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Neues Studium an der Pleite-Uni

Von Martin Groß

Die Betriebswirtschaftslehre (BWL) in Deutschland steht vor einer Revolution. Im Studium sollen bundesweit gleich zwei neue Pflichtfächer eingeführt

werden: "Bad Banking" und "Pleite machen - und dann einfach irgendwo Fördergeld beantragen". So können Zehntausende BWL-Nachwuchskräfte doch noch auf unerwartete Karrierechancen hoffen, dem üblichen Krisengerede zum Trotz.

Die Privat-Universität Witten-Herdecke, vor einigen Wochen selbst mit Staatsgeld vor dem Untergang bewahrt, soll die beiden neuen Fächer im Auftrag der Kultusministerkonferenz entwickeln. "Wir verfügen bekanntlich über hinreichende Erfahrung im Umgang mit diesen neuen, toxischen Marktkräften", sagt Linus von Bickenfeldt, 24, BWL-Studentensprecher in Witten. Mit traurigem Blick erinnert er sich an das monatelange Drama um das Weiterbestehen seiner Uni. "Es war eine schlimme Zeit, jeder hier musste sich Sorgen um seinen Zweitwagen machen."

Beim Gedanken an die Zukunft hellt sich von Bickenfeldts Gesicht schnell wieder auf. "Vor allem freuen wir uns, dass wir das Lernmodul ,Bad Banking' ganz eigenverantwortlich entwickeln dürfen." Die aktuelle Diskussion um das Thema Bad Bank werde von

wenig Wissen und viel Hektik beherrscht. "Der Staat ist doch mit der Entwicklung einer Bad Bank total

überfordert. Bad Banking sollte von vornherein aus privatwirtschaftlicher Perspektive, also unserer, gesehen werden. Der Staat hat sich da rauszuhalten", sagt er. Seine Uni werde demnächst die Best-Practice-Bad-Bank der Zukunft vorstellen.

Beratung in der Toxic Lounge

Ein Wettbewerb unter den Studenten - von Bickenfeldt: "Bei uns geht gar nichts ohne Wettbewerb" - soll die beste Bad Bank ermitteln. "Wir haben den Wettbewerb auch schon richtig getauft: ,Bad Bank - Billing the Future'. Was so viel heißt wie: Rechnungen der Zukunft." Die studentischen Arbeitsgruppen befassen sich zum Beispiel mit der Frage, wie das Filialnetz einer Bad Bank aussehen könnte. "Und wie soll so eine Bad-Bank-Filiale ausgestattet sein? Wie sollen die Beratungsräume, die wir im Moment Toxic Lounges nennen, aussehen? Holzvertäfelung, Marmor, Chrom, Gemälde, Porzellansammlungen oder doch lieber der schlanke Look, alles nur Resopal und Billigfurnier?", fragt von Bickenfeldt.

Nicht nur in Fragen der Einrichtung erhoffen sich die Studenten Anregungen von Heinz Halde, ehemaliges Vorstandsmitglied der Notenbank der DDR. "War ganz schön schwierig, den zu finden", sagt von Bickenfeldt, und dann lächelt er ein bisschen, als er weiter erzählt. "Wir haben ihn als Verkäufer in einem Baumarkt in Frankfurt/Oder ausfindig gemacht. Wir mussten auslosen, wer ihn von da abholt. Aber wir sind sehr froh, dass wir Halde als erfahrenen DDR-Banker gewonnen haben. Er ist ein wichtiger Berater für unser Projekt. Die DDR-Notenbank war schließlich mal die beste Bad Bank der Welt."

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Weltbörsen: Wall Street im Minus

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Erosion einer Kandidatin

Nur Gesine Schwan sagt, sie habe Horst Köhler nicht kritisiert

Von Nico Fried

Berlin - Oh ja, alles sehr schön ausgedrückt; sehr eloquent die Kandidatin, gar keine Frage. Diese Frau weiß mit Worten umzugehen. Manche Erkenntnis zum Verhältnis von Gesellschaft und Politik ist vielleicht ein bisschen banal ("Es reicht nicht, nur zu meckern"), aber Gesine Schwan begründet das schon alles kenntnisreich und formuliert es sehr prägnant. Mal stützt sie sich auf "eine Vielzahl qualitativer Untersuchungen", die sie selbst als Professorin zu einem Thema gemacht hat, mal zitiert sie einen deutschen Politikwissenschaftler, mal einen französischen Schriftsteller. Wie eine Köchin, die zur geschmacklichen Abrundung noch ein wenig Schnittlauch über ihre Speisen raspelt, so träufelt Gesine Schwan bisweilen noch etwas extra Bildung in ihre Worte, zum Beispiel den Unterschied zwischen Mut und Tollkühnheit im Aristotelischen Sinne. Sie erläutert das nicht weiter, sie setzt es voraus.

Donnerstagabend in der Berliner Urania, einer Art Volkshochschule unweit des Kurfürstendamms, sehr traditionsreich. Die Präsidentschaftsbewerberin und der Parteivorsitzende der SPD, Franz Müntefering, treffen an diesem Abend auf beachtliches Interesse, rund 400 Besucher füllen den sehr großen Saal immerhin zu mehr als der Hälfte. Gesine Schwan und der Journalist Christian Geyer haben gemeinsam ein Buch geschrieben, mit dessen Hilfe man, wie der Co-Autor sinngemäß sagt, das Denken von Gesine Schwan verstehen könne. Und das möchte man ja sehr gerne, zumindest an einem Punkt, nur wird einem da das Buch nichts nützen.

Seit dem Morgen hängt an den Kiosken Die Zeit, in der zu lesen ist, wie die Bewerberin um das Präsidentenamt den Amtsinhaber kritisiert. "Der Graben zwischen Politik und Gesellschaft wird in der aktuellen Amtsführung eher vertieft als überbrückt", sagt Schwan. Horst Köhler, so ist da als weiteres Zitat zu lesen, nehme "eine Erosion der Demokratie in Kauf". Politiker in CDU und CSU hat das empört, was man zur Not in der Rubrik politisches Getöse ablegen kann.

Für Gesine Schwan viel unangenehmer ist, dass auch Menschen diese Worte als Kritik an Köhler verstanden haben, die ihr gewogener sind: ihr Co-Autor Geyer zum Beispiel, der die mediale Diskussion, "ob man den Amtsinhaber kritisieren darf", in seiner kurzen Rede ausdrücklich erwähnt. Oder der Kanzlerkandidat der SPD, Frank-Walter Steinmeier, der zu Schwans Kritik sagt, diese sei "ihr gutes Recht". Oder auch die Moderatorin in der Urania, die zu Schwan sagt: "Sie haben Köhler vorgeworfen . . ."

Nur Gesine Schwan will plötzlich etwas nicht getan haben, was übrigens gar nicht verboten ist. Sie schüttelt den Kopf und brummelt etwas, was nicht genau zu verstehen ist, das aber klingt wie der Hinweis, sie habe Köhler nichts vorgeworfen. Es gehe ihr generell um die Kluft zwischen der Gesellschaft und denen, die Politik betrieben, sagt Schwan. So ähnlich hat sie es zuvor schon in einer Presseerklärung geschrieben: Ihre Sorge sei, dass "insgesamt" zu wenig getan werde, um diese Kluft zu überwinden - also nicht nur im Präsidialamt, sondern quasi in ganz Deutschland. Wie Gesine Schwan ihre nachlesbare Kritik an Köhler nun zu vernebeln trachtet, das ist durchaus als tollkühn zu bezeichnen, wenn auch vielleicht nicht im Aristotelischen Sinne. Oder als dreist, im ganz banalen Sinne.

Müntefering sitzt dabei, als Schwan sich windet. Er könnte jetzt etwas dazu sagen, aber er sagt nichts. Das macht er manchmal, wenn er mit den Problemen anderer nichts zu tun haben will. Nur etwas später, das Gespräch dreht sich längst um ein anderes Thema, sagt Müntefering: "Ich finde, dass Bundespräsident Köhler seine Arbeit gut macht, aber zur Demokratie gehört der Wechsel." Deshalb solle Schwan Bundespräsidentin werden. Das klingt wie ein eher funktionales Argument, dessen Wertigkeit man mit Müntefering zudem gerne noch mal besprechen würde, wenn es im Herbst um die Zukunft der SPD nach elf Jahren in der Regierung geht.

Kurt Beck, der frühere Parteichef, dem die SPD die Kandidatin Schwan mit zu verdanken hat, versprach bei ihrer Präsentation im Mai 2008, man werde "selbstverständlich keinen Wahlkampf gegen den Bundespräsidenten führen". Schwan selbst kündigte damals an: "Ich werde mich nicht äußern zum gegenwärtigen Bundespräsidenten." Im übrigen wolle sie einen gesellschaftlichen Diskurs führen, "mit intellektueller Redlichkeit". In welchem Sinne auch immer.

"Meckern reicht nicht": Gesine Schwan bei der Vorstellung ihres neuen Buchs in Berlin. Foto: Getty Images

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Die List macht den Retter

Mit Mut und Witz und Hakenkreuz am Revers beschützte John Rabe 1937 in Nanking eine Viertelmillion Menschen vor der japanischen Armee. In China wird er bis heute verehrt, in Deutschland war er fast vergessen. Nun ist er der Held eines großen Kinofilms

Von Carlos Widmann

Berlin - Beim Mongolen, Ecke An der Rehwiese und Spanische Allee, schmeckt Krosse Ente Süßsauer genau wie beim Chinesen. Aber der Mongole ist nur fünfzig Meter von Ursi Reinhardts Wohnung in Nikolassee entfernt: John Rabes Enkelin braucht nicht lange den Rollator vor sich her zu schieben, um in ihr Stammlokal zu gelangen. Die alte Dame mit den wachen hellen Augen kommt gerne, auch wenn sie nicht unbedingt scharf darauf ist, über ihren Großvater ausgefragt zu werden - und darüber, dass sie ihm demnächst im Kino begegnen wird.

Immerhin liegt John Rabe fast sechzig Jahre unter der Erde. Ursula Reinhardt, seine in Ostasien geborene Enkelin, hatte sich 1950, im zertrümmerten Berlin, auf dem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisfriedhof von ihm verabschiedet. Jetzt aber, da sie selber 78 ist, wird der Opa auf der Berlinale auferstehen. Springlebendig, überlebensgroß, herzbewegend: John Rabe - in Gestalt von Ulrich Tukur.

17 Millionen Euro und eine Star-Besetzung wurden investiert in diese riskante deutsch-chinesisch-französische Produktion, die einen für Europäer nichtssagenden Titel trägt - schlicht "John Rabe". Neben dem Hauptdarsteller Tukur zogen Daniel Brühl, Dagmar Manzel, Steve Buscemi, Anne Consigny, Jinchu Zhang und Kagawa Teruyuki auf Monate in den Smog von Schanghai, wo mit Hollywood-Aufwand gedreht wurde. Der Regisseur Florian Gallenberger, 35, hat das Drehbuch selbst verfasst - ein diplomatischer Drahtseilakt, weil das Regime in Peking seine eigene Version der Geschichte wünscht. Der Münchner Gallenberger ist international begehrt, seitdem er in Los Angeles den Kurzfilm-Oscar erhielt.

Dass ein Spielfilm wie ihr Großvater heißt, ist für Ursi Reinhardt so überraschend nicht. In ihrer Eigenschaft als Enkelin wurde sie schon nach Peking, Schanghai, Tokio und New York eingeladen; sie weiß, dass der Name Rabe bei Millionen einen Klang hat - überall, wo es Chinesen gibt. In der Memorial Hall von Nanking (heute Nanjing), die von Chinas Machthabern wie das Jad-Vaschem-Museum in Jerusalem gedacht ist, steht ein Rabe-Denkmal. Sein Grabstein wurde aus Berlin eingeflogen, sein Haus ist eine unantastbare Reliquie.

Der Hamburger Kapitänssohn, der 1908 nach China zog und zum Chef der Siemens-Niederlassung aufstieg, war ein großer, kauziger, rührender Held. Als Japans Kaiserliche Armee 1937 in China einfiel und sich die damalige Hauptstadt Nanking mit sadistischer Gewalt unterwarf, stellte Rabe sich den Mordbrennern in den Weg. Eine Handvoll mutiger Amerikaner und Europäer schloss sich ihm an, und gemeinsam gelang ihnen die Rettung einer Viertelmillion Chinesen. Da Chinas Regierung und alle Amtsträger geflüchtet waren, wurde der Deutsche de facto Bürgermeister der Riesenstadt. Wegen der Chronik, die Rabe nachts während des wochenlangen Massakers schrieb, ist er Pekings Kronzeuge gegen Japan. In ihrem Bestseller "The Rape of Nanking" nannte ihn Iris Chang den "Oskar Schindler von China".

Ulrich Tukur musste sich in Schanghai eine Glatze und ein Schnurrbärtchen zulegen. "Die Maskenbildner waren erstklassig", findet Ursula Reinhardt, die einige Standfotos kennt: "Die Ähnlichkeit mit Rabe ist beklemmend." Wie mag die Enkelin sich erst im Kino fühlen, wenn sie den Wiedergänger ihres Großvaters in Aktion erlebt? Denn es muss ja ans Herz greifen, wie Rabe im Bombenhagel das Siemens-Tor öffnet und verängstigte Massen einlässt; wie er mit einem Lastwagen voll rettendem Reis per Hitlergruß eine Militärsperre überwindet; wie er am Yangtse-Ufer erschüttert die Leichenhaufen entdeckt, sich Zutritt zum japanischen Oberkommando verschafft, gegen die Gräuel protestiert . . .

"Dabei war er ganz schüchtern", sagt die Enkelin. "Im Kinowirbel wäre ihm so unbehaglich wie mir." Aber Ursula Reinhardt hat Rabes Ruhm ja mitverschuldet: Sie holte seine Tagebücher aus der Versenkung. "Ich selbst konnte das nicht lesen, es hätte mich an Berlin erinnert - erst unter den Bomben, dann unter den Russen." Erwin Wickert hat Rabes Chronik 1997 als Buch herausgegeben. Der Vater des Fernsehmoderators war 1936, als trampender Student, bei Rabe in Nanking gewesen - und ein halbes Jahrhundert später Botschafter in Peking. In Deutschland fand "Der gute Deutsche von Nanking" ein eher verlegenes Echo, die New York Times aber schwärmte: "Ein Nazi, der sein Hakenkreuz benutzt, um Menschen zu retten - unglaublich packend." Das mit dem Hakenkreuz stimmt, aber "Nazi" ist Unfug.

"Unablässig rollen Rikschas, Karren, Autos und Lastwagen hoch beladen zur Stadt hinaus. Ich überweise das Firmengeld nach Hankow. Alle Angestellten bekommen ihr Gehalt, damit sie Lebensmittel kaufen können, bevor die letzten Läden schließen. Die Diener gehen mit entsetzten Augen umher; man glaubt, dass nun auch ich auf und davon gehe." Ganz subjektiv registriert Rabe, was sich abspielt, als die Japaner kommen. Die Gräuel, die vielen Völkern Europas bevorstehen, haben in Ostasien Generalprobe: Genickschuss für Gefangene, Frauen vergewaltigt und gepfählt, Säuglinge auf Bajonette gespießt, Zivilisten lebend verbrannt. Im Dezember 1937 ist Nanking, das 1,3 Millionen Einwohner hatte, wie von der Pest befallen. Arme und Greise, Frauen und Kinder und führungslose Soldaten sitzen in der Falle. Generalissimus Tschiang Kai-schek, sein Kabinett, seine Offiziere, das diplomatische Korps und die Oberschicht sind geflohen.

Doch Mister Rabe - 55, Diabetiker, verheiratet, zwei Kinder - will bleiben. Vielen mag er als wandelnder Prototyp des "Dritten Reiches" erscheinen: groß, stark, glatzköpfig, mit einem verdächtigen Bärtchen unter der Nase und dem Hang zu "oberfaulen Witzen", wie er selbstkritisch anmerkt. John Heinrich Detlev Rabe, geboren 1882, ist noch in der Welt der Buddenbrooks aufgewachsen. Lehrling, dann Gehilfe in einem Handelskontor, zieht er, kaum volljährig, für eine britische Firma nach Afrika. 1908 treibt es ihn nach Ostasien, wo er 30 Jahre bleibt und für Siemens Turbinen, Telefonanlagen und Röntgengeräte einführt. Er beherrscht das Englische makellos und ist ein Genießer des Pidgin-English, Chinas drolliger lingua franca.

Einfache Chinesen halten Rabe für mächtig. Sein Haus steht hinter hohen Mauern, er hat viele Diener und einen 500 Quadratmeter großen Garten. Vor seinem Auto sinken Menschen weinend in die Knie und schlagen mit der Stirn gegen den Boden, bis es blutet. Der Schmerz soll den Fremden rühren. "Es pocht an beiden Toren, Frauen und Kinder bitten flehentlich um Einlass. Da ich das Jammern nicht mit anhören kann, lasse ich alle herein." Nur kampierten da bei ihm schon "über hundert der Allerärmsten". Rabe lässt Unterstände schaufeln, Angestellte und Nachbarn dringen ein, bis für ihn selbst kein Platz mehr ist. "Granaten heulen, Bomben fallen näher, im Süden steht der Himmel in Flammen. Meine Gäste gehen zur Ruhe: dreißig schlafen im Büro, drei im Kohlenloch, acht Frauen und Kinder im Dienerklosett, der Rest in den Unterständen oder im Freien." Bald leben bei ihm 650 Chinesen.

Und in der Nähe entsteht die "Security Zone". Auf einer Quadratmeile kampiert bald eine Viertelmillion, die ein Internationales Komitee (Vorsitz: John H. D. Rabe) vor Cholera und Hunger bewahren will. Hauptsorge der Handvoll Ausländer aber ist es, die Menschen vor Japans Armee zu schützen. Durch seine bloße Existenz hat das Komitee massenhaft Leben gerettet, doch Rabes Tagebuch klingt wie ein schauriges Protokoll der Vergeblichkeit: "Sechs Personen getötet, die sich auf die Knie warfen und baten, ihre Töchter zu verschonen. Als die Alten erschossen waren, wurden die Mädchen vergewaltigt. Einem bleibt der Atem weg, wenn man Leichen findet, denen Bambusrohre in die Vagina getrieben wurden."

Seine Motive kennt Rabe nicht. Im Tagebuch widerspricht er sich: "Nicht aus Abenteuerlust, sondern zum Schutz meines Eigentums und der Siemens-Interessen" bleibe er. Was er gleich revidiert: "Natürlich erwartet die Firma nicht, dass ich mich für sie totschießen lasse. Ich will auch mein Leben nicht für Sachwerte aufs Spiel setzen." Rabe bleibt, weil er nicht anders kann, weil er "seine" Chinesen dem Terror nicht ausliefern will. Über die Japaner hat er keine Illusionen: Die Einwohner könnten "in Massen hingeschlachtet werden". Also bleibt er, mit aberwitzigen Folgen: Chinesische Soldaten lassen sich von ihm entwaffnen, japanische Vergewaltiger geben, irritiert vom zeternden Deutschen, oft ihre Beute frei. Der Vergleich mit Schindler, dem Judenretter von Krakau, liegt nahe. Doch Rabe war eher sein Gegentyp. Gemeinsam hatten sie nur das Hakenkreuz am Revers.

Oskar Schindler aus Zwittau war jünger als Rabe, ein Draufgänger, Motorrad-Rennfahrer und Frauenheld, der sich den Sudeten-Nazis angeschlossen hatte, weil es gut fürs Geschäft war. Er zog hinter der SS in Polen ein, um mit jüdischen Arbeitskräften am Krieg zu verdienen. Schindler gilt als Beispiel dafür, dass in einer Tyrannei auch der Durchschnittsmensch - hatte er nur etwas Anstand und Courage im Leib - für bedrohte Mitmenschen eintreten konnte. Das Demonstrationsobjekt ist falsch gewählt: Durchschnitt war Schindler nie, weder als Nutznießer noch als Retter von Juden. Das Etikett des gewöhnlichen Deutschen passt weit eher auf John Rabe: vom Kaiserreich geprägt, penibel korrekt, firmen- und vaterlandstreu bis in die Knochen.

Nur sein Humor, Marke unverwüstlich, sprengt das Klischee. Da täglich Fliegeralarm ist, bringt Rabe am Bombenunterstand das Schild an: "Bürostunden 21 bis 23 Uhr." Er lässt sich martialisch am Telefon abbilden, einen britischen Stahlhelm auf dem Kopf, Feldstecher um den Hals. Als die Polizei einen Dieb bringt, wird sein Komitee zum Gericht: "Wir verurteilen ihn zum Tode, begnadigen ihn zu 24 Stunden Haft und lassen ihn mangels Arrestlokal laufen." Der Siemens-Mann dichtet steinerweichend: "Auch tun Splitter aus der Höh' / wenn sie treffen, mächtig weh . . . / Quatsch nich', Krause! Denke schneller! / Rein mit dir in'n Heldenkeller!" Einem am Gesäß Verwundeten wird der "schussfeste Hosenbandorden" verliehen - ein Strumpfhalter mit einem Wappen gekreuzter Gewehre. Still befriedigt notiert er: "Alle Welt sagt, das kann nur Rabe verbrochen haben."

Wodurch vermag dieser Kauz sich im Wüten der Gewalt ein Herz zu bewahren? Paternalismus, gewiss: "Unsere Angestellten sehen nur auf den ,Master'. Ich kann ihr Vertrauen nicht enttäuschen." Nur gibt seine Nächstenliebe sich mit dem Nächsten nicht zufrieden. Sie greift nach dem Übernächsten und dem dahinter. "Meine Chinesen" sind erst die Angestellten mit Familien, dann Hunderte Hilfesuchende, dann Hunderttausende, die verrückt vor Angst seine Nähe suchen.

Dass er als Schutzengel ins Gemetzel eingreifen kann, hat freilich mit dem Hakenkreuz zu tun. Rabe trägt bald weithin sichtbar am Oberarm besagte Insignie. Wohl nirgends sonst auf der Welt ist das Nazi-Symbol so schamlos für gute Taten missbraucht worden. Ja, die Retter-Rolle fällt Rabe zu, weil er "Pg.", Parteigenosse ist. Tokio und Berlin sind Verbündete, bei Kaiser Hirohitos Generälen ist mit der Swastika eher Respekt zu gewinnen als mit dem Sternenbanner. Wenn die Westler hier etwas erreichen wollen, brauchen sie als Chairman einen German. Einen mit Hakenkreuz.

Parteigenosse Rabe hält sich irrtümlich für einen Nazi. Das Reich, das er nicht kennt, erklärt er so: "Wir sind eine Regierung der Arbeiter. Wir lassen die Armen nicht im Stich!" Dass nur Wohlhabende fliehen können, empört ihn: "Ich wollte, bei Gott, Hitler würde uns helfen, endlich die neutrale Zone zu errichten." Er notiert: "Reverend Mills hält eine schöne Predigt, in der er die Friedensbestrebungen des Führers erwähnt." Hitlers wahres Gesicht war 1937 noch nicht weltweit durch "Kristallnacht" und deutsche Panzer in Prag enthüllt. Einmal erscheint es, ein Telegramm Rabes habe gewirkt - die Japaner unterbrechen die Bombardierungen. Ein US-Missionar ist beeindruckt: Rabe stecke "ganz oben drin in Nazi-Kreisen". In Wahrheit hätte seine Naivität ihn für jede Parteikarriere disqualifiziert. Bald kabelt er wieder nach Berlin: ,,unterzeichneter amtswalter der ortsgruppe nanking bittet seinen fuehrer um guetige fuersprache bei japanischer regierung. mit deutschem gruss rabe siemens-vertreter." Es gibt Missverständnisse, die auch nach siebzig Jahren ihre tragische Komik nicht verlieren. Ein heiliger Narr also, Parsifal im Business-Anzug? Rabe wäre ins Verderben gerannt, hätte er nicht auch den Hauptmann von Köpenick in sich gehabt: "Die Japaner hatten Mauserpistole und Bajonett, ich nur Parteiabzeichen und Hakenkreuzbinde. Den Mangel an Waffen ersetzte man durch herrisches Auftreten."

Ursprünglich war der früh verstorbene Ulrich Mühe als Rabe vorgesehen. Ulrich Tukur wirkt massiger und wohl echter. Bis zu fünf Kameras filmten die vermutlich heikelste Szene: Im simulierten Bombenangriff zieht Rabe aus dem Kofferraum eines Oldtimers etwas Schweres hervor, lässt es ausrollen und eiligst zu einem riesigen, waagrecht flatternden Tuch auseinanderziehen. Unter diesem makabren Zelt, der Hakenkreuzflagge, suchen terrorisierte Chinesen Schutz - und Japans Jagdbomber drehen ab.

Welch ein Filmstoff. Im Gourmetlokal "Terrine" lässt der Perfektionist Gallenberger die köstlichen Nano-Portionen auf dem Teller verwelken - so engagiert erzählt er vom "Dreh" in China. Aus Wickerts Tagebuch-Verschnitt hat er ein starkes, auf Emotion zielendes Filmskript destilliert und großzügig eine Liebesgeschichte dazu erfunden. Filmdramaturgie verträgt sich nicht unbedingt mit der historischen Genauigkeit, und Gallenberger hat als Filmkind schon in "Derrick" mitgewirkt. Im Schneideraum feilte er zuletzt am Happy End: Beim Abschied geht Rabe gerührt durch die Menge dankbarer Chinesen - und stößt auf eine Überraschung.

Da endet der Film, nicht die Biographie. Der Abspann erst enthüllt John Rabes ganzes Schicksal. Ulrich Tukur bedauerte es, seine Figur nicht bis zum Tod im Nachkriegs-Berlin einfach "weiterspielen" zu können. Denn das Leben dieses Filmhelden ist mehr als abendfüllend. In ihm spiegelt sich ein Jahrhundert, das keineswegs vergangen ist. In Berlin, wohin Rabe 1938 von Siemens versetzt wurde, hätte ihm "herrisches Auftreten" nichts genützt. Er machte dort weiter, als wäre in der Heimat alles in bester Ordnung: hielt Vorträge über die Kriegsgräuel des Nazi-Verbündeten Japan, setzte sich für China ein, schickte Berichte an den Führer - bis es an seiner Wohnungstür klopfte. Der Held von Nanking wurde abgeführt in die Prinz-Albrecht-Straße. Und bei der Gestapo war mit dem Hitlergruß kein Eindruck zu machen.

Siemens sorgte dafür, dass Rabe schnell frei kam und entzog ihn den Blicken des Regimes: zum Sachbearbeiter degradiert, wurde er nach Afghanistan entsandt, wo seine Weltläufigkeit bei der Heimführung deutscher Angestellter diente. Den Krieg überstand er klaglos in einem obskuren Job. Sein Tagebuch war längst verstummt - bis April 1945, als die Rote Armee in Berlin-Siemensstadt einzog. Da erinnerte dann einiges an Nanking:

"Ein siebzehnjähriges Mädchen, fünfmal vergewaltigt und dann erschossen. Im Quellweg die Frauen in einem Luftschutzkeller in Gegenwart ihrer Männer vergewaltigt. Herr Direktor Möller wurde erschossen in einer Garage aufgefunden. Herr Hofer soll seine ganze Familie und sich erschossen haben. Frau Freier wurde vergewaltigt, Frau Fischer und Frau Brechelt, da zu alt, beiseite gelassen. Frau Freier wird von uns aufgenommen. Wir sind wieder bei der letzten Brotscheibe angelangt. Alle Männer müssen auf Befehl der Antifaschistischen Zentralstelle um 7 Uhr zur Arbeit antreten. Vormittags erhalten wir Befehl, unsere Wohnung in drei Stunden zu räumen. Wir ziehen zu Borowski, Rappstraße 71."

Rabe, dem wohl erst bei der Gestapo dämmerte, was es mit dem NS-Staat auf sich hatte, musste die Entnazifizierung durchstehen. Seine Frau wog nur noch vierzig Kilo. Die geliebte Kunstsammlung aus China wurde Stück für Stück gegen Kartoffeln eingetauscht. Der unterernährte Rabe leistete Schwerarbeit, dann verlor er wegen Parteimitgliedschaft die Arbeitserlaubnis. Jene Deutschen, die nun dank der Sowjets tonangebend wurden, setzten ihm zu: "Bei der Antifa müssen sich alle Pg.'s und ihre Sippe - auch die Sippen von gefangenen, gefallenen oder vermissten Pg.'s - täglich melden."

Als Ursula Reinhardt mit dem Opa durch die Ruinen Berlins wanderte, bekam sie auch Tröstliches mit. Rabes humanitäre Leistung wurde bei der Entnazifizierung berücksichtigt; US-Missionare aus Nanking schickten ihm Care-Pakete; Tschiang Kai-schek bot ihm die Rückkehr nach China und eine hohe Rente an, wenn er vor dem Siegertribunal über Japans Kriegsgräuel aussage. Der total verarmte Rabe lehnte ab: Jedes Volk solle seine eigenen Verbrecher richten.

Die kleine Ursi hatte Rabe noch in Nanking besucht. Sie ist 1931 im mandschurischen Mukden geboren, das von Japan besetzt war, und wuchs in der Obhut einer chinesischen Amme auf. Der fernöstliche Background wirkte wohl nach, als die Vierzehnjährige in der Schule über die Massenmorde der Nazis belehrt wurde. Beim Trümmer-Spaziergang fragte sie den Opa mit kindlichem Ernst: "Müssen wir jetzt Selbstmord begehen, um unsere Ehre zu retten?" Da hat John Rabe sie mit traurigem Lächeln beruhigt.

Man vergleicht ihn mit Oskar Schindler, aber der Vergleich geht fehl

"Den Mangel an Waffen ersetzte man durch herrisches Auftreten"

Erst bei der Gestapo merkt er, was es mit dem NS-Staat auf sich hat

Groß, glatzköpfig, mit einem verdächtigen Bärtchen unter der Nase: Ulrich Tukur spielt John Rabe. Nächste Woche ist der Film auf der Berlinale zu sehen. Foto: dpa

"Ich kann ihr Vertrauen nicht enttäuschen": Als die chinesischen Amtsträger vor den Japanern flüchteten, blieb der deutsche Siemens-Vertreter John Rabe (links) in Nanking und bot den Bewohnern eine Zuflucht. Foto: Siemens Corporate Archives

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Die Verdienste des Herrn Zumwinkel

Es gibt keinen Grund, den früheren Postchef milde zu bestrafen

Für das Urteil im Steuerprozess gegen Ex-Postchef Klaus Zumwinkel ("Zumwinkel muss nicht ins Gefängnis", 27.Januar) zeigen Leser wenig Verständnis:

Die rhetorischen Figuren der "Zum-Winkel-Advokaten" ähneln auffallend den politisch abgestimmten Argumentationsfloskeln, wie sie seinerzeit bei Graf Lambsdorff  und anderen "verdienstvollen" Dienern unserer Republik zu hören waren. Ja, die politische Klasse weiß natürlich, welches Dank  sie Herrn Zumwinkel schuldet.  Hat er doch die politisch mit Fleiß betriebene Zerschlagung der, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, hervorragend funktionierenden und weltweit bewunderten "Deutschen Bundespost"  ganz im Sinne seiner Auftraggeber ausgeführt. Die  Steuervergehen stellen in der Tat lässliche Sünden gegenüber den  fiskalischen und sonstigen Folgelasten  dar, die mit der gelungenen Zerstörung eines effizienten Postsystems dem Bundesbürger entstanden sind. Sind denn bereits die Massenentlassungen und die Politik der Billiglöhne des "Betriebes Post" vergessen?  Dass die Verhökerung  wesentlicher Teile des Volksvermögens, wie sie die Post und die Bahn darstellt, ungestraft und sogar als strafmildernde Tugend betrachtet wird, dies ist allerdings Ausdruck eines erschreckenden  Verfalls unseres politischen und allgemeinen Rechtsbewusstseins. Dr. Reinhard Baden

Tübingen

In anderen

Sphären

Das ist ja schön, dass Herr Zumwinkel den "Fehler seines Lebens" einsieht und auch noch einen Schlussstrich unter seine Straftaten ziehen will. Aber ich lese kein Wort darüber, dass er sich bei den Menschen, bei der Gesellschaft, entschuldigt, denen er seine Steuern vorenthalten wollte. Und so kreist er wie all die anderen, die unser Geld verzockt haben, nur um sich selbst. Der Bezug zu den ganz normal arbeitenden Menschen ist diesen Herren schon längst verloren gegangen. Monika Ried

Germering

Wo bleibt

die Abschreckung?

Die Begründung für den Ausgang des Zumwinkel-Prozesses mag juristisch korrekt sein. Für den außenstehenden Laien bleibt sie dennoch höchst fragwürdig. Denn wenn man ein Vergehen nach der "Lebensleistung" des Angeklagten und nicht mehr neutral bewertet, dann dürfte künftig kaum noch eine reiche Person ohne starke Strafmilderung verurteilt werden. Die Folge ist, dass für potentielle Nachahmer des ehemaligen Postchefs der Abschreckungseffekt entfällt, ihr Geld nicht auch in Steueroasen zu verstecken. Ein verheerendes Signal, das die Richter in ihrer Urteilsfindung übersehen haben! Rasmus Ph. Helt

Hamburg

Ein Täter

ohne Reue

Klaus Zumwinkel hat seine Liechtensteingeschäfte als den größten Fehler seines Lebens bezeichnet und offenbar als ein Zeichen tätiger Reue nicht nur die seit 2001 hinterzogene Steuer von etwa einer Million Euro nachgezahlt, sondern den in den letzten zehn Jahren entstandenen Gesamtschaden von 3,9 Millionen Euro. Rein formal musste er das nicht, alles vor 2001 war verjährt. So ein reuiger Sünder könnte man denken, würde man nicht auch lesen, dass Herr Zumwinkel schon seit 1986 Steuern hinterzogen hat. Wenn er wirklich so große Reue empfände, wie er offenbar vorgibt, dann hätte es ihm doch eine Ehrensache sein müssen, die gesamte hinterzogene Steuer samt Zins und Zinseszins an den Fiskus zu zahlen. Dr. Hans Becker

München

Die Großen

lässt man laufen

Meine Frau, Altenpflegerin, reichte ihre Steuererklärung ein. Diese wurde von einem ehemaligen Finanzbeamten erstellt. Es wurde festgestellt, dass etwas nicht korrekt war. Meine Frau wurde mit einer für sie hohen Geldstrafe belegt, die sie in Monatsraten abzahlen musste. Begründung: "Sie hätten prüfen müssen, was Sie unterschreiben." Was ich daraus schließe: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Nein, wir Bürger haben zu unserer Führung kein Vertrauen mehr, kein Vertrauen zu deren Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Das sind für unsere Führenden überholte Begriffe, über die sie nur noch lächeln können. Karl Vogt

Wolfratshausen

Gedanken

eines Häftlings

Ich bin Strafgefangener der JVA Aachen, bin wegen schweren Raubes zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt und seit etwa zwei Jahren in Haft. Vor Gericht legte ich ein umfassendes Geständnis ab, sah und sehe mein Fehlverhalten ein und stelle mich meiner Schuld. Ich glaube mir eine Meinung bilden zu können, was Schuld, Reue und Buße ganz persönlich für einen Straftäter bedeutet, auch was die Auseinandersetzung darüber im Vollzug - der Zelle - betrifft. Herrn Zumwinkel aber bleibt eine Auseinandersetzung mit seiner Straftat, seiner Person, seinem Charakter, all das, was jeden Straftäter im Vollzug erwartet, erspart.

Ich lernte während meiner bisherigen Haft viele junge Männen kennen, die wegen Schwarzfahrens weggesperrt wurden. Einer musste wegen einer Geldstrafe von 50 Euro zehn Tage in die Zelle. Die Verfahrenskosten betrugen 75 Euro. Welch ein Segen, wenn man sich da herauskaufen kann. Er konnte es aber nicht, verlor Job und Freundin. Dies ist leider die Realität in unserem Rechtssystem - das Gleichheitsprinzip gilt vor Gericht nicht. Sven Völker

Aachen

Wie viel Reue empfindet der Ex-Vorstandschef der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel? Foto: dpa

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Der Lebensraum der Rehe

Wie sinnvoll ist die Jagd?

Tierbestände regulieren sich auf natürliche Weise, das ist keine neue Erkenntnis . Die Ergebnisse des Münchner Zoologen Josef Reichholf ("Hegen und schießen", 28. Januar) bestätigen einzig die Grundgesetzmäßigkeiten zur Wachstumsdynamik von Tierpopulationen. Damit lässt sich aber nicht die Überflüssigkeit der Jagd begründen. In nicht bejagten Gebieten und bei fehlenden natürlichen Prädatoren werden Wildtiere maßgeblich durch das vorhandene Lebensraumangebot begrenzt. Bei ungestörter Entwicklung erreichen Populationen schnell eine Kapazitätsgrenze. Die Folgen dieser maximalen Auslastung des Lebensraumes sind geringere Vermehrungsraten, schlechtere körperliche Konstitution, höhere Krankheitsanfälligkeit und vermehrter Stress unter den Wildtieren. Die angeführte Schlussfolgerung, durch die Jagd vermehrt sich das Wild stärker als unter "natürlichen" Bedingungen, ist gerade unter diesen Gesichtspunkten eine Bestätigung für die Jagd. Denn durch die Reduktion der Populationen auf ein lebensraumangepasstes Maß kehren sich die genannten negativen Folgen um.

Der Einfluss stark überhöhter pflanzenfressender Wildtierbestände auf den Lebensraum Wald ist heute schon enorm. Besonders seltene Bäume werden selektiv verbissen. Geschieht dies über längere Zeiträume, entsteht eine Artenverarmung, die das zukünftige Reaktionsvermögen unsere Wälder gefährden kann. Das Argument des Rostocker Zoologen Ragnar Kinzelbach, dass "wenn man die Rehe nicht jagen würde, würden sie sich nicht so sehr im Wald aufhalten und dort alles anknabbern", ist falsch. Rehe sind im Gegensatz zum Rothirsch klassische Waldtiere und perfekt auf das Leben im dichten Unterholz angepasst. Das "Anknabbern" von Knospen ist nicht eine Folge der Bejagung, sondern liegt einzig in der Ernährungsphysiologie des Rehwildes begründet.

Tobias Stichel

Göttingen

Relikte aus der Zeit

des Neandertalers

"Viele Politiker sind passionierte Jäger": Dieser Satz ist der Knackpunkt. Im Politikalltag meistens nicht mit allzu vielen Erfolgserlebnissen gesegnet, finden sie archaische Selbstverwirklichung im Jagdgeschehen. Jagd ist ein ständiger, schwerer Eingriff in das Gleichgewicht der Natur - ein die Umwelt schädigendes, schlimmes Überbleibsel unbewältigter Neandertal-Mentalität, das Bundespräsident Theodor Heuss als eine "Nebenform menschlicher Geisteskrankheit" bezeichnete. Der seinen Killerinstinkt mittlerweile beherrschende Normalbürger steht verständnislos wie einst der Altbundespräsident vor dieser mit viel Brimborium verbrämten (Jagd-) Lust und Freude am Töten.

Ulrich Dittmann

Kirchheimbolanden

Die Jagd polarisiert. Die einen halten sie für notwendig, um Tierpopulationen zu kontrollieren, die anderen für überflüssige Quälerei. Foto: Stephan Rumpf

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SPRACHLABOR

WAS WAREN DAS noch für gemütliche Zeiten, als man in den Zeitungen mit dem arbeiten konnte, was im bairisch-österreichischen Raum "Kursiverl" genannt wurde. Darunter verstand man ein glossierendes Textchen von nur wenigen Zeilen, das für eine Nachricht zu persönlich und für einen Kommentar zu unwichtig war. Beides, die Nichtigkeit wie auch deren individuelle Präsentation, signalisierte man dem Leser dadurch, dass man die Kursivschrift verwendete. Die sieht so aus: kursiv.

Ungeachtet dessen, dass sie eine lange Geschichte und schon deswegen eine gewisse Würde hat, ist mit der Kursivschrift heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Sie zählt zu den "Auszeichnungsschriften", doch so prächtig, wie sich das anhört, ist es damit in der Wirklichkeit nicht bestellt. Die meisten Blätter beschränken sich darauf, sie für Namen von Personen (siehe unten) oder Medien - Handelsblatt - und für Zitate aus fremden Sprachen zu verwenden: si tacuisses und so Sachen.

Wozu der Lärm? Nun, kürzlich wollte ein Streiflicht-Schreiber das, was in der gesprochenen Rede durch Anheben der Stimme oder Hochrecken der Faust ausgedrückt wird, auch in der Schrift darstellen, und er wählte dafür die Kursive: "Man stellte sich vor, man musste sich vorstellen . . ." Bei uns ging das durch, nicht jedoch beim Leser A. aus Wien, der uns "missbräuchlich angewandte Kursiv-Schreiberei" vorhielt und damit drohte, dass es, sollte "dieses Generve auch vor dem Allerheiligsten" nicht haltmachen, "einen Leser aus dem befreundeten Ausland weniger" gebe.

Das ist jetzt das, was man eine Bredouille nennt. Einerseits kann man jemandem, der das Streiflicht für das Allerheiligste hält, nur schwer widersprechen. Andererseits handelt es sich bei Herrn A. um den Dichter Reinhold Aumaier, der in seinen Gedichten auch gelegentlich zu einer Auszeichnungsschrift greift, nur eben nicht zur Kursive, sondern zur Sperrung. Hier aus seinen "Mottogedichten" ein Beispiel: "verdichte dein leben / in eine sekunde / stopf in ein wort / (d)einen ganzen / roman . . ." Ist das wirklich besser?

Was übrigens den Titel "Streiflicht" betrifft, so schreiben wir ihn nach altem Hausbrauch ebenfalls gern kursiv. Fürs Allerheiligste ist uns nichts zu schade. Hermann Unterstöger

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MEIN DEUTSCHLAND

Celal Özcan

Selbst die Türken in Deutschland sind verblüfft über eine Studie, die besagt, sie seien die am schlechtesten integrierte Migrantengruppe. Keiner von ihnen will es wahrhaben. Ihre "gefühlte" Integration ist viel stärker. Hatte ihnen nicht schon in den neunziger Jahren der damalige türkische Staatspräsident Süleyman Demirel nach einer Besichtigung des BMW-Werks in München zugerufen: "Die Hände, die in der Türkei den Pflug führten, haben sich in die moderne Technologie integriert." Man war stolz, das zu hören. Bis dahin hatte kein deutscher Politiker sie jemals so gelobt.

Und jetzt? Erinnert sich noch jemand daran, dass bei der Fußball-WM die Türken mit der deutschen Fahne in der Hand jubelten? "Für immer fremd" und: "Die Türken verweigern sich eisern der Integration" lauten die Schlagzeilen. Stimmen denn die Ergebnisse der neuen Studie? Wer Türken fragt, bekommt oft die Antwort: Solange man hier als Fremder angesehen wird, kann man sich schwer integrieren. Einmal fremd, immer fremd? Ein türkischstämmiger Auszubildender reagiert empört: "Das kann nicht sein. Die Türken bei BMW sind gut integriert, sie sprechen Deutsch, sind Vertrauensleute und Betriebsräte." Das ist die eine Seite - die andere schildert der Müllmann. Er klagt, dass qualifizierte Türken unter Niveau arbeiten müssen. Er hat in der Türkei die Universität absolviert, hier arbeitet er als Müllmann. Er ist nicht der Einzige, den ich kenne.

EU-Bürger und Aussiedler: Sie sind alle besser integriert als die Türken, heißt es - nach den Ursachen fragt die Studie aber nicht. Ein Spanier, der seit drei Monaten in München ansässig ist, darf über die Kommunalpolitik mitbestimmen, ein hier geborener Türke, Serbe oder Kroate nicht. Die Aussiedler bekommen kostenlose Deutschkurse am Goethe-Institut, die Türken müssen selber schauen, wie sie Deutsch lernen. Ein Italiener oder Spanier fühlt sich als Europäer, ein Türke wird hier immer wieder daran erinnert, dass sein Herkunftsland nicht zum europäischen Kulturkreis gehört und damit auch nicht zu Europa und zur EU. "Unser Land soll auch im Jahr 2020 von Kirchtürmen und nicht von Minaretten geprägt sein", verkündete Stoiber im Bierzelt und bekam tosenden Applaus.

All dies darf aber bei den Türken nicht zu dem Reflex führen, sich zurückzuziehen. Sie dürfen nicht resignieren, sondern müssen ihren Platz in dieser Gesellschaft behaupten und dieses Land als ihr eigenes betrachten. Dass 30 Prozent der Türkischstämmigen keinen Schulabschluss haben, ist eine Schande für die Türken - aber auch für Deutschland. Die Türken müssen sich bei der Bildung ihrer Kinder stärker anstrengen, aber auch Deutschland muss mehr tun.

Die Studie stellt Deutschland und den hier lebenden Türken ein Zeugnis aus. Sie hat auf beiden Seiten Verwunderung und Empörung ausgelöst - und das kann durchaus Positives bewirken. Sie kann dazu führen, dass sich beide Seiten auf ihre Pflichten und Aufgaben neu besinnen. Der Naturwissenschaftler Jerome Wiesner sagte, die materiellen Ressourcen, die nicht genutzt werden, sind nicht verloren; ungenutzte menschliche Ressourcen dagegen sind für immer verloren.

Vier Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Celan Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hurriyet.

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Glaubensbekenntnis der Sozialromantiker

Statt höherer ALG-II-Sätze sollte der Staat lieber die Ganztagsbetreuung fördern

Es ist ein bitterkaltes Bild von Deutschland, das Daniela Kuhr vom Leben armer Kinder in diesem Land zeichnet ("207 Euro zum Leben", 27. Januar). Kein Kuchen steht auf dem Geburtstagstisch, keine Freunde sitzen an der Geburtstagstafel. Keine Mitgliedschaft im Verein, kein Besuch der Musikschule ist möglich. Warum? Es fehlt halt am Geld!

Hält dieses Bild einer Überprüfung stand? Die Herstellung eines Schokoladenkuchens kostet selbst bei Zuhilfenahme einer Backmischung weniger als zwei Euro, üppigere Tiefkühl-Fertigkuchen sind für unter vier Euro zu haben. Scheitert daran ein Kindergeburtstag? Und weiter: Arme Kinder gehen nicht in Vereine: Die Mitgliedschaft für Jugendliche kostet bei der TUS Koblenz fünf Euro im Monat. Andere Turn- und Sportvereine im Großraum Koblenz bieten solche Mitgliedschaften für durchschnittlich zwei bis drei Euro im Monat an. Dafür werden dann die Kinder meist mehrmals mehrere Stunden in der Woche und am Wochenende ehrenamtlich betreut. Kommunale Musikschulen helfen sozial Schwachen mit verbilligten Beiträgen - in Musikvereinen ist Musikerziehung fast zum Nulltarif zu haben. Der Ausweis der Rheinischen Landesbibliothek, der eine Ausleihe von Büchern fast aus dem Gesamtbestand von Rheinland-Pfalz ermöglicht, ist kostenlos, die Stadtbücherei Koblenz verlangt von einer Familie zehn Euro im Jahr. Kein Zugang also zu Sport, Musik und Literatur für arme Kinder?

Eltern, die von immerhin 2532 Euro im Jahr solche Beiträge für ihr Kind nicht aufbringen können, haben ganz andere Probleme. Diese mit mehr Geld beheben zu wollen, gehört zum Glaubensbekenntnis von Sozialromantikern. Sinnvoll wäre eine Untersuchung, wie viele Kinder aus armen Familien mit zehn Jahren ein Handy haben, wie hoch die Kosten dafür sind, wie viele Spielkonsolen und Fernseher in Kinderzimmern armer Kinder stehen. Und gilt wirklich der Einwand, der Verzicht auf diese Dinge würde ein Kind für sein Leben stigmatisieren und traumatisieren? Eigene Armut kann man nur durch Anstrengung und Lernen beseitigen. Dies zu unterstützen, dafür muss die Gemeinschaft Geld ausgeben. Für verpflichtende Ganztagesbetreuung der Kinder in personell gut ausgestatteten Schulen, für Krippen- und Kindergartenplätze. Mehr Geld aus den Taschen anderer zu verteilen ist einfach, löst aber das Problem nicht im Mindesten, sondern wird es nur immer weiter verschärfen.

Wolfgang Renschke

Koblenz

Lässt sich Armut bei Kindern nur mit Geld bekämpfen? Foto: dpa

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Blick in die Presse

Buy American

Der Corriere della Sera (Mailand) wirft den USA Wirtschafts-Protektionismus vor:

"Von beiden Parteien getragen wird eine Ausdehnung der ,buy American'-Gesetzesklausel auf die Stahllieferanten des öffentlichen Bauwesens. Nicht zufällig ist diese Vorkehrung selbst von denen offen kritisiert worden, die doch von den neuen Bauaufträgen per Gesetz am meisten profitieren sollen, das heißt Caterpillar und General Electric. Das hängt damit zusammen, dass diese Gruppen multinational sind und einen Großteil des Umsatzes im Ausland erzielen. Sie befürchten, dass ein offener Protektionismus seitens der führenden Wirtschaftsmacht auch die Regierungen in China und in den europäischen Ländern dazu treibt, ihren Konjunkturplänen auch eine autarke Note zu geben."

Attraktives Mischsystem

Die schwedische Dagens Nyheter (Stockholm) sieht Europa als wirtschaftliches Vorbild für China und die USA:

"Derzeit sind die USA der Punchingball. Alle schlagen auf den Kapitalismus und den Freihandel ein. Zwar bekennen sich die Spitzen aus China und Russland zu beidem. Niemand aber kann die darunter liegenden Botschaften missverstehen. Dass die offene amerikanische Gesellschaft gescheitert ist, während man in den autoritären Riesenländern der alten Welt die Lage unter Kontrolle hat. Am attraktivsten stehen derzeit die europäischen Mischsysteme mit ihren sozialen Sicherheitsnetzen da, die man in den USA wie auch in China gerne kopieren will."

Ungerührte Ohrwaschel

Der Standard (Wien) rügt Papst und Kirche für ihre Haltung im Antisemitismus-Streit:

"Mit mittlerweile gewohnter Regelmäßigkeit schafft es Papst Benedikt XVI., andere Konfessionen zu brüskieren. Da mit dem Theologen Joseph Ratzinger aber einer der intelligentesten Kirchen-Köpfe auf dem Stuhl Petri sitzt, scheint eines klar: Keine der Entscheidung ist Zufall oder göttliche Fügung, sondern päpstlicher Wille. Ganz bewusst versucht man offensichtlich, genötigt durch die starke Anwesenheit außereuropäischer Kulturen und Religionen in Europa, sich deutlicher von ,Mitbewerbern' abzugrenzen, um so die eigene Identität verstärkt in den Vordergrund zu rücken. Spannend, und in der aktuellen Diskussion über die leidigen Aussagen von Pius-Bruder Williamson fast vergessen, scheint, dass die Wiederaufnahme der Lefebvre-Bischöfe zwar eine Eiszeit mit dem Judentum ausgelöst hat, innerhalb der katholischen Kirche sich aber kein geistliches Ohrwaschel zu den päpstlichen Entscheidungen gerührt hat."

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Erst Ausbruch, dann Einbruch

Der türkische Ministerpräsident schafft eine Staatsaffäre und beschädigt dabei seinen Ruf

Von Kai Strittmatter

Da begegneten sich zwei Männer voller Respekt, die einander eigentlich nicht grün sind. Da wurde eine Brücke geschlagen über die Gräben einer uralten Feindschaft. Nüchtern und pragmatisch wurde an der Lösung eines jahrzehntealten, emotionsbeladenen Konfliktes gearbeitet. In Davos machte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan vor, wie das geht: Zum ersten Mal sprach der türkische Premier mit dem armenischen Präsidenten, Sersch Sarkissjan. Bald, munkelt man, solle die Grenze zwischen beiden Ländern geöffnet werden. Eigentlich eine Sensation.

Für Sensationen aber war keine Zeit, weil nur wenige Minuten später der andere Tayyip Erdogan auf die Bühne trat. Der Staatsmann machte Platz für "den Mann aus Kasimpasa", wie die liberale Zeitung Radikal schrieb. Kasimpasa ist der Istanbuler Vorort, in dem Erdogan aufwuchs. In Istanbul ist das Viertel ein Synonym für Hitzköpfe und Machotum. Für Männer, die sich nichts gefallen lassen. Davos hatte seinen Eklat.

Erdogans Istanbuler Anhängern gefiel, was sie live aus Davos zu sehen bekamen: Einer, der es den Israelis und ihren Freunden im Westen mal gezeigt hat. Sie haben ihren Premier gefeiert bei seiner Wiederkehr, als neuen "Weltführer". Die Hamas schickte ein Glückwunsch-Telegramm. Und es schien, als genösse Erdogan den Erfolg bei den Seinen zu Hause. Aber es ist ein billiger Triumph, der den Premier und sein Land noch teuer zu stehen kommen könnte.

Die Türkei pflegt als einziges muslimisches Land enge Bande zu Israel, daran änderte auch der aus dem politischen Islam stammende Erdogan nichts, als seine Partei 2002 die Macht übernahm. Seit der Gaza-Offensive Israels aber kritisiert er das Land so scharf wie kaum ein anderer. Gründe für seinen Ärger gibt es viele: echte Empörung über das Blutvergießen; das Gefühl, die Israelis seien ihm in den Rücken gefallen gerade als er zwischen ihnen und Syrien - auch zum Thema Hamas - vermittelt hatte; und nicht zuletzt der Wahlkampf in der Türkei. Selten war die antiisraelische Stimmung im Volk so stark wie in den letzten Wochen. Wahrscheinlich suchte Erdogan gerade wegen der guten Beziehungen seiner Regierung zu Tel Aviv, diese Flanke zu decken. Die Schärfe aber, in der er das tat, überraschte Beobachter genauso wie sein theatralischer Auszug aus der Podiumsdiskussion in Davos.

Nun hatte Erdogan durchaus Anlass, verstimmt zu sein: Der israelische Präsident Schimon Peres bekam für seine selbstgerechte Rede alle Zeit, und er durfte Erdogan mehrmals persönlich angehen. Erdogan hingegen wurde das Wort abgeschnitten. Und dennoch reagierte er für einen Staatsmann dilettantisch und schadete seiner Sache.

Die türkische Regierung verfolgt in ihrer Außenpolitik primär zwei miteinander verflochtene Ziele: Das Land soll seine Rolle als neue Regionalmacht festigen, und zweitens wird die Mitgliedschaft in der EU angestrebt. Deshalb hat die Türkei zuvor nie gesehene diplomatische Aktivitäten entwickelt.

Erdogan blieb angesichts des innenpolitischen Stillstands als einzige Entfaltungschance eine aktive Außenpolitik. Da bricht er Tabus, arbeitet an der Aussöhnung mit alten Feinden wie den Kurden Nordiraks oder den Armeniern. Zum anderen wurde die Türkei als Vermittler aktiv und nutzte ihre Sonderstellung gerade im Falle Israels. Für Israel vermittelte die Türkei insgeheim mit Syrien, aber auch mit dem Libanon. Selbst mit der Hamas gab es Gespräche.

"Ich kann niemandem erlauben, dem Ruf und der Würde meines Landes zu schaden", verteidigte Erdogan den Dilettantismus von Davos. Es lässt sich darüber streiten, was Ruf und Würde ausmachen, über eines aber wohl nicht: dass man die Interessen seines Landes nicht übersehen sollte. Als Vermittler hat sich Erdogan fürs Erste jedenfalls grandios disqualifiziert.

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Das Drogenproblem der Nato

Wenn die Allianz nicht wirksam gegen den Mohnanbau vorgeht, wird sie in Afghanistan scheitern

Von Stefan Kornelius

Afghanistan ist kein Einsatzgebiet der Nato. Afghanistan ist das Einsatzgebiet einiger Nato-Staaten, die ihre Soldaten zwar unter den Befehl eines einzigen Nato-Kommandeurs stellen, ansonsten aber haarsträubend viele Sonderregeln für sich beanspruchen. Caveat, Vorbehalt, heißt die Vokabel, die in den Ohren der Befehlshaber Pfeiftöne auslöst. Diese caveats erlauben, dass die Bundeswehr im Süden nicht kämpfen muss, oder dass die US-Truppen anders gegen Drogenhändler vorgehen dürfen als etwa die italienischen Soldaten.

Drogen sind die schlimmste Geißel Afghanistans. Der Mohnanbau bringt viel Geld ins Land, er finanziert die Taliban, lässt sie Waffen kaufen, korrumpiert die Behörden und die Politiker und hält somit einen Krieg am Leben und eine Gesellschaft in Geiselhaft. Afghanistan wäre ohne den Drogenanbau ein besseres Land, und die Nato könnte mit all ihren Truppen schneller abziehen.

Die chaotische Caveat-Politik der Nato-Mitglieder, die völlig unkoordinierte Aufbauhilfe und - alles in allem - der Mangel an einem einheitlichen Wiederaufbauplan all der sich in Afghanistan tummelnden Staaten, Truppen und Hilfsgruppen richtet zunehmend Schaden an. Das lässt sich vor allem daran studieren, wie mit dem Thema Drogen umgegangen wird. Die Deutschen halten sich vornehm zurück und glänzen allenfalls mit wohlfeilen Vorschlägen. Die Amerikaner schwanken, ob sie die Felder niederbrennen oder besprühen sollen, alternative Anbaumethoden vorschlagen müssen oder Drogenbarone gezielt töten dürfen.

Nun hat der Konflikt eine Ebene erreicht, auf die er nicht gehört: Nato-Oberbefehlshaber John Craddock will offenbar Drogenbosse gezielt töten lassen, sein deutscher Stabschef stellt sich dagegen. Deswegen ereifert sich in Berlin die Fraktion jener, die alles besser weiß, aber nichts besser macht, während Afghanistans Präsident Hamid Karsai in Washington wegen der Drogen-Geschichten seines Bruders halböffentlich demontiert wird. All das muss aufhören.

Craddock ist - entgegen der sofort ausgegebenen Schmäh-Parolen - kein Hallodri und liebedienerischer Bush-Mann. Sollte er aber die gezielte Tötung im Nebel der Nato-Drogenpolitik befohlen haben, dann hat er seine Kompetenzen überschritten und muss abgelöst werden. Derart gravierende Eingriffe sind nicht erlaubt und sollten nicht erlaubt werden.

Die Drogenbekämpfung verlangt nach schnellen politischen Entscheidungen. US-Sicherheitsberater James Jones hat den Mohnanbau in einer Senats-Anhörung in den Mittelpunkt aller Afghanistan-Bemühungen gerückt. Die neue US-Regierung wird das Thema nun in die Nato tragen, wo all die vernünftigen Vorschläge gegen den Drogenanbau gewichtet werden müssen, die seit Jahren in ungezählten Studien ausgebreitet werden. Der Gipfel der Allianz im April sollte dann einen Beschluss fassen, der von allen Nationen in Afghanistan umgesetzt wird. Ohne Vorbehalte.

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Verstaatlichung mit Zuckerguss

Verstaatlichung: Wer in Bankenkreisen vor ein paar Monaten dieses Wort sagte, der wurde angeschaut wie die hereinplatzende böse Fee auf der Geburtstagsfeier von Dornröschen. Verstaatlichung: Das Wort galt als Synonym für dunkelroten Sozialismus. Das hat sich komplett geändert: Banker sprechen das Wort auf einmal zuckersüß aus und sie lutschen darauf herum wie auf einem Honigbonbon.

Es ist gewiss nicht so, dass aus Bankern über Nacht Sozialisten geworden wären. Es ist aber so, dass Kapitalisten gern ihre Risiken minimieren; die soll der Staat tragen - am besten so, dass er alle giftigen Papiere aufkauft und in einer staatlichen Bad Bank bunkert. Diese Forderung, die auf Ackermann zurückgeht, läuft darauf hinaus, eine staatliche Kläranlage für die Exkremente des Kapitalismus zu errichten, die Bank- und Geldwirtschaft aber im Übrigen so weiter machen zu lassen wie bisher - es gibt ja eine staatliche Entsorgung. So etwas wäre nicht nur schön dumm vom Staat, das wäre auch ein Fall von grober krimineller Untreue gegenüber dem Steuerzahler.

Anders verhält es sich mit den Forderungen, die Hypo Real Estate durch staatliche Übernahme der Aktien zu "verstaatlichen": das bringt dem Staat etwas und der Wirtschaft auch. Der Vorteil für die Banken läge darin, dass sie der HRE dann wieder Geld leihen, weil sie mit dem Staat einen solventen Schuldner haben. Und der Staat hätte sich mit dieser Verstaatlichung leidlich abgesichert für die vielen Milliarden Euro, die er in die HRE gepumpt hat. Er hat dies aus Gründen des Gemeinwohls getan. Dieselben Gründe können die Enteignung der Anteilseigner begründen, die nicht verkaufen wollen. Geld gegen Aktien - kein Tort, sondern ein fairer Handel. pra

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Die FDP unterwirft sich Roland Koch

Das Bundesland Hessen hat ein Jahr lang im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gestanden. Der Aktionsradius der hessischen FDP war in diesem Jahr beschränkt. Sie hat letztlich nichts anderes getan, als sich das bunte Treiben in Wiesbaden anzusehen und abzuwarten. Sie weigerte sich, über eine Ampelkoalition auch nur zu reden, sie palaverte ein wenig über ein Jamaika-Bündnis. Das war es dann. Weil die Hessen aber einerseits von Andrea Ypsilanti und ihrer Partei nichts mehr wissen, andererseits aber mehrheitlich Roland Koch nicht mehr vertrauen wollten, wurde die FDP dafür mit einem (aus ihrer Sicht) traumhaften Wahlergebnis belohnt.

Nun steht die nächste Belohnung an; drei Ministerposten in der künftigen schwarz-gelben Landesregierung haben die Liberalen eingeheimst, ganz ihrer neuen Stärke entsprechend. Wer allerdings erwartet hatte, dass die FDP der am Freitag vorgestellten Koalitionsvereinbarung auch inhaltlich ihren Stempel aufdrücken würde, weiß es nun besser. Trotz einiger Vorzeigepassagen etwa zur Selbstständigkeit der Schulen muss man das Vertragswerk schon mit der Lupe absuchen, um auch nur Ansätze eines Neuanfangs zu entdecken. Stattdessen geht es überwiegend so weiter wie unter der absoluten Mehrheit des Roland Koch. Politische Innovationen sehen anders aus.

Letztlich aber ist es offenbar genau dies, was sich die Mehrheit der hessischen Wähler nach diesem Jahr der Kalamitäten gewünscht hat - gerade in Zeiten der Krise. Die FDP besetzt hier lediglich eine Marktlücke, man kann es ihr kaum verdenken. Dass man das Wort vom Wandel in Hessen für geraume Zeit vor allem mit Chaos assoziieren wird, dafür sind andere verantwortlich. hick

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Zerbrochenes Vertrauen

Von Matthias Drobinski

Es sind Zeichen hilfloser Empörung. Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, bleibt der Gedenkstunde im Bundestag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz fern, weil das Protokoll sie nicht gesondert begrüßen wollte; sie lässt die Parlamentarier ratlos zurück. Wenige Tage später erklärt sie den Dialog mit der katholischen Kirche für vorerst beendet, weil Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation eines Traditionalisten-Bischofs aufgehoben hat, der den Holocaust leugnet; diesmal sind die deutschen Bischöfe ratlos. Klug ist diese Empörung nicht, aber getroffene Menschen sind selten klug. Knoblochs Handlungen zeigen, dass im jüdischen Deutschland der Vorrat an Contenance knapp geworden ist, die Haut dünn, der Boden schwankend. Es ist etwas passiert im Verhältnis von Juden und Nichtjuden.

Dabei dürfte doch gar nichts passiert sein. Die Spitzen von Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik tun viel, manchmal gar alles, um jeden Eindruck zu vermeiden, sie relativierten den Judenmord oder die Gefahr des Antisemitismus. Die Solidarität mit Israel gehört zur Staatsraison, wer leugnet, dass die Nationalsozialisten Millionen Juden ermordeten, kommt vor Gericht - nur in diesem Ausnahmefall bestraft ein deutsches Gesetz eine irrige Meinung. Der Staat fördert den Bau von Synagogen und die Integration der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in die Gemeinden; das christlich-jüdische Verhältnis ist ein wichtiges Thema auf Katholiken- und Kirchentagen. Vergreift sich ein Politiker, Publizist oder Bischof im Ton, gibt es einen Skandal, da sind sich die Medien einig, ob konservativ, oder links. Manchmal wirkt das angestrengt, aber insgesamt kann die Bundesrepublik stolz darauf sein. Und eigentlich könnte das Verhältnis der Juden zum Rest des Landes herzlich und vertrauensvoll sein.

Hinter der Fassade

Stattdessen wächst das Misstrauen vieler Juden gegenüber dieser formal so philosemitischen Gesellschaft. Das ist doch alles nur Fassade, lautet ihr Vorwurf. Ihr, die Mehrheit, habt eure Betroffenheit gut gelernt, ihr senkt eure Stimme, wenn ihr mit Juden redet, und sucht angestrengt nach den richtigen Worten: Shalom, jüdischer Mitbürger! Doch hinter der Fassade leben die alten Vorurteile; sie wachsen, breiten sich aus. Und wir, die Juden, wissen nicht mehr, mit wem wir reden: mit einem Freund oder mit einem, der die Vokabeln der Correctness gelernt hat. Als vor zwei Jahren die deutschen Bischöfe nach Israel reisten und einige dort für die Zustände in den Palästinensergebieten das Wort Ghetto benutzten, da trafen sich hinterher jüdische und katholische Vertreter zum Gespräch. Das Wort Ghetto sei kein Ausrutscher, sagten die Juden, in ihm zeige sich das wahre Denken der Bischöfe, man sei geradezu dankbar, dass endlich die Maske gefallen sei.

Der Boden ist schwankend geworden, weil sich die jüdischen Gemeinden in den vergangenen zwanzig Jahren sehr verändert haben. Die Generation der Shoah-Überlebenden ist auf wenige alt Gewordene geschrumpft, ihre Kinder und Enkel, Erben der Traumatisierungen und Erben des deutschen Judentums, sind nun eine kleine Minderheit. Die Mehrheit ist neu hier, deutsche Befindlichkeiten sind ihr fremd; nicht mehr der 9. November, der Tag, an dem 1938 die Juden in Deutschland die Reste der bürgerlicher Sicherheit verloren, ist ihr Gedenktag. Sie feiern den 9. Mai, an dem 1945 die Wehrmacht vor der Roten Armee kapitulierte. Die Erinnerung an die Schoah eint nicht mehr wie noch vor 1990. Es eint die auseinanderstrebenden Gemeinden nun die Solidarität mit Israel. Das Land, die Lebensversicherung der Juden, soll sich verteidigen dürfen, das sagen die alten KZ-Überlebenden wie die jungen Leute aus Russland, Liberale wie Orthodoxe. Zentralratspräsident Ignatz Bubis legte noch Wert darauf, dass er als Deutscher mitnichten die israelische Politik zu rechtfertigen habe - dafür hagelte es Kritik aus Israel. In den Erklärungen von Charlotte Knobloch zur israelischen Politik fehlt jede Distanz; diese Haltung ersetzt fast die Religion.

Die Angst der Juden

In der gleichen Zeit ist die deutsche Gesellschaft israelkritischer geworden. Bis 1967 galt Israel als das von den übermächtigen Arabern bedrängte Land; der erste Bruch kam, als Israel in den Augen der Studentenbewegung zur Besatzungsmacht wurde. Doch immer noch blieb es ein Sehnsuchtsland der Deutschen. Gerade die politisch Interessierten, die historisch Bewussten und die engagierten Christen reisten nach Jerusalem, pflückten Orangen im Kibbutz, leisteten Ersatzdienst in Jaffa. Der Strom des Austauschs ist zum Rinnsal geworden, die Christengruppen sympathisieren mit den christlichen Palästinensern, und bei den Pro-Israel-Demonstrationen blieben die Juden weitgehend unter sich. In der Bewertung des Gaza-Krieges mischen sich legitime Kritik und menschenverachtendes Vorurteil. An den Stammtischen und in den Internet-Foren blühte unter dem entschuldigenden Satz, dass man "das doch wohl noch sagen" dürfe, das Vorurteil wie der harte Antisemitismus. Er wächst, auch, weil er unter der muslimischen Bevölkerung wächst, wo viele genauso undifferenziert selbstverständlich auf der Seite der Palästinenser stehen wie Juden auf der israelischen.

Deshalb wächst auch die Angst der Juden in Deutschland, und manchmal wird die Angst zur Paranoia. Dann, wenn sich ausgerechnet jene Eliten der Gesellschaft, die man als Verbündete braucht, sich indifferent, unsensibel oder ungehörig verhalten. Deshalb waren in Deutschland die Reaktionen so heftig, als Papst Benedikt XVI. jene Karfreitagsbitte formulierte, die für die Bekehrung der Juden betet. Deshalb ist hierzulande auch die Verletzung besonders groß, wenn der gleiche Papst nun geschichtsvergessen glaubt, dass man einen Mann in den Schoß der katholischen Kirche zurückholen kann, der locker zynisch erklärt, Gaskammern habe es nie gegeben. Der Verrat der Freunde schmerzt mehr als die Feindschaft der altbekannten Gegner.

In den achtziger Jahren hat der Psychologe Dan Diner von der "negativen Symbiose" gesprochen, die Juden in Deutschland und nichtjüdische Deutsche untrennbar verbinde: Beide ernähren sich aus der gleichen Vergangenheit, was aber daraus entsteht, bleibt dem jeweils anderen fremd. Dies wird noch lange so bleiben, auch wenn eine neue Generation von Juden heranwachsen sein wird. Der Boden, auf dem die Minderheit lebt, der wird noch lange schwankend und leicht erschütterbar bleiben. Die Mehrheit sollte das respektieren und die Minderheit im Umbruch nicht überfordern. Die Juden müssen nicht besser sein als andere, sie müssen auch nicht als lebender Beleg dafür herhalten, dass dieses Land aus der Geschichte gelernt hat. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus ist Aufgabe der Mehrheit und Indiz für die politische Kultur im Land, nicht das Spezialanliegen der Betroffenen. Das Verhalten des Zentralrats der Juden in Deutschland muss man deshalb noch lange nicht für immer richtig und klug halten.

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Johanna Sigurdardottir Islands neue Hoffnung für die Rettung vom Staatsbankrott

Vor 15 Jahren war Johanna Sigurdardottir schon einmal an der Schwelle zur Macht gestanden. Aber sie stolperte. Beim Kampf um den Vorsitz der isländischen Sozialdemokraten unterlag sie damals einem Konkurrenten. "Meine Zeit wird kommen", soll sie trotzig gesagt haben. An diesem Samstag ist es nun so weit, ihre Zeit ist gekommen: Johanna Sigurdardottir wird als Ministerpräsidentin Islands vereidigt. Obwohl es ein bisschen gedauert hat, ist die 66-Jährige in mehrfacher Hinsicht immer noch Vorreiterin. Sie ist die erste Frau an der Spitze des Inselstaates. Und sie ist die erste Regierungschefin weltweit, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennt.

Bemerkenswert ist, dass diesen beiden Premieren in Sigurdardottirs Heimat kaum Beachtung geschenkt wird. Kaum jemand in Island interessiert sich dafür, dass die Ministerpräsidentin seit 2002 mit einer Schriftstellerin in eingetragener Lebenspartnerschaft zusammenlebt und zwei erwachsene Söhne aus einer früheren Beziehung hat. Die Isländer sind einfach zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt. Schließlich ist ihr Land nur knapp dem Staatsbankrott entronnen.

Seitdem die Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten in der vergangenen Woche nach monatelangen, zum Teil gewaltsamen Protesten der Bürger gescheitert ist, befindet sich die Insel in einer politischen Krise. Die soll Sigurdardottir nun überwinden. Im Bündnis mit der Partei der Links-Grünen und mit Unterstützung der rechtsliberalen Fortschrittspartei hat die Sozialdemokratin eine Übergangsregierung gebildet. Dass gerade ihr diese schwierige Aufgabe anvertraut wurde, hat Sigurdardottir vor allem ihrer Erfahrung und Integrität zu verdanken.

Sigurdardottir stammt aus einfachen Verhältnissen. Als junge Frau reiste sie als Flugbegleiterin um die Welt, engagierte sich in der Gewerkschaft und kam so schließlich zur Politik. Seit 33 Jahren sitzt sie nun im Althing, dem Parlament, und ist damit Islands dienstälteste Abgeordnete. In dem kürzlich zurückgetretenen Kabinett war sie Sozialministerin.

Sigurdardottirs Bemühungen, die Folgen der Finanzkrise für die "kleinen Leute" zu mildern, brachten ihr viele Sympathien ein: Sie war in der scheidenden Regierung die Einzige, deren Umfragewerte sich in den vergangenen Monaten verbessert hatten. Sigurdardottir gilt als ehrlich und geradlinig, in ihrer Partei wird sie eher dem linken Flügel zugerechnet. Ihr Vorgänger, der konservative Geir Haarde, nannte sie sogar eine "Steuererhöherin". Das war von ihm als Warnung gemeint, könnte aber wegen der großen Unbeliebtheit des Ex-Regierungschefs auch als Empfehlung gewirkt haben.

Nun stehen der 66-Jährigen turbulente Tage bevor, denn ihre Koalition ist sich nicht in allem einig. So wollen etwa Sigurdardottirs Sozialdemokraten am liebsten schon einen EU-Beitritt Islands in die Wege leiten - die Links-Grünen jedoch sind gegen die Mitgliedschaft. Zudem ist ja auch noch Wahlkampf - und den aktuellen Prognosen zufolge muss sich Sigurdardottir sehr anstrengen, damit ihre Regierungszeit nicht ebenso überraschend endet, wie sie begonnen hat. Gunnar Herrmann

Foto: AP

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Lady in Red, hinterm Horizont geht's weiter!

Seit einer Ewigkeit besetzen sie die Charts, sie singen die alten Lieder. Warum gehen unsere Pop-Opis und Rock-Omis nicht in Rente?

Dass die Popmusik einen guten Teil ihres Erfolgs der Nostalgie verdankt, ist nicht neu. In diesen Wochen allerdings sind die alten Bekannten wieder einmal sehr, sehr gut im Geschäft. In der aktuelle CD-Bestsellerliste triumphieren die siebziger und achtziger Jahre. Herbert Grönemeyer ("Was muss muss") steht auf Platz 2, Kollege Westernhagen ("Wunschkonzert") rangiert auf Platz 4, AC/DC folgt dicht dahinter, da dürfen auch Chris de Burgh und Udo Lindenberg nicht fehlen. Schreiben wir wirklich das Jahr 2009? Befinden wir uns tatsächlich im YouTube-Zeitalter? Man glaubt es kaum, schließlich füllt Tina Turner bei ihrem Comeback gerade die größten Konzerthallen in Deutschland, und sie singt davon, dass man keine neuen Helden braucht. SZ-Autoren versuchen das Geheimnis zu lüften: Eine Annäherung an sieben musikalische Massenphänomene, die uns seit Jahrzehnten verfolgen.

Herbert Grönemeyer

Herbert Grönemeyer wird von Frauen mittleren Alters gehört, deren Wohnungen komplett mit Teppichboden ausgelegt sind. Irgendwo in diesen Wohnungen gibt es auch getrocknete Blumen. Diese Fans lieben an ihm die Gefühligkeit, die Reifung durch persönliche Schicksalsschläge, zugleich aber auch die oberstufenhaft kritische Grundhaltung und die Bemühung, trotz allem kein abgehobener Rockstar zu sein. An Grönemeyer sehen sie, dass die deutsche Innerlichkeit, wenn sie sich nach außen darstellt, immer auch eine echte Anstrengung ist. Schließlich sind die Fans auch nicht ohne Anstrengung dahin gelangt, wo sie jetzt sind. Obwohl er ein guter Bürgersohn ist, ist es Grönemeyer gelungen, ein Image aus proletarischem Ruhrpott und universalem Weltmenschentum zu formen. Sie hören ihn immer noch, immer wieder, weil sie damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Nostalgie und Erneuerung. So begleitet er das ganze Leben: Halt mich, nur ein bisschen, bis ich schlafen kann. Johan Schloemann

Tina Turner

Von Tina Turner lernen, heißt siegen lernen. Sie hat es geschafft, trotz schwerer Kindheit, prügelndem Ehemann und skrupellosen Musikmanagern zur erfolgreichsten Rocksängerin aller Zeiten zu werden. Wer so viele Schicksalsschläge hinter sich hat, wird weltweit als Kraftpaket, Rockröhre oder Fleisch gewordene Frauenpower gefeiert. Sie gilt als globalisierte Gutfrau und kann sich daher jedes noch so eingängige Mitstampf- und Mutmachlied leisten. Tina Turner war irgendwie immer schon da und hat nicht wie die Nervensäge Madonna permanent versucht, sich neu zu erfinden. Sie wechselt höchstens ihre Frisur, die an guten Tagen an die Turmwickel von Doris Day erinnert, an schlechten Tagen hingegen an ein Eichhörnchen, das in den Ventilator geraten ist. Tina Turners Erfolg ist einfach zu erklären: Sie besteht auch mit fast 70 Jahren noch zu 70 Prozent aus Stimmbändern und Kehlkopf - und sie ist immer irgendwie zu eng angezogen. Ob in Hot Pants, Minirock oder Bustiers, diese Sachen sehen so aus, als ob sie furchtbar kneifen. Aber wahrscheinlich kann man nur mit einer solchen Mischung aus Weltschmerz und Textilien, die mindestens eine Nummer zu klein gewählt sind, Töne herausschreien, die den Verwundeten dieser Welt zeigen: Jeder kann es schaffen. Werner Bartens

Chris de Burgh

Als wir im Englischunterricht der achtziger Jahre diese junge Referendarin bekamen, eine üppige Blonde aus Australien, wollten wir mit ihr aus Liedern lernen, das fanden wir cooler: Music was the language, und Frau Zimmer hatte so einen gewissen Rhythmus. Also setzte sie ihn auf den Stundenplan: Chris de Burgh. Okay, das war nicht der schärfste Rock aller Zeiten, aber man muss Frau Zimmer in Schutz nehmen: Der irische Barde mit der adelsgeschlechtlichen Satinstimme kuschelrockte ja nicht nur platt dahin, sondern hatte in seinen lyrics tatsächlich Geschichten zu erzählen, kleine, mystische Parabeln über den Tod, die Liebe, den Krieg, die man lesen und analysieren konnte wie ein Gedicht. "Don't Pay The Ferryman", der Hit, mit dem ihm 1982 in Deutschland der Durchbruch gelang: der Fährmann ins Jenseits - was für eine poetische Allegorie! Oder "Borderline": Da diskutierten wir gleich den ganzen Falklandkrieg mit. Später kam "Lady in Red": das schönste nächtliche Augenblickskompliment an eine Frau, dass je ein Mann mit Dackelblick gesungen hat. Zwar breitete sich zunehmend Schnulzengefahr aus, was einen in späteren, härteren Jahren auf Abstand gehen ließ. Doch was Chris de Burghs Erfolg ausmacht - Inhalt, Empfindsamkeit, Stimme (nebst der stets wiederzuerkennenden Frisur) -, sind bleibende Werte. Gelernt ist gelernt. Christine Dössel

Udo Lindenberg

Man schrieb das Jahr 1983. Udo Lindenberg hatte ein paar Entziehungskuren und ein paar schlechte Platten hinter sich (zum Beispiel "Keule", die sogar Sounds als "stilistischen Tiefpunkt" geißelte). Boulevards und Fachblätter fühlten sich als "Zeuge einer langsamen, aber stetigen Demontage" des einstigen "Paten der Rockmusik" (Musik Express). Doch der hatte kein Einsehen. Das Preview-Konzert für die "Odyssee"-Tour fand in Kaunitz bei Paderborn statt, Udo hatte wieder einen Mittendrin-Gast eingeladen: Gianna Nannini. Die Dame aus Siena war sensationell. Als Udo zurückkam, pfiff das Publikum, es flogen Bierflaschen auf die Bühne, stern-Fotograf Volker Krämer war begeistert: "Das is' ja wie im Krieg!" Am nächsten Tag im Nightliner wetteten Manager Fritz Rau und Udo mit dem Berichterstatter, in München würden keine 5000 in die Olympiahalle kommen ("die mögen Udo auch nicht") um eine Panik-Orchester-Lederjacke. Es kamen gut 6000, doch die Lederjacke kam nie an. Die SZ schrieb, bald werde Udo, "kaum zu glauben", 37 Jahre alt: "ein Oldtimer". Das ist jetzt 25 Jahre her. Und der Oldtimer rumpelt noch immer über die Bühnen. Er ist der beste Nuschler der Rockgeschichte. Karl Forster

Udo Jürgens

Als Udo Jürgens zum ersten Mal in den deutschen Charts stand, war Konrad Adenauer Bundeskanzler und Kennedy der jüngste US-Präsident. Udo, der schöne, schlanke Udo, sang sich in die Herzen der Mädchen, indem er Mädchen besang: "Siebzehn Jahr, blondes Haar" wurde ein Hit, genauso wie "Merci Chérie" und "Immer wieder geht die Sonne auf". Die Sonne geht noch immer auf, und Udo Jürgens passt für jeden Anlass und für jedes Publikum: Wenn die Geburtstagsparty der Mittvierzigerin leicht dröge ist, wenn beim Betriebsfest alle müde sind, dann kommt UDO, aber bitte mit Sahne, griechischem Wein und zerrissenen Jeans in San Francisco. Noch besser wirkt das antirheumatische Aufputschmittel live: Zum gefühlten tausendsten Mal tourt er gerade wieder durch deutsche Provinzstädte; es reicht, wenn er "Einfach ich!" ruft, und die Massen kommen. Aus den Mädchen sind Omas geworden, die ganz weich werden, wenn Udo nach zwei Stunden in seinen weißen Bademantel schlüpft - ein dezenter Hinweis auf seine mythische Lendenstärke. Während die Männer seines Jahrgang dick, kahl und hüftsteif geworden sind, betont der Anti-Greis am Flügel seine Spannkraft. Vielleicht wird er irgendwann doch als Riesenschildkröte des deutschen Schlagers enden: der letzte Entertainer aus der Adenauer-Ära, der einfach nicht verstummt. Christian Mayer

Westernhagen

Stimmt doch: Wer heute auf einem Westernhagen-Konzert im ungebügelten T-Shirt und in alten verwaschenen Jeans auftaucht, ist einfach nur infantil und peinlich. Westernhagen, 60, zeigt uns, wie man in Würde altert! Armani-Anzug, Sonnenbrille, Pokerface. So jemandem kann man doch unmöglich mit einem von Motten und Pelzkäfern zerfressenen Marius-Shirt aus den 80ern gegenübertreten. Doch - psssst! - noch schlimmer als der ergraute Zammel-Fan sind all jene Düsseldorfer Ex-Revoluzzer, die sich mit kurzrasierten Haaren neben anderen Ex-Revoluzzern zu einem Gin Tonic an der Bar treffen, um sich gegenseitig ihrer Wichtigkeit zu versichern während sie sich von aufgespritzten Gottesanbeterinnen das Knie tätscheln lassen. Ihr Viagra heißt Lobbyismus. "Hey Marius! Gut schaust du aus. Theo gegen die Besten der Welt, was? Habe gehört, Du willst ein neues Album aufnehmen? In Big Apple. Da war ich auch letzte Woche." Nee, nee. Ich bin so froh, dass ich kein Schicker bin, denn Schicksein ist 'ne Quälerei. Martin Zips

AC/DC

Das erste AC/DC-Album seit acht Jahren war im vergangenen Jahr in Deutschland die meistverkaufte Pop-Platte. 700 000 Mal ging "Black Ice" über die Ladentische. In Zeiten des massenhaften illegalen File-Sharing im Netz ist das eine fast unglaublich hohe Zahl. Ganz abgesehen von den mittlerweile um die 200 Millionen Alben, die die Band in ihrer gut 35-jährigen Karriere insgesamt verkauft hat. So weit die Fakten. Jetzt würden wir Sie bitten aufzustehen. Stehen Sie bequem? Sehr gut. Jetzt stellen Sie sich bitte einen einfachen, nicht zu schnellen, aber auch nicht zu langsamen Rockbeat vor. Viervierteltakt. Deutliche Betonung auf dem zweiten und vierten Schlag. Dumm - tschak - dumm - tschak. Spüren Sie es schon? Sehr gut. Jetzt kommt die E-Gitarre ins Spiel. Mittelschwer verzerrt: A - D - A - D - G - D - A. Oder vielmehr einfach: Dadadadaa-da. Dadadadaa-da. Dadadadaa-da. Wippen Sie schon mit? Immer vor und zurück? Hervorragend. Jetzt bitte beide Arme neben dem Kopf nach oben strecken und im Takt leicht vor und zurück werfen. Und nicht vergessen: Dumm - tschak - dumm -tschak. Dadadadaa-da. Und jetzt alle, bitte mit verzerrtem Gesicht und gepresster Stimme: "Run-away Train / Runn-ing - right - off the track!" Lauter! Jaaa! Noch Fragen?Jens-Christian Rabe

Immer die alte Platte: Udo Jürgens, Marius Müller-Westernhagen, Herbert Grönemeyer, Tina Turner, Chris de Burgh, Angus Young (AC/DC) und Udo Lindenberg. Collage: S. Dimitrov Fotos: dpa (5), Sony, Getty

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Norwegen hebt deutsches U-Boot

Oslo - Fast 65 Jahre nach seiner Versenkung soll das Wrack des deutschen U-Bootes U-864 vor Norwegens Küste aus 150 Meter Tiefe geborgen werden. Wie Fischereiministerin Helga Pedersen Osloer Medien bestätigte, beugte sich die Regierung mit ihrer Entscheidung den beharrlichen Forderungen von Umweltschützern und Anwohnern. Sie hatten immer wieder vor den Gefahren von 67 Tonnen hochgiftigem Quecksilber in dem U-Boot für die Umwelt und die Fischerei in der Küstenregion nördlich vor Bergen gewarnt. Die Kosten für die Bergung durch ein niederländisches Spezialunternehmen werden auf umgerechnet mehr als 110 Millionen Euro veranschlagt. Ende vergangenen Jahres hatte die norwegische Küstenbehörde noch empfohlen, das Wrack einzubetonieren, um Kosten zu sparen. Das U-Boot war am 9. Februar 1945 von einem britischen U-Boot versenkt worden. dpa

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Mutter der Achtlinge lehnte Abtreibung ab

Los Angeles - Die Mutter der am Montag in Kalifornien geborenen Achtlinge hatte es nach Angaben ihrer Ärzte abgelehnt, einen Teil der Föten abzutreiben. Trotz der unerwartet hohen Babyzahl habe sie sich nicht zu einer sogenannten Reduktion der Ungeborenen entschlossen, sondern alle Kinder austragen wollen. Sie hätten der Schwangeren eine "selektive Abtreibung" angeboten, sagt der Arzt Harold Henry vom Kaiser Krankenhaus in Bellflower in der Freitagsausgabe der Los Angeles Times. Die Frau war in der 30. Woche, als die Frühchen am Montag auf die Welt kamen. Am Mittwoch konnte sie die sechs Jungen und zwei Mädchen auf der Intensivstation erstmals in ihren Brutkästen betrachten. Nach Berichten amerikanischer Medien hat die Mutter der Achtlinge schon sechs ältere Kinder: Vier Söhne und zwei Töchter, darunter Zwillinge. dpa

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Polizei nimmt falsche KaDeWe-Diebe fest

Berlin - Nach dem aufsehenerregenden Juwelendiebstahl im Traditionskaufhaus KaDeWe hat die Polizei in Amsterdam vorübergehend zwei Männer im Alter von 21 und 23 Jahren aus Berlin festgenommen. Sie hätten einem Pensionswirt in der niederländischen Hauptstadt Schmuckstücke angeboten, die angeblich aus dem KaDeWe-Coup stammen sollten, teilte ein Polizeisprecher mit. Später habe sich herausgestellt, dass die Männer nur einen Scherz machen wollten. Bei einer Durchsuchung von Schließfächern und Hotelzimmer der beiden Berliner seien weder Schmuck noch andere Beweismittel gefunden worden. Daraufhin wurden die Männer, die sagten, sie hätten lediglich einen Witz machen wollen, wieder auf freien Fuß gesetzt. Möglicherweise bekommen die beiden Scherzbolde nun wegen des Polizeieinsatzes eine Rechnung zugeschickt. ddp

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Schweißfuß-Student darf Studium fortsetzen

Amsterdam - Stark riechende Schweißfüße sind kein Grund, einem Studenten das Studium an einer holländischen Universität zu verweigern. Das entschied ein Gericht in Rotterdam, wie die Zeitung De Telegraaf berichtet. Die dortige Erasmus-Universität sei verpflichtet worden, den bei Kommilitonen und Lehrkörpern gleichermaßen gefürchteten "Schweißfuß-Mann" Teunis T. als Philosophiestudenten zu akzeptieren. T. war 1998 wegen "Geruchsbelästigung" Campus-Verbot erteilt worden, nachdem er sich im Lesesaal und anderen öffentlichen Räumen immer wieder die Schuhe ausgezogen hatte. Aus demselben Grund hatte ihm laut De Telegraaf im Jahr 2002 auch die Bibliothek der Universität von Delft Hausverbot erteilt. Immerhin könnte die Erasmus-Uni nun etliche Bücher wiederbekommen, die T. wegen des Campus-Verbots nicht zurückgebracht hatte. dpa

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Zukunft

Was kümmert mich das

Viele junge Erwachsene verdrängen das Thema Rente. Dabei gilt im Grunde, Angriff ist die beste Verteidigung. Wer sich ab und an zu ein paar Überlegungen aufrafft, kann danach entspannen

Von Paula Scheidt

Mit Stefanie Wilhelms Kontoauszügen verhält es sich wie mit den Papierbahnen, Bändern und Stoffen auf dem Boden ihres Zimmers: ein einziges Durcheinander. Manchmal verliert die gelernte Modedesignerin den Überblick. Aber ohne Chaos auf gute Ideen kommen? Nur schwer vorstellbar. "Mein aktuelles Projekt sind Skijacken", sagt sie. Die 27-Jährige macht gerade Praktikum bei einer Agentur, die Sportmode entwirft - ob sie ein Angebot als freie Mitarbeiterin bekommt, entscheidet sich in den nächsten Wochen.

Gelegen käme es ihr, die Studienzeit ist vorbei, "jetzt muss langsam mal richtig eigenes Geld fließen", sagt Stefanie. Zwar schafft sie es derzeit auch mit dem Praktikumsgehalt und hie und da einer freundlichen Überweisung der Großeltern, sich immer wieder aus den roten Zahlen zu manövrieren. Und dennoch, mit dem Geld sieht es zwischendurch oft brenzlig aus. Stefanie ist voller Tatendrang - doch das Letzte, was ihr derzeit in den Sinn käme, wäre groß zu sparen.

Und die anderen?

Fast alle Erwachsenen unter 26 denken laut der aktuellen Shell-Jugendstudie, dass sie früh beginnen müssen, für ihr Alter vorzusorgen. Trotzdem hat sich die Hälfte von ihnen bisher keine Gedanken über die Rente gemacht. Ein Zehntel ihres Einkommens - soviel legen die Deutschen durchschnittlich auf die Seite; in 85 Prozent der Haushalte wird regelmäßig gespart. Diese Zahlen haben sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts in den vergangenen Jahren kaum verändert - Krise hin oder her. Ein Drittel der Menschen geben als Grund an, für das Alter vorsorgen zu wollen.

In Stefanies Ohren klingen die Wörter Bausparvertrag, Rentenversicherung, Fondssparplan wie fremde Orte, die irgendwo außerhalb ihres Lebens liegen. In einem fernen Land namens Altersvorsorge. Und Vorsorge entspricht nur in einigen sehr konkreten Punkten ihrer Lebenseinstellung: Samstags sorgt sie vor, dass sie am Sonntagmorgen frische Milch im Kühlschrank findet. Und wenn ihre Lieblingsband spielt, stellt sie sich vorsorglich an der Konzertkasse an. Allen anderen Herausforderungen - vor allem finanziellen - stellt sie sich erst dann, wenn es unausweichlich wird.

Wann geht's los?

Grundsätzlich ab dem Moment, wo man regelmäßig Geld verdient. In die gesetzliche Vorsorge, also in die Rentenversicherung, zahlt jeder automatisch ein, der ein festes oder befristetes Arbeitsverhältnis eingeht. Das Geld wird direkt vom Gehalt abgezogen. Die betriebliche Vorsorge ist freiwillig: Manche Arbeitgeber bieten an, für ihre Angestellten Geld anzulegen. Denn eine große Zahl von Beteiligten kann die Konditionen verbessern. Für die private Altersvorsorge ist jeder selbst zuständig. Besonders wichtig ist sie für Selbständige, weil die nicht automatisch in die gesetzliche Vorsorge einzahlen. Die unabhängige Finanzplanerin Stefanie Kühn empfiehlt unter 30-Jährigen, regelmäßig einen kleinen Betrag auf ein Tagesgeldkonto einzuzahlen. "Wer mehr verdient, sollte darüber nachdenken, einen Teil des Einkommens fest anzulegen oder mit einem Fondssparplan zu beginnen", sagt Kühn. Von einer privaten Rentenversicherung rät sie ab.

Irgendwie ahnt Stefanie, dass sie um die Altersvorsorge nicht herumkommt. Aber das Thema bleibt für sie abstrakt, undurchsichtig, und vor allem: weit weg. Es gehört in ein fernes Erwachsenenleben, in Bundestagsdebatten, in bunte Werbebroschüren. Die Konturen sind mehr als verschwommen, sichtbar für sie hingegen jede Menge Fragezeichen: "Angenommen, ich zahle jetzt Geld ein - woher soll ich wissen, dass dieses Geld irgendwann zu mir zurückkommt?", grübelt die 27-Jährige. Momentan scheint es ihr bei weitem wahrscheinlicher zu sein, dass ihr Erspartes in einem schwarzen Loch namens Finanzkrise verschwinden könnte. Was, wenn zukünftige Riesters und Rürups die Gesetze so umkrempeln, dass für Stefanies Generation im Alter völlig neue Regeln gelten? Vierzig Jahre sind nun mal genug Zeit, um ordentlich an der Rente herumzureformieren, denkt sie sich.

Was gilt in Zukunft?

Immer wichtiger wird die private Vorsorge. Die sogenannten Babyboomer nähern sich dem Rentenalter und die Zahl der Geburten sinkt. Dadurch entsteht eine Schieflage zwischen denen, die einzahlen, und denen, die Rente beziehen: Das Prinzip des Generationenvertrages funktioniert nicht mehr zuverlässig. Der Staat hat darauf reagiert, indem er die private Vorsorge mit Steuervorteilen fördert, damit möglichst wenige Menschen im Alter von der gesetzlichen Rente allein leben müssen. Riester- und Rürup-Renten werden von privaten Versicherern angeboten. Das so angelegte Geld ist kapitalgedeckt, wird also aufbewahrt für den, der es eingezahlt hat. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherer argumentiert für diese beiden Modelle mit dem Prinzip des Zinseszinses: auf lange Sicht vermehrt sich das eingezahlte Geld immer schneller. Das gilt aber natürlich genauso für Sparkonten. In die Riester- beziehungsweise Rürup-Rente kann man auch erst später einsteigen.

Klar, ab und zu aufräumen muss sein - vor allem in ihrem Atelierzimmer mit den vielen Stoffballen und dem ganzen Zubehör. Das hilft es Stefanie, mal tief Luft zu holen, sich grundlegende Gedanken zu machen und neue Projekte anzupacken. "Meine Kontoauszüge landen dann eigentlich meistens direkt im Papierkorb", sagt sie. "Und wenn ich einen Auszug plötzlich dringend brauche, gehe ich zu meiner Bank, fange an zu heulen, und sie lassen ihn mir nochmal heraus", sagt sie und verzieht das Gesicht leicht verunsichert. Da kann ihre Mutter noch zehnmal raten, einen Ordner für all diese Dinge anzulegen. Sie hat andere Dinge im Kopf als ihre Finanzen zu planen - und überhaupt: mit welchem Geld soll sie denn jetzt für später vorsorgen? Es reicht ja kaum für die Miete, und wenn mal was übrig ist, fährt sie lieber in den Urlaub. "Das halte ich immer für eine gute Investition", sagt Stefanie.

Was bringt's?

Grundsätzlich lohnt es sich, irgendwie anzufangen: Wer mit zwanzig Jahren beginnt, monatlich 10 Euro zu sparen, erhält bei einer Jahresverzinsung von 4 Prozent mit 65 Jahren 14 838 Euro ausbezahlt. Wer erst mit dreißig loslegt, erhält nur 9030 Euro, also etwa 40 Prozent weniger. Und so kompliziert ist es gar nicht: einfach ein Tagesgeldkonto einrichten und einen Dauerauftrag starten. Und wer sich für eine private Vorsorge entscheidet: Für Freiberufler gilt das Rürup-Modell, auch Basisrente genannt; wer angestellt ist, für den ist eine Riester-Rente das Richtige. In welcher Form man das Geld anlegt und wie viel man monatlich einzahlen möchte, steht einem frei. Der Staat legt einen Teil obendrauf. Wer sich nicht zwischen den Anbietern entscheiden kann, für den vergleicht Stiftung Warentest.

Informationsquellen

Für Fragen zur gesetzlichen Rentenversicherung wendet man sich am besten an die Deutsche Rentenversicherung Bund. (www.deutsche-rentenversicherung-bund.de)

Wer sich für Möglichkeiten zur betrieblichen Altersvorsorge interessiert, fragt einfach seinen Arbeitgeber. Zu privaten Rentenangeboten gibt der Gesamtverband der deutschen Versicherer Auskunft. (www.gdv.de) Und wer unabhängig beraten werden möchte und bereit ist, dafür zu bezahlen, der kann sich an einen privaten Finanzberater wenden. SZ

Kreativ schneidern - das liebt Stefanie Wilhelm. Was ihr bei der Mode Spaß macht, gilt für die Altersvorsorge noch lange nicht. Fotos: oh, Reuters

Die Deutschen sind normalerweise Schnäppchen eher selten abgeneigt: Auch bei Vorsorgeprodukten sollten sie auf die Kosten achten. Foto: dpa

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ALTERSVORSORGE

Verantwortlich: Werner Schmidt

Redaktion: Friederike Nagel

Anzeigen: Jürgen Maukner

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Starke Riester-Fonds

Das Angebot an Riester-Fondssparplänen ist vergleichsweise überschaubar. Die Stiftung Warentest hat die Angebote der Fondsgesellschaften unter die Lupe genommen. Sie empfiehlt Riester-Fondssparpläne nur für Anleger unter 50 Jahren. Ältere Sparer sollten eher andere Riester-Produkte wie Banksparpläne wählen. Denn sie haben nicht die Zeit, Schwankungen auszusitzen. SZ

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Forscher kritisieren Rentenprognosen

Die Rentenprognosen der Bundesregierung sind nach Ansicht von Wissenschaftlern zu optimistisch. Das Armutsrisiko künftiger Rentner werde systematisch unterschätzt. Zu diesem Schluss kommen die Wissenschaftlerinnen Barbara Riedmüller und Michaela Willert von der Freien Universität Berlin. Die Forscherinnen hatten im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung den Alterssicherungsbericht 2005 der Bundesregierung und die Studie Altersvorsorge in Deutschland untersucht. Die Berechnungsbasis der Prognosen bildeten sehr lange Erwerbszeiten von 45 Jahren, die keine Arbeitslosigkeit beinhalten, eine 100-prozentige Abdeckung durch Riester-Vorsorge sowie eine weitere zusätzliche Privatrente, so die Politikwissenschaftlerinnen. Solche Annahmen gingen aber an vielen realen Erwerbsbiographien vorbei. Dies sei "keine Grundlage für eine transparente Sozialpolitik". In Deutschland bekämen ausgerechnet Geringverdiener im Alter proportional weniger Rente als Besserverdiener. Diese Benachteiligung sei in den westlichen Industrieländern einmalig.dpa

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Privatvorsorge erreicht höhere Rendite

Positive Renditen erreichen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung auch in Zukunft. Nach Berechnungen der Stiftung Warentest erreichen Durchschnittsverdiener mit einem Jahreseinkommen von etwa 30 000 Euro, die aktuell in Rente gehen, nach 45 Beitragsjahren eine Rentenrendite von 3,5 Prozent. Auch die geburtenstarken Jahrgänge um das Jahr 1965 herum können mit einer Beitragsrendite von 2,6 Prozent für Männer und 3,2 Prozent für Frauen rechnen.

Doch darf die positive Rentenrendite nicht darüber hinwegtäuschen, dass die absoluten Rentenbeträge deutlich niedriger liegen als die Erwerbseinkünfte. Diese Versorgungslücke kann nur durch private Zusatzleistungen ausgeglichen werden. Dafür bieten Finanzdienstleister Bank- und Fonds-Sparpläne sowie private Rentenversicherungen an. Dabei erreichen Privatrenten durchschnittlich eine um ein bis zwei Prozentpunkte höhere Rendite als die staatliche Altersvorsorge. Zahlt beispielsweise ein Arbeitnehmer 25 Jahre lang monatlich 200 Euro in die Rentenkasse ein, so beträgt sein fiktives Endvermögen bei 2,6 Prozent Verzinsung gut 84 000 Euro. Das entspricht einer Rendite von etwa 40 Prozent. Ein vergleichbarer Banksparplan mit 3,7 Prozent Verzinsung bringt hingegen ein Sparvermögen von 97 600 Euro, was einer Gesamtrendite von 62,7 Prozent entspricht. wid/niza

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Kosten

Riester mit Rabatt

Sparen beim Abschluss: Bei freien Fondsvermittlern fällt der Ausgabeaufschlag oft weg

Ein Riester-Vertrag ist für viele Sparer wegen der hohen staatlichen Zulagen als Altersvorsorge interessant. Noch besser sorgt derjenige vor, bei dem die Gebühren möglichst niedrig sind. Wer sich für einen Riester-Fondssparplan entscheidet, kann diese Produkte auch bei einem freien Fondsvermittler kaufen. So umgeht er oft den kompletten Ausgabeaufschlag. Der Rabatt sollte für Anleger aber nicht das einzige Kriterium bei der Auswahl sein.

Es kann sich lohnen, einen Riester-Fondssparplan nicht direkt bei der Fondsgesellschaft oder Bank zu kaufen. Bei einer 35-jährigen Laufzeit und jährlich 420 Euro Einzahlung kommt man am Ende - bei einer durchschnittlichen Rendite von sechs Prozent - auf 138 068 Euro, erläutert Arno Gottschalk von der Verbraucherzentrale Bremen. Wird ein Ausgabeaufschlag von fünf Prozent abgezogen, hat der Sparer am Ende lediglich 131 494 Euro zusammen - ein Unterschied von rund 6500 Euro. "Das ist doch schon ein Batzen", sagt Gottschalk. Inzwischen gibt es etliche freie Fondsvermittler, die sich auch Fonds-Shop nennen. Sie bieten Investment-Fonds und teilweise eben auch Riester-Fondssparpläne laut der Stiftung Warentest in Berlin mit bis zu 100 Prozent Rabatt auf den Ausgabeaufschlag an. Die Vermittler bekommen von den Fondsgesellschaften eine Provision. Die Papiere lagern im Depot der Fondsgesellschaft.

Die Kunden zahlen ihre Beiträge direkt an die Fondsgesellschaft, die Fonds-Shops treten ausschließlich als Vermittler auf. "Wenn der Vermittler Geld auf sein eigenes Konto überwiesen haben möchte, sollten daher die Alarmglocken klingeln", sagt Karin Baur von der Zeitschrift Finanztest. Auch versuchten die Anbieter oft, zusätzlich noch weitere Produkte anzubieten, die man möglicherweise gar nicht haben möchte, warnt die Expertin: "Dazu sollte man sich nicht überreden lassen." Auch wenn durch den Wegfall des Ausgabeaufschlags eine Menge Geld gespart werden kann, sollte der Rabatt nicht das ausschlaggebende Kriterium sein, rät Niels Nauhauser, Finanzexperte bei der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg: "Anleger sollten zunächst ein gutes Produkt auswählen. Anschließend kann man dann noch gucken, wo man dieses Produkt besonders günstig kaufen kann."

Die Riester-Rente gilt wegen der hohen staatlichen Zulagen gemeinhin als gute Möglichkeit der Altersvorsorge. Doch nicht immer bietet sie eine bessere Rendite als andere Anlageformen, sagt Nauhauser: "Riester-Fondssparpläne schichten mit zunehmendem Kundenalter das Geld in festverzinsliche Anlagen um. Das schmälert natürlich die Rendite." Wer sich schon für einen Riester-Fondssparplan entschieden hat, kann auch noch nachträglich die Bezugsquelle wechseln und den Sparplan zu einem freien Vermittler übertragen. Sebastian Knoppik, dpa

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Zwischen Leben und Tod

Uni Mainz bietet bundesweit einzigen Master in Medizinethik

An der Universität Mainz wird seit diesem Wintersemester der nach eigenen Angaben bundesweit einzige weiterbildende Master-Studiengang Medizinethik angeboten, bei dem Ärzte ethische Entscheidungskompetenzen für den klinischen Alltag vermittelt bekommen. "Die Entscheidung über Leben und Tod basiert nicht nur auf medizinischen Fakten. Ärzte müssen sich auch an Werten und ethischen Normen orientieren", erklärt Professor Norbert Paul vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz die Notwendigkeit des Studiengangs.

Dieser wurde im Sommersemester 2006 von der Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler initiiert. In den vergangenen Jahren seien ethische Kompetenzen bei Ärzten wegen neuer medizinisch-technischer Möglichkeiten wie verbesserten Lebenserhaltungsmaßnahmen immer wichtiger geworden. "Mediziner sind aufgrund des gestiegenen ökonomischen und rechtlichen Drucks oft verunsichert und fällen teilweise falsche Entscheidungen", sagt Paul. Auch die aktuell diskutierte Patientenverfügung setze ein "hohes Maß an Kenntnis über Wertentscheidungen" bei Ärzten voraus.

Der Fernstudiengang Medizinethik richtet sich an Ärzte und andere Berufstätige im medizinischen Bereich. In insgesamt acht Modulen werden zunächst theoretische Grundlagen der Ethik vermittelt, und diese dann im zweiten Studienabschnitt auf die medizinische Praxis angewandt. Dabei behandelt der Lehrplan ärztliche Interventionen wie Sterbehilfe, diagnostische Verfahren und rechtliche Fragen. Die Teilnehmer erarbeiten das Material im Eigenstudium, ehe sie in Präsenzveranstaltungen die Themen vertiefen und anhand von Fallbeispielen diskutieren.

Trotz Studiengebühren von 1000 Euro je Modul verzeichnet das Institut nach Angaben von Paul steigende Bewerberzahlen. Derzeit sind etwa 100 Studenten für das Master-Studium eingeschrieben. 70 Prozent der Studenten seien Ärzte, "aber auch Berufsgruppen wie Psychotherapeuten, Pfleger oder Krankenhausmanager sind bei uns zu finden", sagt die Koordinatorin des Studiengangs, Anika Mitzkat. Einen Grund für die wachsende Nachfrage sieht Paul in der Gestaltung des regulären Medizinstudiums. Mit nur zwei Semesterwochenstunden wie an der Uni Mainz komme die Medizinethik dort zu kurz. "Man sollte ethische Themen standardmäßig in die Lehre einbetten", rät der Professor. Marius Johnen/ddp

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Tipps für Ärztinnen

Frauen müssen ihre Arzt-Karriere besonders gut planen. Denn ein traditionelles Geschlechterrollenmodell und hierarchisch-konservative Strukturen seien im Medizinbetrieb stark ausgeprägt, so Henrike Wolf, Koordinatorin eines Mentoring-Programms für Ärztinnen an der Universitätsklinik Aachen. Frauen hätten deshalb mit höheren Karriere-Barrieren zu kämpfen als

Männer. Bei Bewerbungen hingen

nur zehn Prozent von der Leistung

ab, 30 Prozent machen demnach die Selbstdarstellung und 60 Prozent

Beziehungen aus. Deshalb sollten

Medizinstudentinnen zu Kongressen fahren, Kontakte knüpfen und sich trauen, auch bekannten Persönlichkeiten ihre Visitenkarte zu geben.

Auch böten Universitäten inzwischen Mentoren-Programme an. Weitere

Informationen im Internet unter www.frauenmachenkarriere.de. (dpa)

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Allzeit bereit

Bei der Wahl ihres Fachgebiets kommt es angehenden Ärzten vor allem auf akzeptable Arbeitsbedingungen an

Von Inga Pabst

Jung, dynamisch, karriereorientiert? Das war einmal. Die Medizinstudenten in Deutschland nähern sich heute mit anderen Vorstellungen ihrem Berufsleben. "Die Rahmenbedingungen haben für die Medizinstudierenden heute absolute Priorität", sagt der Vorsitzende der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) und Klinikdirektor am Universitätsklinikum Erlangen, Eckhart Hahn. Leider sei es aber um die Rahmenbedingungen im deutschen Gesundheitswesen schlecht bestellt: "Die langwierige und unstrukturierte Facharztausbildung, wenig planbare, familienunfreundliche Arbeitszeiten sind dafür verantwortlich, dass Tausende von Jungärzten ins Ausland abwandern", kritisiert Hahn.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studentenbefragung der Unternehmensberatung McKinsey: Danach sind den angehenden Ärzten bei ihrem Arbeitgeber vor allem kollegialer Umgang und vertrauensvoller Führungsstil wichtig. Auch ein sicherer Arbeitsplatz, die Möglichkeit zum selbständigen Arbeiten und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden hoch angesetzt. Erst danach folgen Gehalt, Karrierechancen und Reputation des Arbeitgebers.

Gleichwohl hat eine Umfrage der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) unter Studenten im vergangenen Jahr gezeigt, dass die kommende Ärzte-Generation den Patientenkontakt sucht, hohes fachliches Interesse hat, Verantwortung tragen will und Arzt für den "schönsten Beruf der Welt" hält. Nach dem Examen sieht das allerdings anders aus: Viele Absolventen gehen in andere Berufe, oder sie suchen sich einen Job im europäischen Ausland. Nach einer aktuellen Studie der Universität Bochum wollen inzwischen sogar 70 Prozent aller Medizinstudenten ins Ausland gehen. "Früher ging es den Medizinstudenten vielleicht noch mehr um den Verdienst, doch diese Aussichten sind ja heute nicht mehr so gut", erklärt der Vorsitzende des Ausschusses Medizinstudenten beim Hartmannbund, Max Pattmöller. Der Anteil der Männer nehme seit Jahren auch deswegen kontinuierlich ab. Zudem strebten immer mehr Frauen in den Arztberuf. "Die Frauen sind aber noch sensibler, was die Arbeitszeiten und damit die Vereinbarung von Beruf und Familie betrifft", sagt Pattmöller.

