin, wie sie 1945 nach der Einnahme Berlins zu überleben versucht, berichtet vom täglichen Elend und der "Schändung", den Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Das Buch erschien zuerst 1954 auf Englisch in New York, mit einem Nachwort des Bestseller-Autors C.W. Ceram, der dem Tagebuch einer Unbekannten Aufmerksamkeit zu verschaffen suchte, indem er seine Protagonistin zeitgerecht zum Opfer der "roten Apokalypse" stilisierte.

Überrascht es jemanden, dass dieser Ceram unter seinem richtigen Namen Kurt Wilhelm Marek bis 1945 ebenfalls Propaganda-Schriftsteller gewesen war? "Obwohl von der Niederlage Deutschlands vom ersten Tag an überzeugt, bewahrte mich das nicht vor der Teilnahme an den heftigsten Ereignissen", erläuterte er später in einer Selbstauskunft seinen Werdegang. "Ich war in Narvik, in der Nähe Stalingrads, im Kessel und wurde in Cassino verwundet." So kann man es natürlich auch sagen. Kriegsberichterstatter Marek ist berühmt geworden mit dem wehrkraftertüchtigenden Werk Wir hielten Narvik (1941). Noch 1943, dem Jahr der Niederlage von Stalingrad, feierte Marek in dem Bilderbuch Rote Spiegel - Überall am Feind die Ritterkreuzträger Hermann Görings. Egal. "Das Kriegsende brachte mir das große Atemholen", schreibt Marek weiter in seiner Eigenreklame, "das plötzliche Geschenk der intellektuellen Freiheit rief furiose Arbeitskraft hervor." Seine Propagandatitel erzielen auf dem Neonazi- und Militaria-Markt, der durchs Internet besser denn je floriert, noch immer ordentliche Preise. (Wie die Bücher Müller-Mareins, Reineckers, Wirsings auch.) Der furiose Arbeiter Marek arbeitete für die Welt, für den Rundfunk und wurde Cheflektor im wiedergegründeten Rowohlt-Verlag, in dem er 1949 unter seinem umgedrehten Namen den bis heute aufregenden, aber völlig unpolitischen Weltbestseller Götter, Gräber und Gelehrte herausbrachte.

In den von ihm betreuten Aufzeichnungen der "Anonyma" fand Marek wieder den altvertrauten Feind, die Russen, und die Deutschen, die leider Gottes nicht ewig vor Narvik liegen konnten, waren jetzt die Opfer. Demnächst in einem Kino in Ihrer Nähe. WILLI WINKLER

1943 unterschrieb der junge Nannen Briefe mit "Heil Hitler" und Löwenthal saß im KZ

Sie machten mit anderen Themen, aber mit gleicher Begeisterung weiter

Eine Überprüfung fand nicht statt - warum auch, wo es doch so viele waren?

"Größter Erfolg als Mann und Journalist": Stern-Chefredakteur Henri Nannen (li.) am 16. Dezember 1970 im ZDF mit Gerhard Löwenthal (re.). Foto: dpa

Holzamer, Karl Massenmedien im Nationalsozialismus Löwenthal, Gerhard Zahn, Peter von Stasi-Mitarbeiter Journalisten Nannen, Henri SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Teufel holte die Musik

Vor 75 Jahren: Die Münchner Intrige gegen Thomas Mann

"Leiden und Größe Richard Wagners" heißt der wohl bedeutendste Essay, der je über Wagner geschrieben worden ist. Anlässlich des 50. Todestages von Richard Wagner am 13. Februar 1933 trug Thomas Mann ihn im dichtgefüllten Auditorium maximum der Universität München vor. Die Erinnerung an diesen Essay wird freilich überlagert durch die Erinnerung an den hanebüchenen, aber für Thomas Mann um ein Haar existenzvernichtenden "Protest der Richard-Wagner-Stadt München" in den "Münchner Neuesten Nachrichten" vom 16./17. April 1933. Er bezichtigte Thomas Mann im Blick auf die "nationale Erhebung Deutschlands" des Abfalls von einstiger "nationaler Gesinnung" und trieb ihn mit dem Vorwurf seiner "Bekehrung zum republikanischen System" und zu einer "kosmopolitisch-demokratischen Auffassung" als untragbar für das neue Deutschland in die Fänge der politischen Polizei. Ein Schicksal, dem Mann nur entging, da er von seiner Europareise, auf der er zum Ruhme Wagners in Amsterdam, Brüssel und Paris sprach, nicht zurückkehrte. (Er wäre nachweislich an der Grenze verhaftet worden.)

Die böse Feder des Dirigenten

Angezettelt wurde das "hirnlose Lynchgericht", wie Thomas Mann es in seinem offenen Brief an Hans Pfitzner vom Juli 1933 nannte, den die "Neue Rundschau" nicht mehr zu veröffentlichen wagte, aus freien Stücken, ohne Not, vom seinerzeitigen "Bayrischen Staatsoperndirektor" Hans Knappertsbusch, dem Nachfolger des nicht zuletzt durch völkisch-antisemitische Kreise aus München vertriebenen Bruno Walter, des Intimus von Thomas Mann. Knappertsbusch, der noch 1935 bekannt hat, sich "ausschließlich in nationalen Gesellschaftskreisen" zu bewegen, hat in der Öffentlichkeit geschickt verschleiert - die einschlägigen Dokumente sind aus dem Archiv der Bayerischen Staatsoper verschwunden -, dass er "der Initiator des Protestes" war; aber Thomas Mann hat es sehr wohl gewusst. Knappertsbuschs Rundschreiben vom 3. April 1933 an rund 50 Repräsentanten des musikalischen, kulturellen und politischen Lebens in München - es hat sich in einer Kopie im Hauptstaatsarchiv erhalten - antizipiert mit seinem primitiven Stilgestus die bösartigen Trivialitäten des "Protests", der ebenfalls der Feder des Dirigenten entstammt.

Aus diesem "in Geist und Stil gleich widerwärtigen Schriftsatz" - so Willi Schuh, der Freund und Biograph des Mitunterzeichners Richard Strauss, in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 21. April 1933 - sprach die ganze Literaturfeindlichkeit des Nur-Musikers, eines Typus, den gerade Richard Wagner nicht ausstehen konnte: "Der Musiker, der von früh bis abends nichts als Musik treibt, muß ein Vieh sein", sagt er am 17. Januar 1870 zu Cosima.

Schon am Tag nach Knappertsbuschs Rundbrief wurde Thomas Mann aus dem Rotary Club ausgeschlossen, dem auch der Dirigent angehörte. Eine Reihe von rotarischen "Brüdern" gehört denn auch zu den Unterzeichnern des "Protests". Knappertsbusch rief, und alle Angeschriebenen folgten seinem Ruf, darunter Clemens von Franckenstein, Generalintendant der Bayerischen Staatstheater, der hochgebildete Freund und Briefpartner Hugo von Hofmannsthals, Sigmund von Hausegger, Präsident der Akademie der Tonkunst, und als die prominentesten Künstler Olaf Gulbransson, Hans Pfitzner und Richard Strauss. Ihnen allen hat ihr vorauseilender Gehorsam übrigens nichts geholfen. Der Rotary Club wurde trotzdem verboten, Franckenstein, Hausegger und Knappertsbusch verloren in den beiden folgenden Jahren ihre Ämter.

Die Mehrzahl der Unterzeichner des Femebriefs waren Professoren der Akademie der bildenden Künste, Musiker und Musikschriftsteller und ein guter Teil der neuen Naziprominenz. Es war überwiegend "genau derselbe Menschentyp", wie Thomas Mann an Pfitzner schreibt, der 1865 Wagner aus den Mauern der späteren "Wagner-Stadt" vertrieb. Niemand hat Wagner mehr zugesetzt als die Träger der etablierten Münchener Kultur. Über kaum jemanden hat er sich mehr mokiert als über Akademien und Akademieprofessoren.

In seinen während des Kriegs geschriebenen, von den Nationalkonservativen hochgeschätzten "Betrachtungen eines Unpolitischen", welche die bis heute bedeutendste Würdigung von Pfitzners "Palestrina" enthalten, finden sich schon alle Vokabeln des Wagnerbildes von Thomas Mann. Es stehen hier ganze Passagen, die wörtlich in "Leiden und Größe Richard Wagners" wiederkehren. Thomas Mann setzt Wagner in Beziehung zu Ibsen, zu Zola und überhaupt zur großen sozialen Romankunst des 19. Jahrhunderts: "Es war nicht das Deutsch-Nationale, Deutsch-Poetische, Deutsch-Romantische an seiner Kunst, das mich bezauberte - oder doch nur, insofern dies alles intellektualisiert und in dekorativer Selbstdarstellung darin erschien -: es waren vielmehr jene allerstärksten europäischen Reize, die davon ausgehen und für die Wagners heutige, fast schon außerdeutsche Stellung Beweis ist." All das steht bereits in den als reaktionär-wilhelminisch verschrienen "Betrachtungen eines Unpolitischen".

Thomas Mann hatte darin prophezeit, die moderne demokratisch-politische Zivilisation werde bald "im Bunde mit der Literatur" als "Verdrängerin der Musik" auftreten, die von Demokratie nichts wissen wolle - wie er am Beispiel von Richard Strauss und vor allem Hans Pfitzner, seinem Freund, demonstrierte. Musik, zumindest deutsche, sei für den westlich orientierten "Zivilisationsliteraten" nach Art seines ungenannten Bruders Heinrich nichts als "nationaler Verdummungstrank". Spätestens 1933 hat Thomas Mann erfahren müssen, dass das Gegenteil dieser Prophetie eintrat. Gespenstisch mutet es an, wenn er in den "Betrachtungen" über den so unpolitischen Pfitzner schreibt: "Es kam der Tag, wo sich erwies, daß einer bestimmten seelisch-geistigen Verfassung eben doch eine bestimmte politische Haltung latent innewohnt. . . . Wahrhaftig, dieser Zarte, Inbrünstige und Vergeistigte nahm Stellung gegen den ,Geist '. . . , widmete demonstrativ, als die Wogen des U-Boot-Streites am höchsten gingen, ein Kammermusikwerk dem Großadmiral von Tirpitz."

Bald sollte der "Zarte, Inbrünstige, Vergeistigte" noch einem anderen eine Widmung zuteil werden lassen - Adolf Hitler, dem er ein Exemplar von Conrad Ferdinand Meyers "Huttens letzte Tage" mit persönlicher Dedikation in die Festung Landsberg schickte. Und den "Protest" gegen Thomas Mann hat er von allen Unterzeichnern am unnachsichtigsten und uneinsichtigsten verteidigt. Nicht Demokratie und Literatur verdrängten die Musik, sondern diese drängte die Literatur und die Demokratie ins Exil.

Die Engel Palestrinas

Nicht zuletzt die Erfahrung mit dem "Protest der Richard-Wagner-Stadt München" hat Thomas Mann den "Aufstand der Musik gegen die Literatur", dem er sich in seiner Rede "Deutschland und die Deutschen" (1945) noch einmal zuwandte, mit anderen Augen sehen, ja unter das Vorzeichen des Bösen rücken lassen. Ohne diese Erfahrung wäre er kaum auf die Idee gekommen, die Musik so rigoros zum "dämonischen Gebiet" zu erklären, wie er das in jener Rede und seinem Roman "Doktor Faustus" getan hat. War nicht der Komponist, mit dem er sich nach Wagner am eindringlichsten beschäftigt hatte: Hans Pfitzner dem Teufel verfallen, als er den schändlichen "Protest" gegen seinen größten literarischen Interpreten unterstützte?

In Pfitzners Oper "Palestrina" (1917) geben die Engel dem Komponisten die "Missa Papae Marcelli" ein, welche er im Inspirationsrausch einer einzigen Nacht niederschreibt. Diese Schlüsselszene findet im Teufelsgespräch des "Doktor Faustus" - das nach Palestrina, an die "Geburtsstätte des Komponisten" verlegt wird - ihr heimliches Gegenbild. Nun aber ist es der Böse, der Pfitzners Inspirationsgedanken verkündet. Die Musik, die einst von den Engeln verkündet wurde - sie ist vom Teufel geholt worden. DIETER BORCHMEYER

Die Musik Richard Wagners im nationalsozialistischen Deutschland: Die "Götterdämmerung" 1936 am Deutschen Opernhaus in Berlin, mit (v. li. n. re.) Bertha Stetzler, Gotthelf Pistor und Hans Wocke. Foto: Scherl

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Wir rufen die 110

Kann man das Internetportal YouTube ausstellen? Hannover, die Geburtsstadt des binären Zahlensystems, hat es versucht

Am 12. Januar 1697 wurde das Internet erfunden. Es geschah in Hannover oder zumindest ganz in der Nähe: Gottfried Wilhelm Leibniz formulierte im "Neujahrsbrief" seine Idee des binären Zahlensystems, das zur Grundlage der Informationstechnologie werden sollte. Er schrieb den Brief auf eine längliche Seite, fügte Korrekturen ein; am linken Rand steht eine Pyramide aus Einsen und Nullen, die Leibniz' Idee verdeutlicht: "Nun kann man wohl sagen, daß nichts in der Welt (die Allmacht Gottes) besser vorstelle, ja, gleichsam demonstriere, als der Ursprung der Zahlen, wie er allhier vorgestellet ist, durch deren Ausdrückung blos und allein mit Eins und mit Nulle oder Nichts alle Zahlen entstehen."

Ein faszinierendes Dokument: Man kann der Dynamik tastender Gedanken und einer alles verändernden Idee nachträglich beim Entstehen zusehen - gleichsam in teleskopischem Blick zurück zum Urknall einer neuen Wissenswelt. Nun will die Kestner-Gesellschaft Hannover das Internet zurück nach Hause holen: Sie versucht in der Ausstellung "Bookmarks - Wissenswelten von der Keilschrift bis YouTube" den medialen Wandel in der Darstellung des Wissens nachzuzeichnen. Kern der Schau sind 42 Originaldokumente aus der Bibliothek von Gottfried Wilhelm Leibniz, die hinter zwei lichtgedämpften Glasvitrinen aufgereiht sind.

Es ist freilich gewagt, das Internetvideoportal YouTube als "populärste Ausprägung der gegenwärtigen Wissenskultur" zu annoncieren. Zwar gibt es bei YouTube auch zahlreiche Universitätsvorlesungen, Welterklärungsvideos und Anleitungsclips, für den Zuschauer überwiegt jedoch die ästhetische Unschärfe des Genres Internetvideo: Er weiß ja nie, von wem und mit welcher Absicht ein Video hochgeladen wurde. Zwischen Trash und Virtuosem finden sich auch passable Informationen, deren mangelnde Verlässlichkeit es jedoch fern legt, das eigene Wissen darauf zu gründen. Das wäre so naiv wie früher das Argument: "Das stimmt, das habe ich im Fernsehen gesehen!" Deshalb ist YouTube weniger ein abgesicherter Wissensspeicher als eine Schule der medialen Skepsis.

Und Skepsis kann immer gut gebrauchen, auch wenn man durch eine YouTube-Ausstellung schlendert, in der von YouTube nichts zu sehen ist. Für die Kuratoren Maximilian Engelmann und Frank-Thorsten Moll liegt gerade darin der Reiz: Sie wollen die ältere Generation, die in diesem Fall mit den 40-Jährigen beginnt, für YouTube interessieren, indem sie das Internetvideo als revolutionäres Medium der Weltbeschreibung in Bezug zur assyrischen Keilschrift aus dem 8. Jahrhundert vor Christus und einer Karte des nördlichen Sibiriens aus dem 18. Jahrhundert nach Christus bringen. Inhaltliche Bezüge sind nicht gewollt, lassen sich aber nicht verhindern.

So wird deutlich, dass Medien dazu tendieren, an sie gestellte Erwartungen zu enttäuschen. Im handkolorierten Weltatlas von Joan Blaeu (1667) etwa mischen sich zwar schon exakte Karten, künstlerische Illustrationen und subjektive Reiseeindrücke - wenn man so will, eine Frühform des "Geotagging", der Kombination von Ortsangaben mit Informationen im Netz. Aber die Ausstellung weist weder auf solche Spuren hin, noch geht sie ihnen konsequent nach. Auch die Frühform eines ästhetisch unscharfen Genres kann man entdecken: Louis Renards "Histoire naturelle des plus rares curiositez de la mer des Indes" aus dem Jahr 1719. In diesem Naturlexikon zeichnete der Künstler Samuel Fallours exotische Fische, jedoch nicht naturgetreu, sondern mit Menschenköpfen und in psychedelischen Farben. Was echt oder unecht war, wusste der europäische Leser nicht, aber er hatte sein Vergnügen bei der Lektüre - mithin eine auch für YouTube empfehlenswerte Lesart.

So mancher Unterhaltungsimpuls schwelt auch bereits in den Dokumenten aus der Leibniz-Bibliothek. Doch erst in den massenmedialen Zusammenhängen des 19. und 20. Jahrhunderts wird Unterhaltung als Wahrnehmungsmodell virulent. Die Schau überspringt diese Zeit einfach, um sofort bei YouTube zu landen: Diese Kluft ist zu groß. Bei YouTube wird die Welt eben nicht mehr, wie in Leibniz' Wunderkammer, exakt vermessen, sondern stellt sich als pointillistisches Zerrbild westlicher Entertainment-Industrie dar, in dem auch die Nöte von Haustieren gezeigt werden.

Wer YouTube verstehen will, muss die Genese der Unterhaltungskultur ernst nehmen. Medien dienen längst nicht mehr allein der Kommunikation zwischen Sender und Empfänger. Wie Graffiti auf Häuserwänden sind auch YouTube-Videos einfach da, von einem anonymen Schöpfer geschaffen, und wollen von einem anonymen Publikum entdeckt werden. Solch eine Genese aus der Guerillakunst wird in Hannover nicht angestrebt. Dabei ist YouTube dabei, unsere Kultur zu ästhetisieren, wie es auch ein Spiegel ebendieser Ästhetisierung ist. Hier wird die Welt nicht bloß schriftlich aktualisiert wie bei der Netzenzyklopädie Wikipedia, sondern in Bildern, Tönen und Worten lustvoll gestaltet. Klar, es ist schwierig, eine Website auszustellen, bei der täglich 200 000 Videos hochgeladen werden. Doch mit ihrer "Besucherkuratierung" - die Museums-"User" sollen im Netz eigene YouTube-Playlists mit repräsentativen Clips anlegen - machen es sich die Kuratoren zu einfach. Niemand erwartet heute allwissende Antworten, aber ein paar Hilfestellungen dürften es schon sein

YouTube ohne YouTube: Man kann darüber streiten, ob das eine originelle Idee oder ein falscher Ansatz ist. Wenn es der Schau wenigstens gelänge, das Spezifische des Mediums zu vermitteln. Doch es genügt nicht, Dokumente epochaler Fortschritte des Weltwissens auszustellen und zu sagen: YouTube ist die nächste Evolutionsstufe, alles weitere machen Sie dann bitteschön selber. Auf die neue Bilderfülle zu reagieren, indem man gar keine Bilder zeigt, kommt einer Kapitulation aus Bequemlichkeit gleich. CHRISTIAN KORTMANN

"Bookmarks. Wissenswelten von der Keilschrift bis YouTube", Kestner-Gesellschaft Hannover, bis 15. Februar. Info: www.kestner.org

Das Buch Esther, 17. Jahrhundert, vermutlich aus Gandersheim (Pergamentrolle von über 7 Metern) © Courtesy Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek

YouTube Inc Kultur, Kunst, Medien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Koalition ringt um Kfz-Steuer

An diesem Dienstag will das Kabinett die umstrittene Reform besiegeln

Von Michael Bauchmüller und Claus Hulverscheidt

Berlin - Die große Koalition hat am Montag bis in den frühen Abend hinein um einen Kompromiss im Streit über die Kfz-Steuer gerungen. Nachdem es am Wochenende trotz intensiver Beratungen zu keinem Durchbruch gekommen war, trafen sich am Montag erneut die Staatssekretäre der betroffenen Ministerien. Sie standen unter großem Zeitdruck, da bereits für diesen Dienstag die Verabschiedung der Reform im Bundeskabinett vorgesehen ist. Der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg verbreitete entsprechend Zuversicht: "Ich gehe davon aus, dass wir uns auf ein konsensfähiges Modell einigen werden", sagte er.

Ziel der seit Jahren umstrittenen Reform ist es, Autos stärker nach ökologischen Kriterien zu besteuern, ohne dabei Besitzer einzelner Fahrzeuggruppen sowie den Staatshaushalt über Gebühr zu belasten. Die jüngste Kompromissidee hatte sich jedoch wie viele frühere als untauglich erwiesen. "Die Debatte hat gezeigt, dass dieser Vorschlag noch nicht das Optimum war", sagte ein Sprecher von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). Das Modell sah vor, die Kfz-Steuer künftig nicht mehr nur am Hubraum, sondern auch am Kohlendioxid-Ausstoß der Fahrzeuge auszurichten. Zugleich war aber auf Betreiben der Union die Belastung für besonders schwere und große Autos gedeckelt worden. Das hätte dazu geführt, dass etwa Geländewagen nicht höher besteuert worden wären als obere Mittelklasseautos. Dies führte zu heftigem Widerstand von Umweltschützern, aber auch von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD). Denn in der Folge hätten Besitzer dieser Autos künftig weniger Kfz-Steuer zahlen müssen als bisher. Dies wäre dem eigentlichen Ziel der Steuer, den Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxids zu verteuern, sparsame Autos dagegen zu belohnen, völlig zuwidergelaufen. Die neue Steuer soll von Juli an für alle Neuwagen gelten.

Politiker der Union signalisierten am Montag, dass sie auf Obergrenzen bei der Hubraumbesteuerung verzichten könnten, wenn im Gegenzug die Steuersätze für Diesel-Pkw gesenkt würden. Statt der geplanten zehn Euro je 100 Kubikzentimeter CO2 sollten nur neun Euro fällig werden. Allerdings würden auch von dieser Regelung schwere Dieselautos profitieren. Für einen Audi A8 mit 4,1-Liter-Maschine würden damit nicht mehr 648, sondern 636 Euro fällig. Allerdings hätte der Besitzer des Autos nach dem alten Kompromissmodell gar mit einem Steuernachlass von 90 Euro rechnen können.

Das Umweltministerium brachte ein Modell ins Spiel, das allein den CO2-Ausstoß zur Grundlage der Steuer macht. Jedes Gramm Kohlendioxid würde gleich besteuert, besonders umweltfreundliche Autos wären steuerfrei. Allerdings hat hier das Finanzministerium Vorbehalte: Es befürchtet Einnahmeausfälle in Milliardenhöhe, die allein der Bund tragen müsste. Dieser will nämlich den Ländern die Kfz-Steuer "abkaufen", um Zugriff auf alle Autosteuern zu bekommen. Die Länder verlangen jedoch, dass ihnen das bisherige Aufkommen von 8,8 Milliarden Euro ersetzt wird und dass der Ausgleich über die Jahre noch ansteigen muss. Deshalb will Steinbrück die Steuerausfälle auf 1,5 Milliarden Euro begrenzen.

KFZ-Steuer in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Denn er wusste, was er tat

Das Gericht erspart Klaus Zumwinkel eine Haftstrafe - und doch verurteilt es ihn mit deutlichen Worten

Von Hans Leyendecker

Kurz vor 14.35 Uhr am Montagnachmittag war die Stimmung auf der Anklagebank noch gelöst. Der Kölner Anwalt Rolf Schwedhelm plauschte fröhlich mit dem wegen Steuerhinterziehung angeklagten früheren Post-Chef Klaus Zumwinkel. Dessen zweiter Verteidiger Hanns Feigen unterhielt sich munter mit der Staatsanwältin Daniela Wolters und dem Oberstaatsanwalt Gerrit Gabriel. Der Prozess schien aus Sicht Zumwinkels außerordentlich gut zu laufen. Eine Haftstrafe ohne Bewährung, das stand früh fest, würde es nicht geben. Auch der Strafverfolger Gabriel hatte sich in seinem Plädoyer gegen "populistische Rufe nach einer hohen Strafe" gewandt. Zwei Jahre Haft mit Bewährung hatte er beantragt, aber auf den Gerichtsfluren in Bochum war noch gegen Mittag von den meisten Experten gewettet worden, dass die 12. Große Wirtschaftsstrafkammer deutlich unter dieser Meßlatte liegen würde.

Dann verkündete der Vorsitzende Richter Wolfgang Mittrup das Urteil: Doch zwei Jahre Haft mit Bewährung. Die Mienen auf der Anklagebank verfinsterten sich. Zumwinkel hatte plötzlich sehr schmale Lippen. Er hatte wohl mit einer etwas geringeren Strafe gerechnet.

Nach insgesamt dreieinhalb Stunden Verhandlung ging dann kurz vor 15 Uhr ein Prozess zu Ende, der nach dem Bemühen aller Beteiligten ganz normal sein sollte, aber doch nach speziellen Regeln ablief. In Bochum wurde eine Kulisse aufgebaut, um den Eindruck zu verhindern, hier handele es sich möglicherweise nicht um eine ganz gewöhnliche Hauptverhandlung. Das Gericht hatte selbst bei Bagatellen nachgehakt, wo es gar keiner Nachfrage mehr bedurfte.

