Die Bankenkrise erreicht einen weiteren Höhepunkt: Neue Milliardenverluste, neue Milliardenhilfen

Auf schwankendem Boden

Trotz zusätzlicher Staatsgarantien sehen Fachleute kein Ende des Kursverfalls bei Kreditinstituten

Von Martin Hesse und Markus Zydra

Frankfurt - Die Situation wirkt beängstigend. Weltweit geben Regierungen ihren angeschlagenen Großbanken Garantien, sie leihen Kapital, sie kaufen Anteile - und dennoch fallen die Aktienkurse der Finanzinstitute immer weiter. Am Montag brachen die Kurse deutscher Kreditinstitute zeitweise erneut um bis zu sieben Prozent ein, ehe sie sich am Nachmittag erholten. In Großbritannien wird über eine Verstaatlichung der Großbank Barclays spekuliert, mit weiteren Hiobsbotschaften rechnen die Börsen offenbar auch in Deutschland.

Die jüngste Umfrage der Finanzaufsicht Bafin und Bundesbank ergab, dass von den gut 320 Milliarden Euro, die in jetzt notleidenden Wertpapieren investiert sind, erst ein Viertel abgeschrieben worden ist. "Wenn das so ist, kann man davon ausgehen, dass alle befragten 20 Banken in Deutschland pleite sind und verstaatlicht werden müssen", sagt Dieter Hein, Partner des unabhängigen Analysehauses Fairesearch. Dass die Regierungen große Insolvenzen nach der Lehman-Pleite nicht mehr zulassen werden, gilt als sicher. "Das ist gut für Anleiheninvestoren - aber nicht unbedingt für Aktionäre", sagt Andreas Weese, Bankenanalyst bei Unicredit. Die Beispiele von Teil- oder Komplettverstaatlichungen in Großbritannien zeigten, dass Aktionäre dabei weitgehend enteignet werden können. "Bei der Commerzbank wurde der Kurs durch die Beteiligung des Staates verwässert, außerdem wird das Ergebnis der Bank auf Jahre hinaus unter den hohen Zinsen leiden, die auf die stille Einlage des Bundes gezahlt werden müssen."

Kein Wunder also, dass es weiter abwärts geht. Aktien der Commerzbank und der Deutschen Bank notieren auf dem Stand der frühen 90er Jahre. Die Commerzbank war am Mittwoch nur noch 2,1 Milliarden Euro wert. Bei der Deutschen Bank ist die Marktkapitalisierung auf 9,7 Milliarden Euro geschrumpft (siehe Grafik). Doch der Wertverlust scheint berechtigt. "Die Kreditausfälle der Privat- und Geschäftskunden kommen ja erst noch, nun im Zuge der Rezession", sagt Martin Stürner, Vorstand der Vermögensverwaltung PEH Wertpapier. Darunter könnte vor allem die Commerzbank mit ihrem großen Firmenkundengeschäft leiden, meint Weese. Und niemand wisse genau, wie hoch die Risiken in der Dresdner noch sind.

"Die Finanzbranche wird in einigen Jahren durch Fusionen und Staatsübernahmen ein völlig anderes Gesicht haben", sagt Stürner. Diese Neustrukturierung muss nach Ansicht von Experten gesteuert werden. "Wenn die Staaten schon die Großbanken stützen, dann sollten sie die Institute auch auf Größen zurechtstutzen, die passend zu den nationalen Volkswirtschaften sind", fordert Folker Hellmeyer, Chefanalyst der Bremer Landesbank. Nur so k nne eine Bank künftig auch pleite gehen, ohne dass das Finanzsystem wackelt. "Wir brauchen keine Bankenaristokratie, sondern viele kleine Institute, die konkurrieren."

Einigermaßen rätselhaft mutet an, dass die Banken ihre Verluste aus toxischen Wertpapieren seit 18 Monaten nur häppchenweise ausweisen. Blicken sie selbst nicht durch? "Die Risikosteuerung der Banken ist problematisch. Ich habe einmal den Vorstand einer großen Bank gebeten, mir eine Liste zu erstellen, welche Kredite der Bank erstrangig, welche nachrangig sind, und wieviel Cash als Sicherheit unterlegt ist", erinnert sich Hein. "Die Antwort war, das sei nicht erfassbar." Alle problematischen Vermögenswerte auf Null abzuschreiben, geht auch nicht. "Bei der Deutschen Bank wären das 92 Milliarden Euro bei einem Eigenkapital von 35 Milliarden Euro", so Hein. Eine dreifache Pleite.

Die Deutsche Bank selbst hatte vergangene Woche dargelegt, sie habe ihre Risiken so weit reduziert, dass sie keine weiteren materiellen Verluste erwarte. Anleger bezweifeln das offenbar. Analyst Weese schildert das Szenario, das die Börse derzeit für möglich hält. "Selbst wenn die Deutsche Bank 2009 hypothetisch unter dem Strich zehn Milliarden Euro Verlust macht und der Staat mit einer stillen Einlage einspringen würde, um die Kernkapitalquote bei zehn Prozent zu halten, hat sie nach meinen Berechnungen noch einen Nettobuchwert von etwa 16 bis 17 Euro je Aktie." Weese rechnet allerdings derzeit mit einem Jahresgewinn von 2,7 Milliarden Euro.

Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - Folgen der internationalen Finanzkrise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kerviels Arbeitgeber überrascht

Société Générale verdiente 2008 zwei Milliarden Euro

Von Michael Kläsgen

Paris - Genau ein Jahr nach dem Milliardenverlust durch den Händler Jérôme Kerviel hat die Société Générale (SocGen) am Mittwoch mit einer positiven Nachricht aufgewartet: Trotz der Finanzkrise erwirtschaftete die Bank 2008 schätzungsweise einen Nettogewinn von zwei Milliarden Euro. Der Kurs der Aktie stieg nach der Mitteilung zeitweise steil an, und zwar gegen den Trend. Weltweit verloren Bankaktien am Mittwoch weiter an Wert.

Analysten waren sich darüber einig, dass das Ergebnis von SocGen, das die Bank am 18. Februar bei der Bilanzvorlage offiziell bestätigen muss, nicht überragend ist. Es zeige aber, dass Banken auch in Krisenzeiten Geld verdienen können, und das sogar im besonders schwierigen vierten Quartal 2008. Die SocGen tat dies vor allem im Privatkundengeschäft. Die Vermögensverwaltung und das Investmentbanking litten wie überall.

SocGen erhält vom Staat weitere 1,7 Milliarden Euro, wodurch sie ihre Eigenkapitalquote von 8,5 auf "knapp neun Prozent" steigern kann. Fünf andere führende französische Banken bekommen ebenfalls zusätzliche Staatshilfe aus einem weiteren Topf im Wert von 10,5 Milliarden Euro. Der Umfang der Pakete von 21 Milliarden Euro zeigt, das sich die französischen Banken relativ gut aus der Affäre ziehen, worauf auch die Regierung hinwies.

Diese knüpfte die Vergabe des Geldes an den Verzicht der Führungskräfte auf ihr variables Gehalt. Am Dienstagabend erklärten sich alle Top-Bankiers, darunter auch SocGen-Chef Frédéric Oudéa, nach zeitweiligem Widerstand dazu bereit. Die Regierung will nun auch einen Verzicht der Top-Manager in der Autoindustrie erreichen. Einen Zeitungsbericht, wonach SocGen seine Vermögensverwaltung mit der von Crédit Agricole verschmelzen wolle, kommentierten Bankensprecher nicht.

Societe Generale: Bilanzberichte Folgen der internationalen Finanzkrise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aufrüstung in Afghanistan

Nato fordert mehr Soldaten gegen zunehmenden Terror

Brüssel - Die USA drängen ihre europäischen Verbündeten, die Zahl der Nato-Soldaten in Afghanistan deutlich und schnell zu erhöhen. Noch vor seiner Vereidigung hatte der neue amerikanische Präsident Barack Obama keine Zweifel daran gelassen, dass er nicht nur mehr amerikanische Soldaten schicken werde, sondern dass er Vergleichbares von den anderen Bündnisländer erwarte. Der US-General und Nato-Oberbefehlshaber Bantz Craddock fordert eine Aufstockung der von der Nato geführten internationalen Schutztruppe Isaf um 40 Prozent: von 55 000 auf 75 000 Soldaten.

Warum Washington und die Nato-Führung dies verlangen, zeigt die Bilanz der Allianz für das abgelaufene Jahr. Danach war 2008 ein schlechtes Jahr. Der Chef des Nato-Stabes, der deutsche General Karl-Heinz Lather, spricht zwar vorsichtig davon, dass die "Rahmenbedingungen des Einsatzes weiterhin schwierig" sind. Aber die Zahlen, die er am Mittwoch präsentierte, zeigen, dass die Allianz in Afghanistan einen zunehmend gefährlichen Kampf kämpft. Im Vergleich zu 2007 ist die Zahl von Gefechten mit Taliban, Stammesmilizen oder Drogenbanden um 33 Prozent gestiegen. Es gab um 27 Prozent mehr Anschläge mit Sprengfallen. Die Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte haben sich mehr als verdoppelt. Und es hat mehr Opfer gegeben. So ist nach Angaben der Nato die Zahl der getöteten Zivilisten um bis zu 46 Prozent und die der gefallenen Isaf-Soldaten um 35 Prozent gestiegen. Das Bündnis macht keine Angaben über die absolute Zahl der eigenen Opfer. In Afghanistan gibt es nach Lathers Angaben aber auch positive Entwicklungen. So habe die afghanische Armee dreizehn weitere Bataillone auf die Beine gestellt, und eine immer größere Zahl dieser Einheiten sei "in der Lage, eigenständige Operationen durchzuführen".

Neben der dauerhaften Verstärkung der Truppen braucht die Nato in diesem Jahr aber zusätzlich eine zeitweise Aufstockung von voraussichtlich 10 000 Soldaten, um die Wahlen in Afghanistan zu schützen. Die Verstärkung der Streitmacht in Afghanistan wird die Verteidigungsminister der Allianz bei ihrem Treffen Mitte Februar im polnischen Krakau beschäftigen. Dann wird es auch darum gehen, ob Luftüberwachungsflugzeuge vom Typ Awacs, wie von der militärischen Führung der Nato schon länger gewünscht, am Hindukusch eingesetzt werden können. Die militärischen Planungen für ihre Mission sind nach Angaben von Lather schon so weit gediehen, dass sie im Frühjahr beginnen könnte. Doch eine politische Einigung über ihren Einsatz steht immer noch aus. Bislang lehnt Frankreich den Einsatz ab, weil es nicht bereit ist, seinen Anteil von 100 Millionen Euro zu tragen.

Sollte Paris seinen Widerstand im Februar oder aber auf dem Nato-Gipfel Anfang April in Baden-Baden und Straßburg aufgeben, dann muss sich der Bundestag damit beschäftigen. Denn Deutschland stellt einen großen Teil der Awacs-Besatzungen. Es ist die Rede von 200 bis 250 Soldaten. In der Bilanz der Nato finden sich zumindest einige positive Zahlen über die Sicherheitslage. So hätten die "Vorfälle" in der Hauptstadt Kabul und in der Region Gamsir um fast die Hälfte nachgelassen. Dass der generelle Trend in eine andere Richtung geht, mag aber an etwas liegen, was die Nato auch registriert hat: Die Aufständischen bedienen sich "zunehmend asymmetrischer", also terroristischer Methoden, gegen die es konventionelle Armeen schwer haben. Martin Winter

NATO-Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) Militäreinsatz der USA in Afghanistan ab 2003 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Katerstimmung an der Wall Street

Während die Amerikaner den Regierungswechsel feiern, sorgen die verschärften Probleme der Geldhäuser für sinkende Aktienkurse

Von Moritz Koch

Washington - Auf der Mall, der Prachtmeile Washingtons, lagen sich die Menschen in den Armen und auch durch die Hochhausschluchten von Manhattan hallten Jubelschreie. Nur die Wall Street ließ sich am Dienstag nicht von dem nationalen Freudentaumel anstecken. Während die meisten Amerikaner enorme Erwartungen an den frisch vereidigten US-Präsidenten Barack Obama knüpfen, sind viele Anleger in Sorge. Sie befürchten, dass die Finanzkrise inzwischen so dramatisch ist, dass sich die neue Regierung nur noch mit der Verstaatlichung der wichtigsten Banken des Landes behelfen kann. Den Preis dafür müssten die Eigentümer zahlen, also die Aktionäre.

Die Börsenkurse brachen am Tag von Obamas Amtsantritt ein, der Dow Jones Index verlor vier Prozent. Die Aktien der Citigroup, einst die größte Bank der Welt, fielen auf den niedrigsten Stand in der Konzerngeschichte. Wells-Fargo-Anteile stürzten um 24 Prozent ab, die Papiere der Bank of America gar um 29 Prozent. Am Mittwoch erholten sich die Kurse leicht. Der Dow Jones war zu Handelsbeginn ein Prozent im Plus.

Die Regierung von Ex-Präsident George W. Bush hat dem akut einsturzgefährdeten Finanzsystem zwar schon mehr als 300 Milliarden Dollar zugeführt, sich aber mit dem Kauf von stimmrechtslosen Vorzugsaktien begnügt. So schonte sie das Vermögen der Aktionäre. Zudem hat sie den Banken allzu scharfe Auflagen bezüglich der Kreditvergabe erspart. Noch ist offen, wie die Finanzpolitik der Obama-Regierung aussehen wird. Offenbar stellen sich die Anleger aber auf das für sie schlechteste Szenario ein. Demnach würde die Regierung die Kontrolle über die Finanzinstitute an sich reißen, die Aktionäre faktisch enteignen und den Banken vorschreiben, wie sie ihr Geld zu verwenden haben.

Die von Obamas Wirtschaftsberatern diskutierten Pläne, Kreditderivate und andere Schrottpapiere aufzukaufen, die immer tiefere Löcher in die Bilanzen der Banken reißen, beruhigen die Anleger kaum. Schon die Bush-Regierung spielte mit dieser Idee, verwarf sie aber, weil es fast unmöglich ist, den wahren Wert der komplexen, häufig aus der Vielzahl einzelner Hypotheken oder Konsumenten-krediten zusammengesetzten Anlagen zu ermitteln.

Neue Sorgen machten sich unter Investoren über State Street breit - eine Bank, die von der Krise bisher weitgehend verschont geblieben schien. Am Dienstag meldete das Institut völlig unerwartet einen Gewinneinbruch von 71 Prozent im vierten Quartal. Die Aktie verlor fast zwei Drittel ihres Wertes. State Street spielt eine wichtige Rolle für Finanzierung von großen Unternehmen und hat sich mit eigenen Investments am Kapitalmarkt verspekuliert.

Die bisherige Bilanzsaison war für die amerikanischen Finanzkonzerne desaströs. An der Wall Street konnte sich allein JP Morgan Chase mit Hilfe von Sondereffekten in die Gewinnzone retten. Die Citigroup meldete Milliardenverluste, ebenso die Bank of America. Noch im September schien es, als habe Bank-of-America-Chef Kenneth Lewis mit der Übernahme der gestrauchelten Investmentbank Merrill Lynch ein Schnäppchen geschlagen. Vergangene Woche musste er sich aber neue Milliardenhilfen aus Washington sichern. Merrill Lynch entpuppt sich als schwere Belastung. Anleger befürchten nun, dass auch Wells Fargo, eine Bank aus San Francisco, die im Herbst den kollabierten Konkurrenten Wachovia gekauft hat, die Übernahme aus eigener Kraft nicht stemmen kann. Selbst um den Branchenführer JP Morgen sorgen sich die Investoren, weil die Bank im September die Reste der an faulen Krediten gescheiterten Sparkasse Washington Mutual an sich gerissen hat. Die Citigroup will nun die Dividende für ihre Aktionäre zusammenstreichen - so wie es der Staat verlangt.

Der Gewinn von State Street brach im vierten Quartal drastisch ein. Foto: oh

Folgen der Finanzkrise in den USA Folgen der internationalen Finanzkrise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Augenzeugen abgetaucht

Noch keine Spur des Doppelmörders von Moskau

Von Sonja Zekri

Moskau - Die russischen Behörden haben noch keine näheren Hinweise auf den Mörder des Menschenrechtsanwalts Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Baburowa. Trotz Videoaufnahmen der Tat in Moskau konnte die Staatsanwaltschaft kein Phantombild des Täters erstellen. "Man sieht einen jungen schmalen Mann, etwa 1,80 Meter groß, der eine Mütze mit Augenschlitzen über das Gesicht gezogen hat", sagte der Moskauer Polizeichef Wladimir Pronin am Mittwoch. "Daraus können wir kein Phantombild machen." Auch Augenzeugen haben sich bislang nicht gemeldet, dabei schoss der Täter Markelow und Baburowa vor Dutzenden Menschen nieder, bevor er in der Metro verschwand. Die EU-Kommission forderte die "umgehende" Aufklärung des Falles. Der Chefredakteur der Zeitung Nowaja Gaseta, bei der die Journalistin beschäftigt war, sprach von einem "politischen Verbrechen" Wenn sie wolle, könne die Staatsmacht den Fall lösen, sagte Dmitrij Muratow bei einem Besuch in Berlin.