Diese Trends haben auch Auswirkungen auf die Wahl der medizinischen Fachgebiete. Während manche Fächer noch sehr gut nachgefragt werden, gibt es bei anderen Nachwuchsprobleme: "Die Chirurgie und die Innere Medizin haben weniger Zulauf, obwohl gerade in diesen Fächern sehr viele Ärzte gebraucht werden", sagt Pattmöller. "Da liegt es klar an den Arbeitsbedingungen, an den vielen Überstunden und Nachtschichten, der Bürokratie und teilweise auch am Führungsstil in den Kliniken."

Viele junge Ärzte empfinden die Weiterbildung zum Chirurgen und zum Facharzt für Innere Medizin mit fünf Jahren als zu lang. "Wer sich innerhalb der Fächer weiterspezialisiert, etwa als Facharzt für Kardiologie oder Pneumologie, braucht sogar noch mehr Zeit. Die Spezialisierungen sind natürlich wichtig, aber viele Studierende schreckt die lange Ausbildungszeit ab", sagt Pattmöller, der im siebten Semester Medizin an der Universität in Homburg studiert.

Auch der Allgemeinmedizin fehlt Nachwuchs, weil die Rahmenbedingungen inzwischen als miserabel gelten. Sorgen macht sich ebenfalls die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN): Zu wenig Junge rückten nach, zugleich steige die Zahl der Patienten mit Alterserkrankungen, teilte der Verband mit. Der DGN führt unregelmäßige Arbeitszeiten in Kliniken und überbordende Bürokratie für die niedergelassenen Nervenärzte als Gründe für den Nachwuchsmangel an. Die Verbände der Psychiater und Psychotherapeuten vermelden Ähnliches.

Dagegen sind Fächer, die ein einigermaßen geregeltes Berufsleben versprechen, gefragt: "Die kleineren Fächer wie Dermatologie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Augenheilkunde scheinen beliebter geworden zu sein, weil offensichtlich in diesen Fächern die Dienstgestaltung leichter ist", sagte Hahn. In die Anästhesie drängten vor allem junge Ärztinnen - wegen des gut planbaren Schichtdienstes. Auch die Pädiatrie gilt als beliebtes Fach. Zahnmedizin und Gynäkologie profitieren überdurchschnittlich von der Feminisierung der Medizin: Sie können genügend Nachwuchs rekrutieren, der nun vornehmlich weiblich ist. Da jedoch die Gynäkologinnen nach der Facharztausbildung vor allem in die Praxen drängen, haben hier die Kliniken Schwierigkeiten, Chefarzt- und Oberarztpositionen zu besetzen. Auch befürchten die Berufsverbände, dass die Forschung an den Kliniken leidet: Wer Familie hat, sitzt nach getaner Arbeit eben nicht mehr abends stundenlang vor dem Mikroskop.

Um die Weiterbildung zu verbessern, hat nun beispielsweise der Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) ein Patenschaftsprogramm aufgelegt, durch das den jungen Ärztinnen und Ärzten erfahrene Kollegen als persönliche Berater und Mentoren zur Seite gestellt werden. Mit der Kampagne will der Verband Chef- und Oberärzte innerhalb der Chirurgie ansprechen.

Fächer, die ein geregeltes Berufsleben versprechen, sind besonders gefragt

Wunschberuf Arzt? Das war einmal. Einige medizinische Disziplinen sind nach wie vor begehrt, doch in vielen gibt es Nachwuchsprobleme. Die Gründe: Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, Überstunden, zu viel Bürokratie. Foto: ddp

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MEDIZIN & PHARMA

Verantwortlich: Werner Schmidt

Redaktion: Viola Schenz

Anzeigen: Jürgen Maukner

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Gefragt bei Arzt und Apotheker

Die Pharmabranche - wen sie sucht, was sie erwartet und bietet

Ob Medizintechniker, Biotechnologen oder Ökonomen - gut ausgebildete und engagierte Fachkräfte werden in der Pharmabranche gesucht. Nach Angaben des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) in Berlin ist im Jahr 2007 die Zahl der Beschäftigten allein im Bereich Forschung und Entwicklung um 1,4 Prozent auf 17 000 gestiegen. Bundesweit gibt es etwa 1000 Unternehmen, die pharmazeutische Mittel für die Herstellung von Medikamenten produzieren. Mehr als 90 Prozent davon seien mittelständische Betriebe, sagt Wolfgang Straßmeir vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI).

Insgesamt seien 127 000 Menschen in der pharmazeutischen Industrie beschäftigt. Diese stellen vor allem Impfstoffe, Diagnostika wie Kontrastmittel zur Erkennung von Krebs sowie natürlich Arzneimittel her. Die Branche bietet nach Straßmeirs Worten insbesondere Jobs für Akademiker wie Informatiker, Biotechniker, Ingenieure, Medizintechniker und Toxikologen. Aber auch Pharma-Ökonomen, also Experten, die sich mit der Kosten-Nutzen-Analyse von Medikamenten beschäftigen, seien gefragt. Die Einstiegsgehälter schwankten je nach Tätigkeit und Berufserfahrung, zwischen 50 000 und 70 000 Euro brutto im Jahr seien üblich, sagt Straßmeir.

Zum Einstieg in die Branche ist nach Straßmeirs Einschätzung das Studienfach Pharmakologie geeignet: "Da kann man zum Beispiel Leiter der Herstellung in einem pharmazeutischen Unternehmen werden." Da die Entwicklung eines Medikaments sehr komplex ist, arbeitet der Herstellungsleiter mit einem Team aus Mikrobiologen und Ingenieuren zusammen. Dabei ist er vor allem für die gleichbleibende Qualität des Produkts verantwortlich oder kümmert sich um die Genehmigung des Präparats bei den Behörden.

Wer in der Pharmabranche Fuß fassen möchte, kommt nicht ohne Fremdsprachen aus. "Fließendes Englisch oder besser noch eine weitere Fremdsprache gehören ganz besonders bei den großen, weltweit tätigen Konzernen zum Muss", sagt Küpper. "Die Pharmabranche ist international aufgestellt, das gilt nicht nur für Vertriebsfragen." Angelika Röpcke/dpa

Informationen: Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, Friedrichstr. 148, 10117 Berlin, info@bpi.de, www.bpi.de

Verband Forschender Arzneimittelhersteller, Hausvogteiplatz 13, 10117 Berlin, info@vfa.de, www.vfa.de

Wer hier Fuß fassen will, kommt nicht ohne

Fremdsprachen aus

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Die Pillenandreher

Mit der Zahl der Medikamente steigt der Bedarf an Beratern

Gegen Bluthochdruck gibt es Hunderte von Medikamenten. Die Unterschiede zwischen ihnen müssen Pharmaberater genau kennen, wenn sie Ärzten oder Apothekern im Auftrag der Hersteller neue Präparate vorstellen. Sie müssen deshalb nicht nur verkaufen können, sondern auch fachlich Bescheid wissen. "Wer das Wort Vertreter nicht abkann, sollte den Beruf besser nicht ergreifen", sagte Erhard Jörgens vom Berufsverband der Pharmaberater (BdP) in Worms.

Werben und beraten ist das Motto für die Fachleute im Dienste der Pharmaindustrie: Sie müssen die Wirkungsweise neuer Medikamente erklären und über Nebenwirkungen informieren. Berater benötigen laut Jörgens daher einen "wissenschaftlichen Background" und müssen über Medizin und Pharmazie Bescheid wissen. Referenten der Pharmafirmen unterliegen dem Arzneimittelgesetz: Sie müssen die rechtlichen Grundlagen für den Handel und die Werbung mit Medikamenten kennen und berücksichtigen. So schreibt das Arzneimittelrecht vor, dass nur wirksame und sichere Medikamente auf den Markt kommen.

Als Pharmaberater darf nach BdP-Angaben nur arbeiten, wer ein abgeschlossenes Studium der Medizin, Pharmazie, Biologie oder Chemie hat. Alternativ reicht als Qualifikation auch eine abgeschlossene Lehre in einem der technischen Assistenzberufe, zum Beispiel als Medizinisch-Technischer Assistent (MTA). Für Beschäftigte mit einer fertigen Lehre in einem ähnlichen Bereich und mehrjähriger Berufspraxis gibt es außerdem die Weiterbildung zum Pharmareferenten. Sie dauert nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg in Vollzeit vier bis sieben Monate, in Teilzeit neun bis zwölf Monate. Fortbildungen spielen auch im weiteren Berufsleben eine wichtige Rolle: "Man muss sich in diesem Job ständig weiterbilden, um auf dem neuesten Stand der medizinischen Forschung zu bleiben", sagt Jörgens.

Laut Bundesagentur für Arbeit hat die Zahl der Beschäftigten in der Berufsgruppe der Handelsvertreter abgenommen: Sie sank von 198 000 im Jahr 1999 auf 174 000 im Jahr 2007. Die Jobaussichten seien derzeit aber nicht schlecht, sagt Jörgens. Durch die Vielzahl neuer Medikamente auf dem Markt sei der Beratungsbedarf gestiegen. Pharmaberater ist in erste Linie ein Männerberuf: Der Frauenanteil lag im vergangenen Jahr bei 20 Prozent. Die Bezahlung ist je nach Firma unterschiedlich. Richtwert seien 3500 Euro brutto im Monat, manche Firmen zahlten auch Erfolgsprämien. dpa

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Ältere haben es bei der Jobsuche schwerer

Ältere Menschen finden schwerer eine neue Stelle. Trotz steigender Alterserwerbstätigkeit haben sich ihre Einstellungschancen nicht erhöht. Zu diesem Ergebnis kommt der Altersübergangs-Monitor, den das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen erstellt hat. Bei Neueinstellungen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist demnach nur jeder Zehnte älter als 50 Jahre. Mit jedem zusätzlichen Lebensjahr wird die Jobsuche schwieriger. So fanden im Jahr 2006 bei den 50-Jährigen knapp 100 000 eine neue Stelle, während es bei den 55-Jährigen nur noch 68 000 und bei den 59-Jährigen lediglich etwa 25 000 waren, so das IAQ. Grundlage der von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie waren Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. dpa/tmn

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Schaumschläger entlarven

Wie Personaler im Vorstellungsgespräch erkennen können, ob sie einen geeigneten Kandidaten oder eine potentielle Fehlbesetzung vor sich haben

Claus Weber, Inhaber eines mittelständischen EDV-Unternehmens in Stuttgart, war glücklich. Nach langer Suche hatte er endlich den anscheinend passenden Vertriebsleiter gefunden. Doch dann trat der Neue seine Stelle an. Und schon wenige Tage später hatte Weber erste Zweifel: Habe ich wirklich den besten Kandidaten ausgewählt? Denn zunehmend häuften sich bei ihm die Klagen der Verkäufer: "Der Neue hat von Tuten und Blasen keine Ahnung. Und wie er mit uns umspringt, das lassen wir uns nicht gefallen." Zwei Monate später war Weber erneut auf der Suche nach einem Vertriebsleiter. Sein Traumkandidat hatte sich als Fehlgriff erwiesen.

Solche Fehlgriffe können für Unternehmen verhängnisvoll sein - nicht nur, weil alle Ausgaben für die Personalsuche und -auswahl Fehlinvestitionen waren. Weit schwerer wiegen laut Frank Adensam, Inhaber der Adensam Managementberatung in Ludwigshafen, in der Regel "die sogenannten Chaos-Kosten, die entstehen, wenn Schlüsselpositionen längere Zeit verwaist bleiben oder nicht adäquat wahrgenommen werden".

Doch warum erweisen sich Wunschkandidaten so oft als Flop? Eine Ursache ist laut Adensam: "Viele Unternehmen investieren zu wenig Zeit und Energie in das Erstellen eines Anforderungsprofils an den neuen Mitarbeiter." Nur selten untersuchen sie zum Beispiel: Welche speziellen Fähigkeiten muss der künftige Mitarbeiter aufgrund unserer Unternehmens- und Kundenstruktur haben? Und noch seltener fragen sie sich: Was für ein Typ sollte der neue Controller, Vertriebsleiter oder Disponent sein? Eher ein kleinkarierter Erbsenzähler oder ein Visionär? Oft entwickeln die Verantwortlichen keinen Leitfaden für die Auswahlgespräche. Ein solches Strukturieren und Standardisieren erachtet Volker Rojahn, Geschäftsführer der Personalberatung HR Personal Consulting, Dresden, als wichtig - "unter anderem, damit die Bewerber nach den Gesprächen vergleichbar sind. Außerdem tappen die Interviewer dann nicht so leicht in die Falle, sich von eloquenten Bewerbern das Ruder aus der Hand nehmen zu lassen".

Auswahlgespräche sollten wie folgt aufgebaut sein: Nach dem kurzen Smalltalk, der auf die Begrüßung folgt, sollten der oder die Interviewer den Kandidaten bitten, kurz seinen Werdegang zu schildern. Danach sollten sie Fragen zum Lebenslauf stellen. Zum Beispiel: "Warum haben Sie diesen Studienschwerpunkt gewählt?" "Warum haben Sie nach drei Jahren den Arbeitgeber gewechselt?" Ist der Lebenslauf abgeklopft, sollten die Interviewer die speziellen beruflichen Erfahrungen und Fähigkeiten des Bewerbers erkunden, empfiehlt Michael Strübing, Geschäftsführer der Personalberatung Percon in Frankfurt am Main. Zum Beispiel mit Fragen wie: "Vor welchen Herausforderungen standen Sie bei Ihrer Arbeit als . . .?" oder "Was haben Sie im Projekt XY gelernt?" Danach sollten sie ermitteln, was für ein Typ der Bewerber ist. "Doch Vorsicht", mahnt Strübing, "geben Sie sich nicht mit so allgemeinen Antworten zufrieden wie: Ich bin entscheidungsstark. Fragen Sie nach, in welchen Situationen sich das zeigt. Wenn es um Neuanschaffungen geht? Oder wenn es um das Treffen von schmerzhaften Entscheidungen geht?"

Idealerweise wurde bisher im Bewerbungsgespräch noch kaum ein Wort über das Unternehmen und die zu besetzende Position gesprochen - bewusst. Denn wenn die Interviewer den Kandidaten bereits zu Beginn des Gesprächs ausführlich über das Unternehmen, die vakante Position und die Aufgaben des künftigen Stelleninhabers informieren, dann weiß der Bewerber, was von ihm erwartet wird. Also passt er sein Antwortverhalten den Erwartungen an. Auf die vakante Stelle sollten die Interviewer das Gespräch daher erst überleiten, wenn sie bereits ein recht konkretes Bild vom Bewerber haben - zum Beispiel mit den Worten: "Sie haben sich als . . . beworben. Wie stellen Sie sich Ihre künftige Tätigkeit bei uns vor?" Oder: "Wir sind ein mittelständischer Betrieb. Was schätzen Sie, welche Anforderungen sich daraus ergeben?" Auch nun sollten sie den Kandidaten zunächst kommen lassen, bevor sie ihm endlich das Unternehmen vorstellen und dezidiert die vakante Position beschreiben.

Hat der Bewerber diese Information, sollten die Interviewer ihm erneut Fragen stellen, rät Rojahn, "und zwar zu typischen Herausforderungen, mit denen der künftige Stelleninhaber konfrontiert sein wird". Zum Beispiel: "Stellen Sie sich vor, ein Schlüsselkunde beschwert sich über etwas und droht die Zusam-menarbeit zu beenden. Was würden Sie tun?" Dann wird meist schnell klar, ob der Kandidat der Richtige ist.

Wer Bewerbern hinter die Fassade blicken möchte, muss einigermaßen routiniert im Führen von Gesprächen und Interviews von Personen sein. Sonst rei-ßen eloquente Bewerber schnell die Gesprächsführung an sich. Deshalb empfiehlt Adensam gerade untrainierten Führungskräften: "Überlegen Sie, ob Sie zum Auswahlgespräch einen Kollegen hinzuziehen - oder einen externen Berater." Das hat auch den Vorteil: Im Gespräch ist eine Arbeitsteilung möglich. Während der eine Interviewer primär das Gespräch führt, achtet sein Kollege vor allem auf die nonverbalen Aussagen des Bewerbers. Außerdem kann er sich die wichtigsten Statements und Beobachtungen notieren.Bernhard Kuntz

Die vakante Position und ihre Arbeitsinhalte sollten zum Schluss drankommen

Nach einem kurzen Smalltalk schildert der Bewerber seinen Werdegang. Foto: AFP

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Vier von fünf Firmen fördern Weiterbildung

Vier von fünf Firmen in Deutschland investieren in die Weiterbildung ihrer Beschäftigten. 2007 engagierten sich fast 84 Prozent in der betrieblichen Weiterbildung, wie aus einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hervorgeht. Mitgezählt wurden dabei auch interne Kurse, Messebesuche, Lernen am Arbeitsplatz und das Selbststudium. Das Engagement steigt mit der Betriebsgröße: Von den Firmen mit mehr als 250 Beschäftigten nahmen sogar 96 Prozent für Bildungsmaßnahmen Geld in die Hand. Insgesamt beliefen sich die Kosten auf etwa 27 Milliarden Euro. Im Schnitt gaben die Firmen damit für jeden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 1053 Euro aus. Jeder Beschäftigte nahm 1,3-mal an einer Schulung teil. Mit knapp drei Vierteln entfällt der Großteil davon auf Seminare und Kurse in Eigenregie der Firmen. AP

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Erfinderlohn für Geistesblitze

Professionelles Ideenmanagement spart den Unternehmen Millionen. Daher winken kreativen Mitarbeitern stattliche Prämien

Von Georg Etscheit

Oft sind es kleine Ideen, die eine große Wirkung haben. Heinz Dieter Hewing, Mitarbeiter des Uni-Klinikums Münster, fiel auf, dass das krankenhauseigene Versorgungszentrum immer vollständig klimatisiert wurde, obwohl viele Räume zu bestimmten Zeiten gar nicht genutzt wurden. Er schlug vor, durch den Einbau spezieller Klappen in den Zu- und Abluftkanälen das umzuwälzende Luftvolumen und damit den Stromverbrauch zu reduzieren. Nach Abzug der Investitionskosten ergab sich dadurch eine Jahresersparnis von fast 90 000 Euro. Hewings "Erfinderlohn": eine Prämie von gut 10 000 Euro.

"Jeder, der Lust hat, kann seine Idee einreichen", sagt Ideenmanager Stefan Jax. Das geht, ganz bequem, übers Intranet der Uni-Klinik. Gutachter entscheiden, ob eine Idee umgesetzt werden kann und wie hoch der Einspareffekt ist. Für ihr Engagement winken den Mitarbeitern neben stattlichen Geldprämien auch attraktive Preise beim jährlichen Ideenwettbewerb.

Das Ideenmanagement - früher sprach man etwas hölzern vom "betrieblichen Vorschlagswesen" - hat in Deutschland Tradition. Stahlbaron Alfred Krupp gilt als dessen Erfinder. In seinem "Generalregulativ" von 1872 wies er die Unternehmensleitung an, "Anregungen und Vorschläge zu Verbesserungen, auf solche abzielenden Neuerungen, Erweiterungen, Vorstellungen über und Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit getroffener Anordnungen" seitens der Belegschaft stets "dankbar" anzunehmen. Bis heute gilt ein Grundprinzip: Bei Verbesserungsvorschlägen, die im Rahmen eines institutionalisierten Ideenmanagements honoriert werden können, muss es sich stets um Zusatzleistungen zur eigentlichen Aufgabe eines Beschäftigten handeln.

Auf die Gedankenblitze seiner Mitarbeiter setzt auch der oberhessische Heiztechnikproduzent Viessmann. Im Jahre 2007 wurden allein am Stammsitz in Allendorf mehr als 23 000 Ideen von Mitarbeitern in der Produktion eingereicht. Einsparvolumen: fast 1,1 Millionen Euro. Mehr als 125 000 Euro wurden dafür als Prämien an die Beschäftigten ausgeschüttet.

Ihre Verbesserungsvorschläge können Viessmann-Mitarbeiter über zwei "Regelkreise" ans Management richten. Der "kleine Regelkreis" heißt auch "Blitzidee". Spontane Einfälle sollen in einem "Ideenblock" notiert und formlos an die direkten Vorgesetzten weitergereicht werden. Die müssen die Vorschläge, falls möglich und sinnvoll, innerhalb von zwei Wochen umsetzen. Für jede Idee gibt es Punkte, die gesammelt und gegen eine Geld- oder Sachprämie eingelöst werden können. Im "Großen Regelkreis" sollen die Mitarbeiter ihre Verbesserungs- oder Einsparvorschläge ausführlicher darstellen mit Beschreibung des aktuellen Zustandes, des Lösungswegs und des möglichen Einsparpotentials. In der Regel würden 15 Prozent der Netto-Jahreseinsparung als Geldprämie ausgeschüttet, sagt Peter Becker, der bei Viessmann fürs Ideenmanagement zuständig ist. Den Höchstbetrag von 20 000 Euro konnten im vergangenen Jahr immerhin drei Viessmann-Beschäftigte auf ihrem Gehaltskonto verbuchen.

Mit 17 Verbesserungsvorschlägen pro Mitarbeiter im Jahr 2007 schaffte es Viessmann beim Ranking des Deutschen Instituts für Betriebswirtschaft (DIB) auf Platz eins im Segment der metallverarbeitenden Industrie. Das Beratungs- und Ausbildungsunternehmen aus Frankfurt veröffentlicht jedes Jahr eine Umfrage. 2007 nahmen daran 290 Betriebe teil. Die Studie ist nicht repräsentativ, doch lassen sich Trends ablesen. Demnach wächst die Bereitschaft von Mitarbeitern, ihre Ideen einzubringen, kontinuierlich. 2007 wurden in den befragten Unternehmen 1,4 Millionen Verbesserungsvorschläge eingereicht (2006: 1,27 Millionen). Dafür wurden 168 Millionen Euro an Prämien ausgeschüttet, im Durchschnitt 183 Euro pro Vorschlag. Der Nutzen, den Unternehmen aus dem Ideemanagement zogen, beziffert das Institut auf etwa 1,5 Milliarden Euro. Das entspreche einem durchschnittlichen Effizienzgewinn von mehr als fünf Millionen Euro pro Unternehmen. Hochgerechnet auf die etwa 40 Millionen Erwerbstätigen ergibt sich eine stattliche Zahl, die freilich aufgrund der beschränkten Datenlage mit Vorsicht zu genießen ist: Mehr als 27 Milliarden Euro könnte die deutsche Wirtschaft laut DIB einsparen, wenn Ideen der Mitarbeiter konsequent genutzt würden.

Beim Ingolstädter Autohersteller Audi firmiert das Ideenmanagement als "Ideen-Agentur". Die Agentur verwertet nicht nur die Einfälle der Beschäftigten, sondern bietet auch Kurse an, mit denen Kreativität und Problemlösungskompetenz jedes einzelnen Mitarbeiters gefördert werden sollen. "Man muss sensibel sein und hinschauen können. Dafür gibt es Techniken, die man lernen kann", sagt Markus Schmaderer, Chef des AudiIdeenmanagements. Von einer verbindlichen Ideenquote pro Mitarbeiter hat sich Audi vor drei Jahren wieder verabschiedet. Zwang senke, erklärt Schmaderer, die Qualität der eingereichten Ideen erheblich.

Beim Ideenmanagement handele es sich für Mitarbeiter wie für Vorgesetzte um eine Situation, bei der beide Seiten nur profitieren könnten, sagt Christiane Kersting vom DIB. Trotzdem habe dies erst eine Minderheit der Unternehmen erkannt. "Noch nicht einmal alle Dax-Konzerne haben entsprechende Strukturen aufgebaut." Manche Manager empfänden es immer noch als Kränkung und Kritik an ihrem Führungsstil, wenn Mitarbeiter mit Verbesserungsvorschlägen an sie heranträten. Durch solch ein Verhalten vergäben die Unternehmen nicht nur geldwerte Vorteile, sondern auch die Möglichkeit, ihre Mitarbeiter nachhaltig zu motivieren.

Um im internationalen Wettbewerb auf Dauer bestehen und auch in der Krise reüssieren zu können, müsse das häufig unterschätzte Wissen der Mitarbeiter optimal genutzt werden, sagt Tim Zimmermann, Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger Strategy Consultants. Dies gelte besonders für stark innovationsorientierte Firmen.

Zu einem effektiven Ideenmanagement gehörten nicht nur einfache Übermittlungswege für Verbesserungsvorschläge, etwa übers Intranet, sondern auch, um Enttäuschungen bei den Mitarbeitern zu vermeiden, eine schnelle Rückmeldung. Und zwar auch für den Fall, dass ein Vorschlag nicht verwirklicht werden könne, sagt Zimmermann. Sinnvoll seien neben den üblichen Prämien weitere Anreize. So könnten Beförderungen oder Gehaltserhöhungen davon abhängig gemacht werden, ob ein Mitarbeiter Verbesserungsvorschläge eingereicht habe. "Die Leute dürfen nicht denken, dass es nur Scherereien bringt, wenn sie mit einem Verbesserungsvorschlag zum Chef gehen. Sie müssen das Gefühl haben, das bringt ihnen was."

Spontane Einfälle werden

in einem Ideenblock notiert und dann weitergereicht

Verbesserungsvorschläge macht nur derjenige, der auf interessierte Chefs trifft

Wenn der Geistesblitz einschlägt, hagelt es Geldprämien, im Schnitt 183 Euro pro Einschlag. Foto: dpa

2007 erwirtschafteten Unternehmen in Deutschland etwa 1,5 Milliarden Euro durch erfindungsreiche Mitarbeiter.

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Personalchefs nehmen Kosten unter die Lupe

Mehr als die Hälfte der deutschen Personalchefs wollen dem Thema "Personalkostenplanung und -controlling" in diesem Jahr eine höhere Bedeutung zumessen. Dies geht aus einer Umfrage der S+P AG, einem Anbieter von Human-Ressources-Software in Leipzig, unter mehr als 300 Personalverantwortlichen hervor. Neben dem Faktor "Kosten" stufen die Personalchefs aber auch das Thema "Flexibilität" als zunehmend wichtig ein. "Während das Trendthema des vergangenen Jahres ,Personalbeschaffung' an Bedeutung verliert, nehmen eben jene Fragen an Wichtigkeit zu, mit denen die Firmen ihre Kosten reduzieren können", sagte Matthias Schneider, Vorstandsvorsitzender der S+P AG in Leipzig. Er warnte indes davor, zu eilige Schlüsse zu ziehen: "Gerade in wirtschaftlich schwächeren Phasen sollten die Unternehmen nicht allein auf die Kostenbremse treten. Vielmehr bietet die Flexibilisierung von Arbeit eine wesentlich intelligentere Art, mit der Krise umzugehen." SZ

Ganz oben auf der Agenda der Personalchefs stehen 2009 die Lohnkosten.

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Allzeit bereit

Worauf es angehenden Ärzten bei der Wahl ihres Fachs ankommt Seite V2/11

Tüftler fürs Feine

Was Bioinformatiker so unentbehrlich für die Forschung macht Seite V2/12

Die Pillenandreher

Mit der Zahl der Medikamente steigt der Bedarf an Pharmaberatern Seite V2/12

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Spezial: Medizin & Pharma

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Rotes Kreuz warnt vor Grippe am Arbeitsplatz

Angesichts der bevorstehenden Grippewelle rät das Deutsche Rote Kreuz zu vorbeugenden Maßnahmen am Arbeitsplatz. So sollten Türöffner und Lichtschalter desinfiziert werden, um die Übertragung von Viren zu vermindern. Büros sollten gut gelüftet werden, denn eine Überwärmung der Räume fördert das Überleben von Viren und somit die Ansteckung. Außerdem sollte man Händeschütteln und "kontaktintensive Begrüßungszeremonien" vermeiden. AP

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Kliniken können nicht konkurrieren

Krankenhausmanager verdienen deutlich weniger als ihre Kollegen in Wirtschaftsunternehmen

Führungskräfte in Krankenhäusern verdienen im Schnitt nur etwa halb so viel wie in einer vergleichbaren Position in einem Wirtschaftsunternehmen. Das ergab die Studie "Führungs- und Fachkräfte in Krankenhäusern" der Managementberatung Kienbaum in Gummersbach. Dazu wurden die Daten von 1977 Positionen aus 157 Krankenhäusern aller Größen erhoben.

Der Geschäftsführer eines Krankenhauses erhält demnach Jahresgesamtbezüge von 142 000 Euro, während ein Geschäftsführer in einem Wirtschaftsunternehmen im Schnitt 280 000 Euro verdient. Ein Leiter Einkauf/Logistik in einem Krankenhaus bekommt mit 60 000 Euro nur etwa halb so viel wie ein Leiter Materialwirtschaft/Einkauf in Wirtschaftsunternehmen. "Die Gehaltsunterschiede zwischen Krankenhäusern und anderen Wirtschaftsunternehmen sind beträchtlich. Das macht einen Wechsel attraktiv. Deshalb müssen die Krankenhausleitungen intelligente Vergütungssysteme entwickeln, um Talente zu gewinnen und zu binden", sagt Kienbaum-Vergütungsexperte Christian Näser.

Von Juli 2007 bis Juli 2008 stiegen die Gehälter der nichtärztlichen Führungskräfte in Krankenhäusern um durchschnittlich drei Prozent. Die Ärzte konnten ihr Salär im Schnitt um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr erhöhen. Je jünger der Mitarbeiter ist, desto höher fällt die Gehaltssteigerung aus: Führungskräfte bis 35 Jahre erhalten mit 4,9 Prozent die höchsten Zuwächse, während Mitarbeiter im Alter von Mitte 50 mit 2,6 Prozent nur eine gut halb so hohe Gehaltssteigerung erzielen konnten.

Die Spannweite der Jahresgesamtbezüge von Führungskräften in Krankenhäusern ist beträchtlich. Je höher die Mitarbeiter in der Hierarchie des Hauses angesiedelt sind, desto stärker streuen die Gehälter: Nichtärztliche Führungskräfte und Spezialisten erhalten eine jährliche Vergütung zwischen 30 000 und mehr als 200000 Euro. Bei den Chefärzten ist die Bandbreite noch größer: Hier streuen die Jahresgesamteinkommen von 80000 bis mehr als eine halbe Million Euro. Dazwischen liegen Oberärzte mit Jahresgehältern von 60000 bis 200000 Euro und Ärzte mit einer Vergütungsspanne von 30000 bis 125000 Euro.

Trotz der großen Streuung der Gehälter sind Schwerpunkte erkennbar. Etwa die Hälfte der Geschäftsführer verdient zwischen 100000 und 175000 Euro im Jahr, und knapp zwei Drittel der Verwaltungsdirektoren beziehungsweise kaufmännischen Direktoren erhalten zwischen 70000 und 125000 Euro. Von den in Krankenhäusern tätigen Führungskräften und Spezialisten werden knapp drei Viertel mit 40000 bis 80000 Euro im Jahr bezahlt.

Leistungsabhängige Zusatzvergütungen spielen in Krankenhäusern traditionell nur eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu Wirtschaftsunternehmen, wo 91 Prozent der Geschäftsführer einen Bonus von durchschnittlich 97000 Euro im Jahr erhalten, beträgt die variable Bezahlung bei einem Krankenhaus-Geschäftsführer lediglich 28000 Euro. Nur 60 Prozent kommen in den Genuss dieser Zusatzleistung. Auf der ersten Ebene unterhalb der Geschäftsführung ist der Unterschied sogar noch gravierender: In Krankenhäusern erhält nur ein Drittel dieser Führungskräfte einen Bonus, der im Mittel 13000 Euro beträgt. Dagegen bezahlen Wirtschaftsunternehmen auf dieser Ebene 90 Prozent ihrer Mitarbeiter einen variablen Gehaltsbestandteil von durchschnittlich 33000 Euro.

"Die Verbindung von individueller Leistungsfähigkeit und Erfolg der Krankenhausbetriebe mit der Vergütung der Führungskräfte fördert die Identifikation der Krankenhausmanager mit ihrer Organisation und der individuellen Aufgabenstellung. Außerdem honoriert sie besondere Anstrengungen und Leistungen", sagt Näser.

Das Liquidationsrecht ist bei Chefärzten die Hauptform der variablen Vergütung. 57 Prozent erhalten diesen Vergütungsbestandteil. Bei den Oberärzten sind es 62 Prozent und bei den Fachärzten 44 Prozent. Einkünfte aus Nebentätigkeiten spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Arztvergütung. 80 Prozent der Chefärzte haben die Erlaubnis, nebenberuflich zu arbeiten, zum Beispiel in der ambulanten Beratung und Behandlung. Das beschert ihnen im Schnitt zusätzlich 66000 Euro jährlich. Einen klassischen leistungsabhängigen Bonus wie in vielen Wirtschaftsunternehmen erhalten hingegen nur sechs Prozent der Chefärzte und lediglich jeder zehnte Oberarzt. SZ

Chefärzte verdienen sich im Schnitt 66000 Euro jährlich durch Nebeneinkünfte hinzu

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Wie kriegen wir unseren Sohn aus dem Haus?

SZ-Leserin Ursula Sch. schreibt:

Unser Sohn ist 45 Jahre alt, hat eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung in einem Medienberuf und darin drei Jahre Berufserfahrung. Danach begann er ein Studium, brach es aber

ab und absolvierte ein paar Jahre später eine Fortbildung im Medienbereich,

die mein Mann und ich bezahlt haben. Seit seiner Scheidung lebt er bei uns im Haus, arbeitet aber nicht - er bewirbt sich noch nicht einmal. Den Unterhalt für seine beiden Kinder tragen wir.

Inzwischen sind wir Rentner geworden und können uns das finanziell nicht mehr leisten. Was fangen wir nur mit unserem Sohn an?

Christine Demmer antwortet:

Liebe Frau Sch., in jüngster Zeit bekommen wir häufig Leserzuschriften ähnlichen Inhalts, und ich kann allen betroffenen Eltern nur sagen: Sie und Ihr Mann haben Ihre Pflicht wahrlich übererfüllt. Sicher haben Sie gern geholfen, weil Sie Ihren Sohn lieben, und ich vermute, Sie haben immer wieder gehofft, dass er nun endlich in die Gänge kommt. Einen Gefallen haben Sie ihm letztlich aber nicht getan. Denn

Sie müssen sich selbst fragen: Wie sollte er lernen, für sich und sein Leben die Verantwortung zu tragen, wenn Sie

ihm diese jahrzehntelang bereitwillig abgenommen haben?

Das bringt weder Sie noch Ihren Sohn einen Millimeter weiter. Vater, Mutter und Kind sollten sich schleunigst zusammensetzen und über die Sachlage diskutieren. Junior verfügt über eine abgeschlossene Ausbildung, ein paar Jahre Berufserfahrung sowie eine durchaus sinnvolle Weiterbildung in einem modernen Beruf. Folglich bringt er die Voraussetzungen für eine Anstellung

in der Medienbranche mit.

Schlecht steht es offenbar um seine

Fähigkeit, Krisen aus eigener Kraft zu bewältigen und längere Zeit in einer Stelle durchzuhalten. Also sollte er genau das lernen - aber das wird er wahrscheinlich nur tun, wenn es sein muss. Mein Rat daher: Geben Sie ihm diese Lernchance. Kündigen Sie an, dass Sie in Kürze das "Hotel Mama" schließen werden. Und ziehen Sie Ihre Ankündigung dann auch durch.

Wenn Sie konsequent bleiben, wird er sich wohl oder übel um einen Job kümmern und eine Unterkunft suchen müssen. Wenn Sie wollen und sich das leisten können, können Sie ihm anfangs finanziell unter die Arme greifen. Verpflichtet sind Sie nicht dazu. Und sollte er ob des Rausschmisses ungehalten oder beleidigt reagieren oder Ihnen gar androhen, den Kontakt - auch den der Kinder - zu Ihnen abbrechen zu wollen, dann lassen Sie sich nicht davon beeindrucken und machen Sie um Gottes willen keinen Rückzieher. Ich verstehe, dass Sie das Beste für Ihren Sohn wollen. Das aber wäre, ihn in die große, weite Welt zu schicken und ihm die Gelegenheit zu geben, sich darin zu bewähren. Aus eigener Kraft.

Haben Sie auch eine Frage zu Beruf und Karriere? Schicken Sie ein paar Zeilen an Christine Demmer. Sie beantwortet ausgewählte Briefe an dieser Stelle, selbstverständlich anonymisiert. (coaching@ sueddeutsche.de)

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Die Brot-und-Butter-Strategie

Schreiben fürs Reden: Wer Zuhörer gewinnen will, hüte sich vor bürokratischen Begriffen und Satzmonstern

Von Norbert Franck

"Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön" - forderte Lessing seine Schwester auf. Viele Reden und Vorträge sind für das Publikum kein Vergnügen, weil das Manuskript nach dem umgekehrten Motto verfasst wurde: Rede wie Du schreibst. Doch Hören ist etwas anderes als Lesen. Zuhörer erwarten HörTexte. Sie freuen sich über Reden, deren Regisseurin die Rhetorik ist und nicht die Grammatik, die oberste Instanz der Schriftsprache.

Eine Aussage pro Satz. Ein Problem vieler Reden und Vorträge ist die Verdichtung von Informationen. Häufig wird zu viel in einen Satz gepackt. Ein Beispiel: "Der Vertrieb unserer Ferngläser soll nach einer Entscheidung der Marketing-Leitung abweichend von der bisherigen Planung nur im Fachhandel erfolgen, während bisher ein Verkauf in großen Drogerie-Ketten vorgesehen war."

Solche Sätze sind schwer zu sprechen. Und es ist schwierig, die Hauptaussage zu entdecken. Wer fürs Hören schreibt, sollte Informationen Schritt für Schritt zu Papier bringen. Das heißt für das zitierte Beispiel: Aus einem langen Satz drei überschaubare Sätze zu machen: "Unsere Ferngläser sollen nur im Fachhandel vertrieben werden. Das hat die Marketing-Leitung entschieden. Ursprünglich war vorgesehen, die Ferngläser in großen Drogerie-Ketten zu verkaufen." Erhält jeder Gedanke einen eigenen Satz, werden die Aussagen verständlicher. Und fast immer braucht man auch weniger Wörter. In den drei Sätzen sind es 24 Wörter; der lange Satz mit den Informationshäufungen hat 28.

Kurze Sätze. Sätze mit mehr als 25 Wörtern sind schwer verständlich. Diese Feststellung gilt für gedruckte Texte. Umso mehr sollte man sich bei Vorträgen vor Satzmonstern hüten. Gute Redner vernebeln ihre Argumentation nicht nach folgendem Muster: "Neue Steuerungsmodelle, übergreifende Management-Ansätze und Effizienz steigernde Organisationsprozesse sind Themen, mit denen sich öffentliche Verwaltungen angesichts des Kostendrucks und der erforderlichen Haushaltssanierungen zunehmend beschäftigen."

Aussagen werden verständlicher und prägnanter, wenn sie durch den Satzbau gestützt werden. Der Ort für die Hauptaussage ist, wie der Name sagt, der Hauptsatz, an den sich die Begründung im Nebensatz anschließt: "Öffentliche Verwaltungen beschäftigen sich zunehmend mit neuen Steuerungsmodellen, übergreifenden Management-Ansätzen und Effizienz steigernden Organisationsprozessen, weil der Kostendruck gestiegen ist und die Haushalte saniert werden müssen."

Besser sind zwei Sätze, die durch eine orientierende Frage verbunden werden: "Öffentliche Verwaltungen beschäftigen sich zunehmend mit neuen Steuerungsmodellen, übergreifenden Management-Ansätzen und Effizienz steigernden Organisationsprozessen. Warum tun sie das? Aus zwei Gründen: weil der Kostendruck gestiegen ist und weil die Haushalte saniert werden müssen."

Rätsel vermeiden. "Wer seinen Hund liebt, muss nicht auch seine Flöhe lieben", sagte Heiner Geißler einmal in einem Interview. Wessen Flöhe meinte er? Wenn Herr Geißler die Flöhe des Hundes meinte, wäre korrekt gewesen: "Wer seinen Hund liebt, muss nicht auch dessen Flöhe lieben." Viele tun sich schwer mit seine und dessen, dieser und jene, mit Personal- und anderen Pronomen. Fürwörter führen leicht zu Rätseln. Vorträge sollten informativ sein - nicht rätselhaft.

Einfache Worte wählen. Wenn sich in der städtischen Grünanlage die Flora aufgrund ergiebiger Niederschläge positiv entwickelt, dann haben wir was? Einen scheußlichen Satz, das Gegenteil von anschaulich. Wenn nach einem Dauerregen im Stadtpark alles blüht, dann freut man sich über die Natur und die anschauliche Formulierung. Kurz: Man kann mit einfachen Worten einen Sachverhalt treffend beschreiben und mit schwergängigen, leblosen Wörtern das Gegenteil erreichen. Halten Sie es deshalb mit Schopenhauer: "Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge." Meistens sind "gewöhnliche" Worte anschaulicher. Anschaulicher als Grundnahrungsmittel ist Brot und Butter. Grundnahrungsmittel ist ein Oberbegriff. Solche Begriffe machen Reden und Vorträge steif. Deshalb: Bus und Bahn - statt öffentliche Verkehrsmittel, Sonnen- und Windenergie - statt regenerative Energien.

Wer Sonnen- und Windenergie sagt, trifft eine Auswahl aus dem großen Ganzen. Bei einer Pfändung oder einer Inventur muss alles penibel aufgeführt werden. Doch immer dann, wenn es nicht um Vollständigkeit geht und begriffliche Präzision nicht zwingend ist, gewinnt eine Rede durch kurze und anschauliche Wörter. Und bei der Verwendung von Fremdwörtern sollte man sich an die Maxime halten: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.

Fragen formulieren. Fragen stellen eine Beziehung zu den Zuhörern her und erhöhen die Aufmerksamkeit. Beginnen Sie deshalb ab und zu mit einer Frage. Statt "Die Grenzen der Steuerung marktwirtschaftlicher Systeme liegen . . ." fragen Sie besser: "Wo liegen die Grenzen der Steuerung marktwirtschaftlicher Systeme?" Stellt man eine Frage, sollte man Zeit zum Nachdenken geben: still bis vier zählen und dabei ins Publikum schauen. Möchte man von den Zuhörern eine Antwort erhalten, sollte das durch eine direkte Ansprache deutlich gemacht werden: "Was meinen Sie: Welche Nachteile haben E-Mails gegenüber Briefen?"

Beispiele geben, Vergleiche ziehen. Alle mögen konkrete und verständliche Beispiele. Besonders beliebt sind Beispiele aus der Praxis beziehungsweise dem Alltag. Sie sind allerdings - wie Medikamente - nur in der richtigen Dosierung hilfreich.

Vergleiche sind anschaulich und können Reden mit einer Prise Ironie oder einem Schuss Polemik würzen: "Wahlkampfversprechen sind so zuverlässig wie Horoskope." "Die Wahlergebnisse der ABC folgen den Aktienkursen: Es geht rasch nach unten." Auch hier gilt: Überdosierungen vermeiden! Mit Vergleichen lassen sich Sachverhalte verdeutlichen - etwa die Tatsache, dass es in vielen Zusammenhängen auf Qualität ankommt und nicht auf Quantität: "Mit einem Tropfen Honig fängt man mehr Fliegen als mit einem Fass Essig."

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Pars pro toto: Oft ist es eingängiger, einzelne Dinge beim Namen zu nennen als den zwar korrekten, dafür aber bürokratischen Oberbegriff zu wählen. Also besser "Brot und Butter" sagen als "Grundnahrungsmittel". Foto: Alessandra Schellnegger

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Kommunikation ist Chefsache

Führungskräfte müssen zuhören und kritisieren können - und unterschwellige Botschaften erkennen

Vorgesetzte müssen nicht nur fachlich überzeugen, sondern auch gut kommunizieren können. Doch genau daran hapert es oft. Denn viele Chefs schielen in erster Linie auf die Ergebnisse und unterschätzen dabei, wie wichtig der menschliche Faktor für den Erfolg der Arbeit ist. Der Hamburger Kommunikationstrainer Johannes Ruppel bringt Führungskräften bei, worauf sie achten müssen, wenn ein Mitarbeitergespräch gelingen soll.

SZ: Was überrascht die Teilnehmer in Ihren Kursen am meisten?

Ruppel: Zweierlei: Dass sie gar nicht so viel reden müssen, um gut zu kommunizieren. Oft ist aufmerksames Zuhören sogar wichtiger. Und dass sie sich über ihre eigene Haltung im Klaren sein müssen, bevor sie sich mit einem Mitarbeiter auseinandersetzen. Wer seine innere Linie kennt, kann auch im Gespräch klar sein. Geschieht das nicht, eiert man herum.

SZ: Leicht gesagt. Aber wie kommt man zu dieser Klarheit?

Ruppel: Es ist wichtig, im Vorfeld eines Gesprächs die eigenen inneren Stimmen zu befragen. Denn nicht selten widersprechen sie sich. Man versteht vielleicht einerseits das Verhalten eines Mitarbeiters, ärgert sich aber dennoch darüber. Diese verschiedenen inneren Stimmen wahrzunehmen und sie angemessen im Gespräch zu äußern, klärt bereits vieles. Wer dann im Gespräch spürt, dass er eine wichtige Stimme übersehen hat, kann ihr immer noch spontan Ausdruck verleihen. Oder das Gespräch vertagen und mit sich selbst erneut zu Rate gehen. Letzteres empfehle ich insbesondere denen, die leicht aus der Haut fahren.

SZ: Was muss ein Chef sonst noch können?

Ruppel: Gut zuhören, sich auf die Argumente des anderen einlassen und hinhören, was im Gegenüber vorgeht. Aber eine Führungskraft sollte auch Stellung beziehen und unangenehme Rückmeldungen angemessen geben können. Doch gerade wenn es um negative Konsequenzen geht, scheuen viele davor zurück. Schließlich macht man sich damit nicht nur beliebt. Andererseits fällt Führungskräften manchmal auch Lob und Wertschätzung schwer. Damit meine ich nicht nur das ausgesprochene Lob, sondern auch die Wertschätzung im Umgang. Als Führungskraft kann ich mich sehr wohl gegen die Meinung eines Mitarbeiters entscheiden und ihm trotzdem zeigen, dass ich seine Bedenken ernstnehme.

SZ: Warum kommt es zu so vielen Spannungen am Arbeitsplatz?

Ruppel: Weil unterschiedliche Interessen zu Konflikten führen. Das finde ich normal und menschlich. Allerdings sollte die Führungskraft bei häufigen Scharmützeln wachsam dafür sein, ob unter der Oberfläche etwas anderes schlummert. Konflikte werden gern auf der Sachebene ausgetragen, aber in Wirklichkeit geht es darum, wer wem etwas zu sagen hat. Das Problem liegt also eigentlich auf der Beziehungsebene. Manchmal hilft es dann, auf die Metaebene zu springen und sich darüber zu verständigen, wie der Umgang miteinander ist. Wenn das in der angespannten Gesprächsatmosphäre nicht gleich gelingt, kann auch hier eine Unterbrechung helfen. Im zweiten Anlauf klappt es vielleicht besser.

SZ: Womit haben Führungskräfte im Gespräch besonders zu kämpfen?

Ruppel: Glaubwürdig zu bleiben, wenn sie vor ihren Mitarbeitern Dinge vertreten müssen, von denen sie selbst nicht überzeugt sind. Das ist ein Dauerthema. Wenn beispielsweise das Management die Ziele sehr hoch steckt und die Führungskraft skeptisch ist, ob sie so umgesetzt werden können. In einer solchen Situation bin ich dafür, die Bedenken klar zu äußern. Die Mitarbeiter spüren es wahrscheinlich sowieso. Denn wer nicht ausspricht, was ihn beschäftigt, vermittelt es meist zwischen den Zeilen. Das aber bindet viel mehr Energie. Allerdings sollte die Führungskraft in diesem Fall auch nach oben rückmelden, dass sie die Ziele nur zähneknirschend übernimmt. Schließlich tragen Führungskräfte nicht nur den Mitarbeitern, sondern auch dem Chef und anderen Rollenpartnern gegenüber Verantwortung.

SZ: Wie schaffen Ihre Kursteilnehmer den Transfer in die Wirklichkeit?

Ruppel: Der ist keineswegs leicht. Wir regen daher Transferpatenschaften an, sodass die Führungskräfte sich weiterhin austauschen können.

Interview: Petra Meyer

Kommunikationstrainer Johannes Ruppel: "Konflikte werden gern auf der Sachebene ausgetragen. In Wirklichkeit verbergen sich

oft Machtspiele

dahinter."

Foto: privat

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Terminkalender

Lösungen für die Krise. Ein Seminar zum Thema "Unternehmerische Gesamtführung" für obere und oberste Führungskräfte bietet der Management-Lehrer Fredmund Malik vom 4. bis 6. März in Bad Ragaz in der Schweiz an. Das Thema: die Krise verstehen und meistern. In zweieinhalb Tagen erfahren die Teilnehmer, wie man mit den sogenannten Malik-Tools sein Überleben sichern und mit "kybernetischem Change-Management die falschen Dinge ändert und die richtigen realisiert", so der Veranstalter. Tel. 0041-71274-3400, www.malik-mzsg.ch

Chef ohne Befugnis. "Führen ohne Vorgesetztenfunktion" ist der Titel eines Seminars am 9. und 10. Februar in Frankfurt am Main. Es soll zeigen, wie man Teams auch ohne direkte Weisungsbefugnis zielorientiert leiten kann. Dazu lernen die Teilnehmer, wie sie ihre Mitarbeiter für ihre Aufgaben begeistern, ihre natürliche Autorität erweitern und sich Akzeptanz sichern können. Tel. 040- 411332755, www.media-workshop.de

Kontakte für Studenten. Die Initiative "Campus of Excellence" lädt Studenten aller Fachrichtungen ein, sich um die Teilnahme an ihrer "Praxis Academy" und "Summer School" zu bewerben. Ziel der Initiative ist die Vernetzung von qualifizierten Studenten mit renommierten Unternehmen des Mittelstands und Experten aus Gesellschaft und Wissenschaft. Sie wird von mehr als 70 Partnern aus der Wirtschaft, Institutionen, Stiftungen und Verbänden getragen. Tel. 09281- 9720932, www.campus-of-excellence.de

Sport auf Englisch. Zum Sommersemester startet die Universität Konstanz den englischsprachigen Studiengang "International Studies in Sport Sciences". Das erste Semester ist als Fernstudium geplant, das letzte Semester für die Masterarbeit reserviert, zwei weitere Semester verbringen die Studenten in Konstanz. Verlangt werden gute Englischkenntnisse und ein mindestens "gut" abgeschlossenes Bachelor-Studium. Tel. 07531- 883565, www.uni-konstanz.de/IS3

Mechatronik in Teilzeit. Für angehende Ingenieure gibt es vom Frühjahr an einen neuen Master-Studiengang Mechatronik an der Fachhochschule München. Das Studium der Feinwerktechnik soll etwa für die Arbeit in der Datenverarbeitung, der Elektrotechnik oder Luftfahrt qualifizieren. Es lässt sich in Vollzeit in drei Semestern oder in Teilzeit in sechs Semestern absolvieren. Teilnehmer müssen Bachelor oder Diplom mitbringen. Tel. 089-12651331, www.hm.edu

Volontariat bei Medien. Die Bewerbungsfristen des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp) in München rücken näher. Das ifp ist die Journalistenschule in Trägerschaft der Katholischen Kirche. Wer als Abiturient oder Hochschulabsolvent Volontär in der katholischen Presse werden will, kann sich bis zum 1. März melden. Wer sich parallel zum Studium auf einen Medienberuf vorbereiten will, kann sich bis zum 31. Mai um ein Stipendium bewerben. Tel. 089-5491030, www.ifp-kma.de

Drehbuch auf Distanz. Die Berliner "Master School" bietet vom 23. Februar bis zum 17. Mai einen Online-Grundkurs in Drehbuchschreiben an. Die Teilnehmer können sich dabei unabhängig vom Wohnort und gemäß ihrem eigenen Zeitplan weiterbilden. Der Kurs gibt eine kompakte Einführung in die Kunst des Drehbuchschreibens in drei Monaten inklusive eigener Stoffentwicklung und Vermarktung des Ergebnisses. Tel. 030- 330998695, www.masterschool.de jup

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Jahrhundertgeiger Nr. 4

Jubel, Innerlichkeit, Esprit und Finsternis

Vasa Príhoda, Erica Morini, Jacques Thibaud, Leonid Kogan

Vasa Príhodas (1900-1960) Ton hatte weiche Fülle, dazu kam schwärmerisches Jubilieren, hervorgerufen durch ein schwingendes, singendes Vibrato von reicher Intensitätsvielfalt. Sein Pianissimo blieb voll sinnlicher Substanz, sein Fortissimo frei von Gewalttätigkeit. Er spielte Phrasen aus, die Reinheit der Intonation brachte kleinste Notenwerte zum Klingen. Dvoráks Violinkonzert a-Moll Op. 53 hat er unnachahmlich vergegenwärtigt. Es beginnt mit zwei Passagen, die in höchste Höhen aufsteigen. Príhoda spielt das triumphierend aus im Mitschnitt von 1954. Er erfüllt Wehmut, Glanz, mitreißende Kraft dieser Musik mit jenem typischen Jubel. Rhythmische Pointierung, Vitalität der Doppelgriffe, sehnendes Schwärmen lassen das Konzert farbenprächtig leuchten.

Als Erica Morini ( 1904-1995) 1916 beim Leipziger Gewandhausorchester debütierte, sagte Arthur Nikisch: "Das ist kein Wunderkind, das ist ein Wunder - und ein Kind." 1921 debütierte sie in New York. Fritz Kreisler lobte: "Niemand spielt Kreisler wie Morini." Eleganz, Feinheit, Geschmeidigkeit und Adel ihres Tones sind sofort erkennbar, dazu technische Makellosigkeit. Ihre Bogenführung bezwingt mit Elastizität und Kraft. Schön zu hören in Aufnahmen aus den zwanziger Jahren. Bei Tschaikowsky-Miniaturen - "Chant sans paroles" Op. 2, 3, Humoresque Op. 10, 2 - entwirft sie so zarte wie prägnante Charakterbilder mit betörenden Trillern, wunderbar ebenmäßigem Legato, zuchtvoller Vibratokunst. Das gilt auch für die Delikatesse bei Kreislers Couperin-Arrangement "La Précieuse". Bei Tivadar Nachéz' Danse Tzigane G-Dur Op. 14, 3 staunt man, was Leichtfüßigkeit, ja Schwerelosigkeit auf der Geige bedeutet.

Jacques Thibaud, (1880-1953), war ein eleganter Lebemann, dessen Geigenparlando von Esprit und Charme sprühte. Gabriel Faurés Violinsonate A-Dur Op. 13 von 1875/76 ist ein wundervolles Beispiel für den Farbreichtum, die Freude am instrumentalen Dialog und die geradezu improvisatorische Gestaltungsfreiheit von Thibaud und dem Pianisten Alfred Cortot. Sie nehmen den schwungvollen Geist emphatisch auf und entfachen mit Klangwitz das schon präimpressionistisch auflodernde Feuer dieses Meisterwerks.

Keiner hatte dunklere Klangfarben als Leonid Kogan, (1924-1982). Seit 1943 studierte er bei Abram Jampolski in Moskau. 1951 gewann er in Brüssel den Königin-Elisabeth-Wettbewerb. Federnd, fast lauernd klang es bei ihm, auch in strahlenden Momenten glühte sein Ton aus dem Dunkel heraus; es gab abrupte Farbwechsel, wilde Ausbrüche und Abstürze in tiefe Verzweiflung. Die Légende Op. 17 von Henri Wieniawski, 1859 komponiert, wird bei Kogan 1952 zu einer Art Winterreise: Fahl beginnt die Violine ihren schwermütigen Gang, Schatten fallen sogar auf den lichten Mittelteil, am Ende versinkt alles in nachtschwarzer Resignation, es gibt keine Schluchzer oder dicken Portamenti, kein hemmungsloses Rubato, das Vibrato ist dosiert. Kogan beschwört unvergesslich die manische Einsamkeit dieses düsteren Stückes. HARALD EGGEBRECHT

Vasa Príhoda, Erica Morini Fotos: Cinetext/Pisarek; Ullstein

Jacques Thibaud, Leonid Kogan Fotos: SZ Photo; dpa / pa

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Jesus Christ Supermacho

Wenn der Glaube männlich wird: Ben Becker, die Bibel und der fluchende Pastor

Wenn sich die Popkultur des Glaubens bemächtigt, erfährt man meist mehr über den aktuellen Zustand der Gesellschaft als über Gott. Das wird an diesem Wochenende nicht anders sein, wenn der Schauspieler Ben Becker eine Tournee mit inszenierten Bibellesungen durch deutsche Hallen und Stadien beginnt. Da steht Becker dann vor großem Orchester an einem Lesepult, das wie eine Kanzel mit einem goldenen Kreuz verziert ist, über sich eine dreigeteilte Videoleinwand, auf die bedeutungsschwangere Symbolbilder projiziert werden.

Becker bemächtigt sich der heiligen Schrift mit dem Gestus des Provokateurs. Er intoniert das Vaterunser, als sei es ein Song von Johnny Cash und bedient sich des schweren Duktus eines alkoholisierten Moritatensprechers. Dabei soll Beckers Show gar keine Provokation sein, sondern nur den Mainstream bedienen. ,,Die Bibel - eine gesprochene Symphonie'' gehört zu jenen Hybridspektakeln, die im Kielwasser der Zirkusinszenierungen von André Heller oder des Cirque du Soleil die Popkultur erobert haben. Doch gerade weil Ben Becker mit seiner Interpretation so erfolgreich ist, weil er Stadien wie die Münchner Olympiahalle und die Arena Leipzig bespielt, darf man darin mehr sehen als ein Spektakel.

Becker steht für eine breitbeinige, maskuline Interpretation des christlichen Glaubens, die sich derzeit als Gegengewicht zum sanften Christentum der europäischen Ökumene und der amerikanischen Megakirchen etabliert. In seinem gutturalen Vortrag gerät selbst der gütige Jesus Christus zum Supermacho von alttestamentarischem Format.

Es ist natürlich weniger der Glaube, der Beckers Publikum in die Hallen treibt. Und doch verbindet ihn viel mit Mark Driscoll, einem Prediger von der amerikanischen Westküste, der seit einigen Jahren als ,,der fluchende Pastor'' Furore macht. Driscol ist Gründer und Chefprediger der Mars Hill Church in Seattle. Er tritt in Jeans und groben Hemden auf, er brüllt und tobt, macht während seiner Auftritte derbe Witze, und stellt die Predigten und Seelsorgestunden aus seiner mehrere tausend Anhänger fassende Megakirche auf die Videowebseite Youtube.

Driscoll predigt einen archaischen Calvinismus, der den Menschen als Sünder und nur die Auserwählten als wahre Christen betrachtet. Die Frau hat dem Manne in Driscolls Weltbild absolut untertan und vor allem zu Willen zu sein. All das aber fasst er nicht in heilige Worte, sondern in Vorträge, die Titel haben wie "Masturbation als Verhütungsmittel", "biblischer Oralsex" oder "Pornosüchtig". Wenn er dann zum Thema Masturbation aus dem Buch Kohelet zitiert: ,,Was immer deine Hand zu tun findet, tu es mit all deiner Kraft'', dann lacht seine Gemeinde so hämisch, wie man es sonst aus Stand-Up-Comedy-Shows kennt.

Der Zorn als Stilmittel

Nun kommt Driscoll in all seinen Predigten zum Thema Sex immer zu dem Schluss, dass die Lust nur der Ehe gelten darf und selbst der lüsterne Gedanke schon eine Verfehlung Gottes sei. Auch die Toleranz ist für ihn nur ein Zeichen von Schwäche. In seinem ,,Tolerance Rant'' tobt er mit wollüstigem Gusto gegen Nichtchristen. Wenn er seinen Wortschwall langsam gegen die Annäherung zwischen Kirchen und jüdischen Gemeinden richtet und dabei mit der Faust in die offene Hand schlägt, folgt er einem bewährten Muster, mit dem zeitgenössische Komiker wie Chris Rock oder Lewis Black aus ihrem cholerischen Temperament ein Stilmittel gemacht haben. Das aber ist die große Geste des reuelosen Machismo, der die Wut als letztgültigen Ausdruck der Emotionen kultiviert.

Nun gibt es - abgesehen davon, dass Ben Becker kein Prediger sondern ein Schauspieler ist - einen entscheidenden Unterschied zwischen dessen Show und Driscolls Brandpredigten. In Europa hat der Glaube als Popphänomen vor allem eskapistische Funktion: Indem man so feierliche wie alltagsfremde Kirchenrituale zitiert und von göttlicher Allmacht spricht, wird in solchen Events ein gemeinschaftlich erhebendes Weihnachts- und Geborgenheitsgefühl erzeugt. In Amerika verläuft die Dynamik genau umgekehrt. Da bemächtigt sich der Glaube des Alltags, gleicht sich die Predigt in Ton und Stil dem Reden der breiten Massen an, was sie umso wirksamer macht.

Was Becker und Driscoll aber verbindet, ist die extrem maskuline Interpretation des christlichen Glaubens. Beide sind Antipoden zu all der Folksong-Kumpelei und dem halb spirituellen halb psychotherapeutischen Gebaren, mit dem die Kirchen oftmals die Jugend und die Massen zu erreichen versuchen. Wenn man Becker als Jesus-Macho sieht, könnte man meinen, er will einem effeminierten Glauben durch eine Rückkehr zur alttestamentarischen Inbrunst mittelalterlicher Strafpredigten beikommen.

Solche Kulturkämpfe um die vermeintliche Verweichlichung oder Verhärtung des Glaubens gab es immer wieder. Im frühen 20. Jahrhundert wandten sich amerikanische Kirchen während der ersten Emanzipationserfolge gegen die Verweiblichung des Glaubens, forderten eine "maskuline Macht des Christus" und ein "muskulöses Christentum". Nach dem Zweiten Weltkrieg, während des Siegeszuges der Bürgerrechte, löste in den USA der kantig-männliche Christuskopf von Warner Sallman den weichen, weiblichen Christuskopf von Heinrich Hofmann als populärstes Ikonenbild ab.

Der Glaube folgt den gesellschaftlichen Strömungen nicht unbedingt parallel. Doch wenn der gütige Jesus und seine sanften Anhänger zu Teilen auch ein Produkt der utopischen Hippie-Ära waren, dann sind die alttestamentarischen Christenmacker Becker und Driscoll letztlich die Reaktion auf ein Bedürfnis nach klaren Rollenmustern und nach einer Rückkehr zur politischen Inkorrektheit vorökumenischer Zeiten.

So schwingt das gesellschaftspolitische Pendel zumindest im christlichen Pop weiter nach rechts. Wenn Becker oder Driscolls tätowierte Anhänger von Jesus sprechen, dann geht es nicht um den Heiland, der die andere Wange hinhält, sondern um den strengen Sohn des alttestamentarischen Gottes, der die Händler zornbebend mit der Peitsche aus dem Tempel vertreibt. Ob man ihn als Figur in einem Freizeitspektakel oder als Erlöser des eigenen Lebens betrachtet, spielt dabei gar keine so große Rolle. Der Pop in den deutschen Hallen und amerikanischen Kirchen macht Jesus zum Gradmesser für den flüchtigen Zeitgeist. Heilig ist das nicht. Aufschlussreich allemal.ANDRIAN KREYE

Breitbeinig, röhrend, mit alttestamentarisch bebendem Zorn in der Stimme: Ben Becker in "Die Bibel - eine gesprochene Sinfonie" Foto: Davids/Tantussi

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Republikjubiläum

Die unbeholfene Selbstfeier der deutschen Demokratie

Als am 3. Oktober 1990 rund um das Berliner Reichstagsgebäude die deutsche Wiedervereinigung gefeiert wurde, hatte man zur Begleitung der Partylaune Lautsprecher an die Linden angebracht. Aus diesen Lautsprechern erklang nach Mitternacht, also nach dem offiziellen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, nach Willy Brandt, Weizsäcker und Nationalhymne, ein Schlager des Schmuse-Rockers Matthias Reim, mit dem Refrain: "Verdammt, ich lieb' Dich - / Ich lieb' Dich nicht / Verdammt, ich brauch' Dich - / Ich brauch' Dich nicht / Verdammt, ich will Dich - / Ich will Dich nicht / Ich will Dich nicht verlier'n."

Mit solchen gemischten Gefühlen mochte das Verhältnis zum deutschen Vaterland ja zufällig ganz gut beschrieben sein. Aber Matthias Reim in diesem historischen Moment, das war dann doch irgendwie unwürdig. Und dieser unwürdige Umgang, jedenfalls eine sichtbare Unbeholfenheit, hat sich dann bei der Ausrichtung des Nationalfeiertages seit der Wiedervereinigung fortgesetzt. Um der damals virulenten Befürchtung eines neuen zentralistischen, "preußischen" Nationalismus zu begegnen, ließ man die nationale Besinnungsstunde mit dem jeweiligen Bundesratsvorsitz reihum auf Länder-Tournee gehen. Zwar ist jene Angst vor "Revanchismus" und Zentralismus teils durch eine inzwischen tief verankerte Harmlosigkeit, teils durch die strukturelle Unmöglichkeit des Durchregierens längst erledigt. Aber das Rotationsprinzip bleibt bis heute bestehen, und so gibt es dann einen vom Landesherren ausgeschmückten Festakt, umringt von einem föderalen Schaulauf mit regionalen Spezialitäten, einem Jahrmarkt mit mobiler Grüner Woche.

Weil sich die Berliner aber auf diese Weise der bei ihnen so beliebten Straßenfeierei beraubt sahen, veranstalten sie am 3. Oktober trotzdem zusätzlich ihre eigene Föderalismusparade, mit Puhdys und Bratwurst, mit Dixiemusik, Allgäuer Käse, Schönheitsköniginnen und Besuchsmöglichkeiten in den prächtigen Vertretungen der Länder. Zur Feier des letzten Jahres kündigte die Berliner Morgenpost an: "Die Europäische Gesellschaft für Atmungsmedizin, die am Wochenende im Berliner ICC tagt, bietet auf der Festmeile außerdem kostenfreie Lungenuntersuchungen an." Ein Hoch auf den Präventionsstaat!

Wenn nun in diesem Jahr rund um den Verfassungstag am 23. Mai das sechzigjährige Republikjubiläum begangen wird, stehen ähnliche Beatmungsversuche und Verrenkungen an. Neben dem Festakt mit Bundespräsident Horst Köhler im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt - schon am 22. Mai, weil Köhler sich tags darauf der Bundesversammlung zur Wiederwahl zu stellen hat - soll es in Berlins historischer Mitte vom 22. bis 24. Mai ein Bürgerfest geben. Mit der Organisation hat das Innenministerium eine Event-Agentur beauftragt. Herausgekommen sind dabei, soweit die Pläne schon bekannt wurden: ein "Car Walk" am Brandenburger Tor, mit einer ins Fernsehen übertragenen Gala zur glorreichen Geschichte der kriselnden deutschen Autoindustrie und ihren schönsten Modellen; ein "Boulevard der Marken", der die Prachtstraße Unter den Linden in ein Stelenfeld monumentaler Firmenwerbung verwandeln soll; und Ähnliches. Und die Bundesländer wollen parallel eine eigene Feier in Berlin veranstalten.

Mit Recht kann man fragen: Wie kann so etwas passieren? Allerdings hat ja die Unbeholfenheit der deutschen Demokratie, sich selbst zu feiern, zunächst ihre guten historischen Gründe. Die äußerliche Bescheidenheit und innere Zivilität des schuldbeladenen Provisoriums, die symbolische und rituelle Zurückhaltung der westdeutschen Republik der Nachkriegszeit, der Verzicht auf Pomp und Marschmusik, all dies ist nach dem Nationalsozialismus und der Ermordung der Juden lange Zeit von vielen als wohltuend empfunden worden, auch wenn es von Karl Heinz Bohrer als Provinzialismus geschmäht wurde.

Feinsinnige Musiklehrer haben ihren Schülern nach dem Kriegsende 1945 jeden Viervierteltakt bis auf weiteres verboten. Erst in den achtziger Jahren, wohlgemerkt vor dem Fall der Mauer, regte sich ein größerer Symbolhunger, von der Nationalhymne zum Sendeschluss im Fernsehen bis zur Geschichtspolitik Helmut Kohls. 1990 konnten, auch wenn es für manchen noch gewöhnungsbedürftig war, die Fahnen mit den demokratischen Farben auch deshalb geschwenkt werden, weil man schon in den Jahren zuvor mit ihrer Entstaubung begonnen hatte.

Der liberal-konservative Philosoph Hermann Lübbe äußerte vor einigen Jahren in einem Gespräch, nach der sogenannten alten Bundesrepublik befragt: "Ein Repräsentationsdefizit der Bundesrepublik hat es tatsächlich gegeben, ja es gibt dieses Defizit bis heute. Gelitten habe ich darunter nicht. Aber um eine Schwäche handelt es sich bei diesem Repräsentationsdefizit doch und nicht um eine neu erworbene deutsche Tugend." Die Rituale und Feiern, so Lübbe weiter, "gewinnen im Zeitalter massenmedialer Vollintegration moderner Gesellschaften noch an Bedeutung, und sie transformieren sich dabei selbstverständlich zugleich. Ihr politischer Ausdruckswert ist beträchtlich."

Die Nation ist bekanntlich eine Fiktion. Zur Kräftigung eines gemeinschaftlichen Bürgerbewusstseins in einem modernen demokratischen Flächenstaat ist sie indes, in Maßen beschworen, eine notwendige, reale Kraft entwickelnde Fiktion. Zwar hat man behauptet, dass Demokratien insgesamt weniger der äußerlichen Bestätigung bedürften, weil sie sich im demokratischen Verfahren, in der Verfassung selbst schon realisierten. Die "Selbstdarstellung" der Demokratie, heißt es, sei im allgemeinen "bescheidener" (Klaus von Beyme), in ihr gebe es weniger "bündige, ästhetische Repräsentation" (Walter Grasskamp). In ähnliche Richtung zielte einst Jürgen Habermas, als er aus dem von Dolf Sternberger zum Republikjubiläum 1979 ausgerufenen "zweiten Patriotismus" den einen, den einzig wünschenswerten Verfassungspatriotismus machte. Nach solchen Vorstellungen hat es das Genre der nationalen Epideiktik in der Demokratie schwer.

Wer kürzlich die Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten Obama verfolgt hat, muss sich allerdings fragen, ob jene Charakterisierungen der Demokratie nicht ein kümmerliches, spezifisch deutsches Nachkriegsprodukt sind; wer die Massen vor dem Kapitolshügel sah und das bewegende Ineinander von National- und Verfassungsstolz, der versteht jenseits von Links und Rechts, was mit Lübbes "Repräsentationsdefizit" gemeint ist. Nun sind amerikanisch-deutsche Vergleiche immer etwas unfair, so wie der Vergleich zwischen Harvard und der Universität Dortmund. Aber wenn wir Aretha Franklin und Itzhak Perlman nicht für unsere Festakte kriegen, heißt das, dass wir den "ersten", den nationalen Patriotismus ganz den prolligen Witzen von Podolski und Pocher auf der Fußball-Fanmeile überlassen müssen?

Wer, wie dieses Land, einen Traditionsbruch erlebt hat, tut sich schwerer mit der Belebung oder Neuerfindung von Ritualen, die affirmativ sind, ohne dass die Kritik ausgeschaltet wird, die erhaben sind, ohne peinlich zu werden. Das kann aber keine Entschuldigung dafür sein, das wir das Fest zum 60. Republikjubiläum nicht mit etwas mehr Stilbewusstsein begehen können.

Mit etwa mehr Gemeinsamkeit, trotz allem, ausnahmsweise einmal. Zwar sind Auto-Gala und Markenparade - wenn auch historisch zur Identität des Wirtschaftswunderlandes durchaus passend - wirklich grässlich. Doch wer sie grässlich findet, der kann nicht einfach die Flucht in den Föderalismus antreten. Er muss die Sache, diesmal im Einklang der Verfassungsorgane, politisch mitgestalten und so verbessern. Die Ministerpräsidenten der Länder jedoch wollen jetzt im Mai in Berlin, so hört man, lieber gleichzeitig einen eigenen "Tag der deutschen Vielfalt" feiern. Kann ihnen bitte jemand erzählen, dass Deutschland kein Staatenbund ist, sondern ein Bundesstaat? Und: eine Demokratie, kein Supermarkt? JOHAN SCHLOEMANN

Zum Sechzigsten der Verfassung: Auto-Gala und Markenparade

Nach einem Traditionsbruch fällt es schwer, Rituale neu zu erfinden

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Ungnädiges Schicksal

Zum Tod des schottischen Folk-Gitarristen John Martyn

Man wird nicht einfach als Iain David McGeachy geboren und stirbt sechzig Jahre später als John Martyn. Zwischen dem Leben als Kind zweiter Tingeltangel-Sänger aus Schottland und dem bärenhaft aufgeschwemmten, beinamputierten Gitarristen muss eine eine turbulente Geschichte sich verbergen: Und es wird keine lustige Geschichte, soviel sei schon verraten. Sie beginnt mit einem Teenager, der von Glasgow nach London geht, Bob Dylan und Davey Graham auf der Gitarre nachspielt und Sprüche drauf hat wie "Ich bin kein Folkie, ich bin funky". Anfangs gehorcht er noch den Einflüsterungen des Business, ändert etwa seinen Namen zu John Martyn, nimmt einfache Liedchen auf - aber wie sein amerikanisches Pendant John Fahey ist er mit den Begrenzungen des Genres nicht zufrieden, bricht aus, integriert genrefremde Elemente, Jazz, Elektronik, Avantgarde.

Neue Effektgeräte helfen dabei: Kunst und Handwerk zusammen schaffen einen neuen Gitarrenklang, einen flächigen Sound, Akkordlandschaften - Neuland eben, das weit berühmtere Gitarristen als John Martyn nur zögerlich betreten, aber schließlich bis in den Mainstream-Sound hinein ausweiten werden, Eric Clapton etwa, der Martyns "May You Never" covert oder Phil Collins, der einige Martyn-Platten finanzieren und produzieren wird. Doch mit dem Insider-Ruhm und den Bemühungen seiner Plattenfirmen, aus Martyn selbst einen veritablen Star zu machen kommen Heroin, Alkohol, Superstar-Exzesse: John Martyn wird zum Synonym für Unzuverlässigkeit, rüpelhaftes Verhalten, lausige Konzerte. Ein großes Versprechern, das nie eingelöst zu werden scheint. Aber ausgerechnet in der Hochphase seiner selbstzerstörerischen Umtriebe helfen ihm Freunde wie Collins, sein vermutlich bestes Album aufzunehmen, "Grace and Danger" von 1980.

Doch Stabilität kam nie in Martyns Karriere: Plattenfirmen ließen ihn fallen, Tour-Veranstalter mieden ihn, lebensbedrohliche Unfälle warfen ihn immer wieder zurück und 2003 wurde ihm schließlich ein Unterschenkel amputiert. Doch das ist nur die eine Seite, die Seite, die vergessen sein wird, wenn sein Sound, seine - für seine Generation untypische - Offenheit, die ihn mit Reggae-Produzenten, Trip-Hop-Musikern oder DJs zusammenarbeiten ließ, weiterbesteht. In letzter Zeit lief es sogar ungewohnt gut für den Gitarristen, eine 4-CD-Box resümierte seine Arbeit, die BBC ehrte ihn für sein Lebenswerk und die Queen ernannte ihn am Neujahrstag zum OBE, zum Officer of the British Empire. Und eine Platte mit John Martyns musikalischem Idol, dem Saxophonisten Pharoah Sanders, war angeblich in Vorbereitung. Aber auch hier machte ihm sein ungnädiges Schicksal einen Strich durch die Rechnung, nein, es nahm ihm die Rechnung ganz aus der Hand: John Martyn starb am 29. Januar an den Folgen einer Lungenentzündung.KARL BRUCKMAIER

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Fantasten und Formalisten

Spannend dort, wo es die Konventionen überläuft: "Yesterdays", das neue Album des Jazz-Pianisten Keith Jarrett

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert spielt Keith Jarrett mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette zusammen: Miteinander bilden sie das "Standards-Trio". Diese drei, Fantasten und Formalisten zugleich, setzten neue Maßstäbe für das Piano-Trio, wobei nicht immer nur das "Great American Songbook" im Vordergrund stand, sondern oft auch frei improvisiert wurde. Doch konzentriert sich "Yesterdays" (ECM, 2009), die nach einem Song von Jerome Kern benannte neue Platte, wieder ganz auf die vergangenen Tage. Der Konzertmitschnitt von Tokio ist dabei die vierte Veröffentlichung aus den Konzerten des Jahres 2001, und ebenso behutsam wie entschlossen geht es dabei in die Geschichte des Jazz. Das erste Stück, "Strollin" von Horace Silver, beginnt, ganz traditionell, mit einer achttaktigen Einleitung auf dem Piano. Von vornherein hört man, wie sehr - und wie erfolgreich - sich Keith Jarretts bemüht, das Piano zum "Singen" zu bringen.

Auch der nächste Titel, ein Schlager von Richard Rodgers und Lorenz Hart, fängt mit dem Klavier allein an, das nun Ragtime spielt. Dann erst, mit luftig federndem Schlagzeug und frei swingendem Bass, wird es modern, klingt die Musik nach Keith Jarrett, der sein Spiel nun auch wieder mit der Stimme unterstützt, so als müsse er seine Ideen noch festigen. Doch auch hier geht es sehr konventionell zu: Auf einige Chorusse am Piano gibt es einen Bass-Chorus und anschließend die typischen Wechsel von acht Takten zwischen Solisten und Schlagzeug. Danach wird wieder das Thema gespielt. Millionenfach ist diese Form in Jam-Sessions erprobt worden. Hier beherrscht sie die ganze Aufnahme.

Wozu dann das Album? Die Musik dieses Trios hat (trotz der übernommenen Formen) seine eigene Ästhetik. Sie ist spannend genug, um neugierig darauf zu machen, wie hier über fließenden Rhythmen mit den vertrauten Mustern umgegangen wird, mit den harmonischen Abläufen und den rhythmischen Strukturen. Tatsächlich erlaubt ja die Routine, sich voll auf die Stärken und Eigenwilligkeiten des jeweils anderen einlassen zu können, auf seine Ideen, sein Klanggespür. Das gelingt bestens, da spielt es dann keine Rolle, wenn das von Jarrett fast im BeBop-Tempo angegangene Stück "Scrapple From The Apple" von Charlie Parker in seinem Verlauf ein wenig langsamer wird. An Fahrt verliert es nicht. Besonders energetisch wird das schnelle "Shaw'nuff" interpretiert, wobei deutlich wird, dass Keith Jarretts linke Hand mittlerweile stärker geworden ist. Jack DeJohnette trommelt im Solo auch einmal etwas lauter, wenngleich immer noch mit Raffinesse. Ein weiterer Höhepunkt ist das fein gesponnene, melodiöse Bass-Solo von Gary Peacock in der Ballade "You've Changed". Das letzte Stück "Stella By Starlight", ein Bonus Track, kommt genauso inspiriert daher, obwohl es ohne Publikum, beim Soundcheck eines anderen Konzerts aufgenommen wurde. "Yesterdays" erscheint gleichzeitig als CD und als Schallplatte. Bei ECM ist es die erste Veröffentlichung auf Vinyl seit 15 Jahren.NORBERT DÖMLING

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Abschiedsmusiken

Daniel Harding dirigiert Strauss, Sibelius, Mozart, Berg in München

Abschied auf vier ganz unterschiedliche Weisen prägte diesen Abend im Münchner Herkulessaal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Daniel Harding: Abschied eines Sterbenden vom Leben in der klangprächtigen Vorstellung des 25-jährigen Richard Strauss; Abschied vom Komponieren überhaupt wie bei Jean Sibelius, dessen siebte Symphonie fast sein letztes musikalisches Wort ist vor dem dann folgenden jahrzehntelangen Schweigen; Abschied als Gelegenheits- und Auftragsarbeit bei Mozarts Maurerischer Trauermusik; schließlich Alban Bergs Violinkonzert als Abschied und Erinnerung an einen "Engel", an die jung gestorbene Manon Gropius. Renaud Capuçon spielte dieses immer bewegende, packende Konzert mit großem Einsatz, etwas fest in der Tongebung und mit allzu sparsamer Klangfantasie.

"Wahrscheinlich letzten Endes das musikalische Bedürfnis . . . ein Stück zu schreiben, das in c-Moll anfängt und C-Dur aufhört!" So lakonisch, ja, prosaisch hat Richard Strauss den Impuls für seine Tondichtung "Tod und Verklärung" beschrieben, nachdem spekuliert wurde, hier habe der gerade 25-jährige Komponist schon eigene bedrohliche Erfahrungen musikalisch verarbeitet. Strauss komponierte stattdessen eine Phantasie über den Abschied vom Leben. Daniel Harding, der ohne Stab dirigierte, konnte sich hier auf die Strauss-Erfahrung des Orchesters verlassen, das klang alles gediegen, kraftvoll und selbstgewiss. Doch ganz so sicher und gesund hat es Strauss dann doch nicht gemeint. Um das Existentielle, Dringliche, auch Ungewisse und Bedrohliche in dieser Tondichtung zu entdecken, müsste schon der Anfang fast Unhörbarkeit riskieren, müsste der Moment größter Expansion unwiderstehlich hervorquellen und nicht einfach als strammes Fortissimo einsetzen, müsste der ätherische Schluss unwirklich zart klingen.

Ganz anders gelang Harding die Siebte von Sibelius. Dieses ungemein knappe, in sich verschränkte, sowohl weit ausholende als sich auch zurückziehende Werk verlangt ununterbrochene Konzentration und Aufmerksamkeit. Nur so können die vielen rasch auf- und wieder abtauchenden musikalischen Gestalten erfasst und erkennbar werden, nur so können die Phasen des schwermütigen Sinnierens, ja des Auf-der-Stelle-Tretens sich mit jener Energie aufladen, die diese Musik trägt. Es wurde eine intensive, hellwache, klangschöne und durchartikulierte Aufführung.

Mozarts Trauermusik, knapp, dicht und unmissverständlich, wirkt in grandioser Dunkelfarbigkeit geradezu monumental, wenn man sie so direkt, fast unnachgiebig dirigiert wie der junge Engländer. Alban Bergs Violinkonzert bleibt bei aller Herausgehobenheit des Solisten doch ein symphonisches Werk mit obligater Violine. Doch Harding hielt das Orchester begleitend zurück, als habe Capuçon ein gewöhnliches Solokonzert zu spielen. Daher klang der Geigenpart seltsam losgelöst vom orchestralen Zusammenhang. HARALD EGGEBRECHT

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Beschwören wir ewige Schönheit, Liebe und Treue

Eine Schau in New York zeigt die Pracht, mit der die Menschen der Renaissance Verlobung, Hochzeit und Geburt feierten

Der Titel strahlt förmlich, doch das Bild, das die Ausstellung "Art and Love in Renaissance Italy" im New Yorker Metropolitan Museum von Liebe, Heiraten und Kinderkriegen zwischen 1400 und 1550 zeichnet, ist ambivalenter, weniger idealistisch als aus heutiger Sicht zu erwarten wäre: Idealisierte Paare sind in unelegante Posen beim Geschlechtsverkehr verwickelt. Verlobte sehen dagegen bemüht aneinander vorbei und Brautleute sind so protzig in Szene gesetzt, dass man den Seufzer eines Betroffenen, Leonardo Bruni, verstehen kann, der 1412 aus Anlass seiner eigenen Vermählung schreibt: "Es ist unglaublich, wie viel für diese neuen Hochzeiten ausgegeben wird."

Liebe, Hochzeit, Geburten: Zu diesen Höhepunkten ihres Leben gaben die Familien der italienischen Upper Class der Renaissance Großaufträge an Maler und Tischler, an Glasbläser und Porzellanmaler. Die Werke, die diese schufen und von denen gut 150 hier zu sehen sind, gehören nicht nur zu dem Kostbarsten, was die Handwerker und Künstler der Renaissance hervorgebracht haben. Sie sind mit ihren Darstellungen des Paars, ihren häuslichen Szenen und ihren kulturellen und religiösen Referenzen auch aufschlussreiche Dokumente für das Selbstverständnis der adligen und großbürgerlichen Kaste und für deren Begriff von Partnerschaft und Familie.

Machtpolitik mit den Töchtern

Ebenso erhellend ist natürlich die Subversion der Konventionen durch die in heillose Sexakrobatik verwickelten Paare der pornographischen Drucke "I modi", die bei ihrem Erscheinen 1524 ein großer Skandalerfolg waren.

Wirklich privat war am Heiraten nichts. Wer sich mit wem vermählte, entschied über Gedeih oder Untergang von Dynastien und Handelsimperien. Oft fielen die Hochzeiten zusammen mit dem Moment, da eine Generation die nächste am Ruder ablöste. Die ausschweifenden Feierlichkeiten, mit denen sie begangen wurden - Prozessionen, tagelange Festprogramme, riesige Hochzeitsmahle - erinnerten denn auch an Staatsakte. Der ritualisierte Austausch von Geschenken und die Ausstattung der Wohnung des neuen Paars lässt allerdings eher an mergers und acquisitions denken.

Die Regeln waren dabei alles andere als romantisch. Während die Eltern der Braut ihre Tochter mit einer üppigen Mitgift zu versehen hatten, nach der sich letztlich deren Wert bemaß, durfte der Bräutigam die Juwelen und Kleider, die er seiner Zukünftigen schenkte, durchaus nur leihen oder später wieder verkaufen. Doch je größer die Rolle von finanziellen Interessen und Machtpolitik im kommerziell orientierten Großbürgertum von Florenz, Mailand und Venedig, desto eindringlicher beschwörte die ikonographische Ausgestaltung der Majolika-Gläser, der Ringe, der cassoni genannten Hochzeitstruhen, und all der anderen Gaben ewige Schönheit, Liebe und Treue.

Alles, was man sich von der Vermählung und der neuen Familie erhoffte, ist in diesen Bildern gezeigt. Sei es in den steifen, erst im Laufe der Jahrzehnte langsam natürlicher werdenden Hochzeitsporträts, in der die Eheleute ihr Verhältnis zueinander und ihren Ort in der Welt bestimmten. Sei es in symbolischen Zeichen wie den gefalteten Händen. Oder in den Bildern herumtollender oder Fruchtkörbe herbeitragender nackter Jungen, die schwangere Frauen im Wochenbett zum Gebären prächtiger Nachkommen inspirieren sollte. Doch auch die weniger glücklichen Fälle werden nicht verborgen. Sei es in jenem ernsten, rätselhaften Porträt der einander fremden Brautleute von Fra Filippo Lippi. Oder in dem schockierenden Bild aus der Werkstatt Botticellis, das zur Warnung zeigt, was passiert, wenn die Frau den liebenden Mann zurückweist: Er begeht Selbstmord, sie wird von den Hunden gehetzt.

Auf der Suche nach: Liebe

Die idealisierten Venus-Darstellungen von Tizian und Lorenzo Lotto, die im letzten Raum zu einer Art Epilog versammelt sind, zeigen, welche ganz andere Entwicklung die Darstellung schöner Frauen Anfang des 16. Jahrhunderts nehmen sollte: Befreit von ihrer Funktion im großen Kontext des abgezirkelten Hochzeitsprotokolls ist hier eine neue Sensibilität zu spüren, die nach einem Ausdruck für etwas sucht wie - Liebe.JÖRG HÄNTZSCHEL

"Art and Love in Renaissance Italy", bis 16. Februar, Metropolitan Museum of Art, New York, www.metmuseum.org.

Der Florentiner Jacopo del Sallaio ( 1441/42 bis 1493) erzählte in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts die Geschichte von Amor und Psyche. Abb.: Privatsammlung / Katalog

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Als die DDR noch ein Kind der Hoffnung war

Ostalgie-Übung mit Ironie: Armin Petras inszeniert am Berliner Gorki Theater Werner Bräunigs Roman "Rummelplatz"

Das Berliner Maxim Gorki Theater greift den Festreden, historischen Rückblicken und Talkshows zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls schon mal vor. Gleichzeitig greift es tief zurück in die Vorgeschichte von Mauerfall und Mauerbau, als wollte es die Behauptung wagen, man müsste noch einmal einen ganz neuen Blick auf die Anfangsjahre der DDR werfen. Es ist ein Blick, der das Kunststück vollbringt, in diesen Anfängen vor allem Aufbruchs-Hoffnungen zu entdecken, die harte Repression der Diktatur auszublenden und eine nicht besonders entspannte Zeit in die nett verspielte und etwas harmlose Ästhetik zu übersetzen, wie sie an diesem Theater gepflegt wird. Das ist, um es höflich zu sagen, zumindest ein mutiges Unterfangen.

Gorki-Intendant Armin Petras, ein großer Literatur-Adaptierer, hat Werner Bräunigs Roman "Rummelplatz" inszeniert, wuchtige sechshundert Seiten, die vom Uran-Bergbau in der Wismut erzählen, von vielfach gebrochenen Nachkriegsbiographien, vom Trinken und Malochen und einem kaputten Land. "Rummelplatz", ein breit angelegtes Zeit-Panorama, reicht von der Staatsgründung 1949 bis zum 17. Juni 1953, es sollte nur der Auftakt einer ganzen Serie von Zeit-Romanen sein. Aber Bräunig hatte die Fähigkeit des Regimes, auch nur halbwegs genaue Beobachtungen aus dem Inneren des Landes zu ertragen, überschätzt. Sein Roman wurde 1965 noch vor Erscheinen verboten, Ulbricht persönlich schäumte ("Schweinereien").

Als "Rummelplatz" vor zwei Jahren aus dem Nachlass erschien, war das die Neuentdeckung eines Autors, der sich nach dem Verbot 1965 zügig zu Tode getrunken hat und mit 42 Jahren gestorben ist. Verboten wurde "Rummelplatz" im gleichen Jahr, in dem eine ganze Jahresproduktion der DEFA im Giftschrank landete, darunter Frank Beyers "Spur der Steine".

Heiner Müller hatte damals die Erfahrung, dass es die SED-Oberen nicht besonders mochten, wenn einer die Widersprüche der neuen Zeit etwas genauer sezierte, schon seit vier Jahren hinter sich. Sein Stück "Die Umsiedlerin", geschrieben im festen Glauben, mit der DDR beginne mindestens ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte, wurde 1961 verboten, Müller auf Jahre zur Unperson. Man muss das so ausgiebig erzählen, weil in diesem Zusammenprall von systemgläubigen Künstlern und harter Repression all die Utopie-Gesänge entzaubert werden, die auch in Petras' Inszenierung im Hintergrund anklingen.

Es gehört zum Charme und der Intelligenz der "Rummelplatz"-Inszenierung, dass Petras zwar von den Aufbruchs-Hoffnungen erzählen will, aber natürlich auch weiß, dass der Utopie-Kitsch gründlich entzaubert ist. Also zitiert er ihn nur ironisch und mit dem Wissen des Scheiterns, etwa wenn Milan Peschel mit einer Taschenlampe bewaffnet über die dunkle Bühne marschiert und nach einer Hoffnung sucht, die es einmal gab, irgendwo muss sie doch sein. So funktioniert die gesamte Inszenierung. Bräunigs wuchtige Sätze werden zu leichtem Spielmaterial. Die ganze Bergwerks-Schwere der spätstalinistischen Fünfziger Jahre verwandelt sich in Petras' lässiges Kindergeburtstags-Theater, in dem selbst finstere Offiziere der Roten Armee wie lustig verkleidete Witzfiguren aussehen und Peter Kurth als Altkommunist, der im KZ seinen linken Arm verloren hat, gemütlich seine Wampe vorstreckt, als sei die Welt eine einzige Kneipe.

Rausch und Freude unter Tage

Zwischendurch singt mal jemand ein Lied von den Beatles, eine Kellnerin aus einem Bergarbeiter-Absturzschuppen tröstet sich nach Feierabend mit "Purple Rain" von Prince. Selbst eine der unerträglichsten, ideologisch schwer verkitschten Roman-Passagen wird musikalisch-ironisch entsorgt. Im Roman entdeckt Christian Kleinschmidt, ein in den Bergbau abkommandierter Professorensohn (von ansteckender Spielfreude: Milan Peschel), dass die Maloche unter Tage ein Rausch und eine Freude ist, nun ja. Diese Passage zum Lob der proletarischen Schaffenskraft singt und tanzt bei Petras eine lustig verkleidete Combo, die aussieht wie verwirrte New Wave-Kunststudenten aus den frühen Achtzigern, dazu läuft ein Industrial-Soundtrack, Elektrokrach mit Maschinengeräuschen. Wenn die harte Arbeit unter Tage schon zur kreativen Selbstverwirklichung umgelogen wird, ist es nur konsequent, sie gleich als besonders peinliche Performance zu verwursten.

Die Inszenierung ist voll von solchen Momenten, wobei Petras, ein lässiger Eklektizist, von Prolet-Kult-Zitaten bis zum Slapstick alle möglichen Stile plündert. Umwerfend komisch sind die übermütigen Kabarett-Einlagen, zum Beispiel wenn die tolle Regine Zimmermann als betrunkener Taxi-Fahrer mit neckischem Schnauzer erzählt, wie sie eine Frau abschleppen wollte, was dann aber leider nicht klappte. Leider verstehen ihre ebenfalls schwer betrunkenen Zuhörer sie nicht so richtig, so dass sie dauernd wie eine Irre brüllen muss: "Die Ische! Die Ische! Das Reh!"

Milan Peschel macht aus seinem ins Proletariat gefallenen Bürgersöhnchen mal einen zappelnden Stummfilmkomiker, mal einen die Proletenposen übenden Bubi - aber vor allem dreht er dabei immer gekonnt und genau dosiert etwas zu viel auf, so dass man nie vergisst, dass seine Figuren letztlich nur Anlass (oder Vorwand) zum gutgelaunt aufgekratzten Spiel sind. Dabei stehen knapp angerissene realistische Szenen neben fröhlichem Quatsch, der ironische Blick auf phrasenschwingende Jung-Funktionäre wechselt mit dem Versuch, das alles auch mal ernst zu nehmen und etwas von dieser fernen Zeit zu erzählen.

Genau durch diese verspielte Disparatheit der Stil-Lagen wird der erdschwere Romanstoff erträglich. Indem Petras immer ausstellt, dass das alles am Ende nur Theater ist, entgeht er der Sentimentalitäts-Falle. Einer anderen Falle will er offenbar nicht entgehen: Der, die stalinistische Diktatur zu verharmlosen und in der Retrospektive weichzuspielen. Der frühere PDS-Kultursenator, der ihn als Intendanten ans Maxim Gorki Theater geholt hat, dürfte seine Freude an diesem Heimatabend gehabt haben.

PETER LAUDENBACH

Malochen für den Sozialismus: Regine Zimmermann mit proletarischer Schaffenskraft. Foto: Braun/drama-berlin

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Streitbare Orchester

Gewerkschaft droht mit Ausstieg aus Flächentarifvertrag

Im Tarifstreit zwischen der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) und dem Deutschen Bühnenverein (DBV) droht die Gewerkschaft mit einem Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag. Entweder gebe es eine Tarifeinigung noch im ersten Halbjahr 2009 oder es werde zu weiteren Arbeitskämpfen und Einzeltarifverträgen der DOV direkt mit den Rechtsträgern kommen, sagte DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens am Freitag in Berlin. Der Bühnenverein konterte: "Die Arbeitgeber der Orchestermusiker stehen für direkte Tarifverhandlungen mit der DOV, ohne dass der Bühnenverein daran beteiligt wird, nicht zur Verfügung." Mertens sagte, eine Aufkündigung des Flächentarifvertrags sei "nicht der Untergang des Abendlandes". Im Konzertorchesterbereich gebe es bereits zahlreiche Einzeltarifverträge. Der Geschäftsführende Direktor des Bühnenvereins, Rolf Bolwin, sagte, der DBV sei weiter an einer schnellen Einigung über den Flächentarifvertrag interessiert. "Der im November 2006 erzielte Abschluss kann jederzeit unterschrieben werden." ddp

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Blick auf die DDR

Der große Dokumentarfilmer Karl Gass ist gestorben

Joris Ivens war sein großes Vorbild, und mit seinem erfolgreichsten Film "Das Jahr 1945" hat er 1984 von den letzten 128 Tagen des Zweiten Weltkriegs so leidenschaftlich und klug erzählt, wie es keiner der heutigen Kino- und TV-Anstrengungen hinkriegen kann. Etwa 120 Werke hat er geschaffen, Mitte der Fünfziger war er Mitbegründer der Internationalen Leipziger Dokumentarfilmwoche. Im Jahr 1948 war er, geboren am 2. Februar 1917 in Mannheim, nach Ost-Berlin gezogen - er hatte beim Kölner Rundfunk Schwierigkeiten bekommen seiner KPD-Mitgliedschaft wegen. In der DDR sah er das "bessere Deutschland" - dieser Haltung wegen hat man ihn schnell unter vehementen Ideologieverdacht gestellt. Vor allem der Mauerfilm "Schaut auf diese Stadt", der 1962 den "antifaschistischen Schutzwall" erläuterte, stieß auf Kritik. Mehr Anerkennung bekam er für seine Arbeiter-Studien der Sechziger, die Serie "Asse" oder "Feierabend", 1964, über die Großbaustelle Schwedt. Seinem Regieassistenten Winfried Junge hat Gass das einzigartige Langzeitprojekt der "Kinder von Golzow" vorgeschlagen. Auch in der DDR geriet Gass durch seine Objektivität in die Kritik - also zog er sich aufs Schreiben zurück, am liebsten über die Geschichte Preußens. "Ich war kein Feind der DDR", erklärte er nach der Wende, "ich war ihr Kritiker." Am Donnerstag ist Karl Gass in Kleinmachnow bei Berlin im Alter von 91 Jahren gestorben. dpa/SZ

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Bremens Bild aus dem "Führermuseum"

Leibls "Bauernmädchen" muss an die Erben des ehemaligen Besitzers zurückgegeben werden

Seit ihrer Gründung im Jahr 2003 ist die "Beratende Kommission für die Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter" nur dreimal angerufen worden. Beim ersten Mal, im Jahr 2005, entschied die Kommission, die von Jutta Limbach geleitet wird, dass drei Bilder von Carl Blechen und eines von Anselm Feuerbach aus Museen in Köln, Münster, Heidelberg und Speyer, die bis 1942 im Besitz der jüdischen Kunstsammlerin Clara Freund gewesen sind, an die Erben von Clara Freund zurückzugeben seien.

Nun hat die Kommission ein viertes Mal eine Entscheidung treffen können, nachdem sie von den beiden streitenden Parteien gemeinsam gefragt worden ist. Und wieder ist ein Kunstwerk aus Bundesbesitz, das ehedem unter zweifelhaften Umständen in die Bestände des geplanten "Führermuseums" in Linz gelangt ist, von der Empfehlung betroffen.

Die Kunsthalle Bremen wird künftig wohl auf eines ihrer Meisterwerke verzichten müssen: Das von Wilhelm Leibl 1897 gemalte Bild "Bauernmädchen ohne Hut mit weißem Halstuch", das die Kunsthalle als Dauerleihgabe des Bundes zeigen konnte, soll an die Erbengemeinschaft Dr. Alexander Lewin zurückgegeben werden. Leibls Gemälde hat sich spätestens seit 1930 im Besitz des Vorstandsvorsitzenden der Berlin-Gubener Hutfabrik, Alexander Lewin, befunden. Wie es um 1939 in den Sammlungsbestand des "Führermuseums" gelangt ist, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Schon im Mai 1938 hatte Lewin seinen Leibl der Münchner Galerie Heinemann zum Kauf angeboten, doch die Galerie war nicht interessiert. Wenig später, im Sommer 1938, musste Lewin als so genannter "jüdischer Mischling I. Grades" verfolgungsbedingt in die Schweiz emigrieren. Im März 1939 ist ihm dann durch eine "Sicherungsanordnung" der Zugriff auf sein Vermögen in Deutschland entzogen worden. Es ist also zu vermuten, dass dabei das Leibl-Bild in den Bestand des "Führermuseums" übergegangen ist, doch lassen sich die einzelnen Machenschaften, die zu dem Transfer führten, nicht mehr nachweisen.

Aus diesem Grund lehnt das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, das hier gefragt war, die Rückgabe des Bildes an die Erben ab: "Gesicherte Erkenntnisse über eine ungerechtfertigte Entziehung des Kunstwerks" in der NS-Zeit lägen nicht vor; Vermutungen aber würden für eine Restitutionsentscheidung nicht ausreichen. Die Erbengemeinschaft hält dagegen, dass, selbst wenn das Bild von Lewin verkauft worden sein sollte, der "Verkaufsentschluss" nur durch die "Verfolgungssituation" begründet sei.

Nun haben die beiden Parteien die Beratende Kommission angerufen. Für die Kommission ist schon die Tatsache, dass das Bild, wie die Werke der Sammlung Freund, im Bestand des "Führermuseums" auftauchte, ein Grund, um das Werk als "NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut" zu deklarieren. Die Kommission empfiehlt darum der Bundesregierung, das Gemälde an die Erben zurückzugeben. GOTTFRIED KNAPP

Wilhelm Leibls Gemälde "Bauernmädchen mit weißem Tuch" ist seit 1966 in Bremen ausgestellt. Abb.: Kunsthalle

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Erlösung der Erlöserin

Christof Loy inszeniert "Arabella" von Strauss an der Oper Frankfurt

An aktuellen Bezügen mangelte es nicht; die Frankfurter Premiere der von Christof Loy als Koproduktion schon für Göteborg inszenierten "Arabella" von Richard Strauss bot hinreichend Ansatzpunkte: Arabella, Tochter aus verarmtem Adel, muss am diesem Faschingsdienstagabend einen reichen Verlobten finden, um die Familie zu retten. Sie ist bereit, sich dem Geeignetsten in die Arme zu werfen, damit man nicht in die Armut oder ins Bürgertum abstürzen muss.

Richard Strauss hat hierzu das Libretto von Hugo von Hoffmannsthal quasi musikalisch verfeinert und beredt gemacht, gibt der Arabella schon von Beginn an Größe und Eleganz statt Verzweiflung und Käuflichkeit. Überraschend präzise und dabei flexibel hält das Frankfurter Museumsorchester unter Leitung von Sebastian Weigle diese orchestrale Kraftanstrengung bis zum Ende durch. Was die Gesangsbesetzung betrifft, mit der in dieser Oper doch vieles steht und fällt, so gibt es bis auf den schwächelnden Richard Cox als Matteo keine Ausfälle, stattdessen angenehme Überraschungen. Noch vor der brillanten und auch schauspielerisch überzeugenden Anne Schwanewilms als Arabella müsste man Britta Stallmeister als ihre jüngere Schwester Zdenka hervorheben, die sich nicht nur im Opernsinn aufopfert und bis zur Selbstaufgabe preisgibt, sondern sich dermaßen in die Rolle versenkt, dass man am Ende wirklich berührt ist von der Größe und Stärke dieser kleinen Schwester. "Arabella" bleibt eine Oper der Heldinnen; Robert Hayward als Mandryka reüssiert nur stimmlich.

Denn so klar und kraftvoll der Orchesterklang und die Stimmen in der Oper Frankfurt präsent sind, so klar und klug zurückhaltend hat Christof Loy hier inszeniert; es reicht ein weißer Guckkasten mit wenigen Möbeln und sich verschiebenden Wänden, die wie Sichtblenden dem Publikum jeweils nur das Nötigste in Ausschnitten zeigen und den Rest der durch Libretto und Musik entfachten Phantasie ergänzen lassen. Einzig von der Hauptfigur der Arabella hat sich Regisseur Christof Loy schon von Anfang an offenbar derart betören lassen, dass er weniger die Wandlung der kalten Schönen zur Großmütigen zeigt, als vielmehr der eleganten Adligen von Anfang an soviel Warmherzigkeit mitgibt, wie es das Frauenwunschbild von Strauss und Hoffmansthal am Ende verlangt. Die schmerzhafte Selbstüberwindung von der Erniedrigten zur Erlösungsfigur findet ganz so dramatisch zwingend nicht statt.

Das lange, quälend ernüchternde Ende der Oper gelang folglich neben der musikalisch auftrumpfenden Exposition des ersten Aktes am überzeugendsten. Da beugen sich Idealwelt und Menschlichkeit dem irdischen Sumpf, als könnten sie eins werden. Der Morast wird nicht überhöht, das wäre ein grobes 50er-Jahre-Missverständnis des bei aller Klangkunst doch Realist gebliebenen Strauss, aber das scheinbar Übermenschliche, die Harmonie der Alltagswelt, wird in greifbare Nähe gerückt. Soviel Hoffnung muss sein. HELMUT MAURÓ

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Abschied in schwierigen Zeiten

Der bisherige Arts-Council-Chef kritisiert die englische Kulturszene

Christopher Frayling war fünf Jahre lang als Vorsitzender des Arts Council of England (ACE) für die Subvention kultureller Projekte im ganzen Land zuständig. In dieser Zeit hat er nie gezögert, die Künste gegen Kritiker zu verteidigen, die meinten, staatliches Geld für Kulturförderung wäre anderswo besser angelegt. Doch bevor er Ende Januar planmäßig sein Amt als Chef des ACE, eines regierungsunabhängigen, über öffentliche Fördermittel verfügenden Kulturrates, an seine Nachfolgerin übergibt, wollte Frayling anscheinend auch mit den Kulturschaffenden selbst ins Gericht gehen. Das hat er nun getan, in einem Interview mit dem Guardian sowie in seiner Abschiedsrede, die er am Donnerstag Abend im Royal Institute for British Architects hielt.

Die meisten Menschen in der Kulturszene wollten laut Frayling nicht wahrhaben, dass das allgemein akzeptierte Prinzip regelmäßiger Umverteilung von Fördermitteln "praktische Konsequenzen habe". Manche dieser Konsequenzen seien eben "nicht sehr angenehm". Im Januar vergangenen Jahres war das Arts Council von vielen scharf angegriffen worden, nachdem es bekannt gegeben hatte, die Mittel für rund 200 bisher subventionierte englische Kulturinstitutionen würden gestrichen und anderen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Eine Veranstaltung im Londoner Young Vic, bei der die Vertreter des ACE von der versammelten Theaterelite ausgebuht worden waren, bezeichnete Frayling in seiner Rede als "öffentliche Inquisition". Im Guardian-Interview berichtet der scheidende ACE-Chef von Verbalattacken wie jener durch den Regisseur Mike Leigh, der ihn zufällig in einem Aufzug getroffen und als "Scheißkerl" bezeichnet habe. Dieses "Gift" werde er "nicht vermissen". "Es ist höchste Zeit mit diesen allseitigen Attacken auf das Arts Council aufzuhören", so Frayling.

Die Abrechnung kommt zu einem delikaten Zeitpunkt: Nachdem Kulturminister Andy Burnham kürzlich signalisierte, staatliche Kulturfördermittel könnten insgesamt gekürzt werden (SZ vom 10. Januar), hatte das ACE am Mittwoch mitgeteilt, es werde sämtliche Subventionen für das Kunstzentrum The Public streichen. Das Projekt in West Bromwich bei Birmingham war erst vergangenen Sommer eröffnet worden und hatte 60 Millionen Pfund gekostet. Fraylings Nachfolgerin Liz Forgan dürfte ein turbulenter Amtseinstieg bevorstehen.ALEXANDER MENDEN

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"Sumpflegende"

Stadt München will Gemälde von Klee nicht zurückgeben

Die Stadt München hat in einem Schreiben die Herausgabe des Gemäldes "Sumpflegende" von Paul Klee an die Erben von Sophie Lissitzky-Küppers verweigert. Diese nahmen mit großer Enttäuschung die Entscheidung von Oberbürgermeister Christian Ude zur Kenntnis. Klees "Sumpflegende" aus dem Jahr 1919 gehörte ursprünglich dem Hannoveraner Kunstsammler Paul Erich Küppers. Seine Witwe Sophie, die den russischen Maler El Lissitzky geheiratet hatte, überließ 13 Werke aus ihrer Sammlung dem Provinzialmuseum in Hannover als Leihgabe, als sie mit El Lissitzky nach Russland ging. Die Bilder wurden 1937 von den Nazis als "entartet" beschlagnahmt und in der Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt. Noch während des Krieges verkauft, tauchte die "Sumpflegende" bei einer Auktion erst 1962 wieder auf. 1982 erwarb die Stadt München gemeinsam mit der Münter-Eichner-Stiftung für 400 000 Euro das Bild. Jen Lissitzky, der Sohn und Erbe der ehemaligen Eigentümerin, durfte Russland erst 1991 verlassen und verklagte die Stadt München auf Rückgabe, 1993 wurde seine Klage vom Landgericht München abgewiesen. In seinem Schreiben lehnte Ude die Rückgabe nun endgültig ab und begründete das vor allem mit der Erbenstellung des Klägers, zudem falle "Entartete Kunst" nicht unter die Richtlinien der Washingtoner Grundsätze. irup

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Der Siegeszug des unverhohlenen Kitsches

The Winner Takes It All: "Mamma Mia!" ist das erfolgreichste Muscial aller Zeiten - nicht nur dank "Abba"

Es mag sein, dass die Briten von der Finanzkrise noch mehr gebeutelt werden als der Rest Europas - aber es gibt dort zumindest eine Bastion, die der Rezession trotzt: "Mamma Mia!", ein Musical, das sich langsam zu einer eigenen Branche auswächst. Sogar die Reiseveranstalter jubilieren. Britische Urlauber haben ein neues Traumziel entdeckt, die griechische Insel Skopelos, wo der Westend-Renner verfilmt wurde - bislang war das kleine Eiland, das nicht einmal einen Flughafen hat, nicht gerade eine Attraktion. Der Guardian nennt das den "Mamma-Mia!-effect". Auf den berufen sich inzwischen auch die britischen Kinobetreiber - den Umsatz-Zuwachs von fünf Prozent, den sie für 2008 zu vermelden hatten, kann man nämlich im Wesentlichen dem Film zum Abba-Musical zuschreiben, dem herzzerreißenden Gesang von Meryl Streep, Colin Firth und dem mutigen Brummen von Pierce Brosnan.

Dieser Triumphzug war bei der Premiere im Londoner Prince Edward Theatre - am 6. April 1999, auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Sieg der Popgruppe Abba beim Eurovision Song Contest - nicht abzusehen. Eine ledige Mutter, ihre heiratswillige Tochter und drei potentielle Brautväter, die bei der Hochzeit auftauchen, unterlegt mit so ziemlich jeden Abba-Schlager von "Chiquitita" bis "Dancing Queen", dazu absurde Kostümierungen und Plateau-Schuhe - die Vokabeln kitsch und tacky fanden sich damals in fast jeder Besprechung, zusammen mit dem Hinweis "nur für Fans". Der Kritiker des Independent war eigentlich begeistert, fühlte sich dabei aber wohl so schuldig, dass er sich in die Klassifizierung "irgendwo zwischen flott und gruselig" flüchtete. Nicht mal die Autorin Catherine Johnson glaubte an einen großen Erfolg, das Musical sollte dem Prince Edward Theatre ja auch eigentlich nur über eine Buchungslücke helfen.