Es war aber trotz aller Anstrengungen kein normaler Prozess, weil Zumwinkel kein normaler Angeklagter war und weil selbst die politische Öffentlichkeit in seinem Fall nie viel von der Unschuldsvermutung hielt. Fast wortgleich prangerten Verteidigung und Staatsanwaltschaft in ihren Plädoyers die "Vorverurteilung" des Angeklagten an. Staatsanwaltschaft und Verteidigung waren sich auch in unterschiedlichen Nuancierungen über die "Lebensleistung" Zumwinkels einig. "Er hat sich um dieses Land verdient gemacht", sagte Anwalt Feigen. Strafverfolger Gabriel sprach von einem "beeindruckenden Lebensweg" und ließ bei der Schilderungen der Ehrungen nicht einmal den "Bambi" aus.

Eine unselige Idee

Aber einen zusätzlichen Orden mochte auch die Staatsanwaltschaft Zumwinkel nicht verleihen: Dieser Ehrenmann sei vor 23 Jahren leider der "unseligen Idee verfallen" (Gabriel), dass er bereits versteuertes Geld nicht noch einmal versteuern wolle und habe deshalb heimlich in Liechtenstein eine Stiftung gegründet. Für die ohnehin karge Kommunikation zwischen den Vaduzer Bankleuten und dem deutschen Manager seien Codewörter vereinbart worden. Und damit sein Fahrer nicht erfuhr, mit wem sich Zumwinkel in der Steuerfeste traf, musste er seinen Chef in Grenznähe aussetzen.

"Zumwinkel wusste sehr genau, was er tat", sagte Gabriel. Der vermögende Angeklagte hätte das "nicht nötig gehabt". Das Wort "Gier" liege sehr nahe.

Feigen räumte alle Vorwürfe ein, wies aber auch sofort darauf hin, dass der Angeklagte nicht nur geständig gewesen sei, sondern die Steuerschuld in Höhe von knapp vier Millionen Euro gleich bezahlt habe. Auch habe Zumwinkel durch die Aufgaben aller seiner Ämter und Posten mittlerweile einen zweistelligen Millionenbetrag verloren, erklärte Feigen.

Richter Mittrup blieb in seiner mündlichen Urteilsbegründung bei der Linie seiner Kammer: Bei Steuerhinterziehung in Höhe von knapp einer Million Euro sei nur dann von einer Haftstrafe ohne Bewährung abzusehen, wenn es - wie im Fall Zumwinkel - gewichtige Milderungsgründe gebe. Dazu gehöre das frühe Geständnis, die Lebensleistung, seine Vorverurteilung und die prompte Schadenwiedergutmachung. Belastend für ihn sei, dass er über zwei Jahrzehnte Steuern hinterzogen habe. Er sei früh vermögend gewesen. Das Streben nach "immer mehr Reichtum" durch Steuerhinterziehung sei "nicht zu erklären".

Staatsanwaltschaft und Verteidigung verzichteten noch im Gerichtssaal auf Rechtsmittel. Zwei Jahre Haft auf Bewährung sind für Zumwinkel nicht ganz ungefährlich. In Bonn läuft gegen ihn ein Verfahren wegen der Spitzelaffäre bei der Deutschen Telekom, deren Aufsichtsratsvorsitzender er war. Sollte sich herausstellen, dass er den Auftrag gegeben hat, undichte Stellen im Konzern mit allen Mitteln ausfindig zu machen, könnte ihm, theoretisch, eine weitere Bewährungsstrafe drohen. Er ist in der Angelegenheit noch nicht vernommen worden, und ließ durch einen Sprecher alle Vorwürfe bestreiten. Falls die Staatsanwaltschaft aber zu einem anderen Ergebnis kommen sollte, könnte es für ihn angesichts der zwei Jahre von Bochum bei einer eventuellen Gesamtstrafe plötzlich doch noch eng werden.

Alles eingeräumt und das Urteil schließlich akzeptiert: der ehemalige Post-Chef Klaus Zumwinkel flankiert von seinen Anwälten Rolf Schwedhelm (links) und Hanns Feigen (rechts). Foto: AP

Zumwinkel, Klaus: Straftat Zumwinkel, Klaus: Steueraffäre Gerichtsurteile in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Atomic-Anne muss kämpfen

Der Rückzug von Siemens bringt die Areva-Chefin in Bedrängnis

Anne Lauvergeon behauptet sich nun schon seit Jahrzehnten in der Macho-Welt der Wirtschaft und hat so manchen Gegner, der sich zu den Mächtigen der französischen Republik zählte, ausgebootet. Doch jetzt steht die Chefin des Areva-Konzerns, der unter ihrer Führung zum Weltchampion in der Nukleartechnik aufstieg, bis er von Toshiba überholt wurde, vor ihrer größten Niederlage. Denn mit dem geplanten Ausstieg von Siemens bei Areva ist auch ihre Position gefährdet. Lange hatte sich der Siemens-Konzern, der zu einem Drittel an Areva beteiligt ist, dagegen gesperrt, sich vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und seinen Gehilfen hinausdrängen zu lassen. Anne Lauvergeon hatte auf die deutsche Karte gesetzt und ihr Einvernehmen mit Siemens-Chef Peter Löscher zuletzt immer betont. Der verdeckte Machtkampf mit Sarkozy könnte ihr nun zum Nachteil gereichen.

Auf der Liste der 100 einflussreichsten Frauen der Welt wurde Lauvergeon vom amerikanischen Magazin Forbes bislang auf einem der vorderen Plätze geführt - in Frankreich war sie unter vielen starken Frauen die Nummer eins. Wäre vorvergangenes Jahr die Sozialistin Ségolène Royal Präsidentin geworden, wäre "Atomic-Anne", wie sie einst von Amerikanern und Briten genannt wurde, das Wirtschaftsministerium zugefallen. Sie kennen sich aus der Zeit, als beide François Mitterrand dienten, die eine als Umweltministerin, die andere als Wirtschaftsberaterin. Auch Nicolas Sarkozy, dem Berührungsängste gegenüber Frauen fremd sind, hatte der Sozialistin Lauvergeon das Ministeramt angetragen. Dass sie sich erlaubt hat, die Offerte auszuschlagen, vergisst so einer nicht. Auch besinnt sich Sarkozy, der mehr Frauen in Politik und Wirtschaft befördert hat als seine Vorgänger, inzwischen wieder auf die alten Kumpelseilschaften.

Anne Lauvergeon hat sich durchaus für Frauen eingesetzt. Sie ist selbst Mutter von zwei Kindern, und in einer ihrer seltenen überlieferten privaten Äußerungen hat sie Bewunderung für Simone de Beauvoir eingeräumt. Unter ihrer Ägide verdoppelte sich der Frauenanteil bei Areva auf ein Fünftel. Eine ihrer ersten Taten war die Einrichtung von Kinderkrippen, um berufstätigen Müttern die Rückkehr zu erleichtern. Sie hat den Konzern, der aus der Fusion des Kraftwerksbauers Framatome und des Plutonium-Produzenten Cogema hervorging, vom Beamtenapparat zum Industriekonzern gewandelt. Da bislang die Zahlen stimmten, festigte sich ihre Macht.

Ob sie sich halten kann, ist fraglich. Der Chef des Anlagenbauers Alstom, Patrick Kron, hat sich schon als Nachfolger ins Gespräch gebracht. Für ihn spricht, dass der wichtigste Aktionär seines Unternehmens ein Spezi des Präsidenten ist. Aber erst einmal muss die resolute Lauvergeon wider Willen gut Wetter bei Sarkozy machen. Für bevorstehende Investitionen braucht ihr Konzern drei Milliarden Euro vom Staat, abgesehen von den zwei Milliarden Euro, die für den Siemens-Anteil fällig würden. Die Top-Managerin der Republik wird dieses Jahr fünfzig. Es dürfte ihr schwierigstes Jahr werden. Gerd Kröncke

Anne Lauvergeon Foto: AFP

Lauvergeon, Anne: Karriere Areva: Unternehmensbeteiligungen Areva: Management Frauen in Führungspositionen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Herz für Hummel

Jörg Köster, Chef der Höchster Porzellanmanufaktur, will die berühmte Porzellanfigurenmarke reanimieren

Im vorigen Herbst schien alles vorbei zu sein. Ende Oktober stoppte die Porzellanmanufaktur Goebel aus Rödental bei Coburg nach einem drastischen Einbruch der Nachfrage die Produktion der weltberühmten Hummel-Figuren. Händler informierten Kunden in ihren Schaufenstern und Regalen mit Hinweisschildern über das Ende der kunsthandwerklich hergestellten Figuren mit dem liebreizend kindlichen Aussehen, die vor allem bei Sammlern in aller Welt begehrt waren. Goebel schloss auch die Club-Zentrale der Marke Hummel. Deren Mitglieder warten seither auf "neue Investoren", so Clubleiter William Nelson.

Doch nun scheint eine Rettung nahe, ein Investor gefunden, der die Marke wieder aufleben lassen will. Sein Name: Jörg Köster. Der 48 Jahre alte studierte Betriebswirt ist seit acht Jahren Geschäftsführer der traditionsreichen Höchster Porzellanmanufaktur - einst kurfürstlich-mainzische Manufaktur - und mit einem Anteil von 51 Prozent auch deren Mehrheitseigentümer. Die Übernahme von Goebel allerdings, sagt er, sei "eine reine Privatsache. Mit der Firma hat das nichts zu tun." Das ist ihm wichtig. Seine Mitgesellschafter bei der Höchster Porzellanmanufaktur, die Investitionsbank Hessen, die die restlichen 49 Prozent hält, seien über das Hummel-Vorhaben informiert, aber nicht daran beteiligt.

Köster, der im Rheinland geboren und aufgewachsen ist und über sich selbst sagt, er sei "ein fröhlicher Mensch", hat sich nämlich zuletzt mächtig geärgert. Denn es waren Meldungen verbreitet worden, die Höchster Porzellanmanufaktur mit 30 Beschäftigten und einem Umsatz von drei Millionen Euro würde die Hummel-Fertigung mit noch 340 Beschäftigten übernehmen. Der Manager stellt klar: "Das stimmt nicht. Ich persönlich bin der Investor." Noch sei auch nichts entschieden, die Verhandlungen liefen noch. Er hofft aber, dass in den nächsten Tagen "alles perfekt ist".

Was ihn an der Marke Hummel und den Figuren reizt? Es ist wohl die Mischung aus der Herausforderung und dem festen Glauben an die Rettung eines Geschäfts, das viele Jahrzehnte prächtig gelaufen war, aber stark unter dem Einbruch der Nachfrage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington gelitten hat. "Wir haben die Höchster Porzellanmanufaktur wieder profitabel gemacht", sagt Köster. "Dieses Wissen und diese Erfahrung kann ich auch in Hummel investieren. Ich bin überzeugt, dass die Marke Hummel sehr viel Potential hat".

Marken haben es dem fröhlichen Rheinländer angetan. "Ich bin ein Marken-Mann", sagt er. Nach dem Studium an der Fachhochschule Düsseldorf hat er für Bayer, die Kosmetikfirma Revlon und das Modeunternehmen van Laack gearbeitet, bevor er bei der Porzellanmanufaktur landete. Über seine Pläne für Hummel möchte er noch nicht sprechen. Er will warten, bis die Tinte unter den Übernahmeverträgen trocken ist. Da gibt sich der Porzellan-Manager vorsichtig. Es ist aber wahrscheinlich, dass er die Fertigung der Figuren an deren Heimatort in Rödental belässt. Auch Nelsons Club-Zentrale hätte dann wieder eine Zukunft. Harald Schwarz

"Eine reine Privatsache": Die Übernahme will Jörg Köster als Privatmann stemmen. Foto: ddp

Köster, Jörg: Beruf Höchster Porzellanmanufaktur: Management SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ex-Lehman Gratzer findet Job

Ein weiterer Manager der deutschen Tochter von Lehman Brothers taucht wieder auf. Stefan Gratzer (36) leitet künftig das Aktienemissionsgeschäft im deutschsprachigen Raum für Credit Suisse. Er löst Achim Schäcker ab. Gratzer hatte die gleiche Funktion bei Lehman. Davor machte er bereits bei Morgan Stanley und Goldman Sachs Station. Auch andere Lehman-Führungskräfte wie Michael Bonacker, Hans-Martin Bury, Patrick Schmitz-Morkramer, und Christian Spieler kamen nach der Lehman-Pleite rasch wieder in Spitzenjobs unter. mhs

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ING tauscht Führung aus

Als Konsequenz aus den neuerlichen hohen Verlusten wechselt der niederländische Finanzkonzern ING das Management aus. Wegen der außergewöhnlichen Entwicklungen der vergangenen Monate und aus persönlichen Gründen werde Vorstandschef Michel Tilmant mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurücktreten, teilte ING mit. Bis zu seiner Pensionierung am 1. August werde er dem Institut als Berater zur Verfügung stehen. Nachfolger von Tilmant soll der bisherige Verwaltungsratspräsident Jan Hommen werden. Die Aktionäre sollen seine Ernennung auf der Hauptversammlung am 27. April bestätigen. Bis dahin werde Vorstandsmitglied Eric Boyer die Geschäfte des Vorstandsvorsitzenden übernehmen, Hommen werde aber bereits eng in das tägliche Geschäft eingebunden. Neuer Verwaltungsratspräsident wird vom Tag der Hauptversammlung an Peter Elverding. dpa-AFX

Internationale Nederlanden Groep ING: Management SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Klare Verhältnisse

Das Stühlerücken beim angeschlagenen Finanzkonzern Hypo Real Estate (HRE) geht weiter. Wie das Unternehmen am Montag mitteilte, nehmen die drei letzten verbliebenen Vorstände aus der Zeit vor der Krise ihren Hut. Neben Bettina von Österreich, die sich bisher um das Risikomanagement kümmerte, räumen auch Cyril Dunne und Robert Grassinger Ende Januar ihren Platz im Vorstand der Hypo Real Estate Holding. Dunne werde aber weiterhin die krisengeschüttelte Tochtergesellschaft Depfa in Irland führen, sagte ein Sprecher. Österreich ziehe sich aus persönlichen Gründen zurück, sie erwarte ein Kind, hieß es. Ihre Nachfolgerin wird die aus dem Haus kommende Managerin Manuela Better. Bereits nach Bekanntwerden der finanziellen Schieflage der HRE im Herbst vergangenen Jahres waren der damalige Vorstandschef Georg Funke und der Aufsichtsratsvorsitzende Kurt Viermetz ausgeschieden. Gehen mussten auch die Vorstände Bo Heide-Ottosen, Markus Fell und Frank Lamby. Zuletzt verließ Thomas Glynn den HRE-Vorstand, der heute vom früheren Deutsche-Bank-Manager Axel Wieandt geleitet wird. Gesucht werden noch ein neuer Finanzvorstand und ein Leiter des Immobiliengeschäfts. SZ/Reuters

Bettina von Österreich Foto: oh

Hypo Real Estate: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wechsel bei Böwe

Der Vorstandsvorsitzende von Böwe Systec gibt - knapp zwei Monate nach seinem Abschied von der Muttergesellschaft Wanderer-Werke - auch die Leitung des Kuvertiermaschinenherstellers ab. Claus Gerckens werde das Augsburger Unternehmen Ende des Monats aus persönlichen Gründen verlassen, teilte Böwe mit. Nachfolger wird Oliver Bialowons. Der 40-Jährige hatte bereits Anfang Dezember Gerckens Nachfolge bei den Wanderer-Werken angetreten und war damals auch in den Böwe-Vorstand berufen worden. Er verantwortete seither das operative Geschäft. SZ

Böwe Systec AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das elektronische Ticket für Deutschland

Bundesweit gültige Fahrscheine mit Computer-Chips sollen Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs das Leben leichter machen. Datenschützer haben Bedenken

Von Simone Lankhorst

München - Schön wäre es ja: Kein lästiges Suchen nach Kleingeld, keine komplizierten Tarifsysteme, kein Abstempeln. Mit dem so genannten "eTicketing" soll der Nahverkehr im ganzen Bundesgebiet kundenfreundlicher werden. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen Deutschland (VDV) hat sich jetzt darauf geeinigt, die in einigen Bundesländern bereits gebräuchlichen elektronischen Fahrkarten mit einem speziellen Chip auszustatten, wodurch diese auch über die Tarifgrenzen der einzelnen Verbünde hinaus genutzt werden können. Auch Pre-Paid-Karten oder Handys können mit diesem Chip ausgestattet werden.

In Zukunft könnte Bus- und Bahnfahren dann so aussehen: Man steigt in Köln, zugehörig zum Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS), in einen Regionalexpress und fährt bis Essen, ohne ein Zusatzticket für den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) lösen zu müssen. Die Fahrverbindungen werden auf dem Chip in der elektronischen Fahrkarte gespeichert, am Monatsende bekommt man dann eine Rechnung.

Einige Verkehrsverbünde in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg geben schon seit Längerem elektronische Fahrkarten mit der "eTicketing"-Technik aus, allerdings nur an Abonnementen von Zeitkarten. Allein in Nordrhein-Westfalen besitzen schon mehr als eine Million Menschen die elektronische Fahrkarte, bis 2012 sollen es in ganz Deutschland zehn Millionen werden.

Für Gelegenheitsfahrer

Der herkö;mmliche Papierfahrschein bleibt aber weiterhin erhalten: "Das eTicket ist ein Zusatzangebot und in Zukunft vor allem für Gelegenheitsfahrer gedacht, die sich nicht am Automaten herumschlagen wollen", erläutert Klaus Hoffmann von der VDV Kernapplikations GmbH. Die Firma hat die Technologie für das elektronische Fahrkartensystem entwickelt. Als einer der ersten verkehrsverbünde stellt der VRR nun sukzessive das "eTicket" auf den vom VDV entwickelten Standard für ganz Deutschland um.

Was bisher noch fehlt, sind entsprechende Lesegeräte. Erste Modellversuche gibt es zum Beispiel in Duisburg. Dort wird die Karte beim Einsteigen in den Bus beim Fahrer an ein Lesegerät gehalten, das die Gültigkeit der Fahrkarte überprüft. Einige Datenschützer halten diese Art der Kontrolle allerdings für problematisch, genauso wie monatliche Rechnungen: "Für Abbuchungssysteme müssen eben auch Bewegungsprofile erstellt werden. Das wäre definitiv ein Verstoß gegen den Datenschutz", hieß es aus dem Büro einer Landesdatenschutzbeauftragten. Theoretisch könnte über die Chipkarte im Handy oder im Monatsticket also nachverfolgt werden, wo Fahrgäste ein- und aussteigen. Eine Sprecherin des VRR versicherte hingegen, dass "bei der derzeitigen Testphase nur die Gültigkeit der Karten überprüft wird." Personenbezogene Daten und Fahrverbindungen würden auf den Chipkarten nicht dauerhaft gespeichert. Zudem seien die Vertragsentwürfe für eine Teilnahme am "eTicketing" eng mit den jeweiligen Landesdatenschutzbeauftragten abgestimmt worden.

Teilnahme freiwillig

Das Bundesverkehrsministerium bezuschusst Verkehrsunternehmen und -verbünde, die das "eTicket" einführen wollen, mit zehn Millionen Euro. "Im 21. Jahrhundert muss es möglich sein, per Chip oder Handy einen Fahrschein für die U-Bahn in Berlin oder die Busfahrt in München zu lösen", begründete Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) die Förderung.

In welcher Form und ob überhaupt die Verkehrsbetriebe in Deutschland die Chipkarte einführen, bleibt diesen allerdings selbst überlassen. Entsprechende Summen aus dem Fördertopf für die Entwicklung des "eTicketing" haben unter anderem bisher die Verkehrsverbünde Berlin-Brandenburg, Hamburg, Oberelbe und Rhein-Main erhalten, sowie Verkehrsbetriebe in Schwäbisch-Hall, Heilbronn und dem Ostalbkreis.

In Zukunft in ganz Deutschland möglich: Bus- und Bahnfahren mit dem "eTicket", das Verbundsgrenzen und Preisstufen automatisch erkennt. Foto: Caro

Öffentlicher Nahverkehr in Deutschland Bargeldloser Zahlungsverkehr in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Angriffslustig im Palais der Männer

Als erste Frau an der Spitze des Siemens-Gesamtbetriebsrats will Birgit Steinborn alte Traditionen im Unternehmen kippen

Von Markus Balser

Der Schritt in die erste Reihe wird zäh für Birgit Steinborn. Acht Stunden? Zehn Stunden? In der Siemens-Zentrale am Wittelsbacherplatz erwarten Konzernstrategen für diesen Dienstag erneut eine Marathon-Hauptversammlung. Erstmals wird Steinborn dann in der Münchner Olympiahalle als Siemens-Aufsichtsrätin vor weit mehr als 10 000 Aktionären auf dem Podium sitzen. Für die einflussreiche Arbeitnehmervertreterin ist dies nur der Anfang. Gerade zur Vizechefin des Siemens-Gesamtbetriebsrats gewählt, soll die 45-Jährige spätestens im nächsten Jahr erneut befördert werden - an die Spitze des Konzernbetriebsrats. Sie wäre damit die erste Frau, die in einem Dax-Konzern oberste Sprecherin der Arbeitnehmer wird. Daran müssen sich auch die Manager gewöhnen.

Vorstandschef Peter Löscher dürfte ahnen, dass der Burgfriede zwischen Managern und Beschäftigten bei Siemens, seit Beginn der Korruptionsaffäre Praxis, mit seiner neuen Nachbarin zu Ende geht. Denn die Soziologin aus Hamburg gilt als angriffslustig. Verlagerungen nach Prag? "Mit mir nicht", signalisierte Steinborn. Auch dem jüngsten Stoff für Zoff weicht sie nicht aus: Aufsichtsratschef Gerhard Cromme will auf der Hauptversammlung inmitten der schweren Wirtschaftskrise über höhere Bezüge für die Konzernspitze abstimmen lassen und ganz nebenbei auch sein eigenes Honorar verdoppeln. Siemens dürfe im Wettbewerb um kluge Köpfe zwar nicht den Kürzeren ziehen, sagt Steinborn. Aber Betriebsräte müssten das Auseinanderdriften von Managerbezügen und Arbeitnehmereinkommen angehen und mit guten Tarifabschlüssen die Einkommen der Beschäftigten endlich erhöhen.

Im Rücken des Vorstands

Steinborn spricht bedacht, lässt Worte statt Gesten sprechen. Erst Anfang Januar hat sie ihr neues Büro im Rücken des Siemens-Vorstands bezogen - in einem Nachbargebäude der noblen Konzernzentrale, dem Palais am Wittelsbacherplatz. Erst vor zwei Monaten war mit Barbara Kux erstmals seit 161 Jahren eine Frau in den Konzernvorstand eingezogen. Kollegen spüren, dass die Karrieren der Erfolgsfrauen im Industriekonzern mancherorts auf Skepsis stoßen. Steinborn wundert das nicht: "Gleichberechtigung ist noch immer nicht erreicht." Dass mit Angela Merkel erstmals eine Frau Bundeskanzlerin sei, setze Zeichen. Aber es gebe Nachholbedarf. "Auch Siemens ist noch immer ein konservativer Konzern", sagt Steinborn.

Während sich die Siemens-Führung um Konzernchef Peter Löscher und Aufsichtsrat Gerhard Cromme noch für den vergleichsweise glimpflichen Ausgang der Korruptionsermittlungen in den USA loben lässt, glaubt Steinborn, dass es nur ein kurzer Moment des Hochgefühls werden wird.

Je tiefer sich die Finanzkrise in die reale Wirtschaft hineinfrisst, je mehr Betriebe über rückläufige Aufträge klagen und je häufiger Unternehmen die Bänder für Wochen anhalten wollen, desto schwieriger wird auch die Arbeit der Betriebsräte. "Die Wirtschafts- und Finanzkrise stellt die Industrie vor gewaltige Probleme. Aber wir werden dafür kämpfen, dass die Mitarbeiterzahl in Deutschland nicht weiter zurückgeht." Die Gefahr weiterer Einschnitte sieht Steinborn auch nach dem offiziellen Abschluss des größten Umbaus in der Konzerngeschichte nicht gebannt: "Es wird weitere Veränderungen geben."

Steinborn sagt von sich selbst, sie sei keine ideologisch geprägte Klassenkämpferin. Sie zähle zur neuen Generation von Betriebsräten, die früh an Konzernentscheidungen beteiligt werden will. Mancher Manager habe zu stark auf die Kapitalmärkte und zu wenig auf langfristige Konzernziele geschaut, sagt Steinborn. Betriebsräte müssten vom Reagieren zum Agieren übergehen. "Wir müssen stärker in Managemententscheidungen einbezogen werden. Und wir werden dafür kämpfen, dass das passiert - notfalls auch mit juristischen Mitteln."