Unterdessen analysieren russische Medien, von denen viele das Bild des toten Anwalts auf der ersten Seite druckten, mögliche Tatmotive. Markelow wurde schon früher überfallen. Im April 2004 griffen ihn fünf Skinheads an, was im Zusammenhang mit der Verteidigung Alexej Olesinows gesehen wurde, Mitglied einer russischen Antifa-Gruppe. Und er wurde bedroht, vor allem wegen seiner Arbeit für die Familie Elsa Kungajewas, einer Tschetschenin, die der russische Offizier Jurij Budanow ermordet hatte. Nach der Begnadigung Budanows vor wenigen Tagen bekam Markelow eine SMS: "Du hirnloses Tier", hieß es darin, "was machst du dir wieder mit der Budanow-Sache zu schaffen? Kennst du keine bessere Art, Selbstmord zu begehen? Oder möglichst schnell in der Abteilung für Transplantationen zu landen? Dann wären wenigstens deine Organe noch jemandem nützlich." Die Zeitung Iswestija vermutete sogar, Markelow könnte in Tschetschenien den Namen des Mörders der Reporterin Anna Politkowskaja erfahren haben. Natalja Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation "Memorial" in Tschetschenien vermutet hinter der Tat die Vorgesetzten eines Polizisten, der wegen Misshandlungen und Verschleppungen in Tschetschenien verurteilt wurde.

Mit den Fotos von Kriegsopfern und der Forderung "Wir wollen Gerechtigkeit" wurde in Grosny gegen die Ermordung Markelows demonstriert, der sich auch für die tschetschenische Sache eingesetzt hatte. Foto: Reuters

Markelow, Stanislaw: Tod Baburowa,Anastasija: Tod Mordfälle in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Massengutfrachter in Schieflage

2008 war kein gutes Jahr für Aktienfonds. Selbst die größten und bekanntesten gerieten unter Wasser

Von Catherine Hoffmann

München - Anlageberater verkaufen ihren Kunden gerne Anteile an besonders großen Aktienfonds, denn schließlich kennt die jeder. Dabei lässt sich mit den Riesen keineswegs viel Geld verdienen. "Die schweren Fonds schneiden recht bescheiden ab", sagt Christian Michel vom Analysehaus Feri. Sie heißen Ari Deka, Industria oder Templeton Growth Fonds, verwalten mindestens eine Milliarde Euro und wurden von den Bankberatern jahrelang wärmstens empfohlen. Doch wer 2008 in die Massengutfrachter der Fondsindustrie investierte, muss heute feststellen: Die aktiv gemanagten Schwergewichte sind ihr Geld nur selten wert. Auch die größten und beliebtesten Aktienfonds blieben von der Finanzkrise nicht verschont, egal ob sie das Geld ihrer Kunden auf der ganzen Welt oder allein in Europa anlegen.

Der flotteste Tanker auf dem europäischen Aktienmarkt - Uni Global Minimum Variance Europa - schnitt im vergangenen Jahr 14 Prozentpunkte besser ab als der Durchschnitt. In einem gewöhnlichen Börsenjahr hätten die Anleger wohl gejubelt über den stattlichen Vorsprung vor der Konkurrenz. Aber 2008 war kein gewöhnliches Jahr. Die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren löste einen Crash an den Börsen aus. Die Kurse europäischer Standardwerte stürzten um 43,0 Prozent ab; der durchschnittliche Europafonds büßte sogar 44,6 Prozent ein. Und so hat der beste Manager eben nur ein paar Prozentpunkte weniger Verlust gemacht als alle anderen - das Kapital der Anleger schmolz trotzdem um ein Drittel.

Nur Verlierer

Keiner der Aktienfonds, die auf europäische Unternehmen setzen, brachte in der Jahresbilanz von Feri Euro Rating Services eine positive Wertentwicklung zustande. Die Zahlen sind ernüchternd: Selbst auf Sicht von drei Jahren hat kein einziger großer Fonds einen Gewinn erwirtschaftet, im Durchschnitt verloren sie sogar 12,9 Prozent im Jahr. Erst wer seit wenigstens fünf Jahren dabei ist, kommt plus-minus Null aus seinem Investment. Das Horrorjahr 2008 hat alle Gewinne ausgelöscht, die in den vier vorangegangenen Jahren des Kursaufschwungs erwirtschaftet wurden.

Besonders verheerend ist die Bilanz von einstigen Publikumslieblingen wie dem Ari-Deka der Sparkassen, dem Fidelity European Growth Fonds oder dem Industria aus dem Hause Allianz Global Investors. Sie alle liegen im vergangenen Jahr weit abgeschlagen hinter den Wettbewerbern. Die Wertentwicklung des Industria reicht 2008 nur noch für Platz 347 unter 403 ausgewerteten Europa-Fonds. Damit setzten die drei die Negativ-Bilanz der vergangenen Jahre fort. Sie rangieren fortgesetzt in der unteren Hälfte der Tabelle.

Die traurigen Zahlen haben System: Große Fonds sind wie Ozeandampfer - sie ändern ihren Kurs nur schwer und fahren mit dem großen Strom. Tobt über dem Aktienmarkt der Sturm, wüten die zerstörerischen Kräfte auch in ihren Depots. Die besten europäischen Aktienfonds kommen deshalb nicht aus großen Häusern, sie werden in kleinen Boutiquen gemacht: in der unabhängigen Portfolio-Management-Gesellschaft Comgest, bei Vitruvius oder in der Fondsmanufaktur von Jens Ehrhardt.

Die Anleger haben das längst erkannt und die Flucht ergriffen - aus dem Ari Deka etwa, jahrzehntelang Aushängeschild der Sparkassen. Fünf Milliarden Euro hatten die Kunden dem Ari noch im Dezember 2006 anvertraut, nun sind es zwei Milliarden. So wie der Deka erging es vielen Anbietern, die ihre Kundschaft enttäuschten. 2008 entpuppte sich als das schlechteste Jahr in der Geschichte der deutschen Fondsbranche: Die Gesellschaften mussten hohe Mittelabflüsse hinnehmen: 13,0 Milliarden Euro bis November, davon allein 5,2 Milliarden aus Aktienfonds.

Eine enttäuschende Legende

Während die Bilanz der Europa-Fonds katastrophal ist, machten die Lenker großer Aktienfonds, die weltweit ihr Geld investieren, einen besseren Job. Im Durchschnitt versenkten aber auch sie 40,3 Prozent des Kapitals - deutlich mehr als ein Index für globale Standardwerte (minus 36,9 Prozent). Die Hoffnung der Anleger auf schöne Erträge konnte in dem turbulenten Umfeld kein Fondsmanager erfüllen. Immerhin finden sich hier aber fünf Kapitäne, die nicht nur 2008, sondern auch auf Sicht von fünf Jahren ein glückliches Händchen hatten. Darunter sind alte Bekannte: Carmignac Investissement, DWS Vermögensbildungsfonds I, DWS Akkumula, Uni Global und DWS Top Dividende. Freilich brachten auch sie ihren Anlegern Verluste von bis zu 35,5 Prozent.

Immerhin bieten sie, was Sparer von einem Flaggschiff erwarten dürfen: In schlechten Zeiten geraten die schweren Fonds nicht so tief unter Wasser wie die Konkurrenz, in guten Zeiten segeln sie vorne mit, wenn auch nicht an der Spitze. Dass Erfolge in der Vergangenheit aber keine Garantie für die Zukunft bieten, demonstriert der Templeton Growth Fonds, einer der ältesten überhaupt. "In der Vergangenheit hat er sich in schwierigen Marktphasen immer gut behauptet, im Moment kann er seine alte Stärke aber nicht ausspielen", sagt Feri-Experte Michel. In den zurückliegenden drei Jahren erlitten Anleger zehn Verlustmonate, der Index kommt lediglich auf fünf. Auch bei Templeton stimmten die Fondsbesitzer mit den Füßen ab und verkauften massenhaft ihre Anteile - ohne Rücksicht auf Verluste.

Selbst bisher gewinnbringende Fonds können Opfer ihres Erfolgs oder eines Börsencrashs werden. Für Anleger heißt es deshalb, beim Fondskauf nicht nur ein Auge auf das Volumen und die Marke zu werfen. Wer stabile Renditen sucht, sollte sich nicht von schierer Größe beeindrucken lassen.

Vom Meer umtost: Die Peene Ore von der Rostocker Reederei F. Laeisz ist der zweitgrößte Massengutfrachter der Welt: Die Dickschiffe der Fondsbranche befanden sich 2008 in ähnlich rauer See. Foto: ddp

FondsWKNVolumen in Mio. EuroWertentwicklung in Prozent p.a. 2008 Rang * 5 Jahre Rang ** Managem.- Gebühr in ProzentRating ***
Aktienfonds Welt
Carmignac InvestissementA0DP5W 2290,06-29,88467,1151,50(A)
DWS Vermoegensbildungsfonds I8476523713,31-31,4161-0,01611,45(B)
DWS Akkumula8474022309,9-31,94691,56261,45(A)
Uni Global8491053512,13-35,1997-0,01621,20(A)
DWS Top Dividende9848112220,08-35,511083,25191,45(A)
Robeco9702593642,65-39,28199-2,831931,00(C)
Templeton Growth Fund9710259373,77-40,20236-8,473900,57(E)
Templeton Growth (Euro)9410343438,82-40,33240-4,993201,00(D)
M&G Global Basics7977352670,22-44,004125,22111,75(B)
Alliance Bernstein-Global Equity BlendA0DK7R 1751,72-49,65507-6,613671,60(E)
Durchschnitt aller Welt-Aktienfonds -40,34 -3,28
MSCI World Standard Core Index -36,89 -1,92
Aktienfonds Europa
Uni Global Minimum Variance EuropeA0DQZK 1136,82-30,5511--1,50-
Franklin Mutual European9342243242,43-37,04412,55191,00(A)
Vanguard European Stock Index Inv8117691507,15-43,44168-0,65900,29(B)
Ari Deka8474512081,68-45,42235-3,302151,25(D)
Fidelity European Growth9732706552,75-45,572390,17671,50(B)
Pioneer European Research5804751615,06-45,59240-2,901941,50(D)
Pioneer Top European Players5804781185,2-45,97255-3,982401,50(D)
Alken European Opportunities-RA0H06Q 994,67-47,63306--1,50-
JPM Europe Strategic Value9339131567,71-49,55344-2,991991,50(C)
Industria847502955,74-49,79347-3,092031,35(D)
Durchschnitt aller Europa-Aktienfonds -44,60 -2,05
MSCI Europe Standard Core Index -42,96 0,07
*) unter 548 Welt-Fonds beziehungsweise 403 Europa-Fonds; **) unter 401 Welt-Fonds beziehungsweise 278 Europa-Fonds; ***) A=sehr gut, B=gut, C=befriedigend, D=ausreichend, E=mangelhaft Stand: 31.12.2008. Quelle: Feri Euro Rating Services AG
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Volksbank ruft nach Soffin

Kapitalbedarf der DZ Bank beschäftigt die Genossen

Von Helga Einecke

Frankfurt - Der Kapitalbedarf der DZ Bank von mindestens einer Milliarde Euro löst bei den Genossenschaftsbanken heftige Diskussionen aus. Hans-Joachim Tonnellier, Chef der Frankfurter Volksbank, stellte die Frage, ob es sich die Volks- und Raiffeisenbanken leisten könnten, nicht den staatlichen Rettungsfonds Soffin in Anspruch zu nehmen. Andere Wettbewerber wie Autobanken oder Sparkassen würden direkt oder durch Landesregierungen von Risiken und Haftungen freigestellt. Dies könne die Strukturen des deutschen Banksystems verzerren und dem fairen Wettbewerb schaden. Die DZ Bank hatte selbst nicht ausgeschlossen, unter den Rettungsschirm zu gehen, wenn das erste Quartal 2009 so schlecht ausfällt wie das letzte von 2008.

Tonnellier zeigte sich über die Höhe der Abschreibungen, Verluste und des Kapitalbedarfs der DZ Bank überrascht. Gemäß ihrem Kapitalanteil müsste die Frankfurter Volksbank 17 bis 20 Millionen Euro beisteuern, was deren Vorstandsvorsitzender aber in Frage stellte. Dabei forderte er ein starkes Spitzeninstitut. Die Fusion zwischen DZ Bank und WGZ Bank müsse im fünften Anlauf endlich kommen. Bei der Ausstattung der gesamten Gruppe mit Kapital stehe die Frage nach der Zukunft im Vordergrund. Die Genossenschaftsbanken müssten sich Zukäufe leisten können, wie beispielsweise die Raiffeisen Bankengruppe in Österreich, die in Osteuropa stark gewachsen ist.

DZ Bank: Krise Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Britisches Pfund stark unter Druck

Analysten sorgen sich um die Kreditwürdigkeit Großbritanniens

Von Andreas Oldag

London - Trotz des milliardenschweren Rettungspakets für die britischen Banken haben internationale Investoren offenbar Sorge um die Kreditwürdigkeit Großbritanniens. Das britische Pfund geriet am Mittwoch vor allem gegenüber dem amerikanischen Dollar unter Druck und sackte zeitweise auf einen Wert von 1,37 Dollar ab. Das ist der tiefste Stand seit 2001. Auch gegenüber dem japanischen Yen fiel das Pfund. Nur gegenüber dem Euro behauptete es sich. Finanzanalysten befürchten, dass Großbritannien aufgrund der teuren Bankenrettung seine Top-Bonitätsnote verlieren könnte.

Gleichzeitig werden die Rufe nach einer vollständigen Verstaatlichung der angeschlagenen Großbanken Royal Bank of Scotland (RBS) und Lloyds Group immer lauter. Nach Meinung des Vorsitzenden des Finanzausschusses im Unterhaus, John McFall, gebe es kaum Alternativen zu einem noch größeren Engagement des Staats. "Wenn es passiert, dann so bald wie möglich", schrieb McFall gemeinsam mit Jon Moulton, dem Chef der Beteiligungsgesellschaft Alchemy Partners, in einem Zeitungsartikel.

Anfang der Woche hatte die Labour-Regierung ihr zweites Hilfspaket für die Banken beschlossen. Gegen eine Gebühr sichert der Staat bis zu 90 Prozent des Ausfallsrisikos von faulen Krediten ab. London hofft darauf, dass die Banken wieder stärker Geld verleihen und das Kreditgeschäft ankurbeln. Experten schätzen das Ausfallrisiko, für das der Steuerzahler bei der Banken einsteht, auf insgesamt bis zu 200 Milliarden Pfund (etwa 220 Millarden Euro).

RBS musste mit mehr als 20 Milliarden Pfund den größten Jahresverlust eines Unternehmens in der britischen Wirtschaftsgeschichte bekannt geben. Die Regierung stockte ihren Anteil an der Bank auf 70 Prozent auf. An der fusionierten Bank Lloyds TSB/HBOS hat der Staat bereits einen Anteil von 43 Prozent.

Folgen der Finanzkrise in Großbritannien Britisches Pfund SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Manchester United ohne Sponsor

London - Der angeschlagene US-Versicherungskonzern AIG zieht sich als Sponsor des britischen Fußballclubs Manchester United zurück. Wegen des Sparkurses infolge der Finanzkrise werde man den im nächstes Jahr auslaufenden Vertrag mit dem Champions-League-Sieger nicht verlängern, erklärte AIG am Mittwoch. Außerdem verhandle AIG mit dem Verein über eine Überarbeitung des laufenden, 100 Millionen Dollar schweren Sponsor-Vertrags. Der Tabellenführer der Premier League ist bereits auf der Suche nach Nachfolgern. Einer von zahlreichen Interessenten sei die indische Finanzfirma Sahara.

Die US-Regierung hat AIG mit Finanzspritzen von insgesamt 152 Milliarden Dollar zweimal vor dem Aus gerettet. Der einst weltweit größte Versicherer stand wegen Hypothekenpapieren vor dem Kollaps, die infolge der Finanzkrise stark an Wert verloren und mittlerweile unverkäuflich sind. Um die Kredite zurückzahlen zu können, hat AIG mit dem Verkauf von Unternehmensteilen begonnen und ein Sparprogramm aufgelegt, in dessen Rahmen auch die Werbekosten drastisch zurückgefahren werden sollen. Zahlreiche Sportvereine leiden unter fallenden Werbeerlösen infolge der Finanzkrise. Manchester-United-Konkurrent West Ham spielte monatelang ohne Trikot-Werbung auf der Brust, weil sein Sponsor XL Holidays Pleite ging. Englische Fußballclubs, die oft in Besitz von ausländischen Investoren sind, leiden Experten zufolge bisher stärker als die deutsche Bundesliga unter der Krise.

Viele Club-Eigentümer haben wegen der Krise bereits Milliardenverluste gemacht. So zögert sich unter anderem der Bau des neuen Stadions des FC Liverpool hinaus. Im Motorsport mussten Formel-1-Teams ihre Budgets um 30 Prozent zusammenstreichen, Honda kündigte sogar seinen vollständigen Rückzug aus der Rennserie an. Reuters

Manchester Uniteds Fußballstar Cristiano Ronaldo wird bald mit neuem Trikot auflaufen. Foto: AP

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Roland, Kölner Dom, Neuschwanstein

Deutschland gibt neue Zwei-Euro-Münzen heraus. Jetzt steht das Design der Geldstücke fest

Von Marco Völklein

München - Das Geheimnis ist gelüftet: Das Design

für die nächsten Zwei-Euro-Gedenkmünzen aus Deutschland steht fest. Klar war schon länger, dass der Bremer Roland, der Kölner Dom und Schloss Neuschwanstein auf den Münzen abgebildet werden. Wie die Abbildungen aber genau aussehen werden, war bislang offen. Nun hat das für den Münzdesignwettbewerb zuständige Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Abbildungen der Entwürfe freigegeben (alle Fotos: www.zwei-euro.com). Die Sammler können sich darauf freuen.