Dass aus dem unverhohlenen Kitsch ein Waterloo wurde, haben zunächst tatsächlich Abba-Fans verhindert, die nach London pilgerten. Aber irgendwann muss das Stück Publikumsschichten erobert haben, denen Abba schnuppe war: "Mamma Mia!" war 2008 der sechsterfolgreichste Film der Welt, in Großbritannien ist er sogar der erfolgreichste aller Zeiten geworden - er hat "Titanic" den Spitzenplatz geraubt. Die DVD, die dort schon vor ein paar Monaten erschienen ist, hat überhaupt alles abgehängt, was vorher war, und in Rekordgeschwindigkeit Einnahmerekorde aufgestellt, sie ist die erste, die mehr als fünf Millionen Mal verkauft wurde. Und das Bühnen-Musical, in 160 Städten rund um den Globus in elf verschiedenen Sprachen vor etwa 30 Millionen Zuschauern aufgeführt, gilt inzwischen als das erfolgreichste, das es je gegeben hat. Die Produzentin Judy Craymer soll an Film und Bühnenproduktion inzwischen etwa neunzig Millionen Pfund verdient haben.

Soundtrack einer besseren Zeit

Was sicherlich mit der Musik zu tun hat, die Björn Ulvaeus und Benny Andersson in den siebziger Jahren geschrieben haben. Musik, die damals erfolgreich war, und, das ist einzigartig, seither immer wieder: Auch das Wiederauftauchen der Alben in den Charts ist ein Rekord. Die Songs, vom Rolling Stone beispielsweise in den Siebzigern hartnäckig ignoriert, wurden spät gelobt, für ihre Eingängigkeit, für ihre Arrangements. Was erklärt, warum die CDs noch immer zu später Stunde auf Parties laufen und auch relativ schläfrige Gäste wieder aufwecken - aber die alleinige Erklärung für den Erfolg von Musical und Film kann die Musik nicht sein; man braucht ja weder das eine noch das andere, um sie zu hören.

Eine dramaturgische Meisterleistung ist das Stück, das Catherine Johnson um die Songs herumgeschrieben hat, nun wirklich nicht; und dem Film haben die eher bescheidenen Sangeskünste von Pierce Brosnan auch nicht auf die Sprünge geholfen. Das Stück besitzt aber viel eigenwilligen Humor und Selbstironie, die Warnung vor dem Auftauchen von Lycra und Polyester hat den Besuchern schon vor zehn Jahren ganz gut gefallen, man fand das cool; und allein wie dort mit dem Kitsch eines Songs wie "Slipping Through My Fingers" gespielt wird, wie das eigentlich schwer verdauliche Pathos von "The Winner Takes It All" mit dramatischem Augenzwinkern zur großen Gefühlsarie stilisiert wird - das ist wirklich ziemlich lässig.

Natürlich hat die Liebe zu Abba viel damit zu tun, dass die Band den Soundtrack einer besseren Zeit geliefert hat, die Lieder sind mit den besten Jahren der westlichen Welt - als man Wohlstand, Glauben an die Zukunft und die Errungenschaften liberalen Denkens tatsächlich gleichzeitig genießen konnte - so verquickt, dass die schöne Erinnerung alle Berührungsängste mit einer Band aufhebt, die damals nicht als hip galt. Abba hatte in den Siebzigern nichts mit Hippie-Lebensgefühl zu tun, ihre Fans galten nicht als cool und die Band selbst schon gar nicht: Zwei Ehepaare ohne jeden Exzess, das war der krasse Gegensatz zum Lebens- und oft auch Sterbensstil der Rocker zu dieser Zeit. Als cool galten der androgyne Marc Bolan oder der Junkie Keith Richards, gegen den es meistens irgendwo einen Haftbefehl gab.

Das Faszinierende an Johnsons Musical ist, dass ihre Geschichte nichts von all dem ist, weder Hippie noch Yuppie noch Junkie; und auch nicht Hollywood, wo man bis heute noch zu prüde und materialistisch ist für etwas wie "Mamma Mia!". Das Musical vereint, was zu der Zeit, als Abba überall lief, gar nicht zusammengehörte. Statt die Siebziger zu verklären, hat Johnson Figuren geschaffen, die damals erwachsen wurden und so eine Art Besserhippies erfunden, sie hat selektiv aus der 68er-Bewegung gerettet, was auch in der Retrospektive noch geeignet war, die Welt frei und friedlich zu machen. Dass diese Figuren heute wesentlich älter sein müssten als Johnsons Charaktere, ist nebensächlich. Wichtiger ist, dass sie dabei keinerlei Dogmatismus akzeptiert hat oder die Aufgabe von Werten und Verantwortung; anything goes, der Schlachtruf der Achtziger und Neunziger, mutiert in "Mamma Mia!", zwischen dem Schick der Tochter und dem Lumpenlook der Mutter, zu einem Slogan vom Respekt für unterschiedliche Lebensentwürfe, was ja ursprünglich mal damit gemeint war.

Und dann liegt es wohl doch an Johnsons Story vom unehelichen Kind, das heiraten möchte - und es geht dabei nie darum, die laxe Lebenshaltung der Mutter auszuspielen gegen die Sehnsucht der Tochter nach geordneten Verhältnissen. Und, nachdem so viele Leute das Musical oder den Film gesehen haben, kann man es ja sagen: Eine Geschichte, an deren Ende nicht geklärt werden muss, wer denn nun die Heldin geschwängert hat - statt Gentest wählen die drei Männer Gemeinschaftsvaterschaft -, ist auf einer Musicalbühne so ungewöhnlich wie im Kino.

Die ganze Geschichte ist also, völlig unabsichtlich, eine Absage an jene teuflische Verknüpfung von Haltungen - wer gegen Abtreibung ist, muss für Kernkraft sein -, der Barack Obama gerade den Garaus zu machen versucht. Reagan, sagt Obama, hat sich so leicht getan, diese Denkweise in den Achtzigern zu etablieren, weil die Liberalen zuvor Ansprüche über Verantwortung gestellt haben. Wenn die Welt darauf gewartet hat, ist sie auch reif für eine Dreifaltigkeit der Väter. SUSAN VAHABZADEH

Vorsicht, Polyester: Colin Firth, Christine Baranski, Pierce Brosnan, Meryl Streep, Stellan Skarsgard, Julie Walters, Dominic Cooper und Amanda Seyfried im großen Finale der Musical-Verfilmung "Mamma Mia!" Foto: Universal/image.net

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Die Stetigkeit des Museums

Sabrina van der Leys Pläne für die Hamburger Kunsthalle

Sabrina van der Ley war acht Jahre lang Direktorin der Kunstmesse Art Forum Berlin, bevor sie als Leiterin der Galerie der Gegenwart in der Hamburger Kunsthalle antrat.

SZ: Kunsthallen-Direktor Hubertus Gaßner meint, die Bedeutung von Kunst würde heute von den Messen und nicht mehr den Museen definiert. Haben Sie sich in die falsche Richtung verändert?

Sabrina van der Ley: Ich habe den Eindruck, dass das Museum im Moment eher wieder eine wichtigere Rolle spielt als der Markt, der gerade stagniert. Auch Museen haben Probleme, Sponsoren zu gewinnen oder zu halten. Aber für das Museum ist die derzeitige Entschleunigung der natürliche Zustand. Dass etwas Beruhigung in den Kunstmarkt kommt, ist sicher positiv. Ich habe nie so häufig gehört, dass Galeristen sagen, sie hätten endlich wieder Zeit, sich um Inhalte zu kümmern.

SZ: Die Hamburger Kunsthalle hat weder einen eigenen Ankauf- noch einen Ausstellungsetat. Ist da die Stärke der Museen nicht ein Phantom?

van der Ley: Natürlich kann das Museum bei hohen Preisen kaum seine Sammlung erweitern. Andererseits werden die Werke hier adäquat ausgestellt und bewahrt. Der Kunstmarkt hingegen war bislang extrem schnell. Manche Künstler verschwanden schon nach zwei Jahren wieder. Gerade für die, die sehr jung hochgeschaukelt werden, ist das vermutlich ein Trauma. Das Museum steht eindeutig für mehr Stetigkeit.

SZ: Es gibt mittlerweile eine gewisse Angleichung von Messen und Museen. Messen werden immer häufiger inszeniert wie Ausstellungen. Oder sie bieten zumindest, wie Sie es auch beim Art Forum getan haben, Ausstellungen als Bonus. Museen bemühen sich dagegen vermehrt um kommerzielle Events.

van der Ley: Viele Messen haben unter Neuerungsdruck versucht, sich über die Ausstellungsformate ein anderes Gesicht zu geben. Für mich war das in Berlin interessant, weil die Stadt inzwischen der wichtigste Produktionsstandort für Kunst in Europa ist. Die Sonderausstellungen sollten dies vor dem Hintergrund der fehlenden Kunsthalle abbilden. Trotzdem haben wir nie verleugnet, dass fast alles zum Verkauf stand. In den Museen wirken viele Events fehl am Platz. Häufig macht die Kulturpolitik Druck. Sie will den Event, weil damit vermeintlich mehr Besucher kommen.

SZ: Wie kann man also wieder mehr Differenz schaffen zwischen Markt und Museum?

van der Ley: Man muss sich sehr genau überlegen, welche Art von Event man braucht. Vielleicht ist eine gezielte Vortragsreihe sinnvoller als die Riesenparty. Das muss man von Ausstellung zu Ausstellung entscheiden. Eine Kunstmesse ist dagegen per se ein Event. Das Extrem ist die Art Basel Miami, wo die Leute nackt in den Pool springen. Aber es gibt auch die Loop, die Video-Messe in Barcelona, wo man ganz konzentriert Videos ansieht. Alle Bereiche des Kunstbetriebs durchdringen sich, das darf man nicht ausblenden. Die überwiegende Entdeckungsarbeit wird von den Galerien gemacht. Insofern braucht man sie, wenn man vernünftige Ausstellungen machen will. Und auch für die Museumsarbeit.

SZ: Was bei der Messe die Quote der Umsätze ist, sind im Museum die Besucherzahlen. Setzt Sie das unter Druck, populäre Ausstellungen zu machen?

van der Ley: Nein, weil ich schlicht davon ausgehe, dass in der aktuellen Kunst die Blockbuster noch eine Rarität sind. Das Interesse an der Gegenwartskunst ist zwar enorm gestiegen, aber ein Besucherandrang wie bei Mark Rothko ist noch nicht hinzubekommen.

SZ: Was ist die Aufgabe einer Galerie der Gegenwart, wenn man mal die Betonung auf Gegenwart setzt? Wie risikofreudig können Sie Neues und Unbekanntes präsentieren?

van der Ley: Es gibt keinerlei Einflussnahme auf das, was ich ausstellen möchte. Also kann ich ganz gegenwärtig werden oder auch Klassiker ausstellen, wenn sie in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören.

SZ: Und wo liegen Ihre Prioritäten?

van der Ley: Sowohl ganz junge Künstler zeigen als auch Retrospektiven machen, aber natürlich auch thematische Ausstellungen. Ich plane unter anderem eine Ausstellung zum Thema "Ende der Welt" mit Markus Richter, ein wanderndes Projekt mit 30 bis 40 Künstlern. Außerdem möchte ich als "Guerillataktik" Un- bzw. Nichtorte im Museum von Kunst in Besitz nehmen lassen. Raum, Stadt und Architektur sind Themen, die mich seit langem interessieren.

SZ: Für das Art Forum Berlin haben Sie einmal den Anspruch formuliert, die Messe in die Champions League zu führen. Können Sie sich soviel Ambition in Hamburg auch leisten?

van der Ley: Es ist doch eines der besten Häuser in Deutschland, oder?

SZ: Alle großen Ausstellungen, die die Kunsthalle zuletzt gezeigt hat, kamen aus anderen Häusern hierher. Damit gewinnt man nicht unbedingt Ansehen.

van der Ley: Ich möchte Ausstellungen entwickeln, die dann in Europa reisen. Oder ein Projekt mit internationalen Kollegen. Nur Übernahmestation zu sein, interessiert mich nicht.

Interview: Till Briegleb

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Im Liebeswahn

Jean Simmons, Hollywoods unergründliches "Angel Face", wird achtzig

Eines der ganz großen Geheimnisse der Kinogeschichte, ein Film aus der Zeit, da Liebe so kalt war wie der Tod - "Angel Face", 1952, von Otto Preminger. Ein armes reiches Mädchen, das erfüllt ist von mörderischem Hass auf die Stiefmutter; ein Junge, der sich von ihr manipulieren lässt, Robert Mitchum spielt ihn mit schmerzlicher Gleichgültigkeit. Ein amour fou, in dem nichts geht zwischen den beiden Liebenden Diana und Frank. Er weiß nicht, was hinter ihrem Engelsgesicht vorgeht; er will es auch gar nicht wissen. Die beiden müssen heiraten, um einer Morduntersuchung zu entgehen, und enden in gemeinsamem Tod.

Das Engelsgesicht gehört Jean Simmons, und es steckt jede Menge von ihr persönlich in diesem Mädchen. 1950 feierte sie ihren Geburtstag noch in London, mit dem jungen coolen Britstarpack, das war die Zeit, da sie mit ihrem Cooper-Bristol-Renner die Straßen unsicher machte. "Angel Face" ist auch heute noch ein unbegreiflicher Film. "Lord, we know what we are, but know not what we may be . . ." In einer legendären Szene geht Simmons durchs nächtliche Haus, ganz in ihren Traum verloren - der Inbegriff von film noir, aber durchsetzt mit Reminiszenzen an Shakespeare: Ophelia und Hamlet in Beverly Hills. Ophelia hatte Simmons für Laurence Olivier gespielt, in seinem Hamlet-Film, 1948 - das hat seine Ehe mit Vivien Leigh erschüttert, die scharf war auf die Rolle, aber, schon in den Dreißigern, zu alt: "I'm losing him to a bloody child." In Hollywood hat Simmons, lang verheiratet mit Stewart Granger, der Mantel-und-Degen-Ikone, das Standardurteil erschüttert, dass englische Actricen Distinguiertheit und Noblesse garantierten. Wie Leigh konnte Simmons durchtrieben, hitzig, erdverbunden sein, das hatte sie als Estella bewiesen in "Great Expectations", als Dschungelprinzessin in Powell/Pressburgers "Black Narcissus".

"Angel Face" ist der Film einer bitteren Frustration. Der Milliardär Howard Hughes hatte Simmons' Vertrag gekauft und war scharf auf Jean - die Stars wurden damals gehandelt wie Sklaven. Simmons ließ ihn abblitzen und schnitt sich zu Hughes' Entsetzen das prächtige Haar ab. Zur Strafe wurde sie dem schikanösen Preminger ausgeliefert. Die schwarze Langhaarperücke, die sie trägt, nimmt schon die historischen Epen der Fünfziger vorweg, "The Robe" und "Spartacus", "Desirée" und "Weites Land". William Wyler hätte sie wahnsinnig gern für "Roman Holiday" gehabt - nur zögernd hat er sich dann für Audrey Hepburn erwärmt - und später für "Ben Hur". Stattdessen hat sie neben Burt Lancaster die Wanderprediger-Moritat "Elmer Gantry" gemacht, für den beinharten Schreiber-Regisseur Richard Brooks, den sie dann heiratete. 1969 hat er ihr noch mal eine gnadenlos aufrichtige Rolle geschrieben, in "The Happy Ending". Eine Frau, die nach sechzehn Jahren sich aufrafft, verbittert, alkoholverfallen, und aus der grauenvoll bürgerlichen Ehe ausbricht - Motto: "One drink's too many, and a thousand's not enough." Eine bittere Parallelgeschichte. Diese Frau muss zur gleichen Zeit geheiratet haben wie Diana und Frank. Am Samstag wird Jean Simmons achtzig Jahre alt. FRITZ GÖTTLER

Jean Simmons in dem Film "Weites Land" von William Wyler Foto: Ernst Haas / Getty Images

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NACHRICHTEN AUS NEW YORK

Die Obama-Buttons verschwinden nach und nach von den Wintermänteln. Vergangene Nacht wurde der letzte Becher "Yes, Pecan!" ausgelöffelt, das Pekannuss-Eis, das Ben & Jerry's zur Amtseinführung in Limited Edition auf den Markt gebracht hatten. Die "Bye, bye, Bush"-Sonderangebote sind ausgelaufen. Kein Grund zur Trauer, klar. Was will man mehr als einen Präsidenten, der die größten Hämmer der Bush-Regierung in zehn Tagen korrigiert hat? Doch ein bisschen verletzter Lokalstolz mischte sich schon in die tränenreiche Seligkeit, mit der man Obamas Inauguration auf CNN verfolgte. Washington! Die Stadt mit der Sexyness von Wichita, voll von kreuzbraven Provinzaufsteigern mit Patriotenflagge am Revers, dieses Washington soll nun auf einmal der Motor des Fortschritts sein? Zentrum des Geschehens? Die Times lobte sogar schon die Renaissance der örtlichen Restaurantszene, die bisher vor allem für sehr große Steaks bekannt war. Was soll nun aus uns werden, hier im verarmten New York? Was haben wir noch zu bieten? Mit gehöriger Identitätskrise, und ohne unserer Droge, die Wall-Street Dollars, kaputt und frierend wie Dustin Hoffman und Jon Voight in "Midnight Cowboy"?

MoMA und Guggenheim hätten den Prozess am liebsten verhindert - doch ihr Antrag auf Einstellung des Verfahrens aus Mangel an Beweisen wurde abgewiesen. Von Montag an wird deshalb verhandelt, wer der rechtmäßige Besitzer zweier Bilder von Picasso ist, "Die Mühle von La Galette" (1900) und "Junge mit Pferd" (1906), von denen das eine im MoMA, das andere im Guggenheim hängt. Die Museen sagen, die Bilder gehören ihnen, der Potsdamer Historiker Julius Schoeps ist anderer Meinung. Als Großneffe des jüdischen Bankiers und Kunstsammlers Paul Robert Ernst von Mendelssohn Bartholdy sei er der Eigentümer. Sein Großonkel habe die Bilder auf Druck der Nazis verkauft. Den Prozess um einen weiteren Picasso, "Porträt von Angel Fernandez de Soto", der der Kunststiftung von Andrew Lloyd Webber gehört, hat Schoeps bereits verloren.

Erst schließen die Elektronikmärkte, dann die Restaurants, jetzt sind die Galerien an der Reihe. Eines Morgens sind die Scheiben mit Packpapier verhüllt, als sei dort nie was gewesen. Wer tot ist und wer als nächster stirbt, das ist auf dem Krawallblog der New Yorker Kunst- und Galeristenszene "How's my dealing" zu erfahren. Als Kanal für boshafte Gerüchte, unliebsame Wahrheiten und Racheaktionen Gefeuerter erfüllt er sicher eine wichtige soziale Funktion, allerdings sind die Nachrichten mit einer Prise Salz zu lesen. Auch in Manhattans Medienbranche wird hyperventiliert - eben machen Gerüchte die Runde, der New Yorker, das Intelligenzflaggschiff von Condé Nast, werde mangels Anzeigen eingestellt. Salz, bitte!JÖRG HÄNTZSCHEL

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Der kleine Makabre

Postkommunistisch: "Pique Dame" an der Komischen Oper Berlin

Die Besucherkurven an den drei krisenanfälligen Berliner Opernhäusern zeigen neuesten Messungen zufolge wieder nach oben. Am wenigsten im Gerede ist die Komische Oper. Hier scheint der ästhetische Bestand, Felsensteins realistisches "Musiktheater" als Gegenmodell zur schönen "Oper", sich bleibender Wertschätzung zu erfreuen - spektakuläres Regietheater (von Konwitschny, Koskie, Bieito) und ein frisch agierendes Sängerteam halten das Haus attraktiv. Der junge Thilo Reinhardt kann mit der Neuinszenierung von Tschaikowskys Spätwerk "Pique Dame" den Anspruch aber nur bedingt einlösen. Das Seelengemälde, nach Puschkins Novelle, vom deutschen Ingenieur Hermann, der Liebe und Lebensglück im Drang nach dem Mammon am Kartentisch verspielt, gerät wankelmütig: Banalität verdrängt Dämonie. Drei Tote sind am Ende zu beklagen.

Eine Parabel akuter Gegenwart ist erkennbar - Gier nach Gewinn schaltet Verstand aus und rückt die Welt an den Abgrund. Dass Reinhardt das ganze im postsozialistischen Russland ansiedelt, funktioniert durchaus. In düsterer Hotellobby (Paul Zoller) entstehen krasse Rollenbilder und manische Miniaturen. Zum Beispiel die alte Gräfin mit ihrem tödlichen Geheimnis der drei Karten: Anja Silja spielt die elegante Fregatte anbetungswürdig als Diva abgefeimter Anmut, singt sie traumhaft inständig, derweil Enkelin Lisa (Orla Boylan) im weißen Pelz und festem Sopran nur eine Art Lebedame verkörpert (Foto: dpa). Wieso sie den im abgeschabten Trenchcoat steckenden Hermann (Heldentenor als kleiner armer Makabrer: Kor-Jan Dusseljee) überhaupt lieben soll, wird nicht genügend deutlich. Psychologie kommt in Form präzis gearbeiteter Figurenfindung daher, mit Darstellern wie Karolina Gumos (Polina) oder Philip Horst (Tomski).

Der Dirigent heißt Alexander Vedernikov, ist aus Moskau angereist und kennt die tragisch beredte Partitur, ruft Klangfiguren der Leidenschaft, Neurose und Demütigung der Seelen mit engagierter Hand ins Leben. Manchmal allzu dröhnend. Die Künstler der Komischen Oper brillieren. WOLFGANG SCHREIBER

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Die Reisfelder der Bronx

Wie wird man ein "Überflieger"? Malcolm Gladwell zu Besuch in Berlin

Es waren zahlreiche Journalisten an diesem Donnerstagabend in der American Academy, denn wenn auch Journalisten und insbesondere Feuilletonisten Vorträgen von der Sorte "Der Weg zum Erfolg" in der Regel skeptisch gegenüberstehen, so lockt sie der Anblick eines Erfolgsjournalisten durchaus. Für einen amerikanischen Ausnahmejournalisten vom Schlage Malcolm Gladwells fährt man durchaus mal heraus an den Berliner Wannsee. Hier stellte der Autor des Magazins The New Yorker seinen neuen Bestseller vor, der in den USA in den vier Wochen seit Erscheinen bereits eine Million Mal verkauft wurde (Malcolm Gladwell: Überflieger Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009. 272 Seiten, 19,90 Euro).

Gladwell selbst ist das beste Beispiel für sein Thema. 1963 als Kind eines Engländers und einer Jamaicanerin geboren und in Kanada aufgewachsen, kam er früh zur Washington Post, lernte dort, wie er sagt, zehn Jahre lang das Handwerk, und schrieb, als er schon beim New Yorker war, seine ersten beiden Bücher, "Blink!" und "Der Tipping Point". Nicht außergewöhnliches Talent allerdings habe ihn auf den Olymp des englischsprachigen Journalismus und an die Spitze der Bestsellerlisten gebracht, so Gladwell: entscheidend für seine Karriere seien Glück und Fleiß gewesen.

Für seine These, dass nicht Veranlagung, sondern Zufall und Arbeitsdisziplin entscheidend sind auf dem Weg zum Erfolg, brachte Gladwell einige Beispiele: So las er die Geburtsdaten des Kaders der tschechischen Eishockey-Nationalmannschaft vor, wobei sofort klar wurde, dass eine Mehrzahl der Spieler in den ersten drei Monaten des Jahres Geburtstag feiert. Ähnlich sehe es bei den nationalen Fußballmannschaften aus. Den Grund für diese erstaunliche Ungleichverteilung sieht er darin, dass die Verbände den Stichtag für die Bildung ihrer Ligen auf den 1. Januar legten.

Im Alter von neun Jahren aber, so Gladwell, macht es einen Unterschied, ob man im Januar oder im November geboren sei: Elf Monate Altersunterschied spielten in dieser Phase eine enorme Rolle. Dass dann eher die schon weiterentwickelten Januarkinder gefördert würden und die Novemberkinder frustriert aufgäben, verstehe sich von selbst. Wie der Zufall der Geburt, so prägten weitere Zufälle unser Fortkommen auf der Erfolgsleiter. Gladwell aber ist fest davon überzeugt, dass sich manche dieser Nachteile zumindest eindämmen lassen.

Schüler, lernt von Asien!

Die zweite Bedingung, wenn nicht ein "Überflieger" zu werden, dann doch zumindest einen guten Job zu finden, lasse sich nämlich viel einfacher steuern. Fleißig üben könne schließlich jeder. Man brauche die Schulkinder nur daran zu gewöhnen, von früh bis spät zu lernen, und schon sähen die Ergebnisse bei Mathematik-Olympiaden erheblich besser aus. Allerdings sei diese Einstellung der Arbeit gegenüber in Asien, der Region, die bei Mathe-Tests immer am besten abschneide, weitaus verbreiteter; dort sei man schließlich seit Jahrhunderten an harte Arbeit gewöhnt. Denn die Reiswirtschaft erfordere einen viel höheren Aufwand als die europäische Form der Landwirtschaft. Ackere ein japanischer Bauer 3000 Stunden im Jahr, so verbringe sein langnasiger Kollege alljährlich nur derer 1000 auf dem Feld.

Wenn hier einmal mehr die Statistik als letztes Argument herangezogen wird, so weist Gladwell diesmal immerhin auch auf einen kulturellen Unterschied hin. Und er berichtet davon, wie dieses asiatische, auf langes, konzentriertes Lernen ausgerichtete Schulkonzept inzwischen auch in den USA, vor allem in schwarzen Problembezirken Anwendung findet. Die Ergebnisse sind, was wenig überrascht, sehr deutlich: Das Niveau steigt, die Erfolgsaussichten der bis dato benachteiligten Ghettokinder werden besser.

Problematisch ist dabei nicht so sehr die Frage nach den Mitteln, um solche Projekte großflächig zu finanzieren. In Südkorea etwa sind die Bildungsausgaben nicht höhe als anderswo. Problematisch scheint eher, und dieser Aspekt bewegt Gladwell erstaunlicherweise wenig, dass durch derartige, strukturelle Veränderungen auch ein kultureller Wandel befördert werden könnte. Zwar steht nicht zu befürchten, dass in der Bronx demnächst Reis angebaut werden wird. Doch ist selbst für wirtschaftlichen Erfolg Kreativität und selbständiges Denken nötig, geschweige denn für ein glückliches, sich nicht allein über Arbeit definierendes Leben.

Kreativität ebenso wie ein Wissen um die eigenen Bedürfnisse allerdings entwickelt sich nicht beim stundenlangen Zahlen-Exerzitium. Beides bedarf der Muße, des bloßen Nichtstuns. Drillt man seine Kinder, hat man am Ende vielleicht lauter effektive, nutzbringende Softwareprogrammierer. Unwahrscheinlich aber, dass einer von ihnen so etwas wie den New Yorker erfindet, ein Magazin, in dem der faule Bauer an einem lauen Sonntagnachmittag herumblättern kann, um allerlei hochinteressante, wenn auch für den Ackerbau recht unerhebliche Artikel zu lesen. Unwahrscheinlich allerdings, dass es dann überhaupt noch laue Sonntagnachmittage gibt.

TOBIAS LEHMKUHL

Als Überflieger unterwegs: Der amerikanische Journalist und Erfolgsautor Malcolm Gladwell Foto: Corbis

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Hinter den Spiegeln

Zum Tod des Schriftstellers und Übersetzers Christian Enzensberger

Manche werden zu Schriftstellern, indem sie auf Sinnsuche gehen. Christian Enzensberger ging als Essayist, Übersetzer, Prosaautor und Literaturtheoretiker stets den umgekehrten Weg: er suchte dem Sinn zu entkommen. Am Heiligabend 1931 in Nürnberg geboren, erlebte er seine Jugend in der Nachkriegszeit. Früh dürfte es ihn vor Sätzen wie dem gegraust haben, dass alles seinen guten Sinn hat. Und vielleicht mehr noch vor den unzähligen Sätzen, in denen nach 1945 die Dämonen der "Sinnlosigkeit" beschworen wurden. Jedenfalls muss er irgendwann schon in jungen Jahren erkannt haben, dass der eigentliche Widerpart aller Sinnversprechen nicht die Sinnlosigkeit ist, sondern der Unsinn.

Als Küchenjunge hatte Enzensberger bei den englischen Besatzungssoldaten Naturalien abgestaubt und zugleich sein Ohr für die Sprache geschärft, die seinem künftigen Lebensthema - dem Unsinn - ein imaginäres Weltreich errichtet hatte. In München studierte Enzensberger Anglistik, tauchte tief in die viktorianische Literatur ein und im Jahre 1963, da war er promoviert und Anfang dreißig, erschienen seine Lewis Carroll-Übersetzungen "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln." So wurde er früh unsterblich.

Denn wer immer künftig vom Goggelmoggel liest, dem deutschen Humpty Dumpty, oder vom Jabberwocky, der wird, auch unwissend, seiner gedenken: "Verdaustig war's, und glasse Wieben / rotterten gorkicht im Gemank; / Gar elumpt war der Pluckerwank, / und die gabben Schweisel frieben." Das war aber nicht alles.

Denn da gab es auch noch die abgründige Sprachtheorie des Goggelmoggel: " ,Es fragt sich nur', sagte Alice, ,ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.' ,Es fragt sich nur', sagte Goggelmoggel, ,wer der Stärkere ist, weiter nichts'." In dieser Theorie steckte die Rückseite des Lebensthemas Unsinn: die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Weltordnung, Sprache und Macht.

Mit ihr wurde Christian Enzensberger Teil der 68er-Bewegung. Seine Essays "Die Verminderung des Menschen" (1965) und "Größerer Versuch über den Schmutz" (1967) erschienen im Kursbuch, das sein älterer Bruder Hans Magnus Enzensberger herausgab. Sie waren, ohne ideologiekritische Selbstgewissheit, Variationen zur Polarität von Ordnung und Zerfall im Leben, Unsinn und Sinn in der Literatur.

Dann machte Christian Enzensberger ernst: die zweibändige politische Ästhetik "Erkenntnis und Interesse" (1977) wurde zum Prozess gegen die Literatur als Medium der Sinnstiftung. Am Beispiel von "Oliver Twist" deckte sie detektivisch die affirmativen Potentiale des kritischen Realismus auf, und selbst Shakespeare erwies sich im "Kaufmann von Venedig" als Parteigänger von Kapitalfraktionen.

Etwas aber blieb zu tun: das eigene Leben darzustellen, ohne es an die Sinnstiftungsmaschinerie - etwa an die Form der Autobiographie - zu verraten. So entstand der umfangreiche Roman "Was ist Was" (1987). Danach wurde es still um den Autor. Am Mittwoch ist Christian Enzensberger in München gestorben, im Alter von 77 Jahren. LOTHAR MÜLLER

Lebensthema Unsinn: Christian Enzensberger Foto: Herlinde Koelbl

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Staatsknete abgreifen

Arg spießig: Thomas Bernhard schimpft über seine Preise

Auf die Idee, einem Dichter einen Preis zu geben, kam zum ersten Mal ein Dichter. Francesco Petrarca, gelehrt und selbstverliebt, hatte bei einem römischen Autor gelesen, das Ehrenzeichen des Lorbeers gebühre auf Erden genau zwei Personen: dem siegreichen Caesar und dem begnadeten Poeten. Diesen Gedanken wollte er zum Leben erwecken. Er besorgte sich einen König - es war der Herrscher von Neapel -, der mitspielte und feierlich seine Zustimmung erteilte, und ließ sich 1343 auf dem Kapitol in Rom in einem langwierigen Ritus voller lateinischer Reden einen Lorbeerkranz aufs Haupt drücken.

Das heutige Institut des Literaturpreises - in keinem Land der Welt ist es so verbreitet wie in Deutschland -, hat sich diesen gelehrten und amtlichen Anstrich erhalten. Nicht umsonst sind seine Bühnen häufig Stadttheater und Rathäuser. Denn Monarchen sahen Künstler zwar gern um sich und brauchten sie für ihre Feste. Aber fürs Metier mussten sie sich natürlich nicht interessieren. Wenn sie mit kleinen Geschenken - beispielsweise einer kostbaren Tabaksdose - ihren Beifall zeigten, mussten Genies wie Mozart oder Beethoven dankbar sein, ihnen ein paar Werke zueignen zu dürfen. Was für ein Krampf herauskommt, wenn ein Künstler, gar Dichter, auf Verständnis und wahrer Schätzung durch die Obrigkeit besteht, hat Goethe in seinem "Tasso" dargestellt, einem Stück, das jeder Schriftsteller lesen sollte, bevor er zu einer Preisverleihung fährt.

So delegierten die Herren der Welt das literarische Preiswesen am liebsten an ihre Akademien, die sowieso vor allem mit Sitzungen und Redenhalten beschäftigt waren. Von dort wanderte es am Ende des 19. Jahrhunderts im reich gewordenen wilhelminischen Deutschland an die Städte, wo es geblieben ist und seither eine ungebrochene Blüte erlebt. Damit war es in die Sphäre von lokalpatriotischer Wichtigtuerei und amateurhafter, aber aufrichtiger Kunstliebe gekommen. Der soziale Vorgang, der hier Jahr für Jahr an Dutzenden von Orten nachgespielt wird, ist ein Tausch von Geld und Symbolen: Der Dichter erhält eine gewisse Summe, die verleihende Körperschaft erfreut sich an seiner feierlichen Anwesenheit.

Besiegelt wird der Tausch durch Reden von beiden Seiten: Die den Preis verleihende Einrichtung bekundet nicht nur Verehrung, sondern verständnisvolle Schätzung; sie wird bewiesen durch die Laudatio. Der Dichter dankt mit einem kleinen Prunkstück aus seiner Werkstatt, und das ist der Höhepunkt, für den das viele Geld überhaupt ausgegeben wurde. Empfang, gesetztes Essen, noble Unterbringung, ein bisschen Drumherum sollte auch sein.

Wer einen Preis erhält, muss sich in einen Ritus fügen, der gerade Schriftstellern - Handwerkern der Einsamkeit - wenig liegt. Viele leiden furchtbar unter Lampenfieber, und das moderne Theorem dichterischer Sprachnot bekommt hier eine unerwartete praktische Verwendbarkeit.

Auch hat der monetäre Untergrund des Vorgangs unverkennbar etwas Demütigendes, das nur bei sehr großen, traditionsreichen Preisen, bei denen die Ehre ganz im Vordergrund steht, entfällt. Der Dichter macht Männchen auf einer oft provinziellen Bühne, wofür? Für einen Scheck, der manchmal nicht mehr als zwei luxuriöse Urlaubsreisen ermöglicht, den er aber doch gut gebrauchen kann. Caesaren sehen anders aus.

Hier gibt es nur zwei Auswege: Ablehnen oder ein Spiel daraus machen. Abgelehnt wird sehr selten. Die Grazie individuell angeeigneter Konvention - mit ein paar ernsten Momenten - gelingt gelegentlich. Beliebt war eine Zeitlang das existenzialistische Herumgeprolle, bei dem der Dichter sich als Außerirdischen aus einer Sphäre tieferer Gedanken, wahrerer Empfindungen, bedeutender Einsicht darstellt und die Hand, die ihm die Urkunde überreicht, mindestens kratzt.

Solche radikale Wichtignehmerei passt zur Wichtigtuerei der Stadträte, Minister oder Akademiker, die die Preise vergeben. Dass ein von Tod, Krankheit, Zerfall besessener Autor wie Thomas Bernhard ein eigenes Buch "Meine Preise" schreiben konnte, hätten wohl nur die geglaubt, die noch nie eine besonders hohe Meinung von ihm hatten. Nun ist es da, und es zeigt, wie Maxim Biller zutreffend feststellte, ein regelrechtes "Arschloch". Dass Bernhards Suada tiefe Unlust am Denken verbirgt, war schon immer zu ahnen; hier ist es mit Händen zu greifen.

Bernhard leidet bei allen Preisverleihungen wie ein Hund; am liebsten ist ihm die Übergabe des Schecks in einem hanseatischen Kontor, ohne Reden, aber mit gutem Essen hinterher. So lief es 1964 beim Hamburger Julius-Campe-Preis, der erfreulichsten Preisverleihung in Bernhards Leben. Denn warum akzeptiert der leidende Schriftsteller überhaupt Preise, die "naturgemäß" vor allem eines verraten, "grenzenlose Niedertracht" - weniger darf es nie sein? Er braucht das Geld, für einen Bauernhof, für ein Auto, für Begleichung von Schulden, für neue Fensterstöcke. "Aber Preise sind überhaupt keine Ehre, die Ehre ist eine Perversität, auf der ganzen Welt gibt es keine Ehre." Wenn es so ist, dann darf man auch selbst "charakterlos", "ein Schwein" sein. Schließlich wäre man "ein Narr", wenn man die Steuergelder nicht nähme.

Und dann kommt noch ein Argument, von dem man sich fragt, ob Bernhard seine Ekelhaftigkeit überhaupt wahrgenommen hat: Schlimmeres verhüten. "Nehme ich nicht das Geld, wird es einer Niete in den Rachen geworfen, die nur Unheil anrichtet mit ihren Erzeugnissen und die Luft verpestet." Bernhard, so lässt sich der Inhalt dieses Nachlasswerks auf den soziologischen Nennwert bringen, will Staatsknete ohne Gegenleistung, damit kein anderer sie bekommt. Der Mann passt in die Welt, die er in seinen immergleichen Satzketten angeprangert hat.

Glücklicherweise erzählt dieses Buch nicht nur von den Preisen und den Umständen ihrer Verleihung, sondern auch davon, was Bernhard mit dem Geld angestellt hat. Der erstaunlich spießige, aber doch rührende Höhepunkt ist der im Kolorit eines Sechziger-Jahre-Films geschilderte Kauf eines weißen Autos mit roten Polstern, das die Gelegenheit für einen brausenden Mittelmeerausflug gibt, samt dramatischem Knall bei einem Verkehrsunfall.

Nur peinlich berührt das abgestandene Österreich-Geschimpfe, zumal Bernhard seine eigene Stoffeligkeit genussvoll, keineswegs selbstironisch vorführt. Die Österreichische Akademie hat es beim Grillparzerpreis versäumt, ihn am Eingang gebührend zu empfangen. Bernhard und seine Begleiterin setzen sich daraufhin nicht in die erste Reihe, sondern mitten ins Publikum. Nach vorn zu kommen, dazu ist er nur bereit, wenn der Akademiepräsident ihn persönlich dazu auffordert und begleitet. Auch hier wieder reinstes Spießertum: Freude am Demütigen anderer. Nichts Besseres kann diesem Bösen passieren, als wenn ein rührend ahnungsloser Kultusminister auf seine Provokationen hereinfällt - "Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als gemeines Desinteresse am Leben" - und den Saal türenknallend verlässt.

Dabei war Bernhard nicht völlig unempfänglich für die Freundlichkeit, die all die Niedertracht in Luft auflösen kann. Beim Preis der österreichischen Bundeswirtschaftskammer sitzt er neben dem Salzburger Handelskammerpräsidenten, der einst seine Abschlussprüfung an der Handelsschule abgenommen hat. Dieser Herr Haidenthaller ist, wie man Bernhard zuflüstert, schwer krank und hat nur noch zwei Wochen zu leben; und siehe: Er ist kein Monster, sondern ein aufmerksamer Mensch, mit dem der einstige Handelsschüler sich über die Hunderte chinesischer Teesorten austauschen kann.

In Darmstadt, beim Büchnerpreis, muss Bernhard erkennen, dass er zwei nicht ganz verächtliche Mitpreisträger hat: den Physiker Werner Heisenberg und den Kritiker Joachim Kaiser, der ihn durch "verblüffenden geballten Kenntnisreichtum" in Musikfragen beeindruckt. Aber freilich: "Von Literatur versteht Kaiser nichts." Überhaupt waren die Herren der Akademie "die freundlichsten". Als bekannt wird, dass Bernhards Begleiterin, seine "Tante", am Tag der Preisverleihung Geburtstag hat (es ist auch Geburtstag Georg Büchners), besorgt der Akademiepräsident einen Strauß von 76 Rosen für die betagte Dame. Nicht einmal niederträchtig ist man zu Darmstadt!

Die Ansprache, die Bernhard zum Büchnerpreis hielt, ist eine der schlechtesten in der langen Reihe von Büchnerpreisreden. "Alles handelt von Fürchterlichkeit, von Erbärmlichkeit, von Unzurechnungsfähigkeit", heißt es, dabei behauptet Bernhard, "Denken ist folgerichtig die konsequente Auflösung aller Begriffe", aber mehr als solches Gewummere mit Allgemeinheiten enthält die nur fünfminütige Ansprache nicht. Später trat Bernhard aus der Darmstädter Akademie aus, mit dem leichtesten aller verbalen Siege, der Frage, worin eigentlich ihre Existenzberechtigung bestehe. Bernhards traurig-komischen Band "Meine Preise" durchlesend könnte man antworten: im erhöhten Leistungsdruck beim Halten von Reden. Ihm hat sich Thomas Bernhard erfolgreich entzogen. GUSTAV SEIBT

THOMAS BERNHARD: Meine Preise. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 141 Seiten, 15,80 Euro.

Es gibt hier nur zwei Auswege: Ablehnen oder ein Spiel daraus machen. Abgelehnt wird selten.

"Nehme ich nicht das Geld, wird es einer Niete in den Rachen geworfen."

Thomas Bernhard 1971 im Kaffeehaus Foto: picture-alliance

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Das Zentralorgan des Geistes

Die Nouvelle Revue Française wird 100 Jahre alt

Nicht nur in Frankreich ist das stets kursiv geschriebene Kürzel nrf das Wahrzeichen für Literatur. Es steht für die Nouvelle Revue Française, die zweifellos berühmteste literarische Zeitschrift Frankreichs, deren erste Nummer am 1. Februar 1909 erschien und als deren Spiritus Rector der Schriftsteller André Gide fungierte. Im markanten Unterschied zu anderen literarischen Zeitschriften sollte die nrf nach dem Willen Gides nicht das Zentralorgan einer neuen literarischen Schule sein, sondern für eine Literatur einstehen, die ihre Rechtfertigung und Bestimmung allein im jeweiligen Werk fand. Diese auf einem klassischen Literaturverständnis beruhende Programmatik erteilte dem damals grassierenden Symbolismus, dem Naturalismus und den Spielarten der späten Romantik eine kategorische Absage.

Allein auf sich gestellt hätte eine Zeitschrift mit diesem puristischen Anspruch vermutlich keine Zukunft gehabt, wäre es Paul Claudel 1911 nicht gelungen, André Gide davon zu überzeugen, sich mit Gaston Gallimard zu verbinden. Das war die Geburtsstunde der "Editions de la Nouvelle Revue", eines literarischen Buchverlags am 31. Mai 1911, der die Werke der von der nrf propagierten Autoren veröffentlichen sollte. In rascher Folge erschienen hier nun Bücher von Autoren, die, wie Mallarmé oder Baudelaire von der nrf als "Meister" anerkannt, wie Chesterton, Keats und Tagore von ihr "entdeckt" worden oder wie Gide, Claudel, Martin du Gard und Rivière ihre Mitarbeiter waren.

Das Programm des Verlags wurde entscheidend dadurch beeinflusst, dass nicht Gaston Gallimard in Programmfragen allein das Sagen hatte, sondern diese Entscheidungen vom Redaktionskomitee der nrf, dem als einflussreichste Mitglieder André Gide und Jean Schlumberger angehörten, getroffen wurden. So viel kritische Kompetenz hatte aber auch ihre Tücken, wie sich Anfang November 1912 zeigte, als das von Marcel Proust dem Verlag angebotene Manuskript von "Du côte de chez Swann" abgelehnt wurde, weil dessen Autor dem Komitee als zu "mondän" galt. Zwei Jahre später, im April 1914, setzten Gide, Rivière und Gallimard eine Korrektur dieses Irrtums durch, weshalb Prousts Roman ab 1917 unter dem Sigel nrf erschien.

Der Makel der Kollaboration

Die anfängliche Abhängigkeit des Buchverlags von der Nouvelle Revue Française wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, als die Zeitschrift bis Juni 1919 ihr Erscheinen einstellte, während der Buchverlag seine Tätigkeit fortsetzte. Das war entscheidend, denn 1919 gründete Gaston Gallimard mit der "Librairie Gallimard" einen neuen Verlag, für den er ein eigenes, vom Redaktionskomitee der nrf unabhängiges Lektorat berief. Das war der entscheidende Anstoß dafür, dass sich der Buchverlag allmählich von der Nouvelle Revue Française emanzipierte, sein Programm wirtschaftlich erfolgreich diversifizierte und vor allem popularisierte.

Das änderte aber nichts daran, dass die Nouvelle Revue Française, die in den 20er und 30er Jahren ihre größte Blüte erlebte und vor allem unter der Leitung durch Jean Paulhan seit 1925 rasch zum führenden intellektuellen wie literarischen Organ der Zwischenkriegszeit aufstieg, für den Literaturverlag Gallimard von erstrangiger Bedeutung wurde. Die Zeitschrift entwickelte sich zu einem Forum, in dem alle literarischen Stile und intellektuellen Strömungen der Epoche durch Autoren wie André Breton, Paul Eluard, Henry de Montherlant, Franz Kafka, Robert Musil, Francis Ponge, Jean Cocteau, Louis Aragon oder François Mauriac zu Wort kamen, die dann meist von Gallimard verlegt wurden. Spätestens seit dieser Glanzzeit sind Ruf und Ruhm von Gallimard untrennbar mit dem Kürzel nrf verbunden, das bis heute die Titel seiner Bücher schmückt.

Die Okkupation Frankreichs im Zweiten Weltkrieg bedeutete das jähe Ende dieses Erfolgs im Juni 1940. Der Versuch der deutschen Besatzungsmacht, die Magie des Zeitschriftentitels propagandistisch zu nutzen, indem sie Pierre Drieu de la Rochelle als Herausgeber der Nouvelle Revue Française verpflichtete, endete im Juni 1943. Wegen der Kollaboration nach 1945 verboten, konnte die Zeitschrift erst 1953 als Nouvelle Nouvelle Revue Française wieder erscheinen. Jean Paulhan, der bis zu seinem Tod 1968 erneut die Leitung der damals monatlich erscheinenden Zeitschrift innehatte, gelang es zwar, den Ruf der Zeitschrift, die seit dem Februar 1959 wieder als Nouvelle Revue Française firmierte, mit Autoren wie Raymond Queneau, Nathalie Sarraute, Michel Butor oder Michel Tournier aufzupolieren, aber der einstige Erfolg stellte sich nicht mehr ein.

Die seit einigen Jahren nur noch vierteljährlich erscheinende Nouvelle Revue Française gleicht inzwischen immer mehr einem Denkmal, dem die Sinnstiftung abhanden gekommen ist. Was hier veröffentlicht wird, findet immer seltener Widerhall in der öffentlichen Diskussion. Die Auflage ist auf rund 1000 Exemplare gesunken. Ungeachtet des Bedeutungsverlusts nutzt Gallimard aber das Jubiläum zu umfassenden Würdigungen. Die Februar-Ausgabe der Zeitschrift wird drei große Beiträge zum "Jahrhundert der NRF" enthalten. Außerdem erscheint eine "Geschichte der NRF" sowie eine Auswahl von Kritiken unter dem Titel "L'oeil de la nrf. 100 livres pour un siècle". Ein Kolloquium und eine Ausstellung kommen hinzu. JOHANNES WILLMS

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"Wir benahmen uns wie Banditen"

Der Markt für sogenannte Tribal Art nährt sich aus der Beute der Kolonialzeit und ethnologischen Stücken

Seit jeher wird Wertvolles, Heiliges, Schönes geplündert, geraubt, auch geschmuggelt und verkauft. Zuerst, weil die Sieger die Besiegten demütigen und ihr Selbstwertgefühl brechen wollen: Also nimmt man das ihnen Kostbarste, dringt in ihre Tempel ein und trägt alles weg, was den Opfern kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Identität gab und gibt. So geschehen schon zu Zeiten von Sumer und Alt-Ägypten, so benahmen sich Griechen und Römer und so geht es fort bis heute. Zum anderen wollen die heimkehrenden Sieger Beute mitbringen, sich mit den eroberten fremden Federn schmücken und die Daheimgebliebenen beeindrucken. Manchmal werden diese Beuteobjekte zu ästhetischen oder modischen Vorbildern der Siegergesellschaft. So orientierten sich die Römer an den geschlagenen Griechen, Napoleons Ägypten-Zug beeinflusste das Empire.

Eines der finstersten Kapitel materieller und seelischer Barbarei schrieben jene spanischen Konquistadoren, die die indianischen Kulturen Mittel- und Südamerikas nicht nur in Regionen mörderischer Versklavung und brutaler Ausrottung verwandelten, sondern auch im Namen des Christentums goldene Statuen und Schmuck, Grabbeigaben und Tempelschätze einfach einschmolzen und in Barren nach Europa transportierten. Es ist erstaunlich, dass überhaupt etwas Authentisches von Mayas, Inkas und Azteken übrig geblieben ist.

Auch Portugiesen, Niederländer, Engländer und Franzosen führten sich als Kolonialmächte auf: Christianisierung und Islamisierung taten und tun ein Übriges. Heiligtümer und Ritualgegenstände wurden Indianern, Inuit, afrikanischen Völkern, ozeanischen Kulturen oder australischen Aborigines entrissen, ruiniert, entheiligt, fortgeschafft und schließlich verscherbelt. So liegt über den Sammlungen außereuropäischer Kulturen in den Museen, die einst von Entdeckern, Abenteurern, Forschern und Wissenschaftlern "zusammengetragen" wurden, jener Zug des Gewalttätigen, der die Geschichte der Weltentdeckung prägt.

Kolonialer Blick der Moderne

Während Mesopotamien, Ägypten und die Hochkulturen Asiens etwa Chinas, Japans oder Indiens früh in Qualität und Rang museal gleichgestellt wurden, schließlich auch die indianischen Kulturen Altamerikas, blieben Objekte der sogenannten Stammeskulturen Amerikas, Afrikas und Ozeaniens den Ethnologen überlassen, sozusagen als Gegenstände der Primitiven, die mit einer Ästhetik des Kunstschönen angeblich nichts zu tun hatten. Dass schon Georg Forster von seiner Fahrt mit James Cook einzigartige Objekte mitbrachte und auch so einschätzte, Afrikaforscher wie Heinrich Barth und Leo Frobenius die Eigenständigkeit, Geschichtlichkeit und Bedeutung afrikanischer Kulturen und ihrer Zeugnisse erkannten, änderte wenig an der vorherrschenden Meinung.

Erst als Paul Gauguin in die Südsee aufbrach und das in jenen vermeintlichen Paradiesen erhoffte freie andere Leben in seinen Bildern beschwor, erst als Maurice de Vlaminck, André Derain und Pablo Picasso afrikanische Masken als Inspirationsquelle wahrnahmen und sich Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner, Ernst Heckel oder Max Pechstein an der Kraft und Freizügigkeit von Artefakten aus dem Palau-Archipel begeisterten, entdeckte der Kunstmarkt diese bis dahin ethnologischen Objekte. Zu Renaissance- und Barockzeiten landeten Gegenstände, wenn sie aus so fernen Breiten nach Europa gelangten, meist in den Wunderkammern der Fürsten, die sogar Aufträge für Elfenbeinschnitzereien nach Afrika vergaben.

Danach begannen Sammler moderner Kunst wie beispielsweise Helena Rubinstein, Josef Mueller und sein Schwiegersohn Jean-Paul Barbier oder auch Walter Bareiss, und irgendwann auch Museumsleute wie Werner Schmalenbach mit dem Sammeln vor allem afrikanischer Skulpturen. Künstler und Schriftsteller wie André Breton, Tristan Tzara, Guillaume Apollinaire oder später Georg Baselitz waren auch dabei. Die meisten dieser Sammler orientierten sich an ästhetischen Reizen der Masken und Skulpturen, die sie mit Kubismus, Expressionismus, Surrealismus und anderen Richtungen der Avantgarde in Verbindung brachten. Das heißt, die afrikanischen oder ozeanischen Artefakte blieben für sie letztlich in einer funktionalen, um nicht zu sagen: kolonialen Spannung zur Moderne. Davon zeugt der lang benutzte Begriff "Primitivismus".

Der spielte auch mit bei einem der ersten einschlägigen Händler, Charles Ratton, der zusammen mit Tristan Tzara im Jahr 1930 in Paris die erste Tribal-Art-Ausstellung überhaupt organisierte. Noch 1984 veranstaltete das New Yorker Museum of Modern Art eine große Schau unter dem Titel "Primitivism in the Art of the XX. Century". Die Ausstellung löste trotz vielfältiger Kritik neue Aufmerksamkeit für afrikanische und ozeanische Kunst und deren Bewertung aus.

Den Höhepunkt auf dem Kunstmarkt stellt bisher jene geweißte Ngil-Maske des Fang-Volkes dar, die 2006 in Paris die enorme Summe von rund fünf Millionen Euro erzielte. Sie war 1984 auch bei der MoMA-Ausstellung zu sehen. Zu solchen Spitzenpreisen kommt es vor allem dann, wenn die Herkunft der Objekte lückenlos über alte Fotografien, Ausstellungskataloge und belegbaren Besitzerwechsel nachgewiesen werden könne, so der Kölner Galerist Dierk Ernst Dierking. Inzwischen gäbe es eine Beschäftigung mit Tribal Art, die die ethnologischen Zusammenhänge bedenkt. Spätestens seit der Unesco-Konvention von 1970 gilt für Museen, aber auch für seriöse Händler und Kunstsammler, dass sie Stücke, deren Herkommen unsicher ist, nicht berücksichtigen dürfen.

Dennoch muss man staunen, was in Paris, derzeit der Hauptort für den Handel mit Stammeskunst, und in anderen Städten angeboten und versteigert wird. Viele Stücke stammen immer noch aus Raubgrabungen. Experten befürchten zudem, dass ein Drittel der insgesamt gehandelten Tribal Art unecht ist. Darüberhinaus sind die kultischen Traditionen bei vielen afrikanischen Völkern längst abgebrochen durch Missionierungen, Bürgerkriege, Massaker und anderen Zerstörungen. Doch begabte Schnitzer und Handwerker gibt es, die nun direkt für den Kunstmarkt produzieren. Diese Objekte, die meist der Sphäre des Souvenirs angehören, besitzen keine Aura des Rituellen mehr. Dementsprechend bearbeiten Fälscher die Stücke, um ihnen eine glaubwürdige Patina zu geben, damit höhere Preise zu erzielen sind. Wenn etwa Terrakottafiguren der antiken vorchristlichen Nok-Kultur aus Nigeria auf dem internationalen Markt auftauchen, sind viele der Stücke überarbeitet oder gefälscht, selten haben sie Nigeria legal verlassen: Sie gelangen durch Korruption und Schmuggel in den Handel. Der Schweizer Sammler Jean-Paul Barbier, Schwiegersohn des berühmten Tribal-Art-Pioniers Josef Müller, wurde beschuldigt, drei aus Nigeria gestohlene Nok-Skulpturen an das Musée du Quai Branly verkauft zu haben. Doch hatte er nichts mit diesen Objekten zu tun. 2003 äußerte er sich in einem Interview zudem sehr skeptisch über Restitutionswünsche aus Afrika, die Gefahr sei groß, dass zurückgegebene Objekte verschwänden: "Die Belgier schenkten Mobutu in Zaire hundert Objekte für das Museum in Kinshasa. Was machte Mobutu? Er verkaufte einen Teil." Nach dessen Sturz und der Machtübernahme durch Kabila wurde das Museum niedergebrannt. Es wäre auch fatal, etwa Senufo-Masken aus dem Norden der Elfenbeinküste ins Nationalmuseum von Abidjan im feindlichen Süden zu geben. Die heutigen Grenzen afrikanischer Staaten seien willkürliches Ergebnis der Kolonialzeit und widersprächen oft der Aufteilung der Ethnien und Kulturen vor der Ankunft der Weißen.

Im Großen und Ganzen stammt der Bestand an Afrikana auf dem Kunstmarkt aus den schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Kollektionen. Der Philosoph Michel Leiris beschreibt ihren Erwerb rückblickend kritisch, er hatte in den dreißiger Jahren den Ethnologen Marcel Griaule zu den Dogon begleitet: Wenn ein Dorf ein Objekt nicht verkaufen wollte, riefen Griaule und Leiris die Polizei, die dann den Dorfältesten bedrängte, bis er aufgab: "Wir benahmen uns wie die Banditen." Doch noch bis Mitte der neunziger Jahre funktionierte ein hierarchisierter Handel, mit dem Zentralafrika und Ostafrika geradezu "staubsaugerartig" leergekauft wurden, so der Münchner Kunsthändler Alfred Kren, Direktor von Norwood Fine Arts. Nicht nur Korruption und Schmuggel halfen, sondern auch die Bürgerkriege, wenn Kunst bereitwillig gegen Waffen getauscht wird. Viele der alten Sammlungen sind von Erben veräußert worden, oder, wie von Barbier-Mueller, selbst verkauft, etwa an das Musée du Quai Branly für außereuropäische Kunst in Paris. Auch die Kollektionen von Helena Rubinstein, Walter Bareiss oder die des Surrealisten André Breton sind in den letzten Jahren versteigert worden.

Manchmal wechseln Objekte innerhalb kurzer Zeit mehrmals den Besitzer, was die Auktionäre dann nicht gerne sehen, wenn dabei das Preisniveau wieder verfällt. Nachdem jahrzehntelang west- und zentralafrikanische Skulpturen hochgeschätzt wurden und man sich nicht scheute, Ostafrika als "kunstarm" zu bezeichnen, sind inzwischen auch die dortigen Artefakte ins Blickfeld des Kunstmarktes geraten, wobei Künstler wie Georg Baselitz Vorreiter für die Sammelfähigkeit dieser Objekte wurden.

Für ein paar Glasperlen

Artefakte von den Inselreichen Ozeaniens gelangten vor allem mit den Expeditionen der letzten drei Jahrhunderte nach Europa, Amerika und Russland. Skulpturen etwa aus Papua-Neuguinea waren einst für ein paar Glasperlen einzusammeln, weil solche Kultgegenstände nach der Herstellung und dem rituellen Gebrauch für die jeweilige Gruppe die magische Kraft und damit ihre Bedeutung verloren. Solche entauratisierten Kultobjekte konnten die Europäer billig erwerben und abtransportieren. Doch noch in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts suchten etwa Loed van Bussel oder Wayne Heathcote den pazifischen Raum erfolgreich bis in hinterste Inselecken nach interessanten Objekten für Sammler ab. Doch der Fundus an authentischen Stücken ist begrenzt und inzwischen ziemlich ausgereizt. Dafür nehmen die Fälschungen zu. HARALD EGGEBRECHT

Fang-Masken aus Äquatorialguinea waren begehrt: Auch Henri Matisse besaß ein Exemplar. Abb.: Katalog Villa Stuck, 1993 / Foto Dick Beaulieu

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RADAR

Trotz Tänzerin und Kinderbild: Moderne mit schmalem Angebot

Das Angebot der Moderne-Auktionen ist übersichtlich, weit entfernt jedenfalls von den Rekordvolumen im Februar 2008, als allein die Abendauktionen 95 (Sotheby's) beziehungsweise 70 Millionen Pfund (Christie's) einfuhren. Nun bestreitet Sotheby's mit gerade einmal 30 Losen die Londoner Abendsitzung impressionistischer und moderner Kunst am 3. Februar und erwartet 40 Millionen Pfund. Zu den Toplosen zählt eine Straßenszene Ernst Ludwig Kirchners aus dem Jahr 1913: Eine kleinere Version des 2006 aus dem Berliner Brücke-Museum restituierten Gemäldes, das damals die Neue Galerie in New York für den Rekordpreis von 38 Millionen Dollar erwarb. Das expressionistische Sujet wurde zuletzt 1995 gehandelt und ist mit 5 bis 7 Millionen Pfund geschätzt. Die teuerste Verlockung: Eine kleine Tänzerin von Edgar Degas' in Bronze mit echtem Stoff-Tutu und Satinschleife. Die fast einen Meter große Skulptur , ein posthumer Guss von 1922, ist eine der letzten in privater Hand (9 bis 12 Millionen Pfund). Einen raschen Besitzerwechsel hat Amedeo Modiglianis statuarische Ölversion einer "Cariatide" hinter sich (6 bis 8 Millionen). Ein marktfrisches Werk mit langem Museumsaufenthalt kommt mit einer erst im letzten Jahr an die Erben des Prager Industriellen Oskar Federer restituierten Istanbul-Ansicht Oskar Kokoschkas von 1929 zum Aufruf (1,2 Millionen). Christie's Offerte umfasst 47 Lose mit einem Schätzwert von 60 Millionen Pfund und wird von einem impressionistischen Werk der ersten Stunde angeführt: Claude Monets 1876 leichthin entworfenem Wiesenstück "Dans la Prairie", das als teuerstes Los der Woche um die 15 Millionen Pfund einspielen soll. Das Gemälde stammt aus einer "bedeutenden europäischen Sammlung" wie weitere fünf Lose, darunter die Bordellszene "L'abandon (Les deux amies)" von Henri Toulouse-Lautrec, die einmal Max Liebermann gehörte (5 bis 7 Millionen). Modiglianis Kinder-Doppelportrait "Les deux filles" wird überhaupt zum ersten Mal angeboten: Das Gemälde war vor gut 90 Jahren direkt beim Künstler erworben worden (3,5

Millionen). Sotheby's schließt am 5. Februar die Auktion Zeitgenössische Kunst an und annonciert als Highlight einen 5 bis 7 Millionen Pfund starken "Concetto Spaziale" aus dem Venezia-Zyklus von Lucio Fontana. Christie's und Phillips folgen am 11. und 12. Februar. D.B.

Zwei Messen für Buchkunst

Handschriften, Inkunabeln, Grafik seit der Renaissance und Stundenbüchern gehören zum Angebot von zwei Messen in Ludwigsburg und Stuttgart. Italien ist ein besonderer Schwerpunkt der 23. Antiquaria in Ludwigsburg, die bis zum heutigen Samstag läuft. Im Württembergischen Kunstverein präsentieren 84 Aussteller noch bis zum morgigen Sonntag bei der 48. Stuttgarter Antiquariatsmesse ihre Schätze: darunter das MacCarthy-Stundenbuch, das auf das Jahr 1460 in Rouen datiert ist (268 000 Euro) und eine seltene Kopernikus-Ausgabe für 85 000 Euro. lorc

Bernd Runge leitet Phillips de Pury. Der ehemalige stellvertretende Geschäftsführer des Medienkonzerns Condé Nast ist ab März für die kaufmännische Leitung des Auktionshauses verantwortlich. Simon de Pury bleibt Vorstandsvorsitzender und übernimmt die künstlerische Leitung. irup

Lorenzo Rudolf wechselt nach Paris. Der Messemacher, der erst im Jahr 2007 eine Messe für Gegenwartskunst in Schanghai gegründet hatte, wurde vom Konzern Luxrule zum "Leiter der internationalen Entwicklung" der Messen Artparis und deren Ableger, der Artparis Abu-Dhabi, berufen. lorc

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Hörfunk Höhepunkte

Zwischenfälle

Auf Bayern 4 ist der gesamte Sonntag Ein Tag mit Felix Mendelssohn Bartholdy; DKultur widmet dem Komponisten den Themenabend Lichtgestalt und Zwischenfall (Samstag, 19.05 Uhr). Von der Schwierigkeit, in Süditalien den Sohn eines Richters vor Gericht zu stellen, handelt der Krimi In freiem Fall (WDR 5, Samstag, 23.05 Uhr). Das Hörspiel Die Nacht dazwischen entwirrt zwei Biografien rückwärts bis zur frühen Berührung (NDR Info, Sonntag, 21.05 Uhr). Dunkelblau erzählt, mehr musikalisch denn narrativ, eine Liebesgeschichte (SWR 2, Dienstag, 23.03 Uhr).

Den Mitschnitt eines gewitzten Auftritts von Gerd Köster und Robert Gernhardt wiederholt WDR 5 in Streng öffentlich!: Fertig ist das Sackgedicht (WDR 5, Sonntag, 20.05 Uhr). Ebenfalls aus der Kategorie Fundstücke: Aufnahmen von Caterina Valente mit dem Count Basie Orchester (DKultur, Sonntag, 18.05 Uhr) sowie ein Live-Mitschnitt aus dem Jahr 1968 von Tim Buckley In Concert (DKultur, Mittwoch, 20.03 Uhr). Ein Klassiker des Hörspiels ist Helmut Heißenbüttels Was sollen wir überhaupt senden? (Bayern 2, Freitag, 20.30 Uhr), eine Rarität Die Heilige Johanna der Schlachthöfe in einer Inszenierung von 1932 (SR 2, Donnerstag, 20.04 Uhr).

Ein Feature von Anastasia Vinokurova über Antisemitismus in Russland: Meine verbotene Verwandtschaft (DLF, Dienstag, 19.15 Uhr). Das Nachtstudio bietet den Gewinnern des Merkur-Essaywettbewerbs ein Forum (Bayern 2, Dienstag, 20.30 Uhr). sfi

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Der mit dem Wolf tanzt

Kabel 1, 20.15 Uhr. Bürgerkriegsveteran John Dunbar (Kevin Costner) lässt sich 1865 auf einen militärischen Außenposten in South Dakota versetzen. In der Einsamkeit der Wildnis entsteht zaghaft eine Freundschaft zu den Sioux-Indianern und einem scheuen Wolf. Als die Armee Jagd auf die Ureinwohner macht, flieht der Soldat mit ihnen. Foto: Orion Pictures

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Spielfilmtipps zum Wochenende

Momente des Todes

Manchmal braucht es doch einen Faustschlag, um zu verdeutlichen, was vorher nur latent spürbar war. Wenn also Hermine Granger ausholt, um dem lästigen Draco Malfoy eine zu scheuern, dann ist das nicht bloß eine Befreiung für die Filmfigur und ihre Darstellerin Emma Watson, sondern für die gesamten Harry Potter-Filme. Nach den schauerlich spießigen ersten Teilen über den jugendlichen Muggelmagier Potter (Daniel Radcliffe) zeigte Der Gefangene von Askaban (Pro Sieben, Sonntag, 20.15 Uhr), was ein begabter Regisseur aus den Büchern von J. K. Rowling machen kann: Der Mexikaner Alfonso Cuarón hatte trotz seiner Unerfahrenheit mit Mega-Produktionen keine Scheu vor dem Gewicht der Vorlage. Er entschlackte geschickt die Geschichte um den vermeintlichen Verbrecher Sirius Black und erfand Bilder (die Dementoren!), die Harry Potter aus den Kindertagen mitten in die Erwachsenenwelt katapultierten. Fantasy und die Qualen der Pubertät sind perfekt miteinander verwoben, und erstmals gehen einem die Bilder wirklich an Herz und Nieren. Das einzige Problem des Films ist gar nicht seins: Seitdem man weiß, was in der Potter-Welt möglich ist, wartet man vergeblich auf ähnlich herausragende Potter-Filme. Cuarón hingegen bestätigte alle Hoffnungen mit Children of Men, den man sich an diesem Wochenende getrost in Videotheken ausleihen kann.

Denn ansonsten bietet das Wochenende viel Gewohntes. Sicher, Harry & Sally (Arte, Sonntag, 20.45 Uhr) provozieren mal wieder die Frage, ob es ein Leben nach dem Sex gibt; Mein Nachbar Totoro (Super RTL, Samstag, 20.15 Uhr) entführt uns in die animierte Welt des Japaners Hayao Miyazaki; Buffalo 66 (RBB, Samstag, 23.40 Uhr) ermöglicht Einblicke in die komplexe, verwirrte Psyche des Darstellers/Regisseurs Vincent Gallo. Aber die eine, alles überragende Free-TV-Premiere gibt es nicht.

Deshalb umso empfehlenswerter: ein Streifzug durch Filme von Sir Alfred Hitchcock. Selbst wenn es sich diesmal zumeist um Nebenwerke handelt, kann man zumindest außerordentliche Momente des Todes aufschnappen: den fehlgeschlagenen Auftragsmord an der leuchtenden Grace Kelly in Bei Anruf Mord (Tele 5, Sonntag, 9.55 Uhr); die Aufsicht auf die sterbende Juanita (Karin Dor) in dem Spionage-Thriller Topas (ARD, Samstag, 22.10 Uhr), ein Augenblick wie aus einer Puccini-Oper in einem sonst eher frigiden Film; den stillen, mühsamen, brutalen Mord am Stasi-Agenten (Wolfgang Kieling) in Der zerrissene Vorhang (BR, Sonntag, 23.15 Uhr). Wie hätten Hitchcock-Filme wohl um die Jahrhundertwende ausgesehen - so wie Scream (Das Vierte, Samstag, 22.10 Uhr)? Dort wird die Schraube des Schreckens noch eine Windung weitergedreht, weil die Beteiligten - also auch die Opfer - ahnen, was auf sie zukommt. Das kommt Hitchcock zumindest näher als Gus Van Sants Remake von Psycho (ARD, Nacht zu Sonntag, 0.20 Uhr), das es fertigbringt, eine 1:1-Farbkopie zu sein und doch lebloser zu wirken als Mutter Bates.

Da wir wieder mal bei Hitchcock gelandet sind, kann die Rede gleich auf 12 Monkeys kommen (NDR, Nacht zu Montag, 0.15 Uhr). Terry Gilliams Zeitreisekrimi basiert auf einem Kurzfilm des Franzosen Chris Marker (La Jetée), der wiederum stark von Hitchcock beeinflusst war. Wenn in 12 Monkeys der stets gehetzte James Cole (Bruce Willis) die ursprünglich von ihm entführte, später freiwillig mit ihm geflohene Kathryn (Madeleine Stowe) in einem Kino erspäht, nachdem sie sich zur Tarnung die Haare blond hat färben lassen, läuft hinter ihnen gerade . . . Vertigo - genau, Hitchcocks Meisterwerk. Aber keine Sorge, das ist nur ein kleiner Insider-Gag in diesem herrlich synkopischen Krimi. Der Rest des Films ist kompliziert genug. MILAN PAVLOVIC

Aus den Kindertagen mitten in die Erwachsenenwelt katapultiert: Harry Potter (Daniel Radcliff). Foto: Warner

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Lewis - Der Oxford Krimi

ZDF, 22.00 Uhr. In der Serie Inspector Morse war Robert Lewis (Kevin Whatley, r.) lange Zeit eine Nebenfigur. Vor fünf Jahren hat der britische Sender ITV dem Ermittler dann eine eigene Reihe spendiert. Das ZDF zeigt vorerst vier Folgen, zum Auftakt ermitteln Lewis und sein Assistent (Laurence Fox) in den Kreisen einer intriganten Industriellenfamilie. Foto: ZDF

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Macht mal halblang

Die Berlinale wird es wieder zeigen: Es gibt so viele tolle Schauspieler! Leider spielen sich die meisten von ihnen selbst an die Wand / Von Tobias Kniebe

Hier eine kleine Wette: Wenn jetzt die Berlinale losgeht und alle Welt vom Roten Teppich des Eröffnungsfilms berichtet, wird mittendrin Armin Mueller-Stahl zu sehen sein: Gütige blaue Augen, verschmitztes Lächeln, großväterlich staatstragende Thomas-Mann-Aura. Warum auch nicht? Der Mann spielt im Eröffnungsfilm mit, in Tom Tykwers "The International", neben Clive Owen und Naomi Watts - als ehemaliger Stasi-Mann mit traurigem Bick, der seine Spezialkenntnisse in Sachen Mord und Erpressung gewinnbringend ans internationale Finanzschurkentum verhökert. Solche Aufgaben erledigt Mueller-Stahl, 78, einst DDR-, heute Weltbürger, mit links. Trotzdem: Etwas wird sich in diesem Moment falsch anfühlen.

Die Sache ist die: Die Rolle des Konsuls Jean Buddenbrook in dieser großen, goldumrandeten Lübecker Marzipanpackung namens "Buddenbrooks", die das ZDF und die Bavaria auf den weihnachtlichen Gabentisch gewuchtet haben, sie sollte die letzte große Rolle des großen Armin Mueller-Stahl sein. Danach sei definitiv und unwiderruflich: Schluss. So hat es nicht irgendwer beschlossen, sondern Mueller-Stahl.

Diese Entscheidung hat er vor mehr als zwei Jahren einer Nation, der diese Frage vorher egal war, mit Donnerhall in Bild am Sonntag verkündet. "Es ist genug", raunte er, womöglich mit demselben majestetisch-waidwunden Blick, den er auch in seinen letzten Rollen so luzide eingesetzt hat. "So wie die Schauspielerei heute funktioniert, kann ich sie nicht ernstnehmen." Und: "Es ist absurd, wenn amerikanische Stars dreißig Millionen Dollar pro Film verlangen können. Sind sie außerdem am Verkauf beteiligt, kommen sie auf 300 Millionen. Und es ist vollkommen absurd, dass ein Produzent noch viel mehr verdienen kann."

Er wolle bald nur noch malen, schreiben, vorlesen, junge Künstler fördern, so fügte Mueller-Stahl hinzu. All das interessiere ihn mehr als spielen.

Sprach's, und nahm nur sehr wenig später nicht nur die Rolle in "The International" an, sondern gleich auch noch einen Part in der nächsten bombastischen Hollywood-Dan-Brown-Verfilmung, "Illuminati". Das Bild oben zeigt überaus vortrefflich, was man erwarten darf: Chorknaben, die fromm zu Diensten sind, wenn Hollywood es verlangt - und täuscht unser Verdacht oder versuchen hier zwei Großschauspieler die drohende Lächerlichkeit mit stoischer Miene zu ertragen. Ein Projekt ist das übrigens, bei dem der Star Tom Hanks wieder Gott weiß wie viele Millionen kassieren wird, auch der Produzent wird sich dumm und dämlich verdienen - während Mueller-Stahl für eine Rolle, die er selbstverständlich nicht ernstnehmen kann, einmal mehr mit einem Hungerlohn abgespeist wird.

Darum macht er es ja.

Man könnte sich nun als kulturinteressierter Mensch, der gerade die besseren Schauspieler auch für ihre Glaubwürdigkeit jenseits der Leinwand verehrt, ein wenig verhöhnt vorkommen. Sollte man aber nicht.

Wir sehen hier nur ein Virus am Werk, dessen Wirkung sich in subtilen Symptomen zeigt, das aber doch große Verheerung anrichten kann, wenn es nicht eingedämmt wird. Es ist das Virus des Großmimentums.

Das Virus des Großmimentums befällt Schauspieler, die durch Preise, Lob und meist sogar berechtigte Verehrung über den Status eines bloßen Gesichtsverleihers hinausgewachsen sind. Hin zu einer Aura, einem Geheimnis - und einem Wunsch, sie mögen uns, die wir im Dunklen vor ihrer Kunst sitzen, auch Erkenntnis stiften. Für uns Zuschauer ist das ein schöner Gedanke. Für Schauspieler ist er allerdings, wenn sie ihn zu ernst nehmen, hochgefährlich. Er führt dazu, dass sie sich selbst irgendwann bedeutsamer finden als ihre Arbeit, auch wenn sie bei öffentlichen Auftritten schlau genug sind, sich mit Bescheidenheit zu tarnen. Er zerstört ihre Kunst, und in Interviews reden sie dann, wie benebelt, plötzlich bombastischen Unsinn.

Lauschen wir einmal kurz hinein, wie sich Dominik Graf und Christian Petzold, zwei der klügsten deutschen Regisseure dieser Tage, in einem Online-Blog der Filmzeitschrift Revolver über dieses Problem unterhalten. Er könne das nicht mehr ertragen, sagt Petzold: "Schauspieler, die, wenn sie die Schiene erreichen und das Travelling beginnt, eine Starfresse aufziehen, weil sie wissen, dass sie jetzt nah sind." Will sagen, die Kamera ist relativ dicht am Gesicht, und sie fährt vor dem Schauspieler her, der so tun muss, als ahne er davon nichts, und im Prinzip einfach hinter der Kamera herlaufen soll, wie man als normaler Mensch eben so läuft. Es klappt nur leider fast nie - weil der ganze Aufwand einen besonders pompösen Blick geradezu herausfordert.

Graf aber hat einen Trost parat: "Am besten, man nimmt sowieso nur noch den Zoom, weil dann keiner weiß, wie nah man dran ist." Noch so ein Insider-Trick: Montiert man eine Festbrennweite auf der Kamera, wissen die Schauspieler, diese Egomanen, wie groß ihr Gesicht im Bild sein wird - und spielen plötzlich anders. Bei der Zoomlinse dagegen erkennt man das von außen nicht. Soweit ist es also schon: Mit allen Heimlichkeiten und Finten müssen die Regisseure das Virus des Großmimentums überlisten.

Doch die "Starfresse", so fährt Graf fort, ist nur das eine Problem: "Oft sehe ich in Gesichtern einen Subtext wie: ,Achtung, ich spiele jetzt eine wertvolle Emotion, denn ich spiele in einem wertvollen Film!' Und kein Regisseur hat diesen Subtext aus dem Gesicht gestrichen."

Als Kinogänger oder Fernsehzuschauer sieht man das natürlich nicht mit derselben Klarheit wie Petzold oder Graf. Aber es bleibt doch oft ein ungutes Gefühl, speziell in Filmen, die schon vorab signalisieren, dass es hier bedeutsam zugeht: weil mal wieder ein bedeutendes Buch verfilmt oder ein bedeutendes Thema verhandelt wird. Da wütet das Virus des Großmimentums dann beinahe unkontrolliert, und je größer das Budget wird, desto mehr scheint es auch das Immunsystem der Regisseure zu schwächen, die es eigentlich stoppen müssten. Vom "Baader Meinhof Komplex" über "Buddenbrooks" bis hin zu "Geliebte Clara" - in letzter Zeit ist wieder jede Menge Großmimen-Subtext auf den Gesichtern zu sehen, der nicht rechtzeitig gestrichen wurde, bei Martina Gedeck zum Beispiel oder bei August Diehl.

Die Wahrheit ist: Selbst die Besten der Besten sind, wenn sie keine ganz strengen Regisseure haben, anfällig dafür. Kaum ein Schauspieler, wie wach und gnadenlos selbstkritisch und immun gegen Selbstüberhöhung er auch sein mag, übersteht seine Karriere ohne den ein oder anderen Großmimenfilm. Na gut, Cary Grant vielleicht. Humphrey Bogart. Oder der Größte unter den Gegenwärtigen: Clint Eastwood.

Dazu braucht man gute Gene, die im Zweifelsfall einen Großteil des Jobs allein machen, aber auch eine komplett bullshitfreie, unerschütterliche Professionalität, die auch die genuine Gewissheit evoziert, dass es einem wirklich egal ist, was alle anderen über einen denken - möglicherweise ist bullshitfree eine Art Hauptwesenszug des großen Lakonikers Eastwood, der in seinem neuen Film "Gran Torino" (in Deutschland ab 5. März) einen sympathischen alten Rassisten gibt und sich alleine dadurch absichtlich aus der politisch korrekten Riege der Oscar-Anwärter geschossen hat.

Für Schauspieler, die mit derartiger Coolness nicht gesegnet sind - also für nahezu alle -, stellt sich das Problem, dass sie sich immer wieder fangen müssen, wenn Großmimengedanken ihr Hirn vernebeln. Auf zunehmend höherem Niveau, bei zunehmend größerer Versuchung. Marlon Brando ist dabei jahrzehntelang auch mal verlorengegangen. Aktuell stehen selbst Giganten wie Robert De Niro und Al Pacino am Scheideweg. Was sie in ihrem aktuelle Machwerk "Kurzer Prozess - Righteous Kill" abgeliefert haben, und das auch noch gemeinsam, zeugt von Selbstüberschätzung allerdings nur noch insofern, als sie wohl ernsthaft gehofft haben, mit geschätzten zwanzig Prozent ihres Leistungsvermögens durchzukommen. Dafür stellen sich andere bange Fragen: Kann Al Pacino die Idee "Al Pacino" nicht mehr ertragen? Und wann hat De Niro beschlossen, dass das Einzige, was ihm noch eine Anstrengung wert ist, sein Restaurant- und Hotelimperium ist?

Müdigkeit allein ist dabei übrigens nicht das Problem. Wem würde man, nach einer Karriere vom Kaliber Pacinos oder De Niros oder auch nur Mueller-Stahls, seine wohlverdiente Ruhe nicht gönnen? Das Großmimentum im finalen Stadium ist eine Mischung aus Müdigkeit, gefühlter zunehmender Missachtung, und Gier, die man nicht nur finanziell verstehen darf. Vor mehr als zehn Jahren haben wir mal den großen Anthony Hopkins an diesem Punkt erwischt.

Hopkins hatte gerade Picasso gespielt - im Gespräch ließ er tief in seine Seele blicken. "Ich war gestern nach der Vorstellung auf der Bühne, die Leute klatschten, alles sehr nett", sagte er. "Aber ich fühlte mich wie in diesem Song von Peggy Lee: ,Is this all there is?' Ich hatte das Gefühl, dass ich gehen sollte. Ich musste sehr lange arbeiten, um erfolgreich zu sein, um eine große Leere in meinem Leben auszufüllen. Ich hab' es geschafft. Und jetzt? Wenn ich zurückschaue, was habe ich vorzuweisen? Mal abgesehen von einem gut gefüllten Bankkonto - was habe ich? War ich ein guter Vater, war ich ein guter Ehemann? Die Wahrheit ist, dass ich ein armseliger Vater war. Und ein armseliger Ehemann. Picasso starb allein. Ein einsamer, verängstigter Mann. Das ist der Preis, den man am Ende bezahlen muss."

Als er das sagte, mit seiner raunenden, verführerischen Hannibal-Lecter-Stimme, liefen uns Schauer der Erkenntnis über den Rücken. Ein Großer war dabei, einen Schlussstrich zu ziehen, dem ewigen Lügenspiel, dem er alles verdankte, endgültig den Rücken zu kehren. Ein seltener Moment der Wahrheit in diesem Beruf, so dachten wir, rührend naiv - obwohl wir natürlich wissen mussten, dass Journalisten meist nicht dafür da sind, dass man ihnen die Wahrheit erzählt.

Hopkins nahm weiter ein lukratives Angebot nach dem anderen an - und wir, die wir diesen angeblich so intimen Moment mit ihm teilen durften, fühlten uns mit jedem neuen Film, in dem sein Name auftauchte, verschaukelter. Etwa dreißig sind es nun bald, seit damals. Sir Anthony stand, nur unter anderem, noch für Meister wie Steven Spielberg und Ridley Scott vor der Kamera. Nur: Ein großer Film war nicht mehr dabei.

"Die Freiheit gönne ich mir, Dinge wieder zurückzunehmen, die ich einmal gesagt habe", meinte neulich Armin Mueller-Stahl zum Stern, als er auf seine angeblich letzte Rolle angesprochen wurde. "Manchmal kann ich halt nicht nein sagen. Jetzt habe ich gerade einen Film mit Tom Hanks gemacht. Dass ich das noch gemacht habe, dafür bin ich sehr dankbar. Ich durfte Menschen mit Herz begegnen. Profis. Das will ich nicht missen."

Kein Wort mehr vom Leiden am Hollywood-System, von der Absurdität der Gagen, die ihm den Beruf verleidet und den Schlaf raubt. Stattdessen sind wir jetzt eben alle reiche Profis mit Herz. Man muss das als Spiel sehen - und aus Erfahrung lernen, dass man Schaupieler im Großmimenfieber nur mit Übersetzung wirklich verstehen kann. Wenn sie ihren Hang, sich selbst zu wichtig zu nehmen, möglicherweise erkannt haben, greifen sie auch gern zu ausgefeilten Bescheidenheitsfloskeln. Das macht die Sache noch schlimmer.

Was also Armin Mueller-Stahl im selben Interview auch noch sagte, darf man nicht wörtlich nehmen. "Ich genieße es, dass mich kaum noch jemand auf der Straße erkennt. Ganz anders als früher. Endlich kann ich mich frei bewegen und laufe nicht mehr wie ein Affe im Zoo durch die Welt."

Soll also heißen: Wenn ich demnächst auf der Berlinale auftauche, möchte ich bitteschön im Mittelpunkt stehen.

Das Großmimentum ist ein Virus, vergleichbar mit Aura und Geheimnis.

Das finale Stadium ist eine fatale Mischung aus Gier und Müdigkeit.

Und als Epilog: die hingehauchten Floskeln der Bescheidenheit.

Täuscht unser Verdacht, oder ahnen Armin Mueller-Stahl (li.) und Ewan McGregor hier bereits, dass sie den richtigen Zeitpunkt verpasst haben, bei einem großen Hollywood-Film einfach mal nicht mitzumachen? Ausschnitt aus der Dan-Brown-Verfilmung "Illuminati". Foto: © 2008 Sony Pictures Releasing GmbH

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Inhalt

Jan Brandt

Pop und Tod

Werner Hoeflich war ein unbekannter Maler. Dann kam Warhol - und ging.

Antje Wewer

Mutig, nicht übermütig

Wie reagieren Designer auf die Krise? Einschätzungen von der Fashion Week.

Lisa Seelig

Die Jubelorgie

Der Westen ließ sich von Pahlewi blenden und von der Revolution überraschen.

David Wagner

Der Gabi-Bikini

Eifersucht ist nicht das Thema. Aber mit Mia stimmt was nicht. Die Erzählung.

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Interview - letzte Seite

Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin:

"Ich möchte nicht als Heldin gesehen werden. Jeder

muss für sich selbst ein Held oder eine Heldin sein."

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Liebe Leser,

man könnte es sich leicht machen und sagen, in dieser Ausgabe gehe es um Sieger und Verlierer. Aber ob die Herren auf der ersten Seite Sieger sind, darüber dürfen Sie entscheiden. Wir finden jedenfalls, der Fotograf hat ganze Arbeit geleistet. Nach geläufigen Kriterien hat es der Herr auf Seite 3 hingegen nicht geschafft. Immer war Werner Hoeflich in New York gerade zu früh oder zu spät dran, wenn es mal darauf angekommen wäre. Man soll nichts schönreden, aber weht uns aus den Zeilen, die Jan Brandt über ihn geschrieben hat, nicht trotzdem eine eigene und wirklich ganz große Würde an? Schönes Wochenende! SZ

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Rattelschnecks Cluburlaub

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Drama

Cottbus oder Hoffenheim

von Benjamin Henrichs

1. Szene

Samstag, 31. Januar 2009, gutbürgerliche Wohnung. Der Mann und die Frau haben ein ausführliches Frühstück beendet und nun die geistige Arbeit begonnen. Das heißt, sie lesen die Samstagsausgabe ihrer Tageszeitung, deren Seiten sie wie immer gerecht untereinander aufgeteilt haben. Lange, emsige Stille, dann ergreift die Frau das Wort.

FRAU: Und?

MANN: Was und?

FRAU: Was liest du denn gerade?

MANN: Sage ich nicht.

FRAU: Sag schon! Das Drama?

MANN: Nein.

FRAU: Ist aber manchmal komisch, das Drama.

MANN: Ja. Manchmal.

Stille

FRAU: Jetzt weiß ich es. Den Sport. Am Samstag liest du immer zuerst den Sport.

Der Mann errötet.

FRAU: Und wenn du mit dem Sport fertig bist, hörst du mit der Zeitung auf. Weil dann im Fernsehen irgend so eine Sportübertragung beginnt. So kommst du nie zum Samstagsleitartikel. Obwohl der Leitartikel samstags am interessantesten ist. Und schon gar nicht kommst du zum Wissen. Dabei ist das Wissen das Interessanteste überhaupt. Ich verstehe gar nicht, wie ein Mensch so viel Zeit mit diesem blöden Sport vergeuden kann. Ein Geistesmensch, wie du einer bist.

MANN: Ist nicht blöd, der Sport. Das kann nur jemand sagen, der vom Sport keine Ahnung hat.

FRAU: Wie ich?

MANN: Wie du.

Lange Stille. Mann und Frau, beide vielleicht ein wenig beleidigt, nehmen ihre Zeitungslektüre wieder auf.

2. Szene

Eine Stunde später. Der Mann und die Frau haben die Zeitungslektüre beendet, sie sehen sehr zufrieden, aber auch ein bisschen erschöpft aus. Der Mann geht zum Fenster und schaut hinaus.

FRAU: Was siehst du?

MANN: Schön ist es draußen. Das Wetter. Wir haben schon wieder viel zu lange in der Zeitung gelesen.

FRAU: Ja. Das stimmt. Wir sollten vielleicht einen kleinen Winterspaziergang machen.

MANN: Nein, lieber eine große Reise!

FRAU: O ja, eine Reise! Wir haben so wundervolle Reisen gemacht in unserem Leben. Wo könnten wir denn hinreisen? Wir haben doch schon alles gesehen. Wenn man vom Ostblock einmal absieht.

MANN: Der Osten hat auch seine Reize. Denk doch nur an Cottbus.

FRAU: Wieso jetzt an Cottbus?

Der Mann errötet.

FRAU: Nun sag schon! Wieso denkst du ausgerechnet heute an Cottbus?

Stille

FRAU: Ich kann mich noch sehr gut an Cottbus erinnern. Das Jugendstiltheater, das größte in Deutschland. Oder denk an diesen Park, wie hieß er noch gleich?

MANN: Branitz. Der Fürst-Pückler-Park in Branitz. Mit der Pyramide.

FRAU: Cottbus ist toll! Aber ich würde gern mal etwas ganz Neues sehen. Hast du eine Idee?

MANN: Ja. Schon.

FRAU: Und?

MANN: Hoffenheim. Wir sollten vielleicht mal nach Hoffenheim fahren.

FRAU: Um Himmels willen, wo ist denn das? Das habe ich ja noch nie gehört.

MANN: Hoffenheim im Kraichgau. Sehr idyllisch. Obstanbau, solche Sachen.

FRAU: Und haben sie dort ein Jugendstiltheater?

MANN: Nein.

FRAU: Und einen Fürst-Pückler-Park?

MANN: Nein. Auch nicht.

FRAU: Dann will ich da nicht hin. Dann lass uns lieber noch mal nach Cottbus fahren. Und von Cottbus in den Spreewald.

MANN: Also, ich weiß nicht. Man muss doch mal was Neues riskieren.

3. Szene

Am Nachmittag desselben Tages

FRAU: Und unser Winterspaziergang? Es wird bald dunkel werden.

MANN: Ja. Gut. Aber nur, wenn wir bis zur Sportschau zurück sind.

FRAU: Und was gibt es in der Sportschau? Doch wohl nicht wieder Biathlon?

MANN: Nein. Fußball. Endlich wieder Fußball. Die Rückrunde beginnt.

FRAU: Und wer spielt da heute?

MANN: Cottbus in Hoffenheim.

Die Frau schaut den Mann entgeistert an, doch bevor sie etwas sagen kann, ist der Vorhang schon gefallen.

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Berlin, Französische Straße

von Evelyn Roll

Früher gab es öffentliche Telephonzellen. Öffentliche Telephonzellen waren postgelb angestrichen oder pink-panther-magenta. Und sie waren schalldicht. Öffentlich telephonieren hieß früher, zwischen dem Telephongespräch und der übrigen Welt eine Tür zu schließen. Ach, früher.

Heute ist überall öffentliche Telefonzelle. Überall zwingen schamlose und wichtigtuerische Lautsprecher ihre Mitmenschen zum Zuhören und Grübeln darüber, warum die heilige Evolution nicht zugelassen hat, dass wir unsere Ohren zuklappen und schließen können wie die Augen, ganz einfach nur durch Willenskraft.

Seit Montag kenne ich ein Rezept, mit dem man wichtigtuerische Lautsprecher sehr elegant abstellen kann. Hier ist es: Im Morgensprinter von Frankfurt nach Berlin telefonierte ein Mann, der wie ein Herr gekleidet war. Er telefonierte so laut, als müsse er seinen Text bis München durchrufen. Wenn es klingelte, brüllte er scharf und zackig, wie auf dem Kasernenhof: Schmidtbauer!

Und es klingelte immer und immer wieder. Es ging um Verträge, darum, nur keinen Millimeter nachzugeben und den Professor Müller erst einzubeziehen, wenn das Ding in trockenen Tüchern ist. Es ging um Miet-Infrarotkameras und Personalkosten, die Schmidtbauer schon mal hochgerechnet hatte am Wochenende, roundabout, wie er sagte. Dann war es Schmidtbauers Ehefrau, mit der morgens wohl leider nur roundabout geklärt worden war, wer die Tochter aus der Klavierschule abholt. Und zweimal rief Marianne an, die ganz offensichtlich nicht Schmidtbauers Ehefrau ist.

Ein Großraumabteil war in Geiselhaft. Und ich sagte, leider nur sehr leise: "Wenn mein Funktelefon klingelt, entschuldige ich mich bei den Mitreisenden und gehe raus zum Telefonieren." - Georg sagte: "Das wird dieser Herr in Zukunft auch tun. Komm, wir gehen in den Speisewagen."

Auf dem Weg zum Speisewagen mussten wir an dem Lautsprecher vorbei, und Georg sagte: "Einen schönen guten Tag, Herr Schmidtbauer."

Schmidtbauer, der offenbar ein bedeutender Mensch ist und deswegen gewohnt, von Leuten gegrüßt zu werden, die er gar nicht kennt, nickte leicht, huldvoll selbstgefällig und zerstreut. Es funktionierte also gar nicht. Georg sagte: "Warte doch mal ab."

Auf unserem Rückweg vom Speisewagen blieb Georg noch einmal vor Schmidtbauer stehen und sagte: "Weiterhin eine gute Reise noch, Herr Schmidtbauer, und grüßen Sie bitte Marianne."

Das saß. Kurz vor Berlin stand Schmidtbauer auf, kam zu unserem Platz und sagte: "Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, Herr . . .?"

Georg stellte sich formvollendet vor. Und Schmidtbauer sagte: "Sie sind ein Bekannter von Marianne, nicht wahr?"

"Nein, tut mir leid, Herr Schmidtbauer, ich hatte noch nicht das Vergnügen. Ich kenne Sie und auch Marianne nur vom Telefon und auch das erst seit zweieinhalb Stunden, roundabout."

Schmidtbauer drehte sich um, ging und sagte kein Wort mehr.

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Fragen der Leser

Alles auf einmal

Frau Annelore Kleinlogel wüsste gern, woher wir den Ausdruck: "Ab nach Kassel!" haben

von Klaus Podak

Liebe Frau Kleinlogel,

ach Kassel! Berühmt, beliebt geworden in unseren Tagen durch die hin und wieder langweilige, dann auch wieder überwältigende Kunstschau Documenta, die jedes Mal ein Fest für die Stadt und ihre Gäste ist. Das war nicht immer so. Die mit Vergnügen arroganten Frankfurter gratulierten in den siebziger Jahren nach Kassel versetzten Kollegen mit den Worten: "Viel Spaß in Hessisch-Katanga!" Finstere, öde Provinz sollte mit dem Spruch boshaft geschmäht werden. Aber der stimmte schon damals so nicht. Und in früheren Zeiten noch viel weniger.

Kassel, bereits 913 als "Cassala" bekannt, war einmal - im Unterschied zu Frankfurt! - Haupt- und Residenzstadt des Kurfürstentums Hessen. Von 1807 bis 1813 unter Napoleons kleinem Bruder Jérôme (König Lustig) war es Hauptstadt des Königreichs Westfalen, mit der ersten deutschen Verfassung und dem ersten deutschen Parlament. 1815 wurde es für eine Weile Preußen einverleibt (auf den Straßen sangen die Jungen: "Ochs, Esel, Pferd, Kartoffelschwein - lieber noch als Preuße sein. . . "). Nicht vergessen wollen wir auch, dass die Gebrüder Grimm von 1814 bis 1829 in der Stadt als Bibliothekare wirkten, verehrungsvoll besucht von berühmten Zeitgenossen. Kassel war und ist alles gleichzeitig gewesen: bunt, kleinkariert, wunderbar und abenteuerlich.

Gegen eine Vermutung müssen wir die Bürger noch in Schutz nehmen; nämlich dass sie etwas zum Mittagsmahl Geeignetes darstellen - Kasseler oder Kassler. Diesen gepökelten, geräucherten schweinischen Braten hat in Berlin um 1900 der Fleischermeister Cassel erfunden. Und gleich mit seinem Namen geschmückt.

"Ab nach Kassel!" könnte einfach eine flotte Aufforderung sein, sich dem Ort, seiner Geschichte und Gegenwart frohgemut zu nähern. So ist dieser Spruch auch werbetechnisch eingesetzt worden. Die wahre Herkunft ist eine andere, auch wenn allerlei Verschiedenes gemunkelt wird. Der emsige Joseph Kürschner gab 1895 das Werk "Der große Krieg 1870/71 in Zeitberichten" heraus. Napoleon III. hatte verloren, war gefangen und sollte nach Kassel-Wilhelmshöhe verfrachtet werden. In Aachen auf dem Bahnhof, heißt es, hätten ihm die Leute diesen Spottsatz nachgerufen. Eine glaubhaftere Quelle ist eine Karikatur aus dieser Zeit. Sie zeigt den Kaiser auf dem Weg ins Exil. Über ihm ein Schild: "Cassel". Und darunter, Sie ahnen es, liebe Frau Kleinlogel, der Spruch - dessen Image sich seither gewandelt hat: Es sind noch drei Jahre bis zur Documenta 13. Und bis dahin hofft jeder Künstler, dass es ihm entgegendonnern möge: "Ab nach Kassel!"

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Medizin und Wahnsinn, Folge 64

Schmerz auf Augenhöhe

von Werner Bartens

Manche Ärzte sind besonders einfühlsam. Sie wissen, wie es ihren Patienten geht, können sich gut in sie hineinversetzen. Stark ausgeprägt ist diese Haltung unter den Neurologen. Sie gelten - neben Kinderärzten und Internisten - sowieso als die Sensibelchen unter den Medizinern. Wie weit ihre Empathie geht, machen aber erst aktuelle Forschungsergebnisse deutlich. Neurologen aus Münster haben gerade entdeckt, dass mehr als 30 Prozent aller Neurologen im Laufe ihres Lebens an Migräne leiden. Unter Neurologen, die sich für Kopfschmerzexperten halten, sind es sogar 50 Prozent. In der Allgemeinbevölkerung leiden hingegen nur etwa 15 Prozent der Menschen an Migräne. Diese Ärzte machen sich wirklich einen Kopf!

Die naheliegende Erklärung wäre, dass jeder das tut, was er gut kann oder oft und gerne macht. Ist bei uns in der Redaktion ja auch so: Die Kollegen aus dem Reise-Ressort reisen viel, die aus dem Ressort Wissen wissen was, die aus dem Politik-Ressort verstehen die Tagesschau. Aber das wäre zu einfach. Unter Dermatologen finden sich nicht besonders viele Ärzte mit Akne-Narben, und die Gynäkologen sind auch nicht übermäßig kinderreich.

Der Leiter der Untersuchung sieht die Berufswahl der Neurologen zwar als eine Art Selbstfindungstrip: Wer viel Kopfschmerzen hat, wird eher Kopfschmerzexperte. Wahrscheinlicher ist aber eine Ko-Evolution von Arzt und Patient. Mit der Zeit gleicht man sich einander an. Manche Hundehalter kopieren die Frisur ihrer Vierbeiner. Langjährige Ehepaare stimmen ihr Streitverhalten so aufeinander ab, dass sie nie mehr aufhören können. Und der Dialog zwischen Arzt und Patient findet eben eher auf Augenhöhe statt, wenn beide Seiten über ähnliche Beschwerden klagen.

Der wahre Grund für die Leiden der Neurologen ist aber wohl noch ein anderer: Besser als jeder andere kennen sie die Diagnosekriterien für Migräne. Wer jeden Tag davon hört, bekommt sie irgendwann selbst, auch wenn sie nicht ansteckend ist. Wenn Patienten davon erzählen, was ihre Beschwerden auslöst - Käse? Rotwein? Grelles Licht? - achtet man als Arzt mit der Zeit selbst darauf, ob sich nicht die Symptome einstellen, wenn unter der Flutlichtbeleuchtung im Edelrestaurant zur Käseplatte der Brunello entkorkt wird. Aah, es zieht schon ein bisschen hinter der Schläfe. Vereinzelt sieht man schon Menschen, die nur mit Sonnenbrille den "Gruß aus der Küche" entgegennehmen.

Intensive Selbstbeobachtung kann hier wahre Wunderdinge vollbringen. Wer sich lange genug fragt, ob der Boden unter seinen Füßen sicher ist, dem wird tatsächlich schwindelig. Wer Angst hat, zu ersticken, kann so lange nach Luft ringen, bis er wirklich Atemnot bekommt. Und wer nicht weiß, wo ihm der Kopf steht, der wird mit ein bisschen Übung recht schnell Spannungskopfschmerzen bekommen.

Wahrscheinlich gefallen sich manche Neurologen auch in ihrem Leid. Wie sonst ist es zu erklären, dass nur 50 Prozent der geplagten Mediziner die Medikamente einnehmen, die sie ihren Patienten aber zu 100 Prozent empfehlen? Entweder glauben sie nicht, dass das Zeug wirkt, hoffen aber bei ihren Patienten auf einen Placebo-Effekt. Oder sie spekulieren auf den sekundären Krankheitsgewinn - das heißt, sie erhoffen sich Trost und Anerkennung von Praxismitarbeitern, Partnern und Patienten. Auch ein Arzt möchte schließlich vor allem geliebt werden.

Noch schlimmer dran als die Neurologen ist allerdings eine andere Berufsgruppe. Die Rede ist von Neurologen aus Niedersachsen. Die Techniker Krankenkasse Hannover hat gerade ermittelt, dass jeder zweite Niedersachse regelmäßig an Kopfschmerzen leidet, was sich spielend leicht erklären ließe, wenn alle Niedersachsen Neurologen wären.

Illustration: Images.com/Corbis

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WOCHENENDE, "Leserfragen", Hultschiner Straße 8,

81677 München. Oder per Mail an die Redaktion:

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Pop und Tod

Eines Tages in Manhattan bekam der Maler Werner Hoeflich Besuch von Andy Warhol. Die Begegnung hätte sein Leben verändern können.

von Jan Brandt

Werner Hoeflich sah durch das Fenster in die Zukunft. Unter ihm lag New York. Das World Trade Center, das Empire State Building, hohe Häuser, winzige Menschen. Bald würde er einer von ihnen sein. Vor zwei Jahren war er schon einmal in Manhattan gewesen. Er hatte sich ein Bild von dem Ort machen wollen, von dem alle seine Freunde daheim behaupteten, dass man als Maler dort anfangen müsse, um es zu etwas zu bringen, dort und nirgendwo sonst. Er war durch die Straßen gezogen, hatte sich die Museen und Galerien angesehen, und war mit dem Gefühl nach Boulder, Colorado, zurückgekehrt, es an der Ostküste schaffen zu können. Er wollte nicht so enden wie seine Professoren, als Kunstlehrer an der Universität, frustriert, im Leben nichts gewagt zu haben.

Den ganzen Sommer über hatte er in Tom's Tavern gearbeitet, Buletten und Steaks gegrillt und das Geld gespart. Bekannte von ihm hatten für sich und ihn im East Village ein billiges Apartment gefunden, vier Zimmer für 720 Dollar im Monat. Er war 23, hatte einen Abschluss in Fine Arts, tausend Ideen und Träume im Kopf und die Möglichkeit zu scheitern in seine Pläne nicht einkalkuliert. Draußen schien die Sonne. Es war der 7. Oktober 1980. Das Flugzeug setzte zur Landung an.

Als er das Loch in der Wand sah, wollte er gleich wieder ins Auto steigen und die Freundin, die ihn vom Flughafen abgeholt hatte, bitten, dorthin zurückzufahren. Die Wohnung lag im Erdgeschoss eines alten Mietshauses an der Avenue A, Ecke St. Marks, und zur Straße hin fehlte ein Fenster. Man konnte vom Vorgarten einsteigen, ohne die Tür benutzen zu müssen. Und nachdem man ihn herumgeführt hatte, merkte er, dass auch in dem Zimmer, das für ihn reserviert war, ein Fenster fehlte. Aber im Unterschied zu vorne war in dem Raum zwischen Küche und Bad nie eins vorgesehen gewesen.

Auf den Schock hin lud die Freundin ihn zum Essen ein. Irgendwann sagte Werner: "Ich weiß nicht, ob das das Richtige für mich ist, New York, meine ich." Und sie bot ihm an, die erste Nacht bei ihr zu verbringen, im Haus ihrer Eltern. Sie schlief im Wohnzimmer auf der Couch, er in ihrem alten Kinderzimmer, umgeben von Plüschtieren und pinkfarbenen Wänden. In seinem Traum vermischten sich beide Räume, der, in dem er lag, und der, in dem er liegen sollte. Er glaubte, in einem Bunker mit bunten Monstern zu sein, und als er aufwachte, hoffte er, tatsächlich überfallen zu werden, weil ihm das einen guten Grund geben würde, wieder abhauen zu können. Aber dann sagte er sich, dass er mindestens ein Jahr durchhalten müsse, so wie sein Urgroßvater durchgehalten hatte, nachdem er 1884 vom oberfränkischen Kronach aus in die Neue Welt aufgebrochen war. Zur Not würde er eben den ganzen Tag zu Hause bleiben und arbeiten. Und das tat er. Der Vermieter setzte vorne ein Fenster ein, und Werner teilte sein Zimmer durch eine Wand in zwei Hälften. Auf der einen Seite verbrachte er schlaflose Stunden im Bett: Sobald er das Licht ausmachte, kamen die Schaben aus ihren Ritzen, und nachts hörte er, wie unten im Heizungsraum die Ratten zu ihm durchzustoßen versuchten. Auf der anderen malte er bis zur Erschöpfung, Hunderte Bilder mit Pastellfarben, mehr als je zuvor.

Nach einem Jahr dachte er, den größten Fehler seines Lebens begangen zu haben. Er wohnte in dieser Kammer in New York, hatte keines seiner Bilder verkauft, keinen Galeristen und keine Aussicht, einen zu bekommen. Vier Tage die Woche schuftete er als Koch in einem Restaurant namens "Serendipity's", was so viel wie "glücklicher Zufall" bedeutet - und nichts hatte er nötiger als das.

Im Sommer ging er zurück nach Oregon, und als er zurückkam, machte ihn jemand auf ein Loft in einem leer stehenden Department Store aufmerksam, im sogenannten S. Klein Building an der östlichen Ecke des Union Square, mitten in Manhattan. 140 Quadratmeter mit sechs Fenstern zu zwei Seiten für 350 Dollar im Monat. Und jemand anderes empfahl ihm, sich bei einem Catering Service namens "Glorious Foods" vorzustellen, wo er an seinem ersten Abend als Kellner auf der Party des Damenausstatters Henri Bendel mehr verdiente als bei "Serendipity's" in einer Woche.

Plötzlich hatte er Platz und Licht und einen Job, der ihm zwar nichts bedeutete, ihn aber schneller und stärker in das Leben New Yorks einführte, als er das vielleicht auf andere Weise je geschafft hätte. Tagsüber porträtierte er seine Freunde, Punkmusiker und Schriftsteller, und malte großformatige, düstere Gemälde von Kettensägen auf Masonit, nachts tauschte er Shirt und Shorts gegen eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, schenkte Getränke aus oder servierte Häppchen - bei Börsenfeiern der Wall Street, auf Privatfesten in den Hamptons, bei Ausstellungseröffnungen im Metropolitan Museum, im MoMA, in der Frick-Collection.

Bald war sein Gesicht in der Kunstszene bekannt: Werner, der Kellner, der Barkeeper. Einmal, bei der Eröffnung einer Ausstellung von Robert Rauschenberg im Lincoln Center, stand er hinter der Theke und Jasper Johns kam vorbei und bestellte einen Bourbon mit Soda. Werner sagte: "Sie sind Jasper Johns." Jasper Johns sagte: "Ich weiß." Und Werner dachte: So darf ich nicht enden, an den richtigen Orten auf der falschen Seite der Bar.

Im zweiten Jahr zeigte Werner einige seiner Werke im Foyer eines alten Theaters und verkaufte sein erstes Bild - für 200 Dollar. Er glaubte, dass es von nun an aufwärts gehen würde, alle glaubten das, auch seine gleichaltrigen Cateringkollegen - allesamt Opernsänger, Designer, Schauspieler -, und sie waren zuversichtlich, dass sie den Nebenjob in wenigen Monaten aufgeben und sich, beflügelt vom künstlerischen Erfolg, ganz ihrer Leidenschaft widmen konnten.

Anfang 1983 wurde eine mysteriöse Immunschwächekrankheit zum Thema, aber niemand ahnte, dass bis zum Ende des Jahrzehnts viele von ihnen daran gestorben sein würden. Die Mieten begannen zu steigen, und man riss das S. Klein Building ab, alle Häuser am östlichen Ende des Union Square mussten einem viertürmigen Komplex mit 673 Eigentumswohnungen und Büros Platz machen, den Zeckendorf Towers. Werner zog ins West Village, in ein Apartment an der Charles Street, Ecke 7th Avenue. Dort, im sechsten Stock eines alten Backsteingebäudes, hatte er ein Zimmer und ein Atelier, und dort besuchte ihn eines Tages Andy Warhol.

Beim Kellnern hatte Werner über einen Freund den Factory-Fotografen Christopher Makos kennengelernt. Christopher mochte Werners melancholischen, realistischen Stil: scharf konturierte Männer und Frauen und Kinder, die aussehen, als seien sie ein letztes Mal aus dem Schatten ins Licht getreten, um sich von der Welt zu verabschieden, bevor sie für immer in der sie umgebenden Dunkelheit verschwinden. An einem Nachmittag im Oktober 1983 rief dieser Christopher an und sagte: "Andy ist gerade bei mir. Wir trinken Tee. Ich habe ihm von deinen Bildern erzählt. Jetzt will er sie unbedingt sehen. Können wir vorbeikommen?" Werner sagte: "Ja, klar, kein Problem, ich bin zu Hause."

Natürlich kannte er Andy Warhols Gemälde, Snapshots und Filme, die Geschichten, die über ihn kursierten und die, die er selbst in Umlauf gebracht hatte. Werner konnte nicht viel damit anfangen. Er fand Warhols Auftreten affektiert, seine Arbeiten überschätzt. Außer den Siebdrucken aus den frühen sechziger Jahren, den Serien von Alltagsgegenständen wie Campbell's Suppendosen, von Autounfällen, Selbstmorden oder elektrischen Stühlen und den Porträts von Prominenten wie Marilyn Monroe oder Jackie Kennedy, mit denen Warhol die Kunst revolutioniert hatte, lehnte Werner alles ab, was davor und danach entstanden war.

Ein paar Minuten später klingelte es, dann standen sie vor ihm. Christopher, halblange Haare, enge Hose, ärmelfreies Hemd, eine Zigarette zwischen den Fingern, die muskulösen Oberarme ständig in Bewegung, und Andy, dünn, bleich, mit weißer Perücke und schwarzem Rollkragenpullover, einen Rucksack über die Schulter geworfen.