Steinborn hat fast ihr gesamtes Berufsleben bei Siemens verbracht. 1978 startete sie eine Lehre in Berlin, studierte später Soziologie und stieg im Vertrieb des Konzerns wieder ein. Seit 1990 ist sie Betriebsrätin bei Siemens in Hamburg. Was sich in der Konzernkultur seitdem zwischen Management und Mitarbeitern geändert hat? "Die Sozialpartnerschaft bröckelt", klagt die Betriebsrätin. "Der Umgang mit den Beschäftigten wird härter."Für Unternehmen könne das zum Problem werden. "Eine Firma wie Siemens lebt doch davon, dass sich die Mitarbeiter voll mit ihrem Konzern identifizieren."

Der Ärger über den Korruptionsskandal und die illegale Förderung der Betriebsräteorganisation AUB ist im Betriebsrat noch immer groß. Die Ansagen des neuen Managements seien zwar klar, sagt Steinborn: Der Aufbau einer Gegengewerkschaft werde verurteilt. "Aber bis zur letzten Führungskraft hat sich das noch nicht herumgesprochen. Der Kulturwandel ist noch nicht abgeschlossen." Steinborn will ihn weiter vorantreiben und dabei auch Konflikte mit dem Management riskieren. "Ich bin streitbar, nicht streitlustig."

Mächtiges Gremium

Der Siemens-Gesamtbetriebsrat (GBR) gilt als eines der einflussreichsten Arbeitnehmergremien in Deutschland. Ihm war auch in der Aufarbeitung der Korruptionsaffäre eine zentrale Rolle zugefallen. Der inzwischen ausgeschiedene Ex-GBR-Chef Ralf Heckmann wurde Teil eines inneren Führungszirkels mit Chefkontrolleur Gerhard Cromme, Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und IG-Metall-Chef Berthold Huber. Das Quartett baute im Management um und holte Peter Löscher an die Konzernspitze. mbal

"Ich bin streitbar, nicht streitlustig", sagt Birgit Steinborn. Foto: Alessandra Schellnegger

Steinborn, Birgit: Karriere Siemens AG: Betriebsrat SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Klimaschutz ist bezahlbar"

McKinsey schätzt den Bedarf auf 810 Milliarden Euro

Von Cerstin Gammelin

Brüssel - Die Weltwirtschaft kann mit überschaubaren Kosten klimafreundlicher gemacht werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey, die am Montag in Brüssel vorgestellt wurde. "Klimaschutz ist machbar, und er ist bezahlbar", sagte McKinsey-Direktor Tomas Nauclér. Um die Erderwärmung zu bremsen, müssten bis zum Jahr 2030 weltweit 810 Milliarden Euro in neue Technologien investiert werden. Es dürfe keine Zeit verloren werden, sagte Nauclér.

McKinsey listet 200 Maßnahmen auf, mittels deren Umsetzung sich die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 senken lassen. Würden Industrie und Haushalte Energie effizient nutzen, würden die Emissionen um 40 Prozent sinken. Allerdings rufen Europas Energiekonzerne rufen auch beim Klimaschutz nach mehr politischer Führung.

Der Klimawandel könne nur gestoppt werden, wenn "alle Länder dieser Welt mitmachen und alle technologischen Reserven ausgeschöpft werden", sagte Lars G. Josefsson, Vorstandschefs des schwedischen Versorgers Vattenfall, der die Studie zusammen mit anderen Energiekonzernen und der Umweltorganisation WWF finanziert hat. Die Politik müsse "für alle Länder anspruchsvolle Emissionsgrenzen vorgeben", sagte Josefsson.

WWF-Direktor Jim Leape forderte die Politik auf, endlich anspruchsvolle Klimaziele zu vereinbaren. "Wir brauchen einen internationalen Deal", sagte Leape. Bis zum Jahr 2020 müssten die Klimagasemission in Europa und in den USA um mindestens 25 bis 40 Prozent im Vergleich zu 1990 reduziert werden. Bisher hat die EU lediglich eine Reduktion von 20 Prozent beschlossen. US-Präsident Barack Obama will die Emissionen bis 2020 auf dem Stand von 1990 einfrieren. Leape forderte die EU und die USA auf, nachzubessern. Zwei Drittel der Klimagasemissionen müssten in den Schwellenländern reduziert werden. Diese würden ein Abkommen unterschrieben, wenn die Industriestaaten mehr leisten. Er appellierte an die Industriestaaten, mit den angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise geschnürten Rettungspaketen Investitionen in nachhaltige Projekte zu fördern. "Die Konjunkturpakte sind der Schlüssel zum Klimaschutz", erklärte der WWF-Direktor. Nötig sei der Ausbau der Infrastruktur, der erneuerbaren Energien und effiziente Technologien.

Ende alter Anlagen: Das stillgelegte Bergwerk Walsum. Foto: AP

McKinsey & Company Inc.: Produkt Klimaschutz Klimapolitik ab 2006 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Milliarde Menschen hungert

Experten warnen in Madrid vor einer neuen Lebensmittelkrise und fordern die Auszahlung zugesagter Spenden

Von Silvia Liebrich

München - Wie fragil die menschliche Lebensgrundlage sein kann, zeigt in diesen Tagen eine Raupenplage in Liberia. Hunderte Kleinbauer sind mit ihren Familien auf der Flucht, vertrieben von einer Ungezieferplage, die große Teile ihrer Getreide- und Maisfelder vernichtet hat. Es ist schlichtweg der Hunger, der die Menschen in einem der ärmsten Länder Afrikas dazu zwingt, auf der Suche nach Nahrung ihre Heimat zu verlassen. Geschichten wie diese gehören zum Alltag in vielen Entwicklungsländern, Notiz wird von ihnen nur selten genommen.

Dass ausgerechnet diese Meldung von den Nachrichtenagenturen aufgegriffen wurde, hat sicher auch damit zu tun, dass an diesem Montag und Dienstag in Madrid Vertreter aus 95 Ländern zusammenkommen, um nach Lösungen für das wachsende Hungerproblem zu suchen. Teilnehmer warnten bei der Eröffnung nachdrücklich vor einer Verschlechterung der weltweiten Ernährungslage. Die Finanzkrise und niedrige Erzeugerpreise könnten zu sinkenden Agrarinvestitionen und einem Rückgang der Nahrungsmittelproduktion führen, sagte der Chef der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), Jacques Diouf. Dies werde einen erneuten Preisanstieg und eine zunehmenden Nahrungsmittelknappheit zur Folge haben. Fehlende Nahrungsmittel und hohe Lebensmittelpreise seien eine Bedrohung für Wohlstand und Sicherheit in vielen Entwicklungsländern, erklärte die neue US-Außenministerin Hillary Clinton per Video-Botschaft.

Ziel rückt in weite Ferne

Bei dem zweitägigen Treffen unter dem Vorsitz von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und Spaniens Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero geht es auch um die Umsetzung eines Aktionsplans, der beim Welternährungsgipfel im vergangenen Juni in Rom verabschiedet wurde. Stark gestiegene Lebensmittelpreise hatten im vergangenen Jahr zu Unruhen in einigen Ländern, darunter Mexiko und Indien, geführt. Damals sagten Einzelstaaten und internationale Organisationen 22 Milliarden Dollar an Spenden zu, umgerechnet etwa 17 Milliarden Euro. Davon wurde nach Angaben von FAO-Präsident Diouf bislang aber nur ein kleiner Teil an die Entwicklungsländer überwiesen. Er forderte die Spender auf, ihre Zusagen einzuhalten.

In Rom hatten die Teilnehmer auch das Ziel bekräftigt, die Zahl der Hungernden im Zeitraum von 1990 bis 2015 halbieren zu wollen - eine Vorgabe, die in immer weitere Ferne rückt. 2008 stieg die Zahl der unterernährten Menschen um weitere 75 Millionen auf knapp eine Milliarde. Allein der Klimawandel dürfte die Zahl der Hungernden in den nächsten Jahren um bis zu 170 Millionen steigen lassen. Zu diesem Schluss kommt das unabhängige Londoner Expertengremium Chatham House in einer am Montag veröffentlichten Studie zur Ernährungssicherheit im 21. Jahrhundert.

Als eine der größten Bedrohungen für die Nahrungsmittelproduktion wird darin auch die zunehmende Wasserknappheit genannt, unter der bereits heute 500 Millionen Menschen leiden. Im Jahr 2050 werden davon schätzungsweise vier Milliarden Menschen betroffen sein, das entspricht knapp der Hälfte der erwarteten Weltpopulation zu diesem Zeitpunkt. Der Kampf um fruchtbares Ackerland und Wasser wird sich der Studie zufolge verschärfen. Mehr als zwei Drittel des verfügbaren Süßwassers werden bereits heute in der Landwirtschaft verbraucht.

Den jüngsten Rückgang der Lebensmittelpreise werten auch die Chatham-Experten nicht als Zeichen für eine Entspannung am Agrarmarkt. "Mittel- bis langfristig ist ein Anstieg der Nahrungsmittelpreise unausweichlich", heißt es in der Studie. Ursache dafür sei auch der wachsende Einsatz von Agrarrohstoffen für die Energiegewinnung. Die Agrarindustrie geht davon aus, dass sich der weltweite Nahrungsbedarf bis 2030 verdoppeln wird. Um den Bedarf zu decken, müssten sich die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft schon heute auf eine globale Ernährungsstrategie einigen, so die Chatham-Experten.

Demonstranten forderten am Tagungsort in Madrid eine Wende in der weltweiten Lebensmittelpolitik und mehr Hilfen für Bauern. Hilfsorganisationen warnten, dass die Konferenz zu einer "Farce" zu werden drohe. Sie beklagten das Fehlen koordinierter Programme der reichen Länder zum Kampf gegen den Hunger. "Die Welternährungskonferenz darf nicht zu leeren Versprechungen führen, die am Ende nicht eingehalten werden", sagte José Antonio Hernández, Sprecher der Organisation Intermón Oxfam.

Demonstranten protestieren beim Welternährungsgipfel in Madrid: Sie befürchten, dass das Treffen so wenig Ergebnisse bringen wird, wie andere zuvor. Die Zahl der Hungernden stieg zuletzt auf knapp eine Milliarde Menschen. Foto: AFP

Welternährung Lebensmittelpreise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Duell am Schlangenfluss

Ohne Spielmacher Michael Kraus suchen die deutschen Handballer ihre kleine Chance aufs WM-Halbfinale

Zadar - Von den 9,8 Millionen Menschen, die den Schluss des Handball-WM-Spiels gegen Norwegen in Deutschland am Fernsehen verfolgten, dachten vermutlich alle bis auf eine Frau in Gummersbach: Ui, jetzt brät er ihnen eins über. Bundestrainer Heiner Brand war mit erhobener Faust hinter den slowenischen Schiedsrichtern hergelaufen, er wirkte wie eine Mischung aus Waldschrat und Straßenkämpfer, und als er die Bilder am nächsten Morgen im Fernsehen sah, hat er sich ein wenig erschrocken. Seine Frau Christel aber war ganz ruhig. Als er sie am Sonntagabend nach dem Spiel anrief, sagte sie: "Heiner, du hattest dich gut unter Kontrolle."

Das stimmt zumindest insoweit, als dass nichts Schlimmeres zu befürchten stand. "Ich verabscheue Gewalt und habe noch nie jemanden geschlagen", sagte Brand am Montag, "es bestand keine Gefahr, dass ich ausraste. Das war ein Ausdruck der Ohnmacht gegenüber den Entscheidungen, die ich immer noch nicht nachvollziehen kann." In den letzten zehn Sekunden des Spiels hatten die Schiedsrichter Rechtsaußen Christian Schöne einen Freiwurf so lange wiederholen lassen, bis die Zeit abgelaufen war. Die Deutschen verloren die Hauptrundenpartie 24:25, was die Chancen aufs Erreichen des Halbfinales schmälert.

Die Szene war mindestens kurios. Der Norweger Harvard Tvedten war ausgerutscht, so dass die Deutschen noch eine letzte Chance zum Ausgleich hatten. Da der Ball nicht im Aus war, hätte es Freiwurf geben müssen. Die Schiedsrichter begründeten das Zurückpfeifen Schönes jedoch damit, dass sie Einwurf gegeben hätten. "Es war vieles möglich in dieser Szene, nur nicht das, was die beiden Herren getan haben", sagte Brand, "wenn sie ein Gewissen haben, müsste es ein schlechtes sein."

Die Spieler hatten die Partie am Montag gut verdaut, Handballer sind an seltsame Schiedsrichter gewöhnt. "Es wäre das Schlechteste, jetzt weiter darüber nachzudenken", sagte Linksaußen Dominik Klein, "wir müssen uns ganz auf das Spiel gegen Dänemark konzentrieren." Es ist das dritte große Spiel gegen die Dänen innerhalb von zwölf Monaten, das EM-Halbfinale 2008 und das entscheidende Vorrundenspiel bei Olympia haben die Deutschen verloren. Klein benutzte ein interessantes Bild, um die Situation zu beschreiben, er sagte: "Wir sind jetzt am Schlangenfluss, da muss es links oder rechts rum gehen."

Was Klein meint: Mit einem Sieg gegen die Dänen am Dienstag (17.30 Uhr/RTL) sind alle Fragen geklärt, dann stehen die Deutschen im Halbfinale dieser WM in Kroatien. Doch auch wer am Schlangenfluss die falsche Abzweigung nimmt, ist noch nicht verloren. Das ist einerseits tröstlich, bedeutet aber andererseits viel Rechnerei. Bei einem Unentschieden gegen Dänemark kann es auch fürs Halbfinale reichen, wenn Norwegen nicht gegen Polen gewinnt. Selbst eine Niederlage könnte reichen, man braucht zwar kein abgeschlossenes Mathematikstudium, um die entsprechende Konstellation zu berechnen, man muss aber wie Heiner Brand firm sein in Klassikern deutschen Liedguts. Brand zitierte Katja Ebstein mit den Worten: "Wunder gibt es immer wieder." Kurzum: Die Gegend am Schlangenfluss ist in Wahrheit eher unübersichtlich, was Abwehrchef Oliver Roggisch zu der Bemerkung veranlasste: "Ich habe keine Lust auf diese Rechnerei. Ich sehe das Spiel als Viertelfinale, wir müssen gewinnen, fertig."

So einfach könnte das alles in der Tat sein, wenn sich da nicht das eine oder andere neue Problem aufgetan hätte. Um fünf Uhr am Montagmorgen hat Spielmacher Michael Kraus das Mannschaftshotel in Zadar verlassen, um sieben Uhr flog er zurück nach Deutschland. Nach einem Foul und anschließender unkontrollierter Landung war er Mitte der zweiten Halbzeit gegen die Norweger umgeknickt. Mannschaftsarzt Berthold Hallmaier diagnostizierte: Verdacht auf doppelten Bänderriss im Sprunggelenk. Zudem berichtete er von mangelhafter medizinischer Versorgung in Zadar, nicht einmal Krücken habe es im Krankenhaus gegeben, die Ärzte seien überdies unfreundlich gewesen, er habe sich deshalb beim Weltverband IHF beschwert.

Rückraumspieler Pascal Hens leidet an einer Oberschenkelverhärtung, sein Einsatz ist laut Hallmaier fraglich, Hens selbst aber sagt: "Ich denke schon, dass es gehen sollte." Der Ausfall von Kraus ist kaum zu kompensieren für das Team, wenn auch noch Hens ausfiele oder nur unter starken Beschwerden spielen könnte, wäre es ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, gegen die Europameister aus Dänemark gewinnen zu wollen. Auch wenn Brand sagt: "Sicherlich sind wir den Dänen dann unterlegen, was die individuelle Stärke angeht, aber wer uns kennt, der weiß, dass wir uns nicht geschlagen geben."

Ein bisschen klingt das alles wie das Drehbuch zu einem amerikanischen Film voller Klischees: Die junge, neu zusammengestellte Mannschaft leidet unter den Schiedsrichtern, sie verliert wichtige Spieler wegen Verletzungen, alles hat sich gegen sie verschworen, und jetzt steht das Spiel gegen die schier übermächtigen Männer des Nordens an. Keiner setzt mehr auf das junge Team, aber dann . . . Der Film hieße selbstverständlich "Duell am Schlangenfluss".

Da dies aber eine Handball-WM ist und kein Film, lässt sich nüchtern festhalten: Die Chance der Deutschen gegen die Dänen ist sehr klein. Aber immerhin, sie besteht. Christian Zaschke

Ausdruck der Ohnmacht: Die deutschen Handballer um Trainer Heiner Brand (im schwarzen Hemd) klagen vergeblich bei den Schiedsrichtern. Foto: Pixathlon

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Im Fangzaun gelandet

Beim Super-G von Cortina scheidet Maria Riesch erneut aus

Cortina d'Ampezzo - Die Schweizer Skirennläuferin Lara Gut ist nur 1,60 Meter groß, es sieht beeindruckend aus, wenn sie vom Zielraum der Weltcupstrecke in Cortina zum Parkplatz hochstapft, die langen Ski auf der einen, die Skischuhe auf der anderen Schulter. Sie ist außer Atem, als sie stehen bleibt. Sie sagt: "Es war heute hässlich zum Fahren." Hässlich? Das will man dann natürlich auch von Maria Riesch wissen, der deutschen Nummer eins - war es wirklich hässlich? "Naja", sagt Riesch, "ich bin ja gar nicht so weit gekommen."

Sie ist ziemlich genau 45 Sekunden lang unterwegs gewesen, dann fiel sie in einer Rechtskurve, die im Streckenprofil "Grande Curva" heißt, auf den Innenski und anschließend gegen den Fangzaun. Der Super-G von Cortina war für Maria Riesch damit vorzeitig zu Ende - wie der Riesenslalom tags zuvor. "Auf den Innenski fällt heutzutage kein Mensch mehr", kritisierte Trainer Mathias Berthold. Riesch war im Riesenslalom am Sonntag schon der gleiche Fehler unterlaufen - und auch der Schwedin Anja Pärson passierte im Super-G am Montag dieses Missgeschick. Der Unterschied: Pärson war mit Bestzeit unterwegs - Riesch lag etwa acht Zehntelsekunden zurück.

"Ihr Selbstvertrauen im Super-G ist nicht gut", stellte Berthold fest. Er war das ganze Wochenende nicht in guter Stimmung; dass die zweite Deutsche, Viktoria Rebensburg, Platz 47 belegte, besserte die Laune auch nicht. Er holte dann auch gleich aus zum Schlag gegen den Weltverband Fis, gegen das System der Startnummernvergabe, das seit voriger Saison besagt, dass die besten sieben Läuferinnen der Disziplinwertung in einem Nummernkorridor von 15 bis 22 gelost werden: Auf Pisten wie in Cortina, wo weicher Schnee von der Sonne gewärmt wird, hätten vordere Startnummern Vorteile. Am Montag standen zehn der ersten 14 Läuferinnen am Ende auch unter den ersten 14 der Ergebnisliste, ganz oben mit der Schwedin Jessica Lindell-Vikarby, der Österreicherin Anna Fenninger und der Schweizerin Andrea Dettling die Startnummern neun, fünf und drei. Als Entschuldigung wollte Berthold das nicht verstanden wissen: "Letztes Jahr, als es gut für uns lief, haben wir ja auch nichts gesagt."

Dieses Jahr aber läuft es anders: Für Maria Riesch begann die Saison zwar ausgezeichnet, seit ihrem Ausscheiden in der Superkombination von Altenmarkt/Zauchensee voriges Wochenende aber ist sie in fünf Rennen dreimal ausgeschieden. Ausgerechnet vor dem Heim-Weltcup in Garmisch und der WM scheint sie ihre Form zu verlieren. "Das will ich mir gar nicht einreden", sagt sie; sie versuche sogar, es positiv zu sehen: "Jetzt habe ich in Garmisch nicht so viel Druck, weil die Erwartungen nicht mehr so hoch sind."

Das stimmt nur zum Teil: Die Erwartungen an die Gesamt-Zweite des Weltcups sind zwar deutlich gedämpfter - die Hoffnung des Umfelds aber bleibt. Hoffnung ist eigentlich was Schönes, aber manchmal kann sie auch einen ganz eigenen Druck erzeugen. Michael Neudecker

Entäuscht: Maria Riesch Foto: dpa

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Mehr oder weniger subtil

Von Christian Zaschke

Bei jedem großen Handball-Turnier geraten früher oder später die Schiedsrichter in den Fokus. Das liegt daran, dass sie mehr noch als in anderen Sportarten die Macht und die Möglichkeit haben, Spiele entscheidend zu beeinflussen. Man kann das subtil erledigen, da es in jeder Partie zehn bis 15 strittige Situationen gibt, in denen die Schiedsrichter so oder so entscheiden können. Foult der Kreisläufer oder der Mittelblocker? Foult der Angreifer oder der Verteidiger? Das Regelwerk ist komplex genug, um die Entscheidung bisweilen schwierig zu machen. Man kann das auch wenig subtil tun: Im Finale der EM 2000 führte Russland gegen Schweden zur Halbzeit mit sechs Toren Vorsprung und wurde anschließend von den Schiedsrichtern so lange benachteiligt, bis Schweden wieder im Spiel war. Was die Schiedsrichter am Sonntag am Ende des Spiels der Deutschen gegen Norwegen veranstalteten, war zumindest äußerst fragwürdig.

Seit dem WM-Sieg 2007, so berichtet Bundestrainer Heiner Brand, hören die Deutschen immer wieder, sie sollten sich nicht beschweren, sie hätten damals Vorteile gehabt, nun hätten eben andere Vorteile. Er glaubt, eine Tendenz gegen die Deutschen auszumachen. Ob das im Detail so ist, sei dahingestellt - tatsächlich aber ist es wichtig, eine gute Lobby beim Weltverband IHF zu haben. Denn dass auch offen betrogen wird, hat sich in der Qualifikation für die Olympischen Spiele 2008 gezeigt, als die Schiedsrichter derart unsubtil gegen die südkoreanischen Männer und Frauen pfiffen, dass die Qualifikation wiederholt werden musste. Für die kurzfristige Ansetzung der betrügenden Schiedsrichter hatte IHF-Präsident Hassan Moustafa persönlich gesorgt.

Die Möglichkeit zur Manipulation ist das eine Problem, die Überforderung vieler Schiedsrichterpaare das andere. Bei dieser WM gingen zwei Portugiesen zu Werke, die von den Spielern ausgelacht wurden, so wenig waren sie auf der Höhe des Spiels. Gerade ein körperlicher, schneller und harter Sport wie Handball braucht aber faire und höchst kompetente Schiedsrichter. Es gibt sie, aber sie sind zu wenige. Viel zu oft sind die Schiedsrichter die Geißel dieser Sportart, sei es aus Unvermögen, sei es aus bösem Willen.

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Goldener Boden im Osten

Die Preise für Äcker und Weiden steigen rasant - nicht nur weil Investoren sichere Anlagemöglichkeiten suchen

Von Steffen Uhlmann

Berlin - Wolfgang Horstmann sieht sich als Krisengewinnler. "Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns nicht geschadet - im Gegenteil, wir profitieren davon", sagt der Geschäftsführer der bundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) nüchtern und liefert die Begründung gleich mit: "In unsicheren Zeiten suchen Investoren nun einmal sichere Anlage- und Verwertungsmöglichkeiten." Agrar- und Forstflächen seien dafür bestens geeignet, glaubt der BVVG-Chef. "Sie werfen vergleichsweise hohe Renditen ab und bieten zugleich Sicherheit für ein langfristiges Investment." Damit allein aber ist das wachsende Kaufinteresse an ehemals volkseigenen Agrarflächen in den neuen Bundesländern nicht zu erklären. Auch die weltweit immens gestiegene Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Pflanzenrohstoffen spielt der für die ostdeutschen Agrar- und Forstflächen zuständigen BVVG in die Hände.

Der Flächenbedarf wächst, das treibt Preise und Pachtzins deutlich nach oben.

"Doch mit solchen Anstiegen konnte keiner rechnen, wir sind für 2008 von gleichbleibenden Preisen ausgegangen", sagt Horstmann. Schließlich hätten sich bereits 2007 Verkaufspreise und Pachtzins enorm erhöht.

Die Korrektur nach oben zahlt sich für den Bund aus. Insgesamt hat die BVVG beim Verkauf von knapp 82 500 Hektar Äckern, Wiesen und Wald in Ostdeutschland einen Überschuss von 366 Millionen Euro erzielt und an die Bundeskasse abgeführt, also 41 Millionen Euro mehr, als die Gesellschaft für 2008 eingeplant hatte. Dabei sind laut Horstmann im vergangenen Jahr 2700 Hektar weniger Fläche verkauft worden als vorgesehen. Das Plus ist damit allein den anziehenden Preisen geschuldet. Allein in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern stiegen sie 2008 um knapp ein Drittel. Im Mittel wurde der Hektar im Osten für über 6300 Euro verkauft; er war damit um 15 Prozent teurer als im Jahr zuvor.

Sogar um 44 Prozent auf 264 Euro pro Hektar und Jahr erhöhte sich der Zins für verpachtete Flächen. Und Horstmann rechnet, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. "Die Nachfrage ist ungebrochen, wir nähern uns bei den Preisen langsam dem westdeutschen Niveau an." Davon ist der Osten aber noch weit entfernt, schließlich werden in den alten Ländern im Durchschnitt Hektarpreise von 16 000 Euro verlangt. Auch das erklärt das wachsende Interesse an der Landnahme Ost, die der BVVG und damit dem Bund Milliardeneinnahmen verspricht. Von den 4,2 Millionen Hektar Land- und Forstfläche, die die BVVG seit ihrer Gründung 1992 vermarktet, hat die Gesellschaft noch eine halbe Million Hektar in ihrem Bestand. Die aber dürften ihr (einschließlich 2008) fast noch einmal so viel Geld in die Kasse spülen wie die bereits veräußerten Flächen.