Seit dem Jahr 2004 können die Euro-Teilnehmerstaaten jedes Jahr eine Zwei-Euro-Münze mit einem speziellen nationalen Motiv gestalten. Diese Zwei-Euro-Gedenkmünzen sind bei Gelegenheits- wie Profisammlern beliebt. Die Euro-Staaten haben insgesamt bereits mehr als 40 Motive ausgegeben - und jedes Jahr kommen neue hinzu. Deutschland ist als eines der wichtigsten Euro-Länder ganz vorne mit dabei: Noch bis zum Jahr 2021 stellt sich jedes Jahr eines der 16 deutschen Bundesländer auf den Münzrückseiten dar. Am 6. Februar wird die diesjährige Münze in Umlauf gebracht, die die Ludwigskirche in Saarbrücken zeigt, so das Bundesfinanzministerium. Das Design dieser Münze ist schon lange bekannt. Neu sind die Abbildungen für die nächsten Jahre.

2010 wird auf den deutschen Zwei-Euro-Gedenkmünzen das Bremer Rathaus und das Ritterstandbild Roland zu sehen sein, das Wahrzeichen der Stadt, das auf dem Platz vor dem Rathaus der Weserstadt steht. Entworfen wurde die Münze vom Berliner Münzgraveur Bodo Broschat. Ritterstandbilder gibt es in einigen Städten Norddeutschlands; sie wurden dort im Mittelalter als Zeichen bürgerlicher Freiheit aufgestellt. Der Bremer Roland aus hellem Elmkalkstein wurde 1404 errichtet. Exakt 600 Jahre nach seiner Errichtung nahm die Unesco den Bremer Roland im Jahr 2004 zusammen mit dem Bremer Rathaus in ihre Liste als Weltkulturerbe auf.

Im Jahr 2011 ist dann Nordrhein-Westfalen auf der Zwei-Euro-Gedenkmünze dran - der Kölner Dom wird das Land repräsentieren. Der Entwurf stammt vom Berliner Münzdesigner Heinz Hoyer. Auch der Kölner Dom steht auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes. Im Jahr 2012 folgt schließlich Bayern, das sich mit dem Motiv von Schloss Neuschwanstein auf den Geldstücken vorstellen wird. Der Entwurf stammt von Erich Ott. Jede deutsche Zwei-Euro-Gedenkmünze erscheint in einer Auflage von rund 30 Millionen Stück und geht nicht nur an Münzsammler, sondern auch in den normalen Geldkreislauf. "Die Münzen finden sich dann auch bei Penny in der Kasse", sagt Florian Dyballa, der einen "Zwei-Euro-Münzenkatalog" herausgebracht hat. Die Zwei-Euro-Gedenkstücke sind nämlich auch offizielles Zahlungsmittel.

Die Reihenfolge der Bundesländer auf den Zwei-Euro-Gedenkmünzen ist genau festgelegt: Gezeigt wird immer das Land, das im jeweiligen Jahr den Vorsitz im Bundesrat inne hat. Dafür existiert ein fester Turnus. Im Jahr 2013 führt Baden-Württemberg den Vorsitz in der Länderkammer - auf der Münze wird das Kloster Maulbronn zu sehen sein. Die mittelalterliche Anlage steht seit 1993 auf der Unesco-Weltkulturerbe-Liste. Im Jahr 2014 folgt das Land Niedersachsen, als Motiv steht bereits die St. Michaeliskirche in Hildesheim fest - auch sie ein Unesco-Weltkulturerbe.

Im Jahr 2015 wird sich Hessen mit der Frankfurter Paulskirche auf der Münze präsentieren. In dem klassizistischen Rundbau tagte in den Jahren 1848 und 1849 die erste frei gewählte Volksvertretung Deutschlands. Die durch Bombenangriffe stark beschädigte Kirche wurde nach dem Krieg wiedererrichtet.

Für die Gedenkmünzen, die von 2013 an erscheinen werden, liegen noch keine endgültigen Designs vor - auch diese werden in einem Wettbewerb festgelegt.

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Zwei Männer im Streit

Der Finanzminister setzt sich regelmäßig über Urteile des obersten deutschen Steuergerichts hinweg. Das ärgert dessen Präsidenten

Von Marco Völklein

Münche n - Wenn Wolfgang Spindler seinen Jahresbericht vorlegt, dann trägt er in der Regel Zahlen vor. Wie viele Verfahren am Bundesfinanzhof (BFH) anhängig sind (aktuell: 2943). Und wie lange im Durchschnitt ein Verfahren dauert (acht Monate). Am Mittwoch aber funktionierte BFH-Präsident Spindler die Vorlage seines Zahlenwerks gegen Ende zu einer Art Rechtsvorlesung um. Inhalt: Gewaltenteilung, Entscheidungsbefugnisse der Gerichte, Rechtschutz für die Bürger.

Spindler ärgert sich schon seit Jahren darüber, dass sich Bundesfinanzminister Peer Steinbrück über die Entscheidungen des BFH einfach hinwegsetzt. Möglich macht das ein Kniff, den es so nur im Steuerrecht gibt. Der sperrige Juristenbegriff lautet "Nichtanwendungserlass". Aber der hat es in sich.

Fällen die BFH-Richter in einem Fall ein Grundsatzurteil, hat das Bundesfinanzministerium im Zusammenspiel mit den Finanzministerien der Länder die Möglichkeit, über diesen Erlass festzulegen, dass das Urteil nur auf den vor dem BFH verhandelten Fall anzuwenden ist - auf ähnlich gelagerte Fälle anderer Steuerzahler ist das Urteil nicht anzuwenden. Sie profitieren also nicht von dem Urteil aus Spindlers Haus. "In den meisten Fällen", sagt er, greifen Steinbrück und seine Länderkollegen zum Nichtanwendungserlass genau dann, wenn der BFH-Spruch für den Staat besonders teuer wird - und somit größere Löcher in den Haushalten drohen.

Hinweis an die Steuerzahler

Spindler rattert Zahlen runter: 2007 haben seine Mitarbeiter 15 Nichtanwendungserlasse gezählt - 13 davon gingen zu Lasten der Steuerpflichtigen. 2008 schickten Steinbrücks Beamte acht Nichtanwendungserlasse raus; sieben davon gingen ebenfalls zu Lasten der Steuerzahler. "Bei 100 bis 150 Grundsatzentscheidungen pro Jahr sind 15 Nichtanwendungserlasse eine maßgebende Größenordnung", schimpft Spindler.

Im vergangenen April entschied der Bundesfinanzhof, dass Fahrten mit dem Dienstwagen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz nicht komplett versteuert werden müssen (Az. VI R 85/04 und VI R 68/05). Doch freuen durfte sich über diese Entscheidung nur der Pendler, der in München geklagt hatte. Alle anderen gehen leer aus. "Die Rechtsgrundsätze der Urteile werden von den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder nicht geteilt", beschied ein Unterabteilungsleiter aus Steinbrücks Ministerium. Das Urteil "ist nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden".

Wenn sich der Bund regelmäßig über BFH-Urteile hinwegsetzt, sei dies ein Eingriff in die Gewaltenteilung, so Spindler. Verfassungsrechtlich gesehen dürfe "die Verwaltung nicht aus rein fiskalischen Gründen korrigierend eingreifen". Wenn dem Gesetzgeber "die Rechtsprechung dieses Hauses nicht zusagt, kann er ja darauf durch eine Gesetzesänderung reagieren". Diese könnten die Bürger wieder vor Gericht überprüfen lassen. Gegen Nichtanwendungserlasse aber gibt es so gut wie keine Handhabe.

Im Herbst hatten sich BFH-Vertreter und Beamte des Finanzministeriums getroffen und die Sache besprochen. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: "We agree to disagree", sagt Spindler - man war sich einig, uneinig zu sein. Das Finanzministerium findet, allein Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe binden den Gesetzgeber. Bis auf weiteres bleibt der Disput zwischen Gericht und Ministerium also ungelöst.

Damit dies nicht zu Lasten der Steuerzahler geht, schlägt Spindler folgendes vor: Die Finanzämter sollten in den Steuerbescheiden vermerken, dass der BFH zu einem bestimmten Sachverhalt schon mal anders entschieden hat. Dann könnte der Bürger zumindest selbst dagegen klagen. "Unter allgemeinen rechtsstaatlichen Aspekten ist diese Forderung berechtigt", findet Spindler. Doch Steinbrücks Ministerium will bislang von diesem Vorschlag nichts wissen. Vermutlich aus gutem Grund: In der Vergangenheit hob das Finanzministerium einen Nichtanwendungserlass wieder auf, sobald der BFH in einem ähnlich gelagerten Fall seine Rechtsauffassung bestätigt hatte. Doch das kann dauern - auch weil die Bürger keine weiteren Klagen einreichen. Würden sie nun auf BFH-Entscheidungen hingewiesen und in der Folge öfter klagen, käme "Schwung in die Sache", heißt es bei Steuerexperten - und Steinbrück würde wohl so manchen Nichtanwendungserlass kassieren.

Sie streiten, ob Steuerurteile des Bundesfinanzhofs (BFH) nur Einzelfälle betreffen - oder für alle Bürger gleichermaßen gelten: BFH-Präsident Wolfgang Spindler (li.) und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück. Fotos: Imago/Sven Simon, dpa

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Die Gaza-Offensive der Menschenrechtler

Internationale Organisationen erheben Vorwürfe wegen Israels Kriegsführung / Debatte um Phosphorgranaten

Von Thorsten Schmitz und Paul-Anton Krüger

Tel Aviv - Die israelische Armee hat erstmals indirekt zugegeben, bei der dreiwöchigen Militäroffensive im Gaza-Streifen auch Phosphorgranaten eingesetzt zu haben. Einem Bericht der Tageszeitung Haaretz zufolge hat die Armee-Spitze eine interne Untersuchung eingeleitet, mit deren Hilfe herausgefunden werden soll, weshalb eine Fallschirmjägereinheit von Reservisten etwa 20 Phosphorgranaten in einem bewohnten Gebiet im Norden des Gaza-Streifens eingesetzt habe. Ein Sprecher der Armee bestätigte der Süddeutschen Zeitung, dass der Einsatz von Phosphorgranaten geprüft werde. Es handle sich jedoch um keine offizielle Untersuchung, sondern um eine Armee-interne.

Dem Zeitungsbericht zufolge soll die Armee Artillerie-Rauchgranaten mit niedriger und Mörsergranaten mit hoher Phosphorkonzentration eingesetzt haben. Sie seien auf Beit Lahija im Norden des Gaza-Streifens abgeschossen worden. Ihr Einsatz ist zwar offiziell nicht verboten, dennoch regelt die Waffenkonvention von 1980, dass sie nicht auf Zivilisten und bewohnte Gebiete abgeschossen werden dürfen. Bereits während des Gaza-Kriegs hatte die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch behauptet, die Armee habe wie im Libanonkrieg vor drei Jahren Phosphorgranaten eingesetzt.

Im Krieg werden diese Geschosse üblicherweise zur Desorientierung des Gegners eingesetzt. Der Rauch macht den Feind blind, zusätzlich fügen ihm die Brandsätze, wenn sie auf Hautstellen auftreffen, schwere Wunden zu. Besonders bei Bodenoffensiven werden Phosphorgranaten eingesetzt, auch von britischen und amerikanischen Truppen in Irak. Ärzte aus dem Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt berichteten von auffälligen Brandwunden. Nafiz Abu Schaban, der seit 15 Jahren dort die spezielle dermatologische Abteilung leitet, äußerte sich in jüngster Zeit oft "erstaunt über ungewöhnliche Brandverletzungen". Die Wunden mancher Patienten hätten stundenlang gebrannt, aus manchen sei Rauch aufgestiegen. Selbst Patienten, deren Haut nur zu 15 Prozent verbrannt gewesen sei, seien "plötzlich gestorben". Der Arzt hat Hautproben gesammelt und will sie nun prüfen lassen.

"Nicht verhältnismäßig"

Acht israelische Menschenrechtsgruppen, darunter Betselem, Jesch Din und Gischa, haben am Mittwoch Generalstaatsanwalt Menachem Masus aufgefordert, eine regierungsunabhängige Untersuchungskommission zum Gaza-Krieg einzusetzen. Die acht Gruppen verdächtigen die Armee, international gültige Regeln der Kriegführung missachtet zu haben. Die Anwältin der Gruppe, Limor Jehuda, sagte, die Zahl der getöteten palästinensischen Frauen und Kinder sei "erschreckend hoch". Etwa 410 Kinder und Jugendliche seien getötet worden. Nach palästinensischen Angaben wurden mehr als 1300 Palästinenser getötet und etwa 5300 verletzt. Der Verdacht liege nahe, so die Anwältin, dass die Armee nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterschieden und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht befolgt habe. Amnesty International hat ein Ermittlerteam in den Gaza-Streifen entsandt. Die Menschenrechtsorganisation wirft Israel vor, im Gaza-Streifen Kriegsverbrechen verübt zu haben.

Der saudische Botschafter übermittelte der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien am Mittwoch eine offizielle Note arabischer Staaten, in der Israel beschuldigt wird, es habe im Gaza-Streifen auch uranhaltige Munition verwendet. In palästinensischen Opfern seien Uranspuren gefunden worden. IAEA-Sprecherin Melissa Fleming sagte, die Behörde werde die Sache untersuchen, "soweit es uns möglich ist". Über das weitere Vorgehen sei aber noch nicht entschieden. Ein Sprecher des israelischen Außenministeriums bezeichnete den Vorwurf als "üble Propaganda".

Abgereichertes Uran wird wegen seiner hohen Dichte in panzerbrechenden Geschossen als Kern verwendet, da es aufgrund seiner hohen kinetischen Energie Panzerungen durchschlagen kann. Neben seiner Radioaktivität ist Uran auch als Schwermetall giftig. Es gilt als gesichert, dass ein Krebs- und Vergiftungsrisiko besteht, wenn der Staub, der beim Aufprall der Geschosse entsteht, eingeatmet oder mit dem Körper in Kontakt gebracht wird. In Bosnien hatte es im Umfeld der Einsatzgebiete der Munition eine Häufung von Krebsfällen gegeben, die Kritiker darauf zurückführten, dass die Menschen Uran-Spuren über die Nahrungskette oder das Grundwasser aufgenommen hätten. Eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO fand dafür aber keine Belege.

Die sogenannte DU-Munition wurde bislang von den USA auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan eingesetzt. Die Verwendung im Gaza-Streifen halten Militärexperten für unwahrscheinlich, da es dort kaum gepanzerte Ziele gegeben habe. Israel besitzt Panzer und Kampfhubschrauber, die uranhaltige Munition verschießen können. Es ist unklar, ob die USA Israel solche Munition geliefert haben. Israel dürfte diese aber auch selber herstellen können. Nach dem Libanon-Krieg 2006 war der gleiche Vorwurf erhoben worden. Die UN-Umweltorganisation Unep fand bei einer Untersuchung aber keine Belege, dass Israel die Munition verwendet haben könnte.

Aufräumen nach dem Abzug: Die israelischen Soldaten haben den Gaza-Streifen verlassen - das ganze Ausmaß der Zerstörungen wird sichtbar. In dem Flüchtlingslager Dschabalia blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Foto: Getty Images

Auch das Al-Quds-Klinikum in Gaza-Stadt stand unter Beschuss. AFP

Reaktionen auf den Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Zivile und militärische Opfer im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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EU-kritische Partei in Tschechien gegründet

Prag - An der Europawahl im Juni will sich in Tschechien eine zweite EU-kritische Partei beteiligen, die sich einer vertieften Zusammenarbeit in der Union widersetzt. Wie die Zeitung Lidove noviny am Mittwoch meldete, hat der unabhängige bisherige Europa-Abgeordnete Vladimir Zelezny, ein früherer Fernsehdirektor, beim Innenministerium in Prag die Gruppierung Libertas.cz registrieren lassen. Sie versteht sich offenkundig als Teil der Bewegung Libertas des irischen Multimillionärs Declan Ganley, der vor einem halben Jahr beim Referendum in Irland über die EU-Reform eine führende Rolle spielte. Er hatte eine erfolgreiche Kampagne gegen den Lissabonner Vertrag geführt und damit die Unterstützung der Mehrheit für eine Blockade des Reformprozesses gewonnen.

Erst vor einer Woche hatte auch eine neue Organisation namens Partei Freier Bürger (SSO), die ebenfalls die Ablehnung des Lissabonner Vertrags als eines ihrer Hauptanliegen betrachtet, ihre Kandidatur zur Europawahl angekündigt. Zu ihren Gründern gehören mehrere Vertraute sowie die beiden Söhne des EU-kritischen Staatspräsidenten Vaclav Klaus. Als Sprecher tritt der junge Ökonom Petr Mach auf, der ein von Klaus gegründetes privates Forschungsinstitut leitet.

Offen war zunächst, ob und wie die beiden neuen Gruppierungen gegen einander konkurrieren oder zusammenarbeiten wollen. Allem Anschein nach kam eine verbindliche Absprache bisher noch nicht zustande. Mach hatte vorige Woche lediglich erklärt, seine Organisation sei für eine Zusammenarbeit mit Declan Ganleys Bewegung in Irland offen. Eine Sprecherin Ganleys wiederum erklärte am Mittwoch, der Abgeordnete Zelezny habe seinen Antrag mit Wissen und im Auftrag der europäischen Bewegung Libertas gestellt. Kb.