Werner führte sie durch sein Apartment und zeigte ihnen die Bilder von Menschen und Werkzeugen, die Warhols Motiven auffallend ähnlich sahen. Christopher redete ununterbrochen und fragte jedes Mal: "Ist das nicht großartig? Magst du das nicht auch?" Aber Andy antwortete ihm nicht. Manchmal nickte er, aber nur ganz leicht, fast wirkte es, als schüttele er doch eher den Kopf, und ging weiter. Nur in der Küche blieb er lange vor der silberfarbenen Entlüftungsröhre stehen, sagte: "Die sieht wirklich nett aus" und holte eine SX 70 Polaroidkamera aus dem Rucksack.

Werner dachte erst, er wolle das Ding fotografieren. Stattdessen fragte Andy, ob er ein Foto von ihm machen könne. "Sicher", sagte Werner, "warum nicht." Dann fragte Andy: "Möchtest du nicht dein Hemd ausziehen?" Werner sagte, "okay" und zog sein Hemd aus. Andy machte wieder ein Foto von ihm und fragte: "Möchtest du nicht vielleicht auch deine Hose ausziehen?" Aber Werner sagte: "So was mache ich nicht." Andy wirkte nicht enttäuscht, sagte "okay", packte seine Kamera ein, bedankte sich und ging mit Christopher hinaus.

Er sah Andy Warhol noch häufig auf Partys, und immer, wenn er mit einem Silbertablett voller Getränke an den Tisch kam, stellte Andy seinen Freunden Werner als "besonders talentierten Künstler" vor. Nach einer dieser Begegnungen rief Bob Colacello an, der damals Chefredakteur des von Warhol gegründeten Interview-Magazins war, und er kam vorbei, um sich Werners Bilder anzusehen. "Hast du zufällig eine Ausstellung in nächster Zeit?", fragte er.

"Nein", sagte Werner.

"Na ja, also, die Sache ist die: Wenn du eine Ausstellung hättest, könnten wir was machen."

"Ich habe aber keine Ausstellung."

"Ja, aber wenn du eine Ausstellung hättest, könnten wir etwas bringen, ein Interview oder ein Porträt."

"Aber ich habe keine Ausstellung."

So ging es noch ein paar Mal hin und her, bis Bob aufgab und Werner ihm versprach, sich zu melden, sobald es soweit sei.

Als es soweit war, ließ Werner die Gelegenheit verstreichen, er ließ weitere Gelegenheiten verstreichen und machte, allen Widrigkeiten zum Trotz, weiter. Er wurde nicht drogenabhängig, und er erkrankte auch nicht an Aids wie so viele seiner Freunde. Und am 20. Dezember 1991 überlebte er ein Feuer in seinem Haus, indem er nachts im sechsten Stock aus dem Fenster kletterte, im Bademantel halb ohnmächtig über den Sims zum Nachbarhaus balancierte und mit der Stirn eine Scheibe zertrümmerte. Später, im Krankenhaus, hatte er nicht das Gefühl, sich selbst gerettet zu haben. Es war Zufall, a serendipity - ein glücklicher Zufall. Dass der Sims zum anderen Haus durchging. Dass die Scheiben einfach verglast waren und der Rahmen aus Holz. Dass er nicht vollkommen nackt war, als die Scherben seine Schulter aufschlitzten.

Er kündigte bei "Glorious Foods", nahm einen Bürojob bei der Gilman Paper Company an und verlor ihn, weil die Papiermühle nach dem Tod des Eigentümers pleiteging. Er veränderte seinen Stil und seine Themen. Er malte keine Menschen und Werkzeuge mehr auf einem dunklen abstrakten Untergrund. Er malte nur noch den Untergrund. Es war, als ob alle Objekte allmählich in ihm verschwanden wie in einem Sumpf, in etwas Undurchdringbarem. Er spannte eine Leinwand auf, die dem Umfang nach auch eine Tür hätte sein können, und sie wurde eine Tür, durch die man, so schien es ihm, in einen dunklen Raum steigen konnte, und er lief da hinein und wanderte die nächsten Jahre durch eine verrauchte Hölle, in der an klaren Tagen am Horizont ein Licht aufflackerte, und anstatt darauf zuzugehen, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden, rannte er davon, bis er zu der Überzeugung gelangte, dass er zur Ruhe kommen musste, weil diese düsteren Visionen unausstellbar waren. Er unterschrieb Verträge mit Galeristen und löste sie wieder auf. Er bekam Stipendien und Preise, aber nur ein Jahr lang, 1997, konnte er von der Malerei leben.

Danach tat Werner Hoeflich das, was er am Anfang verachtet hatte: Er begann zu unterrichten. Und das Unterrichten zu lieben. Er hat alles riskiert und nichts verloren. Er ist dem Pop und dem Tod begegnet, und beiden ist er ausgewichen, nicht aus Feigheit, sondern instinktiv. Drei Tage die Woche arbeitet er in seinem Atelier - seinem achten, seit er in New York ist - an neuen Bildern, die den alten gleichen. Bilder von Waffen, Dosen, Blättern, von Alltagsgegenständen und Kunstobjekten, von Tieren und Menschen, Freunden und Verwandten, von sich selbst, Bilder wie diese: ein junger Mann, mit und ohne Hemd, abgelichtet auf zwei Polaroids, zwei von mehreren Tausend, die im Andy Warhol Museum in Pittsburgh lagern, archiviert unter dem Schlagwort "Man - undated".

Er arbeitete am Anfang in einem Restaurant. Es hieß "Glücklicher Zufall".

Warhol stellte ihn danach immer als "besonders talentierten Künstler" vor.

1997 konnte er von seiner Kunst leben. Genau ein Jahr lang.

1980 kam Werner Hoeflich nach New York. Er wollte dort als Maler arbeiten und sein Glück machen. In all den Jahren hat er viele Bilder gemalt, und nicht wenige davon hat er verkauft. Berühmt und reich ist er nicht geworden, aber er hat getan, was zu tun war, um seinen Traum zu leben. Bild: "County Fair", 2008, von Werner Hoeflich; Foto: Jennifer Karady

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"Mutig, aber nicht übermütig"

Wie reagieren Designer auf die Finanzkrise, die längst auch die Modebranche erreicht hat? Sieben Einschätzungen am Rande der Berliner Fashionweek

Michael Michalsky

"Alle erwarten, dass gerade ich in der Krise einen auf dicke Hose mache. Keine Sorge, kleinlaut werde ich nicht - aber etwas nervös bin ich schon. Einer meiner Strickzulieferer hat neulich Insolvenz angemeldet und die Massenentlassungen bei Chanel haben mich total geschockt.

Eine neue Bescheidenheit rufe ich trotzdem nicht aus. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich minimalistische Mode nur in Zeiten des Überflusses verkauft. Meine neue Kollektion heißt "Saints and Sinners" und setzt auf Extravaganz: Leder, Bondage-Accessoires, rauchige Silbertöne, schwere Seide. Einige Abendkleider sind über und über mit Swarovski-Steinen bestickt. Ich glaube auch, dass die Käufer mehr darauf achten werden, ob etwas made in Germany ist.

In Krisenzeiten wird enger zusammengerückt - ein schöner Nebeneffekt: Meine Turnschuhe lasse ich in Oberfranken produzieren, die Spitze kommt aus Passau. Die beste Investition für kommende Saison ist eine Lederjacke: Wenn das Geld knapp wird, kann man sie gut verkaufen - denn Leder ist getragen meist noch schöner als neu.

Dass der Gürtel generell enger geschnallt wird, passt mir persönlich ganz gut ins Konzept: Mein Körpergewicht habe ich eh schon halbiert, und dieses Jahr werde ich zurück in die Stadt ziehen, auf mein Auto verzichten und mit dem Rad zur Arbeit fahren."

Michael Michalsky, 41, war 11 Jahre Kreativ-Manager bei Adidas und gründete 2006 das Label Michalsky. Seit 2007 verantwortet er die Tchibo-Modelinie Mitch & Co.

Leyla Piedayesh

"Krise? Die habe ich bis jetzt kein bisschen gespürt. Meine Marke ist im Wachstum, mit oder ohne Krise. Selbst in meiner Berliner Boutique haben wir prima verkauft, was sicher mit am kalten Winter lag. Strickpullis und Kaschmirschals standen einfach hoch im Kurs.

Lala Berlin steht für schöne, weiche Materialien - deshalb würde ich daran nie sparen. Frauen spüren die Qualität sofort und empfinden meine Preise daher auch als angemessen. Die Zeiten der schlichten dunkelblauen Kaschmirpullis sind allerdings vorbei. Das Besondere wird sich verkaufen. Auf der Fashionweek habe ich gerade Patchworkpullis aus verschiedenen Materialien gezeigt. An einem Pulli stricken vier Frauen eine Woche lang. Klar, dass so ein Teil seinen Preis hat, aber dafür gibt es garantiert auch viele Komplimente."

Leyla Piedayesh, 38, gründete ihr Label Lala Berlin 2004. Mittlerweile hat sich die Strickkollektion zu einer Vollkollektion entwickelt.

Bernhard Willhelm

"Für mich persönlich verspricht die Krise Entwicklung, nicht Stillstand. Sollte die Modebranche tatsächlich kollabieren, wäre ich endlich gezwungen, Künstler zu werden. Andererseits war ich noch nie wirklich von der Konjunktur abhängig, weil ich eine Nische bediene.

Für meine Männerkollektion, die ich heute Abend in Berlin zeige, habe ich mich beim Skifahren inspirieren lassen. Beim Entwerfen denke ich keine Sekunde an Produktionskosten oder Abverkäufe. Man könnte sagen, gerade diese Kollektion ist eine Art Hobby von mir. Ich selber zahle mir kein Gehalt aus, kann aber Klamotten tragen, die mir gefallen. Einige Boutiquen kaufen mich auch nur fürs Schaufenster ein, wohlwissend, dass ich für ihre Kunden zu avantgardistisch bin. Die Japaner lieben genau das an mir und subventionieren mich schon seit Jahren. Für Mykita entwerfe ich Sonnenbrille, für Uslu Airlines Nagellack und für Camper demnächst Schuhe. Reich wird man damit auch nicht, aber seit wann macht Geld schon frei? "

Bernhard Willhelm, 37, gründete sein Label 1999 in Antwerpen und lebt seit vier Jahren in Paris.

Johanna Kühl und

Alexandra Fischer-Roehler

"Wir haben die Krise als Anlass genutzt, mal genau hinzuschauen, welche unserer Produkte sich besonders gut verkaufen. Deshalb haben wir die Abendkleider- und Taschenkollektion ausgeweitet. Neu sind auch die Braut-Kollektion - wir hatten immer wieder Anfragen für Hochzeitskleider - und die Strickkollektion: Frauen geben gerne Geld für Wohlfühl-Kleidung aus.

Da unser Label relativ klein ist, können wir flexibel reagieren - das ist gerade jetzt sehr wichtig. Nicht an Altem festhalten, sondern sich den Bedürfnissen der Kunden anpassen - ohne an Format zu verlieren. Deswegen haben wir Gürtel und auffällige Colliers entworfen, mit denen sich unsere Kleider umstylen lassen.

Zum Glück haben wie seit dem letzten Jahr einen Investor, der uns finanziell unterstützt. Den brauchen wir auch, denn zur Zeit wollen alle Lieferanten - ob Stickerei oder Lederhersteller - Vorkasse."

Johanna Kühl, 28, und Alexandra Fischer-Roehler, 34, gründeten Kaviar Gauche 2003 in Berlin. 2008 präsentierten sie auf der London Fashion Week und dieses Jahr erstmals in Berlin.

Markus Lupfer

"Ich bin mir sicher: Die Boutiquen werden leerer und Mode in Zukunft noch mehr im Netz verkauft. Nach einem Shopping-Samstag in der Stadt ist man erschöpft, noch dazu plagt einen das schlechte Gewissen. Kauft man aber per Klick virtuell im Internet ein, ist die Hemmschwelle niedriger; und die Kleidung wird in Seidenpapier eingewickelt stressfrei nach Hause geliefert.

Darauf habe ich meine Kollektion zugespitzt: Jersey-Teile, die nicht genau auf Figur geschnitten sind und so unterschiedlich gebauten Frauen passen. Die Kundinnen schauen noch mehr auf den Preis, und sie werden wieder praktischer. Verkaufen werden sich Klassiker mit Wiedererkennungswert und die so genannte Daywear, die sich auch für den Abend stylen lässt. Ich sehe es gerade in London: Je schlechter die Stimmung, desto hübscher wollen die Leute aussehen. Obwohl das Pfund gerade so schwach ist, sparen die Engländerinnen zuletzt am Outfit. Gerade jetzt wollen sie sexy aussehen und sie wollen Pailletten. Kriegen sie bei mir."

Markus Lupfer, 37, lebt seit 13 Jahren in London. Er entwirft eine Linie für Topshop und ist seit 2007 der Chef-Designer der spanischen Marke Armand Basi. In

Berlin zeigte Lupfer seine eigene Damen-Kollektion.

Constanze González

und Paul Scherer

"Wir sind gerade dabei uns zu etablieren, zeigen zum zweiten Mal bei der Berlin Fashionweek - deswegen wäre es unklug, gerade jetzt zu kleckern und nicht zu klotzen. Bei unserer Herbst/Winterkollektion haben wir deshalb auf Luxus und reichlich Stoff gesetzt: Eisblau, Kupfer, Gold, dazu handvernähte Spitze und Perlenstickereien. An den 50 Teilen, die wir über den Laufsteg schicken, hätte auch Marie Antoinette ihren Spaß gehabt. Gerade in Krisenzeiten haben die Menschen Lust daran, sich papageienhaft aufzubrezeln.

Natürlich geht die Krise nicht spurlos an uns vorbei. Als kleines Couture-Label ohne Investor bekommen wir die nachlässige Zahlungsmoral mancher Kunden sofort zu spüren. Hinter den Kulissen sparen wir, und machen noch mehr selbst als sonst - und kümmern uns auch um so langweilige Dinge wie die Buchführung."

Constanze González, 31, und Paul Scherer, 28, sind die Designer hinter der Marke Scherer González. Sie arbeiten in Berlin.

Dirk Schönberger

"Meine Devise für 2009 ist: mutig, aber nicht übermütig sein. Ich bin immer noch dabei, der Marke Joop! einen neuen Anstrich zu verpassen; und gerade deswegen müssen wir trotz Krisengejammer auf Kurs bleiben. Noch muss bei uns nicht gespart werden. Die Werbekampagne hat Inez van Lamsweerde fotografiert, meine Kollektion zeige ich im Hamburger Bahnhof, nur die Aftershowparty ist nicht ganz so fulminant wie letztes Jahr: Im Weekend-Club gibt es reduzierten Techno, das erschien mir passend.

Mit der Holy-Group habe ich einen starken Partner im Rücken, der schon lange vor der Krise ein klares Business-Konzept kalkuliert hat. Obwohl die Autoindustrie am Boden ist, heißt meine Herbst-/Winterkollektion "Auto Erotic". Männer interessieren sich immer, egal wie viel Geld sie in der Tasche haben, für Autos und Mädchen. Das Design ist futuristisch, die Silhoutten schmal, die Stoffe glänzend.

Die Zeit der überkandidelten It-Bags ist vorbei, die Leute denken längerfristiger. Wenn sie Geld ausgeben, dann nicht für das dritte weiße T-Shirt; sie wollen lieber etwas Besonderes nach Hause tragen. Außerdem wird sich Qualität in Zukunft besser denn je verkaufen - das merke ich an mir selber: Zu Weihnachten habe ich Kaschmirschals, eine Bottega-Veneta-Geldbörse und eine Tasche von Felisi verschenkt. Alles nicht gerade günstig, aber was für die Ewigkeit."

Dirk Schönberger, 41, ist seit 2007 Kreativ-Chef bei Joop!. Seine eigene Modemarke Dirk Schönberger ruht seit 2007.

Protokolle: Antje Wewer

Mode, made by Germans (von links oben im Uhrzeigersinn): Michael Michalsky, Alexandra Fischer-Roehler und Johanna Kühl (Kaviar Gauche), Dirk Schönberger (Joop!), Bernhard Willhelm, Markus Lupfer, Leyla Piedayesh (Lala Berlin), Constanze González und Paul Scherer.

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Erste Reihe Die neuen Schulterpolster von Judith Ziegeler

Ausladen

Die Modenschauen für dieses Frühjahr erinnerten den einen oder anderen an den Superbowl, jenes American-Football-Spektakel, das kommende Woche, am 1. Februar, in Tampa, Florida, stattfindet. Nach Jahren der Drahtbügel-Silhouetten haben die Designer nun plötzlich Gefallen gefunden an der ausladenden Schulterpartie à la Peyton Manning (Foto), dem bestbezahlten Footballer der Welt. Eine Wendung, die Feministinnen gefallen müsste.

Anfeuern

Einer der größten Footballstars ist Tony Romo von den Dallas Cowboys. Er ist Quarterback, das bedeutet: Spielführer. Er muss Bälle fangen, Bälle werfen und dabei immer erahnen können, was der Gegner im Schilde führt. Was Jessica Simpson (Foto), die Freundin dieses Quarterbacks, können muss? Liedchen trällern, Haarwurzeln nachblondieren und Cheerleader spielen.

Anrempeln

Wer riesigen Schultern gewachsen sein will, muss viel Selbstbewusstsein mitbringen. Das Model, das hier auf dem Laufsteg von Designer Gareth Pugh nach vorne stelzt, hat es schon ganz gut drauf. So wild entschlossen, wie sie dreinschaut, macht sie wahrscheinlich nicht erst groß Gefangene, sondern rammt gleich alle nieder. Die vornehme elisabethanische Halskrause? Ein Ablenkungsmanöver.

Amüsieren

Sie wollten beim Fasching schon immer als Siamesische Drillinge für Heiterkeit sorgen? Der Entwurf an dieser Puppe wird Sie ansprechen. Er stammt von dem belgischen Designer Martin Margiela, der bekanntlich gern im Hintergrund bleibt. Ob es "Chewbacca" aus "Krieg der Sterne" war, der ihn inspirierte? Ein LSD-Traum? Werden wir nie erfahren. Fakt ist, dass Margiela das Comeback der Schulterpolster bereits vor einem Jahr voraussagte - erfolgreich. Also lieber nicht zu früh amüsieren.

Auffalten

Die Schultergebilde bei Balenciaga sind mehr als ein Zitat der Geschäftsfrauen, an die sich der Breite-Schultern-Look der Achtziger richtete. Diese Kreation von Designer Niholas Ghesquière erinnert eher an den Panzer eines Gürteltiers. Oder an die Aliens des Schweizer Surrealisten H.R. Giger. Ein Look, so modern und eigenständig, dass er auch das übernächste Comeback der Schaumgummi-Schulterpolster überdauern wird.

Anbrüllen

Was war hier Inspiration? Puffärmel, die Mahoîtres - aus dem 13. Jahrhundert unter Ludwig XI.? Möglich. Vor allem aber ließ der britische Designer Christopher Kane sich von dem Film "Planet der Affen" inspirieren. Deshalb hat er diesem Kleinen Schwarzen einen Gorilla aufgedruckt. Was ein bisschen, nun ja: erwartbar ist. Umso wichtiger ist es wohl, als Trägerin ein kompliziertes Gesicht zu machen.

Aufrüsten

Rei Kawakubo, Designerin hinter dem Label Comme des Garçons, setzt bei jedem Trend gerne noch final eins drauf. So auch hier: Aus den Flicken eines Fußballs - ihre Mode ironisiert Männerdomänen - hat sie einen Schulterschild geformt. Und wahrscheinlich stecken noch elf weitere ironische Zitate, drei Familienepen aus der japanischen Weltliteratur und siebzehn gesellschaftskritische Anmerkungen in diesem Entwurf.

Fotos: AFP (2); Reuters; Getty Images (4)

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Die Jubelorgie von Persepolis

Der Prunk des Schah Reza Pahlewi blendete den Westen. Umso größer war vor 30 Jahren die Überraschung durch die iranische Revolution.

von Lisa Seelig

Im Januar 1979 war der Schah am Ende. Offiziell wegen einer medizinischen Behandlung verließ der vom Krebs gezeichnete Mohammed Reza Pahlewi das Land, das er seit 1941 regiert hatte. Nun vertrieb ihn eine Revolution, die innerhalb weniger Monate eine überwältigende Kraft entfaltet und zehntausend Menschen das Leben gekostet hatte. Den Hass des Volkes auf seinen Herrscher hatten selbst jene unterschätzt, die seit Jahren mit Inbrunst gegen das Regime kämpften. Nun folgte dem grausamen Regime des Schahs der islamistische Gottesstaat des Ayatollah Chomeini.

Noch gut sieben Jahre zuvor hatten die westlichen Mächte dem Schah assistiert, als der seine Selbstherrlichkeit zelebrierte - und wurden zu ahnungslosen Zeugen eines besonders imposanten Schrittes Reza Pahlewis in den eigenen Untergang.

Damals, in den frühen Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, erlebte der westliche Einfluss im Iran seine Blütezeit. Der Schah war eine Art Edel-Marionette der USA, die ihn konsequent zum Bollwerk gegen die Sowjets wie zum Stabilisator im Persischen Golf aufgebaut hatten. Dabei wurde der Iran auch zum attraktiven Handelspartner des Westens. Europas Hochglanzblätter berauschten sich am Lebensstil des Schahs und seiner Familie.

Im Iran selbst freilich funktionierte die Herrschaft des Schahs nur durch die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Opposition. Der berüchtigte Geheimdienst Savak, den die CIA aufgebaut und deren Agenten sie in den USA ausgebildet hatte, folterte und mordete. Weil sich das auch im Westen herumzusprechen begann, drohte Pahlewis Image allmählich beschädigt zu werden.

Unter diesen Umständen begannen 1970 die Planungen für ein Fest, mit dem der Schah neue Maßstäbe der Prachtentfaltung setzen wollte. Anlässlich des 2500-jährigen Bestehens der persischen Monarchie nutzte er geschickt die Möglichkeit, sich selbst als Nachfolger des großen Perserkönigs Kyros zu inszenieren. Eine riesige Propagandamaschinerie wurde in Gang gesetzt, die staatlich kontrollierten Zeitungen und Fernsehsender verkündeten ein Fest für das iranische Volk. Dabei geriet die Demonstration der eigenen Stärke zur paradoxen Groteske: Um das Selbstbewusstsein der iranischen Nation zu untermauern, wählte der Schah einen Rahmen, wie er westlicher nicht hätte sein können.

Der damalige britische Botschafter in Teheran, Sir Peter Ramsbotham, erinnert sich im Gespräch mit Habib Ladjevardi, dem Leiter des Iranian Oral History Project in Harvard, wie der iranische Protokollchef ihn damals um Hilfe bat: "Wir haben keine Erfahrung mit solch großen Veranstaltungen. Ihr Briten könnt das besser als alle anderen."

Mitten in der Wüste, neben den Ruinen von Persepolis, der Hauptstadt des antiken Perserreichs, ließ der Schah eine riesige, sternförmige Zeltstadt errichten. Mit der Ausstattung beauftragte er den Pariser Innenarchitekten Jansen, der bereits Jackie Kennedy bei der Umgestaltung des Weißen Hauses geholfen hatte. Die Zelte wurden mit Kronleuchtern aus Baccarat-Kristall, Geschirr aus der französischen Porzellanstadt Limoges und Tischwäsche des französischen Luxuswäscheherstellers Porthault dekoriert. Um das Catering kümmerte sich das Pariser Gourmetrestaurant Maxim's. 165 Köche, Sommeliers und Kellner sollen in die iranische Wüste gereist sein. Und mit ihnen 25000 Flaschen Wein, 7000 Pfund Fleisch, 8000 Pfund Butter und Käse, wie das US-Magazin Time nach der Feier aufzählte. Das Menü sah mit Kaviar gefüllte Wachteleier und gegrillten Pfau, gefüllt mit Foie Gras, vor.

Die Ausstattung war derart französisch geprägt, dass Frankreichs Präsident Georges Pompidou gescherzt haben soll: "Wenn ich käme, würden sie mich wahrscheinlich zum Chefkellner machen." Anstelle Pompidous kam der Premier Jacques Chaban-Delmas. Richard Nixon ließ sich von seinem Vize Spiro Agnew vertreten. Es war die Absage von Königin Elisabeth, die den Schah besonders ärgerte - er wünschte sich den Prinzen von Wales als Ersatz. Charles aber absolvierte gerade seine Ausbildung bei der Royal Navy, dort sei er unabkömmlich, hieß es aus London. Schließlich landete Prinz Philip gemeinsam mit Prinzessin Anne in seinem Privatjet in Persepolis.

An die 70 Staatsoberhäupter oder ihre Vertreter und ihre Entourage strömten im Oktober 1971 nach Persepolis. Der sowjetische Staatspräsident Nikolai Podgorny, Marschall Tito aus Jugoslawien, Rumäniens Diktator Nicolae Ceausescu, Fürst Rainier von Monaco und Grace Kelly, Königin Sophia von Griechenland, Prinz Bernhard der Niederlande und viele andere feierten mit dem Schah.

Diejenigen, die wie Nixon, die britische Königin oder Pompidou damals fernblieben, entschädigten den Schah in den kommenden Jahren mit Staatsbesuchen. Johannes Reissner, der sich für die Stiftung Wissenschaft und Politik mit der Geschichte der Beziehungen zwischen westlicher und islamischer Welt beschäftigt, meint, dass die Repräsentanten des Westens durchaus wussten, auf was sie sich damals einließen. Dennoch schien sie der Glanz von Persepolis unwiderstehlich anzuziehen: "Dass sich Hochadel und Politiker der westlichen Welt im Pomp pseudo-altpersischer imperialer Größe selbst feierten, war dem propagandistischen Geschick des Schahs geschuldet. Und der eigenen Eitelkeit."

Auch der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann hatte im August sein Kommen angekündigt, meldete sich aber im letzten Moment krank und ließ sich vom Bundestagspräsidenten Kai-Uwe von Hassel vertreten. "Wir waren", sagt Bahman Nirumand, "überglücklich, als wir hörten, dass Heinemann nicht kommen würde." Nirumand, heute 72, war 1965 aus dem Iran nach Deutschland geflohen, gehörte zu den führenden Figuren der 68er-Bewegung. Er war eng mit Rudi Dutschke befreundet, Ulrike Meinhof berief sich in einem bereits 1967 veröffentlichten offenen Protestbrief an Farah Diba auf ein gerade erschienenes Buch Nirumands: "Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt."

Nirumand erinnert sich an das Entsetzen seiner Landsleute, das wuchs, je mehr Details der geplanten Feier bekannt wurden. Wieso mussten Blumen aus Frankreich importiert werden, während in Shiraz die schönsten Rosen der Welt wuchsen? Was berechtigte den Schah überhaupt, für den in Persepolis getriebenen Aufwand die Staatskasse zu plündern, während sich die Menschen in der nahen Provinz Balutschestan von Dattelkernen und Stroh ernährten?

Nirumand und seine Freunde von der iranischen Auslandsopposition hatten deshalb den deutschen Bundespräsidenten inständig gebeten, von einer Reise nach Persepolis abzusehen. Was im Iran damals vor sich ging, war dem aufrechten Demokraten Heinemann freilich ohnehin kaum verborgen geblieben. Die "Weiße Revolution" des Schahs von 1963 hatte dem Land in rasantem Tempo eine Industrialisierung und Modernisierung nach westlichem Vorbild aufgezwungen. Doch die staatliche Bodenreform war völlig missraten. Die Landbevölkerung hungerte, strömte in die Großstädte, an deren Rändern sich riesige Slums ausbreiteten.

Es war die Kluft zwischen der schier unglaublichen Dekadenz der Veranstaltung und der Armut der Bevölkerung, die die Menschen damals aufbrachte: Die iranische Nation sollte gefeiert werden, aber ohne das Volk. Vor allem der Geistlichkeit war Mohammed Reza Pahlewis Verehrung des westlichen Lebensstils verhasst. Ayatollah Chomeinis Hassschrift gegen die Feier war auch im Iran im Umlauf. Der Zorn wurde jedoch unter vorgehaltener Hand weitergetragen - der iranische Geheimdienst wusste Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Den sich dennoch mehrenden kritischen Stimmen in der ausländischen Presse begegnet der Schah mit zynischem Achselzucken: "Soll ich den Staatsoberhäuptern Brot und Radieschen servieren?" Der Größenwahn des Schahs zeigte sich vollends in der Parade, mit der die Feierlichkeiten am 15. Oktober eröffnet wurden. Der Mann, der sich als Nachfolger des großen Perserkönige Kyros inszenierte, machte die gesamte Geschichte Persiens zur Kostümschau.

Am Grab des Perserkönigs Kyros setzte der Schah schließlich zu einer pathetischen Ansprache an: "Ruhe in Frieden, denn wir sind wach, und wir werden wach bleiben." Das anschließende Festbankett mit gigantischer Lichtshow und Feuerwerk verlief nach Plan - im Vorfeld hatte es höchste Anstrengungen gegeben, die Sicherheit der Gäste zu garantieren. Abdolreza Ansari, der zum Organisationskomitee der Feier gehörte, berichtet heute, der Geheimdienst habe damals Tausende potentieller Protestler vorsorglich verhaften lassen.

Die Gäste jedenfalls amüsierten sich prächtig. Der britische Botschafter schwelgte viele Jahre später in Erinnerungen: "Prinz Philip, der König von Jordanien, König Konstantin von Griechenland, König Baudouin von Belgien, alle waren ja etwa im gleichen Alter, und sie hatten Spaß. Sie schlenderten von Zelt zu Zelt, nahmen Drinks und plauderten. Sie fanden es großartig." Der Korrespondent der spanischen Hola erinnerte sich später: "Dieses Bankett war die größte Party des Jahrhunderts, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass etwas Ähnliches nie wieder stattfinden wird."

In einem Interview in der ARD vier Jahre später sagte der Schah, als ihn der langjährige Teheraner Korrespondent Harald Kubens auf die massive Kritik an den Feierlichkeiten ansprach, mit süffisantem Lächeln: "Die Kosten für diese Feier, bleibende Werte natürlich nicht eingerechnet, beliefen sich auf drei Millionen Dollar. Die 20 Minuten der Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten kosten vier Millionen Dollar. Ziehen Sie daraus Ihre eigenen Schlüsse." Die tatsächlichen Ausgaben sind bis heute nicht genau zu beziffern, Schätzungen gehen aber von mindestens zweistelligen Millionenbeträgen bis zu mehr als hundert Millionen Dollar aus.

Noch heute sprechen die Menschen im Iran fassungslos und wütend über die Jubelorgie von 1971. Mindestens ebenso wie die Verschwendungssucht des Schahs hat dessen Missbrauch der kulturellen Traditionen des Landes für Empörung gesorgt. Innenpolitisch war das Fest so zu einem entscheidenden Fehlschlag geworden, den der Schah nie mehr korrigieren konnte. Einige Jahre noch gelang es ihm, sich an der Macht und die anschwellenden Proteste unter Kontrolle zu halten, dann entlud sich der Zorn des Volkes auf den Straßen. "Bei kaum einer anderen Revolution waren so große Teile der Bevölkerung beteiligt", sagt Bahman Nirumand.

Kurz vorm Sturz des Schahs brachte der amerikanische Diplomat George Ball das Dilemma des Westens auf den Punkt: "Wir haben den Schah zu dem gemacht, was er nun ist. Wir haben seine Vorliebe für grandiose weltpolitische Entwürfe genährt, wir haben seine Phantasien beflügelt. Wir machten ihn so sehr zum Pfeiler unserer Interessen im Nahen Osten, dass wir von ihm abhängig wurden. Jetzt zerfällt sein Regime unter dem Druck der aufgezwungenen Modernisierung, und wir haben keine Alternative."

Acht Jahre nach dem Fest von Persepolis war der Schah für den Westen nutzlos geworden. So mündete seine Karriere in eine nicht enden wollende Odyssee - kein Land mochte ihn innerhalb seiner Grenzen wissen. Im Sommer 1980 starb er schließlich in Kairo.

Heute stehen Metallskelette an der Stelle der prunkvollen Zeltstadt von Persepolis. Wo Landschaftsgärtner 1971 Kunstwerke schufen, wuchern Gras und Gestrüpp. Nichts erinnert mehr an den Glanz des Ereignissses, mit dem Mohammed Reza Pahlewi den eigenen Untergang einläutete.

Unbehagen in letzter Minute: Bundespräsident Heinemann blieb daheim.

"Wir machten den Schah so stark, dass wir von ihm abhängig wurden."

2500 Jahre Persien: Zur Feier seiner eigenen Größe inszenierte der Schah die Geschichte seines Landes als gigantisches Kostümspektakel für geladene Gäste. Foto: ullstein bild

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Es war einmal

Eintagshelden (2): Friedrich Staps

von Willi Winkler

Seiner Mutter träumte einmal, dass sie mit beiden Söhnen die Saale auf einem Steg überqueren wolle, dass ihr der Erstgeborene, der hübsche Fritz, ins Wasser falle und nicht mehr zu fassen sei. Vergebens greift sie nach ihm, sie schreit, sie weint, und immer weiter treibt er weg, uneinholbar verloren. Im Kindbett wäre er ihr beinah genommen worden, doch hatte ihn das Schicksal, wie es der Vater formulierte, "zu einem andern furchtbaren Zwecke aufbewahrt".

Aber Friedrich wuchs behütet auf, der Augapfel seiner Mutter, die nach einer 17-jährigen, unfruchtbaren Ehe den Naumburger Pfarrer Friedrich Gottlob Staps (manchmal auch "Stapß" geschrieben) geheiratet hatte. Der kleine Fritz wollte Kaufmann werden und hatte sich ganz allein zu diesem Beruf bestimmt. Er las von früh an, aber vor allem lernte er. Mit neun bereits machte er einen Plan, in dem er jeden Tag stundenweis einteilte. Schlug die Glocke, schlug er das Buch zu und wechselte das Fach. Französisch konnte er bald recht gut, und Voltaires Geschichte von Charles XII. las er am liebsten.

Mit vierzehn gaben ihn die Eltern in die Lehre zur Firma Rothstein, Lentin und Co. nach Erfurt. Staps stellte sich außerordentlich geschickt an. Ehrgeiz trieb ihn, und sein Verhalten war ohne Tadel; nur an Magenkrämpfen litt er manchmal. Erfurt war damals eine französische Exklave mitten im Herzogtum Thüringen, und dort erlebte der junge Staps im Oktober 1808 den siegreichen Kaiser. Napoleon befand sich damals auf dem Höhepunkt seiner Macht, er beherrschte den europäischen Kontinent und war mit Russland verbündet. Hier in Erfurt nahm er huldvoll die Schmeicheleien eines einheimischen Dichters entgegen - Goethe ließ sich dafür mit einem napoleonischen Orden verzieren.

Im Sommer drauf kam der Kommiss Staps auf eine Woche heim nach Naumburg. Es waren heitere Tage: Der Sohn, mit siebzehn inzwischen das blühende Leben, und die Eltern voller Stolz, denn Stapsens Karriere im Handelsgeschäft sollte sich erfolgreich fortsetzen; in wenigen Monaten schon wollte Herr Rothstein ihm die Kasse anvertrauen.

Ach, sie wussten nicht, dass ihr Sohn sich mit Mordgedanken trug. Am 24. September morgens früh verlässt er Erfurt mit Pferd und Wagen, verkauft beides in Ilmenau, wo er die Postkutsche nach Wien besteigt. Seinen Eltern hat er in einem Brief seinen unverrückbaren Entschluss mitgeteilt. "Ich muss fort, fort, um zu vollbringen, was mir Gott geheißen, was ich ihm fürchterlich heilig geschworen habe zu vollbringen." Er reist nach Wien, wo der Kaiser inzwischen Quartier genommen. Staps kennt nur noch einen Gedanken, er muss den Kriegsherrn töten. "Es reißt mich fort mit Riesengewalt zu meinem Schicksal hin, dessen Laufbahn bald geendet sein wird; denn dann erwartet mich jene Seligkeit, jene ewige Herrlichkeit, die mir Gott verheißen hat."

Mit einem Dolch im Gewande nähert sich Staps dem Kaiser, der in Schönbrunn die Parade abnimmt, fällt auf, wird festgenommen und durchsucht. Der Hofstaat, die Generäle, sie können es nicht glauben: dieser kleine, verrückte Deutsche wollte den Kaiser töten. Staps wird dem Empereur vorgeführt, der ihn fragt, warum er es auf ihn abgesehen habe. "Weil Sie das Unglück meines Vaterlandes sind" oder, nach einer anderen Quelle, weil er ihn für die Geißel der Menschheit halte. Der Kaiser will keine Geißel sein - hatte er sich nicht mit Goethe über dessen "Werther" ausgetauscht? - und fragt den jungen Mann deshalb, was er begänne, wenn er ihm das Leben schenkt? "Dann werd' ich alles Mögliche versuchen, um mein Vorhaben in Zukunft auszuführen." Nun, wer seinen Kaiser bei vollem Verstand töten will, muss sterben. Heimlich wird der Attentäter erschossen.

Noch Jahre später auf St. Helena erinnert sich Napoleon des "wahrhaft wüthenden Tiers" und seiner Waffe. "Ein Messer von anderthalb Fuß Länge, spitz und zweischneidig - ich war entsetzt, als ich es erblickte - nur von einem Zeitungsblatt umwickelt!" Noch mehr entsetzte ihn, dass der Mann aus einem protestantischen Pfarrhaus kam. Den Eltern wurde der Tod ihres Fritz nie offiziell mitgeteilt. Als sie doch davon erfuhren, untersagte man ihnen jede Trauer.

Niemand kam je auf die Idee, den unauffälligen Herrn Staps zu malen. Außer diesem Scherenschnitt existiert kein Porträt von ihm. Bild: SZ

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Der Gabi-Bikini

Nein, ich bin nicht eifersüchtig. Aber irgendetwas stimmt nicht mit Mia. Eine Erzählung. Von David Wagner

Mia fährt immer wieder nach Warschau und gibt es nicht zu. Sie sagt, sie fahre nach Meiningen, Göttingen oder Frankfurt und setzt sich doch in den Zug nach Warschau; sie fährt immer wieder nach Polen, sieht die Bahnanlagen hinter Lichtenberg, den leeren Osten, Frankfurt an der Oder, dann Posen, und wenn sie zurückkommt, höre ich sie sagen, ich war in Göttingen, Tübingen oder Mainz. Sie sagt, ich habe dich vermisst und wir schlafen zusammen, aber sie sagt nicht, wo sie wirklich gewesen ist.

Sie hat sehr rotes Haar, helle Haut und Sommersprossen und hat mal behauptet, auch Frauen schauten Frauen zuerst auf die Titten. Oft sagt sie, guck mal die da, aber eigentlich will sie nur hören, dass sie mir besser gefällt als jede andere. Sie ist stolz auf ihre roten Haare, sie sagt, sie sind glatt, nicht lockig, wie bei all den anderen Frauen, die rote Haare haben, und einmal hat sie behauptet, Rothaarige wären schmerzempfindlicher als andere Menschen, empfindlicher und feinfühliger. Sie mag ihre Farbe, so bin ich zur Welt gekommen, sagt sie, so hat mein Leuchtstiftleben angefangen. Sie will bewundert werden.

Wir können auf dem Gipfel des Teufelsbergs stehen und über den Wald in die Postkartenlandschaft des Urstromtals schauen, da muss ihr, sie kann das nicht ausblenden, einfallen, wie sie, das ist dann Jahre her, mit F. oder S. über den See zum Englischen Yachtclub nach Gatow gesegelt ist, zum Engländer, sagt sie, Pimm's Cocktail mit Gurkenstückchen trinken. Sie erzählt immer alles, alle Details, und ich höre zu, sie sagt, mit O. bin ich hier spazieren gegangen, so wie jetzt mit dir, und mit S. im See dort unten beinah untergegangen, er musste mich retten und ans Ufer ziehen, dort hat er mich dann geküsst, und, obwohl ich ihn eigentlich gar nicht mochte, ja, eigentlich gar nicht ausstehen konnte, habe ich noch im Schilf mit ihm geschlafen, weil es mir so nass und schwach einfach gefallen hat, in seinen fetten Armen zu liegen.

Ich kann, das war schon immer mein Problem, nie ein Wort ihrer Erzählung vergessen. Sie erzählt mir das alles, so kommt es mir vor, um es mit mir nachzustellen. Ihr geht es um die Wiederholung, ihr fällt immer ein, was sie hier oder irgendwo, wo es so ähnlich war, erlebt hat. Was sie allerdings nicht daran hindert, wir laufen durch die abgesperrten, schon lange nicht mehr in Betrieb befindlichen Abhöranlagen auf dem Teufelsberg, ihre Hand in meine Hose zu stecken und mich ins Unterholz zu ziehen.

Sie entwirft Kostüme fürs Theater und Kleider aus ungewöhnlichen Stoffen. Einmal hat sie, das wurde ihr Brunnenkressekleid, Kresse auf ihrem Körper wachsen lassen. Ein anderes Mal hat sie sich einen kurzen, schweren Minirock aus Rollrasen genäht, ihre Brüste lagen unter zwei Rasenstreifen, die ihr über der Schulter hingen, so war sie dann zu einer Fußballweltmeisterschaft in dem Magazin einer Zeitung abgebildet. Nicht lange danach nähte sie Badebekleidung aus tätowierten Hautstückchen, jedenfalls behauptete sie, die Badeanzüge und Bikinis aus einer Sammlung präparierter Tätowierungen genäht zu haben. Ich weiß, dass es sich tatsächlich um auf pergamentähnlichen Stoff kopierte Vorlagen handelte, teils Tatoomuster, mit denen Tätowierer üben, teils nur Namen in unbeholfener Tatoo-Typographie, Namen wie Horst, Gabi, Viktor und Jenny. Gabi-Bikini hieß eines der Stücke, ihr Galerist verkaufte ihn an das Kunstmuseum Wolfsburg.

Manchmal, samstag- oder sonntagnachmittags, wenn sie nicht mehr oder noch nicht da ist und ich auch nicht weiß, ob oder woher sie kommt, was sie macht, sie macht ja aus allem ein Geheimnis - sie sagt, eng mich nicht ein, ich brauche meine Freiheit -, spaziere ich über die Schillingbrücke zum Ostbahnhof, kaufe eine Zeitung, einen Liter Vollmilch oder ein paar Flaschen Bier und stelle mich vor den Glaskasten in der Halle, in dem die Modelleisenbahnen fahren. Bis der Zug aus Warschau kommt.

Unter all ihren Kleidern gefällt mir das aus zusammengenähten Wattestäbchen immer noch am besten, ihr Q-Tips-Panzerhemd, es ist teiltransparent und doch eine Rüstung. Wattestäbchenspitze sagte ein Kritiker, der besonders begeistert war, weil sie es ohne Unterwäsche vorführte. Auf der Vernissage schimmerte ihr Schamhaar rot durch die schmalen Schlitze zwischen den Stäbchen, und im Hinterzimmer, wo ihr Galerist das Koks verteilte, ließ sie sich, das erzählte sie mir später, aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht, durch die Wattestäbchenritzen ficken.

Ich bin nicht eifersüchtig, nein. Und wenn überhaupt, dann bloß auf ihre Vergangenheit. Auf die Zeit, in der ich nicht dabei war, auf die Schlupfwinkel, die sie dort hat und auf ihre weiche, fast noch warme Erinnerung an all die Ex-Freunde, in die sie immer wieder schlüpft, wie in einen flauschigen Bademantel. Und dann auch einfach wieder abwirft.

Sie hat Nacktaufnahmen von sich auf transparente Folie drucken lassen und daraus lange Abendkleider geklebt, eine ganze Kollektion, die sich sehr gut verkaufte, sie hat auch einmal ein Kleid aus rohem Fleisch genäht, tailliert und mit einem ordentlich versäuberten Ausschnitt aus dünn geschnittenen Schnitzeln, es war nicht lange haltbar. Sie legte es, zusammengerollt, es sollte nicht verknittern, in den Kühlschrank, aber auch dort fing es nach einer Woche an zu stinken.

Eigentlich kann sie nur Männergeschichten erzählen. Von dem, was vor den Geschichten mit den Männern, also vor den Männern war, höre ich nie auch nur ein Wort. Ihre Zeitangaben lauten: da war ich vierzehn, da dreizehn, da war ich zwölf und in Thorsten Auer verliebt. Weiter zurück geht sie nie, als hätte es davor kein Leben gegeben. Nie ein Wort von ihren Eltern, nichts aus ihrer Kindheit. Von dem Kind, das auch sie einmal gewesen sein muss, ist nichts mehr da, sie erzählt alles so, als wäre sie zwölf Jahre alt und mit rotem Schamhaar vom Himmel gefallen. Ich kann, sagt sie, jeden Schwanz, den ich im Mund hatte, noch zeichnen.

Ich weiß, dass sie sich immer wieder, bloß um auszuprobieren, um zu überprüfen, ob es noch funktioniert, ansprechen lässt. Als müsste sie sich beweisen, noch attraktiv genug zu sein. Ich aber bin ja nicht eifersüchtig, nein, und wenn dann nur auf ihre Vergangenheit, wenn dann nur auf die, von denen sie immer wieder spricht, auf die Vorgänger, die noch zappeln. Einer von ihnen, ich habe ihn nie gesehen, aber es kommt mir vor, als wären wir alte Bekannte, hat Landkarten von ihr gezeichnet, Landkarten ihres Körpers, auf denen jede Höhe, Niederung und Senke eingezeichnet ist, jeder kleine Leberfleck und jedes Äderchen. Er hat auch Spezialkarten ihrer Ohren und ihrer Füße von unten gezeichnet, ihre Handinnenflächen und das Gebiet von ihrem Nabel abwärts, er hat immer, sagt sie, die ganze Zeit über nur gezeichnet und koloriert, ich war fast ein wenig allein, weil er ständig an seinem Zeichentisch saß.

Mit dem "Atlas der Frau die ich liebe" hat er den Preis seiner Kunsthochschule gewonnen, sie antwortete ihm mit einem Kleid, das sie aus dem Stoff einer fiktiven Landkarte schneiderte, auf der Städte, Ortschaften und Gebirge zu sehen waren, die alle mit Männer- und Frauennamen bezeichnet waren, dieses Kleid nannte sie "Die Gebiete meines Körpers heißen nach ihren Entdeckern". Auf seinem Stoff war eingetragen, wer sie wo befingert hatte, da standen dann all die Namen, die ich schon kannte, Verkehrsadern, Gebirgszüge, Buchten, Meeresbusen, Hohe See und Ozeane, die Peter, Marc, Carolin, Gitte, Oliver, Stefanie, Andi, Martin, Knud und so weiter hießen.

Manchmal ärgere ich mich, dass Epochen ihres Lebens nach ihren Ex-Freunden oder -Freundinnen heißen. Immer muss sie sagen, das war, als ich mit E., das war als ich mit F. zusammen war. Sie weiß auch immer, wer sie wann wo und wie bewundert hat und wer wann was von ihr wollte und nicht bekommen hat. Sie sagt, das ist passiert, als ich mit M. zusammen war, sie erzählt ihr Leben als Abfolge ihrer Beziehungen, von denen sie manche, so kommt es mir vor, im Halbschatten ihrer Erinnerung weiterführt. Ein Indiz dafür ist, dass ihr alle Erzählungen immer wieder ins Präsens rutschen. Und ich dann fragen muss, ist das nicht lange vorbei? Sie aber scheint sich in einer einzigen, großen, sehr breiten Gegenwart aufzuhalten, in der das, was jetzt, mit mir ist, nicht unbedingt das Wichtigste ist. Ich aber möchte doch immer der Wichtigste für sie sein.

Natürlich, wir haben oft genug darüber gesprochen, keiner kann ein unbeschriebenes Blatt sein. Wir haben ja alle eine Geschichte, keiner von uns kann jemanden kennenlernen, der bis dahin noch nicht mit dem und der und dem zusammen war und nicht ein oder zwei oder noch mehr Lastwagen voll mit Vergangenheit hinter sich herzieht. Und wenn es doch jemanden geben sollte, der noch gar nicht gelebt und nichts erlebt und nicht die kleinste Verletzung hätte, was wollte man mit so einer Person? Wie langweilig wäre das?

Männer, sagt sie, sind eigentlich nur kleine Käfer, die mir über die Haut auf dem Rücken, über den Bauch und den Busen und dann zwischen die Beine krabbeln, aber das ist schon okay, da will ich sie ja haben. Meistens jedenfalls.

Ich kann mich nun, das hat sie erreicht, an ihrer Stelle erinnern. Sie hat mich zu ihrer Erinnerungsmaschine gemacht, ich weiß, was sie wann sagen wird, sie hat schon so oft gesagt, es ist fast so heiß, wie damals in Marokko, mit P., der unbedingt auf diesem Kamel in die Wüste reiten wollte, wir wären beinah verdurstet, und ja, das ist das Geschäft von der Freundin der Bekannten, mit der ich - ja, ich weiß bald alles, du kannst mich bald ausstellen, in einem deiner Kleider als deine Erinnerung. Dabei gibt es ihre Geschichten in verschiedenen Versionen, sie erzählt Varianten, immer wieder anders ausgeschmückt, Max heißt zum Beispiel manchmal Gregor, Micha manchmal Manuel, Thomas heißt auch Markus. Ich machte sie nicht darauf aufmerksam. Schon möglich, dass sie sich alles nur ausdenkt, möglich, dass sie nie in Marokko, nie mit Gregor in Manila war. Möglich auch, dass ich mich täusche, dass sie nicht nach Warschau fährt.

Wozu ist man, wozu sind wir zusammen? Um nicht so allein zu sein? Um regelmäßig Sex zu haben? Um nach und nach immer mehr vom anderen zu erfahren? Und einander doch noch, auch nach Jahren noch, rätselhaft zu sein? Um sein ganzes Leben, wie es bis dahin war, loszuwerden und nach und nach, das muss erarbeitet werden, alles gemeinsam zu haben? Um miteinander zu verwachsen und bis an sein Ende zusammen zu bleiben?

Sie fährt nach Saarbrücken, nach Oberhausen und wieder nach Mainz, sie kommt zurück, sagt nicht, dass sie vielleicht in Warschau war, und erzählt mir von einem Jahreswechsel, drei oder vier Jahre zuvor. Ich war noch mit F. zusammen, sagt sie, wir waren in einem Haus in der Eifel, im Schnee, in einem überheizten Zimmer zwischen zwei riesigen Schlafzimmern, ich aber, sagt sie, habe mich überhaupt nur für die Frauen interessiert, und sie zählt mir, das machte sie immer so, alle Namen auf, Vera, Andrea, Sonja und Gitte; Gitte war eher dicker, sagt sie, und beschreibt dann, aber sie will mich bloß provozieren, Gittes außergewöhnliches Geschlechtsorgan.

Sie wird wütend, wenn ich ihr nicht glaube, wenn ich sage, das hast du doch erfunden. So, wie ihr Abenteuer im Nachtzug nach Rom, als sie mit ihren beiden schwulen Theaterfreunden unterwegs war und im Gang den Mann nur gestreift haben will, mit dem sie dann in die Toilettenkabine ging. Und ich stelle mir vor, wie sie eines Tages einem anderen, einem meiner Nachfolger, die Geschichte erzählt, wie wir beide zwischen den Spuren der Wildschweine im Schnee über den Teufelsberg stapfen. Sie wird sich auch an mich erinnern.

Sie hat, fällt mir ein, auch ein Schaumkleid erfunden, aus einem Schaum, der härtet, aber elastisch bleibt und nicht abfällt. Es lässt sich immer nur einmal tragen. Und sie hat ein Kleid entworfen, dessen Schnitt sich mit Hilfe kleiner, im Kleid selbst versteckter Elektromotoren immer wieder verändert. Je nach Bewegung raffen die Motoren den Stoff oder lassen ihn fallen oder ziehen den ganzen Rock in die Höhe. Sie nennt es "Das lebende Kleid".

Ich bin nicht eifersüchtig, bestimmt nicht, sie aber verdreht ihre Augen, wenn ich von früher, aus der Zeit vor ihr erzähle. Sie wird wütend, wenn sie andere Frauennamen hört. Wärst du lieber mit ihr zusammen als mit mir? Warum erzählst du das, du Arschloch? Und es kommt vor, dass sie wieder in ihre Insektenstarre fällt, während der sich, manchmal macht mir das Angst, selbst ihre Augen nicht bewegen. Einmal habe ich sie, was nicht half, mit Wasser übergossen. Ich konnte sie nicht wecken. Sie war, so kam es mir vor, ganz weit weg. Irgendwo in Polen. Nein, sagt sie, wenn ich frage, ich fahre nicht nach Warschau, ich war noch nie in Warschau. Einmal nur hat sie zugegeben, dass sie schon mal in Krakau gewesen ist, mit dem Theater, das ist lange her, meinte sie, aber am Tag darauf fand ich einen Brief aus Polen im Briefkasten. Aus Warschau, unsere Anschrift, ihr Name auf dem Umschlag.

Ich bin gar nicht eifersüchtig. Soll sie doch fahren. Fahr doch. Fahr doch, wohin du willst. Die Eifersucht ist ein Monster, das mir nicht wehtut. Morgen ist sie wahrscheinlich schon wieder in Warschau, vielleicht aber auch, das hat sie jedenfalls behauptet, in Wiesbaden. Ich rufe nicht an, wenn sie weg ist. Ich rufe nie an, wenn sie arbeitet oder sagt, dass sie arbeite. Vielleicht war sie nie in Warschau, vielleicht bilde ich mir tatsächlich alles ein. Könnte ja sein. Wer kann sich da schon sicher sein.

David Wagner, geboren 1971 in Andernach, lebt als Schriftsteller in Berlin. Sein Debütroman "Meine nachtblaue Hose" erschien im Jahr 2000, sein neues Buch "Spricht das Kind" kommt in diesen Tagen im Literaturverlag Droschl (Graz) heraus.

Von dem Kind, das sie einmal gewesen sein muss, ist nichts mehr da

Männer, sagt sie, sind nur kleine Käfer, die mir über den Bauch laufen

Einmal habe ich sie, was aber nicht half, mit Wasser übergossen

Eines ihrer selbstgeschneiderten Kleider nannte sie: "Die Gebiete meines Körpers heißen nach ihren Entdeckern". Foto: Sabine Schönberger/Visum

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Shirin Ebadi über

Recht

von Anne Ameri-Siemens

SZ: Mrs. Ebadi, am 1. Februar vor 30 Jahren ist Khomeini nach Iran zurückgekehrt. Seine Rückkehr, der Machtwechsel, veränderte Ihr Leben radikal: Sie durften nicht mehr als Richterin arbeiten . . .

Ebadi: . . . und ich fand, nachdem ich als Anwältin tätig wurde und mich für Menschenrechte einsetzte, meinen Namen auf einer Todesliste des Regimes wieder.

Wie kam das?

Das war reiner Zufall. Ich recherchierte mit Anwaltskollegen über Mordfälle an iranischen Oppositionellen. Beim Lesen stieß ich auf eine Seite, auf der auch mein Name unter den für die Zukunft geplanten Morden stand. Man hatte offenbar nicht darauf geachtet, das aus den Akten zu entfernen.

Wer hatte diese Liste denn abgezeichnet? Der damalige Informationsminister Dorri-Nadschafabadi. Als das bekannt wurde, gab es einen Skandal, und so konnte er nicht anders, als zurückzutreten.

Schweben Sie immer noch in Lebensgefahr?

Ob mein Tod in der Zwischenzeit wieder geplant wird? Ich weiß es nicht. Diese Liste damals sollte ja nie öffentlich werden. Wenn es also wieder eine gäbe - wer weiß, ob sie jemals bekannt würde.

Wie leben Sie mit dieser Unsicherheit?

Jeder Mensch wird mit bestimmten Eigenschaften geboren. Schon als Kind versuchte ich, Unterlegene, Schwächere zu verteidigen. Dabei wurde ich selbst ein paar Mal verprügelt. Das ist eine Konsequenz, mit der ich leben muss. Angst ist nur ein Reflex - wie Hunger. Man entscheidet sich nicht, hungrig zu sein. Man ist es einfach. Und so wie man lernt, seinen Hunger zu zügeln . . .

. . . haben Sie sich die Angst abtrainiert?

Ja. Man kann lernen, mit seiner Angst umzugehen. Ich bin Anwältin, und meine Kritik ist legal, also kann niemand mein Engagement stoppen. Wer sich hingegen illegal verhält, ist der iranische Staat.

Was werfen Sie dem iranischen Staat heute konkret vor?

Die iranische Regierung hat die Convention of Human Rights unterzeichnet, hält sie aber nicht ein. In Iran wird immer noch die Todesstrafe für Minderjährige angewandt. Die Gesetzgebung gegenüber Frauen ist diskriminierend. Unsere nationale Gesetzgebung muss den internationalen Standards angepasst werden, zu denen sich die iranische Regierung bekannt hat. Sie behauptet gegenüber den Vereinten Nationen, dass sie die Menschenrechte respektiert und wahrt. Das ist nicht wahr, und damit handelt der Staat illegal. Ich fordere mit meiner Arbeit nicht mehr ein als das, wozu sich Iran auf internationaler Ebene längst verpflichtet hat.

2003 wurde Ihnen für Ihr Engagement der Friedensnobelpreis verliehen. Macht diese Auszeichnung Ihr Leben sicherer?

Die internationale Unterstützung, die ich seither erhalte, lässt die Regierung Irans in jedem Fall zwei Mal überlegen, bevor sie etwas gegen mich plant.

Trotzdem mussten Sie Verhaftungen und wiederholt Gewaltandrohungen erleben. Haben Sie in Iran eigentlich einen Begleitschutz?

Nach der Auszeichnung hatte ich einen Securityguard, einen Beamten, der mir von der Regierung zur Seite gestellt wurde. Aber nur einige Monate. Es gibt in Iran keine private Security, keine Bodyguards, die man anstellen könnte, also gehe ich zu meinem Schutz immer mit einem Mitglied meiner Familie aus dem Haus oder mit meiner Sekretärin. Ich gehe niemals und nirgendwo allein hin. Aber ich habe kein Problem mit dem Gros normaler Leute da draußen auf der Straße. Wer mich bedroht, sind die Regierung und Menschen, die von ihr beschäftigt oder von ihr in ihren Plänen unterstützt werden.

Hätten wir uns für ein derart offenes Gespräch auch in Teheran treffen können?

Ich spreche diese Kritik auch in Iran deutlich aus, wenngleich ich von der Regierung beobachtet werde. Ich weiß, dass alle meine Anrufe, Faxe, E-Mails gecheckt werden. Obwohl es laut iranischer Verfassung illegal ist, können sie das meinetwegen gerne weiterhin tun.

Sie haben nichts zu verstecken.

Nein, denn ich tue nichts Illegales. Was ich sage, ist das Wort des Gesetzes. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Für mich hat es nicht mehr oder weniger Konsequenzen, ob wir über diese Dinge hier oder in Iran sprechen.

Und für mich?

Bekannt ist, dass die iranische Regierung kritische und damit freie Meinungsäußerung nicht schätzt. Unter Präsident Ahmadinedschad wird die Zensur im Land immer stärker. Sollten Sie das nächste Mal einen Antrag für ein Iran-Visum stellen, wird es Ihnen möglicherweise verwehrt.

Was sind die positiven Errungenschaften des amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad?

Es gibt keine, die mir da im Moment einfallen würden.

Und wenn Sie länger darüber nachdenken?

Das muss ich nicht.

Was kritisieren Sie besonders an seiner Regierung?

Neben der Missachtung der Menschenrechte hat sich in den letzten Jahren die wirtschaftliche Situation im Land dramatisch verschlechtert. Die Preise steigen jeden Tag, die Menschen werden ärmer und ärmer. Individuelle Freiheiten werden immer mehr eingeschränkt.

Zudem hat Iran ein massives Drogenproblem . . .

Das stimmt. Und ein Grund dafür ist die Hoffnungslosigkeit angesichts der bestehenden Verhältnisse.

Sie gehörten zu denen, die anfangs für die Revolution in Iran kämpften. Dann aber, wie alle Frauen im Land, erleben mussten, wie Ihnen nach und nach die Freiheiten genommen wurden. Fühlen Sie sich vom Mullah-Regime verraten?

Ich würde nicht von Verrat sprechen.

Sondern?

Es sind die falschen Methoden, mit denen in unserem Land vorgegangen wird.

Was heißt das?

Das Gelöbnis der islamischen Revolution war, dem Land Freiheit und Unabhängigkeit zu bringen; dafür habe ich damals gestimmt, und beides sind Werte, an die ich heute noch glaube und für die ich immer noch kämpfe. Vor der Revolution gehorchte die iranische Regierung zu einhundert Prozent der amerikanischen. Diese Unabhängigkeit haben wir gewonnen - aber die Revolution hat uns keine Freiheit gebracht.

Was sind heute die größten Probleme der Frauen in Iran?

Die Gesetze erkennen Frauen nicht als freie und gleichberechtigte Individuen an. Die Aussage einer Frau ist vor Gericht nur halb so viel wert wie die eines Mannes. Um Vergewaltigung oder häusliche Gewalt zu bezeugen, müssten zwei Frauen gegen einen Mann aussagen. Doch wie oft sieht ein Dritter bei solchen Taten zu? Möchten Sie noch weitere Beispiele?

Unbedingt.

Ein Mann und eine Frau haben einen Autounfall. Er ist in dem einen Auto gefahren, sie im anderen. Beide tragen gleichermaßen Schuld, beide Autos sind gleich stark beschädigt. Die Versicherung wird der Frau dennoch nur die Hälfte von dem zahlen, was der Mann erhält, weil die Frau nur halb so viel wert ist in unserer Ordnung. Ein Mann darf in Iran vier Frauen heiraten. Eine Frau darf das umgekehrt nicht. Und ein Mann darf sich scheiden lassen, wann immer er will - ohne eine Begründung anzugeben. Auch das darf eine Frau nicht.

Dürfen Frauen uneingeschränkt Cafés oder Teehäuser betreten?

Ja, aber ein Revolutionswächter, ein ,Pasdaran', kann einer Frau jederzeit den Zutritt zu einem Café verwehren, wenn er findet, dass die Ärmel ihres Mantels nicht lang genug sind. Die Polizei darf eine Frau festnehmen, wenn sie keinen Schleier trägt. Also fühlt man sich immer beobachtet, spürt das System überall, bis in den kleinsten Winkel seines Lebens. Aber wir sollten über die Wurzeln nachdenken: Woher kommt die Macht der Revolutionswächter? Warum fühlen sie sich frei, Menschen Angst zu machen? Die Antwort ist: Weil die Gesetzgebung sie legitimiert. Deshalb verwende ich all' meine Kraft darauf, dass die Gesetzgebung reformiert wird.

Erleichtert der Friedensnobelpreis Ihre Arbeit?

Ich erreiche heute viel mehr Menschen auf der Welt, der Preis hat mir viele Türen geöffnet.

Wie hat die iranische Regierung auf Ihre Auszeichnung reagiert?

Sie hat ihn nie respektiert. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte: Als ich den Preis bekam, sagte der damalige Präsident Chatami: ,Der Friedensnobelpreis hat doch keine Bedeutung! Wirklich wichtig ist der Literaturnobelpreis.' Das sagt viel, nicht wahr?

Haben Sie Mohammad Chatami je persönlich getroffen?

Nein, Gott sei Dank bin ich nie einem Mitglied der Regierung begegnet. Auch nicht dem damaligen Informationsminister Dorri-Nadschafabadi.

Hat Sie die Reaktion Chatamis verletzt?

Nein, jeder soll frei sein, seine Gefühle und Gedanken zu äußern. Und ich habe Wichtigeres zu tun, als mich um die Reaktion von irgendwelchen Leuten zu kümmern.

Mehr als 70 Prozent der iranischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Es mag eine sehr westliche Frage sein, aber: Warum gibt es keine stärkere Opposition?

Die iranische Bevölkerung hat in den letzten 30 Jahren die Revolution durchlebt und den blutigen, grausamen Krieg mit dem Irak. Die Menschen haben Gewalt so satt. Sie wollen, dass das, was auch immer kommt, friedlich geschieht. Aber das braucht Zeit, und mir sind die Probleme natürlich bewusst: Wir haben politische Gefangene in Iran. Wer die Regierung kritisiert, läuft Gefahr, ins Gefängnis zu kommen . . .

Ein Teufelskreis.

Es wird Zeit brauchen, aber das ist unser Weg. Die Menschen wollen eine friedliche Lösung für ihre Probleme.

Welche Rolle könnte Präsident Barack Obama bei dieser Lösung spielen?

Es ist zu früh, um dazu etwas zu sagen.

Vielleicht können Sie beschreiben, wie Sie und die Menschen in Ihrem Umfeld die Wahl wahrgenommen haben?

Es gibt zum Teil Zugang zu ausländischen Medien, und natürlich hat man die Wahl aufmerksam verfolgt. Aber meine Freunde denken alle wie ich: Es ist zu früh, um über Erwartungen zu sprechen.

Dann sprechen wir über Hoffnung. Gibt es etwas, worauf Sie in der Beziehung zwischen den USA und Iran hoffen?

Wie ich sagte: Es ist zu früh, um über all das zu sprechen. Nur weil der Präsident ein anderer ist, heißt es nicht, dass die Politik sich tatsächlich verändern wird.

Sie waren im Gefängnis, leben in großer Unsicherheit - verlegt man sich da lieber auf das Nicht-Hoffen?

Ich bin ein sehr optimistischer Mensch, und würde ich die Hoffnung aufgeben, könnte ich mich nicht weiter engagieren. Aber ich hoffe nie auf etwas von Seiten einer Regierung. Ich hoffe auf die Bevölkerung: auf einen Bewusstseinswandel. Darauf, dass Kriege künftig verhindert werden. Ich hoffe auf die Menschen im Land, in den USA wie in Iran.

Was erwarten Sie von den Präsidentschaftswahlen in Iran dieses Jahr?

Meine höchste Erwartung ist, dass die Menschen frei entscheiden können, wen Sie wählen möchten, dass alle Kandidaten zur Wahl zugelassen sind.

Und ist das realistisch?

Gemäß der bestehenden Gesetzgebung ist es nicht möglich, aber die Dinge können sich jederzeit ändern. Sehen Sie, ich bin Optimistin.

Werden Sie denn zur Wahl gehen?

Wenn die Gesetzgebung bis dahin tatsächlich eine andere wäre, würde ich wählen. Aber solange mir das Recht, frei unter allen Kandidaten zu entscheiden, verwehrt wird, gebe ich meine Stimme aus Protest nicht ab.

In westlichen Medien ist Iran regelmäßig wegen seiner Uran-Anreicherung und dem damit einhergehenden Atombomben-Verdacht in den Schlagzeilen.

Ob diese Befürchtung angebracht ist, darüber könnte ich nur spekulieren. Der UN-Sicherheitsrat hat Iran durch mehrere Resolutionen aufgefordert, die Anreicherung zu stoppen. Die iranische Regierung sollte sich also auch dementsprechend verhalten, um wieder Vertrauen zwischen den internationalen Institutionen und unserem Land aufzubauen. Nur so würde das Wirtschaftsembargo aufgehoben, das für Iran so entscheidend ist.

Es macht den Vertrauensaufbau sicher nicht einfacher, wenn der iranische Präsident fordert, Israel müsse dem Erdboden gleichgemacht werden . . .

Ich bin nicht verantwortlich dafür, was Ahmadinedschad sagt. Über solche Äußerungen sollten Sie mit ihm reden. Ich persönlich denke, dass der Mittlere Osten, die gesamte Region, an dem Tag friedlich leben wird, an dem wir Frieden haben zwischen Israel und Palästina. Friedensverhandlungen sollten unbedingt wiederaufgenommen werden. Und dann sollten wir darum kämpfen, dass wir eine friedliche Koexistenz von zwei unabhängigen Staaten mit unabhängigen Regierungen bekommen. Im Mittleren Osten haben Muslime und Juden über Jahrhunderte friedlich miteinander gelebt. Die Konflikte, denen wir jetzt gegenüber stehen, sind keine religiösen, sondern politische. Sie können gelöst werden.

Wohin steuert Iran mit seiner aktuellen Politik?

Das ist nicht leicht vorauszusagen. Unsere Zukunft hängt davon ab, wie sich die politische Lage im Irak und in Afghanistan entwickelt und im Besonderen natürlich von Irans Beziehung zu den USA.

Interessant ist, dass Sie nur Entwicklungen außerhalb Irans nennen.

Es muss natürlich auch in Iran etwas geschehen. Die Zeit, in der ein Land sich verhalten konnte, als sei es durch Mauern abgetrennt vom Rest der Welt, ist vorbei. An oberster Stelle steht die Verpflichtung, dem UN-Sicherheitsrat zu gehorchen, und das sollten wir besser tun. Es ist nur zum Nutzen und zum Guten für die iranische Bevölkerung.

Haben Sie je darüber nachgedacht, den Iran zu verlassen?

Nein, ich gehöre zu diesem Land.

Sie haben zwei Töchter, die beide Ausbildungen im Ausland machen.

Ich habe darauf bestanden, dass meine Töchter so lange in Iran blieben, bis sie die Universität abgeschlossen hatten. Sie sollten in der iranischen Kultur aufwachsen, sie auch als Erwachsene bewusst erleben. Meine ältere Tochter Negar schreibt zurzeit in den USA, in Georgia, an ihrer Promotion in Fernmeldetechnik. Meine jüngere, Nargess, hat Jura studiert und macht ein Praktikum am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Wollen sie hinterher zurückkehren?

Vor ihrer Abreise habe ich Negar und Nargess das Versprechen abgenommen, dass sie in den Iran zurückkehren und dort arbeiten werden.

Sollen sie das nicht selbst entscheiden?

Nun, ich hoffe zumindest, dass sie ihr Versprechen nie vergessen. Wer auch immer Iran für seine Ausbildung verlässt, sollte zurückkehren. Wir brauchen dringend gut ausgebildete junge Menschen. Unglücklicherweise ist die Abwanderung der geistigen Elite in Iran immens. Und wenn alle, die gut ausgebildet sind, das Land verlassen - wer soll dann helfen, es wieder aufzubauen? Natür-lich, das Leben in Iran ist, was Freiheit angeht . . .

. . . sehr eingeschränkt. Sie haben es ja beschrieben.

Aber wenn jeder nur daran denkt, was für ihn selber oder für seine eigene Familie zählt, wird es dort keinen Fortschritt geben. Wenn ich nur an meine persönlichen Interessen denken würde, wäre mein Leben viel einfacher. Aber in der Gesellschaft würde sich nichts verändern.

Durch Ihr Engagement und vor allem durch den Friedensnobelpreis sind Sie in westlichen Augen in eine Art Stellvertreter-Rolle für den Iran hineingewachsen. Mögen Sie diese Rolle eigentlich?

Was ich nicht mag, ist die Kultur der Heldenverehrung. Ich möchte nicht als Heldin gesehen werden.

Sie könnten es als Kompliment nehmen.

Menschen neigen dazu, sich einen Helden aufzubauen, damit der all ihre Probleme über Nacht löst und sie zu Hause sitzen und darauf warten können, dass alles gut wird. Das kann gar nicht funktionieren. Gesellschaftliche Entwicklung kann es nur geben, wenn viele Menschen daran teilhaben. Jeder muss für sich selbst ein Held oder eine Heldin sein.

Was lieben Sie an Ihrem Land?

Die Menschen in Iran sind warmherzig, offen und großzügig, obwohl sie kein leichtes Leben führen. Im Persischen gibt es den Begriff ,Taroff', der einen Teil unserer Kultur beschreibt: Man gibt alles, um seinem Gegenüber freundlich zu begegnen, vollkommen unabhängig davon, ob man den Menschen kennt oder nicht. Gastfreundschaft bedeutet für uns alles. Sie können zu jeder Zeit an die Tür eines Iraners klopfen, er wird Sie immer willkommen heißen.

Haben die Revolution und ihre Folgen Ihre Ehe verändert?

Nach der Revolution ging mein Mann zum Notar und unterzeichnete einen nachträglichen Ehevertrag, in dem er mir das Recht gewährte, mich scheiden zu lassen, und in dem er mir im Fall einer Trennung das Hauptsorgerecht für unsere Kinder überließ. Der Notar schaute meinen Mann an, als ob er verrückt geworden sei und sagte dann zu ihm: ,Wissen Sie, was Sie da tun, guter Mann?' Er nahm vielleicht an, Javad sei Analphabet und habe sich überlisten lassen. Mein Mann antwortete: ,Meine Entscheidung ist unwiderruflich. Ich will mein Leben retten.'

Shirin Ebadi wurde am 21. Juni 1947 im iranischen Hamadan geboren. Sie gehört zu den führenden Menschenrechtsaktivistinnen der Welt und hat zahllose Gefangene in Iran kostenlos verteidigt. Vor der Revolution dort galt sie als angesehenste Richterin am Teheraner Gericht. Für ihr Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 1996 mit dem Human Rights Watch Defender Award, 2003 mit dem Friedensnobelpreis und 2008 mit dem Toleranzpreis der Evangelischen Akademie Tutzing.

"Die iranische Regierung hat meinen Nobelpreis nie respektiert."

"Wenn die geistige Elite das Land verlässt - wer soll es wiederaufbauen?"

Ein schmuckloser Konferenzraum in einem Hotel in Poitiers. Shirin Ebadi zuzuhören ist in etwa so, wie einer Darbietung fernöstlicher Kampfkünste beizuwohnen: Jedes Wort sitzt, jede Antwort kommt in Sekundenschnelle. Die Friedensnobelpreisträgerin ist in Frankreich, um über den Islam und die Rechte von Frauen und Männern zu sprechen. Foto: Tiziana Fabi/AFP

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Der echte Darwin

Warum Evolution nicht im Widerspruch zur Religion steht

Um die wahre Größe der von Charles Darwin angestoßenen Umwälzungen zu erkennen, hilft nicht nur der Blick auf das, was der britische Naturforscher entdeckt und gedacht hat. Ebenso wertvoll ist es zu verstehen, was Darwin nicht getan hat. Kaum eine wissenschaftliche Erkenntnis ist in den 150 Jahren nach ihrer Veröffentlichung derart von Missverständnissen und auch böswilligen Verfremdungen begleitet worden wie die Evolutionslehre Darwins. Viel Falsches ist darüber zu hören, zum Beispiel dass der Stärkere im Selektionskampf obsiege. Auch hat Darwin, anders als der Titel seines im November 1859 erschienenen Hauptwerks "Über die Entstehung der Arten" nahelegt, nicht den Ursprung des Lebens erklärt. Doch das größte aller Missverständnisse rund um Charles Darwin betrifft das Verhältnis seiner Erkenntnisse zur Religion.

Anders als oft behauptet wird, ist die Evolutionslehre nicht geeignet, einen fundierten Schöpfungsglauben zu widerlegen. Zweifellos stehen Darwins Erkenntnisse in krassem Widerspruch zu einem naiven Gottesbild, in dem der Schöpfer wie eine Art Handwerker pausenlos an jeder Weggabelung der biologischen Artenbildung Hand anlegt. Die Vorstellung eines über Milliarden Jahre hinweg vor sich hin bastelnden Schöpfers ist aber auch unvereinbar mit einem modernen aufgeklärten Theismus. Wer versucht, Gottes Werk in jeder Flagelle eines Darmbakteriums zu finden, der reduziert den vermeintlich allmächtigen Schöpfer auf allzu menschliche Dimensionen.

Die Evolution der Lebewesen auf dem Planeten Erde ähnelt einem gewaltigen Feuerwerk. Charles Darwin hat dabei erkannt, nach welchen Mechanismen die Funken fliegen. Ob die ganze Sache am Anfang von einem Schöpfer entzündet wurde oder lediglich eine Folge universaler Naturgesetze ist, ist eine andere, dem menschlichen Erkenntnisdrang grundsätzlich nicht zugängliche Frage.

Mit Skepsis ist daher Extremisten beider Fraktionen zu begegnen. Den Darwinisten, wenn sie so wie der Brite Richard Dawkins meinen, aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Existenz Gottes widerlegen zu können. Und den Kreationisten, weil sie krampfhaft versuchen, Gott in ein Korsett zu zwängen, das für einen allmächtigen Schöpfer zu klein ist. Gott steht als Verborgener jenseits unserer Fassungskraft, erkannte schon im 15. Jahrhundert der Philosoph und Theologe Nicolaus Cusanus.

Zum Wesen der Naturwissenschaften gehört, dass jede Theorie, auch die Evolutionslehre, sich eines Tages lediglich als Oberfläche einer weiteren, tiefer gehenden wissenschaftlichen Erkenntnis erweist. So wie Newtons Gravitationsgesetze, die im Grunde nur ein Spezialfall der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein sind. Doch eine Hinterlassenschaft Darwins wird bleiben. Er hat alle Lebewesen auf dem Planeten Erde zu einer biologischen Gemeinschaft verschmolzen. Eine Erkenntnis, die heute auch von der erst nach Darwin entwickelten Genetik klar bestätigt wird. Mit der Evolutionslehre ist der Mensch von der "Krone der Schöpfung" zur Spezies geworden. Das ist für viele Exemplare des Homo sapiens eine nicht zu überwindende Kränkung. Aber warum eigentlich? Warum schmälert es das Selbstwertgefühl, wenn Schimpansen und Menschen gemeinsame Vorfahren haben und 50 Prozent der menschlichen Gene auch im Fadenwurm zu finden sind? Auch wer Hubschrauber baut, Opern komponiert und Zeitungen druckt, muss erst noch beweisen, dass er auf diesem Planeten länger durchhält als Bakterien oder Wespen.

Statt die eigenen anthropozentrischen Reflexe mit pseudowissenschaftlichen Argumenten gegen die Evolutionslehre zu befriedigen, sollten wir Menschen lieber versuchen, die aus der Vernunft geborenen Erkenntnisse Darwins zum eigenen Vorteil zu nutzen. Das Wissen um die Dynamik im Überlebenskampf der Arten sollte uns helfen, die Spezies Mensch mit dem Lebensraum Erde in Einklang zu bringen. Die hemmungslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Vernichtung der Lebensräume anderer Arten wird sich auf Dauer nicht als Überlebensvorteil der Spezies Homo sapiens erweisen. Diese aus der Evolutionslehre folgende Einsicht macht die Entdeckungen des Charles Darwin so wertvoll. PATRICK ILLINGER

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Der zaghafte Revolutionär

Zunächst tat sich Charles Darwin schwer mit seiner Evolutionstheorie - heute ist sie das Fundament der Biologie

Seinen Geburtstag, den 12. Februar, hat Charles Darwin nie besonders wichtig genommen. Auf seiner Weltreise mit dem Forschungsschiff Beagle verbringt er ihn im Jahr 1832 seekrank in seiner Koje, ankert an diesem Datum in den folgenden Jahren zweimal vor Feuerland, reitet zu Pferd durch Chile und später durch Australien. In keinem Fall erwähnt er den besonderen Tag in Tagebuch oder Briefen. Als ihm seine Schwester Susan zum 25. Geburtstag gratuliert und schreibt, er solle doch eigentlich zum Plumpudding zuhause sein, reagiert der Naturforscher nicht einmal auf den Glückwünsch - falls der Brief ihn überhaupt erreicht hat.

Später, zurück in England, korrespondiert er an einem 12. Februar mit einem Kollegen über den Erwerb versteinerter Knochen. An einem anderen Geburtstag verpackt er Gesteinsproben aus Australien für einen Wissenschaftler in Manchester. Wiederum einige Jahre später beschreibt er einem Naturforscher in Newcastle-upon-Tyne in großem Detail die Anatomie des Rankenfuß-Krebses Alcippe. Charakteristisch für Darwin ist insbesondere der 12. Februar 1859. Wegen seines Darmleidens, das ihn seit Jahrzehnten quält, ist er zur Kur nach Moor Park in der Grafschaft Surrey gefahren. Per Brief meldet er sich bei einem alten Freund und erzählt, er habe nur noch zwei Kapitel in seinem Buch zu schreiben. En passant erwähnt er, dass seine Familie gerade andere Verwandte besuche. Es ist sein 50. Geburtstag.

Welch ein Kontrast zu 2009! Darwins 200. Geburtstag wird auf der ganzen Welt gefeiert. Es gibt Festsymposien in Nairobi, Sevilla, Mexiko und Bangladesch. Die Webseite darwin-jahr.de listet 21 Veranstaltungen in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg auf. In Prag lädt die Britische Handelskammer zum Galadiner, in Bishops Mills (Kanada) findet das "Phylum Feast" statt: Seine Besucher sollen unter Angabe der wissenschaftlichen Namen aus möglichst vielen verschiedenen Organismen schmackhaftes Essen zubereiten. Naturkunde-Museen in New York, London und Berlin haben Sonder-Ausstellungen vorbereitet. Es gibt Vorträge in Chon Buri (Thailand), Sydney, Mendoza (Argentinien), Nürnberg und auf einem Science-Fiction-Kongress in Hunt Valley (USA). In Houston schließlich feiern Wissenschaftler "Abe and Chuck's Birthday Party" - auch Abraham Lincoln wurde am 12. Februar 1809 geboren.

Der Bogen der Festivitäten erstreckt sich bis in den Herbst, denn am 24. November jährt sich zum 150. Mal das Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Über die Entstehung der Arten". Das Buch gilt heute als Grundlage der Evolutionstheorie, die Darwins Namen zu einem globalen Symbol gemacht hat wie Cäsar, Kolumbus und Einstein. Die Evolutionstheorie ist heute die unumstrittene Basis aller Lebenswissenschaften. "Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution", hat 1973 Theodosius Dobzhansky gesagt, der unter anderem an der Columbia University in New York lehrte und einer der prominentesten Biologen des 20. Jahrhunderts war. Ernst Mayr, Deutscher mit Lehrstuhl in Harvard, pflichtete in seinem letzten Buch 2005 bei, Darwins Werk sei "der vielleicht größte geistige Umbruch in der Menschheitsgeschichte". Und Axel Meyer von der Universität Konstanz, ergänzt: "Die Evolution ist das Fundament der gesamten Biologie und gleichzeitig der Zement, der alle Erkenntnisse aller biologischen Teildisziplinen lückenlos zusammenhält." 

Die Biologen waren und sind so begeistert, weil die Evolutionstheorie den Schlüssel zum Verständnis der enormen biologischen Vielfalt auf der Erde enthält. Sie zeigt auf, warum Giraffe und Maus gleich viele Halswirbel haben, warum der Aids-Erreger ein so erfolgreicher Organismus ist, warum sich der Knochenbau von Delfinflosse und Fledermausflügel ähnelt, warum sich Fische in isolierten Seen in zwei Arten aufspalten und sich Bienen und Blumen zum beiderseitigen Nutzen einander anpassen. "Wir können verstehen, warum die Natur verschwenderisch in der Vielfalt, aber knausrig in der Neuerung ist", schrieb Darwin über seine Erkenntnisse.

In den Kern des Gedankengebäudes hat der Naturforscher die "natürliche Auswahl" gestellt. Die ganze Tier- und Pflanzenwelt ist einem ständigen Kampf um das Dasein ausgesetzt, wie Darwin auf seiner Reise mit der Beagle und nach Lektüre eines berühmten Essays des Ökonomen Thomas Malthus erkannte. Die meisten Lebewesen haben so viel Nachwuchs, dass nicht alle genug Futter finden oder Räubern entkommen. Nur gut an die Umstände angepasste Individuen schaffen es, Sprösslinge zu zeugen, die ihrerseits große Lebenschancen haben. Evolutionärer Erfolg bedeutet, Enkel zu haben.

Nun zeigt der Nachwuchs von Lebewesen oft zufällige, kleine Abweichungen von Körperbau oder Verhalten ihrer Eltern. Viele dieser Variationen bedeuten einen Nachteil, ihre Träger sterben früher oder haben weniger Nachwuchs. In einigen Fällen aber ist die Veränderung ein Vorteil. Tiere wehren sich besser gegen Feinde oder sind attraktiver für Sexualpartner, Pflanzen wachsen in anderen Regionen. Sie können das neue Merkmal an mehr Nachkommen weitergeben als unveränderte Artgenossen.

Die Natur selbst wählt also im Laufe der Zeit zwischen den Varianten aus. Über tausende von Generationen können sich Spezies so aufspalten und stark verändern. Arten, die aufeinander angewiesen sind, entwickeln sich parallel oder gehen beide zugrunde. Krankheitserreger lernen, die Abwehr ihrer Wirte zu unterlaufen. Einmal bewährte Prinzipien wie den Knochenbau einer Extremität gibt die Evolution nicht auf, sondern passt sie neuen Erfordernissen an.

Die Frage, wie die Vielfalt der Natur zu erklären sei, bewegte zu Darwins Zeit viele Forscher. Er selbst listet 34 Vorgänger auf, die an eine "Modifikation der Arten" glaubten. Darunter der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck: Seiner These von 1809 zufolge geben Tiere Eigenschaften weiter, die sie während ihres Lebens erworben waren. Die Giraffe reckt ihren Hals nach Blättern und bekommt darum Kälber mit verlängertem Hals. Darwin erklärt es anders. Die Nachkommen, die zufällig einen längeren Hals haben, sind erfolgreicher. Die anderen sterben aus. Er lehnt das Zielhafte ab, das Lamarck postulierte: Seine Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch.

Den Grundgedanken seiner Theorie hatte Darwin Ende der 1830er-, Anfang der 1840er-Jahre gefasst. Das berühmteste Beispiel dafür sind die heute Darwin-Finken genannten Vögel, die der Naturforscher im September 1835 auf Galapagos vorfand. Entgegen der populären Legende bescherten sie ihm dort keinen Heureka-Moment. Mehr aus Pflichtgefühl erlegte er zwei Dutzend der Tiere, beschriftete sie schlampig und vergaß sie dann. Zurück in London überließ er sie einem Freund, der ihn darauf hinwies, was er da mitgebracht habe: 13 verwandte Arten, aber mit fein abgestuften Schnäbeln, die damit Nüsse knackten, Insekten aus Ästen zogen oder Parasiten von der Haut der Galapagos-Echsen pickten.

In seinem Reisebericht "Die Fahrt der Beagle" verknüpft Darwin 1844 neue Erkenntnis und ursprüngliches Erlebnis: "Wenn man die Diversität in einer kleinen, eng verwandten Gruppe von Vögeln sieht, könnte man sich vorstellen, dass aus einem anfänglichen Mangel an Vögeln auf diesem Archipel eine Spezies herausgegriffen und für verschiedene Zwecke modifiziert worden ist."

Mehr schreibt oder veröffentlicht Darwin dazu vorerst nicht. Ein 35-Seiten-Essay von 1842 verschwindet genauso in der Schublade wie ein Manuskript von 230 Seiten zwei Jahre später. Darwin zögert, will noch mehr Belege und Beispiele sammeln und fürchtet die Reaktion der frommen viktorianischen Zeitgenossen. An seiner tiefgläubigen Ehefrau Emma Wedgwood kann er die Reaktion ahnen, obwohl er selbst seine Theorie nicht als Kampfansage an die Religion versteht.

Derart befangen braucht Darwin einen Anstoß, um sein Buch zu schreiben. Diesen versetzt ihm ein Brief, den er im Sommer 1858 von der indonesischen Insel Ternate erhält. Ein jüngerer Naturforscher namens Alfred Russel Wallace hat seine eigene Evolutionstheorie aufgeschrieben und schickt sie an Darwin zur Beurteilung. Darwin gerät in einen moralischen Konflikt, will nun gar nichts mehr publizieren, damit niemand denken möge, er habe Wallace übervorteilt. Einflussreiche Freunde arrangieren jedoch binnen Wochen einen Termin im Forscherclub Linnean Society und verlesen Auszüge aus Darwins Manuskript von 1844 sowie aus dem Schreiben von Wallace. Die gemeinsame Veröffentlichung rettet Darwin um Haaresbreite den Vortritt; der Naturforscher macht sich nun mit Eifer daran, die "Entstehung der Arten" zu schreiben.

Als das Buch erscheint, ist es eine Sensation - es allein ist der Grund, warum die Geschichte Darwin so viel höher achtet als Wallace. Vielen Kollegen öffnet Darwin die Augen. Andere verreißen das Werk, auch viele Theologen. Besonders die Ausdehnung der Theorie auf den Menschen schockiert Zeitgenossen; plötzlich haben sie Verwandte bei den Affen. Darwin wird in Karikaturen als Schimpanse mit weißem Rauschebart gezeigt. Doch in Großbritannien legt sich der Protest bald; 1865 ist Evolution Prüfungswissen an der Universität Cambridge.

In den USA aber formt sich die Bewegung des Kreationismus, die den puristischen Schöpfungsglauben bewahren will. Sie stempelt Darwins Lehre zum Darwinismus und setzt ihn mit Atheismus gleich. Es sind die Kirchenleute, die die Evolutionstheorie als unvereinbar mit Gottesglauben darstellen, nicht Wissenschaftler. Bis heute hat diese fundamentale Opposition gegen Darwin tiefe Wurzeln in der amerikanischen Bevölkerung. In Umfragen äußern fast zwei Drittel Zweifel oder Ablehnung gegen die Lehre von der Veränderung der Arten.

Dazu hat sicherlich beigetragen, dass einige Nachfolger Darwins der Evolutionslehre martialische Untertöne gaben. Er selbst machte sich 1869 den vom Philosophen Herbert Spencer geprägten Begriff vom "Überleben des Stärksten" (eigentlich: "survival of the fittest") zu eigen. Darauf stützten sich die sogenannten Sozialdarwinisten, um eine Ellbogengesellschaft ohne Mitgefühl für die Schwächsten zu propagieren. Für Menschen, die den Glauben als Auftrag zur Nächstenliebe verstehen, verstärkte das die Abneigung gegen Darwins Lehre.

In der Wissenschaft aber ist der Siegeszug ungebremst. Die ersten empirischen Ergebnisse, die Darwins Gedankengebäude hätten stützen können, gehen an dem Naturforscher allerdings vorbei: 1856 hatten Arbeiter im Neandertal bei Düsseldorf die Knochen von Urmenschen entdeckt. Und im Februar 1865 berichtet der Augustinermönch Gregor Mendel vor dem Naturforschenden Verein im böhmischen Brünn über seine Entdeckungen in der Vererbungslehre. Diese waren der Beginn der heutigen Genetik, die Darwins Evolution bestätigt und antreibt. Erst im 20. Jahrhundert führten Biologen wie Dobzhansky und Mayr beide Wissensgebiete zusammen und legten damit die Basis der modernen Biologie.

Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung 1976, als der Brite Richard Dawkins sein Buch "Das egoistische Gen" veröffentlicht. Er stellt darin die einzelne Erbanlage als eigentlichen Ansatzpunkt der Evolution dar. Sie ist dann erfolgreich, wenn sie möglichst viele Kopien ihrer selbst in die Welt setzt; Körper und beim Menschen auch Geist sind nur Vehikel. Die radikale Position prägt schnell das Denken, löst aber auch Kritik aus. Vielen missfällt die Idee, der Mensch sei eine willenlose Überlebensmaschine für Gene, die auch sein Verhalten steuern. Das hat Dawkins zwar gar nicht so gesagt, aber die Verkürzung eignet sich prima, Opposition gegen die Evolutionslehre zu mobilisieren.

Die Kreationisten profitieren davon, dass Dawkins auch in der Wissenschaft umstritten ist. 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Buch gibt es viele Interpretationen der Theorie; die Denkschulen attackieren einander zum Teil heftig. Einige sehen in der Natur vor allem Konkurrenz am Werk, andere heben Kooperation hervor. Manche betonen das Zufällige an der Evolution, andere nehmen an, sie bevorzuge manche Pfade. Schließlich gibt es erstaunliche Parallelen in der Entwicklung grundverschiedener Organismen, zum Beispiel ist das Auge 40-mal entstanden.

Doch an Darwins Grundprinzipien äußert kein Forscher Zweifel: Die Veränderung der Arten und das Wirken der natürlichen Auslese haben sie überall in der Natur nachgewiesen. Auch wenn die Wissenschaft nicht jeden einzelnen Schritt von einer Urzelle zu Palmen, Störchen, Doktorfischen und Menschen nachzeichnen kann, ist kaum ein anderes wissenschaftliches Gedankengebäude derart umfassend durch Beobachtungen und Experimente abgesichert. Darwins Geburtstag nehmen die Biologen daher als willkommenen Anlass, dieses ordnende Grundprinzip ihrer Wissenschaft zu feiern. CHRISTOPHER SCHRADER

Die Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch

Kaum eine Theorie ist ähnlich gut belegt

Vor 200 Jahren wurde Charles Darwin geboren, vor 150 Jahren veröffentlichte

er sein Werk "Über die Entstehung der Arten". Seine Evolutionstheorie hat

Wissenschaft und Gesellschaft

entscheidend geprägt. Eine SZ-Serie

zeichnet diese Entwicklung nach.

Nur 30 Meter lang, aber ein Weltumsegler: die "Beagle", auf der Charles Darwin fünf Jahre lang unterwegs war Foto: picture-alliance / KPA/TopFoto

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Das Kleingedruckte im Web

Internetnutzer wollen mehr Selbstbestimmung, wenn es um ihre privaten Daten geht

Ein Häkchen ist mit der Maus schnell gesetzt. Die oft auch noch in Großbuchstaben angezeigten Datenschutzbestimmungen von Internetdiensten dagegen lesen viele nicht. Ein Drittel aller deutschen Internetnutzer klicken das Juristen-Deutsch nach eigenen Angaben ungelesen weg. Die Zahl findet sich in der Studie "Bewusstseinswandel im Datenschutz", die am Freitag in München vorgestellt wurde. Demnach wächst nach den Datenskandalen des vergangenen Jahres aber auch die Furcht, dass mit privaten Daten Missbrauch betrieben wird.

Im Auftrag des Deutschen Digital-Institutes in Berlin und von Microsoft Deutschland waren gut tausend Internet-Nutzer zum Thema Datenschutz im Internet befragt worden. Wie der Studienleiter, der Medienwissenschaftler Jo Groebel, sagte, zeige sich, dass das Internet allmählich in den Alltag der Menchen eindringe. Gerade Ältere, die dem Netz noch vor wenigen Jahren sehr skeptisch gegenüber gestanden hätten, nutzten es jetzt selbstverständlich und beurteilten die Risiken anders. Auf der anderen Seite sähen jüngere Nutzer, die vor Jahren noch weitgehend unkritisch mit ihren Daten umgegangen seien, nun mehr und mehr auch die Risiken.

"Digitale Hilflosigkeit"

Kritisch betrachten die Befragten nun vor allem Online-Dienstleister, die das Nutzerverhalten auswerten. Besorgnis entsteht der Studie zufolge besonders dann, wenn die Menschen das Gefühl hätten, die Daten verselbständigten sich, sagte Groebel. Die Internetnutzer wünschten sich Kontrolle über ihre Daten statt einer "digitalen Hilflosigkeit". Auch wenn es juristisch vielleicht nicht ganz so einfach sei, müssten "drei Sätze genügen", um Online-Nutzer darauf aufmerksam zu machen, was mit ihren Daten geschehe. "Datenschutzbestimmungen selbst von nur einer Seite liest doch niemand", sagte Groebel. Längerfristig aber zahle es sich auch für Unternehmen aus, Datenschutz ernstzunehmen. Damit werde Vertrauen geschaffen, "und das ist dann auch ein Wirtschaftsfaktor".

Auf der anderen Seite aber müssten auch Nutzer sogenannter sozialer Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ lernen, dass sich ihre immer noch weit verbreitete "leichtfertige Offenheit" später rächen könne. Gerade jüngere Nutzer hätten oft mehr Vertrauen in diese Netzwerke als in traditionelle Medien, würden aber die Risiken nicht wahrnehmen, die damit verbunden seien.

Die Nutzer sehen sich der Studie zufolge zu mehr als 80 Prozent selbst in der Pflicht, ihre Daten zu hüten, mehr als die Hälfte der Befragten fühlen sich damit überfordert. Viel Vertrauen haben deutsche Internetnutzer zu Banken und Behörden, als unsicher gelten Online-Netzwerke.HELMUT MARTIN-JUNG

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Zur Sonne

Russland startet Forschungssatellit

Nach fast zehnjähriger Pause wegen Geldmangels hat Russland am Freitag wieder einen Wissenschaftssatelliten gestartet. Die Zyklon-3-Rakete mit dem Sonnenobservatorium Koronas-Photon hob um 14.30 Uhr MEZ vom nordrussischen Kosmodrom Plessezk ab, wie die Raumfahrtagentur Roskosmos mitteilte. Es war der erste von insgesamt 39 Starts im neuen Raumfahrtjahr. Koronas-Photon soll die Strahlung der Sonne im Bereich der harten Röntgen- und der Gammastrahlung untersuchen. Dazu werden mit einem Teleskop mehr als eine Million Aufnahmen des Zentralgestirns gemacht und rund 200 Stunden Videomaterial aufgenommen. Die Daten sollen die Frage beantworten helfen, ob eine verstärkte Sonnenaktivität Auswirkungen auf die Erderwärmung hat. Der 1920 Kilogramm schwere Satellit, der die Erde mindestens drei Jahre lang in rund 500 Kilometern Höhe umkreisen soll, ist nach 1994 und 2001 der dritte im russischen Koronas-Programm. ddp

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Rillen mit Gefühl

Die Riffelung macht Fingerspitzen so tastempfindlich

Die Fingerspitzen des Menschen verfügen über außergewöhnliches Gefühl. Selbst Unebenheiten auf einer Oberfläche, die kleiner als ein Fünftelmillimeter sind, lassen sich so ertasten. Für dieses Feingefühl sind die so genannten Vater-Pacini-Körperchen verantwortlich, berichten nun Wissenschaftler um Julien Scheibert von der CNRS-ENS-Universität in Paris (Science, online). Diese Nervenzellen reagieren besonders auf Vibrationen. Erzeugt werden diese von der Riffelung der Haut an den Fingerspitzen, wenn man damit über eine Oberfläche streicht - so können Menschen auch winzige Unebenheiten erspüren.

Die Wissenschaftler konstruierten für ihren Versuch einen künstlichen Tastsensor. Mit einer Art Kappe aus Plastik, deren Oberfläche geriffelt war wie ein menschlicher Fingerabdruck, strichen die Forscher über eine Oberfläche. Bei der Geschwindigkeit, mit der ein Mensch eine unbekannte Oberfläche abtasten würde, fiel die erzeugte Frequenz exakt in das Spektrum, auf die Vater-Pacini-Körperchen besonders gut reagieren. Ein Tastsensor ohne Riffelung erzeugte keine entsprechende Vibrationen.SZ

Die Muster an den Fingerspitzen geben Menschen das Feingefühl. Science

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Fast 100 Tage ist er im Amt: Wie regiert der Ministerpräsident?

Den Finger immer stark im Wind

Von Wackelpudding bis Wetterfähnchen: die fünf Prinzipien des Regierungschefs Horst Seehofer

Von Katja Auer und Kassian Stroh

Am Mittwoch ist es 100 Tage her, dass Horst Seehofer "Treue der Verfassung, Gehorsam den Gesetzen und gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten" geschworen hat. Schon jetzt halten ihn fast zwei Drittel der Bayern für einen guten Ministerpräsidenten. Seehofer hat einen ganz eigenen Regierungsstil - und der ist alles andere als prinzipienlos.

Das Prinzip Neustart:

So geht's nicht weiter.

Ganz neu anfangen wollte Horst Seehofer und nichts gemein haben mit der "alten Regierung", wie er seine Vorgänger und Parteifreunde tituliert. Vor allem wegen des Milliardendebakels der bayerischen Landesbank. Immer wieder betonte er, seine Regierung habe das nicht zu verantworten. Das ließ er sich sogar schriftlich geben, vom früheren Finanzminister Kurt Faltlhauser. Trotzdem entschuldigte sich Seehofer öffentlich. Das gehört zum "neuen Stil", den er in der Regierung und in der CSU einführen will. Doch nicht jeder nimmt ihm das ab: Spätestens mit der von ihm durchgesetzten Personalie Monika Hohlmeier als Europakandidatin für Oberfranken hat Seehofer seinen Anspruch konterkariert. Seitdem ist in der CSU von "Demokratur" statt von Teamwork die Rede.

Das Prinzip Ein-Mann-Show:

Halte alle anderen klein.

Schon seine Leibesgröße ermöglicht es Seehofer, immer ein wenig über andere hinwegzuschauen. Er weiß um seine Wirkung und dass er kaum politisch Wegweisendes vorlegen muss - schon Statur, Charme und Charisma verleihen ihm Autorität. Seehofer genießt es offensichtlich, wenn Menschen zu ihm aufschauen, zumal es seinem Selbstverständnis als Alpha-Typ entspricht. Seinen Parteifreunden bleibt gar nichts anderes übrig: Nach der Schlappe bei der Landtagswahl war Seehofer die letzte Rettung, der letzte starke Mann in der CSU. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gab er den Bayern den Stolz zurück, im Bund wieder wer zu sein. Dafür lässt Seehofer durchblicken, dass ihm keiner ebenbürtig ist - auch nicht aus der CSU-Führungsriege. "Die anderen klein machen", nennt das ein CSU-Spitzenmann. "Dann schaut er von seinen 1,93 Metern runter und ist noch größer." Peter Ramsauer, der die CSU in die Bundestagswahl führen soll, hat das artig akzeptiert und Seehofer als "gefühlten Spitzenkandidaten" ausgerufen.

Das Prinzip Wackelpudding:

Lass Dich bloß nicht festnageln.

Ein Mann der klaren Worte ist Horst Seehofer nicht. Lieber ergeht er sich in Andeutungen, deren Ausdeutung er dann nach Belieben dementieren kann. Im Oktober zum Beispiel forderte er den Rücktritt von Landesbank-Chef Michael Kemmer. Als sich die Sparkassen-Vertreter dem verweigerten, wollte Seehofer nie gemeint haben, was er zuvor in die Kameras gesagt hatte. Oder: Nie habe er 60 Jahre als Altersgrenze für sein Kabinett ausgegeben, sagte Seehofer nach dem Proteststurm der Senioren. Die Betroffenen erinnern sich ganz anders. Und Seehofer selbst hatte die 60-plus-Kündigung nach der Kabinettsbildung als eine "Grundsatzentscheidung unabhängig von Personen" bezeichnet. Am liebsten aber nutzt Seehofer Ironie als Hintertürchen. Da kann er später immer noch behaupten, einen Witz gemacht zu haben.

Das Prinzip Wetterfähnchen:

Wirf Grundsätze gelegentlich über Bord. Heute so, morgen so, damit hat Seehofer schon als Bundesminister irritiert, als er zum Beispiel den Genmais in Bayern verbieten, im Rest der Republik aber anbauen lassen wollte. Auch Kabinettsmitglieder berichten, dass sie heute nicht wissen, was morgen seine Meinung sei. Oder die Bauern, denen er beim Kampf um höhere Milchpreise seine Unterstützung zusicherte. Das scheiterte. Jüngst luden ihn die Milchbauern zum Symposium nach Berlin ein - da antwortete er nicht einmal. Selbst eherne CSU-Grundsätze opfert Seehofer problemlos. Dass er einer CSU-FDP-Regierung vorsteht, hat ihm manchen Kurswechsel erleichtert. Jüngst schlug er im Koalitionsausschuss der FDP vor, im Bundesrat gemeinsam gegen das BKA-Gesetz zu stimmen - ein ureigenes Projekt der Union, mit dem sie die Terrorgefahr bekämpfen will. Dafür sollte die FDP die Erbschaftssteuerreform unterstützen, was Seehofer dann als seinen Erfolg hätte verkaufen können. Vor Schreck soll Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in der Runde nach Luft gerungen haben. Hier aber ging Seehofers Rechnung nicht auf: Am Ende enthielt sich Bayern im Bundesrat bei beiden Gesetzen.

Bei Entscheidungen vertraut Seehofer mehr auf sein Gespür als auf Ratschläge und dicke Akten aus der Staatskanzlei. Ausschlaggebend ist für ihn: Was denken die Menschen? Wie kaum ein anderer Politiker analysiert er Umfragen und argumentiert mit ihnen. Außerdem weiß er nach eigenem Bekunden genau, wie die Stimmung im Volk ist. Dafür reichen ihm angeblich schon zehn Minuten Bürgerkontakt.

Das Prinzip Aufopferung:

Lass Dir Deinen Ruhm nicht schmälern. Horst Seehofer rettet Bayern und die CSU ganz uneigennützig. Er sei noch am Leben, sagt er zu seinen ersten 100 Tagen. "Obwohl ich in dieser Zeit wenig gelebt habe." Seine Heldenrolle will er auch als solche verstanden wissen, Kritik verträgt Seehofer schlecht. Richtig empfindlich reagiert er, wenn ihn jemand als Chamäleon bezeichnet oder unberechenbar nennt - wegen dieser Eigenschaften wollten sie Seehofer in der CSU lange nicht als Chef haben. Schreibt es jemand auf, ist er verschnupft. Mit Vorliebe beklagt er sich dann in CSU-Gremiensitzungen über die Medien. Jemand, der ihn gut kennt, sagt über seine Dünnhäutigkeit: "Nur was zutrifft, trifft."

Horst Seehofers Erfolgsrezept: 1. Immer neu anfangen. 2. Immer groß rauskommen. 3. Immer flexibel bleiben. 4. Immer lächeln. Zeichnung: Dieter Hanitzsch

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Unter Bayern

Die Bahn und das Brennholz

Von Hans Holzhaider

Wer in diesen kalten Tagen einen Waldspaziergang unternimmt, der kommt, sofern er zu Hause einen Kaminofen stehen hat, leicht in Versuchung, etwas von dem massenhaft herumliegenden Totholz aufzusammeln, um so den erschreckenden Anstieg der Heizkosten wenigstens ein bisschen abzumildern. Aber Vorsicht! Wie fast alles in Bayern unterliegt auch das Sammeln von Holz in staatlichen Forsten einer Verordnung der Bayerischen Staatsregierung, in diesem Fall der Leseholzverordnung vom 10. Dezember 1986, Aktenzeichen F 2-N140-17. Sie gestattet zwar grundsätzlich jedermann die Aneignung von "dürrem oder angefaulten, nicht für den Verkauf bestimmten Holz", aber nur, wenn es von selbst zu Boden gefallen ist und am stärkeren Ende nicht mehr als zehn Zentimeter Durchmesser hat. Die Benutzung von Handsägen mit mehr als 60 Zentimeter Blattlänge ist untersagt, ferner dürfen zum Abtransport nur durch Menschenkraft bewegte Fahrzeuge benutzt werden.

Der Lokführer der Deutschen Bahn, der sich kürzlich vor dem Amtsgericht Rosenheim verantworten musste, weil er frisch geschlagenes Holz mittels des von ihm gelenkten Regionalzuges abtransportiert hatte, hat also gleich gegen mehrere Bestimmungen der bayerischen Leseholzordnung verstoßen. Der Beamte, der täglich die Chiemgaubahn von Prien nach Aschau und zurück steuert, hatte Arbeiter beobachtet, die entlang der Bahnstrecke Bäume fällten. Die Frage, ob er denn etwas von dem Holz für seinen Kachelofen mitnehmen dürfe, bejahten die Arbeiter großzügig. Der Plan, bei der letzten Fahrt (Prien ab 23.56 Uhr) mal kurz anzuhalten, um das Holz einzuladen, scheiterte, weil dummerweise noch einige Fahrgäste im Zug saßen. Also fuhr der Mann nach Betriebsende kurzerhand mit seinem Zug zurück in den Wald und lud einen Ster Brennholz ein. Sein Pech war, dass irgendein Anwohner sich über den mit laufendem Motor stehenden Zug ärgerte und sich bei der Bahn beschwerte. Dort rechnete man aus - die Bahn nimmt so etwas ja sehr genau - dass für die Fahrt Dieselkraftstoff im Wert von 12,13 Euro verbraucht worden war, und zeigte den Lokführer wegen Diebstahls an.

Die Amtsrichterin hatte aber ein Einsehen und sprach den Mann frei. Obwohl doch einwandfrei feststeht, dass ein Eisenbahnzug kein von Menschenkraft bewegtes Fahrzeug ist und deshalb keinesfalls zum Abtransport von Leseholz benutzt werden darf. Zeichnung: Dieter Hanitzsch

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CSU streitet über Afghanistan

Gauweiler wirft Herrmann "Verantwortungslosigkeit" vor

München - Die Wende der bayerischen Staatsregierung, nach jahrelanger Zurückhaltung nun auch bayerische Polizisten nach Afghanistan zu schicken, ist bei Bund, Ländern und Opposition auf breite Zustimmung gestoßen. Ein Sprecher von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte: "Toll. Willkommen im Kreis der hilfswilligen Länder. Danke für die Unterstützung." Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) begrüßte die Entscheidung. Nun gebe es eine geschlossene Front aller Bundesländer. "Das kann der Sache nur förderlich sein." Noch im Februar will Innenminister Joachim Herrmann dem Landtag seinen Plan vorlegen, etwa 20 freiwillige Polizisten zur Stabilisierung des Landes an den Hindukusch zu schicken.

Innerhalb der CSU hat der Vorstoß zu heftigem Streit geführt. Parteifreund Peter Gauweiler warf dem Innenminister "Verantwortungslosigkeit" vor. "Die Entscheidung ist katastrophal und sachlich nicht zu rechtfertigen", sagte er der SZ. Der bekennende Gegner eines Afghanistan-Einsatzes sieht Generalsekretär Karl Theodor zu Guttenberg als Drahtzieher hinter Herrmanns Entscheidung. Guttenberg sagte: "Ich unterstütze die Entscheidung von Joachim Herrmann sehr. Der raschere Aufbau von einheimischen Polizei- und Sicherheitskräften in Afghanistan ist ein Schlüssel für selbsttragende Stabilität und Selbstständigkeit dieses Staates. Daran haben wir in Deutschland ein vitales Interesse und da können wir Bayern nicht abseits stehen."

Dass der Einsatz gefährlich ist, ist auch in anderen Ländern unbestritten. "Natürlich sind die Gefahren in Afghanistan größer als in Westeuropa", sagt Berlins Innensenator Körting. "Aber ich halte den Einsatz für verantwortbar." Die Bedingungen seien heute gefährlicher als vor zwei Jahren. "Man kann nicht mehr frei in der Landschaft wohnen und seine Aufbauarbeit leisten. Aber wenn die Polizisten im Schutz der Militärstützpunkte leben, ist das machbar."

SPD und Grüne im bayerischen Landtag begrüßten den Schwenk der Regierung. Der SPD-Abgeordnete Harald Schneider, der gleichzeitig Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei ist, sagte: "Wir können nicht so unsolidarisch sein bis bisher. Dieser Aufgabe kann sich Bayern nicht entziehen." Bayerische Polizisten hätten schon im Kosovo gute Arbeit geleistet. "Wir können das."