Milliarden für den Bund

Bisher hat die BVVG etwa 3,7 Milliarden Euro erlöst. Nun geht man davon aus, dass der Restverkauf dem Bund bis 2020 weitere drei Milliarden Euro bringen wird. Zugute kommt ihr dabei, dass Ende dieses Jahres der Verkauf von Agrarflächen nach dem sogenannten Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) endet. Nach dem EALG konnten vor allem ortsansässige Langzeitpächter und Alteigentümer Flächen zu unter dem Verkehrswert liegenden Preisen erwerben. Horstmann rechnet damit, dass dafür 2009 noch etwa 70 000 Hektar benötigt werden. Die übrigen Flächen würden nun ausschließlich nach dem Verkehrswert beziehungsweise nach Gebot veräußert oder verpachtet.

In diesem Jahr will die BVVG mit 431 Millionen Euro einen Rekordüberschuss erwirtschaften. Kritik von Bauernverbänden an einer maßlosen Preisbildung seiner Gesellschaft weist Horstmann zurück: "Die Preise werden nach dem Marktwert und nach den Ausschreibungsergebnissen gebildet."

Auch den Vorwurf, dass angesichts steigender Preise statt regionaler Bieter nur noch internationale Investoren bei der BVVG zum Zuge kommen würden, lässt er so nicht gelten. "Nach unseren Recherchen gehen die Flächen zu weit über 90 Prozent an ortsansässige Bieter." Nicht ausschließen will der BVVG-Chef aber, dass kapitalkräftige Investoren dennoch den Zuschlag bekommen. "Die sparen sich das aufwendige Ausschreibungsverfahren und kaufen gleich den ganzen landwirtschaftlichen Betrieb samt seiner Flächen auf."

Grundstücke in Ostdeutschland Agrarwirtschaft in Ostdeutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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West Ham holt Nsereko

Der englische Fußball-Klub West Ham United hat den deutschen U-19-Nationalspieler Savio Nsereko für elf Millionen Euro Ablöse vom italienischen Zweitligisten Brescia Calcio nach London geholt - soviel hat West Ham nie zuvor für einen Spieler ausgegeben. Nsereko soll den walisischen Nationalspieler Craig Bellamy ersetzen, der vorige Woche zu Manchester City gewechselt war. Bellamy war 2007 für den damaligen Klubrekord von fast elf Millionen Euro vom FC Liverpool gekommen. Der in Uganda geborene Nsereko ging 2005 von 1860 München nach Italien und wurde im vorigen Jahr beim EM-Sieg der deutschen U-19-Auswahl in Tschechien als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet. sid

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Klage gegen Kartellamt

Im Streit um die Zentralvermarktung wird die Deutsche Fußball Liga (DFL) das Bundeskartellamt beim Oberlandesgericht Düsseldorf verklagen. "Wir können nicht zulassen, dass vom Kartellamt eine Rechtsmeinung geäußert wird, die den Profifußball auf Dauer behindert", sagte Ligaverbandspräsident Reinhard Rauball beim DFL-Neujahrsempfang. Das Bundeskartellamt hatte 2008 wegen angeblicher Sponsorenabsprachen zwischen Liga und DFB die Geschäftsräume der beiden Fachorganisationen durchsucht. Anschließend machte die Bonner Behörde massive Auflagen in Bezug auf die Zentralvermarktung, wodurch der TV-Milliardenvertrag mit der Kirch-Tochter Sirius scheiterte. sid

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Hinter dem Rücken des Leistungssports

Die wechselhafte Karriere des verstorbenen 800-Meter-Läufers und früheren Abonnementmeisters René Herms offenbart die Tücken der Spitzenleichtathletik

München - Für Stefanie Herms, die Witwe, für die Familie des verstorbenen Mittelstrecklers René Herms und für die engsten Freunde muss es am Montag auf dem Friedhof von Pirna wieder so gewesen sein, als gäbe es keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Da waren nur Trauer und Schmerz, und die Ratlosigkeit, von welcher der Trauerredner sprach, ehe die Urne mit der Asche des toten Läufers vor 200 Trauergästen beigesetzt wurde. Denn so tief reicht kein wissenschaftlicher Befund, dass man wirklich begreifen könnte, dass ein Mann von 26 Jahren, der vor kurzem noch so vital wirkte, auf einmal nicht mehr da ist.

Aber natürlich gibt es einen Befund: René Herms ist an den Folgen einer "beidseitigen, virusbedingten Herzmuskelentzündung" gestorben, das sagt der Obduktionsbericht, den die Staatsanwaltschaft Dresden am Freitag veröffentlicht hat. Welche Viren genau Herms' Herz so geschädigt haben, dass es am Abend des 9. Januar plötzlich aufhörte zu schlagen, ist demnach Spekulation. Sicher ist wohl immerhin, dass es ein Schicksalsschlag war, zu dem es keinen Schuldigen gibt. Allenfalls kann man sich fragen, ob Spitzenathleten sich nicht routinemäßig noch genaueren Herzuntersuchungen unterziehen sollten, als das Herms beim Institut für Angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig ohnehin schon tat, um möglichen Herzrhythmusstörungen besser auf den Grund gehen zu können. Und unklar ist, ob Herms im Kampf um seine Form nach Krankheiten manchmal nicht doch zu früh wieder ins Training einstieg oder Symptome überging.

Die Tragödie rückt durchaus auch die Tücken des olympischen Leistungssports ins Bewusstsein, was vor allem daran liegt, dass Deutschlands früherer 800-Meter-Dominator René Herms nach zwei schwächeren Jahren mit seinen Finanzen zu kämpfen hatte und Stefanie Herms Schulden hinterlässt. In der Sächsischen Zeitung hat sie dazu ein Interview gegeben und darin die kalte Leistungsgesellschaft beklagt: "Solange René gut gerannt ist, da war er der tolle Sportler. Als er aber in Schwierigkeiten steckte (...), da wurde ihm der Rücken gekehrt." Beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), den bei der Beerdigung am Montag nur Teammanager Siegfried Schonert vertrat, und bei Herms' Ausrüster Asics erregt sie damit natürlich Widerspruch. Und in der Tat ist die ganze Geschichte komplizierter.

2001 wurde René Herms mit 19 zum ersten Mal deutscher Meister bei den Senioren - und danach ging alles wie von allein. Er kam ins Nationalteam, nach dem Abitur 2003 in die Sportfördergruppe der Bundeswehr, und auch die Sportartikelfirma Asics sah in ihm eine gute Investition, sogar "ein Jahrhunderttalent", wie Matthias Kohls sagt, der Sponsoring-Leiter bei Asics. Bis 2006 wurde Herms sechs Mal nacheinander Meister, dazu kamen bis 2007 sechs Hallen-Titel, ohne Probleme qualifizierte er sich für die Saisonhöhepunkte und preschte vor Olympia 2004 in einem Länderkampf zu seiner beachtlichen Bestzeit von 1:44,14 Minuten. Herms verdiente gut damals. Leichtathletik-Profis wie er haben mehrere Einnahme-Quellen: den monatlichen Sold der Sportfördergruppe, Grundgehalt und Leistungsprämien vom Ausrüster, Zahlungen vom Verein, Gagen von Veranstaltern. Das bringt keine Millionen, aber eine Summe, die Wohlstand bedeutet für einen jungen Mann. Und Herms war weder geizig, noch sparsam, noch ein sehr gewiefter Geldanleger.

Dann kam das Tief. 2006 scheiterte er bei der EM in Göteborg in der ersten Runde, es gab Streit mit Trainer Klaus Müller beim LC Asics Pirna über seine Trainingsmoral. Trennung, Trainerwechsel, Vereinswechsel zur LG Braunschweig. Vor allem Letzteres gefiel Klub- und Herms-Sponsor Asics nicht gut. Herms bekam einen anderen Vertrag, weil "der Nutzen für uns nicht mehr der gleiche war wie in Pirna, wo der Firmenname bei seinen Starts mitkommuniziert wurde", sagt Kohls. Im Sommer 2007 wurde er nicht deutscher Meister, verpasste die WM-Qualifikation und verlor seinen Status als Sportsoldat. 2008 wurde er wieder nicht Meister, verpasste Olympia und verlor seinen B-Kader-Status. Es waren keine willkürlichen Härten. Herms lief schlicht langsamer als früher.

Hatten ihm alle den Rücken zugekehrt? Henning von Papen, DLV-Trainer für die Mittelstrecke, kann dazu eine Geschichte erzählen. Herms rief ihn zuletzt aus dem Trainingslager in Kienbaum an, um sich zu beschweren: Der Physiotherapeut im Leistungszentrum verweigere ihm den Dienst, weil er kein Kaderathlet mehr sei. Papen klärte den Physiotherapeuten über Herms auf: "Das ist immer noch ein Hoffnungsträger." Herms bekam seine Behandlung. Und so war es auch sonst: Herms wurde nicht rücksichtslos ins Abseits geschickt. Die Bundeswehr zahlte ihm 2008 noch zweimal 90 Tagessätze für Wehrübungen, als "Entgegenkommen", wie Papen sagt. Asics überwies weniger, aber ließ ihn nicht fallen. "Seit 2001 hat er im Schnitt 20 000 bis 25 000 Euro jährlich verdient", sagt Kohls. Und der Förderverein, der das Laufteam der LG Braunschweig finanziert, ist auch kein sportkapitalistisches Monstrum: Der zweite Vorsitzende Bernhard Bröger klingt väterlich, als er berichtet, wie genügsam Herms 2006 bei den Vertragsverhandlungen war. Auch Bröger klagt etwas über das brutale Sportgeschäft, ehe er stolz von den Erfolgsprämien seines Vereins erzählt, die er "sehr sozial gestaffelt" nennt; Herms bekam als Zweiter der deutschen Meisterschaft 600 Euro.

Aber gut verdiente Herms nicht mehr, er bekam die strengen Gesetzmäßigkeiten des nationalen Leichtathletikbetriebs zu spüren: Wer seine Normalform verliert und nur den Sport hat, kommt leicht in Finanznot. Um das Risiko zu mindern, gibt es im DLV die Idee, Vertragsmodelle für Athleten einzuführen, die Ausbildungsversicherungen umfassen und Möglichkeiten bieten, Rücklagen zu bilden. Aber letztlich müssen die Sportler die Wirklichkeit ihres Gewerbes selbst annehmen. "Man muss klipp und klar sagen", sagt Eike Emrich, der DLV-Vizepräsident Leistungssport, "den Fokus der Aufmerksamkeit müssen Athleten bei aller Bedeutung, die der Sport für sie hat, auf ihre berufliche Perspektive legen. Und redlicherweise muss man das den Athleten auch sagen."

Wolfram Müller, 27, 1500-Meter-Läufer, kennt die Mahnungen. Aber am Anfang, als er die Fachwelt verblüffte, Zweiter der Junioren-WM 2000 wurde, deutscher Meister 2001 usw., da schien der Sport doch genug zu sein zum Leben. "Manchmal geht halt alles sehr schnell. Von viel zu fast gar nichts mehr." Er und Herms haben ähnliche Karrieren gemacht. Beide stammen aus der Pirnaer Trainingsgruppe von Klaus Müller, beide sind Asics-Athleten, beide schieden mal im Streit aus Pirna, beide schlitterten ins Tief. Aber Wolfram Müller sagt nicht, dass ihm jemand den Rücken zugekehrt hätte. Seit zehn Jahren ist ihm Asics treu, auch ohne die Hilfe von Freunden, Familie, Verein hätte er längst aufgeben müssen. Das Leistungsprinzip findet er in Ordnung. Und ja, die Ausbildung geht ihm ab heute: "Ich habe es verpasst." Mittlerweile ist er verheiratet. 2008 war er immerhin Zweiter der deutschen Meisterschaften, und er sagt: "Ich kann froh sein für das, was ich hab'." Nur eines scheint ihn zu beklemmen. Dieser innere Druck nach Verletzungen oder Krankheiten. Klar, sagt Müller, "jeder Sportler ist bestrebt, möglichst schnell sein Training wieder aufzunehmen".

René Herms war zuletzt wieder sein Laufpartner. Herms hatte sein Pensum verschärft. Er hatte überhaupt sein Leben neu organisiert, eine Firma namens Wohntraum Lohmen gegründet, nach dem Aus bei der Bundeswehr ein Wirtschaftsfernstudium aufgenommen. Wolfram Müller sagt, im Trainingslager habe Herms nebenbei gelernt, und auf der Bahn sei er in guter Form gewesen. Auch beim DLV heißt es, der frühere Meister sei auf dem Weg zurück aus der Versenkung gewesen. Die Vorzeichen stimmten. René Herms musste aus seinen Rückschlägen gelernt haben. Thomas Hahn

René Herms? 800-Meter-Läufer, Junioren-Europameister 2001, deutscher Meister 2001 bis 2006, U-23-Europameister 2003, WM-Halbfinalist 2003, 2005, Olympia-Halbfinalist 2004. Foto: ddp

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Herdling zu Hoffenheim

Der Bundesliga-Tabellenführer 1899 Hoffenheim hat vor dem Auftakt der Rückrunde Kai Herdling, 24, verpflichtet. Der Stürmer kehrt vom Regionalligisten Waldhof Mannheim zurück zum Team von Trainer Ralf Rangnick. Der Vertrag soll in Kürze unterschrieben werden. Nach dem Ausfall von Torjäger Vedad Ibisevic soll Herdling eine Alternative in Hoffenheims Offensive sein. Herdling spielte bereits von 2002 bis 2008 bei Hoffenheim. Für Waldhof bestritt er in dieser Saison 14 Spiele und erzielte dabei zehn Tore. sid

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Notruf vom Treppchen

Österreichs Biathleten sind endlich in die Weltspitze vorgestoßen, bangen aber um ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen

Antholz/München - Es war ein furioser Schlussspurt, ein Finale, wie es sich Österreichs Biathlonvermarkter nur wünschen konnten. Erst lief der Frojacher Christoph Sumann als Führender in die letzte Runde, hielt dem Ansturm der Verfolger lange stand, und dann, als er vom Feld der gierigen Deutschen, Russen und Norweger geschluckt worden war, schoss aus dieser Gruppe plötzlich der junge Pillerseetaler Dominik Landertinger hervor. Er bog als Erster auf die Zielgerade, und wäre er am Ende nicht gestrauchelt, wer weiß, vielleicht hätte am Sonntag nicht der junge Deutsche Christoph Stephan seinen ersten Weltcupsieg gefeiert, sondern der junge Österreicher Dominik Landertinger.

Mehrfach kann man das jetzt auslegen. Eine knappe Niederlage für Landertinger war es gewiss, andererseits aber auch ein wichtiger Sieg für die gesamte Biathlonabteilung des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV). Denn außer um Einzelerfolge geht es für Austrias Biathleten zurzeit noch um weit mehr. Im österreichischen Wintersport ist der Streit um die Aufarbeitung des Dopingskandals von Olympia 2006 neu ausgebrochen, und dabei kann der ÖSV jeden Podestplatz gebrauchen, weil dieser die öffentliche Meinung auf seine Seite bringt. Gewinnt er das Ringen mit dem eigenen Nationalen Olympischen Komitee (ÖOC), wartet auf seine Biathleten eine blendende Zukunft. Verliert er, stehen sie vor einer beispiellosen Blamage: Dem ÖSV wäre eine Weltneuheit gelungen - er hätte eine Biathlon-Mannschaft mühsam aufgebaut, die als erste in der Geschichte des Landes zu den Favoriten bei Olympia zählt, dort aber nicht antreten darf.

Im Dezember hatte Österreichs Mannschaft schon ein Staffelrennen gewonnen, in Oberhof siegte Sumann im Massenstart, und Landertinger läuft ohnehin mit Gütesiegel. Der fünfmalige Olympiasieger Ole Einar Björndalen bezeichnete ihn als Ausnahmetalent und potentiellen Nachfolger seiner selbst. Voraussetzung dafür ist aber, dass nicht eintritt, was ÖSV-Präsident Schröcksnadel gerade im Fernsehen befürchtete: "Wir werden unsere Biathleten nicht zu Olympia 2010 nach Vancouver schicken können. Wir dürfen ja keine Betreuer dort haben."

Natürlich soll damit nicht Schröcksnadel als Spaßverderber dastehen, sondern das ÖOC. Nachdem das Internationale Olympische Komitee (IOC) 2006 bereits die Biathleten Rottmann und Perner lebenslang von Olympia verbannt hatte, schloss das ÖOC auch nahezu den gesamten Betreuerstab von allen künftigen Spielen aus. Man hatte in die Trainer Walter Gapp und Alfred Eder, in Abteilungsleiter Markus Gandler und einige Serviceleute kein Vertrauen mehr. Deren Einlassung, von dem Dopingarsenal in der Unterkunft nichts mitgekriegt zu haben, erschien dem ÖOC unglaubwürdig. Zudem war das Team zur Last geworden: Das ÖOC bewarb sich seinerzeit um die Winterspiele 2014.

Gandler will sich "als Betroffener heraushalten”, er sagt nur: "Es muss eine Lösung geben." Seitens des Skiverbandes hat man indes eine sehr konkrete Vorstellung davon: Alle Betreuer, die, so ÖSV-Sprecher Josef Schmid, "unschuldig sind", sollen begnadigt werden. Eine Zwischenlösung, die einen Teil der Verbannten zu Olympia lässt, wird abgelehnt. Man hält zusammen, Schmid sagt: "Eine zweite Garnitur haben wir nicht."

Nicht ganz ohne Zufall dürfte Schröcksnadels Notruf in diese Zeit gefallen sein, im ÖOC wird gerade viel diskutiert. Am 13. Februar trifft sich die Generalversammlung zu Debatten um die Zukunft und für Neuwahlen. Vorab geben sich Österreichs Olympier bedeckt. Eine knappe Presseerklärung im Internet verwies darauf, dass die Olympiamannschaft erst in zwölf Monaten vom ÖOC berufen wird: "Den Fachverbänden obliegt dazu das Vorschlagsrecht für die Betreuer." Bis heute gebe es vom ÖSV aber keine konkrete Anfrage.

Man will also in Ruhe beratschlagen, der Fall enthält schon genügend Brisanz. Denn Schröcksnadels lauter Vorstoß erschwert nun eine stille Begnadigung, eine Lösung ohne Gesichtsverlust. ÖOC-Generalsekretär Heinz Jungwirth hatte vor zwei Jahren noch befürchtet, ganz Österreich könnte von Olympia ausgeschlossen werden. Das ÖOC signalisiert zwar auch Entgegenkommen, es müsste aber über seinen Schatten springen. Personen, denen man unterstellte, sie könnten Verstöße gegen das Antidopinggesetz nicht verhindern, sollen in Erfolgszeiten plötzlich begnadigt werden? Und - wie erklärt man das dem IOC?

Die Fragen dürften Österreichs Skijäger noch eine Weile verfolgen, aber Schmid sagt: "Die wissen das ja schon lange." Nach einer dreitägigen Pause beginnt am Donnerstag die Vorbereitung auf die WM in Südkorea, wo Landertinger, Sumann und die anderen das ÖOC mit weiteren Siegen unter Druck setzen können. Dass die vielleicht entscheidende Sitzung gerade während der WM stattfindet, wird die Biathleten des ÖSV nicht nervös machen, glaubt Gandler: "Da sind wir weit genug weg." Volker Kreisl

Steht für die Zukunft des österreichischen Biathlons: Dominik Landertinger, Zweiter beim Weltcup-Massenstart in Antholz Foto: Reuters

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Hartz-IV-Empfänger arbeiten oft in Teilzeit

Nürnberg - Nur ein geringer Teil der Berufstätigen, die zusätzlich auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, hat eine Vollzeitstelle. Mehr als die Hälfte dieser sogenannten Aufstocker arbeiten weniger als 15 Stunden in der Woche. Eine Vollzeitbeschäftigung scheitere häufig an gesundheitlichen Problemen, mangelnder Berufsausbildung oder fehlender Kinderbetreuung, berichtete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) am Montag in Nürnberg.

Insgesamt beziehen laut Institut rund 1,35 Millionen Erwerbstätige zusätzlich Arbeitslosengeld II. Sie verdienen in Westdeutschland im Schnitt sieben Euro pro Stunde brutto, in Ostdeutschland sechs Euro. Die Mehrheit der ostdeutschen Singles und Alleinerziehenden bekomme sogar weniger als fünf Euro. "Geringe Löhne sind aber nur selten die alleinige Ursache der Bedürftigkeit", berichtete das IAB aus einer Studie, für die mehr als 1000 Aufstocker befragt wurden. Beim überwiegenden Teil der Betroffenen sei die Arbeitszeit entscheidend. So arbeite nur jeder Fünfte mehr als 35 Stunden in der Woche.

Bei alleinerziehenden Frauen ist es nach IAB-Angaben vor allem die fehlende Kinderbetreuung, die eine Ausweitung der Arbeit unmöglich macht. "Das Defizit zeigt sich insbesondere bei der Nachmittagsbetreuung, die für mehr als drei Viertel der Schulkinder nicht gegeben ist", heißt es in der Studie. Bei Singles spielten dagegen vor allem gesundheitliche Einschränkungen eine Rolle; viele hätten eine amtlich anerkannte Behinderung.

Dabei legen die Befragten laut IAB-Studie eine große Arbeitsmotivation an den Tag: Rund 60 Prozent erklärten, sie würden auch dann gerne arbeiten, wenn sie nicht auf den Lohn angewiesen wären. Sie wiesen damit deutlich höhere Werte auf als der Durchschnitt der Erwerbsbevölkerung (40 Prozent).

Die IAB-Autoren folgern, dass vielfältige politische Bemühungen nötig seien, um die Gruppe der Aufstocker stärker am Arbeitsmarkt teilhaben zu lassen. So könne die Arbeitsmarktpolitik durch Qualifizierungsmaßnahmen oder befristete Lohnkostenzuschüsse wichtige Hilfen leisten. Aber auch in der Bildungs-, Gesundheits- und Familienpolitik seien weitere Anstrengungen nötig. dpa

Arbeitslosengeld 2 in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ehrenwerte Leute, ungutes Gefühl

Votum für Erfolg und Gewinn: Die HSV-Mitglieder lehnen bei der Wahl zum Aufsichtsrat die Kandidaten kommerzkritischer Fans ab

Hamburg - Man hatte an alles gedacht vor der größten Mitgliederversammlung in der Geschichte des Hamburger SV. Man hatte genug Erbsensuppe ankarren lassen, einen Security-Service angeheuert und natürlich auch eine Zählmaschine, damit die Auszählung der abgegebenen Stimmen für den neuen Aufsichtsrat nicht bis zum nächsten Tag dauern würde. 4911 Mitglieder waren am Sonntag in den größten Saal des Congress Centrums gepilgert, um die Frage zu beantworten, wer künftig den Vorstand des HSV kontrollieren soll. Ein Aufsichtsrat mit vor allem wirtschaftlicher Kompetenz oder einer, in dem eine Gruppe kommerzkritischer Fans aus der mit bald 50 000 Mitgliedern bestehenden Abteilung "Supporters" das Sagen hat.

Vor allem der Vorstandsvorsitzende Bernd Hoffmann hatte befürchtet, die Macht der Supporters zu spüren. Es gab in seinem Umfeld durchaus Szenarien, nach denen er sich aus dem Amt zurückgezogen hätte, falls der neue Aufsichtsrat ernst machen und die Hoffmann-Politik bremsen würde. Am Schluss aber lächelte der trotz großer Erfolge von etlichen Mitgliedern kritisch gesehene Boss und sagte einen Satz, den auch ein ums Miteinander besorgter Bundespräsident hätte sprechen können: "Die Vertreter der Gremien sollten zusammenfinden, sich die Hände reichen." Das sei "ein ausdrückliches Angebot an die Supporters", mit denen man ja in einem durchaus schmutzigen Wahlkampf gewesen war.

So kann reden, wer souverän gewonnen hat. Alle vier Kandidaten des früheren Aufsichtsratsvorsitzenden Udo Bandow, einem Hoffmann-Freund, kamen durch: Leute aus der Wirtschaft, wie Alexander Otto, Ian Karan, der Handwerkskammerpräsident Peter Becker, dazu der Direktor des Universitätskrankenhauses, Professor Jörg Debatin. Auch die "Alten", Aufsichtsratschef Horst Becker (mit den meisten Stimmen) sowie Ronald Wulff und Bernd Enge ("Früher war der HSV ein Bummelzug mit Holzbänken, jetzt ist er ein ICE mit allem Komfort") sind nach Einschätzung der Opposition "eher vorstandsnah".