Parteien in Tschechien Europawahl 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zurück zum Atom

Bulgarien will nach der Gaskrise zwei Anlagen reaktivieren, die die EU für unsicher hält

Von Klaus Brill

Prag - Der Schock der jüngsten Gaskrise hat in Bulgarien eine breite Bewegung ausgelöst, die fordert, zwei stillgelegte Reaktoren eines umstrittenen Atomkraftwerks wieder in Betrieb zu nehmen. Nach dem Staatspräsidenten, dem Ministerpräsidenten und anderen führenden Politikern sprach sich jetzt auch der Energie-Ausschuss im Parlament dafür aus, über dieses Thema Gespräche mit der EU-Kommission zu führen. Gleichzeitig demonstrierten am Mittwoch erneut mehrere tausend Menschen gegen die Notlage, in die das Land durch den zweiwöchigen Stopp der Gaslieferungen und die Weltfinanzkrise geraten ist. Die Versorgung mit Gas kam inzwischen nach der Einigung zwischen Russland und der Ukraine wieder in Gang, die Notstandsmaßnahmen wurden ausgesetzt.

Das Interesse konzentriert sich jetzt bei Bürgern und Politikern auf das Atomkraftwerk von Kosloduj an der Donau, das rund 200 Kilometer nördlich von Sofia an der Grenze zu Rumänien liegt. Es ist bisher die einzige solche Anlage in Bulgarien, sie wurde seit den 70er Jahren mit sechs Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart betrieben, von denen heute nur noch zwei in Betrieb sind. Auf Verlangen der EU-Kommission mussten die vier älteren Kraftwerksblöcke Ende 2002 und Ende 2006 stillgelegt werden, obwohl die Anlagen aufwändig mit modernen Teilen nachgerüstet worden waren. Der Grund waren Sicherheitsbedenken, die von einer großen Mehrheit der Bulgaren freilich nicht geteilt werden.

Die Stilllegung war eine Vorbedingung für Bulgariens Aufnahme in die EU und kann laut Beitrittsvertrag nur im Falle "dauerhafter Schwierigkeiten" auf dem Energiesektor überprüft werden. Eine solche Situation sehen viele bulgarische Bürger und Politiker jetzt als gegeben an, nachdem die Gaskrise zu schweren Einschränkungen des Verbrauchs und der Schließung von Firmen geführt hatte. Insgesamt erlitt die bulgarische Wirtschaft nach Angaben von Energieminister Petar Dimitrow Verluste in Höhe von rund 90 Millionen Euro.

Wie der Minister weiter sagte, will die Regierung jetzt der EU-Kommission einen Antrag auf Wiederinbetriebnahme der Blöcke 3 und 4 in Kosloduj vorlegen, über die binnen fünf Tagen zu entscheiden sei. Einen Beschluss dieses Inhalts fasste der Energie-Ausschuss mit zehn gegen zwei Stimmen. Ministerpräsident Sergej Stanischew hatte ein solches Vorgehen vor einigen Tagen ebenfalls befürwortet. Allerdings betonte er, eine Veränderung sei nur mit Zustimmung der EU möglich. Bulgarien wolle seine Partner nicht vor den Kopf stoßen.

In der Bevölkerung findet das Vorhaben breite Unterstützung, ähnlich wie in der Slowakei, wo die Regierung wegen der Gaskrise erwägt, eine stillgelegte Atomanlage zu reaktivieren. In Sofia hatten erst am vergangenen Wochenende 8000 bis 10 000 Demonstranten aus dem ganzen Land gefordert, zwei weitere Reaktoren in Kosloduj wieder anzuschalten. Zu der Kundgebung hatten die Gewerkschaften und kleine Parteien aufgerufen. Neben der Anlage in Kosloduj ist derzeit in Bulgarien ein zweites Atomkraftwerk in Belene, ebenfalls im Norden an der Donau, geplant. Der Bauauftrag wurde an die russische Gesellschaft Atomstrojexport vergeben, allerdings ist auch der deutsche Energiekonzern RWE an dem Projekt beteiligt.

Soziale Not

Im Zentrum von Sofia versammelten sich am Mittwoch erneut Tausende von Demonstranten. Diesmal stand allerdings weniger die Energiepolitik als die soziale Not vieler Menschen im Fokus. Aufgerufen hatte zu der Protestaktion, die am Mittwoch der nächsten Woche wiederholt werden soll, eine bunte Koalition gesellschaftlicher Gruppen. Zu ihnen gehören die Verbände der Bauern, der Studenten und der bulgarischen Mütter. Sie werfen der Regierung vor, zu wenig gegen die wirtschaftlichen Probleme der Menschen und gegen die grassierende Korruption zu tun. Ferner verlangen sie Wahlrechtsreformen mit dem Ziel direkter Einflussnahme der Bürger und die Einführung von Volksbegehren auf verschiedenen Ebenen.

Bei einer ähnlichen Demonstration vor einer Woche war es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen. An ihnen waren nach Angaben der Veranstalter Hunderte von Fußball-Rowdies beteiligt, die sich als Provokateure betätigt haben sollen. Bulgarische Milch- und Getreidebauern haben schon seit Monaten aus Protest gegen ihre ökonomischen Bedingungen immer wieder im ganzen Land den Verkehr blockiert.

Atomenergie in Bulgarien Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- Energieversorgung in Europa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Schuhkarton zum Abheben

Der Londoner Flughafen Heathrow eröffnet ein neues Terminal mit gigantischen Ausmaßen für Passagiere und Boutiquen

Von Wolfgang Koydl

London - Wenn jemand aus Lego eine ganz, ganz schrecklich lange, breite und hohe Scheune bauen will und dafür nur Fenster, aber keine Mauersteine hat, dann wird das Ergebnis seiner Anstrengungen wahrscheinlich so aussehen, wie der neue Terminal fünf des Londoner Flughafens Heathrow. So wie er da neben der Ringautobahn M25 auf der grünen Wiese steht, ist er im wesentlichen ein gigantisch großer umbauter Raum in Gestalt eines Schuhkartons mit eingedelltem Deckel - nur eben wesentlich heller und lichter wegen der vielen Fenster.

Mit den üblichen Vergleichen von der Anzahl der Space Shuttles, die sich in seinem Inneren verlieren könnten, hält sich der Architekt Mike Davies denn auch gar nicht auf. Drei Empire State Buildings, so hat er der britischen Presse ohne falsche Bescheidenheit mitgeteilt, könnte man flach reinschieben, und man hätte noch immer Raum übrig. Knapp 400 Meter lang, 176 Meter breit und 40 Meter hoch ist das Bauwerk, und damit zwar nicht vom Weltraum aus sichtbar, aber immerhin von Schloss Windsor. "Ich kann euch vom Badezimmerfenster aus sehen", teilte Prinzgemahl Philip dem Design-Direktor der Fluggesellschaft British Airways mit. Aus dem gedruckten Zitat ging freilich nicht hervor, ob Bewunderung oder Abscheu in den Worten des Royals mitschwang.

Die Ausmaße des Abfertigungsgebäudes sind gleich noch beeindruckender, wenn man weiß, dass man in seinem Inneren den vollen Durchblick von einem Ende zum anderen hat: das von Großraumbüros bekannte Prinzip - ins Gigantomanische ausgeweitet. Der einzelne Passagier wird sich vermutlich ähnlich bedeutungslos winzig vorkommen wie sein ferner, gläubiger Vorfahr im Mittelalter in einer himmelstürmenden gotischen Kathedrale. Das Massenblatt Mirror lag denn auch gar nicht so weit daneben, als es den Terminal einen "ehrfurchtgebietenden Tempel für die Zwillingsgottheiten Luftfahrt und Shopping" nannte. Dem ein wenig seriöseren Guardian blieb buchstäblich die Luft weg: "Einen der atemberaubendsten Räume von Menschenhand im modernen Britannien", fand der Reporter. "Eine Tour de Force der Architektur und der Ingenieurkunst, die den Standard britischen Airport-Designs um 100 Prozent erhöht."

Etwas prosaischer betrachtet, ist Terminal fünf vor allem die vorläufige Apotheose einer Entwicklung, die schon vor einiger Zeit begonnen hat und in welcher Ankunft und Abflug von Passagiermaschinen in derartigen Abfertigungsgebäuden nur mehr eine marginale Rolle spielen. Denn moderne Terminals sind nur deshalb so ausladend gestaltet, weil man schließlich irgendwo all die Ladengeschäfte und Restaurants unterbringen muss, die moderne Flughäfen in Shopping Malls mit Bahnanschluss und Flugsteig verwandeln. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Reisende halten sich - aufwändigen Sicherheitskontrollen und chronischen Verspätungen sei dank - immer länger im Flughafen auf. Und Flughafenbetreiber verdienen mittlerweile mehr Geld mit der Verpachtung von Ladenfläche als mit Start- und Landegebühren. Daher wird der Fluggast auch eine Rekordzahl von 112 Geschäften und Restaurants in dem neuen Terminal antreffen, der am 27. März mit der Ankunft eines British-Airways-Fluges aus Hongkong nach siebenjähriger Bauzeit seiner Bestimmung übergeben wird. Fast schon überraschend mutet es an, dass man auch weiterhin so banale Dinge wie Zeitungen, Kekse und Toilettenartikel kaufen kann. Denn die weitaus meisten Geschäfte sind nichts für schmale Brieftaschen: Die Spitzenjuweliere Bulgari und Tiffanys sind ebenso vertreten wie das Nobelkaufhaus Harrods, der Schuh-Tempel Prada oder der Top-Textilhersteller Paul Smith.

Gesundheitsbewusste Fluggäste wird die Nachricht freuen, dass kein einziges Fast-Food-Restaurant die Luft in den hohen Terminalhallen mit dem Geruch von altem Frittenöl beschmutzen wird. Das Hochgefühl wird freilich bald Beklommenheit weichen, wenn man sieht, wo man stattdessen seinen Hunger stillen kann: Prominentenkoch Gordon Ramsay hat ebenso ein Lokal im neuen Airport wie das Caviar House und der Schickeria-Italiener Carluccio's. First- und Business-Class-Passagiere können sich zudem in luxuriösen Lounges in einem eigenen Wellness Center verwöhnen lassen. Stolz kann BAA, der spanische Betreiber von Heathrow, darauf hinweisen, dass Terminal fünf weder die Bauzeit noch die Baukosten in Höhe von 4,2 Milliarden Pfund (5,6 Milliarden Euro) überschritten hat. Weniger befriedigend ist freilich die Erkenntnis, dass auch der neue Koloss bald nicht mehr ausreichen wird, um die Zahl der Flüge (480 000 im Jahr) und Fluggäste (67 Millionen) zu bewältigen. Erst kürzlich deutete ein BAA-Sprecher an, dass bis 2030 zwei weitere Abfertigungsgebäude und zwei zusätzliche Start- und Landebahnen notwendig sein würden.

Eine Kathedrale des Konsums: das neue Terminal fünf in Heathrow, das im März eröffnet werden soll und vor allem viel Platz für Läden bietet. Foto: Bloomberg

Luftverkehr in Großbritannien Flughafen Heathrow SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Willie Walsh Fürsorglicher Hausherr in Heathrows Chaos-Terminal 5

Für einen Mann, der derzeit eine der undankbarsten und anstrengendsten Management-Positionen in Europa bekleidet, verfügt Willie Walsh über merkwürdige Eigenheiten. Nicht nur, dass er auf Chauffeur und Dienstwagen verzichtet und selber sein Mittelklasseauto fährt; der Vorsitzende der Fluggesellschaft British Airways (BA) versucht auch, möglichst ohne Sekretärin auszukommen. Viele Briefe schreibt er selber, und das Telefon beantwortet kein Vorzimmer, sondern der Chef.

So überraschte es auch wenig, dass der 47-jährige Ire mit dem Chorknabengesicht der einzige Vertreter des BA-Managements war, der sich persönlich dem Zorn der Passagiere und dem beißenden Spott der Medien stellte, als der neue Terminal 5 des Londoner Flughafens Heathrow von der Eröffnung am vergangenen Donnerstag an im Chaos versank. Reisende, deren Flüge gestrichen worden waren, die stundenlang auf Anschlüsse gewartet hatten, und deren Gepäck irgendwo unauffindbar in den Eingeweiden des Vorzeige-Terminals verschwunden waren, staunten nicht schlecht, als Walsh plötzlich persönlich vor ihnen stand und sich "aufrichtig" entschuldigte.

Der British-Airways-Chef ist zum Gesicht der "nationalen Schande" geworden, wie die Presse das schmachvolle Versagen in Terminal 5 nennt. Dabei trifft ihn und seine Fluggesellschaft nicht in erster Linie die Schuld. Für den Betrieb in Heathrow - und damit auch für seinen weniger als eine Woche alten, 5,4 Milliarden Euro teuren Neubau - ist der Flughafenbetreiber BAA zuständig. Dessen Manager freilich haben sich zuletzt noch erfolgreicher hinter ihren Vorzimmern verschanzt als in der Vergangenheit.

Deathrow nennen leidgeprüfte Englisch sprechende Passagiere den Londoner Flughafen in Heathrow - in Anlehnung an den Ausdruck für den Todestrakt, in dem Häftlinge in US-Gefängnissen auf die Hinrichtung warten. Nirgendwo sind die Schlangen länger und die Verzögerungen häufiger, nirgendwo ist das Personal unfreundlicher und die Aussicht, sein Gepäck zu verlieren, größer als hier. Weil Heathrow die Hauptdrehscheibe für British Airways ist, färbte dieser Ruf auch auf die Fluglinie ab, die sich freilich auch aus eigenen Stücken eine schlechte Reputation erworben hatte.

Vor drei Jahren wurde Walsh angeworben, um ein neues Kapitel in der Firmengeschichte aufzuschlagen. Zuvor hatte er die staatliche irische Fluggesellschaft Aer Lingus mit teilweise brutalen Methoden saniert und dadurch vor dem Bankrott bewahrt. Vor allem sein hartes Vorgehen gegen Gewerkschaften gefiel den Briten, weil BA immer wieder durch Arbeitskämpfe lahmgelegt worden war.

Walsh war mit 40 Jahren 2001 an die Spitze von Aer Lingus berufen worden, und ein Überflieger war der Mann aus Dublin schon immer. Mit 17 flog er als Pilot für Aer Lingus; von hier stieg er ins Management auf, wo er sich mit der Bemerkung einen Namen machte, dass "ein vernünftiger Mann in Verhandlungen nie etwas erreicht". An einen Rücktritt als BA-Vorsitzender denkt er nicht. "Ich gehe nirgendwo hin", versicherte er während des Terminal-5-Debakels. "Ich werde dafür sorgen, dass dieses wunderbare Gebäude funktioniert." Wolfgang Koydl

Foto: AFP

Flughafen Heathrow Walsh, Willie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DIE FRAGE

Was machen in Heathrow verlorene Koffer in Mailand?

In Mailand wird jetzt ein Teil der 30 000 Koffer sortiert, die am Flughafen Heathrow wegen der defekten Gepäckabfertigung liegengeblieben sind. Tausende Koffer werden nach Italien geflogen.

Eine Sprecherin von British Airways: "Mit der Kurierfirma in Mailand, die jetzt die Koffer sortiert, haben wir schon mehrmals zusammengearbeitet. Wir schicken Gepäckstücke vom europäischen Festland dort hin. Der Großteil wird aber in Heathrow bearbeitet. So können wir den Rückstau schneller beseitigen. Denn die Kontrollen sind sehr aufwendig. Die Gepäckstücke müssen nämlich einen erweiterten Sicherheitscheck durchlaufen und das muss teilweise manuell geschehen. British Airways kommt natürlich für entstandene Ausgaben der Passagiere auf."

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Neuer Ärger in Heathrow

Eigentlich sah es ja so aus, als habe sich die Lage am Flughafen London-Heathrow beruhigt. British Airways (BA) schien die Probleme mit dem Gepäckfördersystem am neuen Terminal 5 in den Griff bekommen zu haben, durch die sich ein Berg von etwa 20 000 nicht transportierter Koffer aufgehäuft hatte. Doch nun geht der Ärger weiter: BA und Flughafenbetreiber BAA wollen die restlichen Flüge aus anderen Terminals nicht wie geplant im April, sondern erst im Juni verlagern. Damit soll ein zweites Mal Chaos vermieden werden.

Die Konkurrenten protestieren scharf. "Das ist eine absolut unfassbare Ankündigung", schimpft Nigel Turner, Chef des Rivalen BMI. "Davon sind 50 andere Airlines betroffen, ohne jemals angehört worden zu sein." Die übrigen Nutzer in Heathrow hatten detaillierte Umzugspläne erstellt, wie sie den frei werdenden Platz aufteilen wollten. BMI und die Star-Alliance-Partner wie Lufthansa etwa planen ein eigenes Terminal, um den Passagieren das Umsteigen zu erleichtern. Dies können sie nun vorerst vergessen, BA sei Dank. jfl

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"Eine nationale Schande"

Gestrichene Flüge, verlorene Koffer, wütende Reisende - der neue Terminal 5 in Heathrow versinkt im Chaos

Von Alexander Menden

London - An einem Tag, dem wenig Positives abzugewinnen war, lernten Radiohörer der britischen BBC zumindest, dass Deutsche allen Klischees zum Trotz Humor haben können. Ein deutscher Reisender, den eine Reporterin vergangenen Donnerstagabend fragte, was er denn vom neuen Heathrow-Terminal 5 halte, meinte trocken: "Ein schönes Gebäude. Noch schöner wäre es, wenn es auch Flüge gäbe." Damit hatte der Mann die Lage am größten Londoner Flughafen perfekt zusammengefasst. Die Eröffnung des 5,4 Milliarden Euro teuren neuen Terminals für den regulären Passagierverkehr war als "Beginn einer neuen Ära" angekündigt worden. Doch stattdessen versank "T5" in einem Wirrwarr aus endlosen Passagierschlangen, verschwundenem Gepäck und gestrichenen Flügen.