Auch die Grünen stimmten den Plänen zu. Der Kurswechsel sei längst überfällig, sagte die Landesvorsitzende Theresa Schopper. "Sicherheit in Afghanistan kann nicht alleine mit militärischen Mitteln erreicht werden." Eine funktionierende Polizei sei ebenso nötig wie eine stabile Zivilgesellschaft, so Schopper. "Die Stabilisierung des Landes liegt auch in unserem Interesse. Ich hoffe, dass die Polizisten nach ihrem Einsatz gesund nach Bayern zurück kommen", sagte Schopper. Annette Ramelsberger

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Das war kein Versehen

Jüdische Kultusgemeinde geißelt Papst-Beschluss

Sie haben ihr 60. Jubiläum gefeiert im letzten Jahr, nicht mit einem großen Festakt, sondern mit einer Fortbildung, "um das Geld gut anzulegen", wie der katholische Vorsitzende der "Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit" in München, Pierfelice Tagliacarne, sagt. Nun geht die Gesellschaft in ihr 61. Jahr - und es wird kein leichtes sein: Charlotte Knobloch, die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hatte man im letzten Jahr als Festrednerin bei der "Woche der Brüderlichkeit" gewonnen. Beim diesjährigen Auftakt am 1. März soll Erzbischof Reinhard Marx sprechen. Doch Knobloch hat gerade den Dialog mit der katholischen Kirche vorläufig ausgesetzt. Nun sind die Veranstalter der Woche verunsichert, was das für sie bedeutet.

Knobloch reagierte mit ihrer Ankündigung auf eine Entscheidung von Papst Benedikt XVI., der am vergangenen Wochenende die Exkommunikation des Traditionalisten-Bischofs und Holocaust-Leugners Richard Williamson aufgehoben hatte. Der zur "Priesterbruderschaft Pius X" gehörende Bischof hatte behauptet, dass nie Juden in Gaskammern ermordet worden seien. Die Aufhebung der Exkommunikation hatte bei Juden weltweit für Empörung gesorgt, und Knobloch hat nun einen Schritt getan, den der katholische Theologieprofessor Tagliacarne "gut nachvollziehen kann", wie er sagt. Und doch hofft er, dass nur das "offizielle Gespräch" betroffen ist, nicht aber die Zusammenarbeit an der Basis.

Die Hoffnung, dass ihr Dialog hier weitergehe, teilt auch Abi Pitum. Pitum ist Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde in München und zugleich der jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, deren Homepage mit dem Satz beginnt: "Wir hören zu und reden miteinander". Was die Versöhnung mit den Christen anbelangt, sei man in München eigentlich "auf einem optimalen Weg", sagt Pitum. Kardinal Friedrich Wetter genieße große Wertschätzung, und auch mit seinem Nachfolger Reinhard Marx habe man gute Erfahrungen gemacht. Dass Marx sich rasch und unmissverständlich von Williamson distanziert hat, honorieren die jüdischen Gesprächspartner. "Und für seinen Chef kann er ja nichts", sagt Pitum, der dem Papst einen "großen Mangel an Sensibilität" bescheinigt. Was hier passiert sei, gehe über einen Fauxpas hinaus. Pitum spricht von einer "Prioritätensetzung": "Offensichtlich sind dem Papst Antisemiten wichtiger als der Dialog mit uns Juden." Nun müssten Taten folgen, findet Pitum: Der Papst solle seinen "historischen Fehler" einräumen und die Aufhebung der Exkommunikation Williamsons rückgängig machen.

An ein Versehen glaubt man in der Jüdischen Kultusgemeinde nicht. Die antisemitische theologische Ausrichtung der Piusbruderschaft sei schließlich bekannt. Auf deren Internetseite ist ein Vortrag von Franz Schmidberger zu finden. Der Distriktobere des deutschen Sektion verbreitet darin die These, wonach "die Juden unserer Tage . . . des Gottesmordes mitschuldig" seien, "solange sie sich nicht durch das Bekenntnis der Gottheit Christi und die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzieren". Solange sie also nicht Christen werden. Eine theologische Einstellung, die nicht nur Tagliacarne "empörend" findet. Monika Maier-Albang

Charlotte Knobloch, hier mit Erzbischof Reinhard Marx, erwartet vom Vatikan "ein klares Signal". Foto: rob

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Nobelpreisträger Mößbauer wird 80

Wer den Nobelpreis bekommt, kann oft schon auf ein ganzes Forscherleben zurückblicken. Rudolf Mößbauer dagegen war 32, als er 1961 die begehrteste aller Wissenschaftsauszeichnungen bekam. Die entscheidende Entdeckung dafür hatte der Physiker bereits vier Jahre früher gemacht, noch während der Arbeit für seine Promotion, die er an der Technischen Hochschule ablegte, der jetzigen TU München. An diesem Samstag wird der 1929 in München geborene Wissenschaftler 80 Jahre alt.

Auch nach mehr als 50 Jahren ist die Entdeckung des damals jungen Physikers, der "Mößbauer-Effekt", noch aktuell. Mößbauer untersuchte die Emission und Absorption von Gammastrahlen durch Atomkerne. Physiker hatten zunächst erwartet, dass die Kerne die elektromagnetische Strahlung, die sie zuvor aufgenommen haben, mit der gleichen Energie wieder abgeben. Bei energiereicher Gammastrahlung aber erfahren sie einen Rückstoß, mit dem ein Teil der Energie verlorengeht. Wenn die Kerne aber fest in ein Kristall eingebunden und stark gekühlt sind, bleibt der Rückstoß aus. Aufgenommene und abgegebene Gammastrahlung haben dieselbe Energie.

Dieser Effekt ist nicht nur eine akademische Angelegenheit, er ist Grundlage einer in der Forschung gebräuchlichen Messmethode, um die Beschaffenheit von Materialproben zu analysieren. Selbst die Marsroboter "Spirit" und "Opportunity" haben entsprechende Apparate an Bord.

Mößbauer studierte von 1949 an Physik und promovierte 1958 bei Heinz Maier-Leibnitz, dem "Vater des Atomeis", an der TH München. Als er zusammen mit Robert Hofstadter den Physik-Nobelpreis bekam, forschte er bereits am renommierten California Institute of Technology in Pasadena. 1964 kam er zurück an die Technische Universität, als Leiter des neuen Physik-Departments. 1972 ging er Direktor an das Institut Laue Langevin nach Grenoble, um 1977 abermals an die TU München zurückzukehren und dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1997 die Forschung an Neutrinos auszubauen. Martin Thurau

Rudolf Mößbauer. Foto: Dorner/TUM

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Verdi legt Nahverkehr zwölf Stunden lahm

Am Dienstag stehen in München sämtliche Tram- und U-Bahnen still - lediglich einige Busse sind im Einsatz

Von Dominik Hutter

München - Es empfiehlt sich, schon einmal das Fahrrad startklar zu machen - oder alle Termine abzusagen: Am Dienstag streiken die Mitarbeiter der MVG. Zwischen Betriebsbeginn und 15.30 Uhr werden in München weder U-Bahnen noch Trambahnen fahren. Die Verkehrsbetriebe organisieren zwar ein Bus-Notnetz, allzu große Erwartungen an dieses Flickwerk sollte aber niemand hegen.

Zwölf Stunden soll der Warnstreik dauern, zu dem die Gewerkschaft die gut 2800 Mitarbeiter der MVG aufgerufen hat: Bus-, Tram- und U-Bahnfahrer ebenso wie die Mitarbeiter der Leitstelle, Fahrkartenkontrolleure und das Werkstättenpersonal. Dies reicht, daran zweifelt nicht einmal die MVG, in jedem Fall locker aus, um U-Bahn und Tram bis zum Nachmittag komplett lahmzulegen. Lediglich mit Bussen kann ein Notnetz zusammengebastelt werden - knapp die Hälfte des Linienverkehrs wird von privaten Unternehmern beigesteuert, deren Beschäftigte mit dem aktuellen Arbeitskampf nichts zu tun haben. Die 200 privaten Busse werden sich daher am Dienstag als einzige durch den mutmaßlich äußerst zähen Stadtverkehr quälen. MVG-Chef Herbert König betont allerdings, dass dies lediglich ein "Tropfen auf den heißen Stein" sei - etwa zehn Prozent der sonstigen Fahrgastkapazität. Trambahnen und vor allem die U-Bahn seien durch Busse nicht zu ersetzen. "Wir versuchen einfach, das Bestmögliche für die Kunden zu machen."

Aber auch nach Streikende sollte sich niemand auf strikte Fahrplantreue verlassen. Es dauert seine Zeit, das gut 600 Kilometer umfassende MVG-Netz wieder in Betrieb zu nehmen. König rechnet damit, dass auch im abendlichen Berufsverkehr noch Streikfolgen zu spüren sind. Unklar ist bisher, was die Kollegen von der Deutschen Bahn, die sich ebenfalls in einem Tarifstreit befinden, am Dienstag vorhaben. Transnet-Vorstandsmitglied Martin Burkert wollte am Freitag nicht ausschließen, dass auch im Regional- oder gar S-Bahn-Verkehr gestreikt wird, falls die Verhandlungen weiterhin unbefriedigend verlaufen. Bisher sei jedoch nichts geplant, und man werde sich sehr sorgfältig überlegen, ob ein derart krasser Schritt zu verantworten ist.

Der MVG-Streik wird hingegen von der Gewerkschaft Verdi organisiert, die 9,5 Prozent mehr Geld und eine Erhöhung der Schichtzuschläge fordert. "Die Beschäftigten haben es verdient, für gute Leistung auch gutes Geld zu bekommen", erklärt Verdi-Fachbereichsleiter Frank Riegler. Die Arbeitgeber hätten bisher nur einen Inflationsausgleich angeboten. Die Verhandlungen sollen am Donnerstag weitergehen. Auf der Arbeitgeberseite herrscht Verwunderung über den harten Kurs bei Verdi. "Es ist sehr ungewöhnlich, dass nach einer ersten kurzen Verhandlungsrunde die Gewerkschaft schon einen Warnstreik durchführt", findet Stadtwerke-Personalgeschäftsführer Reinhard Büttner, der die Verhandlungen für den kommunalen Arbeitgeberverband führt.

Nach Verdi-Angaben verdient ein U-Bahn-Fahrer derzeit im Schnitt rund 2100 Euro brutto, dazu kommen dann noch einige Zuschläge. Das Realeinkommen sei aber in den vergangenen Jahren gesunken, da die vereinbarten Einmalzahlungen nie ausgereicht hätten, die unerwartet hohe Inflationsrate auszugleichen. MVG-Chef König will die Gespräche zwar nicht kommentieren, weist aber ausdrücklich darauf hin, dass die Personalkosten über die Fahrgeldeinnahmen finanziert werden müssten.

U-Bahnen und Trambahnen bleiben am Dienstag im Depot. Foto: Haas

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Tödliche Kollision auf der Skipiste

München - Die Serie von schweren Skiunfällen reißt nicht ab: Am Donnerstag ist ein 73-jähriger Münchner auf einer Skipiste im österreichischen Lech mit einem anderen Skifahrer zusammengestoßen und zwei Stunden später im Krankenhaus gestorben. Der Mann hatte zunächst den Rettungskräften versichert, ihm fehle überhaupt nichts. Der zweite Skifahrer erlitt schwere Verletzungen, er ist aber außer Lebensgefahr.

Beide Skifahrer waren nach Angaben der Polizei ohne Helm unterwegs, als der Unfall passierte: Der Münchner wollte gegen 14.40 Uhr zur Talstation Steinmähderbahn und musste dazu die Piste queren, um nach Zug abzufahren. Dabei kollidierte er mit dem 57-jährigen Skifahrer aus Deiningen, der ebenfalls zur Talstation unterwegs war. Nach dem Unfall waren Pistenretter sofort zur Stelle und kümmerten sich um die Männer. Während der 57-Jährige mit Verdacht auf eine Gehirnerschütterung und eine Wirbelsäulenverletzung für den Abflug mit dem Hubschrauber vorbereitet wurde, versicherte der Münchner, ihm gehe es gut, er habe keine Schmerzen. "Er wollte unbedingt weiterfahren und sich im Tal bei der Polizei melden", sagt Revier-Inspektor Klaus Studer von der Lecher Polizei. Ein Pistenretter habe wohl ein ungutes Gefühl gehabt und den Münchner beobachtet. Als dieser auffällig langsam fahrend fast schon im Tal war, schickte der Retter zwei Ersthelfer hinterher. Die Sanitäter ordneten kurzerhand die Einlieferung ins Krankenhaus an. Dort starb der 73-jährige kurz darauf. Am Montag, so sagt Studer, werde die Leiche obduziert, um die Todesursache festzustellen. Derweil sucht die Polizei noch Unfallzeugen. Denn der andere am Unfall Beteiligte kann sich an nichts mehr erinnern. wim

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Scheidungstourismus lohnt sich nicht

München - Zur Scheidung ins Ausland zu fahren, rechnet sich für deutsche Ehepaare finanziell in der Regel nicht. Darauf hat Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) hingewiesen. Scheidungen im Ausland außerhalb der EU würden meist in Deutschland nicht anerkannt. Innerhalb der EU sei außer in Dänemark zwar keine Anerkennung nötig, allerdings sei die Scheidung beim Kurzaufenthalt kaum möglich. 2008 Jahr wurden laut Ministerium in Bayern mehr als 1200 Anträge auf Anerkennung ausländischer Scheidungen gestellt. dpa

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"Gott Markt ist bankrott"

São Paulo/Belém - Staatspräsidenten aus Südamerika haben beim Weltsozialforum einen ungebändigten Kapitalismus als Hauptursache der schweren internationalen Wirtschaftskrise angeprangert. "Die Krise entstand, weil während der 80er und 90er Jahre die Logik galt, der Staat könne nichts, und der ,Gott Markt' werde das Land entwickeln und soziale Gerechtigkeit schaffen", sagte Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva in der Nacht zum Freitag in einer Diskussionsrunde in der brasilianischen Amazonas-Stadt Belém. "Dieser ,Gott Markt' ist wegen fehlender Kontrolle und Unverantwortlichkeit bankrott gegangen." An der Veranstaltung nahmen auch die linksgerichteten Staatschefs Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Lugo (Paraguay) teil.

Chávez bezeichnete das Sozialforum mit seinen 2600 Veranstaltungen und 100 000 Teilnehmern als Ort, an dem die Grundzüge einer neuen Welt skizziert würden. "Während sich in Davos die Welt versammelt, die stirbt, trifft sich hier in Belém die Welt, die geboren wird", sagte er mit Blick auf das parallel in Davos in der Schweiz stattfindende Weltwirtschaftsforum. Correa kritisierte die bestehende Wirtschaftsordnung als "perverses System, das auf Gier basiert". Das Weltsozialforum sei Teil der Lösung. Neben den Staatsgästen mahnten mehrere renommierte Soziologen, darunter der Brasilianer Michael Löwy und der Portugiese Boaventura de Souza Santos, eine radikale Neugestaltung der globalen Wirtschaftsordnung an.

De Souza Santos drängte die Forumsteilnehmer zu konkreten Vorschlägen. "Wenn wir keine Lösung geben, dann kommt sie aus Davos mit mehr Kapitalismus und weniger Rechten. Wir (das Weltsozialforum) treffen uns seit 2001, und es waren nicht wir, die den Neoliberalismus besiegt haben - er hat Selbstmord begangen", sagte der Freund Lulas mit Blick auf die Finanzkrise. Löwy warnte vor den drastischen Umweltschäden eines ungebremsten Kapitalismus: "Wir bewegen uns mit sehr großer Geschwindigkeit auf eine ökologische Katastrophe zu, und die Wurzel des Problems ist das kapitalistische System selbst." Dabei sei nicht nur der Planet Erde in Gefahr, der möglicherweise weiter existieren werde. "In Gefahr ist vor allem die derzeitige Zivilisation", sagte Löwy.

Zivilisation in Gefahr

Das Weltsozialforum findet zum fünften Mal in Brasilien statt und versteht sich als eine Art Gegengipfel zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Die durch die Abholzung der Wälder bedrohten Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung im Amazonas und die Finanzkrise sind Hauptthemen des sechstägigen Treffens, das bis zu diesem Sonntag andauert. Das Forum bietet Globalisierungsgegnern, Professoren, Studenten, Gewerkschaftern sowie Vertretern von Gruppen unterschiedlichster Herkunft eine Plattform zum Ideenaustausch. dpa

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Al Gore: Obama will Umwelt schützen

Davos - Die neue US-Regierung ist nach Ansicht des früheren amerikanischen Vizepräsidenten und Nobelpreisträgers Al Gore wie keine zuvor dem Umwelt- und Klimaschutz verpflichtet. "Präsident Barack Obama ist die grünste Person im Oval Office und drängt hart auf einen dramatischen und mutigen Ruck in die richtige Richtung", sagte Gore am Freitag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. "Wenn andere Regierungen dem folgen, können wir den Wechsel zu einer kohlenstoffarmen Zukunft schaffen." Auch das gerade verabschiedete US-Konjunkturpaket weise in diese Richtung, sagte Gore. Die Vereinigten Staaten seien bereit, die Weltgemeinschaft in das Programm gegen die Klimakrise mit einzubeziehen. dpa

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Jeder in seiner Kaste

Das Weltwirtschaftsforum ist auch deswegen so erfolgreich, weil es die Teilnehmer in unterschiedliche Klassen einteilt

Von Gerd Zitzelsberger

Davos - Kerzengerade steht er da. Klaus Schwab macht keinen Bückling, auch nicht vor Wladimir Putin, als er diesem die Hand schüttelt. Schwab ist Gründer und Chef des Weltwirtschaftsforums (WWF). Er schafft, was keiner seiner vielen hochrangigen Gäste, den russischen Regierungschef eingeschlossen, zuwege bringt: Alle reden sie bei dieser 39. Jahrestagung über Finanzierungsschwierigkeiten, Verschuldung und Kursverfall, über die Krise eben. Nur Schwabs "Unternehmen", die Stiftung Weltwirtschaftsforum, kennt keine Krise. Sie ist das Paradebeispiel dafür, dass man in schlechten Zeiten sogar noch bessere Geschäfte machen kann als in guten - wenn man nur die richtige Geschäftsidee hat.

Schon in der Vergangenheit ist das WWF zuletzt jedes Jahr zweistellig gewachsen, wobei immer ein Gewinn übrig blieb. Im Wirtschaftsjahr 2007/08 etwa stieg der Umsatz um 18 Prozent, und das WWF mit seinen 300 Mitarbeitern kommt mittlerweile auf Einnahmen von 90 Millionen Euro, die Tochterstiftung in den USA noch nicht mitgerechnet. Im laufenden Jahr dürfte das Umsatzplus noch höher ausfallen, denn nie zuvor war der Andrang der Wirtschaftselite so stark. Dabei ist die Präsenz in Davos für die Manager teuer. Die Teilnehmergebühren sind noch der kleinste Posten. Daneben empfiehlt sich als Erstes eine WWF-Mitgliedschaft - mit einem Jahresbeitrag von gut 28 000 Euro -, um überhaupt zugelassen zu werden. Rechnet man noch die Spesen für das Hotel, einen Empfang und ähnliches dazu, dann summiert sich die Gesamtrechnung auf ein Vielfaches der Teilnahmegebühr. "Aus unserem Haus fahren jedes Jahr fünf Vorstandsmitglieder zur Tagung, und alles in allem kostet uns das um die 400000 Euro", heißt es etwa beim Schweizer Technologiekonzern ABB.

Zwar sparen die Unternehmen inzwischen auch bei ihrer WWF-Teilnahme: Der Kaviar ist bei fast allen Partys gestrichen, klagen die Davoser Hoteliers. Statt Dom Pérignon dürften nur noch Laurent Perrier oder andere etwas billigere Champagner-Marken serviert werden. Und die Investmentbank Goldman Sachs hat ihre Fete, die früher als einer der geheimen Höhepunkte des Treffens galt, ganz abgesagt. Aber teilnehmen wollen die Manager auf jeden Fall, und dafür ist dann auch in der Krise genug Geld da.

Reise nach China gespart

Sie kommen in erster Linie, weil sie dort in kurzer Zeit viele Geschäftspartner treffen können. "Unser Vorstandsvorsitzender hat sich eine China-Reise gespart, weil er in Davos ein Gespräch mit Premierminister Wen Jiabao hatte", heißt es bei ABB - damit allein hat sich schon der halbe Aufwand gelohnt. Auf einer der vielen Paneldiskussionen aufzutreten, die für alle Teilnehmer zugänglich sind, ist für die Top-Manager dagegen eher eine lästige Pflichtübung.

Für einen Großteil der Teilnehmer verhält es sich ein bisschen anders: Sie genießen es durchaus, bei den Diskussionen den Hauch der Geschichte zu spüren, wenn etwa Angela Merkel auftritt oder Putin plötzlich der Rüstungsbegrenzung das Wort redet. Nicht zuletzt kommen aber viele Manager vor allem deswegen, weil Schwab die Illusion verkauft, in Davos könne man eben jeden treffen, mit Bill Gates ein Bier trinken und von Joe Ackermann zwischen Tür und Angel dessen private Einschätzung der Börsenlage erfahren. Doch für Spontan-Begegnungen ist der Terminkalender der Top-Bosse viel zu voll. Überdies ist Schwab ein Meister der Hierarchisierung: So gibt es inzwischen eine "CEO-Zone". Zutritt dazu haben nur Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen.

Und eine ausgewählte Schar hat auf der Rückseite ihrer Teilnehmer-Ausweise einen kleinen goldenen Ring aufgedruckt: Er öffnet Türen, die den meisten verschlossen bleiben. In Wirklichkeit bleibt man also auch beim WWF unter sich - jeder in seiner Kaste. Aber selbst wenn man nur zum Fußvolk des WWF gehört, ist dies immer noch ein beeindruckenderes Kastensymbol als die Rolex am Handgelenk.

An Stehtischen werden in Davos wertvolle Kontakte geknüpft. Foto: Reuters

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Weniger Geld für grünen Strom

Technologiefirma Oerlikon fordert daher Hilfen für Öko-Energie

Von Gerd Zitzelsberger

Davos - Die Wirtschaftskrise macht den Durchbruch für erneuerbare Energien schwieriger. Nach einem Bericht, den die Organisatoren des Weltwirtschaftsforums (WWF) in Davos vorgestellt haben, ist es 2008 im Gefolge der Krise erstmals seit vielen Jahren zu einem Rückgang der Investitionen in die "grüne Energieproduktion" gekommen. Im vergangenen Jahr wurden danach weltweit 142 Milliarden Dollar, umgerechnet 108 Milliarden Euro, in Windräder, Sonnenstrom oder etwa Biomasse-Kraftwerke investiert. Das ist zwar viermal so viel wie 2004, aber gegenüber 2007 bedeutet es einen Rückgang um vier Prozent.

"Selbst Kunden mit an sich rentierlichen Projekten haben derzeit Schwierigkeiten, sie zu finanzieren", sagte dazu Uwe Krüger, der Vorstandsvorsitzende des Schweizer Technikkonzerns OC Oerlikon, am Rande des Weltwirtschaftsforums. Oerlikon ist der weltweit führende Hersteller von Anlagen für die Produktion sogenannter Dünnschicht-Solarmodule, die Sonnenlicht in Strom umwandeln. Die Solartechnik ist nach Einschätzung der WWF-Organisatoren derzeit die am schnellsten wachsende Sparte unter den erneuerbaren Energieträgern. Gemessen am Investitionsvolumen aber liegt die Windenergie weiterhin in Führung. Eine generelle Kreditklemme gibt es nach Krügers Beobachtungen aber nicht. Deshalb biete die Krise auch Chancen für alternative Energie: "Staatliche Konjunkturprogramme müssen doch nicht unbedingt nur zu neuen Straßenbelägen führen. Mit dem Geld lässt sich auch der Umbau zu Gesellschaften mit geringerem Kohlendioxid-Ausstoß vorantreiben." Auf diese Weise ließen sich, so Krüger, zwei zentrale Herausforderungen gleichzeitig anpacken: das Schaffen neuer Hightech-Jobs einerseits und die Verlangsamung des Klimawandels andererseits.

Der drastische Rutsch der Ölpreise seit dem Sommer ändere nichts daran, dass die Welt den Verbrauch fossiler Rohstoffe reduzieren müsse. Der niedrige Preis spiegele nicht die Belastung der Umwelt mit Kohlendioxid wider, das beim Verbrennen von Öl und Kohle entsteht. Zudem stehe speziell die Solartechnik erst am Anfang ihres großtechnischen Einsatzes. Sie habe noch "ein unglaubliches Potential an Kosteneinsparungen", sagte Krüger. Er erwartet, dass die Technik, jedenfalls an manchen Standorten, bereits 2011 die sogenannte Netz-Parität erreicht. Das bedeutet, dass Solarstrom nicht mehr teurer wäre als Strom aus herkömmlichen Kraftwerken. Einen Sprung nach vorne hätten alternative Energieformen vor allem in China und einigen Golfstaaten gemacht.

In einem Punkt allerdings warnt Krüger vor zu großen Hoffnungen: Um den Bau neuer Atomkraftwerke komme die Welt bei aller Förderung des "grünen Stroms" nicht herum.

Oerlikon-Chef Uwe Krüger hält Atomkraft für unverzichtbar. Foto: Reuters

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Merkel macht Tempo, Putin macht Ärger

Die Kanzlerin ruft dazu auf, rasch neue Regeln für den Finanzmarkt aufzustellen. Der Russe fertigt wichtige Manager schroff ab

Von Marc Beise

Davos - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) drängt bei der Suche nach neuen internationalen Regeln zur Verbesserung des Finanz- und Wirtschaftssystems zur Eile. Bei einer Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kündigte sie am Freitag verschiedene Initiativen an. So hat sie bereits für die kommende Woche die Chefs von fünf maßgeblichen internationalen Organisation nach Berlin eingeladen: vom Internationalen Währungsfonds (IWF), von der Weltbank, der Welthandelsorganisation (WTO), der Industrieländer-Organisation OECD und der Weltarbeitsorganisation ILO. Diese Institutionen müssten verstärkt zusammenarbeiten, dabei gebe es noch Defizite, sagte Merkel.Auch will die Kanzlerin vor dem Treffen der 20 wichtigsten Staaten (G 20) im April in London die europäischen Regierungschefs nach Berlin bitten, um eine gemeinsame Linie vorzubesprechen.

Merkel war nur für wenige Stunden nach Davos gekommen, um sich in die Reihe der mehr als 40 Regierungschefs aus aller Welt einzureihen, die bis Sonntag Davos ihre Aufwartung machen. Merkel nahm im Anschluss an ihre Rede an einer hochkarätigen Diskussionsrunde von Notenbankchefs und amerikanischen Professoren teil.

Die Welt komme um neue verbindliche Regeln nicht herum, hatte Merkel zuvor im Podium gesagt. Dies bedeute auch das Aufgeben von Macht. Merkel nannte die Europäische Union als Vorbild. Auch Deutschland habe sich daran gewöhnen müssen, Kompetenzen abzugeben - und davon profitiert. Ebenso müssten nun weltweite Vereinbarungen gefunden werden. Diesem Lernprozess werde sich kein Staat entziehen können, "auch die Großen nicht". Merkel betonte zugleich die Grenzen staatlichen Einflusses. Die Marktwirtschaft bleibe der Motor des Wachstums. Staatliche Hilfen müssten die Ausnahme bleiben. Sie sehe es mit "Misstrauen", wenn die USA jetzt Subventionen in ihre Autoindustrie steckten. Dies dürfe nicht lange andauern.

Die Kanzlerin bekräftigte ihren Vorschlag, einen Weltwirtschaftsrat bei den Vereinten Nationen einzurichten. So wie nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ein Weltsicherheitsrat für Frieden gesorgt habe, müsse nun ein Weltwirtschaftsrat eine Charta nachhaltigen Wirtschaftens beaufsichtigen. Zugleich forderte sie die EU-Partnerländer dazu auf, auch in der Krise die Stabilitätskriterien für die Staatsverschuldung nicht außer Acht zu lassen. In Deutschland seien Nachbesserungen am bisherigen Banken-Rettungsschirm notwendig, sagte Merkel weiter. Ausdrücklich forderte sie die Banken auf, sich ihrer "dienenden Rolle" für die Wirtschaft bewusst zu werden, die sie zeitweise aus den Augen verloren hätten.

Merkels knappe präzise Rede stand in einem deutlichen Kontrast zum Auftritt des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin in Davos. Dieser hatte das Weltwirtschaftsforum am Mittwochabend eröffnet und mit seiner Rede eher gemischte Reaktionen hervorgerufen. Putin begann mit grundsätzlichen Ausführungen zur Weltfinanzkrise, verlor sich dann aber in Details der Wirtschafts- und Energiepolitik. In der anschließenden Podiumsdiskussion blaffte er den US-Computer-Unternehmer Michael Dell an, als dieser sich nach dem Stand der russischen Infrastrukturentwicklung erkundigte. Am selben Abend düpierte er russische und internationale Gäste eines eigens von ihm einberufenen Empfangs, als er diesem ohne Entschuldigung fernblieb. Am Tag darauf zeigte er sich bei einem nichtöffentlichen Treffen mit etwa 70 Konzernchefs aus aller Welt erneut schlecht gelaunt. An der Runde nahmen auch Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und andere deutsche Konzernlenker teil. Fragern beschied Putin in der Runde, sie sollten sich um ihre eigenen Probleme kümmern und sich nicht den Kopf über Russland zerbrechen. Putins Auftritt hinterließ die Manager konsterniert. "Im Grunde hätten wir aufstehen und gehen sollen", hieß es später aus dem Kreis der Teilnehmer - eine Option, die aber niemand auszuführen wagte.

Spitzentreffen in Davos: Politiker und Konzernchefs suchen nach Auswegen aus der Krise

Die Kanzlerin in Davos: Angela Merkel redete später als geplant, weil sie in Berlin erst noch über die Rettung der Banken beraten musste. Foto: AFP

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Ein Platz im Schatten

Die Soziallotterien von ARD und ZDF sind gefährdet, weil der Staat den Losverkauf im Internet massiv einschränkt

Von Alexander Mühlauer

München - Glücksspiel ist in Deutschland Staatssache. Kein Wunder, es bringt ja auch genügend Geld in die Kassen; Geld, das sich die Bundesländer nicht entgehen lassen. Sie sind es, die über Lotto und Toto, Sportwetten und Kasinos wachen. Auch die gemeinnützigen Fernsehlotterien "Ein Platz an der Sonne" (ARD) und "Aktion Mensch" (ZDF) stehen unter der Kontrolle der 16 Länder. Lange Zeit verdienten die beiden Soziallotterien sehr gut. Doch jetzt sind sie gefährdet. Seit 1. Januar dürfen sie ihre Lose nur noch unter strengen Auflagen im Internet verkaufen.

"Unser Auftrag, möglichst viel Geld für soziale Projekte zu erspielen, ist stark in Gefahr", sagt Christian Kipper, Geschäftsführer der ARD-Fernsehlotterie. Er befürchtet massive Einbrüche beim Losverkauf. Wie es aussehe, werde die ARD-Einrichtung in Zukunft 20 bis 30 Prozent weniger Geld an gemeinnützige Hilfsprojekte zur Verfügung stellen können. Auch die Aktion Mensch leidet unter dem Eingriff der Länder. "Unser Modell wird in Frage gestellt", sagt Geschäftsführer Dieter Gutschick.

Grund für die Aufregung: Die Bundesländer haben ein neues Glücksspielrecht erlassen, das seit 1. Januar gilt. Es soll die Bürger davor schützen, ihr Geld zu verzocken. Das Gesetz wurde nun auch auf das Internet ausgedehnt. Wie viele Spielsüchtige es in Deutschland gibt, weiß keiner so genau. Die Zahlen schwanken bei den pathologisch Kranken zwischen 100 000 und 290 000, bei den sogenannten problematischen Fällen sind es bis zu 340 000 Menschen. Die Frage ist, ob auch die beiden Soziallotterien die Glücksspielsucht fördern. Gutschick reagiert empört: "Wer bei uns Lose bestellt, wird bestimmt nicht süchtig."

Der Grund für das rigide Vorgehen der Ministerpräsidenten ist ziemlich banal. Sie wollen ihr Glücksspiel-Monopol schützen, auf die jährlichen Milliardeneinnahmen will kein Bundesland verzichten. Lange Zeit haben die Länder das Thema Spielsucht vernachlässigt, sie haben lieber kassiert. Nun scheren sie, aus Angst um ihre Lotto-Milliarden, alle Lotterien über einen Kamm. Auch die gemeinnützigen Einrichtungen.

Dabei funktionierte das Geschäftsmodell der Fernsehlotterien gut. Die beiden TV-Lotterien verkaufen dank Sendungen wie "Wetten, dass . . . ?" jedes Jahr mehr als eine halbe Milliarde Euro Lose. Der größte Teil der Erlöse fließt in die Kinder- und Jugendhilfe oder kommt alten Leuten und Behinderten zugute. Etwa ein Drittel der Einnahmen wird als Gewinn ausgeschüttet, als Preise gibt es Bargeld oder Eigenheime. Auch die Bundesländer kassieren mit, sie streichen eine Lotteriesteuer ein. Die Organisation und Verwaltung der beiden Fernsehlotterien kosten das wenigste Geld. Getragen werden die TV-Lotterien von ARD und ZDF sowie der Arbeiterwohlfahrt, dem Caritasverband und dem Roten Kreuz.

Jetzt ist der Platz an der Sonne in Gefahr. Das Internet ist ein wichtiger Weg, um die Lose zu verkaufen. "15 Prozent der Neukunden kamen bisher übers Netz", sagt Gutschick. Alle Vorteile, die das Internet biete, wische der Staat einfach weg. Wer ein Los bestellen will, dem werde es unnötig schwergemacht, sagt auch Kipper von der ARD. Um nachzuprüfen, ob ein Loskäufer über 18 Jahre alt ist, muss die Lotterie die angegebenen Daten bei der Schufa abgleichen. Wenn alles passt, wird der Online-Besteller angeschrieben, damit er seine Angaben noch einmal bestätigt. Erst dann wird das Los per Einschreiben verschickt, denn nur der Besteller darf das Los in Empfang nehmen. Ist er nicht zu Hause, muss er zur Post. Allein die Portokosten, klagt Kipper, stiegen von 55 Cent auf 4,40 Euro. "Wer bestellt bei diesem Aufwand noch online?", fragt er.

Ilona Füchtenschnieder vom Fachverband Glücksspielsucht hält das Klagen der Soziallotterien für übertrieben: "Die TV-Lotterien sollen mal den Ball flach halten, immerhin sind sie die einzigen Lotterien, die noch Fernsehwerbung machen dürfen." Sie hat nichts gegen die Soziallotterien, schon gar nicht gegen die Hilfen für Bedürftige. Ihr geht es um die Botschaft: "Viele Menschen sagen, wenn es sozial gerade nicht so gut läuft, probier's doch mal mit Glücksspiel." Es ist diese "glücksspielpositive Stimmung", die sie stört. Füchtenschnieder ist der Meinung, dass soziale Aufgaben durch Steuergelder finanziert werden sollten - und nicht durch Glücksspiel.

Eines prangern auch Gutschick und Kipper an: Pferdewetten und das Spielen am Geldspielautomaten fallen nicht unter den Glücksspielstaatsvertrag der Länder. Sie unterliegen der Gewerbeordnung, und um die kümmert sich der Bund. Dabei sei doch erwiesen, so Suchtexpertin Füchtenschnieder, dass der Geldautomat am meisten Glücksspielsüchtige verursache - dagegen seien die Soziallotterien harmlos.

Werbung für die ARD-Fernsehlotterie "Ein Platz an der Sonne" im Jahr 1961.

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Die Mär vom Glückspilz

Wer den Lottoschein ausfüllt, muss ein ziemlicher Träumer sein: Die Wahrscheinlichkeit, den Jackpot zu knacken, liegt bei nur einem 139-Millionstel

Von Alexander Mühlauer

München - Es mag sich ein wenig seltsam anhören, verschroben, übertrieben, aber es ist die reine Wahrheit. Wenn das Lottofieber ausbricht, wenn es eine Gesellschaft erfasst, ist der Traum von Geld und Glück eine kollektive Phantasie. Seit Tagen ist es wieder soweit: Deutschland darf träumen. 35 Millionen sind an diesem Samstag im Jackpot, und im Zentrum aller Lotto-Phantasien steht die Frage, was man mit all dem Geld denn anstellen würde.

Schön blöd, wer da träumt, sagen jene, die gegen das Lottofieber immun sind. Und sie haben ja Recht, ist es doch wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als den Jackpot zu knacken. Die Chance, einmal den großen Reibach zu machen, liegt bei einem 139-Millionstel; das Risiko, vom Blitz erschlagen zu werden bei eins zu 20 Millionen.

Ein Alltagsökonom könnte also durchaus sagen: Wer den Lottoschein ausfüllt, muss schon ein ziemlicher Träumer sein. Selbst wenn ein Spieler auf die richtigen Zahlen setzt, springt der große Millionengewinn oft nicht heraus; meistens muss er sich die Ausschüttung teilen. Den niedrigsten Hauptgewinn für sechs Richtige gab es im Jahr 1984: 16 900 Euro. Und als 1999 mehrere Spieler die fünf Richtigen "2, 3, 4, 5, 6" tippten, bekam jeder Gewinner nur 194 Euro ausgezahlt. Dass dies immer wieder vorkommt, liegt an der Psychologie des Tippens. Eigentlich sind alle Zahlen von 1 bis 49 gleich viel bedeutend und alle Kombinationen daraus gleich wahrscheinlich. Die Menschen denken aber anders, besonders viele tippen am liebsten die Geburtstage ihrer Freunde und Bekannten. So kommt es, dass die Zahlen zwischen 1 und 19 am häufigsten gewählt werden. Das ändert zwar nicht die Gewinnwahrscheinlichkeit, schmälert aber auf jeden Fall die Gewinnsumme.

Viele Spieler wissen das, und versuchen deshalb mit Tippsystemen den Zufall zu überlisten. Sie werten Statistiken aus, um besonders häufige und seltene Zahlen zu ermitteln. Wer das macht, weiß: Die Kugel mit der Zahl 38 ist die bisher am häufigsten gezogene. Am seltensten gewinnt die 13. Unnützes Wissen, denn statistisch betrachtet, ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide Zahlen bei der nächsten Ziehung fallen, stets die gleiche. Glücksspielforscher haben herausgefunden, dass Tippgemeinschaften zwar öfter kleine Summen gewinnen, aber im Durchschnitt sind sie auch nicht erfolgreicher als Einzelspieler.

Legt man rein ökonomische Kriterien an, ist Lottospielen sinnlos. Denn ein Blick auf die Statistik zeigt, dass unter dem Strich bei jedem Glücksspiel ein Verlust bleibt. Der Grund dafür sind die Ausschüttungsquoten, die stets unter 100 Prozent liegen. Für jeden eingesetzten Euro gibt es durchschnittlich weniger als einen Euro heraus. Beim staatlichen Lotto werden nur 50 Prozent der eingezahlten Gelder als Gewinnsumme wieder ausgegeben. Der Rest fließt in Kunst-, Sport- und Kulturförderfonds der Länder. Für den einzelnen Lottospieler bedeutet dies, dass er pro 100 Euro Einsatz im Schnitt nur 50 Euro herausbekommt - letztlich also auf ein ziemlich schlechtes Investment setzt.

Und doch gibt es ihn, den Glückspilz, der den Jackpot knackt. Der Glückspilz, so steht es im Grimmschen Wörterbuch, ist einer, der "wie ein Pilz plötzlich aus dem Nichts aufschießt". Bis ins mittlere 19. Jahrhundert hatte der Emporkömmling und Parvenü einen nicht ganz so guten Ruf. Erst später wurde er als "Glückskind" bekannt, als "jemand, der immer oder in einem besonderen Einzelfalle Glück hat". Vielleicht ist es diese Phantasie, auch einmal Glückspilz zu sein, die zum Lottofieber gehört. Die Vorstellung, am nächsten Tag dem Chef die Kündigung hinzuknallen, sich ein Erste-Klasse-Ticket zu kaufen und irgendwo hinzufliegen, egal wohin, Hauptsache weg. Diesen latenten Eskapismus bedient das Lotteriespiel.

Glücksritter, die eine höhere Auszahlungsquote als die 50 Prozent beim Lotto wollen, sollten ins Kasino gehen. Beim Roulette und beim Kartenspiel Black Jack sieht der Spieler 97 Prozent seines Einsatzes wieder. Dass die Chancen beim Kartenspiel noch höher liegen können, haben drei Statistik-Studenten vom Massachusetts Institute of Technology bewiesen. Wird nur mit einem Kartensatz gespielt, lässt sich die Wahrscheinlichkeit kommender Karten ausrechnen, indem man sich die bereits gezogenen Werte merkt. Mit dem Zählsystem räumten die drei Glückspilze Millionen ab. Solange, bis die Kasinos das merkten und die Regeln änderten.

Ein Land im Lottofieber: Wie klein die Gewinnchancen sind, was der Finanzminister tippt und warum Soziallotterien leiden

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Peer Steinbrück tut es auch

Berlin - Der Fotograf Wolfgang Kumm von der Nachrichtenagentur dpa hatte am vergangenen Donnerstag im Bundestag das Objektiv zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Person gerichtet: Er fotografierte, wie Bundesfinanzminister Peer Steinbrück einen Lottoschein in die Innentasche seines Sakkos steckte. In der Debatte ging es übrigens um das Thema soziale Gerechtigkeit und Bekämpfung von Armut.

Es waren die Fotos des Tages. Sofort gab es Frotzeleien. Tippt Steinbrück im Auftrag seines Ministeriums, um die Milliarden, die dem Bundeshaushalt durch die Bankenkrise verlorengehen, in einem ersten Schritt hereinzuholen?

Am Freitag klärte sich auf, wo der Minister den Lottoschein her hatte: Es handelte sich um ein Geschenk der Brandenburgischen SPD-Landtagsfraktion. Die Abgeordneten sahen das Geschenk als Beitrag zur Eindämmung der explodierenden Staatsschulden. Angekreuzt waren Steinbrücks Geburtsdaten, dazu die Ziffern 27, 09 und 40. Fraktionschef Günter Baaske erläuterte, was es damit auf sich hat: "27. September: 40 Prozent für die SPD." Am 27. September 2009 ist die Bundestagswahl und in Brandenburg Landtagswahl.

Doch der 28-Millionen-Jackpot wurde am Mittwoch nicht geknackt. Für den Staatshaushalt hätte es ohnehin nicht viel gebracht: Bei der Staatsverschuldung von 1,5 Billionen Euro müsste Steinbrück den Jackpot gut 50 000-mal gewinnen, um schuldenfrei zu sein. hf/dpa

Foto 1: Peer Steinbrück nestelt in der Innentasche seines Sakkos. Foto 2: Auf einem Papier steht "Einfach in Rente". Foto 3: Die Rückseite des Papiers - es handelt sich um einen ausgefüllten Lottoschein. Fotos: dpa

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Big Sugar ist Geschichte

Auch das ist das neue Amerika: Florida schließt die Zuckerindustrie, um die einzigartige Natur der Everglades zu retten. Doch viele verlieren Arbeitsplatz und Heimat

Von Moritz Koch

Clewiston - Amerikas süßeste Stadt verspricht das Schild am Straßenrand. Doch Clewiston, das Zentrum der amerikanischen Zuckerindustrie, ist ein Ort der Bitterkeit. Der Weg führt vorbei an Fast-Food-Restaurants und verlassenen Motels. Nur in Brenda's Place ist etwas Leben. Ein paar Gäste spielen Billard, andere vertreiben sich die Abendstunden vor dem Fernseher und kippen Wodka hinunter, verdünnt mit Diet Coke. Leuchtreklamen tauchen die Bar in fahles Blau. Die Wand hinter dem Tresen ziert ein gerahmter Spruch: "Alle Gäste machen uns froh. Die einen, wenn sie kommen. Die anderen, wenn sie gehen."

George und Elaine scheinen willkommen zu sein. Missy, die wuchtige Barfrau, ist gerade damit beschäftigt, den beiden Drinks zu mixen. Jahrelang haben George und Elaine in der Landwirtschaft Clewistons gearbeitet. Sie als Lkw-Fahrerin, er auf den riesigen Feldern, die sich im Süden der Stadt ausbreiten. Doch das ist lange her. Sie haben ihre Jobs verloren und sind fortgezogen. Nur noch in den Ferien kommen sie zurück in die Heimat. Elaine wickelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger und sagt: "Die Leute sagen, dass Clewiston stirbt. So ein Quatsch. Es ist längst tot."

Dass man überhaupt noch spricht von Clewiston in diesen Tagen, hat nur einen Grund. Floridas Gouverneur Charlie Crist will die US Sugar Corporation verstaatlichen, den größten Arbeitgeber der Stadt. Nicht um das Unternehmen zu retten, sondern um es zu schließen. Die Felder sollen dem Umweltschutz geopfert werden, mitsamt den 1700 Arbeitsplätzen. Wer auch immer in Clewiston gehofft hatte, dass die Krise der Zuckerindustrie vorbeigeht, dass das Geschäft wieder anspringt, dass die Investitionen in moderne Erntemaschinen den Kostenvorteil der mexikanischen Konkurrenten ausgleichen werden, hat jetzt Gewissheit: Big Sugar ist Geschichte.

Verraten und verkauft

"Die Stadt und der Konzern, früher war das eins", sagt Butch Wilson. Seine Haut ist fast so grau ist wie sein Hemd. Auch Wilson hat für US Sugar gearbeitet, 32 Jahre lang. "Doch sie haben mich fallen lassen, so wie sie die ganze Stadt fallen gelassen haben", sagt er. Dass die Konzernführung dem Verkauf zugestimmt hat, empfindet Wilson als Verrat. "Das Unternehmen ist eine Legende. Es überlebte Hurrikane, die Hetze von Umweltschützern, selbst die Große Depression. Und jetzt machen sich die Eigentümer aus dem Staub, einfach so."

Wilson hat als Direktor des kleinen Museums von Clewiston neue Arbeit gefunden. Hin und wieder führt der alte Mann Touristen vorbei an Erntemaschinen und Fotos, Dokumente einer Zeit, als in Clewiston noch Zuversicht herrschte. In den 50er Jahren fingen Weltkriegsveteranen und schwarze Landarbeiter auf den Zuckerplantagen Floridas ein neues Leben an. US Sugar versprach ihnen Arbeit, gutes Geld und ein eigenes Haus. Das Geschäft lief prächtig, und als die USA 1962 ein Embargo gegen Kuba verhängten, begann ein Boom. Washington stellte fest, dass es eigene Zuckerbarone brauchte und so hatte US Sugar leichtes Spiel, dem Kongress Subventionen abzufordern. Die Kleinstadt Clewiston erlebte goldene Jahre. Wilson schwärmt von jener Zeit. "Das Unternehmen war so unwahrscheinlich nobel damals. Jeder Arbeiter, der in den Ruhestand ging, durfte in den firmeneigenen Siedlungen wohnen bleiben, kostenlos."

Doch die Blüte der Plantagen vergiftete die Natur. Die Everglades, ein einzigartiges Feuchtgebiet, das Land und Leben in Florida jahrtausendelang geprägt hatte, schrumpfen. Bevor die ersten Weißen in dieses mücken- und alligatorenverseuchte Gelände vordrangen, als nur einige Indianer in den Sümpfen wohnten, erstreckten sich die Everglades auf einer Fläche fast so groß wie Thüringen. Es gab unzählige Fischarten, Wasservögel und wilde Tiere - das Gebiet war ein Refugium des ursprünglichen Amerikas.

Riesiger, träger Fluss

Eigentlich sind die Everglades eher ein Fluss als ein Sumpf. Ein riesiger Fluss, 90 Kilometer breit. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch die Graswiesen hindurch nach Süden bis zum Meer, so langsam, dass die Bewegung für das menschliche Auge unsichtbar ist. Die Quelle, die diesen trägen Strom früher speiste, war der riesige See, an dessen südlichem Ufer Clewiston liegt. Okeechobee, "großes Wasser" nannten ihn die Indianer. Diesen Namen trägt der See noch immer. Ansonsten aber hat sich viel verändert. 1928 fegte ein Hurrikan über die Region, der Okeechobee quoll über und spülte die Deiche davon, die Clewiston schützen sollten. 2400 Menschen starben in den Fluten. Die Regierung schickte das Corps of Engineers der US-Armee, das den Okeechobee in ein Korsett aus neuen, höheren Deichen zwang. Der Hochwasserschutz war der Auftakt zur planmäßigen Zerstörung der Everglades.

Lange schon hatten die Menschen davon geträumt, die Sümpfe trockenzulegen. In ihrem ursprünglichen Zustand waren die Everglades nutzlos, fanden die Siedler. Das Land war zu nass, um es zu bewirtschaften, und zu trocken, um es schiffbar zu machen. Nun, da der Okeechobee gebändigt und der Strom von seiner Quelle abgeschnitten war, ging ihr Traum in Erfüllung. Die weiche, schwarze Erde erwies sich als ungeheuer fruchtbar. Nirgendwo sonst in Amerika gedeiht Zuckerrohr so gut wie hier.

Doch der Sieg gegen die Natur endete als ökologischer Albtraum - mit ungeahnten Folgen für die Menschen. Die Everglades sind in einem erbärmlichen Zustand. Die Hälfte der Sümpfe liegt begraben unter Straßen, Vorstädten und Feldern. Ein Nationalpark, der den Rest des Ökosystems schützen sollte, konnte das Sterben nur verlangsamen. Im Norden trocknen die Everglades aus, im Süden drängen Meer und Mangroven in den durch Dünger verschmutzten Strom hinein. Und immer wieder entzünden sich Buschbrände, die bis in die Vorstädte von Miami und Fort Lauderdale ziehen.

Ende der 90er Jahre beschloss die Regierung des damaligen Präsidenten Bill Clinton ein beispielloses Rettungsprogramm: den Comprehensive Everglades Restoration Plan - kurz Cerp genannt. Acht Milliarden Dollar sollten das Sterben der Sümpfe stoppen, je zur Hälfte bezahlt von Florida und Washington. Das Ziel war es, die natürliche Wasserversorgung der Everglades wiederherzustellen, ohne Farmen und Städte zu beeinträchtigen. Das Wasser aus dem Okeechobee sollte unter den Zuckerplantagen hindurch in die Everglades geleitet werden.

Doch das Renaturierungsprojekt wurde zum Flop. Bis heute ist wenig geschehen. Gerade einmal 500 Millionen Dollar hat Washington ausgegeben. Clintons Nachfolger George W. Bush hatte kein Interesse an den Everglades und sein Bruder Jeb, bis 2007 Gouverneur im Sunshine State, wollte statt der Sümpfe lieber Vorstädte bewässern. Erst Charlie Crist, der Jeb Bush im Amt beerbte, gab dem Cerp neuen Schwung. Schnell erkannte der neue Gouverneur die Geburtsfehler des ursprünglichen Plans: Die Zuckerindustrie und die Sümpfe können nicht koexistieren. Der Versuch, das Wasser unter den Feldern hindurch zu leiten, war zu teuer und zu umständlich.

Daher machte Crist US Sugar ein Angebot: Eure Plantagen gegen 1,34 Milliarden Dollar. Im November stimmte das Unternehmen zu, der Vertrag wurde vor ein paar Wochen besiegelt. Der Staat erwirbt mehr als 750 Quadratkilometer Land. Nach einer siebenjährigen Übergangszeit sollen die Zuckerfelder Seen und Marschland weichen. Umweltschützer jubeln: "In 20 Jahren wird dieses Land wieder so sein, wie es war, bevor der weiße Mann kam", sagt David Guest vom Earthjustice Defense Fonds.

So schließt sich der Kreis. Es ist eine besondere Ironie der Geschichte: Die Zerstörung der Wildnis war Teil der öffentlichen Investitionsprogramme zu Zeiten der Großen Depression. Nun, inmitten einer Wirtschaftskrise, die von vielen schon die neue Große Depression genannt wird, soll die Wiederherstellung der Natur die Wirtschaft ankurbeln - zumindest hoffen Politiker in Florida, dass es so kommt. Sie wissen, dass sie im Weißen Haus einen Verbündeten haben. Barack Obama hat im Wahlkampf versprochen, den Everglades zu helfen. Die Arbeit könnte schnell beginnen. Machbarkeitsstudien sind abgeschlossen, Genehmigungen eingeholt. Ein paar Hürden gilt es noch aus dem Weg zu räumen. US Sugar ist zwar der größte, aber nicht der einzige Zuckerbetrieb in der Region. Crist schlägt den verbliebenen Farmern einen Tausch vor: Land, das er für die Everglades braucht, gegen Felder von US Sugar. Der Gouverneur hat gute Karten, die Plantagen des Konzerns aus Clewiston sind sehr fruchtbar.

Für US Sugar war der Verkauf der Felder keine schwere Entscheidung. Das Unternehmen befindet sich im Niedergang, seit durch die Freihandelsverträge mit Mexiko und Zentralamerika der US-Markt für Importe geöffnet ist. Im Konzern heißt es denn auch: "Der Verkauf war im besten Interesse unserer Eigentümer." So hat das Geschäft beide Seiten zufriedengestellt, das Unternehmen und den Staat. Verloren haben die, die nicht gefragt wurden: die Einwohner von Clewiston. Für ihre Stadt gibt es ohne den Zuckerkonzern keinen Existenzgrund mehr. Der Werkzeugladen, der Autohändler, das Maklerbüro - in sieben Jahren sind sie dicht. Zwar versucht Clewiston, sich als Anglerparadies neu zu erfinden, doch niemand glaubt, dass der Tourismus das Loch stopfen kann, das die Zuckerindustrie hinterlässt.

"Für mich war's das", sagt Elaine und klopft George auf die Schulter. Der starrt weiter auf den Fernseher. Sein Drink ist alle. Missy greift zur Wodkaflasche. "Ich habe den besten Job in Clewiston", sagt sie, während der klare Alkohol über die Eiswürfel strömt. "Ich verkaufe, was die Leute brauchen." Gerade jetzt, wo die Geschichte von Amerikas süßester Stadt ein bitteres Ende nimmt.

Bedrohte Wildnis: Weil die Zuckerplantagen die Süßwasserzufuhr aus dem Lake Okeechobee nahezu stoppten, trocknen die Everglades aus und im Süden wuchern Mangroven. Foto: Preben S. Kristensen/laif

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Der Yunus-Virus

Entwicklungshilfe einmal anders: Wie Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus Unternehmer zu Projekten animiert, von denen auch sie profitieren

Von Tobias Engelmeier

Golamari - In dem kleinen Dorf Golamari in Bangladesch, 100 km östlich der Hauptstadt Dhaka, ragt ein unscheinbares Bambusrohr mit einer blauen Kapuze aus der fest gestampften Erde. Muhammad Yunus, spätestens seit der Verleihung des Friedensnobelpreises der berühmteste Bürger seines Landes, legt eine Hand auf das Rohr und lacht. Neben ihm steht der Franzose Patrick Rousseau ernst und mit Zigarette zwischen den Lippen - und lässt sich dann doch zu einem Lächeln hinreißen. Ein paar Meter entfernt beobachtet eine Gruppe deutscher Manager das Geschehen. In einigem Abstand scharen sich die Männer und Frauen des Dorfes in ihren einfachen, bunten Kleidern - neugierig abwartend.

Dass die Menschen in Bangladesch vorsichtig sind, wundert nicht. Sie haben Katastrophen erlebt - und Helfer, die bald wieder weg waren, ohne dass sich die Lage entscheidend gebessert hätte. Regelmäßig vernichten Dürrezeiten die Ernte, oder es gibt Überschwemmungen. Das war schon immer so, die globale Klimaveränderung hat es nur verschlimmert. Es ist nicht das einzige Problem: Auch das Grundwasser ist an vielen Stellen arsenkontaminiert, jenes an der Oberfläche durch Industrieabfälle verschmutzt.

Genau diesen Missstand wollen Yunus und Rousseau, der für Südasien zuständige Manager des französischen Wasserspezialisten Veolia, beheben. Deshalb haben Veolia und Yunus' Grameen Organisation das Joint Venture GrameenVeolia gegründet. Die erste kleine Aufbereitungsanlage ist fast fertig. Das Bambusrohr ist ein Platzhalter für einen von 14 Wasserhähnen, die nun in der Gegend installiert werden sollen, um 25 000 Menschen mit Trinkwasser zu versorgen.

Yunus nennt solche Projekte Social Business. Weder Grameen noch Veolia werden etwas damit verdienen. Aber es ist ein kostendeckendes und somit nachhaltiges Geschäftsmodell: Die Bauern zahlen für das saubere Wasser. Veolia hat es geschafft, in diesem schwer zugänglichen Terrain eine kleine Aufbereitungsanlage zu bauen, das Oberflächenwasser zu reinigen und es zu einem Preis anzubieten, den die Dorfbewohner sich leisten können.

"Als Veolia mich gefragt hat, ob wir eine Kooperation starten können, habe ich gesagt: Wenn sie das Wasser für einen Taka, also einen Eurocent, pro zehn Liter anbieten können, dann gerne. Wenn nicht, dann nicht", sagt Yunus. "Denn mehr Geld können die Menschen hier nicht für ihr Trinkwasser ausgeben." Für Veolia war das eine harte Vorgabe. Rousseau gibt zu: "Wir haben mit diesem Projekt Neuland betreten." Wenn es funktioniert, sollen weitere Anlagen folgen.

So beginnt Yunus immer. Ein neues Geschäftsmodell probiert er im Kleinen aus, so lange, bis es sich selbst trägt. Dann wird es verbreitet. So hat er die Mikrokredit-Revolution in Gang gesetzt, Mitte der 70er Jahre. In einem Dorf sah er damals eine junge Frau, die aus Bambus Stühle fertigte. Er fragte: Gehört der Bambus Ihnen? - Ja. - Wie viel kostet er? - 5 Taka. Das reicht für einen Tag. - Woher haben Sie das Geld? - Ich leihe es mir von einem Geldverleiher. - Und was verlangt er dafür? - Am Ende des Tages muss ich ihm meine Stühle verkaufen. - Für wie viel? - Für 5 Taka und 50 Paise. "50 Paise! Das ist kaum genug um zu überleben. Das ist nichts anderes als Leibeigenschaft."

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Yunus hat dann die Grameen Bank gegründet, um Mikrokredite zu vergeben. Beim ersten Mal hat er 27 Dollar verliehen. Heute sind es monatlich mehr als 80 Millionen Dollar und die Bank betreut 7,5 Millionen Menschen landesweit - fast ausschließlich Frauen. Sie haben sich als sehr zuverlässige Kreditnehmer erwiesen. Die Rückzahlquote liegt bei 98 Prozent. "Da ist es doch erstaunlich", sagt Yunus, "dass viele Banken sich immer noch nicht trauen, einer armen Frau 100 Dollar zu leihen, während sie gleichzeitig Milliarden aus spekulativen Geschäften abschreiben."

Yunus will die Armut besiegen - und dazu braucht er Verbündete. Immer häufiger findet er dafür große Konzerne. Yunus sagt dazu: "Ich bin hier, um ausgenutzt zu werden." Den Anfang machte Danone. 2007 entwickelte der französische Lebensmittelkonzern einen Joghurt für Arme, baute eine kleine Fabrik und fand lokale Verkäuferinnen. Zum Projektstart kam neben Konzernchef Franck Riboud auch der Fußballstar Zinedine Zidane - und das Land stand Kopf. Doch eine Sache stört Yunus noch: Der Joghurtbecher ist Wegwerfware. "Er müsste aber nutzbringend sein. Die Armen bezahlen schließlich dafür. Vielleicht können wir ihn essbar machen?" Wieder lacht er. Aber er meint es ernst.

Auch deutsche Unternehmen zeigen sich interessiert an einer Zusammenarbeit. Und damit sind wir wieder bei den Managern am Bambusrohr. Sie haben sich in vier Tagen alles genau angesehen, die Projekte, die Grameen Organisation, Land und Leute, und sie arbeiten schon an konkreten Geschäftsideen: Dabei geht es um Nahrungsmittelergänzung, um den Kampf gegen Malaria, um nachhaltige Fortbewegung und Landwirtschaft und um erschwingliche, funktionale Kleidung. Ein holländischer Investor ist auch dabei. Er überlegt, wie man einen Social Business Fund aufsetzen kann, um Projekte anzuschieben.

Ohne den Einsatz des deutschen Unternehmers Hans Reitz wäre dieses Treffen rund um das Bambusrohr nicht zustande gekommen. Der umtriebige Mann hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Geist von Grameen zu fördern, Unternehmer, aber auch Studenten zu Projekten zu animieren. Er nennt das, den "Yunus-Virus" verbreiten. Reitz ist inzwischen persönlicher Berater von Yunus, in Deutschland hat er unter anderem das Grameen Creative Lab gegründet. Im November soll es ein großes Event mit Yunus in Berlin geben: ein World Social Business Forum für alle, die helfen wollen.

Aus der Sicht der Unternehmen ist eine Zusammenarbeit mit Grameen durchaus interessant. Natürlich ist es eine gute Gelegenheit, soziales Engagement zu zeigen. Aber es gibt auch andere Gründe. Bei Danone etwa wurde festgestellt, dass das Joint Venture bei den Mitarbeitern im Konzern einen enormen Motivationsschub auslöst. Auch kommen die Joint Venture Partner mit einem ganz neuen Markt in Berührung, der nach anderen Regeln funktioniert. "Das ist Entwicklungshilfe von Bangladesch für Deutschland", sagt einer der Manager. Für Yunus ist nur eines wichtig: dass das Joint Venture den Armen hilft und die Richtlinie - kein Gewinn aus Geschäften mit den Armen - eingehalten wird.

Der Autor ist Managing Director der Beratung Bridge to India in Neu Delhi.

Hier soll bald sauberes Wasser aus einem Hahn tropfen, das die Menschen in dem Dorf Golamari in Bangladesch auch bezahlen können. Foto: Engelmeier

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Zu viel Freizügigkeit im Internet schadet

Klaus Eck ist eine öffentliche Person. Er hat in Berlin und Marburg studiert, dann hat es ihn nach München verschlagen in die Medienbranche. Heute ist er selbständig und schreibt Bücher. Der 44-Jährige liest gern, etwa T. C. Boyle oder Ian McEwan. Eck hat eine hohe Stirn und trägt eine Brille mit rot-schwarzen Bügeln. Rot ist nämlich eine seiner Lieblingsfarben. Am Donnerstag reiste er mit der Bahn nach Hamburg, abends wollte er noch ins Schanzenviertel auf ein Bier.

Der Autor dieser Besprechung hat Klaus Eck noch nie getroffen. Doch über die Suchmaschine Google, den Kurznachrichtendienst Twitter oder das Geschäftsnetzwerk Xing lässt sich einiges online herausfinden - nichts allerdings, was Eck nicht selbst so gewollt hätte. So gibt es keine Partybilder, auf denen Eck mit roter Nase Freunden zuprostet. Es fehlen kritische Kommentare zu seinen Äußerungen im Internet. Sein Privatleben bleibt bis auf das Statement "vergeben" ein Geheimnis. Klaus Eck ist eine öffentliche Person - aber eine, die Öffentlichkeitsarbeit für sich im Internet betreibt und das Netz für sich nutzt.

Karrierefalle Internet - Managen Sie Ihre Online-Reputation, bevor andere es tun, heißt das Buch von Eck, in dem er auf 256 Seiten den theoretischen Grundstein legt für das, was sich anhand seiner Person im Netz nachvollziehen lässt: Lebe online, aber überlasse nicht dem Zufall, was über dich bekannt wird.

Karrierefalle Internet warnt vor einer Gefahr: Jederzeit können falsche Fotos, Informationen oder Kommentare eine Reputation im echten Leben zerstören. Eck schürt diese Furcht, indem er bekanntgewordene Fälle schildert, in denen das Internet bereits Karrieren beendet hat: Einer Nintendo-Mitarbeiterin etwa wurde fristlos gekündigt, weil sie in ihrem Internettagebuch - einem sogenannten Blog - über ihre Kollegen herzog. Eine junge Pilotin fand im vergangenen Jahr Privatfotos in der Bild-Zeitung wieder. Die Reporter hatten online recherchiert.

Damit es so weit nicht kommt, ist der Hauptteil des Buches der Werbung in eigener Sache gewidmet. "Im Internet kann jeder sich selbst so präsentieren, wie er gerne sein möchte", schreibt Eck. "Der Selbstinszenierung scheinen keine Grenzen gesetzt." Wie das geht, erklärt der Buchautor anhand der wichtigsten Seiten zur Selbstdarstellung: Die Kontakteplattformen Xing oder Facebook werden ebenso in eigenen Kapiteln gewürdigt wie Bilder- oder Filmportale. Auch Twitter fehlt nicht, eine medial gefeierte Webseite für Kurznachrichten.

Im Hauptteil glänzt das Werk mit Checklisten und Nutzwert für Leser, die um ihr Ansehen im Internet bemüht sind. Das virtuelle Abbild, schreibt Eck, "ist Ihr digitales Zimmer, in dem Sie die Möbelstücke gerade rücken und die Vorhänge beiseite ziehen, damit die Flaneure auch von außerhalb einen Blick in Ihr Zimmer werfen können".

Handwerklich überzeugt das Buch: Hier schreibt einer, der im Netz zu Hause ist und sich mit Öffentlichkeitsarbeit auskennt - gerade deshalb wirft das Buch aber Fragen auf. Sollte wirklich bei Top-Kräften, etwa aus der Automobil- oder Maschinenbau-Industrie, eher die eigene Homepage, der Blog oder Belangloses auf Twitter über die Karriere entscheiden, als Knowhow, Arbeitsproben oder Führungsstärke im wirklichen Leben? Wie sollte einer mit dem Netz umgehen, der nicht wie Klaus Eck zu Blogger-Treffen reist und seine Kontakte im Wesentlichen online pflegt? Das Buch kann sicher Anregungen liefern für Medienschaffende, Werbetreibende oder Selbständige zur Vermarktung über das Netz. Wer aber nicht wie der Autor in der Online-Gemeinschaft lebt, dem wird das Buch nur eine leichte Lektüre von geringerem Nutzen sein. Thorsten Riedl

Zum Thema

Sich optimal vernetzen

Andreas Lutz, Joachim Rumohr: Xing optimal nutzen: Geschäftskontakte - Aufträge - Jobs, Linde Verlag, Wien 2008, 184 Seiten, 14,90 Euro.

Warum in die Ferne schweifen? Xing ist Marktführer. Wer hier seine Netze spannt, erreicht die digitalen Profis. Das Buch liefert einen Intensivkurs zu den Möglichkeiten der Plattform.

Mund-zu-Mund-Werbung online

Reiner Czichos: Viral Marketing: Wie Sie Mundpropaganda gezielt auslösen und Gewinn bringend nutzen, Gabler Verlag, Wiesbaden 2007, 245 Seiten, 38,90 Euro.

Das Buch analysiert das Thema Marketing im Internet. Die Sprache ist klar, und einige Fallbeispiele liefern Ideen für Eigenwerbung.

Klaus Eck: Karrierefalle Internet -

Managen Sie Ihre Online-

Reputation, bevor es andere tun.

Carl Hanser Verlag, München 2008, 256 Seiten, 19,90 Euro.

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Wirtschaftsbuch

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Tüftler fürs Feine

Die Gendiagnostik wird für die Forschung immer wichtiger. Das macht Bioinformatiker unentbehrlich

Von Inga Pabst

"Ohne Zweifel ist das die wichtigste und phantastischste Karte, die die Menschheit je erstellt hat." So begeistert reagierte im Juni 2000 der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton auf die Bekanntgabe der kompletten Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes. In der Tat wurde die Erforschung der menschlichen Erbinformation zu einem der bedeutendsten Meilensteine in der Geschichte der Wissenschaft. Weltweit hatten Forscher jahrelang daran gearbeitet, die Reihenfolge von drei Milliarden Bausteinen und 25 000 Genen, aus dem das menschliche Genom besteht, zu bestimmen. Die Bioinformatik, die bis dahin mit der Erstellung genetischer Stammbäume eher ein Nischendasein führte, hatte am Gelingen des Mammutprojekts erheblichen Anteil.

Heute spielt die Gendiagnostik auf vielen Forschungsgebieten eine zentrale Rolle, etwa in der Strafverfolgung bei der Identifizierung von Tätern, beim Vaterschaftstest, in der Pflanzen- und Tierzucht, in der Lebensmittelkontrolle sowie in der biomedizinischen Wirkstoffforschung. Auf Grundlage genetischer Informationen suchen Mediziner zusammen mit Biowissenschaftlern nach den Ursachen für die Entstehung von Krankheiten wie Krebs, um neue und bessere Therapien zu entwickeln.

Die Bioinformatiker haben dabei die Aufgabe, die Eigenschaften der biologischen Informationsträger in mathematische Modelle zu fassen, damit der Computer sie verarbeiten kann. Die Objekte der Forschung werden immer komplexer. Inzwischen befasst sich die Grundlagenforschung nicht mehr nur mit dem genetischen Code, sondern auch mit seinen Produkten: RNA, Proteinen, Enzymkomplexen und Zellen.

Mit Hilfe der Nanotechnologie, die sich in der Größenordnung von Atomen bewegt, können zudem Eigenschaften einzelner Moleküle und die Bedeutung einzelner Atome für genetische Ursachen von Erkrankungen erforscht werden. Auf der Basis dieser Informationen versuchen Wissenschaftler beispielsweise Stoffe des Immunsystems zu identifizieren, mit deren Hilfe bestimmte Krankheitserreger oder Krebszellen vernichtet werden könnten.

Da es theoretisch unendlich viele Möglichkeiten gibt, wie etwa Antikörper an Krebszellen andocken, sind mathematische Modelle und Wahrscheinlichkeitsberechnungen am Computer Voraussetzung, um überhaupt in absehbarer Zeit brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Hier setzt die Arbeit der Bioinformatiker an: "Ihre Aufgabe ist es, das mögliche Verhalten neu entwickelter Proteine anhand bekannter Eigenschaften im Voraus zu berechnen und entsprechende Computerprogramme dafür zu schreiben", erklärt der Geschäftsführer des Verbands Biologie, Biowissenschaften & Biomedizin in Deutschland (VBIO), Carsten Roller. Bioinformatiker entwickeln Softwareprogramme, die es ermöglichen, eine große Datenmenge zu analysieren und die Moleküle drei- und sogar vierdimensional darzustellen. Die allerersten Tests mit neuen Enzymen, Molekülen oder Proteinen werden also durch den Bioinformatiker am Computer gemacht, bevor der Molekularbiologe erste Versuche in der Petrischale vornimmt. Die Berechnungen werden regelmäßig anhand der Versuchsergebnisse überprüft und die Modelle gegebenenfalls angepasst. Durch diese Arbeitsweise sind die Bioinformatiker eng an die Labore gebunden, wo die Grundlagenforschung betrieben wird.

Trotz der Bedeutung der Bioinformatik für die wissenschaftliche Forschung konnten sich bislang nur wenige spezialisierte Firmen in Deutschland etablieren. "Dafür sind die Entwicklungen in diesem Bereich zu rasant. Die Anforderungen der Forschungsprojekte an die Software sind zu unterschiedlich und zu anspruchsvoll", sagt Roller. Für talentierte Spezialisten bietet die Bioinformatik in der Forschung aber ein interessantes Arbeitsfeld, das immer komplexer wird.

Bundesweit gibt es inzwischen 600 Studienplätze für Bioinformatik. Gebraucht werden laut Roller allerdings in der Grundlagenforschung zurzeit nur 100 Bioinformatiker pro Jahr. "Hier kommen wirklich nur die Besten zum Zug. Deshalb ist es sehr wichtig, sich schon im Studium über die spätere Berufswahl klar zu werden", rät Roller.

Da Bioinformatik ein Doppelstudium aus Biologie und Informatik ist, können die Studenten die Fächer unterschiedlich gewichten. "Sie sollten sich also rechtzeitig fragen, ob sie eher Biologen mit guten Kenntnissen in Bioinformatik sein wollen oder eher Informatiker, die sich gut in der Biologie auskennen", sagt Roller. Den Schwerpunkt setzen die Studenten schon mit der Wahl der Hochschule und des Studiengangs. Inzwischen bieten bundesweit 29 Universitäten und Fachhochschulen Bioinformatik als Studiengang an. Auch Biologen können Bioinformatik als Nebenfach belegen.

In dem Studium werden zunächst mathematische, naturwissenschaftliche und technische Grundlagen vermittelt. Später können die Studenten biologische Schwerpunkte wählen wie Molekularbiologie, Genetik, Neurobiologie, Biochemie oder Pharmazie. Die Bioinformatiker schließen in der Regel mit Bachelor und Master ab, manche Hochschulen bieten auch noch das Auslaufmodell Diplom an.

Auch wenn nicht jeder Bioinformatiker nach dem Studium in die Grundlagenforschung gehen kann, gibt es doch genügend andere attraktive Arbeitsfelder für sie. Zum Beispiel in der Wirkstoffforschung sind biologisch orientierte Computerfachleute unerlässlich. Ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld bietet die Softwareentwicklung bei Medizintechnik-Unternehmen, die beispielsweise Analyseroboter vertreiben.

Bei größeren Pharmaunternehmen kann sich auch die Gelegenheit ergeben, andere Aufgaben im Bereich Produktion, Qualitätskontrolle, Produktmanagement, Vertrieb und Marketing zu übernehmen. Die Leitung eines medizinischen Instituts wird einem Bioinformatiker aber nur in Ausnahmefällen übertragen: Da in Deutschland die medizinische Diagnose mit der Therapie verknüpft ist, haben hier die Mediziner das Sagen.

Nicht jeder Bioinformatiker findet einen Job in der

Grundlagenforschung

Ein Beruf, viele Aufgaben: Bioinformatiker entwickeln etwa Softwareprogramme, die Moleküle drei- und sogar vierdimensional darstellen können. Foto: dpa

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Heute bei

Brot und Spiele

Der Computerspiele-Industrie geht es scheinbar gut, doch die Zahlen täuschen: Der Erfolg von Nintendo beschönigt das Ergebnis einer ganzen Branche.

www.sueddeutsche.de/games

Weißes Haus wird filmreif

Mr. Smith geht nach Washington: Hollywoods Star-Innenarchitekt Michael Smith soll das neue Heim der Obamas umgestalten - elegant, aber gemütlich. www.sueddeutsche.de/smith

Foto: AP

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Vater auf dem Weg in Geburtsklinik ermordet

London - In Großbritannien ist ein Mann erstochen worden, als er gerade mit seiner dreijährigen Tochter die Mutter und sein neugeborenes Kind in der Geburtsklinik besuchen wollte. Wie die britische Polizei mitteilte, ereignete sich diese "besonders tragische" Gewalttat am frühen Donnerstagabend an einer Bushaltestelle in West Croydon, einem südlichen Vorort von London. Der Vater sei mit einem anderen Mann in einen Streit geraten, woraufhin der andere Mann mit einem Messer zugestochen habe. Der Vater sei in ein Krankenhaus gebracht worden und am Freitag gestorben. Die kleine Tochter, die die Gewalttat mit ansehen musste, sei "glücklicherweise nicht körperlich verletzt worden", erklärte ein Ermittler: "Was das Ganze noch tragischer macht, ist, dass seine Frau erst am Morgen einen kleinen Jungen zur Welt gebracht hatte." Ein 22-jähriger Verdächtiger wurde unter Mordverdacht festgenommen und befand sich am Freitag in Polizeigewahrsam. Die Londoner Polizei rief mögliche Zeugen auf, über die Umstände der Tat auszusagen. Sie suchte vor allem zwei junge Männer, die sich zum Tatzeitpunkt an der Bushaltestelle aufhielten. AFP

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Voller Geldtresor verschrottet

Berlin - Die Postbank hat einen mit 170 000 Euro gefüllten Tresor versehentlich verschrotten lassen. Beim Entladen eines Schrotttransporters im Elektrostahlwerk Henningsdorf bei Berlin flatterten den Arbeitern plötzlich mehrere tausend Geldscheine entgegen. Der Vorfall ereignete sich bereits Mitte Januar. Die Postbank spricht von einer Unachtsamkeit eines Mitarbeiters beim Umzug einer Filiale: Der Tresor sei vor der Übergabe an die Entsorgungsfirma nicht vollständig geleert worden. Man hätte nach Bekanntwerden des Falls aber "alle erdenklichen Maßnahmen" ergriffen, um das Geld zurückzuholen, hieß es aus dem Unternehmen. dpa

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Ein Feuerwerk für Hinterbliebene

Asche im schottischen Hochland, Gedenkgärten für Fußballfans: Die seltsamen Bestattungsrituale der Briten

Von Wolfgang Koydl

Überdüngte Bergwiesen, verschmutzte Fußballrasen, dünne Aschefilme über Angelgründen - so viele Briten ziehen die Kremation mittlerweile der Erdbestattung vor, dass sich das Vereinigte Königreich mit einem Umweltproblem der eher makabren Art konfrontiert sieht: Weil immer häufiger die Asche über irgendwelchen früheren Lieblingsplätzen der Verstorbenen verstreut wird, sah sich die staatliche Umweltschutzbehörde Environment Agency nun gezwungen, erstmals Richtlinien zu erlassen. Die Folge: In den walisischen und schottischen Bergen sowie nahe Brücken, Trinkwasserreservoiren und Fischgründen sollte man vom Aschestreuen Abstand nehmen. Zur Vorsicht rät die Agency zudem an windigen Tagen. Da sei es ratsam, nah am Boden zu streuen.

Nur noch eine Minderheit der Briten wünscht sich eine Erdbestattung, wie Roger Arber von der Cremation Society mit einem Schuss von Selbstzufriedenheit mitteilt. Mehr als 71 Prozent verfügen letztwillig eine Einäscherung, und damit liegt das Königreich nach Arbers Worten weltweit gut im Spitzenfeld. Nur in Japan - unangefochtener Spitzenreiter mit 99 Prozent Kremierungen -, in der Schweiz und in der Tschechischen Republik finden mehr Kremationen statt als auf den britischen Inseln. Mit einer weiteren Zunahme in Britannien rechnet Arber freilich nicht: "Muslime, die einen immer größeren Anteil an der Bevölkerung ausmachen, lehnen Feuerbestattungen aus religiösen Gründen ab", sagt er.

Verstreut in alle Winde

Da es in Großbritannien im Gegensatz etwa zu Deutschland keine Friedhofspflicht gibt, können Hinterbliebene mit der Asche tun, was sie - oder der Verstorbene - für richtig entschieden haben. Es muss ja nicht jeder so weit gehen, wie Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards, der behauptet hatte, er habe die Asche seines Vaters geschnupft; aber die Zeiten, in denen man Oma und Opa in der Urne lediglich auf dem Kaminsims abstellte, sind in Großbritannien lange vorbei. Es muss schon etwas Spektakuläreres sein, und in mehr als 60 Prozent aller Kremierungen nehmen die Hinterbliebenen die Asche aus dem Krematorium mit nach Hause anstatt sie in einem Urnengrab beizusetzen.

Fußballvereine wie Manchester United oder Manchester City etwa bieten deshalb schon seit langem spezielle Gedenkgärten für die sterblichen Überreste ihrer Fans an. So viele von ihnen wollten auf dem geweihten Stadionrasen verstäubt werden, dass die Grasnarbe darunter litt. Das ist kein Wunder, wenn man weiß, das nach einer Kremierung immerhin ein stattliches Häufchen von rund zwei Kilogramm Asche von einem erwachsenen Menschen übrigbleibt. Bei jährlich 420 000 Feuerbestattungen ergibt das mehr als 800 Tonnen. Vergleichbare Probleme haben daher auch Naturschützer in den schottischen Highlands oder in der kargen Bergwelt von Wales registriert. Weil sich immer mehr Wanderer, Naturfreunde oder Vogelkundler auf einsamen Matten und Kuppen verstreuen lassen, führt das in der Knochenasche enthaltene Phosphat zu einer Überdüngung des Wald- und Wiesenbodens. Die Folge: Unkontrollierter Pflanzenwuchs wo Jahrhunderte lang der Wind über kahle Höhen strich.

Bestattungstechnisches und umweltpolitisch weniger umstrittenes Neuland beschreitet man indessen bei der Firma Heavens Above Fireworks in der ostenglischen Grafschaft Essex. "Die Welt wird immer säkularer", hat ihr Präsident Fergus Jamieson erkannt, der das Unternehmen vor vier Jahren gründete. "Man will nicht mehr so sehr einen Toten betrauern, sondern ein erfülltes Leben feiern. Und wir merken es an unserem Auftragsbuch: Wir können uns vor Anfragen kaum retten." Und was wäre knalliger als ein Feuerwerk? Ab umgerechnet gut 1000 Euro schon füllt Jamieson die Asche der Schwiegermama oder des Onkels in eine Rakete mit bengalischem Feuer oder in einen China-Kracher. Patriotische Briten bekommen das Feuerwerk in den Nationalfarben rot, weiß, blau mit entsprechender Musikbegleitung. Wer etwas tiefer in die Tasche greift, kann wählen zwischen "A Spectacular Goodbye" ("eine ausgewogene Vorstellung für jeden Geschmack") und dem Tableau "Go Out with A Bang" ("mit einer Betonung des Dramatischen und viel Lärm"). Nicht zu vergessen: Jeder Feuerwerker hat die "Trauerweide" in seinem Arsenal, eine Rakete, die in langen, feurigen Schnüren zurück zum Boden regnet.

Mr. Enterprise im Orbit

Vollends umweltverträglich freilich ist "The Final Frontier" - die ultimative Grenze. Dazu schließt sich Jamieson mit dem kalifornischen Unternehmen Celestis zusammen, das soeben angekündigt hat, Gene Roddenberry, den Schöpfer der Fernsehserie "Raumschiff Enterprise" auf seine allerletzte Reise zu schicken. Der 1991 gestorbene Autor hatte verfügt, dass seine Asche in die unendlichen Weiten des Weltalls gefeuert wird. Ein wenig wird er sich noch gedulden müssen. Erst 2012 ist die Rakete mit dem schönen Namen "Der Flug der Gründer" startklar. Mit an Bord werden seine Frau Majel sein sowie der Schauspieler James Doohan, der - "Beam mich hoch, Scottie" - den Chefingenieur der Enterprise spielte. Ein paar Gramm von Gene Roddenberry freilich befinden sich schon seit 1995 in einer Umlaufbahn um den Globus. Bei dieser erdnahen Bestattungsvariante wird die winzig kleine Aschekapsel ausgestoßen, sobald das Trägerraumschiff seinen Orbit erreicht hat. Sie kreist solange um die Erde, bis sie durch die Anziehungskraft hinabgezogen wird und in der Atmosphäre verglüht.

All diese Lösungen sind letzten Endes vergänglich. Wer wirklich für die Ewigkeit plant, der kommt um das Unternehmen LifeGems in Sussex südlich von London nicht herum. 2500 Euro kostet es, und die Asche des teuren Verblichenen wird zu einem funkelnden Diamanten gepresst - ein bleibender Gruß des liebenden Ehemannes an die trauernde Witwe. Denn sie weiß ja: Diamonds are forever.

So schön eine Landschaft auch ist (im Bild die schottische Insel Canna), so viele Erinnerungen sich mit ihr auch verbinden: Laut der britischen Umweltschutzbehörde Environment Agency darf die Asche verstorbener Angehöriger nicht mehr wahllos verstreut werden. Letzter Wille hin oder her. Fotos: Rex Features, ddp

Die klassische Urne will im Vereinigten Königreich keiner mehr. Schließlich kann man den lieben Verblichenen auch als Rakete in die Luft schießen lassen.

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40 Menschen sterben bei Brand in Supermarkt

Nairobi - Ein Feuer in einem Supermarkt in Kenias Hauptstadt Nairobi hat möglicherweise 40 Menschen das Leben gekostet. Wie das Kenianische Rote Kreuz am Freitag mitteilte, werden bisher 40 Menschen vermisst. Fünf von ihnen seien in dem Supermarkt beschäftigt gewesen. Die Polizei und das Rote Kreuz führten Suchhunde durch die Überreste des Ladens. Nach Medienangaben wurden bisher zwölf Leichen entdeckt. Nur ein Toter habe identifiziert werden können. Dabei handelte es sich um einen Mitarbeiter, der vom Dach des Gebäudes gesprungen war. Das Feuer hatte sich in einem beliebten Supermarkt in der Innenstadt ausgebreitet. Nachbarhäuser wurden evakuiert, als die Feuersbrunst überzuspringen drohte. Das Feuer, das schnell um sich griff, hatte viele Menschen im Untergeschoss eingeschlossen. Überlebende berichteten, sie hätten eine Explosion gehört. Verwandte der Vermissten berichteten von Telefonanrufen, in denen ihre Angehörigen sagten, sie könnten nicht mehr hinaus. dpa

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Eklat im Prozess um Morsals Tod

Gutachterin spricht von verminderter Schuldfähigkeit - Staatsanwalt empört

Hamburg - Ein heftiger Streit über eine Gutachterin hat den Prozess um den Mord an der 16 Jahre alten Deutsch-Afghanin Morsal kurz vor dem Ende ins Stocken gebracht. Der Staatsanwalt kritisierte die Psychiaterin am Freitag als inkompetent und forderte, sie wegen Befangenheit abzulehnen. Das Landgericht Hamburg unterbrach die Verhandlung bis zum kommenden Donnerstag, um über den Antrag zu entscheiden. Die Gutachterin wies die Vorwürfe entschieden zurück und sprach von Unterstellungen. Sollte das Gericht die Gutachterin als befangen ablehnen, würde der Prozess platzen und müsste dann mit einem neuen psychiatrischen Experten wieder aufgerollt werden.

In dem Prozess muss sich der 24 Jahre alte Bruder von Morsal wegen Mordes verantworten. Laut Anklage hat er seine Schwester am 15. Mai 2008 auf einem Parkplatz in Hamburg-St.Georg mit 23 Messerstichen heimtückisch getötet, weil er ihren Lebensstil ablehnte. Die Gutachterin hatte dem Täter eine krankhaft gestörte Persönlichkeit und verminderte Schuldfähigkeit bescheinigt. Der Staatsanwalt indes wertet das als "reine Behauptung". Sie sei voreingenommen und habe ihre eigenen Interpretationen mit unvollständigen Tatsachen vermengt, sagte er. Die Sachverständige wies die Kritik entschieden zurück. Sie habe "mit großer Akribie" gearbeitet, sagte sie. Dem Anklagevertreter warf sie vor, ihre Ausführungen nicht verstanden zu haben. "Was ich hier sage, kommt ja wohl nicht an", so die 64-Jährige. "Ich kann nicht zehnmal das Gleiche sagen." Selbst wenn man die für den Angeklagten ungünstigsten Annahmen zugrunde lege, halte sie diesen in jedem Fall für vermindert schuldfähig. dpa

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MITTEN IN . . .

Buenos Aires

Tikrit

Moskau

Sderot

Stippvisite auf dem "Journalistenhügel" vor den Toren der israelischen Stadt Sderot. Während des Gaza-Kriegs haben sich auf dem Erdhügel die berühmtesten Reporter der Welt auf die Füße getreten, weil der Gaza-Streifen für Journalisten gesperrt war und man von hier den besten Blick auf das Kriegsgebiet hatte. Heute haben nur Japans Israel-Botschafter und sein Fahrer den Wall erklommen und schauen durch ihre Ferngläser auf den Gaza-Streifen. Zu ihren Füßen klauben zwei Müllmänner von Sderot den Dreck der vergangenen drei Wochen zusammen. Plastikflaschen, Zigarettenschachteln, Fast-Food-Verpackungen. Plötzlich ruft einer den anderen und hält eine Kondom-Packung hoch. Später fällt mein Blick in Sderot auf eine Karikatur, die Soldatenuniformen auf einer Wäscheleine zeigt und den Satz: "Make Love not War". Thorsten Schmitz

Gelegentlich erinnert sich Buenos Aires, dass am Häusermeer der breiteste Fluss der Welt vorbei fließt. Bei vielen Einwohnern ist das dann der Fall, wenn sie mit dem Schnellboot über den Rio de la Plata nach Uruguay fahren. Oder wenn ein Kreuzfahrtschiff im Hafen ankommt, gerade landete die schwimmende Kleinstadt namens Mariner of the Sea. Aber die edlen Badeanstalten am Strom sind Vergangenheit, die braune Brühe ist längst zu dreckig. Trotz Badeverbots hat der Bürgermeister an zwei Uferstellen immerhin Sand aufschütten, gelbe Plastikstühle aufstellen und für diesen Hochsommer bis Ende Februar das Motto "Buenos Aires Strand" ausrufen lassen. Das habe sich in Paris, Berlin und Amsterdam bewährt. So weit ist es gekommen, dass sich die Metropole am Silberfluss von Binnenstädten inspirieren lassen muss. Peter Burghardt

Kunst kann man mögen. Oder auch nicht. Das Kunstwerk, um das es hier geht, steht in Tikrit, Irak. In einem Park einer Wohltätigkeitsorganisation für Kinder, deren Eltern nach Einmarsch der US-Truppen durch Gewaltakte umgekommen sind. Der Schuh ehrt den als Schuhwerfer bekannt gewordenen irakischen Journalisten Muntasser al Saidi. Die Bronze von Laith al Ameri, einem irakischen Bildhauer, trägt an der Seite ein Gedicht, das al Saidi als Helden lobt. Er hatte seine Schuhe nach George W. Bush, der mal US-Präsident war, geworfen. Das kann man mögen. Oder auch nicht. Al Saidi jedenfalls sitzt seitdem in Haft. Er wartet auf den Beginn seines Prozesses. Karin El Minawi

Meist stoppen ja ameisengroße Schigulis, für die die Abwrack-Prämie 30 Jahre zu spät kommt. Aber manchmal passiert auch dies, wenn man ein Taxi sucht: Eine Limousine öffnet die Tür, die Sitze sofa-dick, der Sicherheitsgurt. . . Der Fahrer zeigt auf eine Marke hinter der Scheibe, irgend etwas Offizielles. "Ich fahre sie alle", trumpft er auf, "Putin, Medwedjew, Luschkow. Alle." - Ah. Und? - "Was glauben Sie, was auf dem Rücksitz los ist, wenn die ihre Mädchen mitbringen." - Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow verführt Frauen wie im Autokino? Der Mann ist 72! - "Aber natürlich. Wenn ich's doch sage!" - Kontrollfrage: Und, wie sind sie sonst, Russlands Alphatiere? - "Was heißt sonst?" - Sind sie höflich, arrogant, so rein menschlich? - Kurzes Innehalten: "Menschlich? Keine Ahnung, was sie meinen." Na, jedenfalls sitzt man hier recht bequem. Sonja Zekri

Fotos: AFP (3), dpa

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DIE FRAGE

Wann dürfen sich Politiker duzen?

US-Außenministerin Hillary Clinton hat sich im ersten Telefonat mit ihrem spanischen Amtskollegen Miguel Moratinos formeller Zwänge entledigt: Man nennt einander jetzt "Miguel" und "Hillary".

Petra Begemann, Sprachwissenschaftlerin und Knigge-Expertin: "Wenn die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt, spricht nichts gegen einen vertraulichen Umgang miteinander, das gilt auch in höchsten Diplomatie- und Wirtschaftskreisen. Jeder, der älter ist als 17, wird allerdings erkennen, das es distanzlos ist, jemanden in diesem Kontext zu duzen, wenn man sich eben erst kennengelernt hat. Diesen Schritt telefonisch zu machen ist zudem mehr als ungewöhnlich, auch wenn die Amerikaner traditionell etwas lockerer sind. Aber vielleicht hilft es den diplomatischen Beziehungen."

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LEUTE

Dieter Hallervorden, 73, Komiker, wollte SED-Chef Walter Ulbricht ermorden, berichtet der Tagesspiegel. Hallervorden war 1958 in den Westen geflohen und hatte sich einer Burschenschaft angeschlossen. Dort lernte er Kurt Eberhard kennen, der später als Psychotherapeut bekannt werden sollte. Die beiden überlegten, wie man das verhasste SED-Regime im Osten beseitigen könnte und planten ein Attentat: Sie wollten aus der fahrenden S-Bahn auf Ulbricht schießen, zwischen den Bahnhöfen Greifswalder Straße und Zentralviehhof in Prenzlauer Berg. Ulbricht spielte in der Nähe öfter Tennis. "Es war ein Dumme-Jungs-Plan", sagt Hallervorden. Eine Freundin hätte sie schließlich davon abgebracht. Hallervordens weitere Umsturzversuche beschränkten sich auf das Verteilen von Flugblättern.

Robbie Williams, 34, Popsänger, kann nach der Rückkehr in seine britische Heimat nicht einmal unbeobachtet ein Fahrrad kaufen. Williams hatte sich für den Besuch in einem Fahrradladen zwar mit Skimaske und Sonnenbrille getarnt, wie die Daily Mail berichtet. Dennoch erkannten ihn mehrere Dutzend Schaulustige vor dem Geschäft in der Stadt Swindon. Williams war Anfang dieser Woche nach fünf Jahren aus Los Angeles nach England zurückgekehrt. Er kaufte ein Rennrad für etwa 6100 Euro und wurde von Bodyguards begleitet. Der Sänger soll in der Grafschaft Wiltshire im Südwesten Englands für 7,8 Millionen Euro einen Landsitz erworben haben.

Amy Winehouse, 25, Sängerin, will offenbar ihren Mann Blake Fielder-Civil zurückerobern. Sie habe ihr Profil beim Onlineportal Facebook so geändert, dass sie dort nun als "Mrs. Civil WA7614" zu finden sei, meldet die britische Zeitung The Sun. WA7614 ist die Nummer von Fielder-Civils Gefängniszelle. Der drogenabhängige Fielder-Civil war wegen Angriffs auf einen Barkeeper zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte aus dem Gefängnis heraus die Scheidung eingereicht, nachdem er erfahren hatte, dass seine Frau beim Urlaub in der Karibik zwei Romanzen hatte.

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Klassik

Jahrhundert Geiger

Die Fortsetzung

Vasa Príhoda, Erica Morini,

Jacques Thibaud

und Leonid Kogan

Harald Eggebrecht stellt

CD Nr. 4 der SZ-Reihe vor.

Feuilleton, Seite 13

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Heute in der SZ

Zerbrochenes Vertrauen

Das Verhältnis zwischen deutschen Juden und der Gesellschaft wird schwieriger. Von Matthias Drobinski 4

Ein Feuerwerk für Hinterbliebene

Asche im schottischen Hochland, Gedenkgärten für Fußballfans: die seltsamen Bestattungsrituale der Briten. 12

Der zaghafte Revolutionär

Zunächst tat sich Charles Darwin schwer mit seiner Evolutionstheorie - heute ist sie Fundament der Biologie. 22

Laden Sie die Kalaschnikow!

Der Bremer Willi Lemke über das Psychoduell mit Uli Hoeneß, sein Leben als UN-Berater und seinen letzten Besuch bei Willy Brandt. 35

TV- und Radioprogramm 43, 44

Forum, Rätsel 42, 41

München · Bayern 38

Familienanzeigen 39

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Obama kritisiert Zahlungen an Manager

Washington - US-Präsident Barack Obama hat scharf kritisiert, dass Manager von in Not geratenen Banken Boni in Höhe von fast 20 Milliarden Dollar erhalten. "Das ist beschämend", sagte Obama. "Es gibt eine Zeit, in der sie Profite machen und Boni bekommen. Jetzt ist nicht diese Zeit." Die amerikanische Wirtschaft schrumpfte im vierten Quartal 2008 aufs Jahr hochgerechnet um 3,8 Prozent. Das ist der stärkste Einbruch seit 1982. (Wirtschaft) dpa

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Heutige Druckauflage: 677 700 20 Seiten Stellenmarkt

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Das Streiflicht

(SZ) Wer sich eine Vorstellung davon machen will, welche Wunder die Regierung eines Landes vollbringen kann, sollte bei Gelegenheit ein Werk von Lucas Cranach dem Älteren beschauen. Es trägt den Titel "Jungbrunnen" und zeigt im Zentrum eine Art Planschbecken. Von links nähern sich betagte Frauen, einige sind schon so gebrechlich, dass sie in Schubkarren und Pferdewagen transportiert werden müssen. Rechterhand aber entsteigen sie mühelos dem Bassin, erkennbar aufgefrischt und derart elastisch, dass sie mit den jungen Männern, die nur auf sie gelauert haben, enthemmt das Tanzbein schwingen. Wie's weitergeht, lässt Cranach offen, man kann sich's unschwer ausmalen. Warum aber schickt der Künstler nur Frauen in den Jungbrunnen und überlässt die zottelbärtigen, alten Männer, die da Kärrnerdienste verrichten, ihrem Schicksal und ihrer Hinfälligkeit? Weil ein betagter Mann sich alles Mögliche wünscht, nur im Leben nicht, dass er wieder tanzen muss? Sehr unwahrscheinlich, wer wäre nicht gerne ein paar Jährchen jünger. Nein, es ist wohl so, dass Wunder nicht allen zuteil werden, sonst wären sie am Ende die normalste Sache von der Welt.

Wunder sind wählerisch, auch jenes, das die Bundesregierung und ihre elastische Kanzlerin vollbrachte. Wenn Lucas Cranach es darstellen würde, stünde vor einer wildromantischen Fels-und- Burg-Kulisse eine Autowaschanlage. Auf einer Seite stauten sich ramponierte, betagte Fahrzeuge, den Papieren nach mindestens neun Jahre alt, in Wirklichkeit aber schon in den Sechzigern, denn mit Autos ist es wie mit Katzen: Man muss deren Lebensjahre bekanntlich mal sieben nehmen. Auf der anderen Seite aber kämen sie heraus wie aus dem Ei gepellt, lack- und chromglänzend und mit allem ausgestattet, was ein Mensch braucht, um damit lang im Stau zu stehen. Ach, wie da die Menschen um das neue Auto tanzen, wie sie den Kühlergrill liebkosen und sich in die Sitze schmiegen. Abwrackprämie, welch garstiges Wort! Es ist ein Jungbrunnen für so manchen Fahrer, für die Schrotthändler und die Autoindustrie sowieso.

Und wird doch wieder nur wenigen zuteil. So, wie die Männer bei Lucas Cranach dem Älteren, so schauen nun andere alt aus und klagen darüber, dass ihnen der Jungbrunnen verwehrt bleibt. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub fordert die Abwrackprämie für Fahrräder, die Umweltverbände für Kühlschränke und der bayerische Umweltminister Markus Söder für die kleinen Holz- und Kohleöfen der kleinen Leute. Söders Ministerpräsident indes, der unlängst den Jungbrunnen durchschritten hat, Horst Seehofer der Jüngere quasi, der bereitet schon das nächste Wunder vor, um alle im Lande zu beglücken: Es ist die wunderbare Steuervermehrung trotz sinkender Steuereinnahmen.

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Kultur, Gesellschaft, Politik

WOCHENENDE

Großschauspieler: Es gibt so tolle Mimen! Leider halten sich die meisten für bedeutend. Eine Tragödie. Von Tobias Kniebe

Kleinkünstler: Der Maler Werner Hoeflich kam oft schon um ein Haar ganz groß raus. Eine Komödie. Von Jan Brandt

Nobelpreisträgerin: Shirin Ebadi über das Leben in Iran 30 Jahre nach der Revolution. Von Anne Ameri-Siemens

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Bahn bittet Justiz um Hilfe

Mehdorn will Datenaffäre von Staatsanwalt aufklären lassen

Berlin - Die Berliner Staatsanwaltschaft soll in der Datenaffäre bei der Deutschen Bahn (DB) ermitteln. Konzernchef Hartmut Mehdorn hat am Freitag von sich aus die Ermittlungsbehörde eingeschaltet. Mehdorn betonte, er gehe davon aus, dass die Bahn sich rechtmäßig verhalten habe und dies von der Staatsanwaltschaft bescheinigt bekomme. Der Bahnchef verwahrte sich gegen die Forderung von Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) nach Aufklärung. "Tiefensee hat damit nichts zu tun." Inzwischen verlangt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Angaben eines Sprechers eine "lückenlose Aufklärung". Die Bahn hat bei 173 000 Mitarbeitern anhand von Adressen und Bankverbindungen prüfen lassen, ob Anhaltspunkte für illegale Geschäfte vorliegen. (Wirtschaft) dku/o.k.

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Begeisterter Empfang

Es war früher Morgen in Istanbul, und trotzdem fanden sich auf dem Flughafen 5000 Türken, die ihren Premier Recep Tayyip Erdogan begeistert feierten. Er war erbost aus einer Debatte mit Israels Präsident Schimon Peres gestürmt. Einige Anhänger hielten Fotos mit palästinensischen Kindern in die Höhe, die im Gaza-Krieg von der israelischen Armee getötet wurden. (Bericht unten) Foto: AFP

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Grippe aus Nordwest

Die Influenza hat jetzt ganz Deutschland erfasst

Wer jemals eine richtige Grippe hatte, wird sie nie wieder mit einem grippalen Infekt verwechseln. Typisch ist der plötzliche Beginn mit hohem Fieber, Gliederschmerzen, Schüttelfrost und trockenem Husten. Bei einem grippalen Infekt hingegen überwiegen Erkältungssymptome wie Schnupfen und Halsweh; die Körpertemperatur ist zudem meist nur leicht erhöht. Derzeit machen immer mehr Menschen Bekanntschaft mit der Influenza, wie die Grippe von Medizinern genannt wird. "Wir stecken mitten in der Grippewelle", sagt Silke Buda, Infektionsepidemiologin am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin. "Die Erkrankung kann schwere Folgen haben, und der gegenwärtige Virus-Subtyp ist besonders gefährlich."

Die RKI-Forscher ermitteln regelmäßig, wie viele Menschen wegen Atemwegsinfektionen den Arzt aufsuchen. Zudem wird am Nationalen Referenzzentrum für Influenza in repräsentativen Stichproben erfasst, wie oft Influenza-Viren zuschlagen. In der zweiten Januarwoche häuften sich Grippeerkrankungen zunächst in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Seither hat sich die Influenza vom Nordwesten aus fächerförmig über die Republik verbreitet und ist nun im Süden und Osten angekommen. Andere europäische Länder beutelt die Grippe ebenfalls stark. "Derzeit erhöht sich die Influenza-Aktivität immer weiter", teilt das europäische Influenza-Kontrollprojekt EISS mit. "Es ist bisher ein klarer West-Ost-Trend."

Dramatisch ist die Lage dem RKI zufolge nicht. "Ärzte sollten sich aber auf die Grippewelle einstellen", sagt Buda. "Und wer sich krank und vergrippt fühlt, sollte zum Arzt gehen und feststellen lassen, ob es eine echte Grippe ist." Für alte und abwehrschwache Menschen kann die Grippe gefährlich werden. In den vergangenen zwanzig Jahren sind in Deutschland nach RKI-Angaben jedes Jahr durchschnittlich zwischen 8000 und 11 000 Menschen an Grippe oder ihren Folgen gestorben. "Den Großelternbesuch sollte man lieber verschieben, wenn die Kinder krank sind", sagt Buda. Zudem beugt man dem Leiden vor, wenn man sich häufig die Hände wäscht und Räume oft lüftet.

Der Arzt muss entscheiden, ob eine symptomatische Behandlung mit Bettruhe und Fiebersenkern ausreicht oder ob antivirale Medikamente nötig sind. Eine Impfung nützt nicht mehr, wenn bereits Beschwerden da sind - dann ist sie sogar gefährlich. "Wer noch keine Symptome hat, kann sich zwar noch impfen lassen", sagt Buda. "Zwei Wochen dauert es aber, bis ein gewisser Schutz eintritt, deshalb empfehlen wir ja auch, sich im Herbst impfen zu lassen."

Wie die Grippesaison diesmal ausfallen wird, können die Forscher nicht sagen. Sorgen bereitet ihnen, dass die Grippewelle schon Anfang Januar begann - üblicherweise fängt sie erst im Februar an. Zudem dominiert Virustyp H3N2, durch den derzeit mehr als 80 Prozent der Erkrankungen ausgelöst werden. Die Erreger der Grippe wechseln fast jedes Jahr. Mit den Kürzeln H und N werden Eiweiß-Ausstülpungen auf der Virenoberfläche bezeichnet. "Von den drei Virustypen, die wir zumeist beobachten, verursacht H3N2 die schwersten Verläufe", sagt Buda. Im Winter 2007/08 fiel die Grippesaison milde aus. Die Grippewelle 2006/07 war zwar stärker, forderte mit 3500 Todesfällen aber vergleichsweise wenige Opfer. "Schlimm war die Saison 2002/03 und 2004/05", sagt Buda. "Ob es so heftig wird, wissen wir erst hinterher." Werner Bartens

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Gesetzesinitiative der Bundesregierung

Volle Verstaatlichung von Banken wird erlaubt

Dabei soll auch die Enteignung der bisherigen Aktionäre möglich sein / Als erster Kandidat gilt die Hypo Real Estate

Von Guido Bohsem und Claus Hulverscheidt

Berlin - Die Bundesregierung hat die Grundlage für die Verstaatlichung privater Banken und die Enteignung der bisherigen Besitzer gelegt. Nach dem Entwurf zur Änderung des Finanzmarkt-Stabilisierungsgesetzes, der der "Süddeutschen Zeitung" vorliegt, müssen sich enteignete Aktionäre auf sehr geringe Entschädigungen einstellen.

Bis Anfang der Woche soll aus der schon bis ins Detail ausgearbeiteten Vorlage ein formeller Gesetzesentwurf werden. Dabei sind noch Änderungen möglich. Zudem steht noch die verfassungsrechtliche Prüfung des Entwurfs aus. Sobald das Regelwerk in Kraft ist, kann der Bund wie geplant die Mehrheit bei dem in Schieflage geratenen Münchner Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate (HRE) übernehmen.

Hauptbetroffener könnte dabei der amerikanische Finanzinvestor J.C. Flowers sein, der rund 25 Prozent der Anteile an der HRE besitzt. Er sträubt sich noch, seine Anteile an den Bund zu verkaufen. Offensichtlich ist sein Ziel, einen möglichst hohen Preis herauszuschlagen und seine immensen Verluste aus dem Engagement bei der Bank damit zumindest zu begrenzen. Der Bund wiederum braucht die Anteile des Investors, um den täglichen Mittelabfluss bei der HRE zu stoppen, die Übernahme des Instituts durch einen Konkurrenten zu verhindern und damit die eingesetzten Steuergelder zu sichern. Die Hypo Real Estate ist nur deshalb noch nicht bankrott, weil ihr der deutsche Staat und andere Banken insgesamt gut 90 Milliarden Euro an Hilfen zur Verfügung gestellt haben.

Werden sich Bund und J.C. Flowers nicht einig, könnte der Finanzinvestor über das neue Gesetz enteignet werden. Die Entschädigung würde sich nach dem durchschnittlichen Aktienkurs der letzten zwei Wochen bemessen. Für den Fall, dass der Kurs unmittelbar vor dem Enteignungsbeschluss weiter abstürzen sollte, wird sogar nur der Durchschnittswert der letzten drei Tage zugrunde gelegt. Im konkreten Fall erhielte Flowers damit eine Entschädigung von etwa 1,50 Euro je Aktie. Beim Kauf der Anteile hatte er seinerzeit 22,50 Euro bezahlt.

Das Gesetz soll bis Ende des Jahres befristet werden. Innerhalb dieser Spanne erhält die Regierung jedoch die Möglichkeit, jede Bank zu verstaatlichen. Enteignungen sollen laut Entwurf aber nur zulässig sein, wenn keine anderen rechtlichen und wirtschaftlichen Mittel zur Verfügung stehen, um die Stabilität des gesamten Finanzsektors sicherzustellen.

Parallel dazu arbeitet die Regierung an den Grundlagen für die Gründung sogenannter Bad Banks, in die die krisengeschüttelten Kreditinstitute nicht verkäufliche Wertpapiere auslagern könnten. Ziel ist es, den Kreislauf aus immer neuen Wertabschreibungen und Verlustausweisungen zu unterbrechen, der die Vertrauenskrise im Finanzsystem im Vierteljahresrhythmus neu befeuert. Anders als in den USA will die Bundesregierung allerdings keine zentrale Sammelstelle für faule Wertpapiere gründen. Vielmehr soll jedes Geldhaus eine eigene Bad Bank errichten.

Für diese Institute könnte dann ein Sondergesetz gelten, das die Pflicht zur vierteljährlichen Bewertung der Papiere vorübergehend aufhebt und damit Raum für ein geordnetes Verfahren schafft. Das Kapital zur Gründung ihrer jeweiligen Bad Bank müssten sich die Kreditinstitute beim staatlichen Rettungsfonds Soffin besorgen. Das Finanzministerium dämpfte allerdings Hoffnungen auf eine baldige Lösung. Auch international gebe es noch kein Modell, das keine schwerwiegenden Nebenwirkungen habe, hieß es. (Seiten 4, 6 und Wirtschaft)

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Nordkorea kündigt alle Verträge mit dem Süden

Seoul - Das Verhältnis zwischen Nord- und Südkorea hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Die Regierung des kommunistischen Nordens erklärte alle Abkommen mit dem Süden für hinfällig. Man stehe am Rande eines Krieges, hieß es am Freitag in einer Meldung der staatlichen nordkoreanischen Nachrichtenagentur KCNA. (Seite 10) Reuters

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Das Wetter

München - Im Osten und Nordosten örtlich leichter Schneefall. Im Westen und Südwesten nach Nebelfeldern viel Sonne. Im Südosten Wolken, Sonnenschein, vereinzelt ein paar Schneeflocken. Minus zwei bis plus vier Grad. (Seite 42)

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Shoah-Leugner bringen Papst in Bedrängnis

Rom - Nach einem weiteren Fall der Leugnung des Holocaust durch einen traditionalistischen Priester gerät Papst Benedikt XVI. stärker in Bedrängnis. Die Gaskammern hätten der "Desinfektion" gedient, sagte der italienische Priester Floriano Abrahamowicz. Der Vatikan verurteilte die Aussage scharf. Wer die Shoah leugne, wisse nichts von Gottes Mysterium. (Seiten 4, 8, München) SZ

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Steinmeier will abrüsten

Berlin - Deutschland ist nach den Worten von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bereit, in Berlin eine internationale Abrüstungskonferenz abzuhalten. Nach den jüngsten Vorschlägen vonseiten der USA und Russland sei es möglich, "hier in Berlin zusammenzukommen", sagte Steinmeier am Freitag im Bundestag. Im Mittelpunkt sollte die nukleare Abrüstung stehen, vor allem der Nichtverbreitungsvertrag, sagte Steinmeier. Russland war dem zwischen Nato und Warschauer Pakt ausgehandelten KSE-Vertrag 1999 beigetreten, die Nato hat den Vertrag aber noch nicht ratifiziert. Wegen Streitigkeiten mit dem Bündnis hatte Russland den Vertrag Ende 2007 ausgesetzt. ddp

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NPD-Politiker verurteilt

Neuruppin - Der frühere Vorsitzende der rechtsextremen NPD in Brandenburg, Mario Schulz, ist rechtskräftig wegen Volksverhetzung verurteilt. Das Brandenburgische Oberlandesgericht habe die Revision des ehemaligen Prignitzer Kreistagsabgeordneten sowie zweier weiterer Angeklagter gegen ein Urteil des Landgerichts Neuruppin als unbegründet verworfen, teilte die Staatsanwaltschaft Neuruppin mit. Damit sei die Strafbarkeit eines von den Männern hergestellten und vertriebenen Flugblatts mit dem Titel "Spekulanten ade" bestätigt worden. Auf dem Flugblatt war mit dem Abbild eines Juden das Spekulantentum an der Börse attackiert worden. ddp

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Gewerkschaft nennt Angebot der Bahn "Zumutung"

Arbeitgeber machen Höhe der künftigen Gehälter von Unternehmens-Gewinnen abhängig

Von Detlef Esslinger

München - Die Tarifverhandlungen bei der Bahn sind festgefahren. Zwar legte das Unternehmen am Freitag in Frankfurt ein neues Angebot vor, die Gewerkschaften wiesen dies jedoch als "Zumutung" zurück. Eigentlich wollen beide Seiten bis Samstag einen Abschluss erzielen. Sie verhandeln über Arbeitszeiten und Gehälter. Von Sonntag an wären die Gewerkschaften auch beim Thema Gehälter aus der Friedenspflicht heraus. Am Freitagabend wollte die Bahn ihr Angebot noch einmal verbessern.