Die gern mal gegen den Strom schwimmenden Aufseher, der frühere Präsident Jürgen Hunke, der Partei für die Supporters ergriffen hatte, und der einstige Nationalspieler Willi Schulz, der vor zwei Jahren bei der großen sportlichen Krise den Rücktritt des Sportchefs Dietmar Beiersdorfer gefordert hatte, sind nicht mehr dabei. Für Schulz wurde als Vertreter des Fußballs Sergej Barbarez gewählt. Einer, dem die Mitglieder verziehen, dass er das letzte Angebot des HSV als Profi ablehnte, um noch zwei Jahre für mehr Geld in Leverkusen zu spielen.

"Die Arbeit des Vorstandes wird nun leichter", sagte der alte und neue Aufsichtsratschef Horst Becker. Die Mehrheit war ihm und Peter Krohn, dem bunten Präsidenten der siebziger Jahre, gefolgt. Beide hatten die Vorstandsarbeit von Hoffmann, Beiersdorfer und Katja Kraus gelobt. Becker strich heraus, dass der HSV in den vergangenen vier Jahren zehn Millionen Euro Gewinn gemacht und stets in einem europäischen Wettbewerb gespielt habe. Krohn nahm Bezug auf ein Flugblatt der Oppositionellen mit dem Aufdruck "Change". Der neue US-Präsident Barack Obama, glaubt er, hätte bei der HSV-Führung nicht "Wechsel" gesagt, sondern: "weiter so."

Die Unterlegenen gaben sich kämpferisch. "Thema verfehlt", sagte ein Widersacher Richtung Krohn. "Stromlinienförmig" nannte der gescheiterte Kandidat Manfred Ertel die Zusammensetzung des neuen Gremiums, "alles ehrenwerte Leute, aber ich habe dabei ein ungutes Gefühl". Wie Ertel kritisieren auch andere Supporters vor allem die Preispolitik des HSV gegenüber den Fans und finden, der Vorstand sei zu gut bezahlt. Wie Horst Becker mitteilte, kassieren die vier Führungsleute zusammen 2,51 Millionen Euro im Jahr. Schon bei der letzten Vertragsverlängerung für Hoffmann und Kraus gab es ums Gehalt sogar im Aufsichtsrat heftige Debatten. Hoffmann musste Kürzungen hinnehmen, andernfalls hätte es nicht die nötige Zweidrittel-Mehrheit im Aufsichtsrat gegeben.

Die meisten Mitglieder sind offenbar zufrieden. Sie störten sich auch nicht daran, dass Ian Karan einst den Rechtspopulisten Ronald Schill unterstützte, dass Hoffmann dem Sportchef von Bild Hamburg für mehr als tausend Euro eine Uhr geschenkt hat, weil der seit 30 Jahren über den HSV berichtet. Auch die Abschiedsrede des früheren vierten Vorstandsmitglieds Christian Reichert zeigte, wie viel noch im Argen liegt. "Wir haben es nicht geschafft, den Verein zu einen", sagte Reichert. Aber da waren die meisten Mitglieder schon auf dem Nachhauseweg. Jörg Marwedel

Der Sieger: Bernd Hoffmann Foto: dpa

Hoffmann, Bernd: Karriere Hamburger SV: Aufsichtsrat SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine phantastische Krise

VfB-Stürmer Mario Gomez hat ein schwieriges Jahr hinter sich - aber Stuttgart nimmt Pokal-Gegner Bayern sein Desinteresse nicht ab

München - In zwei Wochen ist wieder Länderspiel, die Norweger kommen zum Test nach Düsseldorf. Wie man die Nationalmannschaft kennt, wird es dann wieder darum gehen, ob (und wie) Torsten Frings spielt und welcher Torhüter das Tor hütet. Und nachdem Norwegen nicht zu den Top-Ten-Nationen gehört, kann man schon mal davon ausgehen, dass Lukas Podolski zwei bis vier Tore schießt.

Es könnte sein, dass Mario Gomez dann wieder sehr tapfer sein muss. Er wird vermutlich irgendwann eingewechselt, für den vierfachen Torschützen vielleicht, und gehen wird es später höchstens darum, ob Gomez aktuell Deutschlands Stürmer Nummer drei ist (hinter Klose/Podolski, vor Helmes), oder ob er auf Platz vier zurückgerutscht ist. Immerhin: Falls er in diesem Spiel zufällig eine gute Chance vergibt, dann weiß er jetzt schon, was die Leute denken, "Die denken dann: Was will der Gomez hier schon wieder", sagt Mario Gomez, "der hat's doch bei der EM erst vergeigt."

Im vergangenen Mai, beim Trainingslager der Nationalelf, saß Mario Gomez in einem Presseraum auf Mallorca und sagte, was ein junger, europaweit umworbener Stürmer laut Branchenknigge so sagen muss. Er sagte, dass er sich über die guten Kritiken freue; dass er aber wisse, dass irgendwann andere Zeiten kämen. Heute sagt Mario Gomez: "Dass die anderen Zeiten so schnell kommen, habe ich aber auch nicht erwartet." Die Wucht des Fußballbetriebs hat ihn seitdem voll erwischt: Im EM-Spiel gegen Österreich unterlief ihm jene Slapstick-Szene, die bis heute in jeder gut sortierten Kuriositätensammlung zu finden ist. Statt den Ball über die Linie zu drücken, schickte er ihn steil nach oben, und man brauchte schon die zweite Zeitlupe, um jenes hinterlistige Komplott zu enttarnen, auf das Österreich vermutlich bis heute stolz ist. Höhnisch titschte der Ball auf einen liebevoll aufgeschütteten Grashügel und von dort an Gomez' Schienbein - und von da flog der Ball direkt weiter in die Erinnerung der Menschen, wo er bis heute liegt.

Wenn Gomez nun mit dem VfB Stuttgart im Pokal gegen den FC Bayern in die Rückrunde startet, dann kämpft er immer noch gegen diesen einen gemeinen Ball. Sieben Ligatore hat Gomez in der Vorrunde erzielt, das ist nicht schlecht, und im Uefa-Cup traf er in sechs Spielen fünfmal, das ist sogar ziemlich gut. Aber wenn er vorbeischießt, heißt es in der Öffentlichkeit entweder: Dem spukt die EM noch im Kopf herum! Oder: Hat ihm das Angebot des FC Bayern doch den Kopf verdreht! "Ich merke, dass selbst die Leistungen im Verein immer noch mit der EM in Verbindung gebracht werden", sagt Gomez. "Ich möchte endlich wieder danach beurteilt werden, was ich aktuell leiste."

Mario Gomez hat beschlossen, dass er keine Lust mehr hat, sich zu rechtfertigen. In der Nationalelf darf man ihm ruhig eine Krise unterstellen, "elf Spiele ohne Tor", sagt er, "das ist ja wirklich unbefriedigend." Aber wenn das, was er beim VfB Stuttgart gerade spielt, eine Krise sein soll, dann würden viele Stürmer ein Monatsgehalt (inkl. Prämien) opfern, wenn sie endlich auch mal so eine phantastische Krise haben dürften. Wenn Mario Gomez eine Krise hat, dann ächzt und knirscht sein Spiel ein bisschen, es sieht nicht mehr ganz so rund und selbstverständlich aus. Aber in der 83. Minute schießt er dann immer noch das 1:0.

Mario Gomez war jetzt auf den Malediven im Winterurlaub, er fühlt sich bestens erholt von jenem Jahr 2008, "das vor allem im Kopf sehr lang war", wie er sagt. Für Fußballer voller Tatendrang gibt es keinen günstigeren Gegner als die Bayern, aber im Fall Gomez kann man sich da nicht so sicher sein. Der Arme weiß ja, dass ihm schon wieder jeder Schuss, jedes Tor und erst recht jedes Wort falsch ausgelegt werden kann. Im Sommer warben die Bayern massiv um ihn, und dass sie nun die Finanzkrise nutzen, um ihre Liebe für abgekühlt zu erklären, nimmt ihnen die Branche nicht recht ab. Beim VfB tendieren sie dazu, das bayerische Desinteresse für eine Kriegslist zu halten, die den Preis drücken soll. "Brutal aus dem Fenster gelehnt" hätten sich die Münchner, sagt einer aus der Beraterszene; die Bayern hätten dem Spieler so klar signalisiert, dass sie ihn wollen, dass sie den Transfer nicht einfach stornieren könnten, ohne den Spieler ernsthaft zu vergrätzen - und womöglich auf Dauer zu verlieren.

"Recht entspannt" sei er in dieser Sache, sagt VfB-Manager Horst Heldt. Auf sein Konto geht ja die Vertragsklausel, wonach Gomez nur gegen eine Gebühr von etwa 30 Millionen vorzeitig die Stadt verlassen darf - aber nur ins Ausland. Für einen Freistaat gilt die Klausel nicht, ebensowenig für die Großregion Rhein-Neckar. In Stuttgart rechnen sie damit, dass auch die TSG Hoffenheim im Sommer ein Angebot für Gomez unterbreiten wird, aber das ist nicht das Angebot, das sie fürchten. Heldt weiß leider sehr genau, dass internationale Topklubs diesen einen gemeinen Ball gegen Österreich nicht zum Anlass nehmen, um über einen Spieler zu richten. "Die großen Klubs machen ihre Planungen nicht von einer EM abhängig", sagt Heldt, "sie beobachten Mario schon lange und wissen, dass es nicht viele 23-jährige Stürmer mit solchen Anlagen gibt."

"Im Moment gibt es keinen Grund zu sagen: Ich muss sofort weg", sagt Mario Gomez, aber in Stuttgart ahnen sie, dass sich nicht alle Bewerber so einfach abschütteln lassen wie jener, der am 30. August 2008 vorstellig wurde. Zwei Tage vor Ende der Transferfrist war Manchester Citys Scheich Sulaihman al Fahim eingefallen, dass er seinem neuen Klub zum Einstand einen schicken Stürmer schenken könnte. Die VfB-Vertragsklausel sei ihm egal, ließ er über einen Unterhändler mitteilen und ein angeblich 40 Millionen schweres Angebot platzieren. Aber Gomez war nicht interessiert, und als der Unterhändler beim VfB um einen Termin bat, hatte Horst Heldt leider keine Zeit. Christof Kneer

Das sind die Daten, die Europa interessieren: Mario Gomez (hier im Duell mit Bayern-Verteidiger Martin Demichelis), Stürmer, 23 Jahre alt, 105 Bundesligaspiele, 46 Tore. Auch der FC Bayern ist schon seit einiger Zeit am Angreifer des VfB Stuttgart interessiert, hat zuletzt aber - offiziell - Abstand genommen von einer Verpflichtung im kommenden Sommer. "Solche Summen, wie sie in seiner Vertragsklausel stehen, sind der Öffentlichkeit im Moment nicht vermittelbar", sagt Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge. Beim VfB Stuttgart rechnen sie trotzdem mit einem Angebot. Foto: ddp

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Kreditklemme trotz Milliardenhilfen

Berlin - Trotz der Milliardenhilfen für Banken hält die Kreditknappheit in der europäischen Wirtschaft bisher unvermindert an. Die meisten EU-Mitgliedsländer klagten noch immer über Engpässe bei der Kreditversorgung, hieß es am Montag in einer Reuters vorliegenden Analyse der EU-Kommission. Trotzdem sieht sie eine zweite Rettungswelle skeptisch, die sich etwa in Frankreich abzeichnet. Auch in den USA wachsen die Sorgen, dass die Stabilisierung der Finanzbranche teurer wird.

Die EU-Kommission und die Finanzminister der Euro-Zone hatten bereits vergangene Woche an die Banken appelliert, ihre Zurückhaltung bei der Kreditvergabe aufzugeben. Eine Sprecherin der Kommission nannte es allerdings voreilig zu behaupten, die Bankenrettungspläne seien gescheitert. Für belastbare Schlussfolgerungen lägen bisher keine ausreichenden Daten vor, heißt es in der vertraulichen Analyse, die den Finanzministern bei ihrem jüngsten Treffen vor einer Woche in Brüssel vorlag.

Die Bewertung der EU-Kommission fußt auf einer Befragung der Mitgliedsländer. Demnach herrscht die Einschätzung vor, dass sich der Zugang der Güterwirtschaft zu Darlehen stark verschlechtert hat. Dass Statistiken wie die der Europäischen Zentralbank dies bisher nicht nachweisen, erklärt die Kommission unter anderem mit Zeitverzögerungen bei der Datenerhebung. Verbesserungen habe es allerdings auf dem Interbankenmarkt gegeben, heißt es in dem Papier weiter. Reuters

Bank- und Kreditwesen in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schwerer Start für FC Bayern

Keine Scherze erlaubt

München - Im Sommer ruckelte und holperte der FC Bayern durch die Vorbereitung, so verlief auch der Saisonstart. Diesmal gibt es keine Unwetterwarnung. Von Abu Dhabi über Bamberg bis Kaiserslautern und Mainz siegten die Münchner gegen alle Sparringspartner, Trainer Jürgen Klinsmann sieht sein Team "auf einem ganz anderen Leistungsniveau als im August, jetzt ist Leben drin." Die einzigen Ruhestörungen kamen zuletzt von der Transferbörse, so meldet auch Manager Uli Hoeneß, man sei "nach menschlichem Ermessen optimal vorbereitet". Subtext: Dies wäre leider wertlos, wenn am Dienstag der Ernstfall misslänge: die schwere Pokalprüfung beim VfB Stuttgart.

2009 beginnt für den FC Bayern, wie 2008 aufhörte, auf Spitzenspiel folgt Spitzenspiel folgt Spitzenspiel. In der Bundesliga: Hamburg (Freitag), Dortmund, Hertha. Und als Pokalpräludium: Stuttgart, wie im letzten Ligaspiel vor Weihnachten (2:2). Diesmal dringt ein Sieger ins Viertelfinale vor: "Mit K.o.-Spielen ist nicht zu scherzen", warnt Klinsmann. Bei einem Ausscheiden wäre sein erster Titel hinfällig, und an Titeln wird er gemessen.

"Ernten, nachlegen, nur nicht nachlassen", lautet der klare Arbeitsauftrag von Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, anknüpfend an das Hoch im Spätherbst, seit dem die Bosse ihren Trainer loben. Uli Hoeneß berichtete zuletzt von regem Meinungaustausch beim Mittags-Espresso - mit einem keineswegs "sturen" Klinsmann. Verteidiger Philipp Lahm pries das "schnellere Angriffsspiel" dieser Saison, forderte jedoch, die Abläufe "in der Defensive zu verfeinern". Personell punktete Klinsmann betriebsintern durch Rückbesinnung auf Bewährtes. Den Verzicht auf weiterführende Wagnisse mit jungen Reservisten bezeichnet er inzwischen als "Stilwechsel" seines ersten Halbjahrs.

Auch beim VfB Stuttgart, dessen Stürmer Cacau (Nierenkolik) fehlt, plant Klinsmann nichts Verrücktes. Verteidiger Daniel van Buyten, der um Einlass in die Stammelf kämpft, fällt mit Darminfekt aus. Leihangreifer Landon Donovan zeigte sich in der Vorbereitung agil und torgefährlich, er hat Lukas Podolski (Rehatraining) als Stürmer drei verdrängt. Rekonvaleszent Altintop ist eine neue Variante für die rechte Seite, vorerst aber hat wohl die Vorweihnachtself einen Bonus.

Für den Sommer hat Bayern nach dem Crash des globalen Casinokapitalismus bisher zwei gebührenfreie Transfers verabredet. Doch Lahm forderte am Montag, neben Stürmer Olic (HSV) und Talent Baumjohann (Gladbach) weitere "Leute mit Weltklasseformat zu holen", um den Abstand zu Europas Spitze zu verringern. "National", ist Lahm überzeugt, sei Platz eins die angemessene Heimat, "da können wir uns nur selbst im Weg stehen". mok

FC Bayern München FC Bayern München Abt. Fußball: Strategie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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30 Tore in Italien

Schock für Nostalgiker

Spieltage wie dieser beweisen natürlich gar nichts. Außer, dass in Krisenzeiten die Röcke kürzer werden und die Welt ein wenig bunter, manchmal auch der Fußball, sogar in Italien. 30 Tore in zehn Begegnungen, einfach so, ein Schlag ins Gesicht ausländischer Catenaccio-Nostalgiker. Die Serie A, nicht mehr reich, aber sexy, so viele Tore für so wenig Geld. Die Rechnung: je weniger Geld desto mehr Tore geht leider noch nicht auf. Nicht ganz.

Zwar schafften die Goldjungen von Juventus Turin und Inter Mailand nur jeweils ein Tor, während der arme Süden in Form von Palermo, Cagliari, Lecce traf und traf. Wie im Akkord! Andererseits überrannte der AS Rom den SSC Neapel mit drei Toren zu null - für Napoli die schwerste Heimniederlage seit Menschengedenken. Auch Schulden (AS Rom 130 Millionen Euro Steuern) schießen Tore, der AC Mailand ist dafür ebenfalls ein gutes Beispiel mit seinem 4:1 gegen Bologna.

Vielleicht lag es auch daran, dass Ronaldinho auf der Bank sitzen blieb und diesmal keinen Schaden anrichten konnte. Es traf also der Neinsager Kakà, es traf sogar Beckham, der nach drei Liga-Einsätzen für Milan treuherzig erzählt: "Der AC Mailand ist mein Zuhause." Home, sweet home! Und schöne Grüße nach Los Angeles. Beckhams Leiharbeitervertrag mit Milan läuft ja Anfang März aus, aber er will wohl nicht zurück. Geld ist eben nicht alles im Leben.

Nur in Italien gibt es so lustige Trainer wie José Mourinho, der dem Schiedsrichter einreden wollte: "Du hast doch Angst!" Der Spielleiter zeigte Mut und dem Mourinho Rot. Nur in Italien gibt es so lustige Trainer wie Delio Rossi von Lazio Rom, der sich nach einem Totalausfall seiner Mannschaft den Seufzer entlocken ließ: "Ich kann nun mal nicht elf Mann auswechseln." Rossi ist im Nebenberuf Existenzialist. Er meinte eigentlich: Wieso müssen in einem Land, wo die Gesetze biegsam sind wie Weidenruten, ausgerechnet die Fußballregeln so hart und starr bleiben wie Marmor aus Carrara?

So verlor Lazio zu Hause mit nur drei Auswechslungen 1:4 gegen Cagliari, hinter dem Ergebnis verbergen sich: zwei verschossene Elfmeter von Lazio sowie eine rote Karte für einen Lazio-Ersatzmann, der wegen Protestgeheuls der Bank verwiesen wurde. Da fragt man sich natürlich, wo Trainer Delio Rossi elf neue Männer hernehmen würde, wenn seine Reservespieler sich schon rauskicken. Ein ganz normaler Spieltag mit 30 Toren. Wenn das die Krise ist, könnte es noch eine Weile so bleiben. Birgit Schönau

Fußball in Italien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Muskelmann und dunkle Pferde

Favorit Andy Murray scheitert in Melbourne an Fernando Verdasco - die Australian Open sind erneut ein Turnier für Außenseiter

Melbourne - Zum Abschied hob Andy Murray müde die Hand und zeigte den Zuschauern in der Arena noch einmal die Akkreditierung, die er acht Tage lang stolz durch den Melbourne Park getragen hatte. Nach zwei Siegen gegen Roger Federer und dem Triumph beim Turnier in Doha war der Schotte bei den Australian Open als einer der Favoriten gehandelt worden. Nachdem er im vergangenen Jahr in Wimbledon das Viertelfinale erreicht hatte und bei den US Open das Finale, hatte der 21-Jährige in der Winterpause in Miami hart an sich gearbeitet. Schwimmen, sprinten, Fußball spielen, Hochsprung, Weitsprung, Yoga. Das Programm war umfassend. 24 Klimmzüge schafft der Schlacks inzwischen. Sein Ziel: 50. Vier Kilogramm Muskelmasse hat Murray seit Dezember zugelegt. Trainer, Krafttrainer, Konditionstrainer, Physiotherapeut, Berater - "seine Entourage ist größer als die der meisten US-Rapper", spottete die Zeitung Herald Sun - und ließ es sich dann doch nicht nehmen, Murray oben ohne in Bodybuilder-Pose auf seine Titelseite zu nehmen. Weil das wichtigste Turnier des Jahres immer noch in Großbritannien gespielt wird und die Briten seit sehr langer Zeit schon keinen großen Champion mehr hervorgebracht haben, war es ein ziemlicher Hype. Der endete am Montag.

Gestoppt hat ihn ein recht unauffälliger Spanier, der seit sieben Jahren mit der Tennistour um die Welt zieht, derzeit ganz ohne Trainer: Fernando Verdasco. Der 25-Jährige stand Murray im Achtelfinale drei Stunden und zwölf Minuten lang gegenüber und weigerte sich schlicht zu verlieren. Jeden Ball brachte Verdasco zurück, fünf Sätze lang. Als die Sonne langsam unterging, hieß es 2:6, 6:1, 1:6, 6:3, 6:4 für ihn. Murray schlich enttäuscht davon und konnte nur versprechen: "Ich werde an mir arbeiten und noch stärker zurückkommen." Für die Tennistour wäre das gut. In diesem Herbst steigt das Masters zum Saison- ende in London.

Verdasco hat im Winter ebenfalls hart an seiner Fitness gearbeitet. Zwei Wochen lang trainierte er in Las Vegas mit Gil Reyes, der einst Andre Agassi anleitete. Auch am 24. Dezember schuftete Verdasco im Kraftraum, als Agassi auf einen Plausch vorbeischaute, bevor er mit seiner Familie zum Skiurlaub aufbrach. "Ich fahre auch gerne Ski. Da war ich schon ein wenig neidisch", gab Verdasco in Melbourne zu. Der Erfolg gegen Murray entschädigte ihn für den Verzicht. "Das ist mein bisher größter Sieg", sagt Verdasco, der zwei Turniertitel in seiner Vita stehen hat: 2004 bekam er in Valencia die Siegertrophäe überreicht, 2008 in Umag. Mehr Aufsehen als seine Sandplatzerfolge erregte er allerdings, als er sich im vergangenen Jahr für die Cosmopolitan auszog, um Aufmerksamkeit auf eine Krebs-Vorsorge-Kampagne zu lenken. Ein Grand-Slam-Viertelfinale hat Verdasco noch nie erreicht. In Melbourne trifft er nun in der Runde der besten Acht auf Jo-Wilfried Tsonga.

Bei der ersten Grand-Slam-Veranstaltung des Jahres gibt es eine Tradition: Ungewöhnlich oft bringen es dort Außenseiter weit. Im vergangenen Jahr stürmte der Franzose Tsonga als Ungesetzter ins Finale, 2007 stand Roger Federer dort dem Chilenen Fernando Gonzalez gegenüber. 2006 lernte die Welt bei der gleichen Gelegenheit Marcos Baghdatis aus Limassol auf Zypern kennen. 2003 durfte im wichtigsten Match des Turniers überraschend Rainer Schüttler gegen Andre Agassi antreten, im Jahr zuvor war dem Schweden Thomas Johansson sein einziger Grand-Slam-Coup geglückt. Rafael Nadal, der es bei den Australian Open nie über das Halbfinale hinausbrachte, hat eine simple Erklärung. "Weil es noch früh in der Saison ist, sind noch nicht alle hundertprozentig fit. Deshalb haben mehr Spieler Siegchancen", glaubt der Weltranglisten-Erste.

"Dark horse" nennen die Australier Außenseiter, die sich unerwartet in Szene setzen - dunkle Pferde. Der Ausdruck stammt von Wetten auf Pferderennen. Unbekannte Galopper, auf die kaum einer gesetzt hatte, wurden so genannt. Fernando Verdasco hat gute Chancen, das dunkle Pferd 2009 zu werden. Bevor er im Achtelfinale Andy Murray gegenübertrat, hatte er den Tschechen Radek Stepanek, den Franzosen Arnaud Clément und dessen Landsmann Adrian Mannarino bezwungen und dabei gerade einmal zwölf Spiele abgegeben. So überzeugend ist noch nie einer in die vierte Runde marschiert. "Jetzt möchte ich das Turnier nur noch genießen", sagt Verdasco. Was er anschließend vorhat, weiß er schon: Es geht wieder für zwei Wochen nach Las Vegas, zu Gil Reyes in den Kraftraum.

Verdasco ist die größte Überraschung der ersten Turnierwoche bei den Männern, aber nicht die einzige. Das zweite dunkle Pferd kommt aus Nizza: Auch Gilles Simon hat nach 13 Anläufen zum ersten Mal ein Grand-Slam-Viertelfinale erreicht. Am Mittwoch darf er sich gegen Rafael Nadal versuchen. Der 24 Jahre alte Simon hat den Spanier Pablo Andujar aus dem Turnier geworfen, den Australier Chris Guccione und den Kroaten Mario Ancic. Obwohl er das Jahr 2008 als Weltranglisten-Siebter beendete, zog er als Außenseiter ins Achtelfinale gegen Gaël Monfils. Der 22-Jährige gilt als Wunderknabe - ein Ruf, den er 2008 untermauerte, als er bei den French Open ins Halbfinale vorstieß. Wie Murray hat Monfils sich in der Winterpause beeindruckend viele neue Muskeln zugelegt. Wie Murray musste er deren Demonstration in Melbourne am Montag jedoch früher als geplant beenden: Im dritten Satz gegen Simon verletzte er sich am Handgelenk und gab auf. René Hofmann

"Ich werde noch stärker zurückkommen": Andy Murray, besiegt in Melbourne Foto: Reuters

Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mit Bomben gegen Bohrlöcher

In Kanada attackierten Unbekannte bereits zum vierten Mal eine Erdgaspipeline - aus Protest gegen die Energiekonzerne

Von Bernadette Calonego

Vancouver - Unter den Feldern beim kleinen Dorf Tomslake im Nordosten der Provinz British Columbia findet sich ein Teil des größten Erdgasvorkommens in Nordamerika. Hier, wo die umliegenden Hügel langsam zu den kanadischen Rocky Mountains hochsteigen, überziehen Pipelines und Bohrstellen die Landschaft wie ein dichtes Gitter, sie haben zunehmend Kühe und Silos verdrängt.