Die Probleme hatten bereits am Morgen nach der Landung des ersten Fluges aus Hongkong begonnen. Es dauerte eine Stunde, bis die Passagiere ihr Gepäck in Empfang nehmen konnten. Doch diese Wartezeit war kurz im Vergleich zu denen, die auf andere zukommen sollten. Nachdem einige Passagiere mehr als vier Stunden auf ihre Koffer gewartet hatten, kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen frustrierten Fluggästen und Bodenpersonal. Reisenden, die von Terminal 5 aus abfliegen wollten, ging es nicht besser. So starteten drei Flüge Richtung Paris ganz ohne Gepäck. Am Donnerstagabend waren außerdem insgesamt 34 abgehende und 28 ankommende innerbritische und europäische Flüge gestrichen worden.

Teilweise lag dies an den schleppenden Sicherheitskontrollen, die viel länger dauerten als geplant, vor allem aber daran, dass das neue Gepäck-Transportsystem völlig überfordert war. Nach offiziellen Angaben dazu ausgelegt, bis zu 12 000 Koffer in der Stunde abzufertigen, brach es am Donnerstagnachmittag komplett zusammen. Ein British-Airways-Angestellter räumte zudem gegenüber der Zeitung Evening Standard freimütig ein, man habe schon vorher gewusst, dass "es nicht funktionieren würde". Die Computer seien "zu schnell" für das Personal: "Am anderen Ende müssen ja immer noch Menschen die Gepäckstücke abladen." Trotz einer halbjährigen Einarbeitungszeit ist das Bodenpersonal zudem anscheinend mit der neuen Check-in-Software nicht ausreichend vertraut. In der Folge mussten gestrandete Passagiere auf dem glänzenden Marmorfußboden des neuen Flughafengebäudes übernachten. Das öffentliche Echo in Großbritannien war eindeutig: Dieses Chaos ist "eine nationale Schande", wie es auch der liberaldemokratische Parlamentsabgeordnete Alistair Carmichael formulierte, dessen Flug am Donnerstag ebenfalls gestrichen wurde.

Vor zwei Wochen, als Königin Elisabeth das Stahl- und Glasgebäude von Richard Rogers mit großem Pomp eröffnete, hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Martin Broughton, Aufsichtsratsvorsitzender der Fluglinie British Airways, verstieg sich zu der Feststellung, mit "T5" kehre man in Heathrow endlich "zu den Zeiten des Luxusreisens zurück". Neunzehn Jahre hatte die Fertigstellung des gigantischen Bauprojekts gedauert. Trotz vieler Proteste von Umweltschützern galt die Erweiterung des mit 70 Millionen Passagieren jährlich permanent an seinen Kapazitätsgrenzen operierenden Flughafens im Londoner Südwesten als wirtschaftlich unumgänglich. Sowohl die Betreibergesellschaft British Airports Authority als auch British Airways (BA), die den neuen Terminal exklusiv nutzen, sind darauf angewiesen, dass "T5" ein Erfolg wird. Besonders für BA, deren Flüge künftig zu 90 Prozent vom neuen Terminal aus abgehen sollen, ist ein reibungsloser Ablauf überlebensnotwendig. Beide Firmen sprechen angesichts der chaotischen Zustände am ersten Betriebstag beschwichtigend von "Kinderkrankheiten", die "sicher bald allesamt behoben" sein würden.

Am Freitag ging es jedoch erst einmal so weiter, wie es tags zuvor geendet hatte: Bereits am Vormittag wurden erneut mehr als 30 Flüge gecancelt, seit vier Uhr morgens stauten sich die Passagiere vor den Check-in-Schaltern. Auch für Samstag wurde mit weiteren Streichungen gerechnet. BA-Geschäftsführer Willie Walsh, der sich bei Tausenden Passagieren offiziell entschuldigte, hat inzwischen eines eingestanden: "Das war nicht gerade eine Sternstunde für uns."

Der erste Tag geriet zum Desaster: Mit großem Pomp war der neue Hightech-Terminal, dessen Planung 19 Jahre gedauert hatte, angekündigt worden. Zur Premiere am Donnerstag überwogen dann Bilder von Protestlern in roten T-Shirts ("Stoppt die Flughafen-Erweiterung"), Anzeigentafeln mit gestrichenen Flügen und wartenden Touristen, die auf dem Boden schlafen mussten. Foto: AFP

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Angst vorm Fliegen

Der neue Terminal kann das Chaos in Heathrow nicht beseitigen, darum fordern viele Briten nun den Bau eines ganz neuen Flughafens

Von Wolfgang Koydl

London, 1. April - Es mag zwar nur Galgenhumor sein, aber wenigstens einige Passagiere können mittlerweile wieder lachen - wenn es auch noch ein wenig gequält und süßsauer klingt. "Was wollen Sie, ich bin eben ein Abenteurertyp", grinst Patrick Donohue, der gerade an einem Automaten für den British-Airways-Flug von London nach Istanbul eincheckt. "Und wo findet man denn noch echte Abenteuer? Da muss man Terminal 5 echt dankbar sein."

Eine völlig neue Flugerfahrung hatten British Airways und die British Airways Authority (BAA), der Betreiber des Londoner Großflughafens Heathrow mit Eröffnung des neuen Terminals, versprochen. Aber schon vom ersten Tag an war es dieselbe alte Heathrow-Erfahrung: Menschenschlangen, Wartezeiten, gestrichene Flüge, und vor allem verlorenes Gepäck: 28 000 Koffer und Taschen haben sich während der vergangenen Tage angehäuft, die nun von Hand aussortiert und ihren Besitzern zugeordnet werden müssen.

Von einer "nationalen Schande" war schon früher im Zusammenhang mit dem überlasteten Flughafen die Rede, und davon, dass sein schlechter Ruf auch der Reputation Londons als internationalem Finanzzentrum schade. Doch dass nun auch das für 5,1 Milliarden Euro teure Vorzeigebauwerk von der Stunde Null an Mängel aufwies, überstieg das Fassungsvermögen auch der abgebrühtesten Kritiker. Der Tiefpunkt kam, als es am Wochenende durch das Glasdach tropfte. "Wenn jemand beabsichtigt hätte, Terminal 5 zum Synonym für Unfähigkeit und Missmanagement zu machen - Hut ab", meint denn auch spöttisch die Studentin Renée Dubois, die es, wie sie sagt, "riskiert", heim nach Paris zu fliegen.

Schwer zu sagen, ob der Terminal architektonisch ansprechend oder gar schön ist: Moderne Zweckbauten sind ohnehin in erster Linie auf Funktionalität ausgerichtet, und T 5 ist keine Ausnahme. Seelenlos und kalt ist er, vor allem aber groß: Der Hyde Park und Kensington Park Gardens fänden in ihm Platz, und von der Abflughalle im obersten Stock geht der Blick bis hin zur Silhouette von Windsor Castle. "Auch wir können von uns aus den Flughafen sehen", hatte Prinzgemahl Philip vor der Einweihung des Gebäudes durch die Queen angemerkt. Sehr fröhlich hatte er nicht geklungen. Denn die Royals gehören zu jenen zwei Millionen Anrainern, die vom Fluglärm gepeinigt werden.

Zur Freude der Touristen

Fünf Tage nach der pannenreichen und schmachvollen Eröffnung ist nun erstmals so etwas wie Gelassenheit in dem riesigen Abfertigungsgebäude eingekehrt. Dass es wenigstens dort ruhig geworden ist, kann aber auch daran liegen, dass British Airways vorsorglich abermals 54 Flüge gestrichen hat. Auf den Anzeigetafeln steht hinter den Destinationen Edinburgh und Newcastle, Amsterdam und Frankfurt freilich nicht mehr das Horrorwort "cancelled", sondern der Euphemismus "Enquire Airline". Es ist dann eben die Fluggesellschaft, die auf Nachfrage die schlechte Nachricht übermittelt.

So wenige Passagiere verlieren sich unter der Glaskuppel, dass Pankaj Mahli viele hundert Meter auf- und ablaufen muss, bevor er endlich jemanden findet, dem er helfen kann. "Can I help" steht in grellgelben Buchstaben auf seinem schoko-braunen T-Shirt, das ihn als Mitglied jener Truppe ausweist, die Flughafenbetreiber BAA mit Verzögerung an die Kundenfront geschickt hat, um erzürnte Fluggäste zu beruhigen.

Das BAA-Kommando wird verstärkt durch Dutzende Freiwillige von British Airways in roten Hemden und schwarzen Hosen, durch das reguläre Bodenpersonal der Airline in Ultramarin, und durch niederes BA-Management in schwarzem Blazer mit rot-weiß-blau gemusterten Krawatten. Die Zahl der Hilfswilligen übersteigt, über den Daumen gerechnet, jene der potentiell Hilfsbedürftigen leicht im Verhältnis zehn zu eins.

Mahli schätzt jedoch, dass die stattliche Samariterschar schon bald abgezogen wird. "Wir verfolgen von Tag zu Tag, wie sich die Dinge entwickeln, und sobald sich alles eingependelt hat, sind wir weg", meint er. "Heute funktioniert es ja eigentlich schon. Na ja, fast alles. Die meisten Lifte fahren nicht." Doch selbst falls eines Tages alles reibungslos läuft in Terminal 5, wird dies Heathrows Probleme nicht beheben. Das Grundproblem dieses Flughafens, der vor 62 Jahren als ewiges Provisorium aus einem Luftwaffenstützpunkt der Royal Air Force entstand, liegt darin, dass er nur zwei Start- und Landebahnen hat. Deren Kapazität ist - bei 480 000 Flügen im Jahr - zu 99 Prozent ausgelastet. Die Folgen liegen auf der Hand und werden Millionen Fluggästen jeden Tag schmerzlich vor Augen geführt: Es braucht nur ein Passagier zehn Minuten zu spät am Gate sein, und im Nu können sich Verspätungen hochschaukeln, die den gesamten Flugverkehr ins Stocken bringen.

Schon in den kommenden Monaten muss Premierminister Gordon Brown entscheiden, ob seine Regierung eine von British Airways und BAA dringend erwünschte dritte Runway und einen sechsten Terminal genehmigt. Sie argumentieren, dass Heathrow als internationale Drehscheibe in direkter Konkurrenz zu den Flughäfen in Amsterdam, Paris, Madrid oder Frankfurt steht, die zwischen drei und sechs Start- und Landebahnen besitzen und einige - anders als Heathrow - auch noch an die Gleisnetze von Hochgeschwindigkeitszügen angebunden sind.

Damit aber wird Heathrow nie mithalten können, und deshalb fordern immer mehr Fachleute und Laien eine Radikallösung: den Bau eines völlig neuen Airports in der Themsemündung im Osten von London. Nicht nur wäre dort Platz; die Flugzeuge kämen zudem über das Meer herein und nicht über bebaute Wohnflächen. Heute fliegen sie die Themse entlang quer über die Londoner Innenstadt - zur Freude der Touristen mit Fensterplatz, die von der Tower Bridge über Big Ben bis zu Hampton Court alle Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt unten vorbeigleiten sehen.

Experten freilich beschleicht Beklemmung angesichts dieses Risikos. Für sie ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine Maschine über der Stadt abstürzt. Wie akut diese Gefahr ist, wurde erst unlängst deutlich, als eine Boeing 777 absackte, kurz bevor sie die Landebahn in Heathrow erreichte.

Einstweilen müssen die Briten nur Häme erdulden. Außenminister David Miliband enthüllte, dass seine EU-Kollegen ihn wegen des "Chaos-Terminals" verspottet hätten. Einem Minister aber war das Witzeln vergangen. Heathrow hatte auch seinen Koffer verschluckt.

"Wenn jemand beabsichtigt hätte, Terminal 5 zum Synonym für Unfähigkeit und Missmanagement zu machen - Hut ab": Inzwischen ist etwas Ruhe eingekehrt, aber das liegt vor allem daran, dass sehr viele Flüge annulliert wurden. Foto: Getty

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Ich hab noch einen Koffer in Kinshasa

Terminal 5 in Heathrow ist ein Problem, aber es geht schlimmer: SZ-Reporter berichten über Flughäfen, auf denen das Chaos regiert

Das Gefühl der Leere ist auf der ganzen Welt gleich: Man steht am Förderband, die meisten Passagiere sind hinter der Drehtür verschwunden, nur der eigene Koffer hängt in der Röhre. Oder ist er irgendwo auf dem Weg ins Terminal falsch abgebogen? Steckt er im falschen Flieger? Beim neuen Superterminal 5 in Heathrow, wo seit Tagen tausende Gepäckstücke verschwinden, gibt es jetzt wenigstens Schuldige: Am Montag warfen Piloten der British Airways den Managern Arroganz und Unfähigkeit vor - die einst so stolze BA drohe zur Lachnummer zu werden, weil die Gepäckverwaltung völlig versagt habe. Ein Einzelfall? Kaum. Auch auf anderen Flughäfen regiert das Chaos - ein Überblick.

London: Zur neuen Flugerfahrung, die British Airways und BAA, der Betreiber der Londoner Flughäfen, für den neuen Terminal 5 versprachen, gehörte der sorgsamere Umgang mit Gepäck. Gerade Heathrow steht seit Jahren im Ruf, ein Bermuda-Dreieck für Koffer und Taschen zu sein: Wer hier abflog oder umstieg, konnte damit rechnen, dass er sich am Zielort wenigstens nicht abschleppen musste. Terminal 5 erhielt daher ein vollautomatisiertes, total computerisiertes Abfertigungssystem mit meilenlangen unterirdischen Förderbändern. Doch in die Software hatte sich ein Fehler geschlichen - und Zehntausende von Gepäckstücken mussten wie zu Postkutschenzeiten von Hand sortiert werden. Immerhin hat BAA einen kleinen Trost parat. "Wir kennen das Problem", versicherte eine Sprecherin. ky

Lissabon: Fernando Pinto hatte eine geniale Idee. Warum nicht für seine Airline TAP Portugal aus dem kleinen Flughafen Lissabon ein Drehkreuz machen, über das Europäer nach Südamerika fliegen könnten? Für TAP zahlt sich die Strategie ihres Vorstandschefs aus, schließlich ist das Unternehmen doppelt so groß wie noch vor zwei Jahren. Problem nur: TAP wird mittlerweile in Europa laut Verbraucherreport der Association of European Airlines (AEA) in Sachen verlorener oder verspäteter Koffer nur noch von British Airways geschlagen. Und das will etwas heißen. Aus dem Beispiel Lissabon lässt sich etwas lernen: Die Gefahr, seinen Koffer zu verlieren, ist da besonders groß, wo sehr viele Passagiere umsteigen. Auch Paris (Air France) und Amsterdam (KLM) sind ein gefährliches Pflaster. So gesehen empfiehlt es sich, für die nächste Reise Air Malta zu wählen. Die war 2007 viermal zuverlässiger als British Airways oder TAP.jfl

Chicago: Wenn Amerikaner nach ihrem persönlichen Albtraumflughafen gefragt werden, dann fällt vielen spontan ein Name ein: O'Hare - der Airport von Chicago. Wer jemals in O'Hare einen Zwischenstopp hatte, wird durch die kilometerlangen Korridore gehastet sein, um gerade noch den Anschluss zu bekommen. Nur um festzustellen, dass der Flug ohnehin verzögert ist. Viele haben schon unfreiwillige Übernachtungen hinter sich. Gewiss, es gibt eine Reihe anderer Airports, die unrühmlich aufgefallen sind: Philadelphia, Atlanta oder auch LaGuardia, der kleinste der drei New Yorker Flughäfen. Doch O'Hare hat einen speziellen Ruf. Das hängt mit zwei Faktoren zusammen: Er ist chronisch überlastet. Und das Wetter in Chicago ist chronisch schlecht. Was zur Folge hat, dass sich Flugzeuge häufig verspäten. Was wiederum weitere Verspätungen zur Folge hat. Und am Ende kommt es dann eben unweigerlich zu Flugausfällen. rkl

Kinshasa: In die kongolesische Hauptstadt Kinshasa reist man am besten ohne Gepäck. Sonst beginnt der Höllentrip schon bei der Ankunft am Aéroport international de Ndjili. Nachdem man sich nämlich zwischen ein und zwei Stunden mit den Zöllnern gestritten hat, ob man trotz gültigen Visums ein "spezielles Eintrittsgeld" für den Kongo zahlen muss oder nicht - zwischen 50 und 100 US-Dollar -, ist man bei Zahlungsverweigerung so entkräftet, dass man nur noch ins Hotel will. Braucht man dann aber noch seinen Koffer, geht man geschlagen in die nächste Schlacht. Vier, fünf ungebetene Helfer drängen sich um einen am Rollband, das nie läuft; jeder will den Gepäckschein der Fluglinie haben. Man sollte ihn nicht hergeben. Niemals. Macht man diesen Fehler trotzdem, dann wartet man. 10 Minuten, 15 Minuten, 20 Minuten. Erkundigt man sich dann nach dem Helfer, der den Zettel hat, stößt man auf Unverständnis. Ohne Zettel aber kein Koffer. Außer man gibt Scheine. US-Dollar sind beliebt, Euro noch beliebter. Zahlt man im voraus, gibt's weder Gepäckzettel noch Koffer. Zahlt man danach, kommt ein freundlicher Helfer mit dem Koffer. Der nimmt das Geld, gibt aber den Koffer danach nicht her. Der Gepäckzettel fehlt ja noch. Man könnte nun handgreiflich werden. Ratsamer ist es, nochmal fünf Dollar hervorzukramen, diese aber keinesfalls herzugeben. Erst gegen den Zettel und den Koffer und die Versicherung, dass man dann gehen darf. Klar, sagen all die freundlichen Helfer dann, was denn sonst? Willkommen im Kongo. Und viel Spaß noch. mib