Die Bahn bot den Beschäftigten an, ihre Einkommen in mehreren Stufen zu erhöhen. Zum 1. März solle es ein Prozent mehr Geld geben, im Dezember solle eine Einmalzahlung von 500 Euro folgen - aber nur dann, falls der Konzern in diesem Jahr wieder "das Ergebnis" von 2008 erziele. Wie hoch dies ausfiel, ist noch nicht bekannt. Im ersten Halbjahr hatte die Bahn einen Gewinn von 1,4 Milliarden Euro. Weiter bot die Bahn an, im März kommenden Jahres die Einkommen erneut anzuheben: und zwar um ein Prozent, falls der Konzern im Jahr 2009 einen geringeren Gewinn erziele als im vergangenen, oder aber um zwei Prozent, falls er dieses Jahr genauso erfolgreich sein werde wie im vergangenen. Darüber hinaus bot die Bahn den Gewerkschaften an, die Arbeitszeitbestimmungen zu "optimieren". Die Vorschläge dazu wurden von den Gewerkschaften aber als wolkig empfunden.

Der Vorsitzende der GDBA, Klaus-Dieter Hommel, sagte, das Angebot sei ein Witz. Es habe keinerlei substantielle Verbesserungen gegeben, das Taktieren der Bahn gehe weiter. Transnet-Chef Alexander Kircher kritisierte, dass sich das Angebot ausschließlich an den Gewinnen orientiere. "Das ist nicht hinnehmbar." Beide Gewerkschaften fordern Einkommenserhöhungen von zehn Prozent. Der Vorsitzende der GDL, Claus Weselsky, sagte, das Angebot habe zur "Verschärfung der Verhandlungssituation" geführt. Seine Gewerkschaft, die getrennt von den beiden anderen verhandelt, fordert Einkommenserhöhungen von 6,5 Prozent, neben besseren Arbeitszeiten. Alle Gewerkschaften verlangen eine Laufzeit von einem Jahr, die Bahn will eine Vereinbarung über zwei Jahre.

Die Reaktionen der Gewerkschaften fielen auch deshalb so harsch aus, weil Bahn-Personalchef Norbert Hansen zuvor hohe Erwartungen geweckt hatte. Er hatte angekündigt, ein Angebot vorzulegen, das "auf alle Forderungen eingeht". Hansen war bis vor einem Dreivierteljahr Vorsitzender der Transnet; am Freitag brachte die Gewerkschaft abermals zum Ausdruck, wie enttäuscht sie von ihrem alten Chef ist. "Es wurden Torten angekündigt, aber herumgekommen sind Kekse", sagte ihr Sprecher.

Offensichtlich handelte es sich bei dem Angebot aber nur um einen taktischen Zug der Bahn - in der Annahme, dass die Gewerkschaften ihr Angebot ohnehin zurückweisen würden, vermied es das Unternehmen offensichtlich, mit teuren Zugeständnissen in die Verhandlungen zu gehen. Vorstand Hansen sprach von einem "Eröffnungsangebot".

Falls an diesem Wochenende keine Einigung in den Tarifgesprächen bei der Bahn erzielt wird, werden in der kommenden Woche viele Schalter geschlossen bleiben und Reisende vergeblich auf ihre Züge warten. Die Bahngewerkschaft Transnet droht mit neuen Warnstreiks. Foto: dpa

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Koalition in Hessen perfekt

CDU und FDP einig Liberale stellen drei Minister

Wiesbaden - Hessen wird künftig von einer Koalition aus CDU und FDP regiert. Nachdem beide Parteien sich in der Nacht zum Freitag auf einen Koalitionsvertrag geeinigt hatten, steht noch die Zustimmung der Gremien aus; zudem soll die Besetzung einiger CDU-geführter Ministerien bis kurz vor der Wahl des Ministerpräsidenten am Donnerstag offen bleiben. Die FDP wird wegen ihrer Stimmengewinne bei der Landtagswahl drei Ministerposten besetzen. Die Landtagsfraktionen beider Parteien stimmten dem Vertrag am Freitag jeweils einstimmig zu.

Zwar nannte die FDP am Freitag offiziell noch keine Namen. Mit dem Vorbehalt, dass an diesem Samstag der erweiterte Landesvorstand zustimmen muss, steht die Besetzung aber fest: FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn soll stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Justiz, Integration sowie Europaangelegenheiten werden. Sein Stellvertreter Dieter Posch wird wie bereits 1999 Wirtschafts- und Verkehrsminister. In der Abgeordneten Dorothea Henzler wird die FDP zudem die Kultusministerin stellen.

Damit ist im Kabinett kein Platz mehr für den bisherigen Wirtschaftsminister Alois Rhiel (CDU), der seinen Wechsel in die Wirtschaft angekündigt hat. Auch die Ressorts des Europaministers Volker Hoff sowie des geschäftsführenden Kultus- und Justizministers Jürgen Banzer sind nun besetzt. Hoff erklärte seinen Verzicht auf einen Posten. Der derzeit noch geschäftsführende Ministerpräsident Roland Koch kündigte an, der CDU-Fraktion am Mittwoch die Besetzung der Ministerien vorzustellen.

Koch und Hahn betonten bei der Vorstellung des Vertrags unter dem Titel "Vertrauen. Freiheit. Fortschritt" die Gemeinsamkeiten ihrer Parteien. Vor allem in der Schulpolitik sollen neue Akzente gesetzt werden. Jeder Schule soll es offenstehen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Den sogenannten Selbstständigen Schulen werden teilweise Budgethoheit und Personalverantwortung eingeräumt. Die von der FDP angestrebte verpflichtende Kinderschule wird nicht eingeführt; stattdessen soll das letzte Kindergartenjahr genutzt werden, um Kinder besser auf die Schule vorzubereiten. An den Schulen werden in den nächsten fünf Jahren 2500 neue Stellen entstehen; zudem sollen die Klassen kleiner werden.

Noch in diesem Jahr sollen 550 Polizeianwärter eingestellt werden; hinzu kommen 150 zusätzliche Wachpolizisten. Koch stellte klar, dass die Zahl der Stellen im Landesdienst dennoch während der Legislaturperiode nicht wachsen, sondern auf dem heutigen Stand bleiben solle. Ein weiterer Schwerpunkt sind Investitionen in die Infrastruktur. Koch sagte, man werde "sehr heftig darum kämpfen", die Nettoneuverschuldung zu reduzieren. Man strebe zudem eine Änderung der Landesverfassung an, die eine Neuverschuldung verbieten soll. Koch und Hahn kündigten an, die dafür notwendige Volksabstimmung vorzubereiten. (Seite 4) Christoph Hickmann

An den Schulen sollen 2500 neue Stellen geschaffen werden.

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Sorge vor Atomstrahlen

Grüne fordern neue Studie zu Versuchslager Asse

Von Jens Schneider

Hamburg - Es ist zehn Jahre her. Aber die Frage seines Arztes habe er nie vergessen, sagt Eckbert Duranowitsch. "Hatten Sie mit Radioaktivität zu tun?" wollte der Doktor wissen, und das aus besorgniserregendem Anlass. Gerade hatte er diagnostiziert, dass Duranowitsch an Leukämie erkrankt war. Heute ist der inzwischen 46-jährige Schlosser überzeugt, dass er durch die Arbeit im Atommülllager Asse in Niedersachsen krank wurde. Bis 1990 hat er als Schlosser drei Jahre in dem Versuchslager gearbeitet, wo - wie das Bundesamt für Strahlenschutz als heutiger Betreiber sagt - nie Atommüll hätte eingelagert werden dürfen. Das ehemalige Bergwerk ist marode und vom Einsturz bedroht, täglich laufen zwölf Kubikmeter Wasser ein. Es bleiben nur wenige Jahre, eine Lösung für die 125 787 gelagerten Fässer Atommüll zu finden.

Der Fall Duranowitsch hat jetzt eine intensive Debatte über mögliche Gesundheitsschäden bei Mitarbeitern der Asse ausgelöst. Die Grünen fordern eine breit angelegte Studie, die alle ehemaligen und derzeitigen Beschäftigten erfassen soll. Auch solle, sagt Stefan Wenzel, Fraktionschef in Niedersachsen, geklärt werden, ob Arbeiter ungeschützt mit Materialien gearbeitet hätten, von denen eine Strahlung ausgehen konnte. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig prüft die Aufnahme von Ermittlungen. Duranowitsch selbst sagt, er überlege, Anzeige gegen den einstigen Betreiber des Atomlagers zu stellen. Der frühere Betreiber, das Münchner Helmholtz Zentrum, versichert allerdings ausdrücklich, dass man einen Zusammenhang seiner Erkrankung mit der Arbeit in der Asse ausschließe. Für Duranowitsch seien seinerzeit keine erhöhten Werte Strahlenbelastung gemessen worden, heißt es von dort.

Derweil hat das Bundesamt für Strahlenschutz als neuer Betreiber erfahren, dass für eine Lösung der maroden Zustände in der Asse voraussichtlich etwas mehr Zeit bleibt. Berechnungen von Experten hätten ergeben, dass das Bergwerk bis 2020 und nicht, wie bisher angenommen, nur bis 2014 stabil sein dürfte. Jedoch gelte dies nur, wenn sich die Lage im Bergwerk nicht ändere. "Wir sind vor Überraschungen nicht gefeit", sagt ein BfS-Sprecher, "wir wissen nicht, was noch alles auf uns zukommen kann."

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Kritik am Konjunkturpaket

Regierung bittet Opposition vergeblich um Unterstützung

Berlin - Trotz ihrer Hinweise auf die dramatische Lage findet die Regierung für ihr 50-Milliarden-Konjunkturpaket keine Hilfe der Opposition. Bei der ersten Lesung im Bundestag warb Finanzminister Peer Steinbrück am Freitag für das Programm. FDP, Linke und Grüne attackierten die geplanten Maßnahmen jedoch als falsch und unzureichend. Dennoch wollen die Grünen dem Paket die Mehrheit im Bundesrat sichern.

Das zweite Konjunkturpaket umfasst neben milliardenschweren Investitionen in Infrastruktur und einem 100-Milliarden-Euro Rettungsschirm für Unternehmen auch die Abwrackprämie für alte Autos, die neue Kfz-Steuer sowie Steuer- und Abgabensenkungen und den Kinderbonus von 100 Euro. Wegen der hohen Kosten wird die Neuverschuldung des Bundes auf Rekordhöhe steigen. Nötig ist ein Nachtragshaushalt. Das Gesamtpaket soll bis 20. Februar in Bundestag und Bundesrat verabschiedet sein.

Steinbrück sprach vor den Abgeordneten erneut von der schwersten Rezession seit 1949, dem die Koalition das größte Konjunkturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik entgegensetze. Das sei angemessen und erfülle wichtige Bedingungen: Geld werde nicht "verbrannt", sondern für die Zukunft investiert, eine Kreditklemme sei zu vermeiden; der Autoindustrie müsse man behilflich sein, und man müsse Nachfrageimpulse geben.

Die Opposition kritisierte sowohl die jetzt geplanten Maßnahmen als auch den ihrer Ansicht nach mangelnden Erfolg des Banken-Rettungsschirms. "Diese Bundesregierung veruntreut in großem Umfang - in Milliarden-Umfang - Steuergelder", sagte Linken-Fraktionschef Oskar Lafontaine. Sein Co-Vorsitzender Gregor Gysi kritisierte eine Umverteilung von unten nach oben.

Auch Grünen-Vizefraktionschef Jürgen Trittin warf Steinbrück vor, mit dem Banken-Rettungspaket im Herbst "Geld verbrannt" zu haben, weil die Ziele verfehlt worden seien. Das nun geplante zweite Konjunkturpaket nannte er falsch und unzureichend.

FDP-Vizefraktionschef Rainer Brüderle nannte das Paket "zögerlich, kleinteilig und diffus". Wenn der Exportnation Deutschland das Auslandsgeschäft wegbreche, dann hülfen auch Konjunkturprogramme im Umfang von 30, 40 oder 50 Milliarden Euro nichts. AP/dpa

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Opposition will mit Mugabe regieren

Kampala - In Simbabwe hat nach der Regierung auch die Opposition einem Kompromissvorschlag zur Teilung der Macht zugestimmt. Oppositionsführer Morgan Tsvangirai sagte am Freitag, seine Bewegung für Demokratischen Wandel werde mit der Partei Zanu-PF von Präsident Robert Mugabe eine gemeinsame Regierung bilden. (Seite 10) SZ

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Türken feiern Erdogan wegen Eklats von Davos

Premier rechtfertigt Abbruch der Diskussion mit Israels Präsidenten: Der Würde meines Landes wurde geschadet

Davos/Istanbul - Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan ist zu Hause begeistert empfangen worden, nachdem er eine Podiumsdiskussion beim Weltwirtschaftsforum in Davos voreilig verlassen hatte, in der es um Israels Gaza-Offensive ging. Tausende jubelnder Türken begrüßten ihn am Freitag auf dem Istanbuler Flughafen und winkten mit Spruchbändern mit der Aufschrift "Die Türkei ist stolz auf dich". Die Menge schwenkte türkische und palästinensische Fahnen. Auch anti-israelische Sprechchöre waren zu hören. Der Premier war am Vortag wütend von der Diskussion mit dem israelischen Präsidenten Schimon Peres gestürmt, weil ihm der Moderator nicht die gleiche Redezeit wie Peres eingeräumt hatte. Der israelische Präsident und Erdogan zeigten sich am Freitag bemüht, den Streit zwischen beiden befreundeten Länder nicht eskalieren zu lassen.

In der hitzigen Debatte, an der auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und der Chef der Arabischen Liga, Amr Mussa, teilnahmen, hatte Peres Erdogan mit lauter Stimme gefragt, wie er auf ständige Raketenangriffe auf Istanbul reagieren würde. Zuvor hatte Erdogan das militärische Vorgehen Israels im Gaza-Streifen als unverhältnismäßig kritisiert. "Beim Töten kennen Sie sich sehr gut aus", antwortete der Erdogan verärgert. Kurz darauf stürmte er vom Podium und kündigte an, nie wieder zum Weltwirtschaftsforum zu kommen. Bevor er abreiste, erklärte er, sein Zorn richte sich nicht gegen Peres, sondern gegen den Moderator, der ihm nicht die Gelegenheit gegeben habe, auf die Ausführungen von Peres angemessen zu antworten. Sein Volk hätte von jedem türkischen Ministerpräsidenten dieselbe Reaktion erwartet, rechtfertigte Erdogan am Freitag seine Kritik: "Ich kann niemandem erlauben, dem Ruf und der Würde meines Landes zu schaden." Seine Äußerungen hätten sich aber nicht gegen das israelische Volk oder die Juden gerichtet. "Unser Vorwurf richtet sich voll gegen die israelische Regierung", versicherte der Premier.

Peres sagte am Freitag in Davos, sein Redebeitrag sei eine Reaktion auf die wiederholte Kritik am israelischen Militäreinsatz gewesen. "Israel ist eine Demokratie. Es kämpft gegen eine der gefährlichsten terroristischen und diktatorischen Gruppen", erklärte der 85-jährige Friedensnobelpreisträger. "Plötzlich gilt es als humanitär, Diktatoren zu unterstützen, Terror zu unterstützen, den Tod unschuldiger Menschen zu unterstützen." Der israelische Präsident äußerte die Hoffnung, dass der Eklat nicht die Beziehungen zwischen seinem Land und der Türkei belasten werde. Er habe mit Erdogan telefoniert und ihm versichert, dass ihm die Auseinandersetzung "sehr leid" tue. "Wir wollen keinen Streit mit der Türkei. Wir haben einen Konflikt mit den Palästinensern", sagte Peres.

Frühere türkische Diplomaten äußerten dennoch die Sorge, dass der Vorfall beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos die Beziehungen zu Israel beeinträchtigen und die Stellung der Türkei als Vermittlerin im Nahost-Konflikt schwächen könnte. Auch der Oppositionspolitiker Onur Öymen sagte laut türkischen Zeitungsberichten, Erdogan habe ein gutes Anliegen sehr schlecht vertreten. Der Erdogan-kritische Kolumnist Oktay Eksi schrieb in der Zeitung Hürriyet, die ganze Welt habe nun erlebt, dass die Türkei einen Ministerpräsidenten habe, "der sich nicht beherrschen kann". (Seiten 4, 9 und Wirtschaft) SZ

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Aufstand der "94er"

Eine Gruppe junger FDP-Politiker will das Grundsatzprogramm der Partei modernisieren

Von Peter Blechschmidt

Berlin - In der FDP machen die "94er" mobil. "94er-Generation" - so nennen sich in Anspielung auf die Achtundsechziger junge Mandats- und Funktionsträger in der FDP, die meinen, sie müssten ihrer Partei programmatisch auf die Sprünge helfen. Sie seien keine organisierte Gruppe wie die "Netzwerker" in der SPD und kein Karrierebund wie der "Andenpakt" in der CDU, schreiben der niedersächsische FDP-Landeschef Philipp Rösler, 35, und der nordrhein-westfälische Generalsekretär Christian Lindner, 30, im Vorwort zu einem "Freiheitsbuch", das im Februar herauskommen soll. Ihre Gemeinsamkeit liege darin, dass sie durch die Krisenjahre der FDP zwischen 1993-95 politisch geprägt und zum Engagement in der Partei animiert worden seien. Jetzt wollen sie mit Beiträgen unter dem Titel "Freiheit: gefühlt, gedacht, gelebt" die Debatte über ein neues Grundsatzprogramm befördern.

Die FDP - die nach aktuellen Umfragen bei 16 Prozent steht - sei Anfang der 90er Jahre in schwerem Fahrwasser gewesen, schreiben Rösler und Lindner. Bei Wahlen sei sie nicht selten unter "Sonstige" eingeordnet worden. Als Offenbarungseid hätten sie 1994 die Anzeige empfunden: "FDP wählen, damit Kohl Kanzler bleibt." Damals hätten sie gefürchtet, dass der deutschen Politik eine weltanschauliche Grundrichtung, der Liberalismus, verlorengehen könnte, wenn die Jungen die Partei nicht stärkten. "Deshalb haben wir als 94er-Generation der FDP Partei für die Freiheit ergriffen." Wer damals bei den Liberalen aktiv geworden sei, könne es kaum aus Karrieregründen getan haben.

Noch heute fällt den jungen Politikern oft auf, dass das Bild vieler Menschen vom Freiheitsbegriff der FDP "nicht viel mehr als eine böse Karikatur" sei. Das wollen sie ändern. An klugen Konzepten herrsche kein Mangel, schreiben Rösler und Lindner. "Wir glauben aber nicht daran, dass eine Partei nur wegen sinnvoller Maßnahmevorschläge gewählt wird." Vielmehr müsse sie das Lebensgefühl der Menschen treffen und ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen.

Deshalb haben Leute wie Rösler und Lindner schon 2008 angeregt, mit einem neuen Grundsatzprogramm der FDP die "Wiesbadener Grundsätze" von 1997 fortzuschreiben. Anfangs stießen sie auf Ablehnung. Das Parteipräsidium hielt ein neues Grundsatzprogramm für unnötig, "weil die Wiesbadener Grundsätze nach wie vor aktuell sind". Die dort beschriebene Bürgergesellschaft mit ihren Werten und Zielen sei noch lange nicht umgesetzt, befand Generalsekretär Dirk Niebel. Mit den Wiesbadener Grundsätzen habe die FDP einen "Modernitätsvorsprung", den die Konkurrenz längst nicht aufgeholt habe.

Das sehen die 94er anders. Sie betrachten das gültige Programm als quantitative Beschreibung von "Optionen für individuelle Lebensentwürfe". Dagegen wollen sie die "qualitative Dimension unseres Freiheitsbegriffes" setzen, in der "Werte" wie Fairness, Solidarität und Nachhaltigkeit den Ausschlag geben.

Inzwischen hat Parteichef Guido Westerwelle, der ebenfalls den Liberalismus als "Lebensgefühl" predigt, eingelenkt. Ende 2008 gab er einer neuen Programmdiskussion seinen Segen. Das fiel ihm umso leichter, als Rösler und Lindner ihm das entscheidende Verdienst daran zuweisen, dass die FDP ihre Krise der 90er überwunden hat. "Wir sind Westerwelles Prätorianergarde", sagt Lindner. "Es wäre ein großes Missverständnis, wenn unsere Denkanstöße als Angriff auf die Parteiführung verstanden würden."

Dass ihnen kein kurzfristiger Erfolg beschieden sein wird, schon gar nicht in einem Wahljahr wie diesem, wissen die Autoren. "Programmdebatten stoßen in der Öffentlichkeit und leider wohl auch bei dem einen oder anderen in der Partei auf geringeres Interesse", beklagt auch Niebel, der seinerseits schon vor zwei Jahren ein "Zukunftsforum" ins Leben gerufen hat, dessen erste Ergebnisse er im April präsentieren will. Nichtsdestoweniger hoffen die 94er, zumindest das Wahlprogramm beeinflussen zu können. "Das wäre auch ein Beitrag, den Modernitätsvorsprung der Wiesbadener Grundsätze zu bewahren," sagt Lindner. So viel Seitenhieb auf Niebel muss sein.

"Wir sind Westerwelles Prätorianergarde": Philipp Rösler, FDP-Chef in Niedersachsen und Mitglied der "94er", will der FDP Denkanstöße geben, aber dabei keinesfalls die Parteiführung angreifen. Foto: dpa

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BGH-Präsident rügt den Deal

Klaus Tolksdorf bezeichnet Absprachen bei Strafverfahren als "verheerend"

Von Helmut Kerscher

Karlsruhe - Der Präsident des Bundesgerichtshofs (BGH), Klaus Tolksdorf, hat seine Fundamentalkritik am "Deal" im Strafverfahren bekräftigt. Solche Absprachen seien mit den Grundsätzen des deutschen Strafprozesses nicht vereinbar und für das Ansehen der Strafjustiz verheerend, sagte er beim Jahrespressegespräch des Gerichts. Zugleich begrüßte er den von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) vorgelegten Gesetzentwurf zur "Verständigung im Strafverfahren". Er sei dankbar, dass sich der Gesetzgeber der Sache annehme. Tolksdorf schätzte, dass zwei Drittel aller Strafverfahren von Deals betroffen seien. Diese Entwicklung sei gefährlich.

Der seit einem Jahr amtierende BGH-Präsident, der als Strafrichter im Mannesmann-Prozess sowie in großen Terror-Verfahren bundesweit bekannt wurde, ist als Deal-Gegner bekannt. Er bemängelt vor allem, dass dabei zu niedrige Strafen verhängt und Geständnisse ungeprüft akzeptiert würden. Er reibe sich oft verwundert die Augen, wenn er lese, für welche Taten zwei Jahre mit Bewährung verhängt würden. Häufig stecke dahinter der Handel "Strafrabatt gegen Geständnis". Es entstehe dabei nicht ganz unzutreffend der Vorwurf einer "Zwei-Klassen-Justiz".

Tolksdorf meint, die Strafjustiz sei in "eine beängstigende Schieflage" geraten. Sie handle am Rande ihrer Ressourcen, benötige aber nicht mehr Richter, sondern weniger lange Verfahren oder einen "Systemwechsel". Derzeit müsse über Schuld und Strafe nach einer sorgfältigen Hauptverhandlung entschieden werden. Die Praxis des Deals sei mittlerweile so verbreitet, dass auch regelgerecht geführte Verfahren als abgekartetes Spiel angesehen würden.

Der BGH habe den Deal mit wenig Erfolg und "im Randbereich noch zulässiger Rechtsfortbildung" unter strengen Voraussetzungen erlaubt. Dazu gehörten die sorgfältige Überprüfung von Geständnissen, die Aufklärung des Sachverhalts und die Begrenzung eines Rechtsmittelverzichts. Er sei dankbar, sagte Tolksdorf, dass der Gesetzgeber diese Bedingungen aufgenommen habe. Möglicherweise sei ein Gesetz bei den Amts- und Landgerichten wirksamer als die BGH-Vorgaben. Es bestehe aber weiterhin die Gefahr von "Absprachen im Hinterzimmer". Der Gerichtspräsident meint damit nach eigenen Worten nicht den Strafprozess gegen Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel. Er habe keinen Grund, den Angaben des Richters zu misstrauen, es habe mit ihm im Vorfeld keine Absprache gegeben.

Das jüngste Grundsatzurteil des BGH zur Strafhöhe bei Steuerhinterziehung erläuterte der zuständige Richter Armin Nack. Der Senat habe bundesweit einigermaßen einheitliche Maßstäbe für die gleiche Bestrafung gleicher Delikte schaffen wollen, sagte er. In der Öffentlichkeit sei teilweise übersehen worden, dass der BGH weniger die Strafmilderungs- als die Strafverschärfungsgründe im Blick gehabt habe. So müsse sich außer der Schadenshöhe beispielsweise eine planmäßig betriebene Steuerhinterziehung zum Nachteil eines Angeklagten auswirken.

"Am Rande noch zulässiger Rechtsfortbildung"

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Prediger der Intoleranz

Viele Islamlehrer in Österreich lehnen Demokratie und Menschenrechte ab

Von Michael Frank

Wien - Nach der Veröffentlichung einer Studie über die Einstellungen islamischeer Religionslehrer zu Demokratie und Menschenrechten ist in Österreich eine Debatte über eine mögliche Änderung des Religionsgesetzes entbrannt. Der Untersuchung zufolge steht ein beträchtlicher Teil der österreichischen Islam-Lehrer demokratischen Werten und Menschenrechten ablehnend gegenüber. Bundeskanzler Werner Faymann von der sozialdemokratischen SPÖ schließt nun nicht mehr aus, das 60 Jahre alte Religionsgesetz des Landes zu ändern. Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) forderte von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) eine umfassende Erklärung bis zum 12. Februar. Die IGGiÖ vertritt offiziell alle Muslime des Landes.

Die Zahlen ernüchtern: Der Studie zufolge halten 21,9 Prozent der islamischen Religionslehrer Österreichs die Demokratie für unvereinbar mit ihrer Konfession; 14,7 Prozent sehen Österreichs Verfassung im Widerspruch mit dem Islam; 13,9 Prozent meinen, dass ihre Konfession die Teilnahme an Wahlen in Österreich verbiete; 18,6 Prozent billigen es, wenn vom Glauben abgefallene Muslime getötet werden; 27 Prozent lehnen die Erklärung der Menschenrechte ab.

Was die Studie so glaubwürdig macht, ist ihr Autor: Mouhanad Khorchide ist selbst Muslim, nach eigenem Bekunden ein "liberaler". Die Studie hat er für seine Dissertation "Der islamische Unterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft" erarbeitet. Er ist aktiver Imam, war Assistent am Religionspädagogischen Institut der Universität Wien und bildet Lehrer fort. Für die Studie hat er vor eineinhalb Jahren 210 der damals 330 tätigen Islam-Lehrer befragt.

Heute werden etwa 50 000 Kinder von 400 Lehrern in ihrer Religion unterrichtet. Der österreichische Staat bezahlt - eine Besonderheit in Europa - die Islam-Lehrer selbst. Beaufsichtigt werden sie von der IGGiÖ. Mouhanad Khorchide warnt übrigens vor einer einseitigen Auslegung der Zahlen: So stünde der Meinung von 28 Prozent der Lehrer, Muslime könnten sich nicht ohne Identitätsverlust in die österreichische Gesellschaft integrieren, die Meinung von 80 Prozent gegenüber, Integration sei für Muslime von entscheidender Bedeutung.

IGGiÖ-Präsident Anas Schakfeh, ein bislang hochangesehener, besonnener Mann, versucht abzuwiegeln: Überzeugungen seien eine persönliche Sache, sie öffentlich, etwa im Unterricht, zu äußern sei eine andere. Jetzt steht der IGGiÖ-Vorsitzende auch in den eigenen Reihen unter Beschuss. Seit bereits drei Jahren wären Neuwahlen in der Glaubensgemeinschaft fällig. Wegen Arbeiten und Behördenstreitereien um eine neue Verfassung des Verbandes sind die Wahlen aber seitdem überfällig. Außerdem fühlen sich türkische Muslime und Schiiten von dem angeblich saudisch beeinflussten Verband schlecht repräsentiert.

Als mögliche Gesetzesänderung haben Religionsrechtler nun vorgeschlagen, dass Lehrer, die Intoleranz predigen, von ihren Religionsgemeinschaften zu entlassen sind. Das müsse dann aber für alle Lehrer gelten - auch für katholische.

In Erklärungsnöten: Anas Schakfeh, Chef der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, hält die strittigen Ansichten für vertretbar - solange sie nur privat geäußert werden. Reuters

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Rodender Baumschützer

Sachsens Grünen-Chef muss nach Abholzaktion abtreten

Dresden - Ein Kahlschlag ist Schuld daran, dass die sächsischen Grünen einen neuen Vorsitzenden suchen müssen. Zwei Jahre lang hatte der Förster Rudolf Haas neben der Dresdner Stadträtin Eva Jähnigen an der Spitze der Öko-Partei in Sachsen gestanden. Jetzt erklärte er seinen Rücktritt nach Auseinandersetzungen um eine Abholzaktion, die Haas in einem von ihm geleiteten Forstbetrieb im benachbarten Bundesland Brandenburg angeordnet hatte. Der 53-jährige Grünen-Politiker, der bisher zugleich Stadtrat im nahe bei Dresden gelegenen Radebeul war und im Kreistag von Meißen saß, trat von allen politischen Ämtern zurück, nachdem er sich zuvor einer "Aussprache im Landesvorstand" der Grünen gestellt hatte.

Im Februar 2007 war der gebürtige Österreicher Haas zum Landessprecher der sächsischen Grünen gewählt worden, vergangenen September wurde er in seinem Amt bestätigt. Erst danach wurde bekannt, dass eine Forstbehörde in Brandenburg ihm einen Bußgeldbescheid über 2000 Euro zugestellt hatte. Die Forstbeamten warfen ihm vor, ein Waldgelände bei Cottbus, das er hatte abholzen lassen, nicht ordnungsgemäß wieder aufgeforstet zu haben. Tatsächlich war die Abholzung der Bäume zur Verjüngung des Waldbestandes legal gewesen, die Jungpflanzen wuchsen aber offenbar nicht recht nach.

Das allein wäre wohl noch kein Rücktrittsgrund gewesen für den Grünen. Zum Ärgernis in der Öko-Partei geriet jedoch, dass Haas seine Probleme mit der Forstbehörde "nicht richtig kommuniziert" habe, wie eine Parteikollegin berichtet. Immerhin hatte sich der Förster zuvor durch spektakuläre Baumschutzaktionen einen Namen gemacht - etwa als er sich vehement gegen das Absägen von Kastanien beim Schloss Moritzburg eingesetzt hatte.

Vorerst werden die Geschäfte der Grünen-Partei nun allein von der Dresdner Kommunalpolitikerin Jähnigen geführt. Denn die Neuwahl des Parteisprechers soll erst im März erfolgen, wenn die Landes-Grünen auf einem Parteitag in Chemnitz ihre Listen für die Europa- und die Landtagswahlen in diesem Jahr verabschieden wollen. Eine für dieses Wochenende in Dresden angesetzte Landesdelegiertenkonferenz wird sich hingegen nur mit der Wahl der Spitzenkandidatin befassen. Einzige Aspirantin ist die Grünen-Fraktionschefin im Dresdner Landtag, Antje Hermenau. Christiane Kohl

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Rekordergebnis für Liberale

München - Die Union muss in der Wählergunst starke Einbußen zugunsten der FDP hinnehmen. Nach Angaben der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen vom Freitag verlieren CDU und CSU im Vergleich zum Monatsanfang fünf Prozentpunkte und landen damit bei 37 Prozent. Die FDP kann ihren Stimmenanteil hingegen von elf auf 16 Prozent steigern und erreicht damit das beste Ergebnis, das die Liberalen jemals im Politbarometer erzielt haben. Die SPD stagniert bei 27 Prozent, die Grünen verbessern sich auf neun Prozent (plus zwei), die Linke verliert zwei Punkte und liegt bei sieben Prozent.

Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, so würden die FDP auf 14 Prozent kommen (plus drei), CDU/CSU erhielten 37 Prozent (minus drei). Die SPD bliebe unverändert bei 26 Prozent. Die Grünen würden einen Punkt zulegen und die Linke einen verlieren, womit beide Parteien bei 9 Prozent stehen.

Eine mögliche bürgerliche Koalition gewinnt in der Präferenz der Befragten weiter: 31 Prozent sähen gerne Union und FDP in der Regierungsverantwortung (24 Prozent im Januar). Nur noch 16 Prozent sprechen sich für eine Fortführung der großen Koalition aus, elf wünschen sich rot-grün. 45 Prozent glauben, die SPD würde trotz gegenteiliger Bekundungen im Bund eine Koalition mit der Linkspartei eingehen.

Ungeachtet der Verluste bei der Union kann Angela Merkel ihren Vorsprung in der Kanzlerfrage weiter ausbauen. 58 Prozent der Befragten wünschen sich die CDU-Chefin weiterhin an der Spitze der Regierung (plus drei). Ihr SPD-Gegenkandidat Frank-Walter Steinmeier verliert zwei Punkte und kommt auf 30 Prozent. Dabei wollen lediglich 61 Prozent der SPD-Anhänger den Außenminister als Kanzler. In der Unions-Wählerschaft sprechen sich hingegen 89 Prozent für Merkel aus. biaz

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"Große Terrorgefahr in Deutschland"

München - Nach der Veröffentlichung mehrerer islamistischer Drohvideos im Internet hat der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, die Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlags in Deutschland als außerordentlich hoch beschrieben. "Die Gefahr ist sehr groß, dass in Deutschland ein Terroranschlag durch Islamisten verübt wird", sagte Fromm im Interview des Hamburger Abendblatts in der Samstagsausgabe. Die jetzt verbreiteten Videos in deutscher Sprache belegten, dass "Anschläge gegen unser Land vorbereitet werden". Fromm bezeichnete die Überlegung, dass die Terrororganisation al-Qaida auf die Bundestagswahl ziele und den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan erzwingen wolle, als naheliegend. Die Erklärungen des Islamisten Bekkay Harrach in einem der Videos "deuten in diese Richtung". Der Krieg im Gaza-Streifen habe die Anschlagsgefahr in Deutschland zusätzlich vergrößert, warnte Fromm. Die Kampfhandlungen und die Berichterstattung vor allem in arabischen Medien "haben neuen Hass produziert", sagte er. "Unsere Sorge ist, dass Palästinenser und andere Muslime sich zu spontanen Übergriffen in Deutschland veranlasst sehen könnten. Fromm berichtete, den Sicherheitsbehörden sei ein islamistisch-terroristisches Personenpotential in Deutschland "im hohen dreistelligen Bereich" bekannt. Ein Ende des islamistischen Terrorismus sei "nicht absehbar". SZ

Warnt vor Anschlägen: Verfassungsschutz-Präsident Heinz Fromm ddp

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Bayerns Kampf gegen den Rest der Welt

Warum die CSU um das geplante Umweltgesetzbuch feilscht - und das Reformprojekt kaum mehr zu retten sein dürfte

Von Stefan Braun

Berlin - Die neue Rolle, so scheint es, macht einfach zu viel Freude. Seit Horst Seehofer CSU-Vorsitzender ist, genießt der Ober-Bayer eine Macht, wie er sie noch nie hatte. Erbschaftsteuer, Steuersenkungen, Umweltgesetzbuch - welches Thema auch immer gerade ansteht, niemand kann Seehofer auf einen Kurs zwingen. Und das nutzt der CSU-Chef aus, bis es anderen wirklich weh tut.

Das bisher letzte Beispiel in dieser Reihe ist das seit vielen Jahren geplante, von allen anderen Bundesländern unterstützte und zwischen SPD und CDU in Berlin weitgehend unstrittige neue Umweltgesetzbuch. Seit Seehofer in München regiert, steckt das Groß-Vorhaben in der Sackgasse. Und vieles spricht dafür, dass es da auch nicht mehr rauskommt. Noch am Freitag sollte es ein Gespräch zwischen Seehofer und Gabriel geben - der Ausgang war bei Redaktionsschluss offen, die Aussichten aber waren trübe.

Während die Bayern, allen voran Umweltminister Markus Söder, erklären, dass sie "nur" das geplante neue Verfahren kritisieren, an den ökologischen Zielen aber gar nichts auszusetzen hätten, hält Umweltminister Gabriel ihnen entgegen, gerade die von Söder abgelehnte "integrierte Verfahrensgenehmigung" sei Herzstück des ganzen Vorhabens. Dabei geschieht etwas absurdes: Beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, sie bremse den ökologischen Fortschritt und erhöhe die bürokratischen Lasten.

Bei dem Schwarzer-Peter-Spiel geht es im Kern um eine zentrale Frage: Legt man künftig Genehmigungsverfahren zum Wasserrecht, zur Luftverschmutzung und zu Abfallbestimmungen zusammen, um dem Antragsteller das Leben zu erleichtern - oder sieht man darin eine Verschärfung der Bürokratie, weil dann erstens Dinge geprüft würden, die nicht in jedem Einzelfall geprüft werden müssten, zweitens eine Flut von Klagen drohe und drittens beispielsweise 77 000 Kilometer Flussläufe allein in Bayern neu vermessen werden müssten. Wenig überraschend vertritt Gabriel die Position, dass ein neues Gesetz vieles erleichtert. Söder und Seehofer behaupten dagegen, die "integrierte Vorhabengenehmigung" erhöhe die Bürokratie und müsse verhindert werden. Söder sagte der Süddeutschen Zeitung: "Umweltstandards ja, Überbürokratisierung nein."

Als sogenannten Kompromissvorschlag boten die Bayern in dieser Woche an, man könne ohne weiteres die geplanten Teile zwei bis fünf des Umweltgesetzbuches, in denen Grenz- und Richtwerte festgeschrieben werden, verabschieden. Nur den ersten Teil, der die Genehmigungsverfahren regelt, sollte noch geändert werden. Doch was für die CSU-Führung wie ein Kompromiss klingt, ist für alle anderen eine Provokation. Selbst CDU-geführte Umweltminister aus anderen Bundesländern schütteln den Kopf und staunen über "die Dreistigkeit der CSU." Hier kämpfe ein kleines gallisches Dorf gegen den Rest der Welt, heißt es auch bei vielen Christdemokraten.

In der Auseinandersetzung kämpfen ohnehin CDU-Minister an der Seite Gabriels, so Baden-Württembergs Umweltministerin Tanja Gönner. Ihr Sprecher sagte der SZ, die CSU mache mit ihren Bedenken "kleine Ausnahmen zu Elefanten". Natürlich seien bei einem so großen Gesetzesvorhaben auch Kompromisse nötig. Aber anders als die Bayern es suggerierten, stecke der Charme des Ganzen gerade im gebündelten Genehmigungsverfahren. Zum ersten Mal müssten dann Anlagenbauer und Unternehmer Umweltgenehmigungen nur noch bei einer einzigen Behörde stellen. Bislang seien sie verpflichtet, an vielen Stellen eine Erlaubnis einzuholen. "Wer das als Bürokratisierung beschimpft, spielt ein falsches Spiel mit den Leuten", schimpft ein CDU-Umweltpolitiker in der Hauptstadt. Söder weist das von sich.

Längst sind die Interpreten des Schauspiels bei den parteipolitischen Motiven angekommen. Die CSU vermutet, dass Gabriel sich unbedingt mit einem strengen Umweltgesetzbuch schmücken möchte, um im Wahlkampf bei den Umweltverbänden zu punkten. In der SPD und der CDU wird das Verhalten der CSU genau andersherum gewertet: Hier versuche eine geschwächte Partei, sich bei Bauern und verschreckten Kleinunternehmern wieder in den Vordergrund zu schieben.

CDU-Umweltminister aus anderen Bundesländern schütteln den Kopf.

Für Naturschützer ist der gewundene Lauf der Donau bei Pondorf (Landkreis Straubing-Bogen) eine Augenweide, Flussschiffer fordern eine Begradigung. dpa

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Teure Arzneien

Berlin - Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel steigen trotz aller Sparbemühungen ungebremst. 2008 gaben die Kassen 25,8 Milliarden Euro für Medikamente aus, 5,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der verkauften Packungen stieg nur um 2,9 Prozent auf 734 Millionen, wie die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände am Freitag in Berlin mitteilte. Gesundheitsexperten haben wiederholt die teils hohen Preise für neue Präparate kritisiert. So gaben die Kassen etwa für Impfstoffe 18,5 Prozent mehr Geld aus als 2007. Die Mehrwertsteuer schlug mit mehr als 4,1 Milliarden Euro zu Buche. Würde für Arzneien der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 statt 19 Prozent erhoben, hätten die Kassen 2,6 Milliarden Euro sparen können, errechnete die Vereinigung. dpa

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Pofalla unterstützt Meyer

Berlin/Köln - CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla will ein Scheitern von seinem Parteifreund und Amtsvorgänger Laurenz Meyer beim Wiedereinzug in den Bundestag verhindern. "Ich halte es für richtig, dass Laurenz Meyer im Bundestag bleibt und die Aufgabe des wirtschaftspolitischen Sprechers (der Unionsfraktion) weiter wahrnimmt", sagte Pofalla dem Kölner Stadt-Anzeiger. Der CDU-Generalsekretär befürchtet, dass Meyer bei der Aufstellung der Landesliste Nordrhein-Westfalen Mitte März auf einem aussichtslosen Platz landet. dpa

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Modellversuch mit Radar

Goslar - In Deutschland sollen nach Ansicht von Experten in einem Modellprojekts erstmals Autofahrer auch ohne Anfangsverdacht mit einer stationären Radarkontrolle erfasst und geblitzt werden. Dafür sprach sich am Freitag der Verkehrsgerichtstag in Goslar aus. Der Versuch soll auf einem besonders gefährlichen Autobahnabschnitt stattfinden. Beim sogenannten Streckenradar werden die Autos am Anfang und Ende eines mehrere Kilometer langen Straßenabschnitts gefilmt, zugleich wird die Durchschnittsgeschwindigkeit errechnet. Da- bei soll laut Verkehrsgerichtstag sichergestellt werden, dass alle Daten von Autos ohne Tempoüberschreitung "sofort automatisch und spurenlos gelöscht werden". Das Streckenradar wird in Österreich, Italien, Großbritannien und den Niederlanden eingesetzt. Dort verzeichneten die Behörden einen erheblichen Rückgang der Unfallzahlen. SZ

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US-Kardinal unter Verdacht

Los Angeles - Die kalifornische Staatsanwaltschaft ermittelt nach einem Bericht der Los Angeles Times im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen gegen den Erzbischof von Los Angeles, Kardinal Roger Mahony. Laut Zeitung wird geprüft, ob Mahony und andere Kirchenobere pädophile Geistliche trotz massiver Vorwürfe geschützt und nicht aus dem Dienst entlassen haben. Er sei über die angebliche Untersuchung durch eine Grand Jury "erstaunt und verblüfft", sagte Mahony dem Bericht zufolge in einem Radiointerview. dpa

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Der Vatikan sucht einen Schuldigen

Im Kirchenstaat wird der Skandal um den Holocaust-Leugner Williamson als Panne dargestellt - doch Fragen bleiben

Von Stefan Ulrich

Rom - Wusste Benedikt XVI., was er tat? Gerade einmal 0,1 Prozent aller Katholiken machen die Anhänger des verstorbenen Marcel Lefebvre aus. Diese Splittergruppe hat der Papst stärker an seine Kirche gebunden, indem er die Exkommunikation von vier Bischöfen, darunter einem Holocaust-Leugner, aufhob. Der Preis: Jüdische Organisationen brechen den Dialog mit dem Vatikan ab. Britische und italienische Abgeordnete aller Couleur sowie die niederländische Regierung äußern Entsetzen. Katholische Priester, Theologen und einfache Gläubige verstehen ihren Papst nicht mehr. Der brasilianische Befreiungs-Theologe Leonardo Boff warnt vor einem Schisma; und deutschsprachige Bischöfe distanzieren sich in einer Weise vom Vatikan, die - für katholische Verhältnisse - an Aufruhr grenzt.

Überspitzt formuliert: 99,9 Prozent der Katholiken leiden nun unter den 0,1 Prozent. Wie konnte sich der Papst so verrechnen? Wer Antworten sucht, muss zumindest bis ins Jahr 1988 zurückgehen. Damals hieß Benedikt noch Kardinal Joseph Ratzinger und wirkte als Präfekt der Glaubenskongregation. Seine Mission war es, die Kirche vereint im reinen Glauben unter dem Primat des Papstes zu halten. Das war schwer in jenen Jahren. Von "links" machten ihm die Befreiungstheologen zu schaffen. Von "rechts" setzten ihm die Erztraditionalisten unter Lefebvre zu. Diese Lefebvristen hielten die Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils für falsch bis ketzerisch. Sie sahen die Vorrangstellung der katholischen Kirche gefährdet, wenn mit anderen Konfessionen und Religionen von gleich zu gleich gesprochen und die Religionsfreiheit akzeptiert werde. Auch die Aussöhnung mit den Juden betrachteten die Traditionalisten mit Skepsis, da sie diese doch bekehren wollten. Ein Greuel war ihnen die Liturgiereform samt der Abschaffung der "tridentinischen Messe".

Kardinal Ratzinger hatte Verständnis für das Unbehagen an der Liturgie. Auch er trauerte der lateinischen Messe nach und fand, "dass die Kirchenkrise, die wir heute erleben, weitgehend auf dem Zerfall der Liturgie beruht". Nur: Der Kardinal stand hinter den Grundsätzen des Konzils wie der Versöhnung mit den Juden. In zähen Verhandlungen mit den Lefebvristen versuchte er, eine Kirchenspaltung zu verhindern. Doch Lefebvre machte alles zunichte, indem er ohne das Plazet des Papstes Bischöfe weihte. Damit zog er sich und den Neubischöfen automatisch die Exkommunikation zu.

Das Schisma muss Ratzinger schwer getroffen haben. Von einem "Lebenstrauma" spricht ein Monsignore. "Die Beseitigung des Schismas wurde für ihn zum großen persönlichen Anliegen." Als der Kardinal Papst wurde, machte er sich an die Aussöhnung. Am 29. August 2005 empfing er in Castel Gandolfo den Anführer der Sektierer, Bischof Bernard Fellay. Von einem "Klima der Liebe für die Kirche und dem Wunsch, zur vollkommenen Gemeinschaft zu gelangen", war die Rede. Im selben Jahr betonte Benedikt in einer Rede vor der Kurie, das Vatikanische Konzil bedeute keinerlei Bruch mit der Tradition. Im Juli 2007 ließ er weitgehend die lateinische Messe zu.

Die Lefebvristen bewegten sich nicht. So polemisierte Bischof Fellay im Oktober 2008 gegen die Neuerungen des Konzils: "Wir wollen dieses Gift nicht trinken." In einem Brief an die Kurie bekannte er sich formal zum Primat des Papstes, aber nicht zum Konzil. Dennoch fand es Benedikt an der Zeit, die Exkommunikation aufzuheben. In Vatikankreisen heißt es, noch nie sei ein Papst Schismatikern so weit entgegen gekommen. "Die Risikobereitschaft Benedikt XVI. ist historisch einmalig."

Bislang wird sie nicht belohnt. Am Freitag höhnte ein Vertreter der italienischen Lefebvristen, der Prior Pierpaolo Petrucci: "Die Exkommunizierung wurde aufgehoben, ohne dass uns eine Bedingung gestellt wurde. Es handelt sich um einen unilateralen Akt des Papstes." Damit erkenne Benedikt "unsere Ideen" implizit an. Zudem empörte sich der Prior: "Es hat uns schockiert, dass Benedikt XVI. während seiner Türkei-Reise in der Blauen Moschee von Istanbul gebetet hat." Andere Äußerungen sind noch peinlicher für den Vatikan. So sagte der Distriktobere der Traditionalisten für Nordost-Italien, Floriano Abrahamowicz , die Gaskammern der Nazis hätten zu Desinfektions-Zwecken gedient. "Ich weiß nicht, ob darin Menschen zu Tode gekommen sind." Damit rührte er an den wundesten Punkt der Affäre: Einer der Lefebvre-Bischöfe leugnet den Holocaust.

Der Brite Richard Williamson macht seit Jahren mit bösem Geschwätz von sich Reden. Mal sieht er den Teufel im Vatikan am Werk, mal stellt er die Anschläge des 11. Septembers als US-Verschwörung da. Außerdem leugnete er in einem TV-Interview, das im November bei Regensburg aufgezeichnet wurde, die Gaskammern und den Holocaust. Die Nachsicht Benedikts gegenüber den Traditionalisten war schon überraschend genug. Dass er so einen Hetzer wieder aufnahm, ließ die Sache zum Skandal werden.

Im Vatikan sucht man nun den Schuldigen. Der Papst habe von den antisemitischen Äußerungen nichts gewusst, heißt es in Kirchenkreisen. "Sonst hätte er das alles nie getan, bei all der Wertschätzung, die er für die jüdische Tradition hegt. Nicht umsonst nennt er die Juden seine ,Brüder des Ersten Bundes'." Doch wer trüge die Schuld am Unwissen des Papstes? Die Scheinwerfer richten sich auf Dario Castrillon Hoyos. Der sehr konservative, 79 Jahre alte Kurienkardinal leitet eine Kommission, die die Verhandlungen mit den Lefebvristen führte. Seit Tagen heißt es aus dem Kirchenstaat, Hoyos habe vor seiner Pensionierung das Schisma beenden wollen. Daher habe er die Äußerungen Williamsons unterschlagen. Diese Version wird von einem Bericht des Journalisten Chris Bonface bestätigt, den Vatikankreise als "glaubwürdig und nachvollziehbar" einschätzen. Danach kam es vergangenen Sonntag zu einem denkwürdigen Wutausbruch. Auf einer Busfahrt soll der Kurienkardinal Giovanni Battista Re seinen Amtsbruder Hoyos als "Pfuscher" beschimpft haben. Dann habe Re erzählt, Hoyos habe vom Fall Williamson gewusst, aber nichts gesagt. So habe er auch ihn, Re, als Chef der Bischofskongregation, hereingelegt, weil er ihm das Dossier zur Aufhebung der Exkommunikation zu kurzfristig zum Gegenzeichnen vorgelegt habe. "Er hat mir nicht mehr als ein paar Stunden gegeben", soll sich Re empört haben. Das war wohl zu wenig, um die Bombe Williamson zu finden und zu entschärfen.

Hoyos selbst behauptet: "Bis zum letzten Augenblick haben wir absolut nichts von diesem Williamson gewusst." Soviel Unwissen wirkt seltsam. Doch auch wenn Hoyos die Äußerungen Williamsons verschwiegen haben sollte, bleiben Fragen. Das Dekret, mit dem der Papst die Exkommunikation aufhob, trägt das Datum vom 21. Januar. Es wurde zunächst nicht veröffentlicht. Am selben Tag strahlte das schwedische TV das Interview mit Williamson aus. Schon am Donnerstag ging die Hetze des Fundamentalisten durch die Medien. Erst zwei Tage später, am Samstag, gab der Heiligen Stuhl die Aufhebung der Exkommunikation bekannt. Erstaunlich ist, dass die Kurie in der Zwischenzeit nicht reagierte.

Wo blieb das Staatssekretariat? Was taten die engsten Berater des Papstes? Warum wurde das Dekret nicht zurückgehalten? Hoyos antwortet, die Lefebvre-Bischöfe hätten das Dokument bereits in Händen gehalten, als die Äußerungen Williamsons um die Welt gingen. In diesem Fall aber hätte der Vatikan am Samstag mit der Bekanntgabe einen Protest gegen den Holocaust-Leugner veröffentlichen können. Doch das geschah erst später, als die Empörung überkochte.

Bleibt die Frage, warum Benedikt, unabhängig vom Fall Williamson, so weit auf die Lefebvristen zuging. Seine Verteidiger meinen, Benedikt habe die Schismatiker aus ihrer Ecke locken wollen. Er habe gehofft, die Erzkonservativen könnten so ihr "Feindbild Papst" aufgeben. Zudem erhielte Benedikt durch die Rückkehr der vier Bischöfe die Möglichkeit, auf diese einzuwirken. Auch dabei könnte er sich verrechnen.

In Vatikankreisen heißt es, noch nie sei ein Papst Schismatikern so weit entgegengekommen.

Was taten die engsten Berater des Papstes? Warum wurde das Dekret nicht zurückgehalten?

Wunde Kirchenspaltung: In zähen Verhandlungen hat Kardinal Joseph Ratzinger schon als Chef der Glaubenskongregation versucht, eine Kirchenspaltung mit den Lefebvristen zu verhindern. Das Schisma muss Ratzinger schwer getroffen haben. Von einem "Lebenstrauma" sprechen Geistliche. Foto: dpa

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Wunde Kirchenspaltung: In zähen Verhandlungen hat Kardinal Joseph Ratzinger schon als Chef der Glaubenskongregation versucht, eine Kirchenspaltung mit den Lefebvristen zu verhindern. Das Schisma muss Ratzinger schwer getroffen haben. Von einem "Lebenstrauma" sprechen Geistliche. Foto: dpa

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"Der Papst will die Wunde der Kirchenspaltung heilen."

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"Reaktionär und freiheitsfeindlich"

ZdK-Präsident Meyer zweifelt an der Piusbruderschaft

Papst Benedikt XVI. steht in der Kritik, weil er die Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft aufgehoben hat. Unter ihnen ist auch der Brite Richard Williamson, der den Holocaust leugnet. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hofft, dass das Verhältnis zu den deutschen Juden darunter nicht dauerhaft leidet.

SZ: Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat als Konsequenz aus der Wiederaufnahme von Richard Williamson den Dialog mit der katholischen Kirche auf Eis gelegt. Wie soll denn das christlich-jüdische Gespräch unter solchen Vorzeichen weitergehen?

Meyer: Es gibt beim ZdK eine lange Tradition im christlich-jüdischen Dialog, und wir haben auch in der Vergangenheit bei schwierigen Situationen immer einen Weg gefunden, der zu einem gemeinsamen Verständnis führte. Ich gehe davon aus, dass wir auch diesmal einen Beitrag leisten können, um das in der Tat im Moment beschädigte Verhältnis zum Judentum zu heilen.

SZ: Knobloch fordert vom Vatikan, wie sie am Freitag erklärte, "ein klares Signal", Taten statt schöner Worte. Sollte der Vatikan die Aufhebung der Exkommunikation zurücknehmen?

Meyer: Es ist schwer zu sagen, was man unter Taten versteht. Es war wichtig, dass der Papst persönlich die antisemitischen Äußerungen des Bischofs in aller Schärfe verurteilt und jetzt von den Traditionalisten klar gefordert hat, sich zu den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu bekennen. Dazu gehört der Respekt vor dem Judentum.

SZ: Die deutschen Bischöfe stehen auf dem Standpunkt, dass die Aufhebung der Exkommunikation ein kirchenrechtlicher Vorgang sei, der getrennt von den antisemitischen Äußerungen Williamsons betrachtet werden müsse. Was halten Sie von dieser Argumentation?

Meyer: Sie ist zwar sachlich richtig. Nur ist unbestreitbar, dass bei den Traditionalisten ein Zusammenhang besteht zwischen ihrer zutiefst reaktionären und freiheitsfeindlichen Haltung und der Ablehnung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils. Da frage ich mich: Werden die sich ändern? Oder erwarten sie von uns, dass wir uns ändern? Was ich aus diesen Kreisen höre und lese, stimmt mich keineswegs zuversichtlich.

SZ: Warum kommt der Papst den Traditionalisten immer wieder entgegen, ohne von ihnen etwas zu fordern?

Meyer: Der Papst will die Wunde der Kirchenspaltung heilen. Ich kann dieses Motiv verstehen, aber ich fürchte, dass diese Entscheidung nicht von einer realistischen Sicht der Dinge ausgeht.

SZ: Er nimmt also den Konflikt mit dem Judentum wissentlich in Kauf, um sich den Traditionalisten anzunähern?

Meyer: Ich glaube nicht, dass er die Beziehung zu den Juden an die zweite Stelle rücken will, aber diese Wirkung hat es leider momentan. Ich bin überzeugt, dass für ihn ein gutes Verhältnis zum Judentum eine Herzenssache ist und dass er die Shoa zutiefst verurteilt. Der Papst ist kein Antisemit.

SZ: Die deutschen Bischöfe haben sich ja umgehend von den antisemitischen Äußerungen von Williamson distanziert. Trotzdem bleibt bei vielen Katholiken ein Unverständnis - und eine Ratlosigkeit, was man jetzt tun kann.

Meyer: Dieses Gefühl teile ich.

Interview: Monika Maier-Albang

"Der Papst will die Wunde der Kirchenspaltung heilen."

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Eta droht mit Gewalt

Madrid - Knapp einen Monat vor der Regionalwahl im spanischen Baskenland hat die Untergrundorganisation Eta mit neuem Terror gedroht. "Wir werden weiter mit allen Mitteln gegen die Feinde der Unabhängigkeit kämpfen", kündigte sie in einer Erklärung an, welche die baskische Zeitung Gara veröffentlichte. In dem Propagandaschreiben anlässlich ihrer Gründung vor 50 Jahren erklärt sich die Eta für unbesiegbar. Nach Überzeugung der spanischen Polizei ist die Separatistenorganisation derzeit so geschwächt wie lange nicht mehr. dpa

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Paris baut neuen Reaktor

Paris - Frankreich baut einen neuen Atommeiler. Diese Entscheidung gab der französische Staatschef Nicolas Sarkozy am Donnerstagabend bekannt. Die Arbeiten für den Druckwasserreaktor sollen in drei Jahren beginnen. Er soll in Penly in der Normandie entstehen und 2017 ans Netz gehen. Die französischen Atomkraftgegner kritisierten das Vorhabe: Frankreich setze auf den grenzenlosen Verbrauch zum Profit der Atomindustrie, erklärte Greenpeace am Freitag. Derzeit gibt es in Frankreich 58 Atomreaktoren, die etwa 80 Prozent des Stroms liefern. AFP/AP/dpa

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EU-Anwärter Island

Brüssel - Die Europäische Union will Island nach einem Beitrittsgesuch möglicherweise schon im Jahr 2011 aufnehmen. Das berichtete die Zeitung Guardian am Freitag unter Berufung auf politische Kreise in Brüssel und Reykjavik. Weiter hieß es, die EU-Kommission bereite sich nach dem Antritt der neuen isländischen Links-Regierung auf ein Beitrittsgesuch in den kommenden Monaten vor. Der für die Erweiterung zuständige finnische Kommissar Olli Rehn meinte, Island könne zusammen mit Kroatien aufgenommen werden; das Balkanland ist bereits Beitrittskandidat. dpa

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Dickes Minus in Moskau

Moskau - Angesichts des Preisverfalls für Energieträger dürften die russischen Staatseinnahmen im laufenden Jahr nach Schätzungen der Regierung um annähernd die Hälfte sinken. Statt der eingeplanten fast elf Billionen Rubel (244 Milliarden Euro) sei nur noch mit 6,5 Billionen Rubel zu rechnen, teilte Finanzminister Alexej Kudrin in Moskau mit. Die Regierung hatte zuvor erstmals seit zehn Jahren einen Nachtragshaushalt mit einem Defizit von etwa sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts angekündigt. Kudrin kündigte an, der Staat wolle an den Investitionsprogrammen sparen. dpa

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"Britische Jobs für Briten"

London - In Großbritannien wächst der Unmut über ausländische Arbeitnehmer. Angesichts von Massenentlassungen, die Firmen in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise fast täglich ankündigen, folgten zunächst hunderte Arbeiter in der Grafschaft Lincolnshire dem Gewerkschaftsaufruf "Britische Jobs für britische Arbeiter". Im Laufe des Tages schlossen sich den Protesten mehrere tausend Arbeiter von Energiefirmen im ganzen Land an. Die Gewerkschaftsproteste zielen auf mehr als 100 Beschäftigte aus Italien und Portugal in einer Raffinerie im ostenglischen Lindsey. dpa

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Blagojevich verliert sein Amt

Senatoren setzen Gouverneur von Illinois einstimmig ab

Von Christian Wernicke

Washington - Knapp zwei Monate nach seiner spektakulären Festnahme wegen korrupter Machenschaften hat Rod Blagojevich, der Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois, sein Amt verloren. In der Nacht zum Freitag votierten alle 59 Senatoren des Heimatstaates von Präsident Barack Obama einstimmig dafür, Blagojevich durch seinen Stellvertreter Pat Quinn zu ersetzen. Damit endet eine politische Farce, die Obama und seiner aus Chicago stammenden Gefolgschaft wochenlang peinliche Nachrichten bescherte. Blagojevich, der nach wie vor seine Unschuld beteuert, droht nun ein Strafverfahren wegen Verschwörung und Bestechlichkeit.

In einer dramatischen Rede unmittelbar vor dem Votum zu seiner Amtsenthebung hatte Blagojevich behauptet, er habe "absolut nichts Falsches getan". Er habe sich stets für die kleinen Leute, die hart arbeitende Mittelschicht "und vor allem für die Kinder" eingesetzt. Indirekt räumte Blagojevich ein, dass er für politische Gefälligkeiten regelmäßig Gegenleistungen etwa in Form von Spenden für seinen Wahlkampf eingefordert habe. "Ihr seid selbst Politiker, Ihr wisst, wie es zugeht", rief er den Senatoren zu. Nichts davon sei jedoch kriminell. Zu Wochenbeginn hatte sich "Blago" in Interviews als "Opfer politischer Lynchjustiz" dargestellt und sich mit Mahatma Gandhi und Nelson Mandela verglichen.

Auf die konkreten Vorwürfe gegen ihn ging der 52-jährige Demokrat nicht ein. Am 9. Dezember vergangenen Jahres hatten FBI-Agenten den Politiker auf Weisung des Bundesanwalts Patrick Fitzgerald in Handschellen aus seinem Haus in Chicago geführt, später wurde der Gouverneuer gegen Kaution freigelassen. Fitzgerald sagte, er habe Blagojevich "mitten in einer Großtour krimineller Korruption" festgenommen. Der Zugriff sei auch erfolgt, weil der Gouverneur sein Vorrecht zu Geld machen wollte, einen Nachfolger für den bisherigen Senator von Illinois, den neugewählten US-Präsidenten Obama, zu ernennen.

Als Beweis veröffentlichte die Staatsanwaltschaft Mitschnitte von Telefonaten, in denen Blagojevich sich brüstet, er werde den Posten im Senat zu Washington "nicht kostenlos" vergeben: "Ich hab' dieses Ding, und es ist Gold wert!" Auch hatte der Gouverneur Provisionen verlangt, ehe er einem Kinderkrankenhaus staatliche Zuschüsse auszahlen wollte. Ebenso sollte der Medienkonzern der Chicago Tribune, der auf Subventionen für den Umbau seines Baseballstadions wartete, zunächst mehrere unliebsame Journalisten entlassen.

Noch Anfang Januar brachte Blagojevich die Demokraten in Washington in Verlegenheit, als er mit dem unbescholtenen Roland Burris erneut einen Afro-Amerikaner als Obama-Nachfolger benannte. Die demokratische Senatsführung wie auch der gewählte Präsident erklärten, sie würden Burris nicht ins Amt lassen. Mangels rechtlicher Mittel und angesichts wachsenden Drucks aus der demokratischen Partei, die erneut einen schwarzen Politiker im US-Senat sehen wollte, gab Obama schließlich nach.

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Sarkozy rächt sich für Pfiffe

Paris - Der französische Präsident war außer sich. Vor einer Schulklasse in dem Städtchen Saint-Lô in der Normandie hatte er alle Mühe, halbwegs Haltung zu bewahren. Während Nicolas Sarkozy zu Lehrern, Kindern und einigen Notabeln sprach, drangen von draußen die Sprechchöre der Demonstranten an sein Ohr. Schüler und Gewerkschafter protestierten lautstark gegen die Politik der Regierung im Allgemeinen und gegen den Präsidenten im Besonderen. Es war der 12. Januar, die Provinzstadt war von Mitarbeitern des Elysée-Palastes auserwählt, weil sie sich hier einen beschaulichen Vormittag für den Präsidenten versprochen hatten. Dass daraus nichts wurde, dafür muss nun, wenige Wochen später der Präfekt des Départements Manche, Jean Charbonniaud, büßen. Der Beamte, der den Job erst sechs Monate zuvor angetreten hatte, wurde auf Druck des Elysée-Teams auf einen unbedeutenden Posten in der Verwaltung der Hauptstadt versetzt. Abgeschoben wurde auch Philippe Bourgade, der örtliche Polizeichef, der künftig eine Polizeischule in Neukaledonien leiten darf.

"Es war nicht viel passiert", sagte der Polizeichef am Donnerstag, "außer dass der Präsident die Pfiffe der Demonstranten hörte". Nach Meinung aller Beteiligten war die Sicherheit Sarkozys zu keinem Moment gefährdet. Die Demonstranten waren von der Polizei in etwa 200 Metern Entfernung gehalten worden. Als Alternative wäre nur eine Sperrung des Ortskerns denkbar gewesen.

"Wie ein Fürst"

Während Elysée-Sprecher die Versetzungen als normal hinstellen, geht die Empörung bis weit in die Reihen der UMP, Sarkozys eigener Partei. Für Philippe Gosselin, den UMP-Abgeordneten des Départements Manche, benimmt sich Sarkozy "wie ein Fürst", die Versetzungen seien "einfach ungerecht". Der Senator und Fraktionschef im Regionalparlament, Jean-François Legrand, ebenfalls ein Parteifreund Sarkozys, findet es "skandalös", dass ein Repräsentant des Staates "wie ein Taschentuch benutzt wird". Dies sei "ein Gehabe aus einer anderen Zeit und politisch völlig kontraproduktiv". Im Übrigen sei Charbonniaud "ein sehr guter Präfekt gewesen".

Es war nicht das erste Mal, dass Sarkozy selbstherrlich Strafversetzungen anordnen ließ. Voriges Jahr traf den Polizeichef von Korsika der Bannstrahl des Präsidenten, weil er es nicht verhindert hatte, dass Demonstranten das Grundstück des Schauspielers Christian Clavier betraten. Clavier ist ein guter Freund von Sarkozy. Gerd Kröncke

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Späte Zweifel

Tony Blair fragt sich, ob der Irak-Krieg richtig war

London - Der frühere britische Premierminister Tony Blair hat erstmals Zweifel daran geäußert, dass die Teilnahme seines Landes am Irak-Krieg richtig war. In einem Interview mit dem Wochenendmagazin der Times, das auszugsweise vorab veröffentlicht wurde, räumte Blair ein, unsicher zu sein, ob er damals richtig entschieden habe. "Natürlich stellt man sich die ganze Zeit diese Frage", sagte Blair. "Man wäre doch selbst ein bisschen merkwürdig, wenn man das nicht täte." Die Entscheidung, Großbritannien an der Seite der USA in den Irak zu führen, verfolge ihn nicht bis in den Schlaf, aber "natürlich denke ich darüber nach, sie plagt mich, und ich empfinde deshalb ein großes Gefühl der Verantwortung".

Keine andere Entscheidung hat das Bild Blairs in der britischen Öffentlichkeit mehr beschädigt als der Einmarsch im Irak. Er verwandelte den beliebtesten Premierminister der Nachkriegszeit in kurzer Zeit in einen der unpopulärsten. Bis heute hat die Regierung sich geweigert, die Protokolle der Kabinettssitzungen des Jahres 2003 freizugeben, in denen der Krieg debattiert wurde. Erst jetzt wurde Premierminister Gordon Brown gerichtlich dazu aufgefordert, diese Informationen preiszugeben.

Viele Briten hegten Zweifel an der Aufrichtigkeit von Blairs Motiven bei der Irak-Entscheidung, schnell machte der Spottname "Bliar" machte die Runde: Blair, der Lügner. Im Times-Gespräch gibt er zu, es sei unangenehm, wenn die Bürger ihn der Lüge ziehen. Ob er, so wie der ehemalige US-Präsident George Bush, ebenfalls erwarte, dass ihm später im historischen Rückblick recht gegeben werde? "Ich weiß es nicht", erwiderte Blair. "Das weiß niemand." Ähnlich wie Bush beschäftigt aber auch Blair das Schicksal der Soldaten, die er in den Krieg geschickt hatte. "Das schwierigste ist das Verantwortungsgefühl für Menschen, die ihr Leben geopfert haben und gefallen sind - die Soldaten und die Zivilisten", sagte Blair. "Wenn ich das nicht fühlen würde, dann würde mit mir wirklich etwas nicht stimmen, und es gibt keinen einzigen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht darüber nachdenken würde . . . oft. Und das muss auch so sein."

Zugleich aber ließ Blair, der heute die USA, die UN, die EU und Russland als Nahost-Emissär vertritt, keinen Zweifel daran, dass der Sturz des irakischen Despoten Saddam Hussein auch positive Folgen für den Irak und seine Bürger gehabt habe. Wolfgang Koydl

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China nähert sich Europa an

Premierminister Wen Jiabao: Beziehungen zur EU haben "strategische Priorität"

Von Martin Winter

Brüssel - Unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise rücken China und die EU enger zusammen. Hatte Peking noch im Dezember einen geplanten Gipfel mit den Europäern aus Verärgerung über ein Treffen des damaligen EU-Präsidenten und französischen Staatschefs Nicolas Sarkozy mit dem Dalai Lama platzen lassen, soll nun "so früh wie möglich" ein neuer Gipfel stattfinden. Das sagte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao am Freitag nach einem Gespräch mit Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso in Brüssel. Die Beziehungen zu der EU seien für China eine "strategische Priorität".

Am Rande des Treffens unterschrieben beide Seiten neun Abkommen, unter anderem über eine verbesserte Zusammenarbeit beim Kampf gegen die Produktpiraterie. Die meisten der Verträge sollen eine bessere Kooperation in der Wirtschaft ermöglichen. Es geht dabei aber auch darum, den Studentenaustausch zwischen China und Europa zu intensivieren. Für die EU ist China nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner. Auf der anderen Seite ist die EU für China der größte Handelspartner. So importierten die Europäer etwa im Jahr 2007 Waren und Dienstleistungen im Wert von 242,8 Milliarden Euro aus China. Der Export aus den Ländern der EU nach China lag bei 84 Milliarden. Im Jahr 2006 investierten europäische Unternehmen sechs Milliarden Euro in China.

Wen, der am Tag zuvor in Berlin Gespräche mit Bundeskanzlerin Merkel geführt hatte, lobte die EU in ungewohnten Tönen. Ein starkes Europa könne eine "wichtige Rolle in der sich entwickelnden multipolaren Welt spielen". Barroso revanchierte sich mit dem Satz, die gegenseitigen Beziehungen seien "gereift". Ausdrücklich hob er Pekings Beteiligung an den Beratungen der G-20-Länder hervor, die sich im November auf Grundzüge für eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte verständigt hatten. Anfang April wird es ein weiteres Treffen geben, bei dem sich die Staaten auf gemeinsame Regeln verständigen wollen. Mit Blick darauf und auf die Bedeutung der Wirtschaftsbeziehungen sagte Barroso: "Von einer guten Zusammenarbeit können China und die EU nur profitieren." Wen bemerkte, die Beziehungen zueinander hätten sich so entwickelt, dass sie "niemand mehr umkehren kann". Vor allem in der gegenwärtigen globalen Wirtschaftskrise müssten Europäer "Zuversicht, Hoffnung und Stärke" zeigen. Solange "wir Hand in Hand" arbeiten, "werden wir die Krise überwinden.

Nachdem es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Abkühlung der Beziehungen wegen Tibet und der Lage der Menschenrechte gekommen ist, scheinen beide Seiten nun entschlossen, diese Differenzen ihrer Kooperation sich künftig nicht mehr in die Quere kommen zu lassen. Barroso teilte bei einer Pressekonferenz mit, dass er auch die Lage der Menschenrechte in China und den Streit um Tibet "angesprochen" habe. Worauf Wen erwiderte, dass China ein "offenes" Land sei und dass man "über alles" diskutieren könne, solange der gegenseitige Respekt gewahrt bleibe.

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Brüche in einer türkischen Tradition

Politiker in Istanbul loben die historisch guten Beziehungen zu den Juden - doch der Antisemitismus im Land wächst

Von Kai Strittmatter

Istanbul - Nach seinem stürmischen Auszug von Davos stellte der türkische Premier Tayyip Erdogan als erstes klar: Er habe regelmäßig jede Form von Antisemitismus verurteilt. Das stimmt. Am 10. Juni 2005 sagte Erdogan sogar, Antisemitismus sei "das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit". An dem Tag bekam Erdogan einen Preis verliehen von der jüdischen Anti-Defamation-League. Er nahm ihn stellvertretend entgegen für die türkischen Diplomaten, die während des Holocausts vielen europäischen Juden die Ausreise in die Türkei ermöglichten und ihnen damit das Leben retteten.

Die türkische Regierung erzählt gerne von der Türkei als Exil für verfolgte Juden. Es ist eine stolze Tradition, sie geht zurück bis aufs Jahr 1492. Damals flohen die Juden Spaniens vor Zwangskonvertierung und Tod - die meisten ins Reich der Osmanen. Sultan Beyazid hatte sie eingeladen. Noch heute leben mehr als 20 000 dieser aus Spanien stammenden Juden in Istanbul, Sephardim nennen sie sich. "Die Türkei war ein sicherer Zufluchtsort für alle Religionsgruppen seit dem 15. Jahrhundert", sagte Ahmet Davutoglu, Osmanenfan und Architekt von Erdogans Außenpolitik, während der israelischen Offensive im Gaza-Streifen: "Es gibt keinen einzigen Fall von Antisemitismus in der Türkei." Das ist die offizielle Regierungspropaganda. Die zunehmend hohl klingt.

Das Unbehagen in der jüdisch-türkischen Gemeinde wächst. Und auch wenn keiner hier den Premier des Antisemitismus bezichtigen würde, gibt es doch die Angst, dass die anti-israelischen Ausfälle Erdogans eine Stimmung schaffen, in der sich Antisemiten ermutigt fühlen. Immerhin hat Erdogan Schimon Peres "Kindermörder" genannt. "Der Wutanfall von Erdogan in Davos ist Öl ins Feuer des wachsenden Antisemitismus in der Türkei", glaubt David A. Harris, Direktor des American Jewish Committee (AJC). Antiisraelische Demonstrationen in der Türkei waren während Israels Gaza-Offensive so groß und so zornig wie nie zuvor. Zeitgleich mit Erdogans Auftritt in Davos lief auf einem kleinen Kabelsender eine "Dokumentation" mit dem Titel: "Zwischen Hitler und den Juden gibt es keinen Unterschied": Bilder aus Konzentrationslagern neben Bildern aus dem Gaza-Streifen. In der Stadt Eskisehir trat der "Osmangazi-Kulturverein" vor die Presse mit Plakaten: "Durch diese Tür dürfen keine Juden und Armenier / Eintritt nur für Hunde".

"Heute ist in mir etwas zerbrochen", hatte letzte Woche die Autorin Leyla Navaro, eine Istanbuler Jüdin in der liberalen Radikal geschrieben - nach einer Rede Erdogans, in der dieser die türkischen Juden indirekt für das Geschehen in Israel mit verantwortlich zu machen schien: "Ich bin besorgt, traurig und habe Angst um mich selbst und um die Zukunft meines Landes, das mehr und mehr rassistisch wird". Immerhin: Nach Erscheinen des Artikels meldete sich Staatspräsident Abdullah Gül bei ihr, um ihr den Rückhalt des Staates zu versichern.

Die Türkei hatte eigentlich nie eine starke antisemitische Tradition. Schikanen wie die Verschickung in Arbeitslager in den 1920er Jahren trafen Juden, Griechen und Armenier gleichermaßen. Antijüdische Stimmungsmache wurde jedoch stärker während der Karriere des Islamistenführers Necmettin Erbakan in den neunziger Jahren; 2003 dann sprengten sich Al-Qaida-Attentäter vor zwei Istanbuler Synagogen in die Luft. Außerdem erschienen Bücher über die "Sabbataisten" - vor Jahrhunderten zum Islam bekehrte Juden, die angeblich nie ihr Judentum aufgegeben hatten. Noch heute werden regelmäßig Politiker oder Generalstabschefs von obskuren Autoren als "Kryptojuden" entlarvt. Auch Tayyip Erdogan und seine Frau Emine selbst hatten schon die Ehre ("Die Kinder Moses'" heißt der Bestseller).

Der Staat pflegte schon während des Kalten Krieges gute Beziehungen zu Israel, 1996 schlossen beide Länder einen Militärvertrag. Die Armee war die treibende Kraft, aber auch die Regierung weiß, was sie an Israel hat: Seit Jahren steht die jüdische Lobby in Washington auf der Seite der Türkei, wenn es um Dinge geht wie eine mögliche Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch den US-Kongress. Das AJC erinnerte Erdogan am Freitag daran, dass sein Land stets "die Unterstützung der amerikanischen Juden" genossen habe. Aber nun könne man nicht länger schweigen.

Im 15. Jahrhundert nahmen die Osmanen jüdische Flüchtlinge auf

Nach den Angriffen Israels auf den Gaza-Streifen hatten Türken vor der israelischen Botschaft in Ankara demonstriert und einen Davidstern verbrannt. Juden beklagen einen zunehmenden Antisemitismus. Foto: Reuters

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Briten kämpfen um ihre Apostrophe

So unscheinbar ist der kleine Strich, dass viele Engländer ihn für überflüssig halten, wie eine Art Blinddarm der Sprache. Doch der Apostroph hat seine Liebhaber, und sie laufen nun Sturm gegen eine Entscheidung des Stadtrates von Birmingham: In Britanniens zweitgrößter Stadt soll der Apostroph auf Straßenschildern verschwinden. Aus dem St. Paul's Square wird ein St. Pauls Square, die King's Heath verwandelt sich zur Kings Heath. "Das gibt ein schlechtes Beispiel", klagt John Richards, Gründer der "Gesellschaft zum Schutz des Apostrophs". Martin Mullaney vom Birminghamer Stadtrat ist nicht überrascht: "Unsere Meinung wird viele verärgern." Im Englischen markiert der Apostroph die Stelle, an der ein Buchstabe fehlt: You're steht für you are. Die häufigsten Fehler unterlaufen beim besitzanzeigenden Genitiv. Auch hier ersetzt das Strichlein einen Buchstaben: Ein Pub namens The King's Head war einst, als das Englische noch Endungen aufwies, "The Kinges Head". Das in solchen Fällen pietätlose Amerika hat das Zeichen in Ortsbezeichnungen schon 1890 abgeschafft; Australien folgte 2001, weil man Datenbanken anpassen wollte, wie Mullaney erklärt. Und er fügt hinzu: "Es wäre tragisch, wenn der Rettungswagen deine Straße nicht findet, nur weil du den besitzanzeigenden Apostroph vergessen hast." ky.

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Karsai kandidiert für zweite Amtszeit

München - Trotz massiver Kritik aus den USA an seiner Regierung strebt Afghanistans Präsident eine zweite Amtszeit an. Hamid Karsai werde bei der Wahl am 20. August "natürlich erneut kandidieren", sagte sein Sprecher der Süddeutschen Zeitung am Freitag. Amerikanische Medien hatten berichtet, hochrangige Vertreter der neuen Regierung von Barack Obama werteten Karsai inzwischen als "Hindernis" für das Bemühen der internationalen Staatengemeinschaft, das Land zu stabilisieren. US-Vizepräsident Joe Biden sagte kurz vor seinem Amtsantritt, Afghanistan befände sich in einem "Chaos". Der Westen hatte Karsai nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 zum Präsidenten einer Übergangsregierung ernannt, bei den Präsidentschaftswahlen 2004 stimmten 55 Prozent der Afghanen für ihn. Aus Sicht der USA geht Karsai aber nicht entschieden genug gegen die Korruption in seiner Regierung vor, auch gibt es Vorwürfe, sein Halbbruder sei in den Drogenhandel involviert, was Karsai zurückweist. Der Präsident seinerseits kritisierte die USA jüngst, weil bei den Angriffen auf Extremisten zu viele Zivilisten stürben. Die Wahlkommission in Kabul gab bekannt, dass die Abstimmung aufgrund der prekären Sicherheitslage nicht im Frühjahr abgehalten werden könne. Laut Verfassung endet Karsais Amtszeit am 22. Mai, 30 bis 60 Tage vorher müsste eigentlich gewählt werden. Aus der Opposition hieß es, die Verzögerung stelle einen Verfassungsbruch dar. Sie forderte die Einsetzung einer Übergangsregierung. toma

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Die graue Normalität der Revolution

In Iran herrschen die Mullahs nun seit 30 Jahren - und sitzen trotz vieler innenpolitischer Probleme fest im Sattel

Von Rudolph Chimelli

Paris - Zehn Tage lang wird Iran den 30. Jahrestag der islamischen Revolution feiern. Das Jubiläum an diesem Samstag ist für die von Alltagsproblemen geplagten Iraner Routine geworden, kein Freudenfest wie das persische Neujahr zum Frühlingsbeginn am 21. März. Es werden die üblichen Reden gehalten. In 60 Metro-Stationen Teherans werden mit moderner Bluetooth-Technik permanent Botschaften zu revolutionären Themen ausgestrahlt. Ein neues Museum wird eröffnet, das der jungen Generation die heroischen Zeiten des Umsturzes, als ein ganzes Volk vorübergehend in Euphorie schwebte, nahebringen sollen. Auch über ein großes Revolutionsmonument wollen die Verantwortlichen endlich nachdenken.

Doch zwei Drittel der Iraner sind jünger als 30 Jahre. Sie kennen die Zeit der Monarchie nur vom Hörensagen, haben keine von Nostalgie verklärten Erinnerungen und keine Sehnsucht nach Wiederkehr der Vergangenheit. Sogar die alten Namen der Teheraner Hauptstraßen sind in Vergessenheit geraten. Auch für das Regime empfindet die große Mehrheit der Jungen keine Sympathien. Nur die wenigsten trauen der geistlichen Obrigkeit zu, dass sie ihnen für die Zukunft etwas zu bieten hat. Schöne Worte und Moralpredigten können Arbeitsplätze und ein erfülltes Leben nicht ersetzen.

Dennoch ist die Nuklear-Industrie wie die atomwaffenfähigen Raketen oder das Satelliten-Programm ein Zeichen dafür, dass Iran während der letzten Jahrzehnte nicht stehengeblieben ist. Die Infrastruktur wurde enorm ausgebaut. Fast alle Dörfer sind elektrifiziert sowie durch Straßen und Telefon mit den Städten verbunden. Die Landwirtschaft, unter dem Schah schwer vernachlässigt, ist produktiv geworden. Mehr als eine Million Autos im Jahr werden im Land gebaut. Unter den Jungen gibt es so gut wie keine Analphabeten mehr. An den Hochschulen studieren mehr junge Frauen als junge Männer.

Zu den vielen unbewältigten Problemen gehören aber neben Bürokratie und chronischer Korruption die fortschreitende Umweltzerstörung und die Bevölkerungsexplosion. Als der Schah ging, mussten von den Erdölerlösen 38 Millionen Iraner leben. Jetzt sind es fast doppelt so viele, und der Ölpreis ist als Folge der weltweiten Krise in die Tiefe gestürzt. Die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter steigen rapid, die Kluft zwischen steinreich und elend arm wird ständig größer. Zunehmende Rauschgiftsucht ist wie die verdeckte, aber verbreitete Prostitution ein Symptom gesellschaftlichen Zerfalls. Längst haben die meisten Iraner den Rückzug ins Private vollzogen. Die Islamische Republik, draußen vor der Tür, ist graue Normalität.

Damals, vor 30 Jahren, musste das Flugzeug des Revolutionsführers Ayatollah Chomeini, der aus langem Exil heimkehrte, eine halbe Stunde in der Luft kreisen. Als er endlich gelandet war, brauchte seine Autokolonne Stunden, um sich den Weg durch die Millionen Jubelnden zu bahnen. "Imam amad" - der Imam ist gekommen - schrieben die Zeitungen in 20 Zentimeter hohen Überschriften. "Schah raft" - der Schah ist weg - hatten sie zwei Wochen zuvor genauso groß verkündet, als der Herrscher das Land verlassen hatte. Einen historischen Augenblick lang waren gläubige Muslime, bürgerliche Liberale, linke Revoluzzer und die unpolitische Masse ein einig Volk von Brüdern.

Heute tun sich Chomeinis Nachfolger schwer mit diesem Erbe. Keiner von ihnen hat das Charisma des Revolutionsführers, schon gar nicht dessen Nachfolger Ayatollah Ali Chamenei. Über den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs sind Konservative, Radikale und Reformer tief zerstritten. Dennoch ist das Regime, das eigentlich einen Gottesstaat schaffen wollte, nicht akut gefährdet. Eine organisierte innere Opposition gibt es nicht. Dafür sorgen Geheimpolizei, Zensur sowie das Heer der kleinen Spitzel und Schläger aus der Millionen-Organisation der Bassidsch. Noch bestimmender für die Stabilität ist die allgemeine Lethargie. Keiner wünscht sich eine zweite Revolution, denn niemand glaubt nach den Enttäuschungen und Misserfolgen der ersten, dass dadurch irgendetwas besser werden könnte. Die Unzufriedenheit macht sich gelegentlich durch Streiks und örtliche Krawalle Luft, aber zu systematischer Konfrontation sind nur wenige bereit.

Geduldet, aber ohne Einfluss auf politische Entscheidungen, ist die kleine Freiheitspartei. Sie beruft sich auf das Erbe des demokratisch gewählten bürgerlichen Nationalisten Mohammed Mossadegh, der 1953 als Ministerpräsident durch einen CIA-Putsch gestürzt wurde. Unmittelbar nach der Revolution hatte die Partei den ersten Regierungschef Mehdi Basargan gestellt.

Oppositionsgruppen im Ausland haben im Lande praktisch keine Basis mehr. Kein ausländischer Diplomat, Geschäftsmann, Journalist mit ständigen Kontakt zu Iranern kennt jemanden, der für die Volks-Mudschahedin wäre. Sie haben sich während des Krieges mit dem Irak durch ihre Parteinahme für Saddam Hussein diskreditiert. Dass die EU sie nicht mehr als Terroristen ansieht, ändert daran nichts. Monarchistische Fernsehsender in Kalifornien genießen wegen westlicher Pop-Musik und Go-go-Girls immer noch einen gewissen Unterhaltungswert, aber ihre Einschaltquoten gehen zurück.

Die schärfsten äußeren Feinde, das Baath-Regime Saddam Husseins im Irak und die Taliban in Afghanistan, haben paradoxerweise den Ayatollahs die Amerikaner vom Hals geschafft. An der arabischen Golf-Küste, im Irak, der Türkei, Aserbaidschan, Zentralasien, Afghanistan und Pakistan sind die USA militärisch präsent. Die Iraner fühlen sich eingekreist, aber nicht unmittelbar gefährdet. Amerikanische Drohungen mit Luftangriffen auf iranische Atom-Anlagen und andere strategische Ziele sind abgeflaut. Sie wirken nicht mehr glaubhaft, zumal die weltweite Krise durch einen weiteren Krieg im Nahen Osten zur Katastrophe würde. Israelische Attacken im Alleingang wären durch die Solidarisierung der Iraner eher stabilisierend für das Regime als existenzgefährdend. Was vor allem den arabischen Nachbarn Sorgen bereitet, der Aufstieg der Islamischen Republik zur regionalen Vormacht, ist für Iraner ein Grund zu nationalem Stolz.

In ihrem 31. Jahr wird die Republik einen neuen Präsidenten wählen. Mahmud Ahmadinedschad tritt abermals an. Seine erste vierjährige Herrschaft ist mit vielen Hypotheken belastet. Nicht nur Gegner des Systems, sondern auch pragmatische Konservative lasten ihm an, dass er dem Land durch seine Provokationen unnötig Feinde gemacht hat. Gegen den Widerstand der klerikalen Honorationen, die das Land zweieinhalb Jahrzehnte lang dirigiert hatten, schuf er sich seinen eigenen Machtapparat. Er rekrutiert seine Vertrauensleute aus den Kriegskameraden des Korps der Pasdaran. Sie sind Minister, Provinzgouverneure, Abgeordnete. Überall im Staatsapparat sitzt eine neue Generation an den Schalthebeln. Sie trägt keine Turbane, hat meist technische Fächer studiert, ist nicht reich - und hört auf Ahmadinedschad.

Des Präsidenten größte Schwäche ist die Misswirtschaft. Um sein Fußvolk zufriedenzustellen, gibt er das Geld mit vollen Händen für Prämien und allerlei Vergünstigungen aus. Der Erfüllung seines Wahlversprechens, er werde die Erdöleinnahmen aus den Taschen der Profiteure auf die Speisetische der Armen umleiten, kam er wegen galoppierender Teuerung nicht näher.

Im Jahre 2000 war unter Ahmadinedschads Vorgänger, dem Reform-Präsidenten Mohammed Chatami, der sogenannte Öl-Stabilisierungs-Fonds geschaffen worden. Er ist dazu bestimmt, in Jahren mit hohen Erdölerlösen Finanzreserven für magere Jahre anzulegen. Schon in seinen ersten zwei Amtsjahren zog Ahmadinedschad aus dem Fonds 63 Milliarden Dollar ab, obwohl die Ölpreise selten so hoch waren wie zu jener Zeit. Nun, da Petroleum billiger wird, droht der Fonds zu versiegen.

Immer wieder hatten Skeptiker, Spötter und Feinde der Islamischen Republik den baldigen Zusammenbruch vorhergesagt. Die erste revolutionäre Herrschaft der Neuzeit, welche die Französische Revolution von 1789 hervorbrachte, währte nur ein gutes Jahrzehnt bis sie von Napoleon beendet wurde. Für sieben Jahrzehnte etablierten die Kommunisten nach der Oktoberrevolution ihre Macht. Pseudo-Revolutionen wie Benito Mussolinis Marsch auf Rom oder der "nationale Umbruch" der Nazis brachten es nur auf 23, beziehungsweise zwölf Jahre. Im historischen Vergleich sieht die islamische Revolution recht haltbar aus.

Chomeini brauchte Stunden für seinen Weg durch die Millionen Jubelnden.

Finanzreserven aus dem Erdöl-Fonds sind weitgehend verbraucht.

Grauer Alltag unter den Ayatollahs: Den meisten Iranern bedeutet die Revolution von Ruhollah Chomeini (links) und Ali Chamenei wenig. Sie haben sich in die innere Emigration begeben. Paolo Pellegrin/Magnum Photos/Agentur Focus

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Russland und Kuba rücken zusammen

Moskau - Russland und Kuba haben eine neue strategische Partnerschaft vereinbart. Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew und sein kubanischer Kollege Raul Castro unterzeichneten am Donnerstag in Moskau ein Paket aus 34 Einzelabkommen. Details wurden nicht bekannt. Es war die erste Reise eines kubanischen Machthabers nach Russland seit dem Ende der Sowjetunion 1991. Zuletzt hatte Rauls Bruder Fidel 1986 zu einer kommunistischen Konferenz den damaligen Verbündeten besucht. Medwedjew reiste im November 2008 auf die Karibik-Insel. Die Sowjetunion war der wichtigste Handelspartner Kubas während des Kalten Krieges. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus lockerten sich die Beziehungen. Jetzt wollen russische Firmen in den Gewässern vor Kuba nach Öl bohren, und es gibt Gespräche über eine Zusammenarbeit bei der Luftabwehr. In den ersten elf Monaten von 2008 erreichte das Handelsvolumen zwischen den beiden Staaten 239 Millionen Dollar, ein Anstieg von 26 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Reuters

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Nordkorea sucht die Konfrontation

Pjöngjang kündigt Nichtangriffspakt mit Seoul

Tokio - Nordkorea betrachtet alle Verträge mit dem Süden für "tot". Wie das "Komitee für die friedliche Wiedervereinigung" am Freitag in Pjöngjang erklärte, sind insbesondere ab sofort das Abkommen über die Seegrenze im Gelben Meer und der 1991 geschlossene Nichtangriffspakt außer Kraft gesetzt. Nordkorea macht Südkoreas Präsident Lee Myung Bak für die Verschlechterung der Beziehungen verantwortlich. In seiner Erklärung nannte das kommunistische Komitee Lee und seine Regierung eine "Gruppe Verräter", die alle Vereinbarungen der beiden Koreas "brutal zerstört hätten". Deshalb sehe der Norden keine Notwendigkeit, sich an diese zu halten. Die bilateralen Beziehungen stünden am "Rande eines Krieges". In seiner Erklärung kritisierte der Norden explizit, dass südkoreanische Aktivisten Flugblätter mit Ballons über die Grenze senden würden. Auch politische Beobachter in Seoul, die gewöhnlich gelassen auf Drohungen des Nordens reagieren, schließen nun militärische Provokationen im Gelben Meer nicht mehr aus. Diese würden sich dann aber auf Scharmützel beschränken, unter anderem, weil der Norden es sich nicht mit dem neuen US-Präsidenten Barack Obama verscherzen wolle.

Der Norden sieht es auch als Provokation an, dass Lee vorletzte Woche Hyun In-taek zum Wiedervereinigungsminister ernannt hat: Der Politologe ist bekannt als scharfer Kritiker der "Sonnenscheinpolitik" der Vorgänger Lees. Während Obama außenpolitisch den Neuanfang sucht, verfolgt Lee, erklärtermaßen ein Anhänger von George W. Bush, dessen wenig erfolgreiche Politik der harten Linie. Lee macht künftige Wirtschaftshilfe für den Norden von raschen Fortschritten bei der nuklearen Abrüstung abhängig.

Die Propaganda des nordkoreanischen Regimes warnte das Volk in den letzten Wochen vor einem bevorstehenden Krieg, es gab zahlreiche Mobilisierungsveranstaltungen. Der Bereitschaftsgrad der Armee wurde erhöht. Andererseits mehren sich die Anzeichen, dass das Regime um die Kontrolle des Landes ringt. Doch auch die ausländischen Geheimdienste sind sich nicht darüber im Klaren, wie sie die Machtkämpfe in Pjöngjang deuten sollen. Mitte Januar meldeten sie, Diktator Kim Jong Il habe seinen ältesten Sohn Kim Jong Nam zum Nachfolger erkoren. Zwei Tage später war es der dann der jüngste: Kim Jong Un. Wieder zwei Tage später sagte der älteste Sohn Kim Jong Nam in Peking zu Journalisten, sein Vater habe sich noch nicht entschieden. nh.

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Machtteilung in Simbabwe

Opposition will nun doch zusammen mit Mugabe regieren

Von Arne Perras

Kampala - Die simbabwische Opposition unter Führung von Morgan Tsvangirai will nun doch in eine gemeinsame Regierung mit dem langjährigen Machthaber Robert Mugabe eintreten. Dies beschloss die Parteiführung der "Bewegung für demokratischen Wandel" (MDC) nach monatelangem Streit. Ein entsprechendes Abkommen zur Teilung der Macht war schon im September abgeschlossen worden. Dennoch ist noch kein Kabinett zustande gekommen, weil sich die MDC bei den Verhandlungen stets benachteiligt fühlte.

Tsvangirai soll am 11. Februar als Premier vereidigt werden, Mugabe bleibt demnach Präsident. Das Innenministerium, um dessen Kontrolle hart gerungen wurde, wird voraussichtlich von beiden Parteien - der MDC und Mugabes Zanu-PF - geführt. Ausstehende Streitpunkte müssen von einem Sonderkomitee gelöst werden, das von beiden Parteien besetzt wird. Tsvangirai sagte, er sei zuversichtlich, dass dies gelinge. Unter anderem fordert die MDC mehr Regierungsposten und die Freilassung politischer Häftlinge.

Die südafrikanische Staatengemeinschaft SADC hatte die Opposition zuletzt heftig zum Einlenken gedrängt. Sie sieht den Kompromiss als einzigen Weg, um das ruinierte Land aus der Krise zu führen. Der Präsident des Nachbarlandes Südafrika, Kgalema Motlanthe, versprach in Davos schnelle Hilfe, sobald die neue Regierung gebildet sei.

Im Kreise der Geberländer herrscht größere Skepsis gegenüber einer gemeinsamen Regierung in Harare. Die USA hatten bereits im vergangenen Jahr erklärt, sie setze kein Vertrauen mehr in den Versuch, die Macht zu teilen. Allerdings kam diese Einschätzung noch von der abgelösten Bush-Regierung. Viele Länder wollen abwarten, ob das neue Kabinett arbeitsfähig ist und ob Tsvangirai eine tragende Rolle bekommt. Erst dann könne Aufbauhilfe in großem Umfang anlaufen, sagte ein europäischer Diplomat.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO gab bekannt, dass in Simbabwe bereits mehr als 60 000 Menschen an Cholera erkrankt seien. Mehr als 3100 Patienten seien gestorben. Noch im vergangenen Jahr hatte die WHO eine Zahl von 60 000 Kranken als "schlimmstes Szenario" bezeichnet. Im Staat mangelt es an allem, um die Krankheit einzudämmen. Ärzte und Schwestern erhalten keinen Lohn mehr, viele Krankenhäuser haben keine Medikamente oder sind geschlossen, die Versorgung mit sauberem Wasser ist vielerorts zusammengebrochen. Die Krankheit breitet sich nun in abgelegenen Gebiete aus, wo noch schwerer geholfen werden kann. Bislang war es vor allem die Nothilfeorganisation MSF, die gegen die Cholera in Simbabwe kämpfte, der Staat ist ohnmächtig.

Zum Notstand im Gesundheitssektor kommt die akute Hungerkrise. Jeder zweite Simbabwer braucht Nahrungshilfe. Ohne Unterstützung von Verwandten im Ausland können nur noch wenige überleben. Etwa ein Viertel der 13 Millionen Einwohner ist wegen der Krise ins Ausland abgewandert.

Die Währung des Landes, der Simbabwe-Dollar, ist inzwischen nahezu wertlos. Finanzminister Patrick Chinamasa verkündete daher, dass fortan auch ausländische Währung legal benutzt werden dürfe. Seit Jahren schon ist der Dollar die heimliche Währung, ohne ihn ist seit langem kein Benzin mehr zu bekommen.

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Wochenchronik vom 24. bis 30. Januar

Obama setzt Reformkurs fort

Auch in seiner zweiten Woche als US-Präsident hat Barack Obama seinen Reformkurs fortgesetzt. Dem arabischsprachigen Fernsehsender Al-Arabija gab Obama am 26. Januar das erste Interview seiner Amtszeit. Darin trat er für einen respektvollen Dialog zwischen Amerika und der Arabischen Welt ein. In der Klimapolitik wies er seine Umweltbehörde an, ein 2007 erlassenes Verbot zu überprüfen, das 14 Bundesstaaten strengere Abgasnormen untersagt hatte. Am 29. Januar setzte Obama vor dem Repräsentantenhaus sein Konjunkturprogramm in Höhe von 630 Milliarden Euro durch.

Papst empört Juden

Papst Benedikt XVI. hat am 24. Januar die Exkommunikation von vier Bischöfen der ultrakonservativen Pius-Priesterbruderschaft aufgehoben, unter ihnen der britische Holocaust-Leugner Richard Williamson. Vertreter der Kirche distanzierten sich zwar von dessen Äußerungen, verteidigten aber die Entscheidung als "Geste des Friedens". Der Zentralrat der Juden in Deutschland kündigte am 29. Januar an, momentan nicht mehr mit der Katholischen Kirche zu sprechen.

Islands Regierung zerbricht

Islands Regierung ist am 26. Januar an den Folgen der Finanzkrise zerbrochen. Der Staatspräsident beauftragte die Sozialdemokratin Johanna Sigurdardottir mit der Bildung einer Übergangsregierung. Sie soll den drohenden Staatsbankrott abwenden.

Wirtschaftsgipfel in Davos

2500 Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft haben auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum nach Lösungen für die weltweite Wirtschaftskrise gesucht. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin warnte bei der Eröffnung am 28. Januar vor zu viel Protektionismus.

Wieder mehr Arbeitslose

Mit 387 000 Arbeitslosen mehr als im Dezember ist die am 29. Januar veröffentlichte Arbeitslosenquote in Deutschland so stark angestiegen wie seit mehr als sechs Jahren nicht mehr. Experten machten einen harten Winter und die Folgen der Wirtschaftskrise verantwortlich.

Schaeffler will Staatshilfe

Der fränkische Automobilzulieferer Schaeffler hat - wie am 25. Januar bekannt wurde - die Bundesregierung um Hilfe in Höhe von vier Milliarden Euro gebeten. Die Firmengruppe der Milliardärin Maria-Elisabeth Schaeffler mit 200 000 Beschäftigten droht an den Schulden zu zerbrechen, die bei der Übernahme der Continental AG entstanden waren.

Warnstreiks bei der Bahn

400 Mitarbeiter der Deutschen Bahn haben am 29. Januar mit einem Warnstreik ihrer Forderung nach einer zehnprozentigen Lohnerhöhung Druck verliehen. Die Gewerkschaften Transnet und GDBA lehnten am 30. Januar in Verhandlungen mit Bahn-Vorstand Norbert Hansen ein erstes Angebot der Bahn ab.

John Updike gestorben

Der amerikanische Autor John Updike ist am 27. Januar im Alter von 76 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Der zweifache Pulitzerpreisträger schrieb über 20 Romane. Obwohl er lange als Kandidat für einen Nobelpreis gehandelt wurde, blieb ihm dieser verwehrt. kari

Der russische Premier Wladimir Putin hat beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor zu starken Staatseingriffen in der Finanzkrise gewarnt. "Im 20. Jahrhundert machte die Sowjetunion die Rolle des Staates absolut. Diese Lektion haben wir teuer bezahlt", sagte er. Reuters

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Giftmüll? Nein danke

Steinbrück will keine Ramschbank

Von Claus Hulverscheidt

Es war Anfang Oktober 2005, als sich Peer Steinbrück und seine Frau Gertrud in ihr Haus in Bonn zurückzogen, um zu beratschlagen, wie es beruflich weitergehen soll. In Berlin zeichnete sich die Bildung einer großen Koalition ab, und Steinbrück musste entscheiden, ob er Finanzminister im Kabinett Merkel werden will. Seine Frau riet ab, zumal der damals 58-Jährige sicher einen ordentlich dotierten Job in der nordrhein-westfälischen Wirtschaft gefunden hätte - zum Beispiel bei einer Bank, schließlich ist Steinbrück gelernter Volkswirt. Dass er am Ende beides werden würde, Finanzminister und Banker, konnte damals niemand ahnen.

Die Bilanzen des Ministers

Heute, dreieinhalb Jahre nach der Diskussion, ist der Sozialdemokrat als oberster Haushälter des Landes nicht nur direkt oder indirekt an der Commerzbank, der Postbank und demnächst der Hypo Real Estate beteiligt. Es stellt sich zudem die Frage, ob aus dem Banker Steinbrück nun sogar der Bad Banker Steinbrück werden soll - der Chefaufseher einer Ramschbank also, bei der die privaten Kreditinstitute den in ihren Bilanzen angesammelten Giftmüll abkippen können. Exakt diesen Karrieresprung aber will der Minister in jedem Fall verhindern.

Bereits bei der überstürzten Ausarbeitung des Banken-Rettungsschirms im Herbst vergangenen Jahres hatte die Regierung die Idee einer Bad Bank intern diskutiert - und verworfen. Aus zwei Gründen: Zum einen hatte sich ein erster Anlauf der US-Regierung in diese Richtung als Misserfolg erwiesen, zum anderen schien es Merkel und Steinbrück politisch nicht vermittelbar zu sein, dass nun der Steuerzahler für die Fehlspekulationen der Banken zahlen soll. Stattdessen entschied man sich dafür, über den Rettungsfonds Soffin fünf Milliarden Euro für den Aufkauf riskanter Wertpapiere bereitzustellen.

Ein neuer Anlauf in Amerika

Dieses Modell floppte jedoch. Die Banken nahmen das Angebot nicht an, weil der Rettungsfonds ihnen die abgetretenen Wertpapiere nach nur drei Jahren zurückgeben wollte. Deshalb wird die Frist nun auf fünf Jahre verlängert - und auch die Idee der Bad Bank ist plötzlich wieder da, nicht nur in Deutschland. Der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner überlegt, ob er nicht doch eine zentrale Sammelstelle einrichten soll, die jetzt tatsächlich alle Giftpapiere der US-Banken übernimmt. Er wird vermutlich kommende Woche Pläne für diese Bad Bank bekannt geben. Prominenteste Befürworterin eines solchen Instituts ist die Chefin des amerikanischen Einlagensicherungsfonds FDIC, Sheila Bair. Die US-Regierung wird nun aber erheblich mehr Geld für Schrott-Papiere aufwenden müssen, als noch vor wenigen Wochen erwartet.

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Bad Bank - die rettende Idee?

Die deutschen Banken haben hochriskante Papiere im Wert von 200 bis 300 Milliarden Euro in ihren Büchern. Mit dieser Belastung stehen sie vor einer unsicheren Zukunft, daher gibt es Überlegungen eine sogenannte Bad Bank zu gründen, in der die Problemfälle gesammelt werden. Die Bundesregierung aber will ein solches Sanierungs-Institut nicht einrichten, sie möchte die Banken in der Verantwortung halten.

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Außenansicht

Wenn der Papst ein Obama wäre

Aber leider ist er ein Bush: Dem Pontifex bedeutet "Versöhnung" mit einigen Erzreaktionären mehr als das Vertrauen von Millionen

Von Hans Küng

Präsident Barack Obama ist es gelungen, in kurzer Zeit die Vereinigten Staaten aus Stimmungstief und Reformstau herauszuführen, eine glaubhafte Hoffnungsvision vorzustellen und eine strategische Wende in der Innen- wie Außenpolitik dieses großen Landes einzuleiten. Anders in der katholischen Kirche. Die Stimmung ist bedrückend, der Reformstau lähmend. Nach fast vier Jahren im Amt sehen viele Papst Benedikt XVI. auf der Linie eines George W. Bush. Kein Zufall, dass der Papst seinen 81. Geburtstag im vergangenen Jahr im Weißen Haus gefeiert hat. Beide, Bush und Ratzinger, sind lernunfähig in Fragen von Geburtenkontrolle und Abtreibung, abgeneigt allen ernsthaften Reformen, selbstherrlich und ohne Transparenz in ihrer Amtsführung, die Freiheiten und Rechte der Menschen einschränkend.

Wie Bush seinerzeit, so leidet auch Papst Benedikt unter einem wachsenden Vertrauensverlust. Viele Katholiken erwarten von ihm nichts mehr. Schlimmer noch: Durch die Rücknahme der Exkommunikation von vier illegal geweihten traditionalistischen Bischöfen, darunter ein notorischer Holocaust-Leugner, wurden alle bei der Wahl Ratzingers zum Papst geäußerten Befürchtungen bestätigt. Der Papst wertet Leute auf, die nach wie vor die vom Zweiten Vatikanischen Konzil bejahte Religionsfreiheit, den Dialog mit den anderen Kirchen, die Aussöhnung mit dem Judentum, die Hochschätzung des Islam und der anderen Weltreligionen sowie die Reform der Liturgie ablehnen.

Um die "Versöhnung" mit einem Häuflein erzreaktionärer Traditionalisten voranzubringen, riskiert dieser Papst den Vertrauensverlust von Millionen von Katholiken in allen Ländern, die dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Treue halten. Dass gerade einem deutschen Papst solche Fehltritte unterlaufen, verschärft die Konflikte. Nachträgliche Entschuldigungen können das zerschlagene Porzellan nicht kitten.

Dabei hätte es ein Papst noch leichter als ein Präsident der Vereinigten Staaten, eine Kursänderung vorzunehmen. Er hat keinen Kongress als Legislative neben sich und kein Oberstes Gericht als Judikative über sich. Er ist uneingeschränkter Regierungschef, Gesetzgeber und höchster Richter in der Kirche. Er könnte, wenn er wollte, über Nacht die Empfängnisverhütung gestatten, die Priesterehe zulassen, die Frauenordination ermöglichen und die Abendmahlsgemeinschaft mit den evangelischen Kirchen erlauben.

Was würde ein Papst tun, der im Geist Obamas handelte? Er würde ähnlich wie Obama erstensdeutlich aussprechen, dass die römisch-katholische Kirche sich in einer tiefen Krise befindet und würde die Krisenherde benennen: viele Gemeinden ohne Priester, ausbleibender Nachwuchs für das Priestertum, durch unpopuläre Pfarreifusionen verschleierter Zusammenbruch seelsorgerlicher Strukturen, die oft über Jahrhunderte gewachsen waren. Er würde zweitens die Hoffnungsvision von einer erneuerten Kirche, einer revitalisierten Ökumene, einer Verständigung mit den Juden, den Muslimen und den anderen Weltreligionen und einer positiven Wertung der modernen Wissenschaft verkünden. Er würde drittensdie fähigsten Mitarbeiter um sich versammeln, keine Jasager, sondern eigenständige Persönlichkeiten, unterstützt von kompetenten und furchtlosen Experten. Er würde viertens die dringendsten Reformmaßnahmen durch Dekret ("executive orders") sofort initiieren und fünftensein ökumenisches Konzil zur Beförderung des Kurswechsels einberufen.

Doch welch deprimierender Kontrast:

Während Präsident Obama unter Zustimmung aus der ganzen Welt nach vorne blickt und sich den Menschen und der Zukunft öffnet, orientiert sich dieser Papst vor allem nach rückwärts, inspiriert vom Ideal der mittelalterlichen Kirche, skeptisch gegenüber der Reformation, zwiespältig gegenüber den Freiheitsrechten der Moderne. Während Präsident Obama sich kooperativ neu um Partner und Bundesgenossen bemüht, ist Papst Benedikt wie George W. Bush im Freund-Feind-Denken befangen. Mitchristen in den evangelischen Kirchen stößt er vor den Kopf, indem er diese Gemeinschaften nicht als Kirchen anerkennt. Der Dialog mit Muslimen ist über Lippenbekenntnisse zum "Dialog" nicht hinausgekommen. Das Verhältnis zum Judentum muss als tief gestört bezeichnet werden. Während Präsident Obama Hoffnung ausstrahlt, Bürgeraktivitäten fördert und eine "neue Ära der Verantwortlichkeit" fordert, ist Papst Benedikt in Angstvorstellungen befangen und will die Freiheit der Menschen möglichst einschränken, um eine "Ära der Restauration" durchzusetzen. Während Präsident Obama in Washington offensiv die Verfassung und die große Tradition seines Landes zur Begründung kühner Reformschritte heranzieht, legt Papst Benedikt in Rom die Dekrete des Reformkonzils von 1962 bis 1965 restriktiv nach rückwärts aus: in Richtung auf das Restaurationskonzil von 1870.