Nicht allen gefällt die massive Expansion. Zuerst gab es Proteste, dann folgte Gewalt: Seit Oktober 2008 haben unbekannte Täter schon viermal Sprengstoffattentate auf Gaspipelines und andere Einrichtungen verübt, das letzte am 4. Januar. Die Bomben galten alle dem Konzern Encana, Kanadas größtem Erdgasproduzenten. Niemand wurde dabei verletzt. Encana bietet eine Belohnung von über 300 000 Euro für Hinweise auf die Täter. Kurz vor dem ersten Anschlag hatten Zeitungen in der Gegend der Kleinstadt Dawson Creek, rund 590 Kilometer von Edmonton entfernt, einen anonymen handschriftlichen Brief erhalten: Encana wurde ultimativ aufgefordert, jegliche Gasförderung im Nordosten von British Columbia (B.C.) einzustellen.

Die kanadische Polizei RCMP veröffentlichte Bilder der Überwachungskamera der Poststelle, wo die Briefe aufgegeben wurden, aber niemand wurde überführt. Die Explosionen würden "immer gewalttätiger", sagte ein Polizeisprecher. Die Delikte werden von der Anti-Terroreinheit der RCMP untersucht.

Im vergangenen Sommer hatten Indianer der Gegend ihre Dorfstraße aus Protest gegen den zunehmenden Verkehr der Gasindustrie blockiert. Sie fühlten sich nicht sicher. Eine neue Erdgasanlage von Encana befindet sich nur vier Kilometer nördlich ihres Dorfes Kelly Lake. "Es gibt überall Straßen und Bohrlöcher auf unserem traditionellen Territorium", sagt Häuptling Cliff Calliou: "Gasschächte befinden sich auch in der Nähe von Häusern." Wo die Indianer während Generationen der Jagd nachgingen, gehen nun Pipelines durch. "Meine Leute haben Angst", sagt Calliou, "wenn es ein Leck gibt, sind sie nicht geschützt."

Andere Bürger, die um die Ölfelder leben, klagten gegenüber Reportern über Kopfschmerzen, Schwefelgeruch im Wasser und darüber, dass man sie nicht anhört. Laut Gesetz dürfen derzeit in B.C. Pipelines in 80 bis 100 Metern Entfernung an Häusern vorbeiführen. Oft enthält Erdgas Schwefelwasserstoff, der in hoher Konzentration tödlich wirkt. Wegen der Attentate sorgt sich auch Encana um die Angestellten und die Menschen in den Gemeinden, sagt Sprecher Alan Boras. Die 47 000 Öl- und Gasanlagen des Konzerns in Nordamerika seien aber sicher. "Wenn Landbesitzer Anliegen haben, dann arbeiten wir immer daran, eine Lösung zu finden", sagt Boras.

Kanadas Gasexporte sind exklusiv für die USA bestimmt. Die Regierung der Provinz British Columbia macht es für Firmen leicht, Erdgas zu fördern. In B.C. gehört zwar die Oberfläche des Bodens dem Eigentümer, aber der Untergrund nicht. Bergbauunternehmen können mit minimalem Aufwand von der Regierung das Recht erwerben, fast überall auf Privatgrund Bodenschätze auszubeuten.

Die Provinz nimmt heute durch Abgaben der Erdgasindustrie jährlich 1,3 Milliarden Euro ein. Die Öl- und Gasein-nahmen haben seit 2001 um fast 60 Prozent zugenommen. Encana will im Nordosten von B.C. eine neue Gasanlage bauen und dort künftig täglich so viel Gas fördern, wie fünf Millionen Häuser in einem Jahr verheizen.

Mauer des Schweigens

Aber nicht nur in B.C. regt sich gewalttätiger Widerstand: Am 12. Januar brannten Unbekannte in der Provinz Alberta das Haus eines früheren Spitzenmanagers des Energiekonzerns Syncrude mit mehreren Brandbomben nieder. Syncrude ist einer der großen Produzenten von Ölsanden in Alberta. Zurzeit des Anschlags befanden sich keine Menschen im Haus. Diese Ereignisse wecken Erinnerungen an Anschläge in den neunziger Jahren, mit denen der Landwirt Wiebo Ludwig die Gas- und Ölindustrie in Alberta bekämpfte. Ludwig musste dafür einige Jahre ins Gefängnis, wird aber von der Polizei in der jüngsten Serie in B.C. nicht verdächtigt. "Wir müssen den Verrückten finden", sagte Energieminister Richard Neufeld. Bislang stoßen die Behörden von B.C. aber auf eine Mauer des Schweigens.

Die Regierung der Provinz British Columbia (B.C.) macht es Firmen leicht, Erdgas zu fördern. In B.C. gehört zwar die Oberfläche des Bodens dem Eigentümer, aber nicht der Untergrund. Bergbau-Firmen können mit minimalem Aufwand von der Regierung das Recht erwerben, fast überall Bodenschätze auszubeuten (hier Arbeiten in der Nähe von Calgary). Foto: Reuters

Erdölindustrie in Kanada Pipelines Kriminalität in Kanada SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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US-Unternehmen sehen schwarz

Washington - Das Geschäftsklima in der rezessionsgeplagten US-Wirtschaft ist einer Umfrage zufolge auf das niedrigste Niveau seit 27 Jahren gesunken. Fast die Hälfte der 105 befragten Mitglieder berichteten über eine rückläufige Nachfrage nach Dienstleistungen und Gütern in ihrer Branche oder Firma, wie aus einer am Montag veröffentlichten Studie des Ökonomen-Verbandes National Association for Business Economics (Nabe) hervorgeht. Eine derart negative Einschätzung der Lage hat es seit Beginn der Befragung 1982 noch nicht gegeben.

Die wirtschaftliche Talfahrt hat sich demnach im Schlussquartal 2008 beschleunigt. Wegen der Nachfrageflaute und der Kreditklemme strichen viele Firmen ihre Investitionspläne zusammen und bauten Stellen ab. Rund 40 Prozent der zwischen Mitte Dezember und Anfang Januar befragten Experten gaben an, ihre Firma werde in den kommenden sechs Monaten Stellen streichen. Der Jobabbau werde neben der Güter produzierenden Wirtschaft auch den Finanzsektor treffen.

Auch die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven für 2009 sehen die Experten düster: Mehr als die Hälfte der befragten Fachleute erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA um mehr als ein Prozent schrumpfen wird. Die USA stecken seit Dezember 2007 in der Rezession. Allein in den vergangenen vier Monaten sind nach Regierungsdaten 1,9 Millionen Jobs der Konjunkturflaute zum Opfer gefallen. Reuters

Wirtschaftslage in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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HOME DEPOT

7000 Jobs gestrichen

Atlanta - Der weltweit größte Baumarkt-Betreiber Home Depot streicht angesichts eines Nachfragerückgangs in der Wirtschaftskrise 7000 Arbeitsplätze. Das entspreche etwa zwei Prozent der Belegschaft, betonte der US-Konzern. Der Großteil der Stellen - etwa 5000 Jobs - fällt weg, weil Home Depot mehr als 40 Standorte schließt. Der Rest soll im Verwaltungsbereich gestrichen werden. Home Depot leidet bereits seit Monaten unter dem Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes. Mit Beginn der Rezession hat sich die Lage zum Jahresende 2008 noch verschärft. dpa

Home Depot Inc.: Personalabbau SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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SPRINT NEXTEL

8000 Stellen weniger

New York - Der drittgrößte US-Mobilfunkanbieter Sprint Nextel will bis zu 8000 Stellen streichen. Das entspricht etwa 14 Prozent der Belegschaft. Von dem Abbau seien alle Bereiche und Standorte betroffen, so der Konzern. Sprint will damit jährlich etwa 1,2 Milliarden Dollar einsparen. Im ersten Quartal würden durch die Maßnahmen zunächst Belastungen von 300 Millionen Dollar entstehen. Vergangenen Monat hatte der US-Telekommunikationskonzern AT&T mit der Streichung von 12 000 Jobs auf den Abschwung reagiert, was vier Prozent seiner Belegschaft entsprach. Reuters

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REPOWER

Deutlich gewachsen

Hannover - Der drittgrößte deutsche Windkraftanlagenbauer Repower trotzt der Flaute. In den ersten neun Monaten 2008/09 habe das Unternehmen seinen Gewinn um gut ein Drittel auf 38 Millionen Euro gesteigert, so Repower. Der Umsatz legte den vorläufigen Zahlen zufolge von April bis Dezember um 46 Prozent auf 851 Millionen Euro zu. Damit lag das Plus deutlich über der für das Gesamtjahr veranschlagten Spanne von 30 bis 35 Prozent. In den Büchern standen Ende Dezember Kaufverträge über 708 Windenergieanlagen mit einer Gesamtleistung von 1500 Megawatt. Reuters

REpower Systems AG: Gewinn SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DOW CHEMICAL

Fusion verschoben

Philadelphia - Der US-Chemiekonzern Dow Chemical hat die geplante milliardenschwere Übernahme seines Konkurrenten Rohm & Haas kurzfristig auf unbestimmte Zeit verschoben. Ursprünglich sollte die Transaktion an diesem Dienstag abgeschlossen werden, wie der Konzern am Montag mitteilte. Als Gründe gab das Unternehmen die Wirtschaftskrise sowie das Platzen einer milliardenschweren Finanzspritze aus Kuwait an. Das Unternehmen betonte, weiterhin an Rohm & Haas interessiert zu sein. Die Kartellbehörden hatten der Übernahme für gut 15 Milliarden Dollar bereits zugestimmt. dpa

Dow Chemical Co.: Firmenübernahme SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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MCDONALD'S

Gewinn gesunken

New York - Die weltweit größte Schnellrestaurantkette McDonald's hat im vierten Quartal trotz eines Gewinnrückgangs die Markterwartungen übertroffen. Der Nettogewinn fiel auf 985,3 Millionen Dollar von zuvor 1,27 Milliarden Dollar, wie die Fastfoodkette mitteilte. Dies bedeutete umgerechnet auf die Aktie ein Ergebnis von 0,87 Dollar. Im Vorjahr waren McDonald's allerdings deutliche Steuervorteile zu Gute gekommen. Der Umsatz verringerte sich auf 5,57 Milliarden Dollar von 5,75 Milliarden Dollar. 2009 will der Konzern 1000 neue Restaurants eröffnen. Reuters

McDonald's Restaurant Operations Inc.: Gewinn SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Immer auf der Pirsch

Hobbyjäger Koerfer ist ein Vertrauter von Maria-Elisabeth Schaeffler

Von Uwe Ritzer

In seiner Freizeit streift Hobbyjäger Hans Rolf Koerfer am liebsten durch sein Revier in der Nähe von Gummersbach. Beruflich bewegt er sich demnächst auf vermintem Gelände. Als designierter Aufsichtsratsvorsitzender der Continental AG und damit Nachfolger des aus dem Amt gedrängten Hubertus von Grünberg, 66, soll er für eine möglichst schnelle und reibungslose Zusammenarbeit mit dem neuen Conti-Großaktionär Schaeffler sorgen. Und gleichzeitig die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten beenden. Damit folgt Koerfer, 51, dem persönlichen Ruf von Maria-Elisabeth Schaeffler. Die Unternehmerin, der gerade noch selbst Ambitionen auf den Aufsichtsratsvorsitz nachgesagt wurden, will sich wie Sohn Georg und Schaeffler-Geschäftsführer J rgen Geißinger, 49, mit einem einfachen Aufsichtsratsmandat begnügen.

Was nichts daran ändert, dass der in der breiten Öffentlichkeit bislang weitgehend unbekannte Koerfer ein enger Vertrauter von Maria-Elisabeth Schaeffler ist. Die fränkische Milliardärin und der Partner der Kanzlei Allen & Overy in Düsseldorf kennen sich lange. Als Schaeffler 2001 im Handstrich und nach ähnlichen Auseinandersetzungen die Schweinfurter FAG Kugelfischer schluckte, übernahm Koerfer auch dort den Aufsichtsratsvorsitz. In Sachen Conti war der auf Fusionen und Übernahmen sowie Restrukturierungen spezialisierte Anwalt vom ersten Tag an mit Schaeffler auf Pirsch. Als ebenso stiller wie einflussreicher Berater im Hintergrund.

"Ich stamme aus der alten Zeit, in der Anwälte über ihre Mandanten noch nicht öffentlich gesprochen haben", sagt Koerfer. Nun hat er sich damit abgefunden, dass er sein persönliches Schweigegelübde wird brechen müssen. Conti ist schließlich ein börsennotierter Konzern, der noch dazu durch den Übernahmekampf gegen Schaeffler seit Monaten im besonderen Fokus der Öffentlichkeit steht. Von Koerfer erwartet man in beiden Unternehmen und seitens der Gläubigerbanken schnelle Signale der Befriedung und der Zusammenarbeit. Doch als Jurist, der lediglich den unternehmerischen Willen anderer in Verträge fasst, hat sich Koerfer ohnehin nie verstanden. "Mir macht es Spaß, Dinge zu bewegen", sagt der Vater dreier Kinder.

Kontakte zu Oppenheim

Das hat den gebürtigen Kölner zu einem der führenden Wirtschaftsanwälte in Deutschland gemacht. Erst seit einem Jahr arbeitet Koerfer für die britische Allen & Overy-Sozietät. Zuvor war er acht Jahre lang Partner der Kanzlei Shearman & Sterling und davor bei Oppenhof & Rädler in Köln. Die Bundesrechtsanwaltskammer schickt Hans Rolf Koerfer als Sachverständigen zu unternehmensrechtlichen Anhörungen in den Bundestag. Zudem fungiert Koerfer als Aufsichtsratschef bei Global, der ehemaligen Gerling-Rückversicherung. Und er berät seit Jahren Sal. Oppenheim. Schaden kann das nicht. Sal. Oppenheim gehört zu den Finanziers Schaefflers bei der Conti-Übernahme. Und die Bank hat treuhänderisch knapp 20 Prozent der Conti-Aktien übernommen.

Koerfer, Hans Rolf Continental AG: Aufsichtsrat SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Kampf um Conti: Jetzt soll der Staat die Übernahme retten

Das große Ringen

Verwirrung um Hilfen für die beiden Zulieferer: Bayern bestätigt Gespräche, Niedersachsen ist zurückhaltend, der Bund außen vor, und die Börse reagiert negativ

München/Hamburg - Die Börse reagierte bereits negativ: Die Spekulationen um eine staatliche Hilfe für Continental haben einen erneuten Kurssturz der Aktien des Autozulieferers verursacht. Die Papiere verbilligten sich am Montag um zeitweise nahezu 30 Prozent und notierten so niedrig wie seit sechs Jahren nicht mehr. Über den Stand der Verhandlungen herrschte allerdings am Montag Verwirrung. Klarheit soll ein Spitzentreffen in Berlin bringen: Am Donnerstag sollen Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) mit seinen Amtskollegen Horst Seehofer (CSU) und Günther Oettinger (CDU) sowie mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) zusammenkommen, hieß es. Das Treffen werde in der niedersächsischen Landesvertretung in Berlin stattfinden, hieß es.

Fest steht derzeit, dass sowohl Conti als auch Mehrheitsaktionär Schaeffler mit insgesamt 22 Milliarden Euro hochverschuldet sind und händeringend nach Lösungen für ihre Finanzprobleme suchen. Nach Angaben der Bundesregierung vom Montag sind die Gespräche über Staatshilfen von Bayern und Niedersachsen für Schaeffler/Conti in einem fortgeschrittenen Stadium. Es sei zutreffend, dass sich die beiden Bundesländer sehr intensiv um die Situation kümmerten, um Standorte und Arbeitsplätze zu sichern, sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg. Die Gespräche seien aber wohl noch nicht abgeschlossen.

Konkrete Anfragen der Konzerne wegen Bundeshilfen seien Steg aber nicht bekannt. Bayern bestätigte ebenfalls Gespräche über Staatshilfen mit Schaeffler. In der niedersächsischen Landesregierung hieß es dagegen, fortgeschrittene Gespräche über Conti seien "dummes Zeug". Es soll sich um Hilfen von insgesamt einer Milliarde Euro handeln.

Der neue bayerische Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) hatte noch am Wochenende ausdrücklich bestätigt, dass es "politische Absichtserklärungen" gebe, und bereits für die laufende Woche Entscheidungen in Aussicht gestellt. Was sich durchaus konkret anhörte, klang am Montag aus seinem Ministerium und der Staatskanzlei deutlich zurückhaltender: Ja, es gebe zwar Gespräche, aber "keinerlei Vereinbarungen oder Zusagen", hieß es in gleichlautenden Mitteilungen. Informierten landespolitischen Kreisen zufolge scheinen die Verhandlungen der Staatsregierung mit Schaeffler zumindest schon länger zu laufen. Danach sollen sowohl Milliardärin Maria-Elisabeth Schaeffler als auch Konzernchef Jürgen Geißinger bereits vor Wochen direkten Kontakt zu Ministerpräsident Seehofer gesucht haben. Man habe sich dabei über die Form der Staatshilfe nicht einigen können, hieß es. Schaefflers Gläubigerbanken wollten sich zu den Spekulationen um staatliche Hilfen nicht äußern. In Bankenkreisen heißt es, die Institute stünden den Überlegungen neutral bis positiv gegenüber. Würde das Risiko auf mehr Schultern verteilt, könnten die Kreditgeber davon profitieren.

Seehofer handele erklärtermaßen in enger Abstimmung mit seinem niedersächsischen Amtskollegen Wulff, hieß es in München. In Regierungskreisen in Hannover war dagegen zu hören, Wulff habe zu dem Thema mit der bayerischen Staatsregierung bisher keinerlei Kontakte gehabt: "Da kämpft jeder für seine eigenen Interessen." Meldungen über finanzielle Hilfen von Niedersachsen für Conti im Volumen von einer halben Milliarde Euro weist Wulff von sich: "Es gibt kein Konzept, das annähernd so konkret wäre, um über die Frage staatlicher Hilfen welcher Art auch immer Position zu beziehen", sagte er. Von solchen Gedanken sei man noch "Lichtjahre" entfernt, heißt es in Regierungskreisen. Generell stehe Wulff Staatsbeteiligungen zwar eher distanziert gegenüber, aber kategorisch ablehnen würde er sie auch nicht.

"Lichtjahre" entfernt

Continental selbst will nach Angaben eines Sprecher gar keine Staatsgelder haben. Erst in der vergangenen Woche hätten die Banken Continental einen stabilen Finanzrahmen gesichert. Für Wulff geht es darum, wenigstens die Reifensparte in Niedersachsen zu halten. Der Automobilzulieferer aus Hannover gehörte bisher zu den Vorzeige-Konzernen des Bundeslandes. Nach der Übernahme durch Schaeffler muss Wulff aber befürchten, dass die Gummisparte über kurz oder lang ins Ausland verkauft wird, denn Schaeffler braucht dringend Geld und Wettbewerber haben bereits Interesse angemeldet. Der aktuelle Plan sieht vor, die Automotive-Bereiche beider Unternehmen, die ihre Zentren in Süddeutschland haben, zusammenzuführen. Der Reifenbereich am Standort Hannover soll verselbständigt werden - wohl zur Vorbereitung eines Verkaufs.

Geschadet haben die Diskussionen über Staatshilfen bereits allen Beteiligten. An der Börse war Continental nach dem Kurssturz nur noch gut zwei Milliarden Euro wert. Für den Kauf von 90 Prozent von Conti hatte Schaeffler vor kurzem noch zehn Milliarden Euro gezahlt. Händler verwiesen darauf, dass ein staatlicher Einstieg bei Conti dem Aktienkurs nicht helfen würde, sondern - im Gegenteil - den Anteil der Aktionäre verwässern würde. (Kommentare) mth/urit/dpa

Ein 100 Jahre altes Reklameschild für Fahrrad-Reifen von Continental: Die Zeiten in Hannover sind unruhig. Gerade erst wurde der Führungsstreit mit Aktionär Schaeffler beigelegt, jetzt wird über Staatshilfen diskutiert. Foto: Ullstein

Continental AG: Liquidität Continental AG: Krise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ich bin in der Lage, die Interessen unter einen Hut zu bringen"

Der neue Aufsichtsratsvorsitzende von Continental, Koerfer, über seine schwierige Vermittlerrolle und die unterschiedlichen Firmenkulturen

SZ: Herr Koerfer, was hat Sie bewogen, den Conti-Aufsichtsratsvorsitz und damit einen der schwierigsten Jobs in der deutschen Autoindustrie anzunehmen?

Koerfer: Frau Schaeffler hat mich darum gebeten. Ich berate die Familie und die Firma Schaeffler seit vielen Jahren. Meine Entscheidung ist davon getragen, trotz des schwierigen Marktumfeldes die Verbindung von Continental und Schaeffler zum Erfolg zu führen.

SZ: Was macht Sie da so sicher?

Koerfer: Die industrielle Logik dieser Transaktion sieht man sowohl bei Conti als auch bei Schaeffler. Es ist ein enormer Vorteil, dass sich die Automobilsparten beider Unternehmen ideal ergänzen und nicht überlappen, was intern große Unruhe hervorrufen würde. Daher können wir uns sofort auf Sachthemen konzentrieren. Wir müssen als erstes ein Konzept entwickeln, wie diese Zusammenarbeit in der Praxis laufen soll. Wir zeigen allen Beteiligten, dass diese Transaktion Sinn macht. Das schafft Vertrauen.

SZ: Sie vertreten den neuen Großaktionär im Aufsichtsrat, müssen zugleich aber kraft Amtes in erster Linie die Interessen von Conti vertreten. Wie unabhängig sind Sie überhaupt?

Koerfer: Natürlich habe ich in erster Linie die Interessen der Continental AG zu wahren. Aber jeder Aufsichtsratsvorsitzende wird dabei auch die Interessen der Aktionäre und speziell des größten, also Schaeffler, im Auge behalten. Das ist normal und darin sehe ich auch in diesem Fall überhaupt keinen Widerspruch.

SZ: Da konnte man in der Vergangenheit einen ganz anderen Eindruck erhalten. Conti und Schaeffler beharken sich seit Monaten erbittert.

Koerfer: Da wurde sicherlich manches hochgespielt.

SZ: Wie wollen Sie für Ruhe sorgen?

Koerfer: Ich bin seit 20 Jahren Anwalt für Fusionen und Übernahmen. Da lernt man, als erstes die Interessen aller Beteiligten zu analysieren und daraus für alle akzeptable Lösungen zu finden. Ich versetze mich bei Verhandlungen zwischendurch immer mal in die Gegenseite. Was würde ich tun, wenn ich deren Interessen vertreten würde? Es macht keinen Sinn, jemanden zu etwas zu überreden, was für ihn vielleicht schädlich ist, während man selbst nur geringfügigen Nutzen daraus zieht. Man muss Vorteile auf beiden Seiten schaffen.

SZ: Das klingt etwas weichgespült.

Koerfer: Aber anders geht es nicht. Sechzig, vielleicht siebzig Prozent meiner heutigen Mandanten waren in früheren Zeiten einmal auf der Gegenseite. Dass sie mir heute vertrauen, zeigt doch: Ich bin in der Lage, verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen.

SZ: Schaeffler und Conti pflegen sehr unterschiedliche Firmenkulturen. Fürchten Sie nicht, zwischen der Verschwiegenheit eines Familienunternehmens und der Transparenz eines börsennotierten Konzerns zerrieben zu werden?

Koerfer: Die Welt hat sich doch auch für Schaeffler geändert. Man ist in das Licht der Öffentlichkeit gerückt und verweigert sich dem auch nicht mehr.

SZ: Sie fürchten also überhaupt keine Integrationsprobleme?

Koerfer : Wenn Sie das Ohr sozusagen an die Werkbänke bei Conti und Schaeffler legen, dann hören sie, dass die Beschäftigten darauf brennen, endlich miteinander an die Arbeit zu gehen. Ingenieure sprechen eine Sprache und verstehen sich sofort.

SZ: Wie groß ist Ihr Spielraum bei den immer nervöseren Banken?

Koerfer : Auch da bin ich unabhängig, auch wenn man nie völlig frei von Rahmenbedingungen agieren kann. Tatsache ist nun mal, dass Conti und Schaeffler Schulden haben. Aber ich sehe nicht, dass dies unseren Handlungsspielraum einschränkt. Wir bekommen die Probleme in den Griff.