Manila: Am Eingang des Flughafens steht ein Soldat. Er sieht grimmig drein und richtet seine Maschinenpistole wahlweise auf Passagiere und Zollbeamte. Neben ihm ist ein Schild angebracht, auf dem steht: "Welcome to Manila, welcome to the Philippines!" Diesen Schock muss man erstmal verdauen, nachdem man sich durch den überfüllten Terminal 2 des Ninoy Aquino International Airport gekämpft hat. Der dritte Terminal wurde zwar im Jahr 2006 zu 98 Prozent fertiggestellt, auf eine Eröffnung wartet er aufgrund von Sicherheitsmängeln und technischen Schwierigkeiten immer noch. Also wühlt man bei der Gepäckausgabe so lange in dem Berg aus Koffern, bis man seinen eigenen gefunden hat und überreicht den Wächtern ein bisschen Geld "fürs Aufpassen"; am liebsten natürlich in Dollar, dafür wird man auch "Joe" genannt. Freilich ärgert man sich dann auch nicht, dass man an den Einreiseschaltern eine Stunde lang in einer Schlange steht - man weiß ja, dass die Fahrt in die Stadt trotz einer Strecke von sieben Kilometern mindestens 90 Minuten dauern wird. Welcome to Manila, welcome to the Philippines. jüsc

Quito: In der Hauptstadt von Ecuador kann nicht jeder Pilot landen, er braucht für den schwierigen Flughafen, der auf 2800 Meter Höhe zwischen zwei Bergketten mitten in der Stadt liegt, eine besondere Lizenz. Ab und zu hat eine Fluglinie - vor allem eine aus Südamerika - gerade keinen solchen Piloten parat. Dann landet ihre Maschine statt in Quito eben in der Hafenstadt Guayaquil, und Passagiere und Gepäck werden mit kleinen Fliegern weitertransportiert. Oder auch nicht: Das Gepäck braucht dann schon mal Tage. Oft ist auch das Wetter in Quito zu schlecht zum Landen, und die Folgen sind: siehe oben. Doch auch wenn der Flieger sicher gelandet ist, kann die Passkontrolle manches durcheinander bringen: Bei großen Maschinen dauert sie manchmal so lange, dass die kurzen Gepäck-Förderbänder überquellen. Dann laden die Arbeiter alles einfach ab, und aus einem großen Haufen klaubt sich jeder seine Koffer heraus. aw

Das war nur ein Testlauf: Beim Probebetrieb klappte im neuen Terminal 5 von Heathrow bei der Gepäckabholung noch alles wie am Schnürchen. Bei der richtigen Eröffnung bot sich den Passagieren ein beispielloses Chaos. Koffer verschwinden noch immer auf rätselhafte Weise, das Management scheint machtlos, weil das Gepäck wegen eines Software-Fehlers von Hand sortiert werden muss. Foto: dpa

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Feuerwehrmann für Heathrow

Colin Matthews übernimmt bei der British Airport Authority vor allem eine Aufgabe: Europas größten Flughafen in Ordnung zu bringen

Von Andreas Oldag

Als regelmäßiger Kirchgänger hat Colin Matthews eine klare Überzeugung. "Auch in der Geschäftswelt sind christliche Werte wichtig", sagt der designierte Chef der britischen Flughafengesellschaft British Airport Authority (BAA). Der bibelfeste Manager kann dabei durchaus wie ein sorgender Pfarrer predigen.

Mehr liegt ihm allerdings das Praktische auf Erden: Er hält sich nicht lange mit Power-Point-Präsentationen auf. Wenn es im Unternehmen brennt, ist Matthews zur Stelle. Er debattiert mit Mitarbeitern und ist vor Ort, wenn er gebraucht wird. So sah man ihn im vergangenen Sommer - als er noch Chef des britischen Wasserversorgers Severn Trent war - in Gummistiefeln durch die Überschwemmungsgebiete der britischen Midlands stapfen. Nach sintflutartigen Regenfällen waren in der Grafschaft Gloucestershire die Pumpen der Wasserwerke ausgefallen. 140 000 Bewohner waren von der Versorgung abgeschnitten. Matthews organisierte 80 Tanklastwagen, die Tag und Nacht im Einsatz waren. Das sei das Schlimmste gewesen, was er je erlebt habe, sagt der Krisenmanager.

Nun kann sich Matthews auf seinen nächsten Feuerwehreinsatz vorbereiten. Wenn der 51-Jährige am 1. April den BAA-Chefposten übernimmt, muss er sich vor allem um den Chaos-Flughafen Heathrow kümmern. Europas größter Flugplatz im Westen Londons ist zum Synonym für Warteschlangen, Verspätungen und miesen Service geworden. Britische Zeitungen bringen fast täglich neue Horrormeldungen über den "Heathrow Hassle" (Heathrow-Ärger). Es sind Geschichten von entnervten Passagieren, die nach ihren Koffern suchen oder selbst irgendwo beim Umsteigen von Terminal zu Terminal in den dunklen Gängen des Betonmonsters gestrandet sind.

So vermerkte die seriöse Zeitung Daily Telegraph, dass ein normaler Fluggast, der sich in den miefigen Abfertigungshallen durch Passkontrollen und Sicherheitsschleusen manövrieren muss, stressbedingte Erscheinungen aufweist wie jemand, dem ein Messer an die Kehle gehalten wird. Heathrow sei eine "Schande für London", schimpfte Londons Bürgermeister Ken Livingstone bei einem Empfang von Geschäftsleuten. Er befürchtet, dass Heathrow zu einem Standortnachteil für den Finanzplatz London wird, weil eilige Manager einen Bogen um die City machen.

Matthews, der jetzt den glücklosen Stephen Nelson ablöst, muss an verschiedenen Brandherden tätig werden. BAA, die vor zwei Jahren vom spanischen Baukonzern Ferrovial für 10,3 Milliarden Pfund übernommen wurde, hat in den vergangenen Monaten ein halbes Dutzend hochrangiger Manager verloren. Sie haben angesichts der geballten Probleme des Flughafenbetreibers kapituliert. "Matthews' erste Aufgabe wird es sein, erfahrene Leute anzuheuern. Er muss ein schlagkräftiges Sanierungsteam bilden", sagt ein Londoner Banker.

Matthews braucht dringend Geld

Auch sitzt BAA nach der Übernahme noch immer auf einem gewaltigen Schuldenberg. Um den abzutragen, wird Matthews Unternehmensteile verkaufen müssen, im Gespräch sind etwa die Duty-Free-Shops. Die Einnahmen braucht der neue BAA-Chef dringend für die seit Jahren überfälligen Investitionen und den weiteren Ausbau des Flughafens. Schon jetzt ist absehbar, dass Terminal 5, das Ende März in Betrieb gehen soll, nur vorübergehend Entlastung bringen wird. Wahrscheinlich muss bald eine dritte Startbahn gebaut werden. Auch die alten Terminals 1 und 2 sollen noch vor den Olympischen Spielen 2012 renoviert werden. Experten rechnen bereits mit 115 Millionen Passagieren pro Jahr bis 2020. Derzeit sind es 67 Millionen.

Wie es heißt, will der BAA-Aufsichtsratsvorsitzende Sir Nigel Rudd seinem neuen Vorstandschef Matthews freie Hand lassen. Der gebürtige Kanadier aus Toronto studierte Wirtschaftswissenschaften in Cambridge und in Paris. Seine Karriere begann er bei der Managementberatung Bain. Er wechselte dann zu General Electric, British Airways, dem Gasverteiler Transco und der Personalservicegesellschaft Hays. Aus dem unübersichtlichen Firmenkonglomerat gliederte er den Postdienst DX aus.

Eine ähnlich schwierige Operation gelang ihm beim Wasserversorger Severn Trent, wo er die Müllentsorgungsfirma Biffa verkaufte. Trent war zudem für interne Skandale und Schlampereien bei der Kundenabrechnung kritisiert worden. Matthews räumte schnell auf und machte Severn Trent wieder profitabel.

So setzt man nun bei BAA alle Hoffnung auf den Neuen. Vielleicht helfen ihm dort christliche Werte, um die 12 000 BAA-Mitarbeiter zu motivieren, damit Heathrow nicht länger Europas Chaos-Flughafen bleibt.

Kartellamt ermittelt

Nach Klagen verschiedener Fluggesellschaften hat die britische Kartellbehörde Competition Commission ein Verfahren gegen BAA eingeleitet. Die Wettbewerbshüter prüfen, inwieweit der Flughafenbetreiber durch eine Monopolstellung seine Pflichten als Dienstleister verletzt. BAA könnte gezwungen werden, zumindest einen seiner Londoner Flughäfen abzugeben. Neben Heathrow gehören die Flughäfen Gatwick und Stansted zu BAA. Ähnlich wie Heathrow soll auch Stansted eine weitere Startbahn erhalten. old.

Londoner Zeitungen berichten beinahe täglich vom "Heathrow Hassle". Matthews soll den Stress der Fluggäste in den kommenden Monaten deutlich verringern. Fotos: Imago, Bloomberg

Flughafen Heathrow British Airport Authority PLC BAA: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Euro hat sich am Mittwoch über der Marke von 1,29 Dollar stabilisiert. Gegen 16 Uhr notierte die europäische Gemeinschaftswährung bei 1,2935 (Dienstag: 1,2884) Dollar. Dagegen setzte das britische Pfund seine Talfahrt fort und fiel zeitweise auf 1,3713 Dollar. Das ist der tiefste Stand seit Juni 2001. "Die Wirtschaft befindet sich tief in der Rezession mit einem angeschlagenen Bankensektor", bemerkten Devisenexperten. Die Notenbank habe ihr Pulver weitgehend verschossen, und auch der Haushalt befinde sich in einem desaströsen Zustand. Auch zum Euro gab die britische Währung weiter nach und notierte zuletzt bei 0,9376 (0,9363) Pfund je Euro.

Zum Londoner Nachmittagsfixing lag der Goldpreis bei 849,25 (853,25) Dollar je Feinunze. SZ/Reuters/dpa

Devisen und Rohstoffe: Euro stabilisiert sich

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Flamme und Holz

Ein Philosoph mit den Stacheln des Seeigels: In Berlin erinnert eine Skulptur Alexander Polzins an Giordano Bruno / Von Durs Grünbein

Die Wege der Künstler sind unergründlich. Was bringt einen jungen Berliner Bildhauer Anno Domini 2008 dazu, den Philosophen Giordano Bruno mit einer Denkmalskulptur zu ehren? Dass es sich nicht nur um Auftragskunst handelt, wird einem schnell klar, wenn man Alexander Polzin danach befragt. Groß muss die Anziehungskraft des einsamen Dominikanermönches auf ihn gewesen sein. Gut möglich, dass sie ihn an die kosmische Einsamkeit des Menschen in der Unendlichkeit der Welträume erinnert hat, ein bestimmter Nerv wird da berührt worden sein, sonst hätte er sich nicht auf den Weg nach Nola gemacht, einem kleinen Städtchen in Sichtweite des Vesuvs. Es ist Brunos Geburtsort, und dort im Rathaus steht nun das Holzoriginal seiner Plastik zur Erinnerung an den verlorenen Sohn der Stadt, auf Betreiben des Bildhauers, mit dem Segen der Gemeinde, aufgestellt. Zur Genealogie des Projekts gehört noch ein weiterer Standort, die Central European University in Budapest, die mit den Stiftungsgeldern des Aktienmilliardärs George Soros gegründete Bildungseinrichtung. Von ungarischer Seite ist man zum ersten Mal an den Künstler herangetreten, mit der Bitte um eine freistehende Skulptur als Blickfang an prominenter Stelle. Er habe nicht lange überlegen müssen, sagt Polzin, spontan sei ihm Giordano Bruno in den Sinn gekommen - überwältigend treffsicher und doch ungewöhnlich genug: der Ketzer als Vorbildfigur eines jungen, unabhängigen Europa. Und weil wir bei den unergründlichen Wegen sind: Ins Ohr gesetzt hatte den Floh ihm der Dramatiker Heiner Müller, zu dessen späten Arbeitsvorhaben auch ein Giordano-Bruno-Stück gehörte, leider nicht mehr ausgeführt.

Die Phantasie des Stückeschreibers war stark angeregt von der berüchtigten Renaissancegestalt: ein Mann, der sich im London der Shakespearezeit herumgetrieben hatte, vergeblich sich um einen Lehrauftrag in Oxford bemühend. Man kommt schnell ins Träumen, stellt man sich den Philosophen in seiner härenen Kutte vor auf dem Weg zum Globe-Theatre, "an Kneipen Bordellen Mördergruben vorbei", wie es bei Müller heißt. Wir wissen, er ist auch in Wittenberg gewesen, hat im Zentrum der Reformation ein Loblied auf Luther gesungen, in Prag hat er Kaiser Rudolf II., dem Förderer der Künste und der Wissenschaften, seine Thesen gegen die euklidische Geometrie vorgetragen. Er war in Toulouse, Avignon und Paris, Zürich und Genf, nur aus Budapest haben wir kein Zeugnis, von Berlin, damals ein Nest am Rande der Reichsstraßen, zu schweigen. Dieser Wandermönch hat das Europa der Glaubenskämpfe durchquert wie kein Zweiter, immer auf der Hut vor jedem lokalen Christentum, denn es war lebensgefährlich damals, ein Christ zu sein. Tausende Kilometer ist er unterwegs gewesen, die meisten davon zu Fuß, bis sie ihn schließlich in Venedig in einen Käfig sperren, und dann beginnt sein achtjähriger Kampf mit den Mächten der Inquisition, der nicht zu gewinnen war, den er wohl auch nicht hat gewinnen wollen. Bei diesem glühenden Frühaufklärer läuft alles auf den Satz hinaus, den er den Kardinälen entgegenhält: "Mit größerer Furcht verkündigt ihr das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme." Im Jubeljahr Anno Domini 1600 wird er in Rom öffentlich verbrannt, wie zur Begrüßung des neuen Jahrhunderts, ein Opfer der mächtig wütenden Gegenreformation.

Die Kapuze über dem Haupt

War es die Legende vom Häretiker und geistigen Helden, die den Bildhauer anzog? Oder die Vita des Poeten und genialen Naturphilosophen? Ich werde mich hüten, ihn festzunageln, mir genügt die Chronik seines europaweiten Skulpturenprojekts. Sein Gedenken gilt dem sehr einsamen Geistesriesen, hinter dem nie eine Institution gestanden hat, keine Alma Mater, keine Akademie der Wissenschaften. Es gibt in Rom ein eindrucksvolles Bruno-Monument, kein Tourist geht ganz achtlos daran vorbei. Auf dem Campo di Fiori, der Hinrichtungsstätte, wo wie in alter Zeit auch heute noch der Blumenmarkt stattfindet, steht er, die Kapuze überm gesenkten Haupt, und schaut die Unbeteiligten zu seinen Füßen durchdringend an. Es ist ein stummer Protest gegen die allgemeine Gleichgültigkeit, aber auch eine Mahnwache gegen den Schlaf der Vernunft, den Trott der stumpfsinnigen Realismen und eindimensionalen Weltbilder.

Nola, Budapest und Berlin sind nun die Stationen von Alexander Polzins Wiedergutmachungswerk, und dieses Werk ist von ganz anderer Art als das römische Denkmal von 1889 mit seinen plastischen Reliefszenen im anschaulichen Stil der Historienbilder. In Berlin liegt die Sache ein wenig anders. Es hat mancher Fürsprache in Hinterzimmern bedurft, ehe es zu dem erstaunlichen Anlass hat kommen können. So ganz wird den exotischen Moment nur begreifen, wer sich mit dem Werk Polzins etwas vertraut gemacht hat, mit seiner höchst eigensinnigen Form von Memorialkunst, auch mit der sanften Beharrlichkeit dieses Künstlers, seiner Gabe, hin und wieder durch Wände zu gehen.

Denn darum geht es, wenn nicht alles täuscht, hier: gerade da ein Zeichen zu setzen, wo alle Zeichen im Vorübergehen neutralisiert werden und verpuffen. Ein Zeichen wofür, könnte man fragen - und unterlässt es besser, wohlwissend, wie schnell all die möglichen Antworten untergehen würden in dem allgemeinen Füßescharren und flüchtigen Stimmengemurmel, das an öffentlichen Plätzen vorherrscht. Der Ort, soviel ist sicher, könnte beziehungsloser nicht sein. Giordano Bruno in Berlin? Eine Skulptur, für unbestimmte Zeit untergestellt in einem der glasüberdachten Zugänge zur U-Bahnstation am Potsdamer Platz? Nein, es gibt keine einfache Erklärung für diese Aktion. Was es gibt, ist die fürchterlich konkrete Symbolik einer kopfunter hängenden, sechs Meter großen Menschenfigur, herausgeschnitten aus einem einzigen Fichtenstamm und dann in Bronze gegossen. Diese ist, in gedrängter Form und gedrängten Worten: ein ikonographisches Alarmsignal. Expressive Formel, die für den Ikarussturz, den Luzifersündenfall oder die Folterqual eines Menschen vor der heiligen Inquisition stehen mag. Eine Schraubbewegung wird andeutet, hinein ins Wurzelwerk oder heraus, wer könnte das so genau sagen, und ohne Zweifel geht es um das Inbild des nackten, geschundenen Menschen mit überstreckten Füßen, Armen und Händen. Spekulieren ließe sich über die Bedeutung der sechs Finger an einer der Hände, über die weiblichen Schwellformen des Rumpfes, wenn sich nicht jedes Wühlen in Symbolen, heute im vielstimmigen Schweigen der Künste nach ihrer Moderne, verbieten würde. Die sechsfingrige Gestalt bringt den Magier und Abweichler, den Theoretiker des Übernatürlichen ins Spiel, der Brustansatz verweist auf die arkane, feminine Seite seiner Naturphilosophie - wenn man dem folgen will. Halten wir uns an das Holz, das dem Entwurf zugrunde liegt, ein Kohlenstoffmaterial, und an das Erz, in das es sich mit all seiner Maserung verwandelt hat, eine Kupfer-Zinn-Legierung. Damit haben wir, was wir brauchen: eine Rhetorik des Feuers, die diesem Mann gerecht wird, eine Ahnung von der Sprache der Alchemie und der Metamorphosen, die ihn als Pantheisten beflügelte. Bruno war gewiss der furchtloseste und aufrichtigste aller neuzeitlichen Kosmologen. In seinen Dialogen wird mit aller Deutlichkeit das Versteckspiel um die neuen Lehren von Kopernikus und Kepler beendet. Hier argumentierte einer, der im Universum ein einziges Kontinuum sah und keine Angst mehr hatte vor dem Gedanken an die Unendlichkeit und die Unbeständigkeit des Weltalls.