Aber weil Papst Benedikt XVI. aller Wahrscheinlichkeit nach selber kein Obama wird, brauchen wir für die nächste Zeit erstens einen Episkopat, der die offenkundigen Probleme der Kirche nicht verschleiert, sondern offen benennt und auf Diözesanebene energisch angeht; zweitens Theologen, die aktiv an einer Zukunftsvision unserer Kirche mitarbeiten und keine Scheu haben, die Wahrheit zu sagen und zu schreiben; drittens Seelsorger, die sich wehren gegen die ständige Überbelastung durch Zusammenlegung von mehreren Pfarreien, und die ihre Eigenverantwortung als Seelsorger mutig wahrnehmen; viertens insbesondere Frauen, ohne die vielerorts die Seelsorge zusammenbrechen würde, die ihre Möglichkeiten des Einflusses selbstbewusst wahrnehmen.

Aber können wir das wirklich? Yes, we can.

Hans Küng, 80, ist emeritierter Professor für ökumenische Theologie an der Uni versität Tübingen und Präsident der Stiftung Weltethos. Foto: Jürgen Bauer

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Aktuelles Lexikon

Varieté

Vielfalt bedeutet Varieté, und so darf in einem Théâtre des Variétés eigentlich alles auf die Bühne: Gesang und Akrobatik, Zauber, Tanz, Pudel, die durch Reifen springen, sparsam bekleidete Damen oder Wundergeiger. Elemente von Zirkus, Kabarett und Theater spielen mit, wenn alles gelingt, fügen sich die Nummern zum Gesamtkunstwerk, das der Zuschauer trinkend und essend genießt. Mit Rummelplatz-Attraktionen und erotischen Tanznummern, vor allem dem skandalösen Cancan, lockten im 19. Jahrhundert Pariser Tanzlokale und gründeten diese Kunstform. Der Name Varieté wurde in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts für Bühnen der leichten Unterhaltung üblich. In rund 80 solcher Etablissements konnten die Berliner sich um 1900 amüsieren. Dort war in den glamourösen Zwanzigern legendär der Wintergarten an der Friedrichstraße, wo Weltstars wie Rastelli jonglierten und die "schwarze Venus" Josephine Baker beim Tanzen alles zeigte. Vielen Häusern machte der II. Weltkrieg den Garaus. Eine gewisse Renaissance erlebt das Varieté seit Ende der Achtziger in Deutschland, etwa mit dem Frankfurter Tigerpalast, dem Friedrichsbau in Stuttgart und dem Apollo in Düsseldorf. In Berlin eröffnete 1991 der Wintergarten neu. Dort war am Freitag aber Vorstellungsschluss, das Geschäft glänzte nicht mehr. Dagegen wagt das Hansa Theater in Hamburg, das 2001 schließen musste, gerade ein Comeback. bac

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Schaufeln am Milliardengrab

Das Prinzip Bad Bank: Am Ende zahlen die Bürger für die Sanierung der Geldinstitute

Von Catherine Hoffmann

Josef Ackermann, der Chef der Deutschen Bank, hat die Lösung der Bundeskanzlerin persönlich nahegelegt. Nur eine sogenannte Bad Bank könne die Geldhäuser der Republik retten. Eine solche "schlechte Bank" befreit die Institute von faulen Wertpapieren und wackeligen Krediten. Es wäre ein Befreiungsschlag, denn immer deutlicher zeichnet sich ab: Das Geld, das der Staat bisher aufgewendet hat, um den Banken zu helfen, reicht nicht aus. Die problematischen Papiere verlieren weiter an Wert und reißen große Löcher in die Bilanzen.

In den USA und auch in Deutschland gewinnt die Idee einer Bad Bank, die den Finanzinstituten alle schlechten Wertpapiere abnehmen soll, deshalb an Bedeutung. Das Prinzip ist einfach: Der Staat kauft den Banken ihre Problem-Papiere ab und entsorgt sie in einer eigens dafür gegründeten Gesellschaft, der Bad Bank. Die Regierung finanziert das Geschäft aus dem Staatshaushalt, letztlich also auf Kosten des Steuerzahlers. Der Staat nimmt den Banken risikoreiche Wertpapiere ab und steht für alle Verluste gerade. In den kommenden Jahren verwertet die Bad Bank die faulen Kredite nach allen Regeln der Kunst. Zweck der schlechten Bank ist es, die unsicheren Anlagen zu Geld zu machen. Sie kann die Papiere bis zur Fälligkeit halten oder verkaufen - in der Hoffnung, dass noch möglichst viel zu holen ist.

Plötzlich saubere Bücher

Die ökonomische Logik dabei: Lagern die Banken ihre Risiken in eine eigene Gesellschaft aus, werden ihre Bilanzen plötzlich sauber. Altlasten, die derzeit so schwer auf den Bilanzen lasten und potentielle Kreditgeber abschrecken, sind die Häuser auf einen Schlag los. Zurück bleibt nur der gesunde Teil des Geschäfts: die Good Bank. Statt schlechter Papiere hält die "gute Bank" nun frisches Kapital vom Staat in Händen. Sie sind von Sorgen und Sünden befreit, und so wird den Instituten auch wieder Vertrauen entgegengebracht. Sparer lassen ihre Einlagen dort - ohne zittern zu müssen -, Unternehmen bekommen wieder Kredite, und die Aktionäre sind bereit, bei Kapitalerhöhungen zu helfen.

Diese Rechnung für die Sanierung der Banken zahlen aber die Bürger. Es geht um viel Geld. Das Volumen hochriskanter Papiere bei den deutschen Banken wird auf 200 bis 300 Milliarden Euro geschätzt. Wie viel davon bei einer Verwertung durch die Bad Bank später eingespielt werden kann, ist heute nicht zu sagen, es könnten 70 Prozent der Summe sein oder nur zehn Prozent. Zudem stellt sich die Frage, zu welchem Preis der Staat die Giftpapiere erwirbt. Denn die Banken haben ein Interesse daran, möglichst viel Müll zu einem überhöhten Preis loszuwerden.

Aus diesem Grund stößt der Vorschlag einer Bad Bank in der großen Koalition bislang auf wenig Gegenliebe. Sie will mit aller Macht verhindern, dass die Verluste der Banken vollständig sozialisiert werden und bei der Rettung öffentliche Gelder versickern. Deshalb soll es statt einer großen staatlichen Bad Bank viele kleine private Ramschbanken geben. Jedes einzelne Institut könnte die Möglichkeit bekommen, Risikopapiere in einer eigenen "schlechten Bank" auszulagern. Die Verantwortung bliebe so bei der Bank. Weil in diesem Fall aber vom Staat kein Geld für den Kauf der Wertpapiere fließt, müssten die Institute sich Kapital vom staatlichen Hilfsfonds Soffin holen.

Mit dieser Lösung ist freilich wenig gewonnen, weil die gute Bank immer noch für Verluste der schlechten Bank haftet. Wenn die Bad Bank unter Obhut der Good Bank bleibt, muss sie ihre Risiken auch bilanzieren. Wollte der Staat wirklich die Stabilität der Institute durch private Bad Banks garantieren, müsste er zusagen, im Notfall einzuspringen. Das aber kostet Geld. Diskutiert wird daher auch ein Moratorium: Die Bilanzierungsvorschriften könnten aufgeweicht werden, damit die Banken nicht jedes Quartal neue Abschreibungen vornehmen müssen. Doch damit ist das Problem nur aufgeschoben. Was geschieht, wenn das Moratorium ausläuft und die Papiere noch immer unverkäuflich sind? Dann wäre wieder der Steuerzahler gefragt.

Skyline ohne Glanz: In Frankfurt, wo die deutschen Großbanken ihre Zentralen haben, liegen die Probleme. Hier, und nicht in Berlin, müssen sie auch gelöst werden, meint der Finanzminister. laif

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Geschäfte fürs Gemeinwohl

Wenn der Staat sich in ein Unternehmen einkauft, ist das noch keine Verstaatlichung - eine kleine Begriffskunde in Zeiten der Krise

Von Heribert Prantl

Die zupackende Großzügigkeit der Ökonomen beim Umgang mit Milliarden setzt sich derzeit beim Umgang mit Begriffen fort. Verfassungsjuristen sind verwundert darüber, wie locker in Wirtschaftskreisen mit dem Begriff der "Verstaatlichung" umgegangen wird. War es eine Teil-Verstaatlichung der Commerzbank, als der Staat der bedürftigen Bank gewaltige Summen zugeführt hat und sich dafür die Anteile hat geben lassen? Wäre es eine Verstaatlichung der Hypo Real Estate (HRE), wenn der Staat sich für die fast hundert Milliarden Euro, die er für diesen Konzern locker- macht, die Aktien geben lässt?

Das sei noch kein staatlicher Zugriff - so sagen Staatsrechtler wie der Frankfurter Ordinarius Joachim Wieland oder der Bonner Emeritus Klaus Stern, das sei halt ein Geschäft. Dieses Geschäft hat einen Eigentümerwechsel zur Folge, so wie jeder umfängliche Aktienkauf ihn zur Folge hat. Im Begriff der Verstaatlichung steckt der staatliche Hoheitsakt: Wenn ein Anteilseigner seine Aktien partout behalten will, und der Staat sie ihm per Zwang und gegen Entschädigung nimmt - wie das jetzt wohl beabsichtigt ist. Solang aber der Staat die Aktien auf dem Markt kauft, ist er ein Marktteilnehmer; und er macht dann das, was ein Eigentümer eines Unternehmens macht. Er bestimmt die Geschicke des Unternehmens mit. Würde er seine Milliarden in Unternehmen stecken, ohne sich dafür abzusichern ( durch Unternehmensanteile), man würde den Verantwortlichen strafrechtliche Vorwürfe machen.

Verstaatlichung: Das ist ein Begriff, bei dem Verfassungsjuristen die Artikel 14 Absatz 3 und 15 Grundgesetz aufschlagen. In Artikel 14 heißt es: "Eine Enteignung ist nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt". Und Artikel 15, betitelt "Vergesellschaftung", besagt: "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden". Hier geht es um Hoheitsakte, hier greift der Staat als Staat zu.

Bei der HRE will offenbar ein US-Minderheitsaktionär seine Anteile nicht abgeben, auch nicht an den deutschen Staat, der die Bank über Wasser hält. Das könnte ein Fall für den Artikel 14 Absatz 3 sein. Joachim Wieland (er kommentiert die einschlägigen Grundgesetz-Artikel im Kommentar von Horst Dreier) glaubt aber nicht daran: Er hält den Widerstand des Aktionärs für eine "polit-psychologische Angelegenheit". Der Regensburger Wirtschaftsweise Wolfgang Wiegard ist überzeugt, man werde "an der Eigentümerschaft des Bundes an der HRE nicht herumkommen". Die Frage sei nur: Wie soll der Staat dann mit seiner Eigentümerstellung umgehen.

Die Frage, ob Banken, womöglich die gesamte Bankenbranche, nach Artikel 15 "vergesellschaftet" werden könnte, bleibt selbst in den gegenwärtig wirtschaftlich abenteuerlichen Zeiten Theorie. Auf einzelne Banken, so Wieland, könne man nach dieser Vorschrift ohnehin nicht zugreifen. Der in wissenschaftlichen Abhandlungen beliebte Streit darüber, ob Banken überhaupt als "Produktionsmittel" gelten können (nur dann fallen sie unter den Artikel 15) wird wohl nicht geklärt werden. Derzeit produzieren die Banken jedenfalls nur Schulden.

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Wer hier Fuß fassen will, kommt nicht ohne

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Ein Herz für Tiere

Nach den Affen: Hannes Jaenicke setzt sich im ZDF für Eisbären ein

Neulich zeigte 3sat nochmal Die letzten Zeugen - Hannes Jaenicke im Einsatz für Orang Utans. Die Aktion des 48-jährigen Schauspielers bei Tierschützern in Borneo wurde von der Münchner Firma Tango Film als sogenanntes Doku-Crime-Format produziert; die rothaarigen Menschenaffen sind vom Aussterben bedroht. Die Sendung, die im ZDF vergangenen August Premiere hatte, passt zum wachsenden Umweltengagement von Prominenten, das Hollywood vorlebt. Allerdings hatte die Erstausstrahlung einen schweren Stand. Die letzten Zeugen kam auf dem Sendeplatz von Johannes B. Kerner um 23.15 Uhr, wo das ZDF während der Sommer-Talkpause Dokus zeigt. Dann überzog noch der Grand Prix der Chöre die Sendezeit, so dass der Affeneinsatz um 23.34 Uhr startete; 1,04 Millionen Zuschauer sahen im Schnitt zu, deutlich mehr als bei anderen Dokus auf Kerners Platz. Wohl auch deshalb wird das Format fortgesetzt. Tango fertigt mit Jaenicke (der Mitproduzent ist) vier neue 45-minütige Folgen. Darin engagiert der Schauspieler sich für Haie und Eisbären, 2010 folgen Dokus mit Gorillas und Meeressäugern. tyc

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Herbe Diagnose

Kein guter Start für die sich stark an Grey's Anatomy orientierende Krankenhaus-Serie Klinik am Alex bei Sat 1: Nur 730 000 Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren schauten am Donnerstagabend die erste Episode (7,8 Prozent Marktanteil). Insgesamt waren es 1,42 Millionen (6,6 Prozent). 27 Folgen umfasst die gesamte Staffel, der Sendeplatz, 22.15 Uhr, ist kaum nach hinten zu verschieben. Die Produzentin Ariane Krampe (Teamworx) rechnet mit einem Anstieg der Quote in den kommenden Wochen. SZ

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Der längste Tag

Der Journalist Bruno Schirra sieht sich als das Opfer der spektakulären "Cicero-Affäre" vom 12. September 2005

Das Stoffdach des sportlichen Zweisitzers ist am Rand mit Tape geflickt. Es könnte ein Zeichen für Nachlässigkeit sein. Oder dafür, dass es Bruno Schirra finanziell schon besser ging.

Vor beinahe drei Jahren fiel der Name des Journalisten einmal kurz öffentlich auf. Damals, im April 2005, erschien im Magazin Cicero ein Artikel, der für die Potsdamer Staatsanwaltschaft Anlass war, fünf Monate später die Räume der Redaktion sowie die Arbeits- und Wohnräume von Bruno Schirra in Berlin zu durchsuchen und kistenweise Archiv- und Recherchematerial zu beschlagnahmen. Otto Schily, der 2005 noch Bundesinnenminister war, stellte sich der Strafanzeige des BKA nicht in den Weg. Machte er also den Weg frei?

Der Fall erregte Aufsehen: in den Medien, in der Politik und bei den Juristen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2007 war eindeutig: Die Anordnung der Durchsuchung, die Razzia und die Beschlagnahmung waren verfassungswidrig, haben das Grundrecht auf Pressefreiheit verletzt und hatten einzig das Ziel, ein Leck beim Bundeskriminalamt ausfindig zu machen. Schirras Artikel über den irakischen Terroristen Abu Musab al-Sarkawi beruhte auf einem Bericht des BKA.

Für die Presse war das höchstrichterliche Urteil gut, der Quellen- und Informantenschutz wurden bestätigt. Positiv wirkte sich die Affäre auch für die Monatsschrift Cicero aus, die mittlerweile von Potsdam nach Berlin umgezogen ist. Man redete über Cicero. Michael Ringier, dessen in der Schweiz ansässiger Verlag das Heft "für politische Kultur" herausbringt, sagt rückblickend: "Die Durchsuchung der Redaktion brachte mehr Publizität als eine teure Werbekampagne." Wolfram Weimer, der Chefredakteur, ließ die einen Monat nach der Razzia erschienene Ausgabe vom Oktober 2005 an die Mitarbeiter des BKA verteilen. Bis heute lässt Weimer kaum eine Gelegenheit verstreichen, Cicero als Opfer einer verfassungswidrigen Durchsuchung darzustellen, das das sogenannte "Cicero-Urteil" erstritten habe.

Einer sieht sich als Verlierer: Bruno Schirra. Über seinen Anwalt hat er jetzt Klage beim Landgericht Potsdam eingereicht. Schirra fordert eine immaterielle Geldentschädigung von 50 000 Euro sowie 115 796,64 Euro nebst Zinsen für materielle Schäden, die ihm seit der Razzia im September 2005 entstanden.

Die Klage trägt das Aktenzeichen 4 O 502/08. Schirra sieht sich in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, da er in direkter Folge des verfassungwidrigen Eingriffs seiner beruflichen Existenz beraubt worden sei. Weil kein Informant mehr mit ihm kooperieren will, kann er über seine Themen - Islamismus, Terrorismus, Geheimdienste, Korruption - nicht mehr veröffentlichen.

In Gummistiefeln stapft Schirra vom Auto zu einem der Bootsstege am Tegeler See in Berlin. Die Fähre hat ihren Betrieb im Winter eingestellt. Besucher muss Schirra abholen. Ohne Boot ist sein Haus auf der Insel Valentinswerder nicht zu erreichen. Hier wohnt er, abgeschieden, mit seiner Frau und zwei Doggen.

2004 war Schirras Welt noch in Ordnung. Zwar polarisierte der Journalist, nicht alle, die es mit ihm zu tun hatten, schätzten ihn, an mancher Kontroverse in Redaktionen wie der Zeit war er wohl selber schuld. Doch Schirra galt auch als ein beachteter Enthüllungsspezialist - obwohl die eine oder andere Story Argwohn weckte. Doch wer Verdecktes ans Licht bringt, ist ja stets in Gefahr, selbst zur Zielscheibe gemacht zu werden.

Der Ringier-Verlag hatte Schirra als Reporter im Auslandsressort der Schweizer Zeitung Sonntags-Blick angestellt. Neben dem Festgehalt von umgerechnet 106 000 Euro jährlich und einem Spesen- und Reisebudget über eine annähernd hohe Summe bezog er zusätzlich Honorare aus Nebentätigkeiten. Bei Cicero summierten sich diese auf etwa 40 000 Euro, bei Welt und WamS (Springer) auf rund 13 000 Euro. Nach der "Cicero-Affäre" änderte sich das. Schirra sagt: "Meine berufliche Existenz ist zerstört."

Vier Monate nach der Razzia war klar, dass er seine Stelle beim Sonntags-Blick verlieren würde. 2007 war die "Cicero-Affäre" mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts offiziell beendet, nicht für Schirra. 2007 schrieb er in Cicero Artikel für gerade einmal 9000 Euro. Zwölf Monate später waren es 5000 Euro. Bei den Springer-Blättern brachen die Einkünfte auf 800 Euro ein. 2008 erschien dort kein einziger Text mehr von ihm.

Um die Klage gegen das Land Brandenburg zu finanzieren, sagt Schirra, fehle ihm nun das Geld. Er hat Prozesskostenhilfe beantragt. Mit ruhiger Stimme, auf dem Holztisch Zigaretten und Tee, im Rücken knistert der Holzofen, erzählt Schirra, wie es aus seiner Sicht dazu kam, dass er psychisch angeschlagen, dass er labil war und keine relevanten Artikel mehr anzubieten wusste. Physisch fühlt er sich bis heute bedroht.

Begonnen habe alles am 12. September 2005 wenige Stunden nach der Razzia, als die ersten Berichte über den Eingriff von Staatsanwaltschaft und Polizei erschienen waren. Schirra, der an jenem Tag an einer Sicherheitskonferenz in Israel teilnahm, wurde von mehreren israelischen und palästinensischen Quellen mitgeteilt, dass man ihm von sofort an keine Informationen mehr geben könne.

Im Oktober 2005, sagt Schirra, habe er ein Paket erhalten, anonym, darin ein Schal, bestickt mit zwei gekreuzten Kalaschnikows und einer bedrohlichen Sure. Zwei Jahre später, im Oktober 2007, sei er kurz vor dem Parkplatz am Tegeler Strandbad, in der Nähe von Valentinswerder, von zwei Männern - er glaubt, Libanesen - zusammengeschlagen und mit einem Messer unter dem linken Auge verletzt worden. Wieder erstattete Schirra Anzeige, wieder blieben die Ermittlungen ergebnislos. Ständig bekam er außerdem anonyme Anrufe, zu jeder Tageszeit, und er bekomme sie heute noch, sagt er.

Seit Cicero Ende 2005 über die "Razzia im Morgengrauen" ausführlich berichtete, wie Schirra ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten war, und dazu ein Foto seines Hauses mit Angabe des Wohnorts auf der 13 Hektar großen Insel veröffentlicht hatte, konnte jeder, der wollte, wissen, wo Schirra wohnt.

Am schlimmsten nagt an dem Fünfzigjährigen das Gefühl, sich nicht mehr mit seinen Themen beschäftigen und damit Geld verdienen zu zu können. Er solle fortan nur noch über Schweizer Kühe schreiben, habe Christoph Grenacher, sein damaliger Chefredakteur beim Sonntags-Blick, zu ihm nach der Beschlagnahme seiner Unterlagen gesagt. Bald darauf verlor er seine Anstellung.

Grenacher kann sich nicht erinnern, diesen Satz je gesagt zu haben. Eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung habe zur Vertragsauflösung geführt, sagt Grenacher: Zum einen habe er die Inlandsberichterstattung stärken wollen anstatt einen teuren Auslandsreporter zu beschäftigen, der ständig auf Reisen sei und seit dieser Razzia äußerst aufgewühlt auf ihn gewirkt habe. Andererseits habe er es als seine Aufgabe angesehen, das Ringier-Blatt vor jedem Ruch zu schützen. Die Erinnerung an die "Borer-Affäre" 2002 war noch wach. Ausgelöst hatte sie das Schwesterblatt Blick, das dem damaligen Schweizer Botschafter in Berlin, Thomas Borer, ein Verhältnis nachgesagt hatte und sich dafür öffentlich entschuldigen musste.

Als Aussagen des BKA-Chefs Jörg Ziercke den Eindruck erweckten, Schirra könne gegen journalistische Regeln verstoßen und mit dem Bundeskriminalamt kollaboriert haben, wurde Ringier vorsichtig. Schirra hat die Vorwürfe entkräftet. Doch: "Bei solchen Gerüchten, auch wenn sie falsch sind, bleibt leider immer irgendetwas hängen. Das ist sicherlich der Hauptgrund, warum er es in deutschen Redaktionen danach so schwer hatte", glaubt Johannes von Dohnányi, damals wie heute Auslandschef des Sonntags-Blick: "Für uns gab es nie einen Grund, an Schirras Loyalität und Professionalität zu zweifeln. Er hat uns nie ein faules Ei ins Nest gelegt."

Bruno Schirra, gebürtiger Saarländer, lernte in der Pfalz Winzer. Er ging ins Ausland, begann in Berlin zu studieren, fuhr aber stattdessen einige Jahre Lastwagen, unter anderem nach Afghanistan. So wurde er mit dem konfrontiert, was später, als Journalist, sein Themengebiet wurde. Er begann, Kontakte aufzubauen, sie wurden die Grundlage seiner Arbeit. Das alles sei mit der Durchsuchung vorbei gewesen. Manche warnten ihn, noch einmal in den Iran, nach Afghanistan oder Pakistan zu reisen. Sein Informantennetz brach zusammen. Wie sollte man einem, gegen den ermittelt wird, dessen Telefone abgehört und dessen Recherchematerial der vergangenen 15 Jahre in der Obhut von Polizei und Staatsanwaltschaft ist, vertrauen? Daran habe sich auch nichts geändert, als die Ermittlungen ergebnislos eingestellt worden sind. Die Potsdamer Staatsanwalt ließ zwar die Klage wegen Geheimnisverrats fallen, doch sie behielt das Recherchematerial, und Schirra erklärte sich damals damit einverstanden.

Auf Valentinswerder ist es dunkel geworden, der Tee ist kalt, die Luft vom Zigarettenrauch vernebelt. Schirra plant einen Thriller und ein Sachbuch zu schreiben; das bislang letzte Werk verkaufte sich schlecht. Weil Reise- und Spesenbelege sowie andere Geschäftsunterlagen ebenfalls eingezogen wurden, kann er seine Steuererklärungen 2004 und 2005 nicht abgeben. Wie es beruflich für ihn weiter geht, weiß Bruno Schirra nicht. ULRIKE SIMON

"Mehr Publizität als eine teure Werbekampagne"

"Von solchen Gerüchten bleibt immer etwas hängen"

"Meine berufliche Existenz ist zerstört": Journalist Schirra, Cicero-Ausgabe von November 2005. Als die Staatsanwaltschaft eine Razzia bei Schirra und in dem Magazin anordnete, profitierte Cicero von der Publicity. Schirra aber vertrauen Informanten nicht mehr, und er wird bedroht, sagt er. Fotos: Cicero, dpa

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Willkommen in der Hölle

Ein "Tatort" über das Leben im Niedrigpreissegment

Hier ist kein Mensch mehr, schimpft Gebietsleiter Blaschke ins Telefon. Dabei fegt seine Filialleiterin, Frau Freytag, genau neben ihm das Linoleum. Egal, für Blaschke gibt es sowieso keine Menschen, nur MA's (Mitarbeiter), und zwar faule.

Frau Freytag hat eine Hanna-Schygulla-Frisur und ein verhuschtes Gesicht. Herr Blaschke trägt einen teuren Anzug und italienische Schuhe. Beide wirken im Neonlicht des Verkaufsraums überfordert. Das mag daran liegen, dass sie für "Billy" - eine Billigkette - schuften, gegen die das RTL-Dschungelcamp wie ein Wellness-Urlaub anmutet. Das mag aber auch daran liegen, dass im Tatort "Kassensturz", dem neuen Fall von Lena Odenthal, ohne Maske gearbeitet wurde. "Morgens gab's für die Schauspieler eine Gesichtsmassage, und das war's dann", sagt Regisseur Lars Montag. Die Öffentlich-Rechtlichen sparen eben, wo sie können.

Ulrike Folkerts, als Lena Odenthal im zwanzigsten Ermittlungsjahr, scheint die Gesichtsmassage gut zu tun. Vielleicht ist es auch ihr glückliches Privatleben, über das sie neuerdings freimütig in Talkshows spricht, jedenfalls wirkt sie weniger kantig als früher. Ihr grasgrünes T-Shirt, die mintgrüne Sportjacke und der darüber getragene zwiebellauchgrüne Trench strahlen Zuversicht aus, als sie tags drauf auf dem Müllberg steht, in dem Gebietsleiter Blaschke tot aufgefunden wurde. Die möglichen Tatwaffen liegen ringsum verstreut: ein Kruzifix, ein Siphon, eine Bratpfanne, Eisenstange und eine angetaute Lammkeule. Leicht wird das nicht, so viel ist klar. Von Tatverdächtigen wimmelt es nur so. Den Blaschke konnte keiner leiden. Weder seine Vorgesetzte, Billy-Vertriebsleiterin Gesine Fuchs (grandios gemein: Adele Neuhauser), noch sein Konkurrent Günter Novak (Jan Henrik Stahlberg mit wegen Überarbeitung echten, nicht geschminkten Augenringen) und schon gar nicht seine MA's - von Blaschke getriezt, bespitzelt, angebaggert.

Der Discounter-Alltag geht weiter. "Bei uns im Niedrigpreissegment", sagt Vertriebsleiterin Fuchs, "ist für Emotionales nun mal nicht wirklich Platz." Sie setzt Novak als neuen GL (Gebietsleiter) ein. "Willkommen in der Hölle", begrüßt der GL seine MA's.

Eisenstange oder Lammkeule?

Im Wirrwarr um Blaschkes Tod wird ein Szenario entworfen, das übertrieben wirkt, sich aber auf gründliche Recherchen im Niedrigpreissegment stützt. In die Dreharbeiten zu "Kassensturz" fiel ein echter Discounter-Skandal, der das Drehbuch fast noch toppte und eingearbeitet wurde.

Die Großaufnahmen gepeinigter Gesichter, die gute Besetzung und die extremen Brennweiten geben dem in Gelb und Lila gehaltenen Kammerspiel filmische Qualität. Ein leichtes Unbehagen bei allen, die beim Billiganbieter einkaufen, ist als Nebeneffekt vermutlich gewollt und sollte, pardon, billy-gend in Kauf genommen werden. ELSE BUSCHHEUER

Tatort - "Kassensturz", ARD, Sonntag, 20.15 Uhr.

Statt Maske nur Gesichtsmassage bei den Dreharbeiten: SWR-Tatort mit Ulrike Folkerts (re.), Andreas Hoppe und Traute Hoess. Foto: SWR

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"Wir arbeiten an der Verbesserung der Welt"

ARD-Literaturkritiker Denis Scheck über Lese-Polizisten, Elke Heidenreich und 50 Folgen "Druckfrisch"

In einem Roman von Thomas Glavinic sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann einmal, dass Denis Scheck in Wirklichkeit gar nicht existiere. Trotzdem sind die fünf Minuten immer unterhaltsam, wenn Literaturkritiker Scheck in seiner ARD-Sendung Druckfrisch die Bestsellerliste kommentiert: pointiert, was nicht gefällt, rutscht in die Tonne. Aber Scheck, 44, kann Literatur auch auf schöne Weise loben. Seine manchmal selbstironische Nischensendung kommt monatlich, eine halbe Million Menschen sehen regelmäßig zu. Am Sonntag wird die 50. Folge ausgestrahlt (23.35 Uhr). Daniel Kehlmann ist auch dabei.

SZ: Herr Scheck, warum muss man Druckfrisch sehen?

Denis Scheck: Man kann es sehen, man muss nicht. Es gibt schon genügend Lese-Polizisten, die einem Vorschriften machen, ich will keiner sein. Für mich war es immer so, dass ich einen Tag ohne Lektüre wie einen Tag Einzelhaft in meiner eigenen Haut erlebe. Da ist es doch eine Einladung zu sagen: Hey, hier gibt es die Welt der Bücher, die so vielfältig ist und in der unsere ganze Wirklichkeit steckt. Tolkien, den ich sehr bewundere, sagte: "Die einzigen, die etwas gegen Eskapismus haben, sind die Gefängniswärter."

SZ: In Ihrer Sendung schmeißen Sie immer auch Bücher in die Tonne. Warum denn? Gibt es zu viele davon?

Scheck: Nein! Ich liebe gute Bücher, aber es gibt so unglaublich viele schwachsinnige. Zu den meistverkauften Sachbüchern gehört eines, in dem ein texanisches Ehepaar behauptet, Kontakt zu einer außerirdischen Intelligenz namens Abraham zu haben. Mich verblüfft immer das Erstaunen darüber, dass ich Verrisse als Wegwerfen eines Buches inszeniere. Ich wünsche mir eine genauso leidenschaftliche Auseinandersetzung mit allen mangelhaften Produkten - Autos, Schuhen, schlecht sitzenden Anzügen.

SZ: Elke Heidenreich hat über Ihre Sendung gesagt: Bücher wirft man nicht in die Tonne und schon gar nicht in Deutschland. Fehlt Ihnen ihre abgesetzte Sendung Lesen! im ZDF?

Scheck: Benimm-Tipps hole ich mir nicht von Elke Heidenreich. Aber mir persönlich fehlt jede Literatursendung im Fernsehen. Auch diese.

SZ: Nach dem Rauswurf beim ZDF macht sie ihre Sendung jetzt im Internet. Sie werden auch ihr Gast sein, hört man.

Scheck: Ja, ich bin eingeladen und komme auch gerne, aber ich weiß noch nicht wann.

SZ: Warum muss man so lange aufbleiben, um Druckfrisch zu sehen?

Scheck: Muss man nicht. Es gibt eine Wiederholung auf 3sat sonntagnachmittags und es gibt DVD-Rekorder. Wissen Sie, Sendeplätze werden nicht nach Lotterieprinzip vergeben. Ich habe wirklich den Verdacht, dass ich diesen Sendeplatz habe, weil weniger Leute Druckfrisch sehen wollen als den Tatort.

SZ: Klingt, als seien Sie mit Sonntag kurz vor Mitternacht versöhnt.

Scheck: Wer die Sendung wirklich sehen möchte, hat heute viele Möglichkeiten, es zu einer anderen Zeit zu tun. Ich hätte ja gerne einen früheren Platz. Mein Lieblingsgericht sind übrigens gefüllte Zucchiniblüten. Die gibt es in Italien an jeder Ecke. Meine Forderung, auch in Deutschland überall statt altbackener Brezen gefüllte Zucchiniblüten kaufen zu können, blieb aber bislang ebenso unerfüllt wie meine Forderung, Druckfrisch um 20.15 Uhr zu senden. Wir arbeiten an der Verbesserung der Welt!

Interview: Claudia Tieschky

Misstraut außerirdischer Intelligenz: Denis Scheck. Foto: WDR

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Direktor mit Pep

Der BR, sein "Waldi" und eine Posse zum Abschied

Er war schon im Programm angekündigt - ein Fußballexperte, der zum Start der Bundesliga-Rückrunde in der Fernsehtalkshow das Richtige sagen würde. Doch dann wurde Waldemar Hartmann überraschend von seinem langjährigen Haussender, dem Bayerischen Rundfunk (BR), wieder ausgeladen. Nun ist er tatsächlich am 1. Februar nicht zu Gast beim Sonntags-Stammtisch um elf Uhr, zu dem Helmut Markwort, Dieter Hanitzsch und Wolfgang M. Heckl laden und an dem auch die CSU-Politikerin Monika Hohlmeier teilnehmen wird.

Als Fußballspezialist hatte Hartmann jahrelang in Diensten des BR deutsche Starkicker begleitet. BR-Sprecher Rudi Küffner teilte mit, dass Fernsehdirektor Gerhard Fuchs die Absage veranlasst habe: "aus dramaturgischen Gründen, um mehr Pep in die Sendung zu bringen."

Als Ersatz sollte der aus dem Radio bekannte BR-Fußballreporter Günther Koch zum Sonntags-Stammtisch erscheinen. Koch sei Mitglied der SPD und komme aus Franken, Hohlmeiers neuem politischen Wirkungsfeld. Koch ist jedoch verhindert, da er sich auf einer Schiffsreise befindet. Nun hat Fuchs persönlich Ersatz besorgt: den Büttenredner Bernd Händel (Fastnacht in Franken). Die größeren Gegensätze zwischen den Gästen rechtfertigten die Absage, so Küffner. Waldemar Hartmann, der in der Schweiz lebt, stünde Monika Hohlmeier politisch zu nahe, ihr Zusammentreffen beinhalte zu wenig Spannung.

Das Eingreifen von Fuchs, so ist aus dem Münchner Funkhaus zu hören, sei "persönlich unterlegt". Offenbar spiele eine Rolle, dass Hartmann eine schöne Karriere in einem anderen öffentlich-rechtlichen Betrieb vor sich hat - beim MDR in Leipzig. Hier unterschrieb er einen einjährigen Moderatorenvertrag. Als Tätigkeitsfeld ist Boxen angegeben.

Für sein Wirken in Waldis WM-Club, der nach den Turnierspielen der Nationalelf läuft, ist Hartmann offenbar über die Firma Telepool an die ARD gebunden. Bezahlt wird aus dem Rechtetopf.

Beim BR hatte sich keine Job-Möglichkeit mehr für den 60-Jährigen ergeben, der dort so lange die Sendung Blickpunkt Sport moderiert hatte. Hartmann war ein Gesicht des Bayern-Funks. Ende 2008 war sein Pauschalvertrag als freier Mitarbeiter ausgelaufen. Im BR heißt es, Fuchs habe früh angedeutet, dass dieser Kontrakt so nicht weiter laufen könne. Nur: Es kam wohl keine neue Offerte. Dabei soll Hartmann angeblich ein Konzept beim BR eingereicht haben für eine Show, die an den Gewinn der Fußball-WM vor 20 Jahren in Italien erinnern wolle. Es gibt wohl ein Exposé. Der BR erklärt auf Anfrage, der Sender habe schon vor Monaten bekannt gegeben, dass der Vertrag mit Waldemar Hartmann korrekt beendet werde.

Hartmann kann das alles egal sein. Er hat gut zu tun. So tourt er mit einem Kabarett durch die Lande, das viel verspricht: "Born to be Waldi." jja

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Piel will Pocher

Der WDR verhandelt mit Oliver Pocher. Intendantin Monika Piel möchte ihn in der ARD halten, weiß aber nicht, ob andere Sender mitziehen. Auch die Frage, ob Hart aber fair einem einheitlichen Sendeplatz für die Tagesthemen weichen muss, bleibt offen. "Da drehen wir uns im Kreis", sagte Piel am Freitag bei der Vorstellung des WDR-Haushaltes, der bis 2012 ein durch Einsparungen auszugleichendes Defizit birgt, das über die bisher bekannten 100 Millionen Euro weit hinausgeht. haho

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Verantwortlich: Christopher Keil

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"Herr Lemke, laden Sie die Kalaschnikow!"

Der Bremer Willi Lemke über das Psychoduell mit Uli Hoeneß, sein Leben als UN-Berater und den letzten Besuch bei Willy Brandt

SZ: Herr Lemke, haben Sie schon mit Dietmar Hopp telefoniert?

Willi Lemke: Ich bin Ende September 2008 in seine Loge gegangen und habe ihm zu dem unglaublichen Fußball gratuliert, den seine Mannschaft trotz der 4:5-Niederlage im Weserstadion gezeigt hat. Hopp kann stolz auf sein Werk sein. Für die Schmähungen, denen er ausgesetzt ist, habe ich kein Verständnis.

SZ: Sie könnten ihm jetzt einiges über die psychologische Kriegsführung des FC Bayern berichten. "Ralf Rangnick ist ein Besserwisser. Er versteht bereits nach sechs Monaten nicht, mit Höhenluft umzugehen", wirft Uli Hoeneß dem Trainer des neuen Konkurrenten Hoffenheim vor. Und Mäzen Hopp unterstellt er, den Spielern mehr Geld zu zahlen, als erzählt werde. Diese Töne müssten Ihnen bekannt vorkommen.

Lemke: Über die beiden Zitate habe ich nur den Kopf geschüttelt. Aber neu ist dies in der Tat nicht. Da muss man sich nur die Presselandschaft der letzten 20 oder 25 Jahre anschauen, die habe ich noch ganz gut abgespeichert. Es ist der gewöhnliche Umgang der Bayern mit einem Klub, der ihnen gefährlich werden könnte. Weiter möchte ich das nicht kommentieren.

SZ: Hopp schließt nicht aus, dass die Attacken aus München seine unerfahrene Truppe verunsichern. Haben Sie sich in den achtziger und neunziger Jahren mit Hoeneß so gefetzt, weil Sie Mannschaft, Fans und nicht zuletzt ihm signalisieren wollten: Das Selbstbewusstsein der Bayern haben Bremer auch!?

Lemke: Das war ein Grund, natürlich. Wir haben dagegengehalten, wenn die Münchner nach unserer Meinung mal wieder nach Gutsherrenart geredet hatten. Manchmal hatten wir damals das Gefühl, dass sich welche für die Erfinder des Fußballs hielten. Und die saßen an der Isar.

SZ: Aggressivität zu zeigen gehört nach Erkenntnis des Unternehmensberaters Roland Berger zum Geschäft. Beim Fußball sei wie in der Wirtschaft die Hälfte des Erfolges Psychologie. So gesehen macht Erfolgsmensch Hoeneß seit fast 30 Jahren alles richtig.

Lemke: Ich halte nichts von der Methode, die Ellbogen auszufahren und Leute abzugrätschen, nur um mehr Erfolg zu haben. Manager in der Wirtschaft mögen da anderer Auffassung sein. Wohin das auch führen kann, ist gerade weltweit zu besichtigen.

SZ: Weder Sie noch Hoeneß scheuten seinerzeit persönliche Angriffe. Woher rührte diese Feindschaft? Brigitte Seebacher-Brandt erzählte, dass Sie mit Werder-Fan Willy Brandt eine Flasche Champagner trinken wollten, falls der Bayern-Manager scheitert. Nur der politische Gegensatz zwischen "rotem Willi" und CSU-Freund Hoeneß kann es doch nicht gewesen sein.

Lemke: Es ging los mit dem brutalen Foul von Klaus Augenthaler an Rudi Völler im November 1985. Rudi wurde so schwer am Oberschenkel verletzt, dass er fünf Monate pausieren musste. Doch die Münchner entschuldigten sich keineswegs sofort, sie gaben ihm sogar eine Mitschuld mit der unfassbaren Begründung: Wer so schnell laufe, müsste damit rechnen, dass seine Gegner schon mal das Bein statt den Ball treffen.

SZ: Hoeneß sprach von einem "normalen Foul", worauf ihm Völler zornig entgegnete: Das könne er nur als zynisch bezeichnen.

Lemke: Jedenfalls war bei uns Schluss mit lustig. Von da an hat sich der Streit immer weiter hochgeschaukelt.

SZ: Und wie. Nur zwei Beispiele: Sie sagten, "Hoeneß glaubt, mit Geld und Macht Leute niederbügeln, sie mit gezielten Attacken mundtot machen zu können". Er wiederum erklärte nach Ihrer Berufung zum Bremer Bildungssenator: Es sei "erstaunlich, dass ein Mann mit einem solchen Charakter Minister eines Bundeslandes werden kann".

Lemke: Wir haben uns vor einigen Monaten beim Aktuellen Sportstudio im Zweiten Deutschen Fernsehen getroffen, freundlich die Hand gegeben und einen guten Tag gewünscht. Unsere Schlachten sind geschlagen.

SZ: Sie wurden vorige Woche als Werders Aufsichtsratschef wiedergewählt und Sie sind seit April vergangenen Jahres Sport-Sonderbeauftragter von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Wir gehen davon aus, dass Ihnen die Arbeit bei den Vereinten Nationen zur Zeit mehr Spaß macht, obwohl es dafür nur den symbolischen Dollar im Jahr gibt.

Lemke: Der Job macht mir unendlich viel Spaß, weil ich am Ende meiner beruflichen Laufbahn etwas tun kann, worin ich noch einmal einen ganz besonderen Sinn sehe. Wissen Sie, ich habe ja 18 Jahre lang Fußball organisiert, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Ich habe gedacht, der Moment mit der Meisterschale auf dem Rathausbalkon sei die Krönung in meinem Leben. Mit zunehmendem Alter setzt man andere Prioritäten. Heute weiß ich, dass mir die Geburten meiner Kinder, bei denen ich dabei war, mehr bedeuten als ein gewonnener Titel für Werder. Auch die Bildungspolitik, für die ich mich in Bremen acht Jahre engagiert habe. Auf meinen Reisen für die UN habe ich sehr viel Leid und Elend gesehen. Es befriedigt mich, wenn ich dort ein bisschen helfen kann. Vor zehn Jahren hätte ich Ihnen noch gesagt: Das Allerwichtigste ist, der Ball muss ins Tor.

SZ: Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagt über den von der Bundesregierung mit 450 000 Euro geförderten Job: Die Aufgabe sei, Macht und Möglichkeiten des Sports zu nutzen, um Entwicklung und Frieden weltweit fördern zu helfen. Was machen Sie konkret?

Lemke: Ich habe beispielsweise Blauhelme in Buake im Rebellengebiet der Elfenbeinküste besucht. Sie sind dort, um das Land zu stabilisieren. Aus einem Acker haben sie einen Fußballplatz gemacht, sogar gegen die Rebellenarmee gespielt. Den Commander habe ich gefragt, ob seine Leute nicht auch für die Bevölkerung einen Platz errichten könnten. Seine Begeisterung hielt sich anfangs in Grenzen. Jetzt erfuhr ich, sie haben's tatsächlich gemacht. So was finde ich klasse, denn es bedeutet, dass junge Einheimische unter halbwegs vernünftigen Bedingungen Sport treiben können. Und wenn sie künftig Blauhelme nicht mehr mit Steinen beschmeißen, hat auch der Frieden einen kleinen Sieg errungen.

SZ: Im Bremer Aufsichtsrat entscheiden Sie über einen Jahresetat von 110 Millionen Euro. Für Ihre Sportprojekte in der Dritten Welt ist kaum Geld da, Sie müssen bei Regierungen oder Privatleuten betteln gehen. Wie schaffen Sie den Spagat?

Lemke: Ich bewege mich in einer Welt, in der der Sport einen ganz anderen Wert hat. Oft fehlt das schulische Angebot, das Dach überm Kopf, jede Perspektive. Da gibt es Jugendlichen vielleicht ein wenig Halt, wenn sie, wie bei einem Projekt in Südafrika, einmal in der Woche unter Anleitung von Fachleuten trainieren. Ich habe mich in Malaysia in Grund und Boden geschämt, als ein etwa zehnjähriger Junge sagte: Er möchte sich herzlich bedanken, dass er hier zur Schule gehen könne. 120 Flüchtlingskinder aus Birma hockten in einem kleinen, stickigen und elendig stinkenden Raum auf dem Fußboden, es gab keine Stühle, keine Tische, keine Wandtafel, gar nichts. Die Kinder in ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben zu bestärken, ihnen Gemeinschaftserlebnisse durch den Sport zu ermöglichen, das ist meine Aufgabe. Dafür brauche ich keinen Komfort. Ich habe keinen Fahrer, fahre viel mit Bus und Bahn und übernachte auch nicht in Fünf-Sterne-Hotels.

SZ: Planen Sie denn gemeinsame Projekte zwischen jungen Israelis und Palästinensern?

Lemke: Ich bin nächste Woche in Kairo, wo sich 160 Jugendliche aus 20 Ländern treffen. Und ich hoffe, dass darunter auch Israelis und Palästinenser sind. Es muss den Dialog geben, in jedem Alter und auf allen Ebenen. Wir müssen noch mehr Anstrengungen als bisher machen, um die jungen Menschen zusammenzubringen. Dass im zerbombten Gazastreifen Kämpfer der nächsten Generation heranwachsen, ist leider zu befürchten.

SZ: Während Sie für die gute Sache um die Welt reisten, war an der Waterkant ordentlich was los. Diego flog ohne Einwilligung des Vereins mit der brasilianischen Olympiamannschaft nach Peking, Werder scheiterte in der Champions League, liegt beim Start der Bundesliga-Rückrunde nur auf Platz acht. Was stimmt nicht mehr in Bremen?

Lemke: Wir sind nicht so vermessen, von unserem Trainer zu verlangen, sich jede Saison für die Champions League zu qualifizieren. Thomas Schaaf leistet seit fast zehn Jahren exzellente Arbeit. Was die Konstanz, seinen Einfluss und seine fachliche Qualifikation anbelangt, gibt es durchaus Parallelen zu Otto Rehhagel. Schaaf darf auch mal Achter sein. Da kommt bei uns noch keine Hektik auf. Es bleibt ja eine Halbserie zur Korrektur.

SZ: Auffallend ist das Disziplin-Problem der Mannschaft. Diego und Pizarro sind gesperrt, weil sie ihre Gegner würgten oder ohrfeigten. Dazu passt Diegos nächtliche Autofahrt mit 0,8 Promille samt skurriler Rechtfertigung: Der Kellner des italienischen Restaurants habe Mitschuld, weil er "manchmal Wein nachgeschenkt hat, obwohl ich das Glas noch nicht ausgetrunken hatte". Fraglich ist zudem, ob der Brasilianer einen gültigen Führerschein besitzt.

Lemke: Diego und Pizarro haben der Mannschaft geschadet, sie sind entsprechend gemaßregelt worden. Und dass man unter Alkoholeinfluss nicht Auto fährt, sollte jeder wissen. Aber glauben Sie mir, der Eindruck täuscht, die Jungs würden ständig über die Stränge schlagen. Die heutige Generation ist viel braver als die Profis in den siebziger und achtziger Jahren. Wenn da Polizisten einen Spieler mit Alkohol am Steuer erwischten, haben sie auch schon mal gesagt: "Dürfen wir Sie nach Hause fahren, wir glauben, das wäre besser." Dann haben sie sich in den Armen gelegen, Werder hochleben lassen und waren für alle Zeiten Freunde.

SZ: Gelesen hat man darüber wenig.

Lemke: Wir lagen ja lange wie im Tal, unsere Presselandschaft war ziemlich überschaubar. In Zeiten von Internet und Leser-Reportern hat sich das geändert. Autotouren, bei denen Spieler auf Sitzbänken oder im Kofferraum liegen und von einer Kneipe zur anderen fahren, blieben heute auch in Bremen schwerlich verborgen.

SZ: Noch schlechter als in der Bundesliga steht Bremen bei den Pisa-Ergebnissen da. Zum dritten Mal hintereinander haben die 15-Jährigen in den getesteten Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik und Lesen die geringsten Kompetenzwerte. Warum lernen Jugendliche in Sachsen oder Bayern besser?

Lemke: Die Ergebnisse eines Gymnasiums im Bremer Umland und in Oberbayern sind durchaus vergleichbar. Das Problem speziell der Stadtstaaten ist der große Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund. In Bremen beträgt er 42 Prozent. Aufgrund meiner Erfahrung als Bildungssenator sage ich: Bis 20 Prozent kannst du die Kinder in einer Klasse integrieren, danach wird's schwierig, auch für die Lehrer.

SZ: Die beklagen mangelnde Deutschkenntnisse der Schüler.

Lemke: Häufig zu Recht. Auch Gewalt in Schulen entsteht oft durch Sprachprobleme. Es ist unabdingbar, dass Kinder in der Sprache des Landes lesen und schreiben lernen, in dem sie leben. Und wenn sie nicht regelmäßig zur Schule kommen, kann man ja mal über die Kürzung des Kindergeldes nachdenken. Für diese Ansicht gibt es in meiner Partei aber keine Mehrheit.

SZ: Als Sie im Jahr 1981 von der Bremer SPD-Geschäftsführung zu Werder wechseln wollten, riet Ihnen der damalige Bürgermeister Hans Koschnick mit der Begründung zu: "Wenn du zeigst, dass ein Sozi so was auch kann, ist das für die Partei fast noch wertvoller, als einen guten Geschäftsführer zu haben." Sie blieben 18 Jahre, in dieser Zeit wurde der Klub zweimal Deutscher Meister, dreimal Pokalsieger und gewann 1992 den Europacup. Woran erinnern Sie sich vor allem?

Lemke: An die Nacht von Lissabon. Nie haben wir ernsthaft daran geglaubt, dass wir gegen Monaco den Europacup der Pokalsieger gewinnen würden. Und dann natürlich, als Otto Rehhagel uns mitteilte, dass er zu Bayern München wechseln würde. Nach 14 Jahren wollte uns der geliebte Trainer verlassen. Und auch noch die Bayern trainieren, gegen die wir so lange gemeinsam gekämpft hatten. "Herr Lemke, laden Sie die Kalaschnikow, wir müssen zur Gegenoffensive übergehen", sagte er scherzhaft, wenn es aus München mal wieder zu dicke gekommen war. Also das war ein richtig herber Schlag, wir waren fassungslos. Wenn Rehhagel länger bei uns geblieben wäre, würde er heute als Denkmal neben dem Roland stehen. Das hätten wir im Senat beschlossen.

SZ: Der Wechsel zum Klassenfeind war ja nicht alles. Rehhagel outete sich zudem als Anhänger des damaligen Kanzlers Helmut Kohl.

Lemke: Otto war auch ein Brandt-Fan. Wir beide waren wohl die Letzten, mit denen Willy Brandt vor seinem Tod im Oktober 1992 noch ein Glas Champagner getrunken hat. Seine Ehefrau Brigitte hatte uns gesagt, er würde sich riesig über den Besuch von Rehhagel und mir in Unkel freuen. Obwohl es ihm schon schlecht ging, war er aufgestanden, er war tadellos gekleidet, eine beeindruckende Persönlichkeit.

SZ: Sind Sie ganz sicher, dass die Bayern Ihnen nicht auch Klaus Allofs als Hoeneß-Nachfolger abwerben?

Lemke: Wie sollte ich mir da sicher sein? Allerdings: Klaus Allofs hat sich sehr deutlich zu Werder bekannt und einen Vertrag bis 2012.

SZ: Welche Auswirkungen hat die Finanzkrise auf den Profifußball?

Lemke: In den beiden Kernbereichen Ticketverkauf und Fernsehgelder erwarte ich keine Einbußen. Anders sieht es im Sponsoring aus. Hier werden die Unternehmen angesichts der Wirtschaftslage sehr genau prüfen, welche Engagements auch in Zukunft sinnvoll sind.

SZ: 2005 wären Sie gern Henning Scherfs Nachfolger als Bremer Bürgermeister geworden. In der direkten Abstimmung unterlagen Sie jedoch eindeutig dem Parteifreund Jens Böhrnsen. Ein verlorener Traum?

Lemke: Bei meinem Bekanntheitsgrad und auch aufgrund meiner Erfolge hatte ich mit dieser Niederlage nicht gerechnet. Danach habe ich mich 24 Stunden ausgeschüttelt, bin aufgestanden und habe Wahlkampf für Jens Böhrnsen gemacht. Es reichte dann zur Regierung zusammen mit den Grünen. Ich übernahm den Posten des Innensenators, doch war mir klar, dass ich bald den Absprung machen würde. Die Partei hatte ein deutliches Votum gegen mich abgegeben.

SZ: Immerhin waren Sie für Willy Brandt "der lebende Beweis, dass Sozialdemokraten auch mit Geld umgehen können". Daran hat sich offenbar nichts geändert. Bei den Olympischen Spielen in Peking, erzählten Sie TV-Reporter Jörg Wontorra stolz, ließen Sie sich einen Anzug anfertigen, nachdem Sie den Schneider von 160 auf 110 Euro heruntergehandelt hatten. Machen Sie das immer so?

Lemke: Meine Frau schimpft mit mir, wenn ich handele. Sie sagt, die armen Leute wollen schließlich auch was verdienen. Sollen sie ja, aber in vielen Ländern wird erwartet, dass man handelt. Die denken, man ist blöd, wenn man im Laden den geforderten Preis bezahlt. Und dass ich blöd wäre, will ich mir von niemandem nachsagen lassen.

Das Gespräch führten Kurt Röttgen

und Ludger Schulze

Das Sportgespräch

Die Inhalte im beruflichen Leben von Willi Lemke haben sich stark verändert, geblieben aber ist seine Rastlosigkeit. Dem Gespräch mit der SZ ging der Neujahrsempfang der Deutschen Fußball Liga (DFL) in Frankfurt voraus, wo er sich über ein Wiedersehen mit alten Bekannten wie Günter Netzer freute. Anschließend standen noch drei weitere Termine für den "Werder-Willi" genannten Bremer an. Pro Jahr bringt es der UN-Sonderberater für Sport auf rund 300 000 Flugmeilen, ein Pensum, das ein wenig an den ehemaligen Außenminister Dietrich Genscher erinnert. Lemke nutzt auch auf den Langstreckenflügen jede Minute: Beim Hinflug pflegt er Englisch-Vokabeln zu lernen, beim Rückflug nimmt Lemke noch vor dem Essen eine Schlaftablette - um nach der Landung wieder frisch genug zum Weiterarbeiten zu sein. Trotz dieses Stresses wäre Lemke hocherfreut, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den Vertrag des Sportbotschafters um ein weiteres Jahr verlängern würde. Das SZ-Gespräch mit Willi Lemke ist das neunte einer Reihe von Treffen mit Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens, die engen Bezug zum Sport haben. Bisher erschienen sind Interviews mit Günter Grass (8. Juli 2006), Kardinal Karl Lehmann (7. September 2006), Jürgen Flimm (9. Dezember 2006), Thomas Brussig (14. Juli 2007), Roland Berger (4. August 2007), Campino (1. Dezember 2007), Per Steinbrück (2. Februar) und Angela Merkel (6. Juni 2008).

"Es ging los mit dem brutalen Foul an Rudi Völler. Danach war Schluss mit lustig."

"Der Eindruck täuscht, die Jungs würden heute ständig über die Stränge schlagen."

"Wäre Rehhagel in Bremen geblieben, würde er als Denkmal neben dem Roland stehen."

Willi Lemke, 62

wurde in Pönitz (Ostholstein) geboren und wuchs in Hamburg auf. Nach dem Abitur studierte er Erziehungswissenschaften und Sport; mit Wissen des Verfassungsschutzes war er Anfang der siebziger Jahre auch für den russischen Geheimdienst KGB tätig. 1974 wurde das SPD-Mitglied Landesgeschäftsführer seiner Partei in Bremen. 1981 nahm er ein Angebot des örtlichen Bundesligisten SV Werder an und wurde Fußballmanager. Lemke stellte den Klub, dem er heute noch als Vorsitzender des Aufsichtsrats dient, auf ein gesundes wirtschaftliches Fundament und führte ihn mit Trainer Otto Rehhagel zu sportlichen Erfolgen. 1999 kehrte er als Bremer Senator für Bildung und Wissenschaft in die Politik zurück, später wurde er Innensenator. Dank seines Organisationstalents und vielfältiger Ideen sorgte er auch in diesen Ämtern für Aufsehen. Im März 2008 ernannte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den Bremer zum UN-Sonderberater für Sport.

"Vor zehn Jahren hätte ich noch gesagt: Das Allerwichtigste ist, der Ball muss ins Tor." Inzwischen hat Willi Lemke andere Prioritäten - seine Arbeit als UN-Berater im Dienste der Kinder und des Sports bereitet dem Bremer die größte Freude. Foto: Caro

Scheinfriede an der Biertheke (Bild oben): die Manager Uli Hoeneß (links) und Willi Lemke (rechts), dazwischen die Präsidenten Franz Böhmert (Bremen) und Fritz Scherer (FC Bayern) im Jahr 1986. Nicht nur als Angreifer im ewigen Streit mit den Münchnern, sondern auch als Torhüter (Mitte) mit Hemd und Krawatte zeigte sich Lemke als Kämpfernatur. Mit dem politischen Weggefährten und damaligen Bremer Bürgermeister Henning Scherf feierte "Werder-Willi" 2004 den bislang letzten Meistertitel der Hanseaten. Fotos: dpa, Imago, ddp

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Erster Weltcupsieg seit 2007

Spurtstarker Angerer

Rybinsk (sid) - Mit einem furiosen Zielspurt zum 15-km-Sieg ist Skilangläufer Tobias Angerer im Rybinsk/Russland die Rückkehr in die Weltspitze geglückt. "Es ist unbeschreiblich schön, nach so langer Zeit wieder einen Sieg zu landen", sagte der Vachendorfer nach seinem ersten Weltcup-Triumph seit 22 Monaten. Zuvor war 280 Kilometer nördlich von Moskau bereits Steffi Böhler (Ibach) als Dritte auf das Siegerpodest gestürmt.

"Ich habe im richtigen Moment den Angriff gestartet. Jetzt kann ich auch bei der WM in Liberec ein Wörtchen im Medaillenkampf mitreden", sagte Angerer, der zuletzt im März 2007 in Falun gewann und für seinen elften Weltcup-Solosieg gut 10 000 Euro Prämie kassierte. Bei Schneesturm und Eiseskälte arbeitete sich Angerer auf dem vorletzten Kilometer des 15-km-Massenstartrennens von einem Platz im Mittelfeld der etwa 40-köpfigen Spitzengruppe nach vorne und suchte am letzten Anstieg die Entscheidung. Auf der Zielgerade war er - in Führung liegend - nicht mehr einzuholen und kam 0,7 Sekunden vor Jean Marc Gaillard aus Frankreich ins Ziel.

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Kurz gemeldet

Das Exekutivkomitee der Europäischen Fußball-Union (Uefa) hat auf seiner Tagung in Nyon die Kandidatur von DFB-Präsident Theo Zwanziger für einen Sitz in der Spitze des europäischen Fußballs bestätigt. Für neun freie Posten im Exekutivkomitee stellen sich beim 33. Uefa-Kongress am 25. März in Kopenhagen zwölf Kandidaten zur Wahl.

Arminia Bielefeld, Fußball-Bundesligist, hat den Vertrag mit Michael Frontzeck, 44, um ein Jahr bis 30. Juni 2010 verlängert. Frontzeck ist seit dem 1. Januar 2008 Trainer in Bielefeld, in der Saison 2007/2008 schaffte sein Team als Tabellen-15. den Klassenerhalt. Der Kontrakt gilt für die erste und zweite Liga.

Hertha BSC Berlin, Fußball-Bundesligist, hat den Vertrag mit Trainer Lucien Favre um ein Jahr bis 2011 verlängert.

Bayer 04 Leverkusen hat Gabor Kiraly als Ersatz für den verletzten Torwart Benedikt Fernandez verpflichtet. Kiraly, 32, wird vom Bundesligisten bis zum 30. Juni 2009 vom englischen Zweitligisten FC Burnley ausgeliehen.

Marcelo Bordon, 33, will seine Karriere nach der kommenden Saison und ein Jahr vor Ablauf seines Vertrages beim Bundesligisten Schalke 04 beenden. Er wolle auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit aufhören, sagte der Brasilianer der Recklinghäuser Zeitung.

Milan Sasic, Trainer vom Fußball-Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern hat den tschechischen Zugang Jiri Bilek wegen "unprofessionellen Verhaltens" suspendiert. Sasic wollte sich nicht zu den Hintergründen des Rauswurfs äußern. Es wird spekuliert, dass Bilek eine Verletzung nicht professionell behandeln ließ.

Die USA werden sich um die Ausrichtung der Fußball-WM 2018 und 2022 bewerben. Verbandspräsident Sunil Gulati will die Kandidatur pünktlich zum Ablauf der Bewerbungsfrist am Montag offiziell verkünden und den Geschäftsführer des Bewerbungskomitees vorstellen.

Matthias Steiner, 26, Gewichtheber-Olympiasieger, muss nach einer Leisten-Operation drei Monate pausieren. Bei einer Routineuntersuchung hatten Ärzte einen Leistenbruch festgestellt.

Dirk Nowitzki ist als Ersatzspieler für das Allstar-Game der nordamerikanischen Basketball-Liga NBA am 15. Februar in Phoenix nominiert worden. Nachdem es für den 30- Jährigen von den Dallas Mavericks vor einer Woche bei einer Fan-Abstimmung nicht für einen der fünf Startplätze in der Auswahl der Western Conference gereicht hatte, wurde er von den 30 Trainern der NBA-Teams als einer von 14 Reservisten berufen.

Stefan Hübner, Volleyball-Nationalspieler, fällt wegen einer Wadenverletzung mindestens vier Wochen aus. Der Routinier zog sich die Blessur beim 3:2 seines italienischen Vereins Sisley Treviso bei Itas Diatec Trentino zu.

Vancouver beginnt trotz Finanzproblemen am Sonntag mit einem Fest den Countdown für die Olympischen Winterspiele. Auf dem Vancouver Art Gallery Plaza werden mit einem Laternenumzug über 400 kulturelle Veranstaltungen eingeläutet, die ein Jahr vor den Spielen vom 12. bis 28. Februar 2010 für Olympia-Stimmung sorgen sollen. Höhepunkt der Feierlichkeiten ist am 12. Februar 2009 der Auftritt der Grammy-Preisträgerin Sarah McLachlan.

Die deutschen Ski-Freestyler blieben beim Buckelpisten-Weltcup in Deer Valley (USA) erfolglos. Marina Kaffka aus Gaißach und Katharina Förster (Weiler-Simmerberg) landeten auf den Plätzen 22 und 23, deutsche Männer waren nicht am Start. Der Franzose Guilbaut Colas und Hannah Kearney (USA) siegten.

Daniel Albrechts Zustand hat sich trotz der weiter vorhandenen Schrumpfung von Teilen der Lunge leicht verbessert. Mit dem Verlauf des Schädel-Hirn-Traumas seien die Ärzte zufrieden, die Blutungen in der Lunge seien zum Stillstand gekommen, teilte die Innsbrucker Universitätsklinik für Intensivmedizin mit. Der Skirennläufer (Schweiz) war bei der Weltcup-Abfahrt in Kitzbühel gestürzt.

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Aktuelles in Zahlen

Basketball

Männer, EuroLeague

Zwischenrunde, 1. Spieltag

Gruppe E: Tau Ceramica - Asseco Prokom Gdynia 99:77 (51:39), AJ Mailand - Olympiakos Piräus 76:74 (42:32).

Gruppe F: Maccabi Tel Aviv - Alba Berlin 96:65 (49:32), Real Madrid - FC Barcelona 85:83 (40:45).

Gruppe G: Panathinaikos Athen - Partizan Belgrad 81:63 (36:41), Lottomatica Rom - Unicaja Malaga 75:88 (34:48).

Gruppe H: Cibona Zagreb - Montepaschi Siena 88:81 (38:44), Fenerbahce Istanbul - ZSKA Moskau 48:66 (25:41).

NBA

Orlando Magic - Cleveland Cavaliers 99:88, Phoenix Suns - San Antonio Spurs 104:114.

Männer, EuroChallenge,

Zwischenrunde, 1. Spieltag

Gruppe I: Telekom Bask. Bonn - Cholet Basket 68:71 (34:26), Belgacom Lüttich - EiffelT. Den Bosch 81:68 (43:29).

Gruppe J: EWE Baskests Oldenburg - Kiew 73:86 (34:38), Galatasary Istanbul - Virtus Bologna 91:104 (55:50).

Eishockey

DEL, 35. Spieltag

Köln - Wolfsburg 0:4 (0:2, 0:2, 0:0)

0:1 Kinch (03:01), 0:2 Alavaara (13:14), 0:3 Hospelt (25:24), 0:4 Furchner (27:02). - Strafminuten: 12 - 12. - Zuschauer: 7259.

Adler Mannheim - Hannover Scorp.

DEG Metro Stars - Frankfurt Lions

Iserlohn Roosters - ERC Ingolstadt

Füchse Duisburg - Krefeld Pinguine

Nürnberg IT - Hamburg Freezers

Straubing - Augsburger Panther

Eisbären Berlin - Kassel Huskies

1 Hannover Scorpions 44 146:123 88
2 Eisbären Berlin 43 163:118 81
3 Adler Mannheim 43 122:99 76
4 Krefeld Pinguine 44 146:113 75
5 DEG Metro Stars 44 135:117 73
6 Frankfurt Lions 44 127:127 72
7 Nürnberg Ice Tigers 43 125:112 71
8 Augsburger Panther 43 134:149 69
9 Grizzly Wolfsburg 46 159:129 68
10 Hamburg Freezers 44 128:128 64
11 Iserlohn Roosters 43 144:150 64
12 Straubing Tigers 44 123:138 58
13 ERC Ingolstadt 44 117:129 56
14 Kassel Huskies 44 124:149 52
15 Kölner Haie 45 118:141 51
16 Füchse Duisburg 44 98:187 35

Carolina - Tampa Bay 3:2, Boston - New Jersey 3:4 n.V., St. Louis - Ottawa 1:3, San Jose - Phoenix 2:0, Atlanta - NY Islanders 4:5, Detroit - Dallas 2:4, Colorado - Toronto 4:7.

Eisschnelllauf

Weltcup, in Erfurt, Herren

500 m: 1. Fengtong (China) 35,03, 2. Nagashima (Japan) 35,04, 3. Fredricks (USA) 35,12.

Frauen

500 m: 1. Wolf (Berlin) 37,58 Sek., 2. Yu Jing (China) 38,18, 3. Jin Peiyu (China) 38,30, 4. Gerritsen (Niederlande) 38,40, 5. Hui (China) 38,51, 6. Timmer (NL) 38,78; 19. Hartmann (Inzell) 39,89. - Disqualifiziert: Hesse (Erfurt).

Weltcup (11/13): 1. Wolf 985 Pkt., 2. Lee (Südkorea) 590, 3. Gerritsen 560, 4. Boer (NL) 502, 5. Yoshii (Japan) 449, 6. Yu Jing 420; 18. Angermüller (Berlin) 162, 31. Hartmann 63, 32. Hesse 62, 38. Zoellner (Erfurt) 24, 45. Hirschbichler (Inzell) 5, 49. Plate (Berlin) 2.

Fußball

Bundesliga, 18. Spieltag

Hamburger SV - Bayern München

Hannover 96 - FC Schalke 04 Sa. 15.30

1. FC Köln - VfL Wolfsburg Sa. 15.30

Bor. Dortmund - Bayer Leverkusen Sa. 15.30

Hertha BSC - Eintracht Frankfurt Sa. 15.30

1899 Hoffenheim - Energie Cottbus Sa. 15.30

Werder Bremen - Arminia Bielefeld Sa. 15.30

VfL Bochum - Karlsruher SC So. 17.00

VfB Stuttgart - B. M'gladbach So. 17.00

1 Hoffenheim 17 11 2 4 42:23 35
2 B. München 17 10 5 2 39:24
35 3 Hertha BSC 17 10 3 4 27:20
33 4 Hamburger SV 17 10 3 4 26:24
33 5 B. Leverkusen 17 10 2 5
36:21 32 6 B. Dortmund 17 7 8
2 27:19 29 7 FC Schalke 04 17 7 6
4 24:16 27 8 Werder Bremen 17 7 5
5 39:28 26 9 VfL Wolfsburg 17 7 5
5 35:25 26 10 VfB Stuttgart 17 7 4
6 26:23 25 11 1. FC Köln 17 7 1
9 19:25 22 12 E. Frankfurt 17 5
4 8 23:29 19 13 Hannover 96 17 4
5 8 20:32 17 14 Arm. Bielefeld 17
2 8 7 15:27 14 15 Karlsruher SC 17
4 1 12 15:32 13 16 Energie Cottbus 17
3 4 10 12:29 13 17 VfL Bochum 17
1 8 8 19:30 11 18 B. M'gladbach
17 3 2 12 18:35 11 19.

2. Bundesliga, 18. Spieltag

FC Augsburg - 1. FC Nürnberg

VfL Osnabrück - FC St. Pauli

RW Oberhausen - TuS Koblenz

1860 München - SC Freiburg So. 14.00

SV Wehen - Alemannia Aachen So. 14.00

FSV Frankfurt - Rot-Weiss Ahlen So. 14.00

Greuther Fürth - FC Ingolstadt 04 So. 14.00

Hansa Rostock - MSV Duisburg So. 14.00

1. FC Kaiserslautern - Mainz 05 Mo. 20.15

1 FSV Mainz 05 17 9 4 4 33:19 31
2 Kaiserslautern 17 9 4 4 33:22 31
3 SC Freiburg 17 9 3 5 26:18 30
4 Greuther Fürth 17 8 5 4 36:25 29
5 Ale. Aachen 17 8 4 5 26:19
28 6 FC Augsburg 17 8 3 6 26:22
27 7 FC St. Pauli 17 8 3 6 28:30
27 8 1. FC Nürnberg 17 6 7 4 24:17
25 9 RW Ahlen 17 7 3 7 24:30
24 10 MSV Duisburg 17 5 7 5 24:19
22 11 1860 München 17 6 4 7 20:17
22 12 Ingolstadt 04 17 6 3 8 23:28
21 13 Oberhausen 17 6 2 9 17:31
20 14 VfL Osnabrück 17 4 7 6 24:31
19 15 Hansa Rostock 17 4 5 8 25:29
17 16 TuS Koblenz 17 4 5 8 22:29
14 17 SV Wehen 17 2 8 7 18:31
14 18 FSV Frankfurt 17 2 7 8 15:27
13

Koblenz wurden 3 Punkte abgezogen.

19. Spieltag; Freitag, 6.2., 18 Uhr: Freiburg - Osnabrück, Aachen - Rostock, Koblenz - Frankfurt; Sonntag, 8.2., 14 Uhr: St. Pauli - Fürth, Duisburg - Wehen, Mainz - 1860, RW Ahlen - Augsburg, Ingolstadt - Oberhausen; Montag, 9.2., 20.15 Uhr: Nürnberg - Kaiserslautern.

Spanien, Pokal, Viertelfinale, Rückspiele

FC Sevilla - FC Valencia 2:1 (Hinspiel 2:3, Sevilla wg. Auswärtstorregel weiter), FC Barcelona - Espanyol Barcelona 3:2 (0:0); außerdem im Halbfinale: Athletic Bilbao, RCD Mallorca.

Golf

Europa-Tour, Dubai (2,5 Mio. Euro)

1. Runde, Zwischenstand (Abbruch wegen Dunkelheit): 1 McIlroy (Nordirland) 64 Schläge, 2. Karlsson (Schweden) 65, 3. Fernandez-Castaño (Spanien) 66, 4. Havret (Frankreich), Noren (Schweden) 67; 22. Kaymer (Mettmann) 70.

Handball

Männer, Weltmeisterschaft in Kroatien, Platzierungsspiele

Um Platz 5: Deutschland - Ungarn 28:25 (16:13). - Platz 7: Schweden - Serbien 37:29 (20:16) - Platz 9: Slowakei - Norwegen 27:34 (14:18).

Halbfinale; Freitag, in Zagreb bzw. Split: Kroatien - Polen, Frankreich - Dänemark.

Ski alpin

Frauen, Weltcup in Garmisch-Partenk.

Slalom: 1. Vonn (USA) 1:47,17 Min. (52,49 Sekunden/54,68), 2. M. Riesch (Partenkirchen) 1:48,07 (53,05/55,02), 3. Ferk (Slowenien) 1:48,33 (53,61/54,72), 4. Jelusic (Kroatien) 1:48,36 (52,75/55,61), 5. Zahrobska (Tschechien) 1:48,38 (52,77/55,61), 6. Karbon (Italien) 1:48,63 (53,99/54,72), 7. S. Riesch (Partenkirchen) 1:48,66 (54, 31/54,35), 8. Aubert (Frk) 1:48,75 (53,09/55,66), 9. Poutiainen (Fin) 1:48,80 (53,12/55,68), 10. Fleiss (Kroatien) 1:48,84 (53,75/55,09), 11. Hölzl (Bischofswiesen) 1:48,96 (53,65/55,31); 16. Mair (Reichersbeuern) 1:49,33 (53,69/55,64), 23. Perner (Karlsruhe) 1:50,09 (53,62/56,47). - Ausgeschieden im 2. Lauf: Chmelar (Partenkirchen/ 29. nach dem 1. Lauf). - Nicht qualifiziert für den 2. Lauf: 34. Dürr (Germering), 39. Geiger (Oberstdorf). - Ausgeschieden im 1. Lauf: Bergmann (Lam), Wirth (Lenggries).

Slalom-Weltcup (7/9): 1. M. Riesch 580, 2. 440, 3. Zahrobska 349, 4. Poutiainen 345, 5. Zettel (Österreich) 280, 6. Pärson 219; 17. Hölzl 102, 19. S. Riesch 93, 23. Chmelar 65, 25. Bergmann 62, 34. Mair 22, 39. Perner 17, 41. Geiger 16, 59. Dürr 8.

Gesamtweltcup (21/34): 1. Vonn 1014 Punkte, 2. M. Riesch 890, 3. Pärson, Zettel je 775, 5. Poutiainen 713, 6. Zahrobska 450, 7. Görgl (Österreich) 413, 8. Pietilä-Holmner 408, 9. Maze (Slowenien) 407, 10. Hosp (Österreich) 404; 22. Hölzl 229, 41. S. Riesch 99, 48. Stechert (Oberstdorf) 78, 52. Chmelar 65, 55. Bergmann 62, 60. Rebensburg (Kreuth) 58, 86. Mair 22, 89. Perner 17, 92. Geiger 16, 105. Dürr 8.

Ski Nordisch

Langlauf, Weltcup in Rybinsk/Russland,

Freistilrennen mit Massenstart, Männer

15 km: 1. Angerer (Vachendorf) 36:05,9 Minuten, 2. Gaillard (Frankreich) 0:00,7 Minuten zurück, 3. Dolidowitsch (Weißrussland) 0:01,0, 4. Legkow (Russland) 0:01,2, 5. Cottrer (Italien) 0:01,3, 6. Gjerdalen (Norwegen) 0:01,5, 7. di Centa (Italien) 0:01,7, 8. Maschkow (Russland) 0:01,8, 9. Vittoz (Frankreich) 0:01,9, 10. Cologna (Schweiz) 0:02,0; 14. Teichmann (Bad Lobenstein) 0:02,8, 15. Sommerfeldt (Oberwiesenthal) 0:03,3, 18. Filbrich (Frankenhain) 0:05,4, 32. Reichelt (Oberwiesenthal) 0:20,3.

Weltcup (20/33): 1. Cologna 906 Punkte, 2. Northug (Norwegen) 698, 3. Teichmann 649, 4. Cottrer 568, 5. Gaillard 501, 6. di Centa 499, 7. Jauhojärvi (Finnland) 489, 8. Hattestad (Norwegen) 480, 9. Bauer (Tschechien) 436, 10. Rotschew (Russland) 415; 20. Filbrich 244, 29. Reichelt 171, 32. Angerer 147, 44. Wenzl (Zwiesel) 105, 99. Sommerfeldt 18, 101. Göring (Zella-Mehlis) 18, 115. Seifert (Hammerbrücke) 12, 130. Brunner (Girkhausen) 9.

Frauen

10 km: 1. Longa 25:22,6 Minuten, 2. Follis (beide Italien) 0:00,4 Minuten zurück, 3. Böhler (Ibach) 0:01,6, 4. Muranen 0:01,8, 5. Roponen (beide Finnland) 0:01,9, 6. Steira (Norwegen) 0:02,0, 7. Philippot (Frankreich) 0:02,4, 8. Valbusa (Italien), Saarinen (Finnland) beide 0:03,3, 10. Medwedewa (Russland) 0:03,8, 11. Sachenbacher-Stehle (Reit im Winkl) 0:04,1; 24. Nystad (Oberwiesenthal) 0:36,1, 42. Zeller 1:27,2, 46. Fessel (beide Oberstdorf) 2:23,4.

Weltcup (20/33): 1. Saarinen 1170 Punkte, 2. Majdic (Slowenien) 1054, 3. Kuitunen (Finnland) 1045, 4. Kowalczyk (Polen) 1012, 5. Longa 733, 6. Follis 710, 7. Björgen (Norwegen) 647, 8. Muranen 523, 9. Steira 474, 10. Johaug (Nor) 469, 11. Böhler 430; 16. Nystad 305, 23. Zeller 170, 33. Sachenbacher-Stehle 107, 58. Henkel (Oberhof) 40, 59. Fessel 39.

Tennis

Australian Open in Melbourne (12 Mio.Q),

Männer, Halbfinale

Halbfinale: Nadal (1) - Verdasco (14/beide Spanien) 6:7 (4), 6:4, 7:6 (2), 6:7 (1), 6:4.

Frauen, Halbfinale

Doppel, Finale: S. Williams (USA/2) - Dementjewa (4) 6:3, 6:4, Safina (3) - Swonarewa (7/alle Russland) 6:3, 7:6 (4).

Doppel: S. & V. Williams (USA/10) - Hantuchova/Sugiyama (Slowakei/Japan/9) 6:3, 6:3.

Mixed, Halbfinale

Mirza/Bhupathi (Indien) - Benesova/Dlouhy (Tschechien) 6:4, 6:1. - Finale am Sonntag gegen Dechy/Ram (Frankreich/Israel).

Sport im Fernsehen

Samstag, 30. Januar

9 - 16.30 Uhr, ARD: Wintersport; Skispringen (Weltcup in Sapporo), 10.50 Uhr: Ski alpin (Weltcup in Garmisch-Partenkirchen: Männer, Abfahrt), 12.15 Uhr: Ski nordisch (Weltcup in Chaux-Neuve/Frankreich Kombination, Sprung); ca. 13 Uhr: Ski alpin (Weltcup in Garmisch-Partenkirchen, Frauen, Super-G), 14.20 Uhr: Snowboard (Weltcup in Sudelfeld-Bayrischzell), 14.35 Uhr: Ski nordisch (Weltcup in Chaux-Neuve/Frankreich Kombination, 10 km); 15.20 Uhr: Ski nordisch (Weltcup-Langlauf in Rybinsk/Russland); 15.50 Uhr: Eisschnelllauf (Weltcup in Erfurt, Frauen, 500 m und 3000 m).

9.30 - 11.30 Uhr, Eurosport: Tennis, Australian Open, Frauen, Finale, S. Williams - Safina.

ab 11.30 Uhr, Eurosport: Wintersport, s.o.

17 - 18 Uhr, Eurosport: Biathlon, Junioren-WM in Canmore/Kanada, 10 km Sprint.

17 - 18 Uhr, Bayern 3: Snowboard, Weltcup in Sudelfeld/Bayrischzell.

18.25 - 20.40 Uhr, Premiere: Fußball, England, Manchester United - FC Everton.

21.30 - 22.30 Uhr, Eurosport: Biathlon, Juniorrinnen-WM in Canmore/Kanada, 7,5 km Sprint.

22 - 0 Uhr, Premiere: Fußball, Spanien, CD Numancia - Real Madrid.

Sonntag, 1. Februar 2009

8.30 - 12 Uhr, ARD: Wintersport; Skispringen (Weltcup in Sapporo); ca. 9.50 Uhr: Ski alpin (Weltcup in Garmisch-P., Männer, Slalom, 1. Lauf); 11 Uhr: Ski nordisch (Kombination, Sprung).

9.30 - 12.30 Uhr, Eurosport: Tennis, Australian Open, Männer, Finale, Federer - Nadal.

12.30 - 14 Uhr, Eurosport: Ski nordisch (Frauen, Weltcup-Langlauf in Rybinsk/Russland).

12.45 - 16.30 Uhr, ARD: Wintersport; Ski nordisch (s.o.); 13.10 Uhr: Ski alpin (Männer, Weltcup in Garmisch-Partenkirchen, Slalom, 2. Lauf); 14.10 Uhr: Ski nordisch (s.o.); 15.40 Uhr: Eisschnelllauf (Frauen, Weltcup in Erfurt).

14 - 15 Uhr, Eurosport: Ski nordisch, Weltcup in Chaux-Neuve/Frankreich, Kombination, 10 km.

14.45 - 16.45 Uhr, DSF: Handball, WM, Männer in Zagreb, Spiel um Platz drei.

16.45 - 19.10 Uhr, Premiere: Fußball, England, FC Liverpool - FC Chelsea.

17.30 - 18.45 Uhr, RTL: Handball, WM, Männer in Zagreb, Finale.

19 - 19.45 Uhr, Eurosport: Biathlon, Junioren-WM in Canmore/Kanada, 12,5 km Verfolgung.

22.30 - 23.15 Uhr, Eurosport: Biathlon: Juniorinnen-WM in Canmore, 10 km Verfolgung.

0.10 - 4.35 Uhr, ARD: American Football, Super Bowl in Tampa, Pittsburgh - Arizona.

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Alba Berlin mit Fehlstart in Tel Aviv

Europa kostet Kraft

Tel Aviv/Berlin - An der einschüchternden Atmosphäre lag es nicht: Ein Dreier von Casey Jacobsen, zwei Dreier von Ansu Sesay, schon war Alba Berlin 9:4 in Führung gegangen. Selbstbewusster als der deutsche Basketball-Meister am Donnerstag in Tel Aviv kann man kaum starten in ein Euroleague-Spiel. Gegen Maccabi Tel Aviv, eine der besten Mannschaften Europas, im ohrenbetäubenden Lärm von 11 000 Fans. Aus dieser Konstellation, hatte Sportdirektor Henning Harnisch vor der Partie erläutert, wollten die Berliner ihren Mut schöpfen: "Die Außenseiterrolle liegt uns."

Doch nach 15 Minuten lag Alba schon 22:37 hinten, 32:49 stand es zur Halbzeit, was dann folgte, nannte Harnisch "eine schmerzliche Erfahrung". Wenn ein Klassenunterschied offensichtlich wird, hilft dem Außenseiter auch Mut nicht weiter. Nun müssen die Berliner eine 65:96-Klatsche verkraften, die sich aber, wie ihr Geschäftsführer Marco Baldi betont, sehr viel deutlicher liest als sie sich angefühlt hat: "Am Anfang entscheiden ein paar kleine Fehler, aber wenn es bei einem Team wie Tel Aviv mal läuft, sind die gnadenlos, dann hören die einfach nicht auf." Trotzdem habe auch diese Partie gezeigt, so Baldi, "dass wir oben mitspielen können, wenn alles optimal läuft".

Erst Gießen, dann Madrid

Für Alba Berlin hat am Donnerstag eine womöglich vorentscheidende Phase der Saison begonnen. Der Meister hat sich - dank einer teils überragenden Vorrunde - in den Kreis der besten 16 europäischen Mannschaften vorgekämpft und darf nun gegen Tel Aviv, Madrid und Barcelona jeweils Hin- und Rückspiel bestreiten. So hochkarätige Gegner waren in der Hauptstadt lange nicht mehr zu Gast. Aber "es gibt nicht nur viel zu gewinnen, es gibt auch viel zu verlieren", weiß Baldi. Am Freitagmittag warteten die Berliner noch auf dem Züricher Flughafen auf ihren Weiterflug, am Sonntag (17 Uhr) ist gegen die Gießen 46ers dann schon wieder Ligaalltag gefordert. Und in diesem Rhythmus geht es jetzt Woche für Woche weiter: Kaum vorstellbare 16 Spiele muss Alba bis Ende März bestreiten, fünf in der Euroleague, neun in der Bundesliga, dazu das Pokal-Final-Four in Hamburg. "Das wird eine unglaubliche mentale Herausforderung", sagt Baldi. Aber dann denkt er an das Heimspiel gegen Real Madrid am kommenden Donnerstag und weiß, warum sich dieser Aufwand lohnt: "So ein Spiel hast du einfach nicht alle Tage." Claudio Catuogno

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Im Freien Fall

Garmisch-Partenkirchen hat die Abfahrtspiste der Männer um- und die steilste Stelle des Weltcups eingebaut

Als Heinz Mohr geschätzte 200 Mal den Berg herunter gegangen war, hatte er das Gefühl: Das ist sie, die neue Kandahar-Abfahrt von Garmisch-Partenkirchen. Als der Schweizer Rennfahrer Didier Cuche bei der ersten Befahrung der Strecke im Ziel war, sagte er: "Sie haben die Schneise an der richtigen Stelle des Berges gemacht. Für diese Abfahrt würde es sich lohnen, bis zur WM 2011 weiterzumachen." Dann wäre er 36 - kein Problem, der Liechtensteiner Marco Büchel ist ein Jahr älter und bekundet über die Piste, auf der sie an diesem Samstag ab elf Uhr rennen sollen: "Spannend, schöne Sprünge. Ich denke, dass es für die Zuschauer interessanter ist als vorher, und für uns ist es nicht gefährlicher." Das Urteil von Hermann Maier, des Schnellsten am Freitag im Abschlusstraining, lautet: "Eine relativ moderne Abfahrt. Ich kann nicht sagen, dass mir die alte Strecke nicht gefallen hätte - diese Behauptung wäre ungerecht." Schließlich war er auf jener alten Strecke vor zwölf Jahren zum ersten Mal Sieger im Weltcup - und danach weitere vier Mal.

"Es war ein Gemeinschaftswerk", erinnert sich Christian Neureuther, Vater des Rennläufers Felix Neureuther und einst selbst Gewinner von sechs Slaloms der höchsten Liga. "Aber der Hauptanteil gebührt Heinz Mohr, der diese Vision lange hatte." Die Vision war, "auf einem Skiberg, der schon komplett eingerichtet war, noch eine neue, völlig selbständige Abfahrt zu bauen." Die brauchten sie, weil das eine Anforderung an Bewerber für alpine Weltmeisterschaften ist. Mohr, einst Bundestrainer und heute Chef des Olympiastützpunktes Garmisch-Partenkirchen: "Wir wussten ja, dass es dafür zwei Strecken braucht - eine pro Geschlecht - mit einem gemeinsamen Ziel." Also machte Mohr sich am Kreuzeck auf die Suche: Geht noch mal was auf der alten Olympiastrecke (auf der die Frauenrennen bei der WM 1978 ausgetragen wurden), oder gibt es eine neue Möglichkeit?

Als er zum 200. Mal den Berg heruntergekommen war, hatte er seine Variante gefunden, die sich von oben gesehen rechts der alten Strecke hinunterzieht. Das Geläuf wurde versehen mit alten Flurnamen wie Stegerwald, Ramwiesen, Padöls, und es endet mit einer modischen Attraktion: der Passage Freier Fall. Mohr: "Der Freie Fall war schon immer meine Idee." Diese Linie bot sich an durch die Trasse der Kreuzeckbahn, und man verschaffte sich so einen Superlativ: 100 Prozent (45 Grad) Gefälle bedeuten das steilste Stück im Weltcup.

Der Deutsche Stephan Keppler flog dort bei Tests 60 Meter weit, "aber da kamen wir ganz anders hin an den Sprung". Im ersten Training am Donnerstag gingen die weitesten Sprünge an die 40 Meter, mehrheitlich blieb es bei 20 Meter, ein Sensationssprung ist es auf Anhieb nicht gewesen. "Im ersten Training war in Kitzbühel auch kein Sensationssprung", sagte Marco Büchel in Erinnerung an den schlimmen Sturz des Schweizers Daniel Albrecht - der wegen eines Schädel-Hirn-Traumas in einem Innsbrucker Krankenhaus weiterhin im künstlichen Tiefschlaf gehalten wird - in der zweiten Übungsfahrt am Hahnenkamm. Michael Walchhofer, Spitzenreiter im Abfahrtsweltcup: "Wenn man ihn richtig fährt, ist der Freie Fall kein Problem, aber es ist keine Passage, die man locker nehmen darf." Er findet die neue Abfahrt "ganz interessant. Sie gefällt mir nicht schlechter als die alte". Den Wegfall der alten Zielkurve hat er allerdings ausdrücklich begrüßt, denn da stürzte er drei Mal. Achtung, Scherz: "Es kostete mich viel Geld, das umbauen zu lassen."

Heinz Mohr hatte bei seiner Suche am Berg nicht nur die Anforderung der Ski-Weltverbandes (Fis) nach zwei getrennten Strecken zu erfüllen, "ein weiteres Ziel von uns war, dass die Zuschauer möglichst weit in die Strecke raufschauen können", sagt sein Skifreund Neureuther. Ein Blick so weit rauf wie in Kitz ist Illusion, aber weiter als bis zum Zielsprung sollte er künftig bitteschön schon schweifen können. Der Zielsprung wurde weggeschoben, dazu ein weiteres Stück Wald umgelegt nach jenem im Mittelteil. "Wir fanden im Konsens mit dem Bund Naturschutz einen phantastischen Kompromiss, der alle glücklich macht", sagt Neureuther. Der örtliche Naturschutzchef Axel Döring, ein Förster, sieht das allerdings anders und beklagt den Raubbau am wertvollen Schutzwald. Das wiederum erbost Mohr: "Reines politisches Nachkarten", nennt er Dörings Vorwürfe, "wir taten alles, um die Auflagen und Forderungen der Naturschützer zu erfüllen."

Didier Cuche nennt es so: "Sie haben das Gelände gut ausgenützt." Und sie machten daraus laut Stephan Keppler "eine komplette Abfahrt: schwere, technische Kurven, super Sprünge, und teilweise ist es sehr schnell". Merke: Eine komplette Abfahrt fordert den kompletten Abfahrer. Wolfgang Gärner

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Neunter Sieg im elften 500-m-Rennen

Weltcup für Jenny Wolf

Erfurt (dpa) - Weltrekordlerin Jenny Wolf hat zum Auftakt des Weltcups in Erfurt ihren neunten Sieg im elften 500-Meter-Rennen der Eisschnelllauf-Saison erkämpft. Einen Tag vor ihrem 30. Geburtstag verbesserte die Berlinerin am Freitag in 37,58 den eigenen Bahnrekord um 0,30 Sekunden und landete damit den 38. Weltcup-Erfolg ihrer Laufbahn. Zweite wurde die Chinesin Yu Jing (38,09) vor Teamgefährtin Jin Peiyu (38,30). Schon vor dem ersten Start in Erfurt stand Jenny Wolf zum vierten Mal in Serie als Siegerin im Gesamt-Weltcup über 500 Meter fest. Die Südkoreanerin Lee Sang-Hwa, die einzige verbliebene Herausforderin, sagte ihre Teilnahme am Weltcup ab. Damit bekommt Wolf auch die 14 000 Dollar Preisgeld.

Für eine Überraschung sorgte der EM-Sechste Robert Lehmann über 5000 Meter. Der 25 Jahre alte Erfurter gewann auf seinem Heimat-Eis die B-Gruppe in 6:27,50 Minuten und verfehlte damit den Bahnrekord des Niederländers Carl Verheijen (6:26,43) nur knapp. Mit seiner Saisonbestzeit deutete der Thüringer sein Potential mit Blick auf die Mehrkampf-WM in einer Woche in Norwegen an.

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Zuhause kommt das Glück zurück

Maria Riesch profitiert von der Dramaturgie des Slaloms und wird Zweite hinter Lindsey Vonn

Garmisch-Partenkirchen - Die Serie der Maria Riesch hatte ja noch Bestand, auch wenn die beste deutsche Skifahrerin inzwischen herbe Rückschläge hinnehmen musste. Ihre Serie waren im Weltcup vier Slalomsiege hintereinander in: La Molina - Semmering - Zagreb - Maribor, und sie endete diesen Freitag, in ihrem Heimrennen in Garmisch-Partenkirchen, aber sie endete auf die denkbar angenehmste Weise: Maria Riesch wurde Zweite hinter ihrer Freundin Lindsey Vonn (USA).

Die Serie hatte gehalten bis Garmisch, aber seit dem letzten Sieg war in anderen Disziplinen weniger Erfreuliches passiert: drei Ausfälle in den letzten fünf Rennen, Platz fünf in der Abfahrt von Cortina als bestes Ergebnis. "Ich lasse mich davon nicht beeindrucken", versicherte die 24-jährige, ebenso hatte sie sich vorgenommen, sich der speziellen Situation nicht beugen zu wollen. Diese Situation war, dass sie trotz allem als Favoritin im Heimrennen antrat, mit dem Fanklub auf der Terrasse des elterlichen Betriebs in Sichtweite. Damit sei sie ganz gut zurecht gekommen, fand sie: "Der Wert dieses zweiten Platzes ist sehr groß, denn zuhause zu beweisen, dass ich zur absoluten Weltspitze des Slaloms gehöre, das war schon was anderes als bei den letzten Rennen. Natürlich wollte ich zuhause am liebsten gewinnen. . . "

Dass dies nur schwer möglich werden könnte, war schon zur Halbzeit klar, weil Riesch zugegebenermaßen im ersten Lauf zu viel Respekt vor dem Heim-Hang gezeigt hatte. Sie sei zu vorsichtig gefahren, "denn es war schwer einzuschätzen mit Startnummer zwei", nachdem die Tschechin Zuzulova als ihre einzige Vorfahrerin massive Probleme bekommen hatte. Sie habe unbewusst leicht verbremst, - "man will ja auch durchkommen im Heimrennen." Durch diese Vorsicht ergab es sich, dass Maria Riesch mit einem Rückstand wie noch nie in dieser Saison im Finale antrat.

Dreimal (Maribor, Semmering, La Molina) startete sie im zweiten Durchgang als Führende, in Zagreb als Zweite hinter Lindsey Vonn, in Aspen als Dritte und in Levi als Vierte mit dem Maximalrückstand von 0,47 Sekunden. Am Gudiberg hingegen fehlten ihr als Sechster vor dem zweiten Lauf 1,31 Sekunden zu der führenden Österreicherin Katrin Zettel, 0,56 auf Vonn, die Platz drei besetzt hatte. Keine Frage: "Der Rückstand ist groß, es wird schwierig, damit noch zu gewinnen", sah sie ein, aber um die Podiumsplätze wollte sie schon mitfahren.

Es fielen im Finale aber die Kroatin Jelusic und die Tschechin Zahrobska zurück, die scheinbar unerreichbaren Zettel und Kirchgasser scheiterten komplett, und Maria Riesch fand sich unversehens auf der zweiten Stufe neben Vonn. "Ich weiß selbst, dass ich profitiert habe vom Ausscheiden der beiden Österreicherinnen, die es sehr hart getroffen hat", gestand sie. "So ging es mir an den beiden letzten Wochenenden - da hatte ich Pech, jetzt kam das Glück zurück, genau zum richtigen Zeitpunkt." Aber so war es auch gut, und Lindsey Vonn verkündete: "Es ist wunderschön, dass wir hier in Marias Heimat Platz eins und zwei feiern können", nachdem sie in Garmisch bisher immer nur Weihnachten zusammen feierten. Sie seien nun mal die beiden besten "Slalommädels", meinte die Amerikanerin, "ich habe das erste Mal wieder seit Levi gewonnen, Maria die letzten vier Mal". Die Sicherheit sei wieder da, erklärte die Deutsche, "jetzt passt das Selbstvertrauen, und die Ausfälle der letzten Zeit sind vergessen", vor allem jener im Kombinationsslalom von Zauchensee, einer schmerzhaften Zäsur.

"Es geht runter, und es geht wieder rauf", philosophierte Alpindirektor Wolfgang Maier: "Das ist eine extreme Erleichterung für das ganze Team und für Maria. Es kommt alles wieder zurück - ihr Glück heute war der Ausgleich für ihr Pech in Zauchensee. Das richtige Ergebnis zur richtigen Zeit. Das gibt Sicherheit - nun kann man zur WM nach Val d'Isère fahren mit was Vorzeigbarem im Gepäck." Wie es sich dort entwickeln würde, hat Lindsey Vonn schon mal grob skizziert: Die Freundin werde ihr eine große Konkurrentin in allen Disziplinen sein, verheißt die Amerikanerin, "Maria wird den Slalom gewinnen, ein großes Duell zwischen uns wird es in der Superkombination geben, und ich gewinne hoffentlich die Abfahrt." Das kann ja heiter werden. Wolfgang Gärner

Vergeblich ihren eigenen Schatten gejagt: Maria Riesch, zuletzt Slalom-Seriensiegerin, im zweiten Durchgang von Garmisch-Partenkirchen Foto: Reuters

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Italiens Protest gegen Doping-Urteil

15-Minuten-Streik

Rom (dpa) - Italiens Fußballer treten wegen der Doping-Sperren gegen die Profis Daniele Mannini (SSC Neapel) und Davide Possanzini (Brescia Calcio) in den Streik. Alle Spiele der ersten und zweiten italienischen Liga sollen an diesem Wochenende mit 15 Minuten Verspätung angepfiffen werden. Am Freitag gab die Spielergewerkschaft AIC grünes Licht für die Aktion. Einen ähnlichen Streik hatte es in Italien letztmals vor 13 Jahren gegeben. Die Spieler protestieren damit gegen die vom Internationalen Sportgerichtshof (Cas) in Lausanne verhängten einjährigen Dopingsperren für Mannini und Possanzini. Die Profis waren im Dezember 2007 nach einem Zweitliga-Spiel des Klubs Brescia gegen Chievo Verona zu spät zur Dopingkontrolle erschienen. Nach Ansicht des Sportgerichts des italienischen Fußballverbands war dies jedoch kein Dopingvergehen. Die Spieler wurden freigesprochen und nur für 15 Tage gesperrt. Dagegen legte die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) Berufung ein und bekam vor dem Cas in der vergangenen Woche recht. Das verspätete Erscheinen wurde als Verweigerung des Tests gewertet, obwohl das Ergebnis negativ war. "Dieses Urteil ist unangemessen und übertrieben", klagte Italiens Liga-Präsident Antonio Matarrese.

Manninis aktueller Klub Neapel will das Urteil nicht akzeptieren. "Dies ist eine kolossale Ungerechtigkeit", sagte Geschäftsführer Marino und drängte gar auf einen totalen Streik am Wochenende.

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Wechsel zu Rhein-Neckar Löwen?

Post von Karabatic

Kiel (sid) - Der Franzose Nikola Karabatic, für viele Experten der beste Handballer der Welt, bereitet offenbar seinen Wechsel innerhalb der Bundesliga zu den Rhein-Neckar Löwen vor. Auf seiner Internetseite teilte er mit: "Als ich 2005 beim THW Kiel unterschrieb, habe ich es getan, um für einen der größten europäischen Vereine spielen zu können. Aber vor allem, und das ist euch allen bewusst, um zusammen mit Zvonimir Serdarusic, einer Person, die ich sehr schätze, zu arbeiten." Und weiter: "Heute verhehle ich nicht, dass mein Wunsch, wieder mit Serdarusic zusammen zu arbeiten groß ist, vor allem, weil ich ein Gefühl habe, dass etwas unvollendet ist."Auch aus diesem Grund habe er 2007 seinen Vertrag bis 2012 verlängert. Im Gegenzug habe der THW versprochen, den Serdarusic-Vertrag zu verlängern, schreibt Karabatic - diese Behauptung wird allerdings von THW-Manager Uwe Schwenker dementiert. Und alle wüssten, so Karabatic weiter, "was letzten Sommer passiert sei": Serdarusic wurde beim Champions-League-Sieger von 2007 entlassen und tritt im Sommer als Trainer bei den Rhein-Neckar Löwen an. Karabatic will zu ihm zurück und wirft den Kielern Wortbruch vor: "Ich war und ich bin immer noch verärgert über die getroffene Entscheidung. Ich weiß, was ich Kiel zu verdanken habe . . ., diesem außergewöhnlichen Team und vor allem diesem fabelhaften Publikum. Aber die Chefs, die ich respektiere, haben ihr Wort nicht gehalten."

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Sehr gut ist nicht gut genug

Hertha BSC braucht Josip Simunic, den besten Verteidiger der Liga, derzeit dringender denn je - als Fußballer und Führungsfigur

Berlin - Um zwölf wollte er da sein, um zwei nach zwölf ruft er an. "Josip Simunic hier, es wird ein bisschen später, entschuldigen Sie." Da kurvt er draußen vor dem Fenster, auf der Suche nach einem Parkplatz, schon durch die Straßen des Berliner Westends. Um drei nach zwölf stürmt er ins Wiener Café am Steubenplatz, leicht außer Atem, und sagt: "Ich hasse es, mich zu verspäten." Das erste Vorurteil hat Josip Simunic, 30, damit schon widerlegt. Es soll ja Leute geben, die den kroatischen Nationalspieler für einen eher unhöflichen Zeitgenossen halten, vor allem jene Gegenspieler dürften dieser Meinung sein, denen er mit Tritten, Ellbogenchecks oder sonstigen Rüpeleien zugesetzt hat in seinen inzwischen elfeinhalb Jahren in der Bundesliga. "Aber wer mich kennt, weiß ganz genau, was ich für ein Mensch bin", sagt Josip Simunic, "und wer mich länger kennt, weiß auch, was ich auf dem Platz kann."

Sein Klub Hertha BSC braucht ihn jetzt in beiden Funktionen, als Mensch und als Fußballer. Dringender denn je womöglich, denn die Vorbereitung beim Hauptstadtklub lief "doch sehr unglücklich", sagt Simunic. Nicht etwa, weil die Euphorie der Hinrunde verflogen ist, welche die Hertha - auch zur eigenen Überraschung - bis auf Tabellenrang drei getragen hat. "Die Stimmung ist immer noch sehr gut, es gibt keinen Streit, viel Verständnis und großen Respekt." Es ist nur so, dass vor dem Rückrundenstart am Samstag gegen Eintracht Frankfurt von den wichtigsten Protagonisten des Berliner Erfolgs nicht mehr viele übrig sind. Im defensiven Mittelfeld fehlen in Gojko Kacar (Achillessehnen-Probleme), Pal Dardai (Meniskus-OP) und Fabian Lustenberger (Ermüdungsbruch) gleich drei Anwärter auf die gleiche Position, außerdem müssen noch Sofian Chahed (Muskelfaserriss), Steve von Bergen (Hüftprobleme) und Lukas Piszczek (Hüft-OP) passen. Die Mitte der Woche präsentierten Last-Minute-Transfers, der Kroate Marko Babic (Betis Sevilla) und der Argentinier Leandro Cufré (AS Monaco), gelten zwar als routiniert, sind aber nicht eingespielt. Und zwar steht Marko Pantelic vorerst weiter zur Verfügung, weil es bisher nichts wurde mit ein paar Millionen mehr Gehalt in England oder Italien. Aber in den Testspielen hat Pantelic vor allem vorbei geschossen. Wenn er nicht ebenfalls verletzt war.

In der Hinrunde war es die herausragende Qualität der Hertha gewesen, den Gegner aus einer verbissen agierenden Deckung heraus zu traktieren - und ihn dann punktuell zu überfallen. "Sechs oder sieben Spiele haben wir mit Glück gewonnen", gibt Simunic zu, so viele, dass er an Zufall nicht glauben mag. "Im richtigen Moment das eine Tor mehr zu schießen als der Gegner", sagt er, "das ist inzwischen eine Frage unserer Mentalität." Die wird nun heftig auf die Probe gestellt mit einem durcheinander gewirbelten Kader. Nur in der Innenverteidigung, wo Simunic neben Arne Friedrich gesetzt ist, bleibt alles beim Alten. Wobei Simunic schon der Meinung ist, dass er in Wahrheit immer besser wird. "Früher wollte ich jede Situation spielerisch auflösen. Jetzt habe ich verstanden, dass Fußball oft wie Schach ist. Dass die beste Entscheidung manchmal eine strategische Entscheidung ist." Er drischt den Ball jetzt auch mal auf die Tribüne.

Der kicker hat Josip Simunic zum besten Abwehrspieler der Hinrunde gekürt. Das war ihm ein bisschen peinlich, weil man "ohne die anderen zehn Spieler" und so weiter - schon klar! Aber allzu peinlich war es ihm dann doch nicht, Simunic ist nämlich der Ansicht, dass seine gelegentlichen Ausfälle und eine bisweilen gehäufte Anzahl roter Karten schon viel zu lange "ein Bild von mir ergeben, das komisch, ungerecht und auch ein bisschen blöd ist". Weil es sein überragendes Stellungsspiel, seine feine Technik und seine Abgeklärtheit überlagert. Wenn man ihn auf seine sehr guten Auftritte im Sommer bei der EM anspricht, sagt er mit vollem Ernst: "Ich war nicht gut. Ich war überragend."

Trotzdem setzte ihn sein Trainer nach der EM erstmal auf die Bank, Lucien Favre wollte Kakà und Steve von Bergen vertrauen - das wird er so bald nicht mehr tun. Simunic bekam so viele öffentliche Solidaritätsbekundungen der Kollegen, dass Favre sogar Geldstrafen verhängen musste. Bei Simunic selbst hat Favre damit "noch mehr Motivation reingebracht". Und schon bald wurde eine weitere Qualität des Kroaten offensichtlich: die als Führungsfigur. Permanent muntert er jüngere Kollegen auf. "Und ich lasse auch selbst nie den Kopf hängen, obwohl es manchmal schwer fällt." Eine "schauspielerische Leistung" nennt er das dann: "Ich bin so, ich nehme gerne allen Druck auf mich." Vor anderthalb Jahren ist er bei der Mitgliederversammlung des Klubs, die Hertha war Zwölfter und die Halle wütend, ans Mikrofon getreten und sagte: "Ich bin schuld. Beschimpft mich! Die anderen können nichts dafür."

Ob er bis zu seinem Karriereende in Berlin bleiben wird? "Ich glaube schon", sagt Josip Simunic. Dann verabschiedet er sich und fährt davon, ganz entspannt inzwischen, er hat es ja nicht weit. Er hat genau vor dem Café auf der Kreuzung geparkt. Claudio Catuogno

Verteidiger Josip Simunic Foto: ddp

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Deutscher im Junioren-Finale

Der deutsche Tennisspieler Alexandros-Ferdinandos Georgoudas steht bei den Australian Open im Junioren-Endspiel. Der Deutsch-Grieche bezwang im Halbfinale den an Nummer zwei gesetzten Julen Uriguen aus Guatemala 6:4, 6:4. Im Finale trifft der 17-Jährige auf den top-gesetzten Yuki Bhambri aus Indien. Zum letzten Mal stand vor zwölf Hagren ein Vertreter des Deutschen Tennis-Bundes in einem Grand-Slam-Junioren-Finale: 1997 hatte Daniel Elsner in Melbourne gewonnen. Auch Nicolas Kiefer (1995) und Dirk Dier (1990), der Trainer von Anna-Lena Grönefeld, waren in Melbourne Junioren-Sieger. dpa

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Ende einer Legende

Von Christof Kneer

Die Meldung war so unauffällig, dass man sie fast übersehen hätte. Um 13.24 Uhr gaben die Nachrichtenagenturen bekannt, dass Fußball-Bundesligist Arminia Bielefeld den Vertrag mit dem Trainer Frontzeck um ein Jahr verlängert habe. "Sehr wohl" fühle er sich in Bielefeld, wurde Frontzeck zitiert, und ein Finanzgeschäftsführer namens Kentsch betonte, man sei "sehr zufrieden" mit der Arbeit des Trainers.

Für Traditionalisten und Nostalgiker war diese unauffällige Nachricht ein weiterer trauriger Beweis dafür, dass man sich in der Bundesliga auf gar nichts mehr verlassen kann. Erst muss man sich daran gewöhnen, dass eine Elf, die sich über die Autobahnausfahrt "Sinsheim" erreichen lässt, den FC Bayern herausfordert. Und jetzt gibt es auch noch Trainer, die im Abstiegskampf nicht entlassen, sondern weiterbeschäftigt werden!

In Wahrheit darf man Bielefeld und dem dazugehörigen Finanzgeschäftsführer dankbar sein. Die Personalie Frontzeck lenkt den Blick in eine Tabellenregion, die in der Öffentlichkeit zuletzt mit Missachtung gestraft wurde. Hinter all dem Hype um das Duell München vs. Sinsheim ist untergegangen, dass sich die Liga am anderen Ende der Tabelle am meisten verändert hat. Abseits ihrer großen Debatten hat die Liga im Stillen eine ihrer heiligsten Legenden zu Grabe getragen - jene, wonach man 40 Punkte sammeln muss, um nicht abzusteigen (im Schnitt reichten zwar meist 37, aber "40" klang immer viel schöner). Diesmal würden wohl 30 Punkte zum Klassenerhalt reichen, sagte gerade Frankfurts Vorstandschef Bruchhagen, worauf Cottbus' Manager Heidrich den Vorschlag sicherheitshalber auf "27" korrigierte.

Von der Bundesliga weiß man ja, dass sie auf jeden Rekord stolz ist, den sie kriegen kann. Schon jetzt darf sich die Liga an dem Rekord wärmen, dass die fünf Letztplatzierten nach 17 Spieltagen noch nie so wenige Punkte hatten wie diesmal, was dem Abstiegskampf in der Rückrunde eine skurrile Dramatik beschert. Weit abgeschlagen vom Rest der Tabelle wird es sich dort unten im Keller eine Fünfergruppe bequem machen und mit dem Gedanken trösten, dass man noch so oft verlieren kann und einfach nicht abgehängt wird. Für die zuständigen Trainer bedeutet das einen Zugewinn an Jobsicherheit und Lebensqualität: Erst einer aus dem kuscheligen Kellergrüppchen ist bisher entlassen worden (Gladbachs Jos Luhukay). Die Klubvorstände wissen: Die anderen sind auch nicht besser, und selbst dem Drittletzten bleibt am Ende ja noch das Relegationsspiel gegen den Dritten der zweiten Liga.