SZ: Mit Staatshilfe?

Koerfer : Kein Kommentar.

SZ: Wie stehen Sie denn zum Verkauf der Conti-Gummisparte und zu Staatsbeihilfen?

Koerfer: Ich bitte um Verständnis, dass ich zu diesen Themen mich nicht äußern möchte.

Interview: Uwe Ritzer

Rechtsanwalt Hans Rolf Koerfer hat einen neuen Job. Foto: dpa

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Chipproduzent Qimonda sucht einen Investor

München - Der Speicherchip-Hersteller Qimonda, der am Freitag wegen Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag stellen musste, will nach einem zahlungskräftigen Investor suchen, um sein Überleben zu sichern. "Wir haben es hier mit einer hochkomplexen Situation und einem extrem kapitalintensiven Geschäft zu tun", teilte der Insolvenzverwalter Michael Jaffé am Montag mit. "Deshalb braucht es für eine tragfähige Lösung Beiträge von potenten Investoren", fügte er an.

Bis Ende März können die Mitarbeiter in Deutschland vom Insolvenzgeld bezahlt werden. Bis dahin muss also spätestens eine Lösung für das Unternehmen mit 12 200 Beschäftigten gefunden werden. Knapp 5000 Mitarbeiter werden allein an den beiden größten deutschen Standorten München und Dresden beschäftigt. Zudem hat Qimonda ein großes Werk in Portugal. Derzeit werde trotz der Insolvenz an allen Standorten weiter produziert, betonte Qimonda. Rettungsbemühungen der Politik waren wegen neuer Finanzlöcher in letzter Minute gescheitert. Eigentlich war bereits ein Hilfspaket über mehr als 300 Millionen Euro beschlossen. (München) cbu

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Gentechnik soll Pfizer retten

Patente laufen aus, und der Nachschub fehlt: Der weltweit größte Pharmakonzern setzt mit dem Wyeth-Kauf nun auf Biotechnologie

Von Kristina Läsker

München - Es dient als Befreiungsschlag: Für 68 Milliarden Dollar kauft Pfizer den kleineren US-Rivalen Wyeth. Dies ist die drittgrößte Übernahme der Pharmabranche aller Zeiten; mit einem neuen Fokus auf biotechnologisch hergestellte Medikamente will der mächtigste Pharmakonzern der Welt sich neu erfinden. "Der Zusammenschluss wird unsere Branche transformieren", behauptete Pfizer-Chef Jeffrey Kindler am Montag großspurig. Das soll an frühere Zeiten anknüpfen: Lange war Pfizer in der Branche tonangebend, dann geriet der Konzern ins Wanken. Bis 2012 werden etwa 14 wichtige Patente auf konzerneigene Medikamente auslaufen - und das könnte drastische Umsatzeinbrüche auslösen. Insgesamt drohe ein Erlösrückgang von etwa 35 Milliarden Dollar, wenn Pfizers Medikamente durch billigere Nachahmermedikamente (Generika) ersetzt würden, sagt Catherine Arnold, Pharma-Analystin der Bank Credit Suisse. Zum Vergleich: Im Jahr 2008 hat Pfizer 48,3 Milliarden Dollar umgesetzt.

Die Abläufe der Patente an sich wären nicht schlimm, sind sie doch lange bekannt, aber bei Pfizer mangelt es - wie bei vielen Herstellern - an Nachschub mit innovativen Arzneien. Parallel muss Pfizer wie viele Wettbewerber schrumpfende Laufzeiten von Patenten hinnehmen: Generika-Konzerne gehen früher mit ihren Nachahmer-Mitteln auf den Markt und riskieren dafür auch Streit vor Gericht. So haben die Kosten für teure Auseinandersetzungen dem Branchenprimus die Bilanz 2008 verhagelt.

Schrumpfen oder verstärken

Die Übernahme von Wyeth dürfte Pfizer zumindest helfen, ein von 2011 an drohendes Umsatzloch in Milliardenhöhe zu stopfen. Dann wird das Top-Medikament, der Cholesterinsenker Lipitor, seinen Patentschutz verlieren. Heute steuert das umsatzstärkste Medikament der Welt mit etwa 13 Milliarden Dollar allein ein Viertel zum Konzernerlös bei. "Pfizers Forschung war bisher nicht in der Lage, genügend neue Medikamente zu erfinden, um Lipitor zu ersetzen", sagt Les Funtleyder, Analyst von Miller Tabak & Co. Pfizer habe die Wahl treffen müssen: Lipitor aufgeben und schrumpfen - oder sich von außen verstärken.

Möglich wird der Zukauf durch die hohen Bargeldreserven. Dank Umsatzrenditen zwischen zwanzig und dreißig Prozent haben Pfizer und Konkurrenten wie Novartis und Roche extrem hohe Reserven angehäuft, die auch in der Finanzkrise teure Übernahmen ermöglichen. So bezahlt Pfizer für Wyeth 22,5 Milliarden Dollar in bar. Auch hat Konzernchef Kindler der Firma seit seinem Antritt Mitte 2006 einen Sparkurs verordnet. Mehr als 15 000 Beschäftigte verloren ihre Stelle. Kindler schloss fünf Forschungszentren, ließ knapp 100 Projekte stoppen, reorganisierte die Entwicklungseinheiten und startete ein unabhängiges Forschungszentrum in Kalifornien. Auch bei der Wyeth-Übernahme sollen Fabriken geschlossen und jede zehnte Stelle abgeschafft werden.

Pfizer will breit aufgestellt bleiben: Die Firma forscht und entwickelt Medikamente gegen Fettstoffwechselstörungen, Alzheimer, Depressionen, Kreislauferkrankungen, Krebs, Schlaganfall, Rheuma, Infektionen, Alzheimer, Diabetes und Erektionsstörungen. Wyeth wiederum gehört zu den Spezialisten für die teuren Biotechnologie-Medikamente, die als Wachstumstreiber gelten. "Das könnte einer der wichtigsten Gründe für die Übernahme sein", sagt Jörn Leewe, Partner der Beratung Novumed. Zu den Toparzneien des im US-Bundesstaat New Jersey ansässigen Konzerns Wyeth gehören das Antidepressivum Effexor, der Kinder-Impfstoff Prevnar sowie das Arthritis-Mittel Enbrel, das die Firma mit Amgen vertreibt. Spezialisiert ist Wyeth auf Hormontherapien und Empfängnisverhütung, Erkrankungen des zentralen Nervensystems, rheumatoide Arthritis sowie Impfstoffe. Auch Wyeth hatte sich vergrößern wollen und verhandelte über eine Fusion mit dem Impfstoffhersteller Crucell, die nun abgeblasen ist.

Für Pfizer sollen die zugekauften Medikamente mehr Gleichgewicht in das Portfolio bringen. Zur Risikostreuung solle von 2012 an kein Medikament mehr für mehr als zehn Prozent des Umsatzes stehen, teilte der Konzern mit. Künftige Schwerpunkte sollen bei Entzündungskrankheiten, Alzheimer und Krebs liegen. Auch bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Infektionen will Pfizer eine führende Rolle einnehmen. Inwieweit deutsche Mitarbeiter von der Fusion betroffen sind, ist noch unklar. Pfizer, dessen Deutschland-Zentrale in Berlin sitzt, beschäftigt hierzulande etwa 4500 Mitarbeiter und hat 2007 etwa 1,6 Milliarden Euro umgesetzt. Wyeth mit Sitz in Münster hat 2008 etwa 670 Millionen Euro mit 800 Mitarbeitern umgesetzt.

Pfizer Inc.: Firmenübernahme Pfizer Inc.: Fusion SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Jenoptik verdient auch in der Krise

Jena - Trotz der Konjunkturkrise und des Einbruchs in der Halbleiterbranche hat der Technologiekonzern Jenoptik 2008 seine Ziele für Umsatz und Gewinn erreicht. Vorstandschef Michael Mertin sprach am Montag von einem "erfolgreichen Jahr" für das Jenaer Unternehmen. Nach vorläufigen Zahlen stieg der Umsatz um etwa fünf Prozent auf knapp 550 Millionen Euro, der Gewinn vor Zinsen und Steuern (EBIT) um knapp fünf Prozent auf 37 Millionen Euro. Eine Prognose für 2009 wollte Mertin angesichts der Krise nicht abgeben. Entlassungen in größerem Umfang seien nicht geplant, allerdings seien etwa 300 Mitarbeiter in Kurzarbeit. Jenoptik ist 2008 in den Technologiewerte-Index TecDax der Frankfurter Börse aufgerückt.

Zu dem positiven Ergebnis habe vor allem eine starke Nachfrage in der Wehr- und Sicherheitstechnik beigetragen, sagte Mertin. In diesem Geschäftsfeld stiegen Umsatz und Gewinn zweistellig. Starkes Wachstum habe auch die Infrarot- und Weltraumtechnik erzielt. Erfreulich habe sich ebenfalls das Geschäftsfeld der Verkehrssicherheitstechnik entwickelt. Im zweiten Halbjahr 2008 habe sich der Markt für diese Produkte international belebt. Doch trüben die Krisen in der Automobil- und der Halbleiterindustrie das Geschäft in der Sparte Laser und Optische Systeme. Es sei derzeit nicht abzuschätzen, wie lange die Krise in der Halbleiterindustrie dauern werde, sagte Mertin. Eine Erholung sei 2009 nicht zu erwarten. Das Unternehmen habe bereits mit Kurzarbeit reagiert, die zunächst bis zur Jahresmitte dauern solle. Einer Dividende erteilte Finanzvorstand Frank Einhellinger eine Absage. In der schwierigen Lage dürfe kein Geld aus dem Konzern abgezogen werden. dpa

Jenoptik AG: Gewinn SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Philips streicht nach Milliardenverlust 6000 Stellen

Der niederländische Siemens-Konkurrent erlöst weniger. Vor allem in der Sparte für Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräte läuft es schlecht

Amsterdam/Hamburg - Der niederländische Elektronikkonzern Philips verschärft in der Wirtschaftskrise sein Sparprogramm und streicht weitere 6000 Arbeitsplätze. Das teilte der Siemens-Konkurrent am Montag in Amsterdam mit. Von Oktober bis Dezember 2008 war die Zahl der Mitarbeiter weltweit bereits von 128000 auf 121000 reduziert worden. Konzernchef Gerard Kleisterlee wagte angesichts der "beispiellosen Geschwindigkeit und Heftigkeit" der Krise keine Jahresprognose für 2009. Für 2008 weist Philips einen Gruppenumsatz von 26,385 Milliarden Euro aus, drei Prozent weniger als im Vorjahr. Der Verlust wird mit 186 Millionen Euro angegeben - nach 4,16 Milliarden Gewinn im Vorjahr. Das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen belief sich auf 931 Millionen Euro nach 2,05 Milliarden Euro im Vorjahr. Die Dividende soll 2008 und in diesem Jahr 0,70 Euro je Aktie betragen.

Auch den Philips-Konkurrenten hat die Wirtschaftskrise zugesetzt: So hat Siemens Schwierigkeiten in seinem Beleuchtungsgeschäft Osram und berichtete über einen schwierigeren Markt in der Medizintechnik. Das Unternehmen legt an diesem Dienstag die Zahlen für Oktober bis Dezember vor. Der US-Anbieter General Electric meldete am Freitag einen Gewinneinbruch.

Für Deutschland erwartet ein Sprecher der hiesigen Landesgesellschaft von Philips derzeit keine weiteren Stellenstreichungen, nachdem im Herbst unter anderem in Hamburg ein Arbeitsplatzabbau von etwa 150 Stellen in der Entwicklung und Fertigung der Röntgenfabrik angekündigt worden war. Auch der Vertrieb wurde um etwa 100 Stellen reduziert. Philips beschäftigt in Hamburg knapp 2000 Mitarbeiter. In Aachen, wo Lampen für die Automobilindustrie gefertigt werden, werde derzeit Kurzarbeit gefahren.

Unter den Philips-Sparten wurde der Bereich Consumer Lifestyle - vom Fernseher über Rasierer bis zum Haushaltsgerät - deutlich vom Nachfragerückgang getroffen; er gab 2008 um acht Prozent auf elf Milliarden Euro Umsatz nach. Die Gesundheits- sowie die Lichttechnik verzeichneten hingegen Zuwächse von sechs und drei Prozent. In der Medizintechnik rechnet Philips im ersten Quartal 2009 mit einem rückläufigen Markt, vor allem wegen Einsparungen im US- Gesundheitswesen. Dennoch soll ihr Anteil am Gesamtumsatz von 30 Prozent auf 35 Prozent steigen.

Philips war im Schlussquartal 2008 von der Wirtschaftskrise voll erfasst worden. Es lief ein Verlust von 1,47 Milliarden Euro auf. Im Vorjahreszeitraum hatte der Konzern noch einen Überschuss von 1,4 Milliarden Euro verbucht. Der Vorstandschef will die Krise mit strikter Kostendisziplin meistern. Durch die laufenden Sparprogramme und den Umbau des Unternehmens sollen etwa 400 Millionen Euro pro Jahr mehr in der Kasse übrigbleiben. Von der zweiten Jahreshälfte an soll das Programm greifen. dpa

Vorführraum einer Philips-Fabrik für Leuchtsysteme in Frankreich: In den Sparten Lichttechnik und Gesundheitstechnik setzten die Niederländer 2008 mehr um als im Vorjahr. Bei den Haushaltsgeräten sanken die Erlöse hingegen. Foto: R. Demaret

Kleisterlee, Gerard: Zitate Royal Philips Electronics NV: Personalabbau Royal Philips Electronics NV: Verlust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Staatsgeld für Airbus-Käufer

Frankreich stellt Fluggesellschaften fünf Milliarden Euro Kredit bereit

Paris - Wegen der Wirtschaftskrise greift der französische Staat Airbus-Kunden mit Kredithilfen von fünf Milliarden Euro für Flugzeugkäufe unter die Arme. Damit Fluggesellschaften ihre Aufträge nicht stornierten, habe der Staat Banken verpflichtet, Zwischenkredite zur Verfügung zu stellen, hieß es aus dem Pariser Finanzministerium am Montag. Grund sei, dass viele Airlines derzeit nicht die notwendigen Darlehen für Flugzeugkäufe erhielten. Das Geld für die Airbus-Kunden stammt aus einem Topf mit sieben Milliarden Euro, mit denen französische Banken Exportgeschäfte finanzieren sollen. Sie hatten diese Summe dem französischen Staat in der vergangenen Woche im Gegenzug für ein zweites Bankenrettungspaket über 10,5 Milliarden Euro zugesagt.

Etwa 40 Prozent der Finanzierung eines Flugzeugkaufs komme üblicherweise von Banken, berichtete die Zeitung Les Echos. Die EADS-Tochter Airbus könne diesen Teil keinesfalls übernehmen, wenn die Banken wegen der Kreditklemme ausfielen. Der Flugzeugbauer habe derzeit zwar ein Auftragspolster von 3715 Maschinen, doch viele Bestellungen könnten gefährdet sein. So hat Airbus-Verkaufschef John Leahy eingeräumt, dass 30 Prozent des Orderbestands durch fehlende Finanzierungsmöglichkeiten gefährdet sei.

Einbruch bei Aufträgen

Klar ist, dass es in diesem Jahr einen Einbruch bei den Neubestellungen geben wird. Airbus-Chef Thomas Enders hatte am Sonntag bei einem Wirtschaftsforum in Riad in Saudi-Arabien gesagt, die Order könnten wegen der Luftfahrtkrise in diesem Jahr um 50 bis 60 Prozent zurückgehen. "Wir kämpfen darum, eine Finanzierung für unsere Kunden zu finden", sagte der deutsche Vorstandsvorsitzende - auch mit Blick auf Abnehmer am Persischen Golf, die in den vergangenen Jahren zu den wichtigsten Bestellern von Maschinen der Tochter des Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS zählten. Die Finanzkrise hat inzwischen selbst die reichen Ölstaaten am Golf erreicht. Mitte Januar hatte Airbus mitgeteilt, man erwarte nach 777 Bestellungen im vergangenen Jahr in diesem nur noch 300 bis 400 neue Aufträge. AFP

Airbus Industrie-Konsortium SAS: Finanzen Airbus Industrie-Konsortium SAS: Krise Airbus Industrie-Konsortium SAS: Absatz Airbus Industrie-Konsortium SAS: Liquidität SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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US-Autozulieferer bereiten Insolvenz vor

New York - Die US-Automobilzulieferer stellen sich auf eine weitere Zuspitzung der Lage ein und bereiten sich einem Zeitungsbericht zufolge auf mögliche Insolvenzverfahren vor. Nachdem die beiden großen US-Hersteller General Motors (GM) und Chrysler nur noch dank Staatskrediten am Leben erhalten werden und weitere staatliche Hilfen unsicher sind, hätte eine Reihe von Unternehmen der zweiten Reihe Berater verpflichtet, um die Überlebenschancen der Firmen zu sondieren, schreibt das Wall Street Journal. So habe die ehemalige Ford -Tochter Visteon Experten mit der Prüfung eines möglichen Insolvenzverfahrens beauftragt, schreibt die Zeitung unter Berufung auf mit der Situation vertraute Personen. Die Beauftragung bedeute jedoch nicht, dass ein Bankrott direkt bevorstehe. Ein Unternehmenssprecher war nicht zu einer Stellungnahme bereit. Der finanziell etwas besser aufgestellte Wettbewerber Lear arbeite dagegen weiter an Restrukturierungsmaßnahmen und setze sich bei staatlichen Stellen dafür ein, bessere Rahmenbedingungen für die Branche zu erwirken. Sollte die Autonachfrage weiter zurückgehen, befürchten viele Beobachter einen vollständigen Zusammenbruch des Industriezweigs. dpa

General Motors Corp.: Personalabbau SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Lieber Aktionär"

Banken senden beruhigende Botschaften an ihre Eigentümer

Von Martin Hesse

Frankfurt - Ein offener Brief, ein Chefwechsel und positive Zahlen - so haben europäische Banken am Montag ihre Aktionäre beruhigt. Die Botschaft der britischen Barclays, der französischen BNP Paribas sowie der niederländischen ING Diba kam an. Barclays-Anteile verteuerten sich binnen Minuten um mehr als 75 Prozent, ehe der Kurs wieder etwas zurückfiel. Die Aktien der ING-Gruppe legten zeitweise um ein Viertel zu, BNP Paribas verbuchten immerhin ein Plus von mehr als 17 Prozent.

Die Barclays-Aktie hatte seit Anfang Januar nahezu drei Viertel ihres Wertes verloren. Angesichts dramatischer Zahlen der Royal Bank of Scotland (RBS) war an der Börse spekuliert worden, auch Barclays müsse sich frisches Kapital holen, zur Not wie die RBS vom Staat. Nun versicherten Barclays-Chef John Varley und Aufsichtsratschef Marcus Agius, die Bank brauche kein weiteres Kapital. Auch im Krisenjahr 2008 habe die Bank Rekorderträge erwirtschaftet. Dazu tragen nicht zuletzt Teile des Nordamerikageschäftes von Lehman Brothers bei, die Barclays nach der Pleite der Investmentbank übernommen hatte.

Obwohl auch Barclays im vierten Quartal umgerechnet 8,5 Milliarden Euro abschreiben musste, rechnet die Bank vor Steuern mit mehr als 5,6 Milliarden Euro Gewinn. Sie habe damit 18 Milliarden Euro Kapitalpuffer, schrieben die Chefs weiter. Sie wehren sich ähnlich wie Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann dagegen, Kapitalhilfe vom Staat in Anspruch zu nehmen. Allerdings wollen Varley und Agius das vergangene Woche vorgelegte Angebot der Regierung prüfen, bestimmte Wertpapiere gegen Ausfälle abzusichern.

Diba macht Gewinn

Anders als Barclays hat die ING-Gruppe bereits Staatshilfe angenommen. Im Oktober stärkte die niederländische Regierung ihr Kapital mit zehn Milliarden Euro. Jetzt hat ING weitere drastische Maßnahmen angekündigt, weil im vierten Quartal ein Verlust von 3,3 Milliarden Euro am Kapital der Bank zehrt. Vorstandschef Michel Tilmant wird von Jan Hommen abgelöst, der bislang den Aufsichtsrat anführte. Außerdem wird ING 7000 seiner 130 000 Stellen abbauen. Und auch der Staat greift dem Konzern noch einmal unter die Arme: Eine Bürgschaft von 27,7 Milliarden Euro soll 80 Prozent der Ramschhypotheken absichern, die ING in den Bilanzen hat.

Die deutsche Tochter ING Diba ist von den Maßnahmen nicht direkt betroffen, profitiert aber möglicherweise von der zusätzlichen Sicherheit, die der Staatseingriff bietet. Die Direktbank hat im vergangenen Jahr 412 Millionen Euro vor Steuern verdient, zwölf Prozent weniger als im Jahr zuvor. Einerseits fließt Diba, wie anderen Anbietern, von hoch verzinsten Tagesgeldkonten wegen der Krise noch mehr Geld zu. Die Kundeneinlagen erhöhten sich um zwei Milliarden auf 64 Milliarden Euro. Zum anderen verschärft sich der Wettbewerb um Kunden, die Gewinnmargen schrumpfen. Immerhin musste die Diba anders als ihre Mutter keine Abschreibungen auf Wertpapiere vornehmen, auch ihre Kapitalbasis ist stabil. Ein Stellenabbau sei nicht geplant, sagte Diba-Chef Ben Tellings.

Überraschend gut schlagen sich die französischen Banken in der Krise. Nach der Société Générale wies nun auch BNP Paribas einen Gewinn aus. Allerdings schrumpfte er um mehr als die Hälfte auf drei Milliarden Euro. Im vierten Quartal schrieb BNP rote Zahlen. Um Befürchtungen über eine zu dünne Kapitaldecke zu zerstreuen, will die Bank den Staat mit stimmrechtslosen Vorzugsaktien im Wert von 5,1 Milliarden Euro beteiligen.

Folgen der internationalen Finanzkrise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Villa mit Meerblick für 100 Dollar

Mit der Pleite von Lehman Brothers löste Richard Fuld die Finanzkrise erst richtig aus. Jetzt überschrieb er ein 13 000-Quadratmeter-Anwesen an seine Frau

Von Alexander Hagelüken

München - Als Richard "Dick" Fuld im Oktober vor dem US-Kongress aussagen musste, gab sich der Vorstandschef von Lehman Brothers zerknirscht. Die Pleite seiner Bank hatte gerade sehr viele Menschen auf dem ganzen Globus verunsichert, die sich für Nachrichten von Banken sonst weniger interessieren. Aktienkurse kollabierten, Steuerzahler pumpten Milliarden in wackelnde Geldhäuser und eine Wirtschaftskrise zog herauf, die Millionen Arbeitsplätze kosten könnte.

"Ich wache jede Nacht auf und denke darüber nach, was ich falsch gemacht haben könnte", erklärte Richard "Dick" Fuld. So zerknirscht Fuld auch wirken wollte - "gemacht haben könnte" klingt kaum nach Reue. Der Ausschuss-Vorsitzende Henry Waxman stellte eine ganz einfache Frage. Er zählte die knapp 500 Millionen Dollar auf, die der 62-Jährige im Laufe der Jahre als Gehalt, Bonus oder Aktienoption von seiner Bank kassiert hatte. "Das ist für viele Menschen schwer zu verstehen", sagte Waxman. "Finden Sie das fair?"

"Das ist der älteste Trick"

Fuld wich der Frage aus. Er besitze ja nur noch 350 Millionen Dollar. Waxman zählte seine Besitztümer auf: Eine Residenz vor New York, ein Apartment in Manhattan, eine Skihütte in Idaho, eine Villa in Florida. Wie sich nun herausstellt, ist Richard "Dick" Fuld schwer darum besorgt, wenigstens ein einzelnes Individuum unter Millionen Betroffenen vor der Krise zu schützen: Sich selbst. Wenige Wochen nach der Aussage vor dem Kongress überschrieb er die Villa auf der Jupiter-Insel vor Florida voll an seine Frau. Die Luxusimmobilie mit Meeresblick hatten die beiden vor fünf Jahren für 13 Millionen Dollar erworben. Frau Kathleen bekam das gute Stück nun für 100 Dollar, wie offizielle Dokumente nahelegen.

"Das ist der älteste Trick von allen", sagt ein Anwalt in Florida. "Wenn Du Deine Gläubiger kommen hörst, übertrage Dein Vermögen an Deine Frau". Über Schulden Fulds ist zwar nichts bekannt, aber er fürchtet wohl, dass wegen der Pleite der 158 Jahre alten Investmentbank nach seinen Besitztümern getrachtet wird. Die amerikanischen Behörden ermitteln, ob Richard "Dick" Fuld die prekäre Lage seines Geldhauses vor der Pleite verschleiert hat. Anwälte dürften ihn mit Schadensersatzklagen überziehen. Dann könnte der ehemalige Lehman-Chef einen großen Teil seines Vermögens verlieren. Die Villa in Florida aber wäre vorerst sicher. "Wenn sie in Schwierigkeiten geraten, übertragen viele Leute alles an ihre Frau", erklärt ein Insolvenzanwalt in Florida.