Viel Pathos hat sich um die Figur des Giordano Bruno abgelagert. Nicht ganz unverdient ist er zur Leitfigur eines wissenschaftsfrommen Atheismus geworden. Die gängige Bruno-Verehrung hat dabei etwas ebenso Unbarmherziges wie seine frühere Verdammung. Man möchte ihn in Schutz nehmen vor seinen falschen Freunden und ewig gestrigen Feinden. Am Ende reklamieren ihn noch die Sturköpfe unter den Evolutionisten, Propagandisten des "Gotteswahns" wie der britische Zoologe Dawkins, als einen der ihren. Nein, das täte einem denn doch leid. Denn die geistige Welt dieses Mannes war weit kabbalistischer, rätselhafter als ein moderner Reduktionist von heute es sich träumen ließe. Dieser Philosoph ist auf dem Pegasus durch die Welt geflogen, sein Denken war so vielgestaltig und in sich so uneins, wie ein Seeigel mit Stacheln bespickt ist.

Die Welt ist Chaos

Ich glaube, dass jede Vereinnahmung Brunos für irgendeinen selbstgewissen Szientismus unzulässig ist. Ziffer 109 in Friedrich Nietzsches Buch von der "Fröhlichen Wissenschaft" spricht das Bedenken aus. Der bekennende Bruno-Leser, brüderlich angestachelt vom historischen Rachedurst eines so Schlimm-Gehetzten und Zwangs-Einsiedlers, erklärt sich mit den Konsequenzen eines solchen Denkens solidarisch, wenn er ausruft: "Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? (. . .) Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel aufkommen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt. . . Der Gesammtcharakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos. . . Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe." Das ist die raue Außenwelt, wie ein Bruno sie beim Durchbrechen des Himmelsgewölbes als Erster gewittert hat. Das ist eine Prosa, die sich an seine brutale, buchstäblich exorbitante Kosmologie anlehnt. Dieser Giordano Bruno, kein artistischer Übergriff wird daran etwas ändern, war ein kompromissloser Astro-Anarchist, ein ins Mittelalter verschlagener Vorsokratiker, ein Dionysiker in der Mönchskutte. Kein Wunder, wenn die Menschen in einer Zeit der Glaubenskrisen in ihm ein geistiges Monstrum sahen, den "Fürsten der Ketzer". Auch wenn er die Kirche ins Mark traf mit seiner Infragestellung der Schöpfungslehre, seinen Ausfällen gegen Jesus Christus und die Dreifaltigkeit - wir heute können damit leben, uns empört die Grausamkeit des Justizmordes. Die Akten sind in den Archiven, sein Prozess aber ist nicht zu Ende. Während Galilei vor kurzem rehabilitiert wurde, ist der Fall Bruno im Vatikan weiterhin kirchenpolitisch tabu. Es scheint die Meinung vorzuherrschen, hier habe einer sein Schicksal verdient, und nicht unverschuldet sei er zuletzt aufs Rad gekommen. Sie haben ihm die Arme aus den Gelenken gerissen, bevor sie ihn nackt an den Pfahl banden: einen Mann von mittlerer Statur, mit kastanienblondem Bart, wie eine Personenbeschreibung ihn überliefert. Dass er außerdem ein sublimer Orphiker war, der Komödien und Sonette schrieb und sich an der Musik seiner Worte berauschte, haben die Künstler früh gespürt, und darum fühlen sie sich ihm verbunden. Schopenhauer, der in ihm den Buddhisten erkannte, nannte ihn eine tropische Pflanze in Europa.

Ich sprach von der Gleichgültigkeit vor dem Außerordentlichen, vom Alleinsein der Opfer. Ein Bild, das sich mit Brunos Tod verbindet, ist das der unmittelbaren Nachbarschaft von Heldentum und gewöhnlicher Ignoranz. Es war, als sei etwas von der Kälte des Außenraumes in das Verhalten der Menschenmenge eingedrungen, die kühl ihren Geschäften nachging, während der eine in den Flammen verschmorte. Kein anderer als ein großstädtisch neutraler, ein sozial so kalter Aufstellungsort wie ein U-Bahn-Eingang könnte besser von solchem mitleidlosen Nebeneinander zeugen.

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, ist Lyriker und Essayist.

Giordano Bruno ist der sehr einsame Geistesriese, hinter dem nie eine Institution gestanden hat. Der Bildhauer Alexander Polzin hat ihm eine Skulptur gewidmet - in Nola, in Budapest und eben in Berlin am Potsdamer Platz. "Dieser Ort", sagt Grünbein, " soviel ist sicher, könnte beziehungsloser nicht sein. Giordano Bruno in Berlin?" Aber gerade in dieser Beziehungslosigkeit entfaltet Polzins Kunstwerk seinen triftigen Reiz. Foto: Peter Meissner/action press

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Grüne bremsen die erstarkten Liberalen aus

Die Bundesländer Hamburg und Bremen verständigen sich darauf, dem Konjunkturpaket doch zuzustimmen

Hamburg/Berlin - Der Weg für das Konjunkturpaket der schwarz-roten Bundesregierung ist fast frei. Am Dienstag meldeten die beiden einzigen Länder mit grüner Regierungsbeteiligung, die Stadtstaaten Hamburg und Bremen, im Bundesrat dem Maßnahmenbündel zuzustimmen. Allerdings stellt der schwarz-grüne Hamburger Senat die Bedingung, dass bei der geplanten Abwrackprämie für Altautos nachgebessert wird. Die Bürgermeister beider Stadtstaaten, der Hamburger Ole von Beust (CDU) und der Bremer Jens Böhrnsen (SPD), hatten vor der Entscheidung ihrer Senate mehrmals miteinander telefoniert. Auch unter den Grünen beider Hansestädte gab es Beratungen. Den Entscheidungen Hamburgs und Bremens gingen nach Angaben aus SPD-Kreisen zudem Kontakte von Bundespolitikern der SPD und der Grünen voraus.

"Wir haben uns früh festgelegt, um Nachbesserungen durch die FDP zu verhindern", sagte Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen. Durch das sich in Hessen anbahnende Bündnis zwischen CDU und FDP droht die große Koalition in der Länderkammer ihre knappe Mehrheit zu verlieren. Union und SPD kämen nur noch auf 30 der 69 Stimmen. Bremen und Hamburg verfügen über jeweils drei Stimmen - verließen sie im Abstimmungsverhalten den neutralen Block, gäbe es im Bundesrat wieder eine Mehrheit von 36 Stimmen für das Konjunkturpaket.

In Hamburg verständigten sich Bürgermeister Beust und die grüne Umweltsenatorin Anja Hajduk auf die Bedingung, dass die Prämie für die Verschrottung von Altautos zu einem geringeren Kohlendioxidausstoß führen müsse. "Die Abwrackprämie muss ökologisch sinnvoll sein", sagte Hajduk dazu. Bei den Grünen sorgt die Zustimmung der beiden Stadtstaaten parteiintern allerdings für Unruhe. Die Bundespartei lehnt das Konjunkturpaket ab, der Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Fritz Kuhn, hatte es sogar als "Murks" bezeichnet.

Allerdings agieren die Grünen aus Bremen und Hamburg durchaus in Absprache mit der Bundespartei. Im Parteirat wurde am Montag mit den grünen Senatoren Anja Hajduk und Reinhard Loske aus den beiden Stadtstaaten verabredet, "eng beieinander zu bleiben". Die Grünen können der Zustimmung aus dem Norden nämlich die schöne Seite abgewinnen, dass Guido Westerwelle und seine FDP das letzte Wort über das Konjunkturpaket nun wieder verlieren. "Die Grünen sind nicht bereit, der FDP einen Stellenwert auf Bundesebene einzuräumen, der ihr zahlenmäßig nicht zukommmt", ließ Kuhn nun wissen. Und Vize-Fraktionschef Jürgen Trittin freute sich: "In Tagesfrist wurde die heiße Luft aus Guido Westerwelle abgelassen, die ihn seit Sonntag gefüllt hat." Die neue Lage stärke "die Fähigkeit zu den Grundrechenarten. 50 Prozent von 69 ist halt nicht 29, sondern man muss dann schon 35 haben." Die sechs Stimmen aus den beiden Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung seien im Bundesrat ebenso viel wert wie die 29 Stimmen aus den schwarz-gelben Bundesländern. "Die von der FDP geforderten Steuersenkungen könnten nicht "im Interesse eines sehr armen Landes wie Bremen" liegen, betonte er. Die Zustimmung zum Konjunkturpaket verhindere Schlimmeres.

"Wir haben das so beschlossen, und ich stehe dazu", sagte Bremens Finanzsenatorin Karoline Linnert. Bremen bekäme aus dem Konjunkturpaket 88 Millionen Euro vom Bund, die das Land selbst mit 29 Millionen Euro aufstocken müsste. Dafür müsste Bremen neue Schulden aufnehmen. "Das können wir uns zwar eigentlich nicht leisten", sagte Linnert, "aber wir können es uns erst recht nicht leisten, auf das Geld vom Bund zu verzichten, mit dem wir viele wichtige, nachhaltige Dinge machen können."

Leichte Verstimmungen

Linnert sorgte sich wie Böhrnsen um eine Einflussnahme der erstarkten FDP auf die Anschubhilfen für die Konjunktur. Könnte FDP-Chef Westerwelle beim Treffen mit Kanzlerin Merkel am Mittwoch Bedingungen stellen, "kämen da sicher weitere Steuergeschenke für die nicht gerade Ärmsten der Armen heraus, die Bremen mitbezahlen müsste", so Linnert. Die erste grüne Finanzministerin der Republik stimmte deshalb bedingungslos zu. Linnert: "Die Bundesregierung muss sich ihre Politik nicht von der FDP aufzwingen lassen. Sie kann auch andere Mehrheiten finden." Leichte Verstimmungen gab es allerdings zwischen Hamburg und Bremen: Dass die GAL an der Alster Bedingungen an ihr Ja stellte, lässt die Bremer "alt aussehen", sagte Linnert: "Als Grüne darf man offenbar nicht bedingungslos zustimmen. Aber damit müssen wir nun leben."

Sie sehe die Forderungen der FDP nach weiteren Steuersenkungen mit großer Sorge, sagte auch die Hamburger Senatorin Hajduk. Auch ihr Senat wolle dem Konjunkturpaket zustimmen, um zusätzliche Belastungen für den Etat zu vermeiden. Ihre Partei habe durch die bevorstehende Verschiebung der Machtverhältnisse im Bundesrat an Optionen gewonnen. "Nach der Hessenwahl können Grüne in Hamburg und Bremen Entscheidungen stärker beeinflussen", sagte GAL-Fraktionschef Jens Kerstan. "Die FDP kann alleine keine Entscheidung im Bundesrat durchsetzen. Wenn die grün mitregierten Stadtstaaten mit der großen Koalition stimmen, werden die Stimmen der FDP-mitregierten Länder nicht mehr gebraucht", fügte der Grünen-Politiker hinzu. rtw/dbr/jsc

Die Abwrackprämie alter Autos - hier ein Schrottplatz bei Hamburg -;; wird nun wohl doch den Bundesrat passieren können. Die Stadtstaaten Hamburg und Bremen, in denen die Grünen an den Regierungen beteiligt sind, kündigten an, dem Konjunkturpaket der Bundesregierung zustimmen zu wollen. Foto: AP

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Die Schuld der Opfer

Räumen Diebe mit gestohlenen EC-Karten das Konto leer, müssen die Kunden laut einem Urteil beweisen, vorsichtig gewesen zu sein

Von Angelika Slavik

München - Der Blick auf den Kontostand bringt immer wieder böse Überraschungen - doch nicht immer ist die finanzielle Misere nur der eigenen Konsumlust zuzuschreiben: Immer häufiger werden Bankkunden Opfer von EC-Karten-Betrug. Insgesamt räumen Kriminelle jedes Jahr einen "zweistelligen Millionenbetrag" von deutschen Konten, sagt Hans-Werner Niklasch, Geschäftsführer des Unternehmens Euro Kartensysteme, zur Süddeutschen Zeitung. Mehr als die Hälfte davon entstehe, weil Kunden ihre EC-Karte geklaut wurde und die Geheimzahl offenbar zusammen mit der Karte aufbewahrt wurde. "Der Großteil der Schäden könnte vermieden werden, gingen die Menschen vorsichtiger mit ihrer Geheimzahl um", glaubt Niklasch. Dass die Täter auf andere Weise an den sogenannten Pin-Code kommen könnten, sei ausgeschlossen: "Das System ist absolut sicher." Seine Firma kümmert sich im Auftrag der Banken darum, dass die Schäden beglichen werden.

Trotzdem kommt es nach Angaben der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen in jüngster Zeit verstärkt zu Betrugsfällen, bei denen die bestohlenen Kunden die Geheimzahl nicht zusammen mit der EC-Karte aufbewahrt hätten. "Wir bemerken eine Häufung solcher Fälle", sagt der Finanzexperte der Verbraucherzentrale, Thomas Bieler. Man müsse daher davon ausgehen, dass es Trickbetrügern möglich sei, das Pin-System zu knacken und so die Kunden zu bestehlen. "Es muss eine Sicherheitslücke geben", glaubt Bieler. Die große Zahl an Fällen könne nicht einfach mit der Ungeschicklichkeit der Opfer erklärt werden.

Das Oberlandesgericht Frankfurt gelangte nun aber zu der Ansicht, dass die Betrogenen in den meisten Fällen selbst Schuld seien. Das Gericht wies eine Sammelklage der Verbraucherzentrale gegen die Deutsche Bank zurück. Die Konsumentenschützer hatten die Sicherheit des Kartensystems angezweifelt. Gutachter bestätigten aber im Prozess die Sicherheit des Verfahrens, und die Richter schlossen sich dieser Meinung an. Die logische Folgerung: Wenn die Täter unmittelbar nach dem Diebstahl der Karte mit dieser am Geldautomaten abheben, kann dies also nur daran liegen, dass der Kartenbesitzer die Geheimzahl nicht ordnungsgemäß geschützt hat. Die Opfer bleiben somit auf dem Schaden sitzen. Denn bei "grober Fahrlässigkeit" des Kunden haften Banken nicht für den Verlust. Als fahrlässig gilt etwa, wer den Pin-Code auf einen Zettel geschrieben und zusammen mit der Karte aufbewahrt hat. Wer allerdings die Geheimzahl verschlüsselt in seinem Telefonbuch notiert hat, darf sich Hoffnung auf Schadensersatz machen. Auch all jene, die Karte und Code zu Hause aufbewahrt hatten, sind fein raus: Sie gelten gemeinhin nicht als unvorsichtig.

Bundesgerichtshof gefragt

Das Urteil hat Folgen: Kunden, deren Karten bereits kurz nach dem Entwenden am Geldautomaten benutzt wurden, müssen beweisen, nicht fahrlässig gewesen zu sein, um Schadensersatz zu bekommen. Die Beweislast liegt also bei den Opfern, sie gelten nicht automatisch als glaubwürdig. Die Verbraucherzentrale wollte mit der Klage durchsetzen, dass die Beweislast auf die Banken übergeht. "Nachzuweisen, dass man alles richtig gemacht hat, ist für den Kunden beinahe unmöglich", sagt Konsumentenschützer Bieler. Deshalb wolle man vor den Bundesgerichtshof ziehen, um doch noch die Beweislastumkehr zu erreichen. Scheitert die Klage auch dort, müssten die Verbraucher ihren Umgang mit EC-Karten überdenken, erklärt Bieler. "Dann sollten die Menschen ihre Karten am besten im Tresor einsperren."

Anders fällt die Interpretation des Urteils bei der Deutschen Bank aus: "Wer sorgfältig mit Karte und Code umgeht, hat keinen Schaden zu befürchten", sagt ein Sprecher. Bei Manipulationen etwa am Geldautomaten, an denen die Kunden schuldlos seien, würden die Verluste weiterhin anstandslos ersetzt.

Tipps zum Schutz vor Betrügern

Beim Betrug mit EC-Karten nutzen Ganoven zwei Methoden - mal werden Geldautomaten manipuliert, mal der Pin-Code ausgespäht und die Karte gestohlen. Einfache Vorkehrungen verringern das Risiko für die Kunden:

Pin-Code schützen: Beim Eintippen der Geheimzahl sollte man immer mit der freien Hand die Tastatur verdecken. Das schützt vor illegal angebrachten Kameras ebenso wie vor neugierigen Blicken.