Absteigen ist dank des Relegationsspiels viel schwerer geworden, das ist eine gute Nachricht für die fünf da unten. Die schlechte Nachricht allerdings: aufsteigen auch.

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Begegnung auf der Showtreppe

Nach einem spektakulären Halbfinalsieg trifft Rafael Nadal im Endspiel wieder einmal auf Roger Federer

Melbourne - 45,1 Grad. Am Freitag war es in Melbourne so heiß, dass die Züge stehen blieben, weil sich die Schienen verbogen. So heiß, dass die Ampeln ausgeschaltet wurden, um Strom zu sparen. Es war so heiß, dass auch das nichts nutzte: Am Nachmittag brach das Elektrizitätsnetz zusammen. Das größte Casino der Stadt, zu dem auch ein Hotel gehört, musste evakuiert werden. Im Aufzug gefangen in diesem Moment: Roger Federer. Der Gewinner von 13 Grand-Slam-Titel war auf dem Weg in den Melbourne Park, um zu sehen, wem er am Sonntag (ab 9.30 Uhr MEZ) in seinem 18. Grand-Slam-Finale gegenübertreten darf. Es dauerte einige Zeit, bis er befreit war.

Becker verliert seinen Rekord

Auch in der Rod Laver Arena lief an diesem Abend nicht alles wie gedacht. Rafael Nadal gewann zwar wie erwartet gegen Fernando Verdasco. Was aber nicht abzusehen gewesen war: wie lange er dafür benötigte. Fünf Stunden und 14 Minuten lang. So lange hat bei den Australian Open noch kein Match gedauert. Den bisherigen Rekord hielt Boris Becker. 1991 hatte er in 5:11 Stunden den Italiener Omar Camporese 7:6 (4), 7:6 (5), 0:6, 4:6 und 14:12 niedergerungen. Die Ziffernfolge des Halbfinals zwischen Nadal und Verdasco war ähnlich beeindruckend: 6:7 (4), 6:4, 7:6 (2), 6:7 (1) und 6:4. Es war Viertel nach eins in der Nacht, als Verdasco sich bei Nadals drittem Matchball einen Doppelfehler erlaubte. Der Favorit sprang daraufhin übers Netz und umarmte seinen spanischen Landsmann lange. "Er hat unglaublich gut gespielt", sagte Nadal, "er hätte den Sieg genauso verdient gehabt." Verdasco glückten 95 Schläge, mit denen er Punkte direkt gewann. Er schlug mehr Asse als Nadal. Aber am Ende setzte sich doch die größere Erfahrung durch.

Rafael Nadal gegen Fernando Verdasco - auf den ersten Blick hatte das nach einer eindeutigen Angelegenheit ausgesehen. Nadal ist die aktuelle Nummer eins der Weltrangliste. Er ist der aktuelle French-Open- und Wimbledon-Champion. Er war ohne Satzverlust bis in die Vorschlussrunde dieser Australian Open marschiert. Auch wenn er keine Muskelshirts mehr trägt, erinnert er mit seinen beeindruckenden Bizepse immer noch an Hulk, die Comicfigur: bärenstark, wild entschlossen, nicht zu stoppen. Dagegen Verdasco: Der 25-Jährige hat bis zum Gewinn des Davis Cups im vergangenen November eher mit Aktionen Aufsehen erregt, bei denen kein Filzball mit von der Partie war. Verdasco gilt als Nachtklub-Kompagnon der einstigen Real-Madrid-Größe Ronaldo, bewegt einen gelben Supersportwagen und hat auf der Tennistour schon so viele Freundinnen gesammelt wie Titel. Die Trophäen gab es in Valencia und Umag. An Freundinnen führte Verdasco erst die Argentinierin Gisela Dulko aus und zuletzt die French-Open-Siegerin Ana Ivanovic.

Sechsmal waren sich Nadal und Verdasco vor diesem Freitag schon begegnet. Nur einen Satz hatte Verdasco dabei gewonnen. Kann ein Duell eindeutiger aussehen? Es kann. Als eine wohltuende Seebrise die Hitze des Tages vertrieben hatte und es losging, war nicht zu erkennen, wer von den beiden den Lamborghini fährt und wer schon fünf Grand-Slam-Tropäen im Schrank hat. Verdasco riss den ersten Durchgang im Tie-Break mit 7:4 an sich, Nadal entschied den zweiten per Break zum 6:4 für sich. Im dritten nahm er Verdasco zweimal den Aufschlag ab, doch der kämpfte sich immer wieder zurück. Wieder ging es in den Tie-Break. Dieses Mal war Nadal stärker.

Zu diesem Zeitpunkt standen sich die beiden Linkshänder bereits drei Stunden lang gegenüber. Federer hatte am Vortag lediglich zwei Stunden benötigt, um in seinem Halbfinale Andy Roddick eine Lektion zu erteilen, die 6:2, 7:5, 7:5 endete. Die Kraft spielt im modernen Tennis eine wichtige Rolle. So könnte es auch im Finale sein. Nadal ließ gegen Verdasco viel Kraft. Im vierten Satz sah es so aus, als könnte es leichter für ihn werden. Verdasco rief den Physiotherapeuten und ließ sich die linke Wade kneten. Ein Krampf? Ein Schauspiel? Es war schwer zu sagen. Seine Kraft litt darunter jedenfalls nicht. Nicht lange jedenfalls. Als es zum dritten Mal in den Tie-Break ging, spielte er wie Hulk, der Comic-Held. 1:7 - eine solche Demütigung hatte Nadal zuvor noch in keinem Tie-Break erlebt.

Das schrie nach Revanche, und obwohl der Schweiß von seinem Hemd spritzte, hatte er noch die Fähigkeiten dazu: Im entscheidenden Durchgang gewährte Nadal Verdasco bei seinen Aufschlagspielen lediglich drei Punkte. Das war zu viel des Drucks. Nadal trieb Verdasco in den Kollaps. Das Gleiche hatte Roger Federer im Achtelfinale mit dem Tschechen Tomas Berdych angestellt. Sein Kommentar dazu hinterher: "Im fünften Satz ist das Mentale entscheidend. Dann kommen meine Stärken zum Tragen." Federers Satz zum Finaleinzug: "In der Regel spiele ich zum Ende eines Turniers am besten. Und ich finde, das sind die Matches, an denen die großen Spieler gemessen werden sollten."

Viertelfinale, Halbfinale, Finale - im Grunde zählen für ihn wie für Nadal nur die letzten Stufen der Showtreppe. Ihre Duelle sind Klassiker. In Wimbledon und in Paris wurden sie in den vergangenen drei Jahren im Finale aufgeführt. Die vergangenen beiden Begegnungen hat Nadal gewonnen. In Melbourne kommt es nun zum ersten Mal auf einem Hartplatz zum ganz großen Showdown. Nadal ist müde, Federer ist frisch. Die Wettervorhersage verspricht: So heiß wie am Freitag wird es am Finaltag nicht mehr. René Hofmann

Das haut sogar Rafael Nadal um: Erst nach mehr als fünf Stunden hatte der Spanier seinen Landsmann Fernando Verdasco niedergerungen. Foto: dpa

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Das Adlerauge in Melbourne

"Schau mal, die Blonde!"

Allmählich wird es zur Gewohnheit: Den Matchball schauen sich Sieger und Verlierer am Netz gemeinsam an. In der Wiederholung. Auf der Großbildleinwand. Als sogenannte Challenge mit dem sogenannten Hawk Eye System. Vor drei Jahren wurde die Technik eingeführt, die dank hochauflösender Digitalkameras und Computer zu jedem Zeitpunkt bestimmen kann, wo sich der Ball auf dem Tennisplatz befindet. Das Adlerauge sieht angeblich mit hundertprozentiger Zuverlässigkeit auf 3,6 Millimeter genau, ob ein Schlag die Linie berührt hat - oder ob er aus war. Jeder Spieler darf es pro Satz dreimal bemühen. Der Franzose Gilles Simon wollte es im Viertelfinale beim Matchball noch einmal genau wissen. Das Adlerauge zeigte: Rafael Nadals Schlag hatte gesessen. Wie die beiden in der Mitte des Platzes zusammenstanden und zur Videotafel an der Hallendecke emporblickten, gab trotzdem ein lustiges Bild ab. Der TV-Sender Channel 7 zeigte es und forderte die Zuseher auf, sich einen lustigen Text dazu zu überlegen. Es gewann die Zuschrift: "Hey, Rafa, schau mal die Blonde da in der letzten Reihe!" Ach ja, Tennis kann so witzig sein.

Meist deuten die Spieler mit einem kurzen Schlägerzeichen zum Schiedsrichter an, wenn sie einen Schlag überprüft haben wollen. Und sie deuten oft. Bis Mittwoch gab es bei diesen Australian Open 457 Challenges. 136 waren erfolgreich, wobei die Männer eine etwas bessere Quote haben (31 Prozent) als die Frauen (27). Inzwischen werden sogar Listen geführt, wer am häufigsten schief liegt. Der Brite Andy Murray hatte bei 17 Versuchen lediglich zweimal Erfolg. Roger Federer, der sonst auf dem Tennisplatz fast alles beherrscht, tippt auch oft falsch. Er findet das System "schrecklich" und fand diese Einschätzung im Achtelfinale bestätigt, als das Adlerauge in einem entscheidenden Moment zu Ungunsten von Tomas Berdych versagte, weil der Tribünenschatten die Linie verdunkelte. In Federers Halbfinale gegen Andy Roddick sah es später anders aus. Sowohl Federer als auch Roddick deckten mit ihren Einsprüchen eklatante Fehlentscheidungen auf. "Wenn die Linienrichter so schlecht sind wie heute, ist es gut, eine Einspruch-Möglichkeit zu haben", gab Federer zu.

Den Fernsehzuschauern bietet sich in Australien eine weitere Chance. Channel 7 hat ein Birds Eye, das zeigt, was herausgekommen wäre, wenn ein Spieler einen Schlag hätte überprüfen lassen. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten für die beliebten Was-wäre-gewesen-wenn-Diskussionen. Für die Spieler ist das System inzwischen ebenso Routine wie für die Schiedsrichter. Die halten sich bei kniffeligen Entscheidungen zurück, sie wissen: Im Zweifel hebt der Spieler den Schläger und bemüht das Adlerauge. Jelena Dokic schaut erst zu ihrem Trainer, um sich zu vergewissern: Lohnt der Einspruch? Andere lassen Schläge überprüfen, um den Spielrhythmus des Gegners zu stören - oder ihm am Ende das Gefühl des Triumphs zu nehmen. Auch Wera Swonarewa legte im Halbfinale gegen den Matchball Einspruch ein. Das dämpfte den Jubel von Dinara Safina beträchtlich. hof

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Kommentare

Die Staatskapitalisten

Retten ohne Plan: Warum Politiker sich mit Milliardenhilfen überbieten

Von Ulrich Schäfer

Eine Milliarde ist eine Zahl mit neun Nullen, eine Milliarde ist nicht viel - jedenfalls in dieser Zeit. Die erste Milliarde im Kampf gegen die Krise floss am 30. Juli 2007. Damals stand die IKB am Rande des Bankrotts, eine Mittelstandsbank, deren Name bis dahin nur wenigen Menschen geläufig war. Innerhalb von gut eineinhalb Jahren ist aus der Finanz- eine Weltwirtschaftskrise geworden. Eine Krise, in der jedes Maß verlorengegangen ist. Eine Krise, in der Politiker plötzlich das Gegenteil von dem machen, was sie seit Jahrzehnten vertreten haben.

Erst versuchten sie, einzelne Banken zu retten, dann alle Banken, erst stützten sie einzelne Konzerne, schließlich die gesamte Wirtschaft. Gerade im Wahljahr kennen Deutschlands Politiker kein Halten mehr: Wer sich nie vorstellen konnte, dass der Staat bei Banken oder Konzernen einsteigt, fordert nun genau dies. Ein Rettungsschirm nach dem anderen wird gespannt: Über die Banken, über die Industrie, über die Exportwirtschaft. Und dem ersten Rettungsschirm für die Banken wird bald ein zweiter folgen.

CDU, CSU und SPD sind allesamt zu Vertretern des Staatskapitalismus geworden. Sie benutzen Argumente, die früher allenfalls die Linkspartei gebraucht hat. Ja, selbst die FDP mischt mit beim munteren Wettstreit unter dem Motto "Wer bietet mehr?". Mehr Subventionen. Mehr Garantien. Mehr Milliarden. So überlegt der Wirtschaftsminister der Liberalen in Bayern, wie man dem angeschlagenen Schaeffler-Konzern helfen kann. Das Gleiche will Oskar Lafontaine. Welch seltsame Zeit. Und sie hat erst begonnen.

Alles in allem hat der deutsche Staat in dieser Krise bereits über 800 Milliarden Euro bereitgestellt: 80 Milliarden Euro für zwei Konjunkturpakete; 130 Milliarden für die Rettung fast aller Landesbanken, der IKB und der Hypo Real Estate; 500 Milliarden Euro für den großen Rettungsschirm, der anschließend über die gesamte Finanzindustrie gespannt wurde; 100 Milliarden Euro für den Deutschland-Fonds, mit dem die Regierung der Industrie hilft.

Bürger als Bürgen

800 Milliarden Euro - so viel gibt der Bund üblicherweise in drei Jahren insgesamt aus. Gewiss, diese 800 Milliarden Euro sind zum größten Teil nicht weg. Noch nicht jedenfalls. Der Staat gibt Garantien, er bürgt für Kredite, für ganze Banken und Konzerne. Und ein Teil der möglichen Garantien wurde auch noch gar nicht beantragt. Doch wenn ein staatlich gesicherter Kredit platzt, wenn ein Unternehmen kollabiert, oder gar mehrere, müssen alle Bürger bürgen. Und bereits vorher sind die Belastungen wegen der beiden Konjunkturpakete enorm: Die staatliche Kreditaufnahme wird 2009 auf 75 Milliarden Euro emporschnellen - ein ausgeglichener Haushalt wie 2008 ist auf Jahre hin passé.

Es ist keineswegs verwerflich, dass der Staat sich nun gegen die Krise stemmt. Im Gegenteil: Er muss die Konjunktur beleben. Und er muss das Finanzsystem stabilisieren. Andernfalls wird sich die Weltwirtschaftskrise kaum überwinden lassen. Fatal ist jedoch, dass den Regierenden in Berlin und den Ländern jegliche Richtschnur fehlt, jegliche Theorie für das, was nötig ist - und was nicht.

Sie liefern sich einen bizarren Wettstreit darum, wer am besten hilft, wer am meisten Geld verteilt. Die Summen sind binnen weniger Monate in schwindelerregende Höhen gestiegen, und jede neue Hilfe lässt sich damit begründen, dass ja bereits anderswo Milliarden verteilt wurden: Wer Autokonzerne stützt, muss auch die Zulieferer stützen. Wer für Banken bürgt, muss auch für Flugzeughersteller und Maschinenbauer bürgen.

Verzerrter Wettbewerb

Aber muss er das wirklich? Oder gibt es nicht eine Grenze, die der Staat ziehen sollte? Am Freitag etwa rief der italienische Finanzkonzern Unicredit um Hilfe, dem auch die Hypo-Vereinsbank gehört; der Vorstandschef begründete seinen Wunsch nach Staatsgeld vor allem damit, dass andere Geldhäuser durch die öffentliche Hilfe einen Wettbewerbsvorteil hätten. Mit diesem Argument lassen sich beliebig viele Staatshilfen verteilen.

Wenn aber nicht nur Deutschland den Wettbewerb verzerrt, indem die Politik immer mehr Geld verteilt, sondern auch andere Industrieländer dies tun, ist der nächste Schritt schon absehbar. Dann werden die Staatskapitalisten irgendwann auf die Idee kommen, ihre nationalen Konzerne vor ausländischen Konkurrenten zu schützen. Sie erlassen dann, wie die USA in ihrem jüngsten Konjunkturpaket, die Auflage, vor allem nationale Produkte zu kaufen ("Buy American"). Sie werden auch andere Hürden für den internationalen Handel errichten. Die Zölle werden steigen, erst nur hier und da, soweit es die Regeln der Welthandelsorganisation WTO erlauben. Sollte sich die Krise weiter verschärfen, werden die Staaten sich auch nicht mehr um die Vorschriften der WTO scheren und die Zölle auf breiter Front erhöhen. In Davos, beim Weltwirtschaftsforum, war die Sorge vor einer Rückkehr zum Protektionismus deutlich zu spüren.

Es kann so kommen, es muss aber nicht. Viel wird davon abhängen, ob sich die Politiker weiterhin dem Rausch der Milliarden hingeben. Oder ob die Regierenden in Berlin, Washington, Paris und anderswo irgendwann innehalten und sich fragen, was sie hier tun. Ja, sie sollen die Konjunktur anschieben. Ja, sie sollen das Finanzsystem stützten. Aber: Nein, nicht jede Bank muss ewig am Leben erhalten werden. Und nein, der Staat sollte sich davor hüten, nach Belieben Industrieunternehmen zu retten und am Ende gar zu übernehmen. Dies würde alle überfordern. Vor allem auch die Bürger, die am Ende dafür bezahlen müssen.

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"Wir wollen das nicht umsonst"

Schaeffler bittet den Staat um Hilfe, aber aus direkten Kapitalspritzen wird wohl nichts

Von Thomas Öchsner, Uwe Ritzer und Meite Thiede

Herzogenaurach - Freunde in der Not sind viel wert. Dass Maria-Elisabeth Schaeffler in Zeiten höchster ökonomischer Bedrängnis ausgerechnet Zuspruch von Oskar Lafontaine bekommt, darf allerdings verwundern. Im vergangenen September forderte der Fraktionschef der Linken im Bundestag noch die Enteignung der Eigentümerin des gleichnamigen Familienunternehmens. Ihr Milliardenvermögen sei "das Ergebnis einer fortdauernden Enteignung der Belegschaft", sagte er damals. Am Freitag ließ Lafontaine verlauten, dass der Autozulieferer unbedingt für die Übernahme von Continental eine Finanzspritze vom Staat erhalten solle. "Es geht hier um 200 000 Arbeitsplätze", so Lafontaine.

Wie es mit Schaeffler tatsächlich weitergeht, blieb auch am Freitag offen. Die Bundesregierung schließt finanzielle Hilfen nicht grundsätzlich aus. Es verdichteten sich aber Hinweise, dass dabei nicht daran gedacht ist, sich mit Staatskapital an dem Unternehmen zu beteiligen. Sonst seien alle Grenzen offen, dann könnten auch andere Firmen aus der Industrie kommen und um staatliche Beteiligungen bitten, hieß es in Regierungskreisen. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) hatte es bereits ausgeschlossen, Steuergeld für Schaeffler einzusetzen. Bayerns IG-Metall-Chef Werner Neugebauer sagte, eine Beteiligung des Staates an dem Konzern komme nicht in Frage. Es gebe 100 Betriebe, die mit Schaeffler konkurrierten, sagte er. Stiege der Staat bei dem Konzern ein, würden auch diese Firmen ähnliche Hilfen fordern. Bürgschaften hält Neugebauer aber für wünschenswert. Schaeffler war durch die auf Pump finanzierte Übernahme von Conti in eine Schieflage geraten.

Sicher ist, dass der Autozulieferer in den kommenden Wochen ein Konzept vorlegen muss. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC soll dies überprüfen. Dann wird die Bundesregierung erneut ausloten, welche Hilfen für Schaeffler möglich sind. Ein Sprecher des Wirtschaftsministers sprach von einer "ergebnisoffenen Prüfung". Es dürfte aber in erster Linie um Bürgschaften aus dem 100-Milliarden-Euro-Fonds gehen.

Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff pocht darauf, dass erst die Unternehmen selbst und die Banken Verantwortung übernehmen, bevor die Politik einspringt. Außerdem müsse Schaefflers finanzielle Lage transparent gemacht werden. Schaeffler selbst hatte bei einem Gespräch mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) sowie Wulff auch um direkte Kapitalhilfen nachgesucht. Es soll dabei um bis zu vier Milliarden Euro gehen. Die erhoffte Staatshilfe solle nur zur Überbrückung dienen. "Wir wollen das nicht umsonst, sondern werden auch dafür bezahlen", sagte ein Firmensprecher. Es sei "völlig klar, dass zunächst einmal das Unternehmen selbst gefordert ist", deshalb rede man auch mit potentiellen Investoren.

Die Zeit drängt

Falls es keine Rettung mit Hilfe des Staates gibt, droht die Zerschlagung des Konzerns und der Verlust Tausender Arbeitsplätze. Die Banken, die die Conti-Übernahme mit Milliardenkrediten finanzierten, pochen auf mehr Sicherheiten. Schaeffler hatte für den Kauf von etwa 90 Prozent der Conti-Aktien zehn Milliarden Euro gezahlt. Wegen der Börsen-Baisse sind die Papiere aber nur noch gut zwei Milliarden Euro wert. Das Bankenkonsortium wird angeführt von der Royal Bank of Scotland. Diese ist selbst finanziell stark angeschlagen und dürfte deshalb besonders um ihr Engagement bei Schaeffler fürchten.

Trotz der Probleme übernimmt Maria-Elisabeth Schaeffler am Sonntag den Kuratoriumsvorsitz des Frankfurter Zukunftsrates - er entwickelt "ganzheitliche Lösungskonzepte zur Gestaltung Deutschlands in der Globalisierung".

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Reparaturbedarf

Banker kassieren Boni im Niedergang. Das muss geändert werden

Von Karl-Heinz Büschemann

Der Neue bringt frischen Wind ins Weiße Haus. Barack Obama nutzt schon die ersten Tage im Präsidentenamt, um Veränderungen anzukündigen. Dankenswerterweise hat er auch eine Debatte befeuert, die es in dieser Vehemenz in den USA wahrscheinlich noch nicht gab. Die riesigen Boni-Zahlungen, die mitten in der Finanzkrise für das vergangene Jahr an Wall-Street-Banker bezahlt würden, seien "der Gipfel der Verantwortungslosigkeit" und "beschämend".

Da hat der Präsident recht. Was sich an der Wall Street abspielt ist kaum nachvollziehbar. Trotz haarsträubender Verluste bei mancher Bank und trotz milliardenschwerer Staatshilfen zur Abwendung von Pleiten, haben Angestellte der Wall-Street-Häuser neben ihren festen Gehältern für 2008 noch einmal geschätzte 18,4 Milliarden Euro an Boni eingestrichen. Und das in einem Krisenjahr, das die Lehman-Bank in die Pleite trieb, den anderen Investment-Banken Verluste von 35 Milliarden Dollar brachte und das Ansehen der früher hochgelobten New Yorker Finanzkünstler auf den Tiefpunkt trieb. Die Frage muss erlaubt sein: Warum sollen die Banker dicke Boni erhalten, die allein im vergangenen Jahr durch ihre trickreichen-Finanzgeschäfte höhere Verluste produzierten, als sie in vielen Jahren zuvor an Gewinnen erwirtschaftet hatten.

Ein Grund ist, dass diese ärgerlichen Regelungen in ihren Arbeitsverträgen so vorgesehen sind. Viele der Zahlungen sind rechtlich in Ordnung, wenn es auch moralisch kaum zu erklären ist, warum sie in diesen Zeiten so hohe Ansprüche geltend machen können. Daher tun die Banken gut daran, für die Zukunft Gehaltsmodelle zu finden, die zu weniger empörenden Resultaten führen.

Doch die Vorgänge an der Wall Street sind zum großen Teil besonders ärgerlich. Dort hat der Staat mit Milliardensummen ganze Banken vor dem Zusammenbruch bewahrt, ohne Einfluss darauf zu haben, was mit dem Geld geschieht. Man kann annehmen, dass mancher Steuerdollar gleich in die Taschen der Banker floss, weil die Regierung in Washington es leichtfertig unterließ, die Hilfen des Staates an eine Kappung von Einkommen zu binden. So dürfen die Chefs der Wall-Street-Banken weiter den Unsinn verbreiten, die gute Bezahlung ihrer angeblichen Stars sei nötig, um deren Abwanderung zur Konkurrenz zu verhindern. Bei solcher Chuzpe kann man nur staunen. Die Banken sollten um jeden Verlusterzeuger froh sein, der freiwillig zur Konkurrenz geht. (Seite 28)

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Schlechte Zahlen aus allen Branchen

Wirtschaftskrise erschüttert Japan

Industrieproduktion und Export brechen drastisch ein, die Arbeitslosigkeit legt zu. Wirtschaftsminister erwartet Schlimmeres

Von Christoph Neidhart

Tokio - Die Wirtschaftskrise in Japan hat sich dramatisch verschärft. So brach die Industrieproduktion im Dezember so stark ein wie noch nie. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit rasant. Schlechte Nachrichten gab es am Freitag auch von zahlreichen bekannten japanischen Konzernen. Allein der Elektronikhersteller NEC streicht 20 000 Jobs.

Toyota rechnet mit einem Verlust von 400 Milliarden Yen (3,5 Milliarden Euro), nicht mit 150 Milliarden wie noch im Dezember, Hitachi erwartet 700 Milliarden Yen Verlust, Toshiba 280 Milliarden Yen, Sony 150 Milliarden Yen. Ein mächtiger Exportkonzern nach dem anderen erschreckt die Japaner mit Hiobsbotschaften. Im Dezember hatten die Unternehmen ihre Produktion, verglichen mit dem Vormonat, um 9,6 Prozent gedrosselt - im Vorjahresvergleich waren es 20 Prozent. Wirtschaftsminister Kaoru Yosano sagte am Freitag: "Wir haben einen solchen Einbruch der Industrieproduktion noch nicht erlebt. Wahrscheinlich wird es weiter abwärtsgehen." Die Produktion ist bereits auf dem niedrigsten Niveau seit 20 Jahren.

In der Folge melden täglich Firmen Entlassungen. Sie trennen sich nicht von Festangestellten, sondern von den jungen Zeitarbeitern, die sie in den zurückliegenden Boomjahren als Manövriermasse eingestellt haben, denen sie aber kaum Sozialleistungen gewähren. Bis März werden 125 000 Zeitarbeiter ihren Job verlieren, die meisten von ihnen ohne finanzielles Polster. Viele werden bald obdachlos sein, weil sie noch in Firmenunterkünften wohnen. Innerhalb des Monats Dezember war die Arbeitslosenquote von 3,9 auf 4,4 Prozent gestiegen.

Verheerend wirkt sich auch der Yen-Kurs auf Japans Wirtschaft aus. Angesichts der Prognosen für Europa und die USA ist er eine vergleichsweise sichere Währung, das treibt ihn in die Höhe. Zudem werden enorme Summen aus dem sogenannten Carry-Trade, Kredite, die in Japan aufgenommen und dann im Ausland angelegt wurden, jetzt zurückgezahlt. Gegenüber dem Euro hat der Yen seit dem vergangenen Sommer um etwa 40 Prozent zugelegt. Bei gleichbleibendem Exportvolumen würden die japanischen Firmen im Europageschäft damit 40 Prozent weniger einnehmen. Das Exportvolumen ist aber nicht gleichgeblieben, die Stückzahlen verringern sich, man kauft billiger. Im Dezember sank der Export um 35 Prozent.

Auch die Verbraucher sind verstört. Die Ausgaben der privaten Haushalte schrumpften im Dezember um 4,6 Prozent. Ökonomen reagierten auf die am Freitag veröffentlichten Konjunkturdaten schockiert. Nun werde die Rezession nicht mehr nur von der sinkenden globalen Nachfrage getrieben, sondern auch von der Arbeitslosigkeit, dem dadurch sinkenden Binnenkonsum und dem Rückfall in die Deflation mit dauerhaft sinkenden Preisen, hieß es. Experten befürchten, dass die Wirtschaftsleistung im Herbst dramatisch eingebrochen ist. Demnach könnte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vierten Quartal zum Vorjahr um rund zehn Prozent zurückgegangen sein. "Japans Wirtschaft fällt über die Klippe", sagte ein Analyst in Tokio.

Noch im vergangenen Sommer hatte sich Japan gut für die Krise gewappnet gesehen; seine Banken hatten kaum mitgemacht beim Kasino-Kapitalismus um die Subprime-Hypotheken, sie waren gesund, sitzen auf dicken Geldpolstern. Die Industrie war verschlankt, konkurrenzfähig und kaum verschuldet. Die Exporte in die USA ließen bereits nach, aber andere Märkte konnten das kompensieren, vor allem die sogenannten Schwellenmärkte. Der Broker Nomura kaufte die Trümmer von Lehman Brothers zu einem Spottpreis. Jetzt schreibt auch Nomura tiefrote Zahlen.

Kaum jemand hatte in Japan mit einer solchen Situation gerechnet. Denn nicht nur ist die Krise in den USA und Westeuropa weit tiefer, als man in Tokio noch im Sommer erwartet hatte, sie hat auch China erfasst. Außerdem sind einige Exporteure, allen voran Toyota, ihren eigenen Richtlinien nicht gefolgt. Während die Autobauer aus Aichi die von ihnen entwickelten "grünen" Fahrzeuge als die Zukunft feierten, bauten sie weiter Benzin-Schleudern für den US-Markt, weil sie mit ihnen bessere Margen erzielten. Jetzt musste Toyota in Kalifornien riesige Flächen anmieten, um diese Autos einzulagern, von denen wohl viele nie verkauft werden.

Fünf Euro? . . . Das kannst du vergessen . . . 50 Milliarden, das könnte klappen! Cartoon: Dirk Meissner

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INHALT

PERSONALIEN

Aus der Teppich-Perspektive

Andrea Schauer beobachtet Kinder und baut dann Playmobil-Spielzeug. Seite 24

POLITIK UND MARKT

"Keine Rasterfahndung"

Bahnchef Mehdorn wehrt sich gegen Vorwürfe in der Datenaffäre. Seite 25

UNTERNEHMEN

Die Krise erreicht Porsche

Der Absatz sinkt im ersten Geschäfts-Halbjahr um 27 Prozent. Seite 27

GELD

Ein Land im Lottofieber

Wie klein die Gewinnchancen in Wirklichkeit sind. Seite 29

REPORT

Big Sugar ist Geschichte

Florida schließt die Zuckerbetriebe, um die Everglades zu retten. Seite 34

Kursteil Seiten 30 und 32

Fondsseiten Seiten 32 und 33

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Kurse des Tages

Der Internethändler Amazon hat mit einem Gewinnanstieg im Quartal um neun Prozent überrascht. Die Aktie sprang zeitweise um 18,03 Prozent auf 59,03 Dollar in die Höhe. Der weltweit größte Online-Einzelhändler hatte sich durch ein Rekord-Weihnachtsgeschäft insgesamt weit besser geschlagen als der große Rest der Branche. (Seite 27)

Toshiba hatte bereits am Donnerstag zum ersten Mal seit sieben Jahren einen Verlust in Aussicht gestellt. Die Aktie verlor daraufhin am Freitag kräftig an Wert. Wie bekannt wurde, verhandelt der Konzern mit dem ebenfalls gebeutelten Elektronik-Konzern NEC Gespräche über eine Zusammenlegung des Chip-Geschäfts.

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Rezession in Amerika

Die US-Konjunktur ist Ende 2008 so stark eingebrochen wie seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr. Im vierten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit einer auf das Jahr hochgerechneten Rate von 3,8 Prozent, wie das US-Wirtschaftsministerium auf Basis vorläufiger Berechnungen mitteilte. Die Wirtschaftsleistung ging damit so stark zurück wie seit Anfang 1982 nicht mehr, weil Verbraucher und Unternehmen ihre Ausgaben stark zurückfuhren. Im Gesamtjahr ergab sich ein Plus beim BIP von 1,3 Prozent - der niedrigste Zuwachs seit 2001. Analysten hatten für das vierte Quartal allerdings im Schnitt mit einem noch stärkeren Einbruch um 5,4 Prozent gerechnet. (Seite 28) Reuters

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"Die Kreditversorgung der Unternehmen läuft "

Bundesbank-Vizepräsident Zeitler über die Risiken für Banken und Unternehmen bei der Finanzierung und über die Vorsorge der Institute im Abschwung

Frankfurt - Große Kredite werden zögerlicher gewährt, bei kleinen Krediten gibt es kaum Schwierigkeiten, analysiert Bundesbank-Vize Franz-Christoph Zeitler. Firmen sprächen von einer Kreditklemme, weil sie höhere Zinsen für Darlehen zahlen müssen. Die Banken verlangten mehr, weil sie im Abschwung Vorsorge treffen.

SZ: Firmen klagen, sie bekämen keinen Kredit mehr. Halten die Banken ihre Taschen zu?

Zeitler: Es gibt zwar Risiken für die Zukunft, derzeit aber läuft die Kreditversorgung der deutschen Unternehmen. Wie im gesamten Euroraum sank das Volumen der Ausleihungen im Monatsvergleich Dezember zu November zwar auch in Deutschland leicht. Im Vorjahresvergleich gibt es aber immer noch ein Plus von 4,5 Prozent.

SZ: Die Tendenz zeigt also nach unten?

Zeitler: Ursächlich für die schwächeren Dezember-Zahlen sind neben saisonalen Gründen sicherlich auch konjunkturelle. Sinkende Absatzerwartungen und nachlassende Investitionsbereitschaft dämpfen die Nachfrage nach Krediten.

SZ: Die klagenden Firmen bilden sich die Kreditklemme also nur ein?

Zeitler: Möglicherweise geht der Eindruck einer schlechteren Kreditverfügbarkeit auf Zinsaufschläge für Kredite mit höherem Risiko zurück. Diese Margenspreizung hat sich in den letzten Quartalen verstärkt. In einer Phase des Abschwungs steigt naturgemäß das Kreditrisiko, und die Banken müssen eine entsprechende Vorsorge treffen.

SZ: Werden bestimmte Kredite zurückgehalten?

Zeitler: Dies lässt sich beobachten bei großvolumigen Krediten, die am Kapitalmarkt platziert werden sollen, weil der Verbriefungsmarkt immer noch gestört ist. Ein Beispiel dafür sind Firmenübernahmen, bei denen in der Vergangenheit oft hohe Fremdkapitalhebel eingesetzt wurden. Bei normalen Krediten für den Mittelstand sehe ich keine Probleme.

SZ: Wird es eher besser oder schlechter?

Zeitler: Ein Risiko liegt in den hohen Refinanzierungskosten der Institute am Kapitalmarkt, die noch nicht wesentlich zurückgegangen sind. Ablesen lässt sich dies an den hohen Prämien für Versicherungen gegen Kreditausfälle, den sogenannten Credit Default Swaps. Wie bei einem Produktionsunternehmen bestimmen auch bei den Banken die Kosten des Einkaufs letztlich die Verkaufskonditionen.

SZ: Also schlechter?

Zeitler: Gemildert wird dieser Effekt in Deutschland aber dadurch, dass die Kreditinstitute hier weniger vom Kapitalmarkt abhängen als in anderen Ländern und ihre Kreditvergabe stärker über Einlagen finanzieren. Dies gilt für viele Universalbanken, speziell für Sparkassen und Genossenschaftsbanken.

SZ: Gibt es noch andere Risiken?

Zeitler: Von den Märkten und den Ratingagenturen geht starker Druck aus, jetzt in der Krise die Eigenkapitalquoten der Banken zu erhöhen. Dies wirkt pro-zyklisch, es verschärft die Krise, weil im Abschwung mehr Mittel für die Kreditvergabe nötig sind. Aber auch hier ist die diversifizierte Struktur des deutschen Bankensystems von Vorteil.

SZ: Was kann die Politik gegen die Risiken tun?

Zeitler: Die Politik hat bereits gehandelt und den Rahmen für Bürgschaften erweitert, etwa wenn Faktoren außerhalb des Einflussbereichs eines Unternehmens das Kreditrisiko erhöhen. Auch die Kapitalhilfen nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz gehen in diese Richtung.

SZ: Sind die mit den Kapitalhilfen verbundenen Auflagen zur Kreditvergabe nicht gefährlich für die Banken, die sich dadurch auch neue schlechte Kredite hereinholen könnten?

Zeitler: Eine direkte staatliche Intervention in die Kreditvergabe hätte diesen Effekt. Davor kann man nur warnen. Solange die Kreditinstitute aber einen ausreichenden Entscheidungsspielraum haben, werden sie die Kredite risikogerecht bepreisen. Dann bestehen aufsichtlich und betriebswirtschaftlich keine Probleme.

SZ: Gibt es regionale Trends in der Kreditvergabe?

Zeitler: Es gibt weltweit den Trend eines "home bias". Die Kreditinstitute reduzieren bei Schwierigkeiten als Erstes die Auslandsaktivitäten und konzentrieren sich auf das Geschäft zu Hause, nach dem Motto: Das Hemd ist mir näher als der Rock. Ob sich ein solcher Trend bei den Filialen ausländischer Kreditinstitute in Deutschland bestätigt, ist allerdings noch offen.

SZ: Wie passen steigende Zinsen für Unternehmenskredite und sinkende Leitzinsen zusammen?

Zeitler: Die Notenbanken beeinflussen die kurzfristigen Zinsen, den langfristigen Kapitalmarktzins erreichen sie nur mittelbar. Wichtig hierfür sind insbesondere solide Stabilitätserwartungen, weil im Kapitalmarktzins auch eine Prämie für Inflationsrisiken enthalten ist. Nach einem Anstieg zuvor sind jedoch in den letzten drei Monaten die längerfristigen Kapitalmarkt- und Kreditzinsen um 20 bis 30 Basispunkte gesunken. Die Durchwirkung der Geldpolitik auf die breiten Finanzierungsbedingungen setzt also ein.

SZ: Befürworten Sie die Gründung einer oder mehrerer Bad Banks? Oder wie kann die Politik über das hinausgehen, was sie jetzt tut?

Zeitler: Sie hat den Bürgschaftsrahmen erweitert, das ist der richtige Weg. Dazu gehört auch der ordnungspolitisch notwendige Selbstbehalt eines Teiles des Risikos bei der jeweiligen Hausbank. Abzuwarten bleibt, ob bei der Risikoübernahme, also beim Erwerb von Wertpapieren mit besonders hohen Marktwertrisiken, zusätzliche Schritte nötig sind, um die "Infektionsherde" aus dem Bankensystem herauszubringen. Dies wäre wohl ein Schritt, die Krise schneller zu überwinden.

SZ: Was soll ein Unternehmen machen, das keinen Kredit bekommt?

Zeitler: Oft hilft der Hinweis auf die Bürgschaftsmöglichkeiten der Förderbanken. Insgesamt wird ein Unternehmen mit einem interessanten Projekt und schlüssigem Geschäftsmodell in der Regel auch einen Kredit bekommen.

Interview: Helga Einecke

Bundesbank-Vizepräsident Franz-Christoph Zeitler. Foto: oh

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Hohe Geldstrafe für Spoerr

Der frühere Freenet-Vorstandschef Eckhard Spoerr und sein Finanzvorstand Axel Krieger sind vor dem Hamburger Landgericht am Freitag wegen Insiderhandels zu hohen Geldstrafen verurteilt worden. Spoerr muss 300 000 Euro, Krieger 150 000 Euro Strafe zahlen. Außerdem sollen beide den Nettoerlös der umstrittenen Geschäfte von je 700 000 Euro an den Staat überweisen. Die Anwälte beider Manager kündigten Revision an. Der Staatsanwalt zeigte sich zufrieden; er hatte ein Jahr Gefängnis auf Bewährung gefordert.

Der Fall liegt fast fünf Jahre zurück. Spoerr und Krieger hatten im Juli 2004 Freenet-Aktien aus einem Optionsprogramm verkauft. Kurz danach war der Aktienkurs nach der Veröffentlichung eines negativen Quartalsberichts eingebrochen. Die Manager hatten Insiderhandel zurückgewiesen und sich auf einen Vorstandsbeschluss vom Oktober 2003 berufen: Damals war festgelegt worden, dass der Vorstand künftig seine Aktienoptionen zu den in den Verträgen vereinbarten Zeitpunkten wahrnehmen sollte, um jedwede Spekulation in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Der Zeitpunkt des Verkaufs hätte also nichts mit den Quartalszahlen zu tun gehabt.

Der Richter meinte, die beiden hätten laut Vorstandsbeschluss nicht verkaufen müssen, sondern können. Ein Lokführer, der die Information erhalte, dass ein Mensch auf den Gleisen liege, halte ja auch nicht drauf, nur um den Fahrplan einzuhalten. Die Insiderregeln seien so zu verstehen, dass eine Information nicht zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden dürfe. mth.

Eckhard Spoerr Foto: AP

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Post-Manager geht zu P&C

Der Bekleidungsfilialist Peek & Cloppenburg besetzt zwei Positionen in der Geschäftsführung neu: Verantwortlich für das Finanzressort ist ab März Michael Krause. Der 32-Jährige ist derzeit Finanzchef der Logistiksparte der Deutschen Post. Zuvor war er bei Bayer, Siemens und Arcandor tätig. Im Sommer war Krause auch als Finanzchef des inzwischen von der Schaeffler-Gruppe übernommenen Autozulieferers Continental im Gespräch gewesen. Zum Januar hat Wilfried Peters, 51, bei Peek & Cloppenburg als Geschäftsführer die Verantwortung für IT, Logistik, Verwaltung und Unternehmensentwicklung übernommen. Er war zuvor kaufmännischer Geschäftsführer bei T-Systems. stw.

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Zweifache Zwischenlösung

Andreas Bierwirth und Peter Malanik leiten Austrian Airlines - bis im Sommer voraussichtlich Lufthansa übernimmt

Es ist ein ziemlich undankbarer Job, den Andreas Bierwirth und Peter Malanik übernommen haben. Sie müssen die Folgen der verfehlten Strategie ihres Vorgängers an der Spitze von Austrian Airlines, Alfred Ötsch, ausbaden und retten, was zu retten ist. Wenn dann voraussichtlich im Sommer die Lufthansa bei der österreichischen Fluggesellschaft einsteigen und sie vor der Pleite bewahren darf, dann könnte ein neuer Mann an die Spitze des Unternehmens rücken. Außer das Duo bewährt sich so gut, dass die Lufthansa nicht zum Handeln gezwungen ist.

Seit Freitag teilen sich die beiden die Verantwortungsbereiche Ötschs auf, eine Lösung, die sie seit Monaten schon erwartet hatten. Kennengelernt haben sich der 47-jährige Österreicher Malanik und sein zehn Jahre jüngerer Kollege aus Deutschland erst Ende 2007, im Wartezimmer vor der Austrian-Aufsichtsratssitzung, auf der beide in den Vorstand bestellt wurden. Sie haben sich dann schnell schätzen gelernt. Den Managern war schon länger als ihrem Chef klar, dass Austrian alleine keine Chance haben würde und dringend unter die Fittiche der Lufthansa schlüpfen sollte. Und sie sollen früh vereinbart haben zusammenzuhalten, wenn Ötsch gehen muss.

Dabei haben die beiden ganz unterschiedliche Karrieren gemacht. Malanik ist seit 1985 bei Austrian und war in mehreren Positionen vor allem für Personal und externe Beziehungen verantwortlich. 1996 machte er einen kurzen Ausflug zu den Luftfahrt-Verbänden International Air Transport Association (IATA) und Association of European Airlines (AEA). Bei Austrian war er von 2000 an Generalsekretär und Personalchef, bevor er im vergangenen Jahr zum Vorstand für das operative Geschäft bestellt wurde.

Bierwirth ist schon mit Anfang 30 Geschäftsführer beim Lufthansa-Billigableger Germanwings geworden und wechselte später als Marketingchef nach Frankfurt. Der Posten als Vertriebsvorstand bei Austrian, den er erst seit April hat, gilt konzernintern als Vorbereitung für höhere Weihen.

Beide müssen jetzt zeigen, was sie können, denn nur dann haben sie eine Chance, auch dauerhaft an der Austrian-Spitze zu bleiben. Ein neuer Vorstandschef würde einen Neuanfang besser symbolisieren. Und Bierwirth und Malanik sind trotz interner Opposition gegen Ötsch mitverantwortlich für das Debakel. Auch sie haben sich bis zuletzt gegen tiefere Einschnitte im Streckennetz gewehrt und damit die Verluste nicht schnell genug eingedämmt.

Wer Austrian-Chef wird, wenn das Duo scheitert, hängt vor allem von Christoph Franz ab. Der Swiss-Vorstandsvorsitzende muss sich bald entscheiden, ob er im Konzern Nachfolger von Wolfgang Mayrhuber werden will. Er würde dann voraussichtlich bis zur Hauptversammlung im April für den Konzernvorstand nominiert. Dann aber müsste wohl sein Vorstandskollege Harry Hohmeister in Zürich bleiben und könnte nicht zur Austrian nach Wien wechseln.

Das könnte die Chance für Karl Ulrich Garnadt, 52, sein, derzeit Bereichsvorstand Service und Personal bei der Lufthansa Passage Airline. Garnadt ist intern hoch angesehen als fachlich kompetent und menschlich fair. Deswegen wird er immer wieder genannt, wenn wichtige Jobs zu vergeben sind. Einer dürfte vergeblich auf einen Anruf hoffen: Wolfgang Prock-Schauer, 51, einst Austrian-Generalsekretär und derzeit bei Jet Airways, würde zu gerne nach Wien zurückkehren, heißt es. (Seite 27) Jens Flottau

Andreas Bierwirth (links) kam von Lufthansa zu Austrian, Peter Malanik ist schon seit 1985 dort. Fotos: AP

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Aus der Teppich-Perspektive

Andrea Schauer schaut Kindern zu, wo immer sie welche sieht. Aus den Beobachtungen macht die Playmobil-Chefin dann Produkte

Von Uwe Ritzer

Manchmal, zum Beispiel in der Eisenbahn, zieht Andrea Schauer merkwürdige Blicke auf sich. Sie ist eine erwachsene Frau, doch wenn in der Nähe ein Kind spielt, kann sie gar nicht anders, als die ganze Zeit zuzusehen. Schauer nennt das ihre "Teppichboden-Perspektive". "Man muss den Kindern genau zuschauen, wie sie etwas greifen, es drehen, anschauen, daran riechen und wie sie es einsetzen", sagt Schauer. Denn Erwachsene seien im Allgemeinen weit weg von der kindlichen Erlebniswelt - und Schauer im Besonderen weit weg von ihrer Zielgruppe.

Andrea Schauer, 49, arbeitet für Kunden die fünf bis zehn Jahre alt sind. Seit acht Jahren ist sie Geschäftsführerin des fränkischen Familienuunternehmens, das Geobra Brandstätter heißt, aber unter dem Markennamen Playmobil bekannt ist. 2,2 Milliarden von dessen beweglichen, fingerlangen Kunststofffiguren mit der Zackenfrisur bevölkern inzwischen den Globus, und jährlich kommen mehr als 90 Millionen hinzu. Die meisten von ihnen werden in einem Werk auf Malta hergestellt, bewegen sich dann aber in Mini-Spielwelten wie Baustellen, Drachenburgen oder Krankenhäusern, die vorwiegend im fränkischen Dietenhofen produziert werden. Anders als nahezu alle Spielwarenhersteller lässt Playmobil nicht in China produzieren.

"Thematisch sind Gewaltmotive tabu", sagt Schauer. Eine Armee mit Playmobilsoldaten sei "undenkbar". Das höchste der gruseligen Gefühle ist ein Pirat, wie er in Schauers Büro in der Firmenzentrale in Zirndorf bei Nürnberg steht. Er ist bestimmt anderthalb Meter hoch und hält einen Papagei auf dem Arm. Der bunte Plastikmann ist stummer Zeuge, wenn Firmengründer und Eigentümer Horst Brandstätter hereinschaut. Das tut er oft.

"Manchmal ist er anstrengend"

Horst Brandstätter muss man sich so vorstellen: Ein Hüne von einem Mann, 75 Jahre alt, eigenwillig und hemdsärmelig, ein Patriarch und Instinktunternehmer. Neben ihm wirkt die für Entwicklung, Marketing und Vertrieb verantwortliche Andrea Schauer sehr zierlich. Sie tritt unaufgeregt und selbstsicher auf, ohne jedes Managergehabe. Größer kann der Kontrast kaum sein und viele in der Branche, die sich ab nächstem Donnerstag in Nürnberg zur weltgrößten Spielwarenmesse trifft, wundern sich, dass diese Kombination Brandstätter/Schauer so gut funktioniert.

"Es ist manchmal sehr anstrengend mit ihm", gibt Andrea Schauer zu. "Der Unternehmer", wie sie Brandstätter nennt, reflektiere und kommentiere sofort jedes Wort, das man sage. Das sei eine Herausforderung. "Damit bleibt man aber unter Strom", sagt die Managerin. Und was das Gespür für das Geschäft angehe, die Fähigkeit, Produkte und Ideen bis ins Kleinste zu durchdenken und umzusetzen, mache Brandstätter kaum jemand etwas vor. "Ich habe viel von ihm gelernt", sagt Schauer. Vor allem aber hat sie aus einem traditionellen Familienunternehmen, bestehend aus Abteilungen mit dem Selbstverständnis kleiner Königreiche, ein management-geführtes Unternehmen gemacht, ohne deswegen das Wesen der Firma zu entkernen. Sie gilt als Teamspielerin mit großer Beharrlichkeit.

Schauer ist verheiratet und hat einen heute erwachsenen Sohn. Inhaber Brandstätter erkannte und förderte das Talent der Volkswirtin, die nach ersten beruflichen Erfahrungen bei einem Schreibgerätehersteller und einer Medizintechnikfirma 1992 in die Werbeabteilung von Geobra Brandstätter kam. Fünf Jahre später stieg sie zur Marketingleiterin international auf. Seit Juli 2000 bildet Andrea Schauer die operative Spitze des Unternehmens. Co-Geschäftsführer Steffen Höpfner wirkt als Verantwortlicher für Technik und kaufmännischen Sektor eher nach innen.

Standen die Playmobilmännchen lange Zeit als einzelne Polizisten oder Bauarbeiter für sich in der Landschaft, hauche Schauer ihnen gewissermaßen Leben ein. Um die Figürchen herum entstanden kindliche Erlebniswelten und Geschichten. Katalog, Internetseiten und Fernsehspots zeigen heute die Welt der Feuerwehrleute, der Burgen und Schlösser, der Bauernhöfe und Tierkliniken - samt jeweils dazugehöriger, detailgetreuer Ausstattung.

"Playmobil ist die Welt im Kleinen, wie sie Kinder erleben", sagt Andrea Schauer. Sie hat diese Welt auch für Mädchen geöffnet, die früher kaum mit Playmobil spielten. Und weil die Kleinen von heute auch in der virtuellen Welt unterwegs sind, sucht man bei Playmobil nach Wegen, die eigene traditionelle mit den Möglichkeiten des Computerzeitalters zu verzahnen. 2008 gelang das ausgerechnet mit den alten Ägyptern. Eine Pyramidenwelt wurde der Verkaufsschlager, ergänzend gab es eine CD-Rom, die über Leben, Kultur und Symbolik am Nil spannend erzählte. Sie wurde eine Million mal verkauft.

Playmobil

2008 steigerte Playmobil den Umsatz um sechs Prozent auf 452 Millionen Euro. Weitere 33 Millionen Euro steuerte die "Lechuza"-Sparte bei, die Kunststoff-Pflanztröge herstellt. 68 Prozent des Spielwarengeschäftes spielt sich im Ausland ab. Dort wuchs Playmobil um 14 Prozent. Für 2009 kündigte das Unternehmen eine Preiserhöhung um durchschnittlich 4,9 Prozent an. Der Grund: gestiegene Lohn- und Lagerkosten. Gleichzeitig werden 32,5 Millionen Euro vor allem in die Werke in Malta und Deutschland investiert. urit

Andrea Schauer gilt als beharrlich und hat Playmobil in den vergangenen Jahren dynamischer gemacht. Foto: dpa

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Glücklose Heuschrecke

Christopher Flowers droht die Enteignung

Viele Profis haben am Kapitalmarkt Geld verloren. Besonders bitter muss diese Erfahrung aber für Beteiligungsgesellschaften sein, deren Führungsspitzen jahrelang eine Aura der Unfehlbarkeit umgab. Christopher Flowers ist einer von ihnen. Im Juni kaufte er für 1,1 Milliarden Euro 24,9 Prozent des deutschen Immobilienfinanzierers HRE für 22,50 Euro je Aktie. Damals war die Bank schon in der Krise, Flowers glaubte an die Gesundung und zog auch in den Aufsichtsrat ein.

Es war ein teurer Fehler. Am Freitag notiert der Kurs der HRE-Aktie bei 1,29 Euro. Ein Kapitalverlust von über 90 Prozent binnen sieben Monaten ist schon eine Katastrophe, doch nun droht Flowers die größtmögliche Erniedrigung. Die Bundesregierung prüft die Enteignung der Aktionäre, um die Führung der maroden Bank allein zu übernehmen.

Staat und Private Equity haben eine unselige Geschichte, die in der vom heutigen SPD-Chef Franz Müntefering angezettelten Heuschreckendebatte ihren Höhepunkt fand. Nun haben sich die Machtverhältnisse eindeutig in Richtung Staat verschoben. Schon deshalb kann Flowers nicht damit rechnen, dass der Bund viel Geld gibt für Flowers' Aktien, schon gar nicht in einem Bundestagswahljahr, schon gar nicht an einen wie ihn.

Der Sohn eines Marineoffiziers hat an der amerikanischen Elite-Universität Harvard Mathematik studiert. Danach ging er für 25 Jahre zur US-Investmentbank Goldman Sachs, in den 90er Jahren begann er seine Suche nach Finanzkonzernen, die er kaufen konnte. Flowers hat sich niemals verschuldet bei seinen Investitionen, was ihn von vielen seiner Konkurrenten unterscheidet. Zur Jahrtausendwende stieg er bei der maroden japanischen Long Term Credit Bank ein, sanierte sie und vervielfachte dann beim Börsengang im Jahr 2004 seinen Einsatz.

Seither hat Flowers bei Investoren einen guten Ruf. Zunächst versuchte er sich 2002 an der Bankgesellschaft Berlin, kam jedoch nicht zum Zuge. Bei der Hypothekenbank AHBR unterlag er dem Konkurrenten Lone Star. Mehr Erfolg hatte er 2006 bei der HSH Nordbank. Er kaufte gut ein Viertel der Aktien mit dem Ziel, die Landesbank an die Börse zu bringen. Doch bei der HSH hatte Flowers auch kein Glück. Der Börsengang musste wegen der Kreditkrise verschoben werden, stattdessen schoss Flowers Anfang September wie die Miteigentümer viel Geld nach. Die auf die Schiffsfinanzierung spezialisierte HSH erhielt vom Bankenrettungsfonds Soffin staatliche Liquiditätsgarantien von bis zu 30 Milliarden Euro.

Der öffentlichkeitsscheue Flowers muss sich nun fügen. Er kann den Staatseinstieg nicht abwehren. Deshalb unterstützt er ihn, um die Enteignung abzuwenden. Er gilt als ein Mann mit Geduld. Vielleicht kann die HRE gerettet und in vielen Jahren wieder am Finanzmarkt veräußert werden. Und vielleicht haben er und seine Branchenkollegen dann auch etwas dazugelernt. Dass der Staatseingriff von Übel sein kann - aber nicht immer sein muss. Markus Zydra

C. Flowers Foto: Bloomberg

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"Von einer Rasterfahndung kann keine Rede sein"

Bahnchef Mehdorn wehrt sich gegen Vorwürfe in der Datenaffäre. Auch Bundeskanzlerin Merkel verlangt nun Aufklärung

Von Daniela Kuhr und Klaus Ott

Berlin/München - Hartmut Mehdorn war sich, wie so oft, seiner Sache sicher, als er vergangene Woche dem Aufsichtsrat der Deutschen Bahn (DB) einen Brief schrieb. Der Konzernchef unterrichtete das Gremium, was bislang an Erkenntnissen über die interne Überprüfung der Belegschaft vorliege. Die Bahn hatte Mitarbeiter daraufhin durchleuchtet, ob sie in illegale Geschäfte verwickelt seien. Mehdorns Brief endete mit den Worten, es könne "bereits heute mit Gewissheit gesagt werden, dass ein Vergleich mit den Datenschutzskandalen an anderer Stelle völlig unangemessen" wäre.

Doch als diese Woche bekannt wurde, dass die Bahn die Daten von 173 000 Beschäftigten - von der Kontonummer bis zur Privatadresse - mit den Daten von 80 000 Auftragnehmern abgeglichen hatte, geriet der Konzernchef schwer in Bedrängnis. Mehdorn war freilich nicht im Geringsten zerknirscht, als er am Freitag in Berlin mit seinem Antikorruptionsbeauftragten Wolfgang Schaupensteiner vor die Presse trat. Im Gegenteil, der Manager war aufgebracht, erbost und beleidigt. Es handle sich um "für uns nicht nachvollziehbare, polemische und überzogen dargestellte Vorwürfe", sagte er und blickte finster zu den Journalisten.

Heimlich vorgegangen

"Wir haben in der Vergangenheit für unsere Arbeit bei der Korruptionsbekämpfung viel Lob von der Antikorruptionsorganisation Transparency International bekommen", sagte Mehdorn. Auch jetzt habe man sich nur an das gehalten, was von Wirtschaftsprüfern empfohlen werde. Es sei absolut üblich, dass Daten von Mitarbeitern mit denen von Lieferanten abgeglichen werden. Auf die Frage, ob die Wirtschaftsprüfer denn auch empfehlen, den Abgleich heimlich vorzunehmen, blieben er und Schaupensteiner eine Antwort schuldig.

Stattdessen schimpfte Mehdorn, dass man bei Siemens dem Ex-Vorstand vorwerfe, er habe zu wenig gegen Korruption getan. "Uns wirft man jetzt vor, dass wir zu viel getan haben." Um die Debatte zu versachlichen, habe der Konzern die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, sagte Mehdorn. "Uns hört ja keiner zu, ich hoffe, Sie hören denen dann zu." Der Datenabgleich sei nichts weiter als ein "Screening" gewesen. Von einer Rasterfahndung könne keine Rede sein. Sowohl der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar als auch der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix hatten das Handeln der Bahn als "Rasterfahndung" bezeichnet.

Laut Strafprozessordnung werden bei einer Rasterfahndung bestimmte personenbezogene Daten mit anderen Daten maschinell abgeglichen, um Nichtverdächtige auszuschließen oder Verdächtige herauszufiltern. Auf die Frage, worin genau der Unterschied zwischen den Geschehnissen bei der Bahn und einer Rasterfahndung liege, hielt Schaupensteiner eine Antwort nicht für nötig: "Googeln Sie das selbst nach", war alles, was er dazu sagte. Mehdorn stellte klar, dass der Vorstand jedenfalls von dem Abgleich nichts gewusst habe. "Das hat damals die Innenrevision gemacht." Es sei ganz normale Tagesarbeit. "Der Vorstand kümmert sich ja auch nicht um die Bestellung von Briefkuverts." Der Bahnchef verwahrte sich auch gegen eine Einmischung von Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). "Er hat damit nichts zu tun und braucht sich da auch nicht einzubringen", sagte Mehdorn.

Die Bundesregierung nimmt die Vorgänge offenbar ernster als Mehdorn. Nach Tiefensee verlangt nun sogar Kanzlerin Angela Merkel eine "lückenlose" Aufklärung. Und der Verkehrsausschuss des Bundestags hat inzwischen einen Katalog von mehr als 119 Fragen an die Bahn erarbeitet, die Schaupensteiner alsbald beantworten soll.

Auch der Aufsichtsrat macht weiter Druck. Aus dem Umfeld des Kontrollgremiums war zu hören, die Stimmung sei dort nicht mehr unbedingt "pro Mehdorn", sondern eher gereizt. Freitagnachmittag befragte der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats den Konzernchef zu der Datenaffäre, die vorerst keine Folgen für Mehdorn haben dürfte. Man gehe davon aus, dass die Regierung einen Wechsel an der Spitze der Bahn vor der Bundestagswahl vermeiden wolle, lautete die Einschätzung in Aufsichtsratskreisen. Einzelne Abgeordnete haben seinen Rücktritt gefordert, nicht zum ersten Mal. Mehdorn selbst schloss einen Rücktritt aus. Polemik sei kein Grund aufzugeben. "Wir haben nichts verbrochen."

Welchen Verlauf die Affäre nimmt, dürfte vor allem davon abhängen, zu welchen Ergebnissen der Berliner Datenschutzbeauftragte Dix gelangt. Dix teilte dem Bundestag diese Woche mit, er wolle seine Prüfung spätestens in einem halben Jahr abschließen. Das wäre dann im Sommer, wenige Monate vor der Bundestagswahl. Verstöße gegen Datenschutzbestimmungen können mit Geldstrafen geahndet werden.

Eine lückenlose Aufklärung - das fordert nicht nur Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), sondern jetzt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Foto: Bloomberg

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Rostlaube ade

Düsseldorf - Die von der Bundesregierung eingeführte Abwrackprämie für Altautos zeigt Wirkung. Nach Jahren rückläufiger Eingänge von Altfahrzeugen spüren die Schrott- und Shredderbetriebe eine deutliche Belebung des Geschäfts. Dabei nehmen Städter schneller Abschied von ihrem "alten Schätzchen" als Leute auf dem Land. In Ballungszentren werde das Regierungsprogramm bisher deutlich besser angenommen als im ländlichen Bereich, sagt Ulrich Leuning, Geschäftsführer der BDSV- Bundesvereinigung Deutscher Stahlrecycling- und Entsorgungsunternehmen. Der Verband rechnet damit, dass mindestens 200 000 Fahrzeuge mehr in den Verwertungsbetrieben ankommen als 2008, eine Steigerung von 50 Prozent. hwb

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Streit um VW-Gesetz

Berlin - Im Streit mit Brüssel um die Neuauflage des VW-Gesetzes lässt die Bundesregierung es auf ein weiteres Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ankommen. Das Gericht hatte das frühere VW-Gesetz gekippt, trotzdem hält Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) in der Neuauflage des Gesetzes an Sonderrechten für das Land Niedersachsen fest. Brüssel droht Deutschland deshalb wieder mit einem Verfahren. Zypries wies die Kritik am Freitag in einem Schreiben an die EU-Kommission zurück: Die Bundesrepublik Deutschland habe "das Urteil des EuGH sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht einwandfrei umgesetzt", heißt es in dem Schreiben, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. dku

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Anträge auf Revision

Rostock - Nach der Verurteilung von drei Erpressern der Liechtensteiner Landesbank (LLB) fechten sowohl die Anklage als auch die Verteidigung den Richterspruch des Rostocker Landgerichts an. Entsprechende Anträge auf Revision seien fristgerecht beim Gericht eingereicht worden, sagte eine Gerichtssprecherin am Freitag. Der bereits neun Monate dauernde Prozess könnte damit eine Neuauflage erleben. Nach Überzeugung des Gerichts hatte der 49-jährige Drahtzieher die Bank mit insgesamt 2325 gestohlenen Kundendaten erpresst. Die beiden 42 und 51 Jahre alten Mitangeklagten waren an der Geldwäsche der neun Millionen Euro schweren Beute beteiligt. Der Hauptbeschuldigte sollte dafür fünf Jahre und drei Monate ins Gefängnis. ddp

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Wie die Bahn schnüffeln ließ

Unter den Detektiven aus der Spähfirma Network Deutschland, die im Auftrag der Deutschen Bahn (DB) jahrelang Mitarbeiter des Konzerns durchleuchtet haben, waren offenbar auch einige Tierfreunde. Ein Projekt, bei dem die "Top-Tausend-Führungskräfte" der Bahn unter die Lupe genommen werden sollten, trug den Titel "Eichhörnchen". Ein anderes, besonders heikles Vorhaben hieß "Uhu". Details über diese Ermittlungen sind in einem siebenseitigen Bericht nachzulesen, den der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix diese Woche dem Verkehrsausschuss des Bundestags übergab. Darin sind die Ergebnisse eines Gesprächs der Datenschutzbehörde mit Vertretern der Bahn über die Network-Projekte zusammengefasst. Network war auch für die Telekom aktiv und ist dort in den Spitzelskandal verwickelt.

Anlass für "Uhu" war der Verdacht der üblen Nachrede gegen Konzernchef Hartmut Mehdorn. Ein DB-Mitarbeiter soll unter falschem Namen in einem Brief an Finanzbehörden Mehdorn eines Steuerdelikts bezichtigt haben. In dem Brief seien Informationen enthalten gewesen, zu denen etwa 40 Bahn-Beschäftigte Zugang gehabt hätten, heißt es im Dix-Bericht. Network habe ein "Schriftstilgutachten" anfertigen lassen, das zu einem DB-Mitarbeiter geführt habe, der gekündigt worden sei. Die Arbeitsgerichte hätten das Gutachten aber nicht anerkannt und die Kündigung aufgehoben.

Die Bahn hat, so steht es im Dix-Bericht, in diesem Fall "wahllos E-Mails der Betroffenen an Network übermittelt", darunter Schreiben an den Betriebsrat und Informationen über Besprechungen beim Betriebsrat. Die Berliner Datenschutzbehörde hat auch aufgeschrieben, warum die Bahn "in keinem der Fälle" den Betriebsrat über die Zusammenarbeit mit Network informiert habe. Von der Bahn sei dazu vorgetragen worden, "man habe Zweifel an der Zuverlässigkeit bzw. Diskretion des (zu geschwätzigen) Betriebsrats". Außerdem hätten weder Network noch die Bahn nach Abschluss der internen Ermittlungen die betroffenen Mitarbeiter informiert. Die Bahn habe das "nicht für erforderlich gehalten, da die zu Unrecht Verdächtigen anschließend nicht benachteiligt worden seien". miba/o.k.

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Kurzarbeit bei Lufthansa Cargo

München - Die Lufthansa-Frachttochter Lufthansa Cargo will für 2600 Mitarbeiter in Deutschland Kurzarbeit beantragen. Vorstand und Gesamtbetriebsrat hätten sich darauf grundsätzlich verständigt, Details solle eine Verhandlungskommission schnellstmöglich klären, schrieb Lufthansa Cargo am Freitag. Die Firma reagiert damit auf die Trendwende im Transportgeschäft. Bis vergangenen Sommer waren durch die Globalisierung immer mehr Waren verschickt worden, seit dem Herbst hat sich der Trend umgekehrt. Unter dem Rückgang leiden Straßen- und Schienenverkehr und die Seeschiffahrt, bei der teuren Luftfracht sind die Rückgänge aber am stärksten. Bei Lufthansa Cargo fiel die Luftfracht-Menge im Dezember im Vergleich zum Vorjahr um mehr als ein Fünftel. "Nachdem wir schon unsere Frachterkapazitäten reduziert haben, macht die gegenwärtige Unternehmenssituation Anpassungen beim Personal unumgänglich", wird Lufthansa-Cargo-Chef Carsten Spohr in der Firmenmitteilung zitiert. henh

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Porsche mit Motorschaden

Der Absatz fällt um ein Viertel, daher legt der Sportwagenbauer ein Sparprogramm auf. Aktionäre kritisieren den undurchsichtigen VW-Deal

Von Dagmar Deckstein

Stuttgart - So viel Aufmerksamkeit hat es lange nicht mehr für eine Hauptversammlung des Sportwagenherstellers Porsche gegeben, zumal die freien Aktionäre hier ohnehin nichts zu sagen haben. Höchstens zu hören gibt es immer etwas für sie, und dafür waren diesmal sage und schreibe knapp 8000 Aktionäre an den Neckar geeilt - doppelt so viel wie im Vorjahr. Früher konnten sie sich eins ums andere Mal an immer neuen Rekordzahlen erfreuen, doch an diesem Freitag kamen sie wegen der sich überstürzenden Ereignisse der vergangenen Monate kaum noch mit dem Fragen hinterher.

Wann wird Porsche seine VW-Anteile von 50 auf 75 Prozent aufstocken? Wie wird der Autobauer durch die finstere Branchenkrise steuern? Warum notiert die VW-Aktie weit über, die Porsche-Aktie aber weit unter dem substantiellen Unternehmenswert? Letzteres erklärten Vertreter der Kleinaktionäre damit, dass sich Porsche nach wie vor geheimniskrämerisch gibt und wie ein Schachspieler den nächsten Zug höchstens erahnen lässt. Erstmals trat auch ein Vertreter des Londoner Hedgefonds Hermes in die Bütt und ereiferte sich heftig über den Mangel an Transparenz, den Porsche an den Tag lege. Ausgerechnet Hans-Christoph Hirt, der Hedgefonds-Manager, warf Porsche vor, sich wie ein Hedgefonds zu gerieren. Hermes aber habe in einen Autohersteller investiert.

Doch wollte oder konnte Konzernchef Wendelin Wiedeking trotz des erfolgreichen Coups vom Oktober - als Porsche überraschend mitteilte, schon 43 Prozent an VW und Optionen für knapp 75 Prozent zu besitzen - kein Höchstmaß an Transparenz bieten. "Unser Ziel ist es nach wie vor, die VW-Beteiligung in überschaubarer Zeit auf 75 Prozent der Stammaktien aufzustocken, um den Weg für einen Beherrschungsvertrag freizugeben. Aber erwarten Sie jetzt von mir kein Datum", rief er den Fragenden zu. Wie sollte er auch eines nennen, wo er in seiner Rede doch einen ausführlichen Blick richtete auf die "neue, noch unbekannte Qualität der aktuellen Krise" und auf die Prognostiker, von denen keiner auch nur ansatzweise die Wucht des Wirtschaftseinbruchs vorausgesehen habe. "Prognosen dienen in erster Linie der Unterhaltung des Publikums", befand Wiedeking.

Im Übrigen habe Porsche immer klar gemacht, dass die Mehrheitsübernahme von Volkswagen kein "Sonntagsspaziergang" werden würde. Dass Porsche die Übernahme durch Aktienoptionsgeschäfte mit Barausgleich sozusagen durch die Hintertür vorantreibt, hatten Fondsmanager und andere Investoren als Marktmanipulation gegeißelt. "Unerhört, rufschädigend", raunzte Wiedeking nur, "wir haben uns strikt an geltendes Recht gehalten." Überhaupt liege dem Einstieg bei Volkswagen industrielle Logik zugrunde, nicht das Ziel, auf Kosten Dritter Vermögen zu mehren.

Als Autohersteller stehen auch die erfolgsverwöhnten Zuffenhausener mit Motorschaden am Straßenrand. Das erste Geschäftshalbjahr, das an diesem Samstag endet, zeigt einen Rückgang von 27 Prozent im Fahrzeugverkauf auf 34 000, aber nur einen 14-prozentigen Rückgang beim Umsatz auf drei Milliarden Euro. Wegen der VW-Beteiligung werde das Vorsteuerergebnis der Porsche Automobil Holding SE jedoch höher sein als im Vorjahr mit 1,66 Milliarden Euro, so Wiedeking. Porsches Antwort auf die Krise lautet Produktionsstopp und Sparprogramm. Nachdem das Unternehmen im Stammwerk Zuffenhausen bereits im Dezember und Januar eine Arbeitspause von elf Tagen verordnet hatte, sollen die Werker bis zu den Sommerferien weitere 19 Tage pausieren. Insgesamt werden dann 4800 Autos weniger gebaut als geplant. "Wir produzieren immer ein Auto weniger als der Markt verlangt", so Wiedekings Devise. Porsche denke gar nicht daran, "diese unsägliche Rabattpolitik" der Wettbewerber mitzumachen. Entlassungen seien nicht geplant.

Porsche-Chef Wendelin Wiedeking will die Beteiligung an Volkswagen "in überschaubarer Zeit" aufstocken. Ein Datum möchte er jedoch wegen der Unwägbarkeiten der Krise nicht nennen. Foto: AP

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Austrian muss massiv sparen

Airline kürzt Kapazität und Gehälter, plant aber keine Entlassungen

Frankfurt - Nach dem erzwungenen Rücktritt von Austrian-Airlines-Chef Alfred Ötsch verschärfen seine Nachfolger Andreas Bierwirth und Peter Malanik den Sparkurs. Noch im laufenden Jahr wollen sie die Kosten um 225 Millionen Euro senken, um auf die drastisch eingebrochene Nachfrage zu reagieren und eine möglicherweise drohende Insolvenz des Unternehmens noch vor dem geplanten Einstieg der Lufthansa abzuwenden.

Die Lufthansa will Austrian vollständig übernehmen, wartet aber noch auf die Genehmigung der Europäischen Kommission. Der derzeitige Hauptaktionär, die österreichische Staatsholding ÖIAG, hatte im Dezember einen Kredit von 200 Millionen Euro bereit gestellt, mit dessen Hilfe Austrian die Übergangsphase überstehen soll. Es gibt aber erste Anzeichen dafür, dass dieses Geld nicht reichen könnte.

Austrian will nun unter anderem die Kapazität um zehn Prozent kürzen, geplant waren bislang nur fünf Prozent. Die Mitarbeiter sollen zeitweise auf Lohn verzichten, Bierwirth und Malanik kürzen sich selbst das Gehalt um zehn Prozent. Entlassungen stehen aber angeblich vorerst nicht auf der Tagesordnung. Bis 2012 will das Unternehmen aber die Kosten um weitere 200 Millionen Euro jährlich senken, um dann eine in guten Zeiten branchenübliche Umsatzrendite von etwa sechs bis sieben Prozent zu erreichen. (Seite 24) jfl

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ROCHE

Feindliche Übernahme

Zürich - Der Pharmakonzern Roche erhöht bei der Übernahme der US-Biotechfirma Genentech den Druck. Die Schweizer, die bisher auf eine einvernehmliche Verhandlungslösung gesetzt hatten, legten über die Köpfe des Genentech-Managements hinweg den Aktionären eine einseitige und damit "feindliche" Übernahmeofferte vor. Dabei reduzierte Roche, die bereits 56 Prozent an Genentech halten, den Übernahmepreis für das restliche 44-Prozent-Paket um zwei Milliarden auf 42 Milliarden Dollar. Damit will Roche die sich seit Juli hinziehende Angelegenheit beschleunigen. Reuters

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EXXON MOBIL/CHEVRON

Rekordgewinne

New York - Neuer Gewinnrekord: Der weltweit größte börsennotierte Ölkonzern Exxon Mobil hat im vergangenen Jahr mit mehr als 45 Milliarden Dollar den bisher höchsten Gewinn eines US-Unternehmens erzielt. Der Überschuss stieg gegenüber 2007 um elf Prozent. Auch der zweitgrößte US-Ölkonzern Chevron verdiente 2008 so viel wie nie zuvor. Der Gewinn legte um fast 30 Prozent auf 23,9 Milliarden Dollar zu. Der inzwischen stark gefallene Ölpreis drückte jedoch im vierten Quartal bei beiden Konzernen schwer auf den Gewinn, wie sie am Freitag mitteilten. dpa

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"Ich verdiene gutes Geld"

Die 80 Millionen Euro für Wiedeking provozieren kritische Fragen

Es scheint für viele unfassbar zu sein. Kritik an der enormen Höhe des Gehalts von Wendelin Wiedeking zieht sich wie ein roter Faden durch die Redebeiträge der Aktionärsvertreter bei der Hauptversammlung in der Stuttgarter Porsche-Arena. "Das hundertfache Einkommen eines durchschnittlichen Arbeitnehmers ist zu viel", sagt ein Redner. Angesichts der Finanzkrise findet ein anderer Kleinaktionär das "geradezu obszön". Auf 80 Millionen Euro wird das Gehalt des Vorstandsvorsitzenden von Porsche für das abgelaufene Geschäftsjahr geschätzt. Ganz genau weiß man es nicht. Denn Porsche weist nur die Gesamtbezüge des kompletten Vorstands aus und ignoriert damit den Corporate Governance Kodex für die Grundsätze einer ordentlichen Geschäftsführung.

Wiedeking selbst geht das Thema Gehalt offensiv an: "Es ist richtig, ich verdiene gutes Geld." Er ist Porsche-Chef seit September 1992, als der Sportwagenhersteller fast konkursreif war. 1994 beteiligte er sich bei einer Kapitalerhöhung mit seinem Privatvermögen. 1993 bekam Wiedeking einen Vertrag, demzufolge er vom Vorsteuergewinn 0,87 Prozent erhält. Das ist die Klausel, die ihm großen Reichtum bescherte - nachdem er Porsche aus einer sturmreifen Bruchbude in den profitabelsten Autohersteller der Welt verwandelt hatte.

Länger schon ist Wiedeking nun der am besten verdienende Manager in Deutschland. Das lenkt viel Kritik auf ihn. Denn durch die Optionsgeschäfte beim Kauf der Mehrheit an Volkswagen steigerte er den Porsche-Gewinn und sein persönliches Einkommen in eine Größenordnung, die viele Aktionäre unfassbar, in jedem Fall aber unanständig finden. Da wird dann auf die fünf Millionen Euro verwiesen, mit der die Lufthansa ihren Chef entlohnt.

Wiedeking ficht das nicht an; er sagt sogar, was er mit seinem hohen Einkommen macht. Die Hälfte geht an den Fiskus, und zwar ausschließlich den deutschen. Zwei mal fünf Millionen Euro hat er in Stiftungen gesteckt für bedürftige Bürger in seinem baden-württembergischen Wohnort und jene Gemeinde in Nordrhein-Westfalen, in der er aufgewachsen ist. Schließlich erlaubt er sich auf der Hauptversammlung den Hinweis auf seine privaten Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen - in einer Schuhfabrik, einer Gastwirtschaft, in Verbindung mit Immobilien.

Einmaliges Kunststück

Der Aufsichtsratsvorsitzende Wolfgang Porsche wiederum hat schon vor der Rede Wiedekings die Aktionäre darauf hingewiesen, dass die Erfolgsbeteiligung des Vorstands in beide Richtungen funktioniert. Sinkt der Gewinn, sinken auch die Bezüge der Topmanager.

Und der Gewinn wird sinken. "Trotz aller heutigen und künftigen Anstrengungen wird jedenfalls das Kunststück, das wir abgeliefert haben, wohl kaum zu wiederholen sein", sagt selbst Wiedeking. Der Gewinn ist höher als der Umsatz, das hat vorher noch kein Industrieunternehmen auf der Welt geschafft. Bei Porsche stieg das Ergebnis vor Steuern um 46 Prozent auf 8,6 Milliarden Euro, der Umsatz um 1,3 Prozent auf 7,5 Milliarden Euro. Das ist, räumt sogar der Supermanager ein, "schon deshalb nicht wiederholbar, weil wir für das laufende Geschäftsjahr erstmals eine vollkonsolidierte Bilanz vorlegen müssen, die logischerweise die VW-Zahlen beinhaltet". Und einen Gewinn auszuweisen, der den Umsatz von Porsche plus Volkswagen übersteigt, sei "schlechterdings unmöglich". Denn die hohen Gewinne aus Aktienoptionsgeschäften sind nicht für beliebig lange Zeit zu erzielen. Zumal die Zocker von Zuffenhausen stets betonen, dass sie sich auf diese Art von Spekulation nur verlegen, um ihr industriepolitisches Ziel der VW-Übernahme zu erreichen.

Eines also steht fest: Wendelin Wiedeking, 56, wird für das laufende, zur Jahresmitte endende Geschäftsjahr weniger bekommen als für das davor. Weniger, das heißt in seinem Fall nicht wenig, sondern: weniger als 80 Millionen Euro. Michael Kuntz

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Amazon schlägt Ebay im Weihnachtsgeschäft

Das Internetkaufhaus erwirtschaftet durch Rabattaktionen ein gutes Ergebnis im vierten Quartal. Der Aktienkurs steigt deutlich

München - Ein Rabatt kann Wunder wirken, wenn der Kunde wie in diesen Zeiten zweimal überlegt, ob er ein Produkt kaufen soll oder nicht. Amazon.com ist auf diese Weise im Weihnachtsgeschäft eine Überraschung gelungen: Trotz Abschwungs war das Quartalsergebnis besser als erwartet, auch der Ausblick überzeugte. Die Aktie stieg am Freitag um mehr als zehn Prozent. Das Discounter-Gebahren soll trotzdem die Ausnahme bleiben: "Der Günstigste zu sein, ist für ein Unternehmen kein ehrenhaftes Ziel - keines, was es durchhalten könnte", sagte Amazon-Deutschlandchef Ralf Kleber der Süddeutschen Zeitung.

Im vierten Quartal haben Rabattaktionen Amazon zu einer guten Bilanz verholfen. Der Umsatz stieg um 18 Prozent auf 6,7 Milliarden Dollar. Das Gewinnwachstum konnte wegen der Sonderangebote nicht mithalten: Das Ergebnis verbesserte sich um etwa neun Prozent auf 225 Millionen Dollar. Damit verringerte das weltweit größte Internetkaufhaus auch den Abstand zu Ebay. Das Auktionshaus setzt mittlerweile vermehrt auf den Verkauf von Neuware, musste aber im Weihnachtsquartal erstmals in der Unternehmensgeschichte einen zurückgehenden Quartalsumsatz melden. Im laufenden Berichtszeitraum will Amazon zwischen 145 und 210 Millionen Dollar verdienen und zwischen 4,53 und 4,93 Milliarden Dollar umsetzen. Auch damit lag der Konzern über den Erwartungen.

Vor dem konjunkturellen Abschwung ist aber auch das Internetkaufhaus nicht gefeit. Die Erlöse in den Vereinigten Staaten stiegen im vierten Quartal noch um 18 Prozent, zuvor konnte Amazon-Chef Jeff Bezos dort ein Plus von 40 Prozent verbuchen. Derzeit hat Amazon damit zu kämpfen, dass die Elektronikkette Circuit City in den USA Insolvenz angemeldet hat und Warenbestände auflöst.

Deutschlandchef Kleber hofft auf Wachstum bei Amazon außerhalb des Heimatmarktes. "Die Gesamtheit aller internationalen Märkte muss in der Lage sein, mehr Umsatz zu generieren als die Vereinigten Staaten allein", sagte er. Im vergangenen Jahr lag der Umsatzanteil im Heimatmarkt bei 47 Prozent. rdl

Amazon-Mitarbeiter stellen Sendungen zusammen. Foto: Bloomberg

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Prächtige Kulisse

Modemessen wollen dynamischer wirken - und ziehen auf Flughäfen

Von Stefan Weber

Düsseldorf - Die Modebranche zieht es in die Flughäfen. In der "Station Airport", dem gerade fertiggestellten Fernbahnhof am Düsseldorfer Flughafen, findet an diesem Samstag die Auftaktparty der weltgrößten Modemesse Igedo Fashion Fairs statt. Und im Juli erweckt der Berliner Modemessen-Macher Karl-Heinz Müller den Berliner Flughafen Tempelhof zu neuem Leben. Im Vorfeld des vor einigen Monaten stillgelegten Airports und in den anliegenden Hangars sollen auf der "Bread & Butter" mehrere hundert Firmen Mode zeigen. Flughäfen, so haben die Messe-Veranstalter entdeckt, bieten eine prächtige Kulisse für Mode-Inszenierungen.

Wenn die Geschäfte schwieriger werden, muss mehr Glamour her. Das gilt vor allem für die Veranstaltung in Düsseldorf, die in den vergangenen Jahren deutlich an Bedeutung verloren hat. "Wenn wir weitermachen wie bisher, wird es die Modemesse irgendwann nicht mehr geben", sagt Philipp Kronen, geschäftsführender Gesellschafter der veranstaltenden Igedo Company. Ende vergangenen Jahres hat der 43-Jährige die Führung des Unternehmens übernommen, das mehrheitlich Eigentum der Messe Düsseldorf ist.

Wie nötig Veränderungen sind, zeigt ein Blick auf die Ausstellerzahlen: Von Sonntag bis Dienstag treten in sechs Hallen 1450 Aussteller an, 300 weniger als im Sommer vergangenen Jahres. Ein Großteil dessen, was sich früher auf der Messe abspielte, hat sich in so genannten Showrooms verlagert. Das sind stadtweit mehr als 500 Ausstellungsräume, in denen Hersteller ihre Kollektionen zeigen. Kronen will diese Neuheiten-Vorstellungen für die Messe zurückgewinnen.

Die Entwicklung der Igedo ist allerdings auch ein Spiegel der Entwicklung in der seit Jahren mit Überkapazitäten kämpfenden Modebranche. Die Zahl inhabergeführter Fachgeschäfte schrumpft, Marktanteile gewinnen stattdessen Hersteller, die auch Händler sind: H&M ist der prominente Vorreiter dieser so genannten Vertikalisierung, und die Strategie findet Nachahmer: Esprit, Boss, Bugatti, Gerry Weber; alle verkaufen ihre Waren inzwischen in eigenen Läden. Sie benötigen keine Messe als Plattform für neue Kollektionen.

Zusätzliche Probleme macht die Konjunktur. Viele Händler ordern weniger, um nicht bei zurückgehender Konsumlust auf Ware sitzen zu bleiben. Tatsächlich halten sich die Verbraucher beim Modeeinkauf zurück. Nach Angaben der Fachzeitschrift Textilwirtschaft hat der Bekleidungshandel in den ersten Wochen des Jahres neun Prozent weniger umgesetzt als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Eine Filiale von H&M in Frankfurt: Die Kette hat Erfolg. Foto: dpa

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Süßwaren als Seelentröster

Die Naschwarenbranche macht auch in der Krise gute Geschäfte und verspricht, dass die Preise nicht so stark steigen wie 2008

Von Stefan Weber

Köln - Für Lukas Podolski ist es an diesem Sonntag ein Heimspiel. Zwar wechselt der gebürtige Kölner erst im Sommer von Bayern München zum Ligakonkurrenten an den Rhein. Aber als Werbeträger hat der Fußball-Nationalspieler schon jetzt einen Auftritt in der Domstadt. Im Auftrag des Gebäckherstellers Griesson-de Beukelaer wird "Prinz Poldi", wie ihn der Boulevard nennt, auf der Internationalen Süßwarenmesse (ISM) für den Schokokeks "Prinzenrolle" in die Kameras lächeln. Der Andrang am Stand des Familienunternehmens aus Polch wird gewaltig sein.

Soviel Aufmerksamkeit tut der Messe gut. Denn mit dem Fruchtgummi- und Lakritzhersteller Haribo sowie dem Kaugummianbieter Wrigley bleiben dem weltweit wichtigsten Branchentreff erneut zwei prominente Unternehmen fern. Andere Hochkaräter der süßen Branche wie Ferrero, Kraft Foods, Nestlé oder Lindt sind schon länger nicht mehr dabei, wenn die Branche Anfang jedes Jahres in Köln zusammenkommt. Zur Begründung heißt es, Aufwand und Ertrag stünden nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis. Mal wird der Termin kritisiert, mal verweisen die Unternehmen auf andere Veranstaltungen, wo sie sich über neue Produkte informieren.

"Das Fehlen einiger Top-Anbieter signalisiert die Notwendigkeit, das Konzept weiterzuentwickeln", räumt Peter Grothues, Geschäftsbereichsleiter der Kölner Messe, ein. Stellenwert und Funktion der ISM sieht er angesichts von erneut etwa 1600 Ausstellern zwar nicht in Gefahr. Aber gemeinsam mit vielen marktführenden Unternehmen werde nach "neuen konzeptionellen Ansätzen" gesucht. Was das im Detail bedeutet, will Grothues noch nicht verraten.

Die Geschäfte der Süßwarenhersteller laufen gut. Denn die Verbraucher in Deutschland lassen sich den Appetit auf Schokolade, Fruchtgummi und Kekse durch die Wirtschaftskrise nicht nehmen. Der Einzelhandel verzeichnete im vergangenen Jahr ein Umsatzplus von vier Prozent; die Hersteller haben ihren Inlandsumsatz gar um fünf Prozent gesteigert. Allerdings resultierte das Plus im Wesentlichen aus Preiserhöhungen. Angesichts der stark gestiegenen Notierungen für wichtige Rohstoffe - insbesondere Kakao - mussten die Verbraucher für Naschereien deutlich tiefer in die Geldbörse greifen. Eine Tafel Schokolade beispielsweise kostete nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in der Vorweihnachtszeit 18,5 Prozent mehr als zwölf Monate zuvor.

Sport-Großereignis fehlt

So schlimm wird es diesmal für die Liebhaber süßer Sachen nicht kommen. Branchenvertreter stellten im Vorfeld der Messe stabile Preise in Aussicht. Sicher ist das allerdings nicht. Denn der für die Branche wichtige Kakaopreis schwankt nach Auskunft von Tobias Bachmüller, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) nach wie vor sehr stark. Zudem seien auch die Kosten für Personal, Verpackung und Logistik erheblich gestiegen. Nach wie vor sind Süßwaren nach einer Untersuchung der Marktforscher von AC Nielsen nirgendwo in Europa so billig wie in Deutschland. In Spanien beispielsweise, so haben Tester herausgefunden, zahlen die Verbraucher für einen Warenkorb mit zwölf identischen Markenprodukten 23 Euro und damit mehr als fünf Euro mehr als in Deutschland.

Bachmüller, im Hauptberuf geschäftsführender Gesellschafter beim Fruchtgummihersteller Katjes, rechnet damit, dass die Verbraucher nicht weniger naschen als 2008. Im vergangenen Jahr verzehrte jeder Bundesbürger im Durchschnitt 31,27 Kilogramm Süßwaren im Wert von insgesamt 112 Euro. Möglicherweise führe die Flut schlechter Nachrichten sogar dazu, dass mancher Verbraucher häufiger Trost bei Süßigkeiten suche, so hoffen Branchenvertreter. Im Trend liegen insbesondere hochwertige Schokoladenartikel. Dagegen sind die Prognosen für Knabberartikel, wie Chips, Salzstangen und Nüsse, die häufig beim Fernsehen verzehrt werden, nicht so günstig. Denn im laufenden Jahr steht kein sportliches Großereignis an, das die Verbraucher wochenlang vor den Bildschirm lockt.

Risiken für die Hersteller sieht Bachmüller in dem für die Branche zuletzt immer wichtiger gewordenen Export. Die Unternehmen erwirtschaften inzwischen etwa 44 Prozent ihres Umsatzes im Ausland. Entsprechend anfällig sind sie gegen Währungsschwankungen.

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Die Freiheit nehm' ich mir

Sparkasse in NRW kündigt Visa nach Gebührenstreit

Frankfurt - Der Streit um die Nutzung von Visa-Kreditkarten an Geldautomaten der Sparkassen spitzt sich zu. Als bundesweit erste Sparkasse kündigte nach eigenen Angaben jetzt ein Geldinstitut in Nordrhein-Westfalen den Vertrag mit dem Kreditkartenunternehmen. "Ab dem 28. Februar 2009 gehen die Sparkasse Dinslaken-Voerde-Hünxe und Visa-Card getrennte Wege", schrieb das Institut an seine Kunden. "Ab diesem Termin ist Ihre Visa-Card ungültig." Die Sparkasse hat den Angaben zufolge unter ihren eigenen Kunden etwa 500 Visa-Kartennutzer. Auch andere Sparkassen erwägen eine Kündigung, etwa die in Heilbronn und in Siegen.

Hintergrund des seit Monaten schwelenden Streits: Den Sparkassen ist die Gebühr zu niedrig, die sie erhalten, wenn Kunden von Direktbanken mit der Visa-Karte ihre Geldautomaten nutzen. Die Visa-Vertragsbedingungen sehen eine Gebühr von 1,74 Euro pro Abhebung vor, die von Direktbanken wie Ing-Diba oder Comdirect an die Sparkassen zu entrichten ist. Hebt jedoch ein Kunde mit einer EC-Karte bei einem Konkurrenten seiner Hausbank Bargeld am Automaten ab, werden um die 4,50 Euro fällig. Zwischenzeitlich hatten etliche Sparkassen ihre Automaten für Visa-Kunden von Direktbanken gesperrt, in mehreren Gerichtsverfahren bekam mal die eine, mal die andere Seite Recht.

"Visa hat das Interesse, dass dieser Konflikt nun schnell gelöst wird", sagte ein Sprecher des Unternehmens am Freitag der Deutschen Presse-Agentur dpa in Frankfurt. Für die nächsten Wochen sei ein Gespräch mit Sparkassen und Direktbanken geplant. Die Diskussion beschädigt nach Einschätzung von Experten auch das Image der Marke Visa. In Deutschland waren nach Unternehmensangaben Ende des Geschäftsjahres 2007/08 (30.9.) 15,9 Millionen Visa-Karten im Umlauf. dpa

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Unicredit denkt über Staatshilfen nach

Mailand - Die italienische Großbank Unicredit, zu der auch die Hypo-Vereinsbank gehört, zieht ähnlich wie andere Banken in Europa und den USA staatliche Kapitalhilfen in Betracht. Denkbar sei eine "staatliche Unterstützung als Versicherung für nicht vorhersehbare Ereignisse", sagte Konzernchef Alessandro Profumo im Handelsblatt. Der Wettbewerb sei durch die Rettungsaktionen der Regierungen sehr ungleich geworden, klagte Profumo: "Falls wir irgendwo um staatliche Hilfen bitten müssen, wäre das zum Beispiel in Österreich denkbar - wegen der Risiken in den osteuropäischen Nachbarstaaten". Die Unicredit-Tochter Bank Austria mit Sitz in Wien ist die am stärksten in Osteuropa vertretene Bank. Wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich dort die wirtschaftliche Lage in den vergangenen Monaten massiv verschärft. Trotz der Probleme werde sich Unicredit nicht aus diesen Märkten zurückziehen, sagte der Unicredit-Chef.dpa

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Belgische Bank tief in den roten Zahlen

Brüssel - Die Finanzkrise hat dem belgisch-französischen Finanzkonzern Dexia nach eigenen Schätzungen 2008 einen Verlust von drei Milliarden Euro eingebrockt. Der weltweit größte Kommunalkreditfinanzierer kündigte am Freitag an, 900 seiner rund 35 000 Arbeitsplätze zu streichen. Dividenden und Manager-Boni für das vergangene Jahr seien gestrichen, die Managergehälter würden 2009 gekürzt. Die Aktie brach um fast acht Prozent ein, denn Analysten hatten einen Verlust von weniger als zwei Milliarden Euro vorhergesagt. Allein im vierten Quartal erlitt Dexia einen Nettoverlust von 2,3 Milliarden Euro. Im November hatte die Bank angekündigt, die Kosten in den nächsten drei Jahren um 15 Prozent oder 600 Millionen Euro senken zu wollen. Reuters

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Schadenersatz nicht steuerpflichtig

München - Wer aus einem Schadenersatzanspruch eine Rente erhält, muss diese nicht versteuern. Das geht aus einem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) hervor. Im konkreten Fall war ein Mann nach einem ärztlichen Kunstfehler gestorben. Die Witwe erhielt daraufhin von der Versicherung des Arztes eine Rente von monatlich 2000 Mark (etwa 1022 Euro) - diese Rente ersetzte ihr den entgangenen Unterhalt. Vor seinem Tod hatte der Mann jahrelang den Unterhalt für seine Frau getragen. Der BFH entschied nun, dass nur Leistungen besteuert werden dürfen, die andere versteuerbare Einnahmen ersetzen. Der Unterhalt durch den Mann zähle nicht dazu, befanden die Richter (Aktenz. X R 31/07). mvö

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Porsche macht Pause

Die weltweite Absatzkrise macht nun auch Porsche zu schaffen. Der erfolgsverwöhnte Sportwagenbauer will die Produktion drosseln und die Kosten massiv senken. Man plane bis zum Beginn der Sommerpause im Stammwerk an weiteren 19 Tagen nicht zu arbeiten, sagte Vorstandschef Wendelin Wiedeking am Freitag. Die Anleger reagierten gelassen auf die Ankündigungen. Die Aktie des Autokonzerns verteuerte sich um 1,25 Prozent. Immerhin: "Kurzarbeit oder gar Entlassungen stehen bei uns jedenfalls aktuell nicht auf der Agenda", so der Konzernchef.

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Der drohende Verlust der Top-Bonitätsnote Irlands hat Devisenhändlern zufolge den Euro am Freitag unter Druck gesetzt. Die Gemeinschaftswährung fiel bis auf 1,2802 Dollar und war damit rund eineinhalb US-Cent billiger als zum New Yorker Vortagesschluss. Auch zum britischen Pfund verlor der Euro an Wert und kostete nur noch 0,8946 Pence. Die Ratingagentur Moody's hatte gewarnt, Irland könne seine "AAA"-Bonitätseinstufung verlieren, wenn die öffentlichen Finanzen des Landes hart von den Auswirkungen der Finanzkrise und der steigenden Verschuldung getroffen würden.

Aus Furcht vor einer weltweiten Rezession griffen Anleger verstärkt zu den als sicher geltenden Edelmetallen. Gold verteuerte sich in London auf 919,50 (Vortag: 892,25) Dollar je Feinunze. Im Gegenzug gerieten die Preise für Basismetalle erneut ins Rutschen. SZ/Reuters

Devisen und Rohstoffe: Irland schwächt den Euro

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Deutsche Börse: Miese Konjunkturdaten

Der deutsche Aktienmarkt hat sich am Freitag uneinheitlich präsentiert. Der Dax verlor bis 16.15 Uhr 1,05 Prozent auf 4382 Punkte. Der MDax verbesserte sich dagegen um 0,33 Prozent auf 5082 Punkte. Für den TecDax ging es leicht nach unten: Der Technologiewerte-Index verlor 0,3 Prozent und lag bei 480 Punkten.

Vor allem enttäuschende Konjunkturdaten drückten die Stimmung. Die Arbeitslosenquote in der Eurozone erhöhte sich im Dezember stärker als erwartet. Ansonsten standen vor allem wieder die Bankaktien im Mittelpunkt des Börsengeschehens. Das Papier der Commerzbank gehörte mit einem Plus von 1,56 Prozent auf 3,58 Euro zu den Gewinnern. Bei den Anteilsscheinen der Postbank gab es sogar einen Aufschlag von 5,16 Prozent auf 9,57 Euro.

Im MDax stürzten die Titel der Hypo Real Estate (HRE) ab. Das Papier verlor 10,82 Prozent an Wert und kostete noch 1,31 Euro. Die Aktien von Klöckner & Co legten dagegen um 0,53 Prozent auf 11,37 Euro zu. Zuvor hatte der Stahlhändler Zahlen vorgelegt. Im letzten Quartal des Jahres 2008 hatte der Konzern Umsatz und Gewinn trotz Einbußen noch gesteigert. Allerdings gab er keinen Ausblick fürs laufende Geschäftsjahr. Solarwerte litten unter dem Geschäftsbericht und Aussagen der US-Solarfirma Sunpower. Zwar sähen die Zahlen auf den ersten Blick gut aus, nachdem das Ergebnis je Aktie über den Erwartungen gelegen habe. Doch das sei vor allem mit Währungseffekten zu begründen, so ein Analyst. Und so gaben die Titel von Conergy um 4,82 Prozent auf 0,79 Euro nach.

Am Rentenmarkt sank der Bund-Future (Vortag: 122,75) auf 122,36 Euro.

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Marktdaten 30.1.09Vortag Änd.
MDax(16 Uhr)5085,625065,76 + 0,39 %
TecDax(16 Uhr)481,67481,53 + 0,03 %
Euro Stoxx 50(16 Uhr)2253,092269,40 - 0,72 %
Dow Jones(16 Uhr)8112,618149,01 - 0,45 %
Euro Interbanken(16 Uhr)1,28491,2954 -0,0105 $
Gold je Feinunze * 919,50892,25 + 27,25 $
Brent-Öl je Barrel(16 Uhr)46,8145,40 + 1,41 $
10j. Bundesanl.(16 Uhr)3,293,27 + 0,02**
10j. US-Staatsanl.(16 Uhr)2,822,85 - 0,03**
* Londoner Nachmittagsfixing ** Prozentpunkte
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"Das ist beschämend"

US-Präsident Obama giftet gegen die Bankmanager und ihre Boni - dahinter steckt politisches Kalkül

Von Moritz Koch

New York - Die Champagnerkorken an der Wall Street knallen wieder, wahrscheinlich aber knallen sie zum letzten Mal. Mit ihren hohen Bonuszahlungen hat sich die amerikanische Finanzbranche die scharfe Kritik von US-Präsident Barack Obama eingehandelt. Es gilt als sicher, dass die neue Regierung in den kommenden Monaten versuchen wird, Gehaltsexzesse gesetzlich zu verhindern.

Insgesamt strichen Manager und Händler der führenden US-Banken im vergangenen Jahr mehr als 18 Milliarden Dollar ein. Pro Kopf ergibt sich daraus eine Summe von etwa 100 000 Dollar. Dabei stand das amerikanische Finanzsystem wegen Fehlspekulationen und Rekordverlusten am Rand des Zusammenbruchs und hat das ganze Land in den Abgrund gerissen.

Die Wirtschaftsleistung schrumpfte zum Jahresende so stark wie seit 1982 nicht mehr. "Das ist der Gipfel der Unverantwortlichkeit", sagte Obama am Donnerstag im Weißen Haus. "Das ist beschämend." Der Ärger des Präsidenten hat einen einfachen Grund: Der Reibach für die Bankangestellten wurde von den amerikanischen Steuerzahlern mitbezahlt. Die US-Regierung hatte die taumelnden Finanzinstitute in den vergangenen Monaten mit 350 Milliarden Dollar gestützt. Ziel war es, die Kreditvergabe der Banken zu stimulieren. Doch statt es zu verleihen, schütteten die Banken Teile des Geldes an ihre ohnehin gutbezahlten Mitarbeiter aus. Die Bonuszahlungen für 2008 sanken zwar verglichen mit dem Vorjahr um etwa 40 Prozent. Dennoch waren sie die sechsthöchste Summe in der Geschichte der Wall Street.

In der amerikanischen Öffentlichkeit wächst die Wut über die Banker. Dreistigkeit und Verschwendungssucht wird ihnen vorgeworfen. Erst wurde bekannt, dass der frühere Merrill-Lynch-Chef John Thain mitten in der Finanzkrise sein Büro von einem Stararchitekten renovieren ließ. Kostenpunkt: 1,2 Millionen Dollar. Dann machte die Citigroup Schlagzeilen, die sich einen neuen, 50 Millionen Dollar teuren Firmenjet gönnen wollte - ausgerechnet jener Finanzkonzern, der schon zweimal den staatlichen Rettungsfonds anzapfen musste und dem die Zentralbank Risiken in dreistelliger Milliardenhöhe abnehmen musste, um dessen Insolvenz zu verhindern.

Thain hat inzwischen angekündigt, die Renovierungskosten selbst zu begleichen, und die Citigroup will auf den neuen Jet verzichten. Dennoch bleibt der Eindruck von der Maß- und Taktlosigkeit der Bankmanager. Für Obamas Regierung wird es damit immer schwerer, Öffentlichkeit und Kongress zu überzeugen, dem Finanzsystem weiter zu helfen.

Ende der Geduld

Noch stehen Obama 350 Milliarden Dollar zur Verfügung, die zweite Tranche des staatlichen Rettungsfonds. Doch Experten sind der Meinung, dass weit mehr Geld nötig ist, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Dann etwa, wenn Obama die Pläne zur Gründung einer "Bad Bank" umsetzt. Diese würde den Finanzfirmen faule Wertpapierpakete abkaufen und damit ihre Bilanzen von dem Giftmüll befreien, der es den Instituten so schwer macht, private Geldgeber zu finden.

Die beißende Kritik des Präsidenten entspringt daher auch einem politischen Kalkül. Obama macht deutlich, dass er einen Kollaps des Finanzsystems um jeden Preis verhindern will, dass seine Geduld mit den Eskapaden der Banker jedoch am Ende ist. So will er sich die Unterstützung der Öffentlichkeit und des Kongresses sichern, wenn weitere Milliarden bewilligt werden müssen. Finanzminister Timothy Geithner hat bereits klargestellt, dass eine strikte Begrenzung der Managergehälter Teil der angekündigten Reform des Rettungsfonds wird.

Auch eine Vollverstaatlichung des Bankensektors ist längst nicht mehr ausgeschlossen. Da nur noch der Staat bereit ist, im großem Stil in US-Banken zu investieren, wird die Regierung kaum umhinkommen, die Aktienmehrheit zu übernehmen, wenn sie weiteres Kapital in die maroden Institute pumpt. Als Eigentümer könnte der Staat Boni auch ohne neue Gesetze verhindern.

Derweil will der demokratische Senator Christopher Dodd die New Yorker Bankchefs nach Washington zitieren. Wenn Prämien direkt oder indirekt mit Staatshilfen finanziert wurden, "macht das die Amerikaner wütend und zwar zurecht", sagte er und forderte, dass jeder rechtliche Schritt ausgeschöpft werden müsse, um bereits gezahlte Boni zurückzuholen. Rechtsexperten geben einer solchen Initiative aber kaum eine Chance. Die Gesetze New Yorks sehen nur bei unterkapitalisierten Instituten Bonussperren vor. Die meisten Banken gelten jedoch als ausreichend kapitalisiert - dank der staatlichen Milliardenhilfen.

Händler an der Börse in New York sehen die Antrittsrede von Barack Obama: Der neue US-Präsident stört sich daran, dass die Chefs von Banken trotz der kritischen Situation, in der sich ihre Häuser befinden, Boni in Milliardenhöhe kassieren. Foto: AP

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Weltbörsen: Rezession weitet sich aus

Die US-amerikanischen Aktienmärkte sind am Freitag nach den jüngsten Konjunkturdaten mit leichten Gewinnen in den Handel gestartet. Der Dow Jones notierte in den ersten Handelsminuten 0,2 Prozent im Plus bei 8170 Punkten. Der S&P 500 stieg um 0,3 Prozent auf 848 Zähler. Der Nasdaq Composite gewann 0,9 Prozent auf 1521 Zähler.

Die Wirtschaftsleistung in den USA schrumpfte im vierten Quartal nicht so stark wie befürchtet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank um 3,8 Prozent, während die Volkswirte ein auf das Jahr hochgerechnetes Minus von 5,4 Prozent erwartet hatten. Gleichwohl befindet sich die US-Wirtschaft damit nach zwei aufeinander folgenden Quartalen mit negativen Wachstumsraten nunmehr auch offiziell in einer Rezession. Erneut standen zahlreiche Unternehmen mit ihren Quartalszahlen im Fokus. Amazon-Aktien schnellten nach einem überraschenden Gewinnsprung 17 Prozent in die Höhe.

Der europäische Euro Stoxx 50 verlor 0,3 Prozent auf 2263 Punkte. In Tokio belasteten neben Daten zur Industrieproduktion und zur Zahl der Arbeitslosen vor allem die Aktien von Toshiba und Nintendo den Markt. Sie verloren jeweils weit über zehn Prozent. Der Nikkei 225 fiel um 3,1 Prozent auf 7994 Punkte.

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Lehman-Anleger ziehen vor Gericht

Einige Geldhäuser haben die Zertifikate der Pleitebank offensiv vertrieben. Betroffene Sparer fordern nun ihr Geld zurück

Von Markus Zydra

Frankfurt - In den nächsten Monaten kommt es zu den ersten Gerichtsprozessen im Fall der insolventen Bank Lehman Brothers. Etwa 40 000 deutsche Sparer besitzen Lehman-Zertifikate. Diese Inhaberschuldverschreibungen sind nahezu wertlos, seit die Investmentbank am 15. September 2008 Insolvenz angemeldet hat. Viele Anleger fühlen sich nun betrogen. Berater von anderen Instituten wie etwa Citi- oder Dresdner Bank, die die Lehman-Papiere verkauft haben, hätten die Kunden nicht auf die hohen Risiken hingewiesen, so der Vorwurf.

Schadenersatzklagen gegen die beratenden Banken sind jedoch problematisch. Der Kunde muss beweisen, dass er falsch informiert wurde. "Wenn Berater dem Kunden empfohlen haben, ein Festgeldkonto gegen ein Lehman-Zertifikat einzutauschen, dann sehe ich einen Ansatzpunkt", sagt Nikolaus Bömcke, Rechtsanwalt bei der Kanzlei Rössner Rechtsanwälte. Schließlich habe der Kunde dann die Einlagensicherung des Festgelds verloren ohne gesondert darauf hingewiesen worden zu sein.

Schätzungen zufolge haben Anleger 500 bis 800 Millionen Euro in die Zertifikate gesteckt. Besonders Citibank, Dresdner Bank und die Sparkasse 1822direkt haben die Papiere aktiv verkauft; und zwar gern an ältere Menschen. Das Durchschnittsalter der Sparer liege bei 64 Jahren, so die Verbraucherzentrale Hamburg. Im Schnitt hätte jeder Sparer 20 000 Euro investiert. Die Papiere wurden als sichere Anlage verkauft, obwohl - anders als bei Festgeld und Fonds - die Pleite der emittierenden Bank zum Totalverlust führen kann.

Seit 1. November 2007 müssen Banken darauf hinweisen, wieviel Provision sie für den Verkauf eines Finanzprodukts erhalten. Bei Lehman-Zertifikaten sind diese Provisionen sehr lukrativ gewesen, heißt es in Bankenkreisen. Manche Anwälte sehen hier einen Ansatzpunkt für Klagen. Theoretisch muss das Geschäft rückabgewickelt werden, wenn auf die Provisionen nicht hingewiesen wurde. In vielen Fällen ist der Hinweis auf Provisionszahlungen im Kleingedruckten des Prospekts aufgeführt. "Der unterlassene Hinweis auf Provisionen ist aber nur dann ein guter Ansatzpunkt für eine Fehlberatung, wenn die von dem Emittenten an die beratende Bank gezahlten Provisionen in ihrer Höhe marktunüblich gewesen sind", sagt Bömcke. Und selbst dann ist die Sache nach Ansicht der Juristen kein Selbstläufer. "Es gibt das Problem der Kausalität. Der Kunde muss nachweisen, dass er das Zertifikat nicht gekauft hätte, wenn er über die Provisionshöhe Bescheid gewusst hätte", sagt der Münchner Anwalt Peter Mattil. "Das ist nicht leicht zu belegen."

Die meisten Lehman-Zertifikate wurden Anfang 2007 verkauft, die Verjährung der Ansprüche beginnt drei Jahre nach Kaufabschluss. Anleger stehen also nicht unter Zeitdruck mit der Klage. Sie sollten sich sehr gut informieren. Bei einem Streitwert von 20 000 Euro kann die Klage im Verlustfall 4000 Euro kosten.

Dreiste Verkäufer

Glaubt man den Betroffenen, dann gingen manche Banken beim Vertrieb der Papiere sehr dreist vor. "Kunden wollten ihr Festgeld verlängern, da wurde ihnen gesagt, dass dies nur möglich sei, wenn man 50 Prozent des Geldes in Lehman-Zertifikate steckt", berichtet der Düsseldorfer Anlegeranwalt Jens Graf. Hier habe die Bank das Kundeninteresse völlig unberücksichtigt gelassen, sagt Graf.

Dabei ist die Rechtslage in der Finanzberatung eigentlich klar. Das Wertpapierhandelsgesetz sagt, dass der Berater Finanzprodukte nicht verkaufen darf, wenn sie für den Kunden ungeeignet sind. "Er muss sogar davon abraten, wenn ein Kunde für ihn ungeeignete Produkte kaufen will", sagt Mattil.

Die deutsche Lehman-Filiale in Frankfurt: Andere Geldhäuser haben riskante Zertifikate des Instituts an Privatkunden in Deutschland verkauft. Foto: dpa

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