Richard "Dick" Fuld weiß, dass er für viele Amerikaner das hässliche Gesicht der Finanzkrise darstellt. Bei seinem Auftritt vor dem Kongress schwenkten Demonstranten Transparente, auf denen "Schande" stand. Sie beschimpften den Banker und forderten seine Inhaftierung. Fuld ist seitdem aus der Öffentlichkeit verschwunden. Als seine Frau Kathleen über die Weihnachtstage bei der Nobel-Kette Hermès shoppen ging, verlangte sie unauffällige weiße Plastiktüten, um ihre Einkäufe geheim zu halten.

Wie die New York Times herausfand, ist es ungewiss, ob Fulds Villa-Trick wirklich aufgeht. Der Staat Florida hat äußerst großzügige Gesetze, die den Eigentümer selbst im Falle des Bankrotts davor schützen, sein kleineres oder größeres Eigenheim zu verlieren. Allerdings könnte Fulds Überschreibung als Betrug gewertet werden. Und der gesetzliche Schutz hilft den Fulds womöglich nicht, weil ihr Hauptwohnsitz die Residenz in Greenwich County vor den Toren New Yorks ist.

Als Richard "Dick" Fuld im Oktober vor dem Kongress aussagen musste, zog der Ausschussvorsitzende Henry Waxman anschließend ein skeptisches Fazit: "Sie scheinen nicht einzusehen, dass sie etwas falsch gemacht haben".

Ein schöner Platz: Auf der Jupiter-Inseln vor Florida (links) hat sich der ehemalige Lehman-Chef Richard Fuld für 13 Millionen Dollar eine Villa gekauft. Jetzt übertrug er den ganzen Besitz an seine Frau Kathy (oben) - für nur 100 Dollar. Fotos: Corbis/Abacausa

Fuld, Richard: Vermögensverhältnisse Fuld, Richard: Immobilie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schulden über Schulden

Die Regierungen springen mit unvorstellbaren Summen für Kreditinstitute und Konjunktur ein. Wenn sich Lä;nder übernehmen, können sie bankrott gehen

Von Simone Boehringer

München - Unterhalb von zweistelligen Milliardenstützen vom Staat läuft in Europa so gut wie nichts mehr. In Amerika will Präsident Barack Obama sogar 800 Milliarden Dollar aufbringen, um die Wirtschaft vor dem Absturz zu bewahren. Solche Dimensionen sind bislang einmalig. Aber ein Ende der Interventionen ist nicht in Sicht und die Staaten müssen aufpassen, dass ihnen die Krise nicht selbst zum Verhängnis wird.

In Deutschland etwa soll die Höhe der Neuverschuldung im laufenden Jahr auf bis zu 50 Milliarden Euro steigen. Die Gesamtverschuldung des Landes beträgt schon jetzt knapp 1,6 Billionen Euro. Zum Vergleich: Die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik liegt bei 2,5 Billionen Euro. Für die aufgelaufene Zinslast gibt der Bund jeden sechsten Euro aus.

Kanzlerin Angela Merkel stellte kürzlich fest: "Es gibt das Gerücht, dass Staaten nicht pleitegehen können. Dieses Gerücht stimmt nicht." Zwar ist die Bundesrepublik als einer der besten Schuldner der Welt von einer Schieflage noch weit entfernt. Doch zum einen agiert die Bundesregierung in der europäischen Währungsunion nicht alleine. Der Wert des Euro und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) spiegelt die Wirtschaftskraft aller 15 Mitgliedsländer wider, zu denen auch klamme Kandidaten wie Spanien und Italien gehören. Andererseits gehört das Bankensystem in Deutschland mit einer Bilanzsumme von acht Billionen Euro zu den größten der Welt. Die vergebenen Kredite von Deutscher Bank und Co. machen mehr als das Dreifache der Wirtschaftsleistung aus. Zum Vergleich: In den USA belaufen sich die Forderungen der Kreditinstitute in etwa auf Höhe dessen, was die Amerikaner binnen eines Jahres erarbeiten. Das bedeutet: Dreht sich die Abwärtsspirale weiter nach unten, könnten die Verluste der Finanzbranche hierzulande ungleich stärker zu Buche schlagen als anderswo.

Dass die großen Industriestaaten überhaupt so hohe Schulden machen können, um die Krise zu bekämpfen, liegt an deren besonderen Gläubigerposition. Im Unterschied zu Privatpersonen oder Unternehmen können Regierungen Kredite aufnehmen, die erst Generationen später abbezahlt werden. Genaugenommen ist dies längst die Regel, selbst in normalen Zeiten. Schulden werden kaum zurückgeführt, sondern durch neue ersetzt.

Technisch funktioniert Staatsverschuldung, indem die jeweilige Regierung Anleihen herausgibt. Dies kann sie theoretisch unendlich oft machen, solange Investoren, meist Banken oder andere Länder, ihr die Papiere abkaufen. Mit steigender Verschuldung muss der Staat allerdings eine immer höhere Zinslast tragen, was den Spielraum für andere Aufgaben einschränkt. Finden sich am Kapitalmarkt nicht mehr genügend Käufer, kann sich eine Regierung auch bei der Notenbank verschulden.

Gibt etwa die EZB im Gegenzug für Anleihen zusätzliches Geld aus, kann dies je nach Umfang aber preistreibend wirken. Das bedeutet: Höhere Inflation. Eine Sonderstellung als Schuldner nehmen die USA ein. Als Herausgeber der Weltleitwährung konnten sie sich bislang problemlos im Ausland verschulden. Vor allem führende Länder in Asien wie China und Japan kauften bereitwillig US Treasuries in Billionenhöhe auf und finanzierten so ihre Warenexporte nach Amerika. Doch mit der jüngsten Leitzinssenkung auf null ist die Rendite auf US-Staatstitel uninteressant niedrig geworden. Bleibt die Federal Reserve: Sie kann dem Staat Dollarguthaben gegen Anleihen einräumen. Geschieht dies in großem Stil, dürfte es allerdings nur eine Frage der Zeit sein, bis der Dollar ins Bodenlose fällt. Wenn aber die Amerikaner ihre Konjunkturprogramme nicht mehr finanziert bekommen, hat die Welt ein Problem. Und Merkels Feststellung könnte sich erfüllen.

Maßnahmen zur Konjunkturbelebung ab 2008 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wie sicher ist mein Geld?

Die Banken geraten immer mehr in Schieflage, die Staaten müssen eingreifen. Bei vielen Bürgern wachsen die Sorgen

Von Marco Völklein und Hannah Wilhelm

München - Wie bedrohlich für die Banken wird die derzeitige Finanzkrise noch? Die Negativnachrichten nehmen kein Ende - mehrere in- und ausländische Institute meldeten zuletzt Milliardenverluste. Immer lauter wird auch der Ruf nach einer staatlichen "Bad Bank", bei der die Geldinstitute ihre Schrottpapiere abladen möchten. Bundesbank-Präsident Axel Weber sagte der Bild-Zeitung, es sei noch nicht gelungen, die Krise an den Finanzmärkten einzudämmen: "Es gibt derzeit immer neue Verwerfungen, mehr betroffene Segmente und neue Verluste, die zu weiterem Abschreibungsbedarf führen." Immer mehr Sparer sorgen sich deshalb erneut um ihr Geld. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Ist mein Geld jetzt unsicherer

als im vergangenen Herbst?

Im Herbst bangten angesichts der Finanzkrise viele Sparer um ihre Einlagen. Dann gab Bundeskanzlerin Merkel die Zusage der Bundesregierung, im Notfall für die Einlagen der Bürger zu haften. Diese "Merkel-Garantie" gilt nach wie vor. Daher habe sich an der Lage grundsätzlich auch nichts geändert, beruhigt Arno Gottschalk von der Verbraucherzentrale Bremen. Allerdings gilt das Eingreifen des Staates nach wie vor als "ultima ratio", als letztes Mittel - zuvor sollen eigentlich andere Systeme die Sparer absichern. Doch diese Systeme geraten mehr und mehr unter Druck - besonders jenes der privaten Geldhäuser. Und auch der Staat ist nicht grenzenlos belastbar.

Wie sicher ist das Geld

bei den Privatbanken?

Der Verband der privaten Banken unterhält einen Feuerwehrfonds, der bei einer Bankenpleite die Anleger entschädigen soll. Zu dieser Gruppe von Instituten zählen zum Beispiel Deutsche Bank und Commerzbank, aber auch kleinere private Geldhäuser. Wegen des Zusammenbruchs der US-Bank Lehman Brothers muss der Feuerwehrfonds nun einspringen. Die deutsche Lehman-Tochter hatte nämlich bei institutionellen Anleger wie Krankenkassen und der deutschen Rentenversicherung schätzungsweise 6,5 Milliarden Euro eingesammelt. Diese müssen nun entschädigt werden. Doch den privaten Banken fehlt offenbar die Kraft, dies aus eigener Kraft zu schultern: Der staatliche Bankenrettungsfonds Soffin muss nun Garantien für eine Anleihe stellen, die der Bankenverband ausgibt, um Geld für die Entschädigung einzusammeln. Abnehmer der Anleihe sind die Mitgliedsbanken des Rettungsfonds - die wiedrum hinterlegen die staatlich garantierten Anleihen als Sicherheit bei der Bundesbank, von der das Geld kommt. Der Staat gibt sich quasi selbst seine Sicherheiten. "Das sieht in der Tat nicht sonderlich stabil aus", erklärt Verbraucherschützer Gottschalk. Und ein anderer Experte ergänzt: "Das System ist nur dafür geschaffen, kleinere Institute zu retten."

Wie sieht es bei Sparkassen

und Genossenschaftsbanken aus?

Diese beiden anderen Säulen des deutschen Kreditwesens stehen auf etwas festeren Fundamenten. Ihre Sicherungssysteme funktionieren auch nach einem anderen Prinzip: Sie sind darauf ausgelegt, angeschlagene Banken komplett zu stützen oder ganz zu übernehmen. Zudem gebe es Sicherungsmaßnahmen, die greifen, bevor eine Bank in Schieflage gerät. Fachleute weisen aber darauf hin, das die Sparkassen Miteigentümer der ebenfalls stark angeschlagenen Landesbanken sind. Die Landesregierungen seien auch deshalb so bemüht, ihre jeweiligen Landesbanken zu stabilisieren, um nicht auch noch die Sparkassen ins Trudeln zu bringen, heißt es.

Kann man der

Merkel-Garantie noch trauen?

Die Zusage der Bundeskanzlerin, im Notfall werde der Staat für die Einlagen der Bürger geradestehen, ist lediglich eine politische Absichtserklärung, keine juristisch einklagbare Zusage, betont Verbraucherschützer Gottschalk - und sie bezieht sich auch nur auf private Spareinlagen, nicht auf Unternehmenskonten. Aber ohne diese Zusage "hätten wir wirklich ein Problem", sagt Gottschalk. Sollte die Regierung dieses Versprechen aber im Notfall nicht einlösen, "wäre sie am nächsten Tag wohl eine Ex-Regierung".

Wie lange hält der

Staat das durch?

Eine Frage, die sich viele Menschen stellen. Ständig werden neue Rettungsprogramme für Branchen und Banken geschnürt, weitere Konjunkturpakete verabschiedet - das bringt ein Land irgendwann an seine Grenze (Beitrag unten). "Der Staat kann nicht unbegrenzt Schulden machen", sagt Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. "Aber in Deutschland müssen wir uns weniger Sorgen machen als beispielsweise in Großbritannien."

Wie sicher sind Auslandsbanken?

Milliardenverluste der niederländischen Bank ING und der französischen BNP Paribas (Artikel rechts) können auch deutsche Kunden treffen. Beide Häuser haben deutsche Tochtergesellschaften, die Onlinebanken ING-Diba und Cortal-Consors. Allein ING-Diba verwaltet gut 60 Milliarden Euro von insgesamt 6,3 Millionen deutschen Kunden, bei Cortal-Consors liegen fünf Milliarden Euro von 600 000 Deutschen. Gibt es für sie Grund zur Sorge? Im Notfall ist das Geld dort genauso gesichert wie bei großen deutschen Banken. Die ING-Diba ist Mitglied im Feuerwehrfonds der deutschen Privatbanken. Bei einer Bankpleite würde zunächst die deutsche gesetzliche Sicherung haften, anschließend der Feuerwehrsfonds der Banken; ob dafür wieder eine staatliche Garantie nötig wäre, kann niemand verlässlich sagen.

Auch Cortal-Consors ist Mitglied des Feuerwehrfonds. Im Falle einer Insolvenz greift aber zunächst die von Frankreich gesetzlich vorgeschriebene Einlagensicherung: Für die ersten 70 000 Euro steht die gesetzliche Sicherung Frankreichs gerade. Wer mehr als diesen Betrag investiert hat, bekommt den Rest vom Sicherungsfonds ersetzt.

Dass bei ausländischen Banken der Teufel im Detail steckt, zeigt gerade der Fall der isländischen Kaupthing Bank: Dort geht der isländische Einlagensicherung das Geld aus, um deutsche Kunden zu entschädigen. "Aber Frankreich ist sicher nicht mit Island zu vergleichen", beruhigt Thomas Bieler von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. "Wir alle haben aus der Krise gelernt: Wenn man heute Tagesgeld anlegen will, sollte man sich detailliert über die Einlagensicherung und auch über die wirtschaftliche Lage des Landes informieren, in dem die Bank ansässig ist."

Der Fall Kaupthing zeige aber auch, dass die Zusage der Bundesregierung sehr wohl belastbar sei, ergänzt Achim Tiffe vom Hamburger Institut für Finanzdienstleistungen. Denn Deutschland hat dem Pleitestaat Island einen Kredit über 308 Millionen Euro eingeräumt, um die deutschen Sparer entschädigen zu können. Dass das Geld bislang noch nicht geflossen ist, liegt eher an der unklaren politischen Lage in Reykjavik als an nicht vorhandenen Mitteln.

Ist es sinnvoll, meine Einlagen auf verschiedene Banken zu streuen?

Manche Anleger beginnen angesichts der wachsenden Unsicherheit, ihr Geld auf verschiedene Tagesgeldkonten zu verteilen: Ein Drittel bei einer Sparkasse oder Genossenschaftsbank, ein Drittel bei einer Privatbank, ein Drittel bei einer ausländischen Bank. "Das kann durchaus sinnvoll sein", sagt Nauhauser. "So streut man die Risiken." Andererseits räumt er ein: "Wenn tatsächlich Deutschland jemals in Zahlungsschwierigkeiten kommen sollte, erwischt es wohl auch die anderen europäischen Länder."Anleger sollten deshalb auf jeden Fall ihr Geld in verschiedenen Anlageklassen streuen - also nicht nur auf Geld-, sondern auch auf Sachwerte setzen.

SZ-Collage / Fotos: dpa,ddp

Private Vermögensbildung in Deutschland Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hoffnung für eine geprügelte Anlage

Zwangsverkäufe durch Hedgefonds führten bei Wandelanleihen zu hohen Verlusten. Nun bieten sich Investoren Chancen

Von Markus Zydra

Frankfurt - Die jüngste Geschichte lehrt, dass ein von Hedgefonds kontrollierter Markt wenig Vertrauen verdient. So sind die Preise für Wandelanleihen im vergangenen Jahr völlig eingebrochen, weil Hedgefonds rund 75 Prozent der auch Convertibles genannten Wertpapiere handelten. Denn im Zuge der Finanzkrise mussten viele Fonds die meist auf Pump finanzierten Anleihen zwangsweise verkaufen, weil die Banken den Kredithahn zugedreht hatten. Die Folge waren rapide Kursverluste. Selbst die besten Publikumsfonds büßten ihre Profite der letzten Jahre vollständig ein (siehe Tabelle). "Zeitweise waren die Anleihenpreise stärker gefallen als die Aktien desselben Unternehmens, was eigentlich nicht passieren darf", sagt Bert Flossbach, Partner der Kölner Vermögensverwaltung Flossbach & von Storch. Schließlich seien bei Finanzproblemen eines Konzerns zunächst die Aktionäre betroffen, dann nachrangige Gläubiger und schließlich erst die Zeichner von Wandelanleihen.

Investoren wie Flossbach sammeln nun die besten dieser Wertpapiere für ihre Fonds wieder ein. Die Renditechancen sind bemerkenswert. "Ein Beispiel ist die Wandelanleihe von Heideldruck. Das Papier wirft rund 32 Prozent Rendite auf ein Jahr ab", sagt Flossbach. Der Grund für den schnellen Euro: Wandelanleihen müssen selten bis zur Endfälligkeit gehalten werden - Investoren haben meist eine Verkaufsoption. Bei Heideldruck kann diese Option im Februar 2010 ausgeübt werden. "Wir können die Anleihe fällig stellen, und Heideldruck muss uns dann auszahlen", sagt Flossbach.

Was jedoch bleibt, ist das gerade in dieser Wirtschaftslage nicht zu unterschätzende Ausfallrisiko der einzelnen Anleihe, das auch Grund für die hohe Rendite ist. Deshalb werden in den Fonds viele Wandelanleihen verschiedener Emittenten gemischt. Investments in Wandelanleihen sind generell nur über Fonds sinnvoll, da die minimale Stückelung der Einzelpapiere oft zwischen 50 000 Euro und 100 000 Euro liegt.

Wandelanleihen sind eine Kombination aus einer Unternehmensanleihe und dem Recht, die Obligation während der Laufzeit in Aktien zu umwandeln. Anleger wandeln nur dann um, wenn der Aktienkurs innerhalb der Wandlungsfrist entsprechend hoch ist. Das Unternehmen hat dann den Vorteil, die Anleihe in Aktien statt in Bargeld begleichen zu können. Diese Kombination aus Anleihe und Aktie ändert ständig ihren Charakter, je nach Zinsniveau, Aktienkurs, Schuldnerbonität und den Kursschwankungen (Volatilität). "Wenn der Aktienkurs fällt, verliert auch die Wandelanleihe an Wert", sagt Ulf Becker, Partner der unabhängigen Vermögensverwaltung Lupus Alpha. "Denn damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Investor das Wandlungsrecht in der Frist ausübt und damit der potenzielle Mehrwert gegenüber dem Anleihezins." Preisbestimmend für die Wandelanleihe ist auch die Bonität des Emittenten. Je schlechter die ausfällt, desto niedriger notiert das Wertpapier. Viele Investoren isolieren deshalb beide Risiken, indem sie eine Kreditausfallversicherung (CDS) zeichnen und die Aktie auf Termin verkaufen.

Diese verhältnismäßig hohe Komplexität der Produkte macht Wandelanleihen zu einem Spezialmarkt, der - gerade jetzt - wenig liquide ist. Das Emissionsvolumen von Wandelanleihen erreichte 2007 laut der Londoner Fondsgesellschaft F&C Management mit rund 200 Milliarden Dollar ein Rekordhoch. Emittiert wurden Wandelanleihen vor allem in den USA von Banken und Immobilienunternehmen, Sparten also, die im Zentrum der Finanzkrise stehen.

In den letzten Jahren sind viele Neuemissionen auch an Hedgefonds verkauft worden, die zum Beispiel im Rahmen von Arbitrage-Strategien Preisungleichgewichte zwischen Wandelanleihen und Aktien genutzt haben. „Arbitragegeschäfte wurden gemacht, weil die Wandelanleihe nach Isolierung der Einzelrisiken zu günstig war", sagt Becker. Doch das sei nur am Anfang gelungen. "Als immer mehr Akteure in den Markt kamen, wurden diese Ineffizienzen immer kleiner. Also musste man entweder mehr auf Kredit spekulieren, dass es sich lohnt, oder die Aktien und Kreditrisiken offen lassen", so Becker. Diese erhöhte Risikobereitschaft der Hedgefonds brachte den Markt schließlich in diese Turbulenzen, die zu Verlusten von 30 Prozent und mehr führten.

Nun herrscht Optimismus für eine gebeutelte Anlageklasse mitten in der Krise. "Die Durchschnittsrendite unserer Anleihen beträgt rund 13 Prozent", so Flossbach. "Selbst wenn fünf Prozent der Anleihen ausfallen, ergibt sich immer noch eine ordentliche Rendite."

Mitarbeiter in einem Werk von Heidelberger Druckmaschinen: Die Wandelanleihe des Unternehmens wirft auf ein Jahr rund 32 Prozent Rendite ab. Foto: dpa

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Helfer helfen steuerfrei

Der Staat unterstützt manche Ehrenamtliche bei ihrer Arbeit - der Fiskus erhebt darauf keine Abgaben

Von Marco Völklein

München - Am Weihnachtstag saß Martin Burgmeier bei seinen Schwiegereltern beim Kaffee. Man plauderte, schließlich kam das Gespräch auf ehrenamtliches Engagement. Martin Burgmeier erzählte, dass er darüber nachdenke, sich künftig ehrenamtlich zu betätigen - so wie es bundesweit mehr als 23 Millionen Menschen tun. "Das bringt doch nichts", sagte sein Schwiegervater. "Am Ende zahlst du nur drauf, weil du auch noch Steuern abführen musst, wenn die dir eine Aufwandsentschädigung zahlen." Das war für Martin Burgmeier neu. Er fragte die SZ: Stimmt das denn?

"Es gab zumindest mal den Plan der 16 Bundesländer", erläutert Peter Fastenrath, Leiter der Abteilung Steuern bei der Johanniter-Unfallhilfe (JUH) in Berlin. Paragraph 3, Absatz 26 des Einkommensteuergesetzes sieht eine "Übungsleiterpauschale" in Höhe von 2100 Euro im Jahr vor. Das heißt: Hilfsorganisationen und andere gemeinnützige Vereine können ihren ehrenamtlichen Helfern monatlich 175 Euro Aufwandsentschädigung zahlen, ohne dass dafür Steuern oder Sozialabgaben fällig sind. Bedingung ist aber, dass die ehrenamtliche Tätigkeit zum Beispiel eine pädagogische oder pflegerische Funktion darstellt. Strittig war nun, ob auch der Einsatz von ehrenamtlichen Rettungssanitätern eine pflegende Tätigkeit ist.

Die Bundes- und viele Landesregierungen stellten sich auf den Standpunkt, nur wenn der Sanitäter im Einsatz sei, übe er eine pflegerische Tätigkeit aus; sitzt er auf der Rettungswache herum und wartet auf den Alarm, ist dies keine Pflegeleistung - für diese Zeit sollten Steuern und Sozialabgaben abgeführt werden. Für Rettungsdienste wie das Rote Kreuz, den Malteser Hilfsdienst oder eben die JUH hätte dies Folgen gehabt.

Insbesondere am Wochenende leisten viele Ehrenamtliche auf den Rettungswachen 24-Stunden- oder auch 48-Stunden-Schichten "und erbringen damit ganz wichtige Dienste", sagt JUH-Mann Fastenrath. Pauschal wollte der Fiskus davon ausgehen, dass 30 Prozent der Zeit als Bereitschaft auf der Rettungswache verbracht werden, 70 Prozent im Einsatz. 30 Prozent der Aufwandsentschädigung, die ohnehin "nur 20 oder 30 Euro pro Schicht betragen", so Fastenrath, hätten die Helfer versteuern müssen. Sozialabgaben wären auch fällig geworden. "Das hätte außerdem einen riesigen Verwaltungsaufwand für uns bedeutet."

Die Hilfsorganisationen protestierten. "Unsere Ehrenamtlichen wollen ja kein Entgelt für ihre Leistung, aber es kann doch nicht sein, dass sie für ihre gemeinnützige Arbeit auch noch zahlen müssen", hatte etwa die Präsidentin des Bayerischen Roten Kreuzes, Christa Prinzessin von Thurn und Taxis, geschimpft. In einem offiziellen Schreiben kassierten das Bundesfinanzministerium und die Länder vor kurzem diese Pläne. Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Helfer im Rettungsdienst bleiben künftig von Steuern und Sozialabgaben befreit. Fastenrath: "Das lässt uns alle aufatmen."

Allerdings greift der Fiskus in anderen Bereichen ein. Bei Behindertenfahrdiensten zum Beispiel ist es so, dass der Fahrer keine steuerfreie Aufwandsentschädigung erhält - "er fährt ja, er kümmert sich ja nicht um den behinderten Fahrgast", erläutert der JUH-Mann. Sitzt dagegen ein Ehrenamtlicher im Fond des Kleinbusses und betreut dort die Behinderten, ist dessen Aufwandsentschädigung steuerfrei. Die JUH-Ortsverbände machen es daher oft so, dass ein Zivildienstleistender oder ein festangestellter Mitarbeiter den Kleinbus fährt, ein ehrenamtlicher Helfer die Betreuungsarbeit übernimmt. "Oder sind zwei Ehrenamtliche im Einsatz, wird jeweils zur Hälfte die Steuer- und Sozialabgabenfreiheit in Anspruch genommen", sagt Fastenrath. Je nach dem, für welche ehrenamtliche Tätigkeit sich Martin Burgmeier also entscheiden sollte - sein Schwiegervater könnte recht behalten.

Rettungsdienste wie das Rote Kreuz sind rund um die Uhr im Einsatz. Der Bund wollte die Aufwandsentschädigung der Ehrenamtlichen zum Teil versteuern. oh

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