Karte nicht aus den Augen lassen: Besonders im Urlaub sollte man niemals den Verkäufer mit der Karte ins Nebenzimmer verschwinden lassen. Im Ausland ist es besonders leicht, mit gefälschten Karten Geld abzuheben.

Wachsam sein: Ungewöhnliche Vorrichtungen am Einsteckschlitz des Geldautomaten sollten misstrauisch machen. Auch wenn die Karte nach der Transaktion nicht wieder aus dem Automaten kommt, könnte das ein Zeichen für Manipulation sein.

Rasch reagieren: Beim Verdacht auf Manipulation oder Diebstahl muss der Kunde die Karte sofort sperren lassen. Danach ist man in jedem Fall vor Verlusten geschützt. as

Verbraucherschützer bezweifeln die Sicherheit des EC-Karten-Systems: Auch wenn Kunden nicht leichtsinnig handeln, seien Betrügereien möglich. Foto: dpa

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Spion an der Supermarktkasse

Mit moderner Elektronik erschleichen sich Gauner die Daten von EC-Karten und räumen damit die Konten der Kunden ab

Von Marco Völklein

München - Den Einbruch Mitte April bemerkte niemand. Das war auch schwierig, denn mitgehen ließen die Einbrecher aus dem Baumarkt in Mainz nichts. Erst als sich vermehrt Kunden bei der Polizei meldeten, denen Fremde Geld vom Girokonto abgeräumt hatten, stellten die Ermittler fest, dass es einen Einbruch gegeben hatte. Die Kriminellen hatten es auf die EC-Karten-Terminals an den Kassen abgesehen. Dort installierten sie unbemerkt ein kleines Bauteil und plünderten schließlich die Konten.

Von "Skimming" (englisch für "abschöpfen") sprechen Kriminalbeamte und Verbraucherschützer, wenn sich kriminelle Banden die Daten von EC-Karten, auch Maestro-Karten genannt, besorgen und zugleich die Geheimzahl des Nutzers ausspionieren. Anschließend transferieren die Betrüger die Daten auf Blanko-Plastikkarten und heben damit an Geldautomaten im Ausland Bares ab. "Bisher haben die Täter meist Bankautomaten manipuliert", sagt Sandra Clemens vom Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden. "Neu ist jetzt, dass sie sich auf die Terminals an den Kassen im Einzelhandel konzentrieren."

Denn mit dem neuen Trick lassen sich aus Sicht der Gauner gleich zwei Probleme auf einmal lösen. Bisher gingen sie meist so vor: Sie fertigten spezielle Aufsätze an, die sie vor den Kartenleseschlitz eines Geldautomaten setzten. Kriminalpolizisten und erst recht technische Laien konnten diese Manipulation in vielen Fällen nicht bemerken. Mit dem Aufsatz lasen die Gauner die auf dem Magnetstreifen der Karte gespeicherten Kontodaten ab. Nur ein Problem blieb für die Betrüger: Wie gelangt man an die Geheimzahl des Kunden? Dazu bedurfte es eines zweiten Schritts: Einige Banden installierten am Geldautomaten eine Minikamera und filmten damit das Eingabefeld. Oder sie klebten eine hauchdünne, berührungsempfindliche Folie über das Tastaturfeld und erhielten so die vierstellige Geheimziffer des Kunden.

Bei der neuen Variante werden beide Schritte in einem erledigt: Die Banden brechen in Super- oder Baumärkte ein und bauen in das Kassenterminal einen Chip ein. Der speichert automatisch die Daten aus dem Magnetstreifen und erfasst zusätzlich die vom Kunden eingegebenen Daten. "Der Kunde wie die Kassiererin können gar nicht erkennen, dass die Daten auf diese Weise abgelesen werden", sagt BKA-Expertin Clemens. Per Funk überträgt das eingesetzte Bauteil die Daten an die Betrüger, die zum Teil mit dem Laptop auf dem Schoß im Auto auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt sitzen. Mit den Daten fertigen sie Karten-Doubletten an.

Im vergangenen Jahr zählte das BKA insgesamt 1349 Skimming-Fälle - etwa 50 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die meisten Fälle bezogen sich zwar noch auf Manipulationen von Geldautomaten. Vermehrt nahmen die Gauner aber auch die Kassenterminals ins Visier. Nicht nur in dem Baumarkt in Mainz entdeckten Ermittler manipulierte Terminals. Zuvor waren bereits in Singen, in Kassel und in Hofheim (Taunus) Kassen manipuliert worden. Im Jahr 2007 waren einzelne Terminals verschwunden - "offenbar zu Testzwecken", so BKA-Expertin Clemens. Allein in Hofheim erstatteten 160 Geschädigte Betrugsanzeige bei der Polizei. Die Behörde bezifferte den Schaden dort auf 1,4 Millionen Euro.

Einsetzen können die Betrüger die Doublettenkarten übrigens nur im Ausland. Deutsche Banken verwenden Geldautomaten, die kopierte Karten erkennen und einziehen. Automaten im Ausland besitzen diese Funktion nicht. So räumten die Täter, die sich in Mainz die Daten beschafft hatten, die Konten über Automaten in Rumänien und Italien ab.

Allerdings haben die geschädigten Kunden in den meisten Fällen gute Chancen, ihr Geld zurückzuerhalten, erläutert Josephine Holzhäuser, Juristin bei der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Grundsätzlich muss zwar der Kunde den Nachweis erbringen, dass er sich nicht grob fahrlässig verhalten hat - also nicht zum Beispiel seine Geheimzahl auf einem Zettel im Portemonnaie notierte. Bei den Fällen in den Bau- und Supermärkten allerdings stellte die Polizei eine klare kriminelle Handlung fest. Zudem hatten die Betrüger die Doubletten-Karten an wenigen Automaten im Ausland eingesetzt. Bei dieser Häufung von klaren Indizien hätten sich die Banken nicht einer Entschädigung der geprellten Kunden widersetzt, erklärt Holzhäuser.

Mittlerweile versuchen auch die betroffenen Unternehmen gegenzusteuern. Der Kartendienstleister B+S Card Service aus Frankfurt stattet seit Sommer vergangenen Jahres seine Kassenterminals mit einem Sicherheitssiegel aus. Wer das Terminal öffnet, um es zu manipulieren, muss das Siegel brechen. "Bei regelmäßigen Kontrollen der Kassenterminals lassen sich so Manipulationen erkennen", sagt Martin Jung von B+S. Händler können alte Geräte zudem nachrüsten lassen. "Es wäre auch schlimm", sagt Verbraucherschützerin Holzhäuser, "wenn das Vertrauen der Kunden in die Sicherheit des Kartensystems auf Dauer untergraben würde."

So können sich Bankkunden schützen

Das Problem bei der Abzocke per Skimming ist, dass der Verbraucher es zunächst gar nicht merkt, wenn seine Daten geklaut werden. "Umso wichtiger ist es, dass die Verbraucher regelmäßig ihre Kontoauszüge kontrollieren", rät Sandra Clemens vom Bundeskriminalamt. Besonders im Ausland abgehobene Beträge sollten einem auf diese Weise sofort auffallen. "Man weiß ja in der Regel, wann man sich wo im Ausland aufgehalten hat." Bei Unregelmäßigkeiten sollten Verbraucher sofort ihre Bank und die Polizei informieren.

Nach wie vor manipulieren Betrüger auch Geldautomaten. Stutzig sollten Bankkunden werden, wenn ein wackliger Vorbau am Karteneinzug angebracht wurde oder die Beschriftung der Tastatur einem merkwürdig vorkommt, rät die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. "Meiden Sie nach Möglichkeit auch Automaten, die außen angebracht sind", ergänzt Josephine Holzhäuser von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. "Diese können von Betrügern leichter manipuliert werden als Geräte im Schaltervorraum der Bank."

Allerdings kam es auch schon vor, dass Betrüger die Türöffner von Bankfilialen manipulierten, die die Kunden mit ihrer EC-Karte bedienen müssen. "Am Türöffner wird in keinem Fall die Eingabe der Geheimzahl verlangt", stellt daher die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen klar. mvö

Aus Sicht der Betrüger ist

der neue Trick optimal - sie

lösen damit gleich zwei

Probleme auf einmal.

Geprellte Kunden haben gute Chancen, den Schaden

ersetzt zu bekommen, sagt

die Verbraucherschützerin.

Abhauen mit EC-Karten - das geht nicht so einfach. Deshalb spähen Gauner die Daten und die Geheimzahl aus und fertigen damit Doubletten an. Foto: Corbis

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"Tiefer geht's nicht mehr"

Der Theatermacher Hubsi Kramar will in Wien den Fall Fritzl auf die B hne bringen und stößt deshalb auf Empörung

"Skandal!", ruft es in Wien aus allen Ecken, und dass dieser Hubsi Kramar dringend gestoppt werden müsse, ein Theatermacher, der vor politischen Provokationen nicht zurückschreckt und deshalb schon lange als schwarzes Schaf der Wiener Theaterszene dem Establishment zum roten Tuch wurde.

Kramar? Der war doch im Jahr 2000 beim Opernball in Hitler-Maske aufgetreten und verhaftet worden! Und dieser Provokateur verspricht jetzt in seinem gering subventionierten "3raum-Anatomietheater" mit dem Stück "Pension Fritzl" für Ende Februar eine Satire über jenen Mann, der seine Tochter im niederösterreichischen Amstetten 24 Jahre lang in einem Keller gefangen hielt, sie vergewaltigte und dabei sieben Kinder zeugte. Der Titel des Abends bringt die Taten des Monsters in Schwanknähe, gleich neben die beliebte "Pension Schöller". Und dann der Untertitel! "Im Keller unterm Teppich: Tiefer geht's nicht mehr. Einfach: Nieder-Österreich". "Besudelung" und "Ekel" ruft es aus allen Ecken, und schon haben die Skandalblätter einen neuen Fall: den Fall Hubsi Kramar, der angeblich ständig mit einem Skandal Kasse machen will. Und vermutlich auch noch Österreich beschimpfen wird. Ein Fall für die Wiener Revolverpresse, die sofort zur Jagd ansetzt.

Zunächst muss klar gemacht werden, dass dieser Theatermacher nicht mehr zu uns Bürgern gehört, weshalb man Herrn Kramar als "Herrn" Kramar in Anführungszeichen auftreten lässt. In seinem Theater, heißt es, werde ein "Ekel-Camp" installiert. Außerdem sei dieser "Herr" ein "Schmierenkomödiant", der nur "aus den Niederungen seines bedeutungslosen schauspielerischen Unvermögens" auszubrechen versuche.

"Sie sind ekelhaft"

"Nein, ,Herr' Kramar", dröhnt ein gewisser Jeannée, früher Klatschreporter - und in Sachen Theater unzuständig -, in der Kronenzeitung, "Sie sind kein Ekel, Sie sind ekelhaft." In seiner Kolumne "Post von Jeannée", die der "Post von Wagner" in der Bild-Zeitung vergeblich nacheifert, wird der angebliche Besudeler besudelt, nach dem Motto: Was du kannst, können mir scho' lang! Solche Selbstentblößungen Wiener Journalisten gehören in solchen Fällen zur Regel und werden zum eigentlichen Skandal.

Denn das Merkwürdige an dem verheerenden Gezeter, in das vor allem auch die Wiener Gratiszeitung heute einstimmt, ist, dass niemand dieses so unerhört unanständige Stück kennt. Es kann auch keiner kennen, weil der Text, wie Hubsi Kramars PR-Vertretung mitteilt, noch gar nicht existiert. Kramar wird den Abend in den nächsten Wochen mit seinen Schauspielern erarbeiten. Es sind also nichts als Vorurteile, die zu einer Vorverurteilung führen. Jeannée wirft mit faulen Eiern ins Leere. Während er Kramar als "ekelhaft" und irgendwie gescheitert hinstellt, wird derselbe im Guardian als "Harvard-educated artist" bezeichnet, was nun ausnahmsweise einmal der Wahrheit entspricht. Man verstand Wiener Künstler im Ausland schon immer besser als vor Ort, was auch in diesem Fall zu beweisen sein wird, denn das Medienecho reicht bis nach Australien.

Auch der Wiener Kulturstadtrat Mailath-Pokorny wird schon wegen der 150 000 Euro Subvention für Kramars Theater angegriffen, die rechte FPÖ will im Grunde Kramars Theater schließen, und Leserbriefschreiber fordern die Rettung Österreichs. Wer "Hubsi", wie ihn seine Fans nennen, kennt, sieht erschüttert, was da für Stroh gedroschen und welches Blech geredet wird. Hubsi Kramar ist ein politisch engagierter Theatermann, der unserer zeitgenössischen Glatze keine Locken dreht. Ihn interessiert kein Berliner Theatertreffen und kein großes Geld. Er will noch immer politisches Theater machen, ist aber kein Fanatiker, sondern der absolut Unmögliche: ein Aufrechter in Wien, ein Arbeiter gegen das österreichische Verdrängen

Wer Kramars Arbeit kennt, weiß, dass ihn am Amstettener Fall nur die Opfer interessieren und vor allem der Umgang der Medien mit ihnen. Man darf davon ausgehen, dass es ihm bei "Pension Fritzl" um Medienkritik geht. Und da ist es dann im Grunde ganz hervorragend, dass die Jeannées sich erneut entblößen: Sie selber schreiben Kramars Stück. Denn wenn irgendwer den Fall Fritzl ohne Ende ausgeschlachtet hat, dann waren es die Medien. Obwohl es das Stück also noch nicht wirklich gibt, darf man sagen: Der erste Akt ist spektakulär gelungen. HELMUT SCHÖDEL

Kramar, Hubert: Image Inzestfall von Amstetten Massenmedien in Österreich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Lied von Erneuerung und Buße

Der von Obama beschworene Neuanfang ist das Leitmotiv der amerikanischen Geschichte

Es ist noch viel zu früh, um Barack Obamas Antrittsrede ihren Platz in der Geschichte zuzuweisen. Ihre Wucht und Eloquenz wird nur zählen, wenn Präsident Obama seine Worte mit Taten untermauert. Eines bliebt jedoch von dieser Rede - es ist das Erlösermotiv von der Erneuerung, das die Buße und die Reinwaschung von allen Sünden in sich birgt. Denn dies ist das Leitmotiv der amerikanischen Geschichte, der heilige Bund, der die ersten protestantischen Siedler der Neuen Welt gemäß ihres Dogmas zu Gottes Auserwählten machte, die in der Erneuerung sein Werk vollenden wollten. Es war schon immer ein großes Versprechen. Ein Versprechen, das Amerika zur Projektionsfläche machte für Ambitionen, Sehnsüchte und Träume von Menschen in und aus aller Welt.

Bisher hat das ganz gut funktioniert. Keine Gesellschaft hat sich so oft gewandelt wie die amerikanische Nation. Es war das historisch einmalige Zusammenspiel aus der gleichzeitigen Wandlung von außen und innen. Es war der stete Zustrom der Einwanderern, die ihre neue Heimat nach eigenen Vorstellungen gestalteten. Es war aber vor allem der Wandel von innen, der nach dem Credo der Calvinisten und Puritaner nach der Auserwählung der Dreieinigkeit nur vom Sünder selbst herbeigeführt werden kann. Es ist dieser aktive Weg der Buße durch Handeln, der jenem Unternehmergeist zu Grunde liegt, für den die Welt Amerika so bewundert.

Viele Beispiele findet man in der Geschichte Amerikas, die belegen, dass sich die Nation immer wieder von ihren Sünden befreit hat. Es waren of t schmerzhafte Prozesse. Der größte Makel der Nation, die Verschleppung der Sklaven aus Afrika und ihre Ausbeutung, wurde in einem Bürgerkrieg getilgt, der von 1861 bis 1864 über eine halbe Million Menschenleben kostete und die junge Nation fast gänzlich zerstört hätte. Die Last des europäischen Erbes warf Amerika ab, als es in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts als Sieger hervorging. Die Sünden der Industrialisierung bezahlte Amerika mit dem Kraftakt von Franklin D. Roosevelts "New Deal". Aus den Wirren und dem Chaos der Bürgerrechtsära tat die amerikanische Gesellschaft Riesenschritte, auf denen ihnen der Rest der Welt folgte. Selbst der technologische Kraftakt der Mondfahrten wurde so zum Akt der Erlösung, den die Fernsehserie Raumschiff Enterprise dann mit dem Leitspruch ihrer Sternenflotte aufnahm: "Per aspera ad astra". Durch das Raue zu den Sternen.

Letztlich war die nun schon seit 1968 andauernde Herrschaft der konservativen Kräfte in den Augen ihrer Anhänger auch nichts anderes, als eine gewaltige Erneuerungsbewegung. George W. Bushs Chefstratege Karl Rove hatte das ganz deutlich gesagt. Das historische Vorbild der Republikaner sei Franklin D. Roosevelt, hatte er gesagt, ein Präsident, der die amerikanische Gesellschaft von Grund auf verändert und der die Macht seiner Partei auf über drei Jahrzehnte zementierte. Roosevelt hatte die Regierung zu einem Zeitpunkt übernommen, als Amerika auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise fast die Hoffnung verlor. Auch Roosevelt verstand es meisterlich, das Erlösungsmoment zu beschwören. In seinen "Fireside Chats", den Kamingesprächen im Radio, erklärte er den Bürgern nicht nur die komplexen Maßnahmen seines Krisenmanagements, sondern appellierte auch an ihren Willen zur Erneuerung.

Für die konservative Revolution, die ihren ersten Anfang in Nixons Wahl 1968 nahm, war der Sündenfall der Nachkriegszeit die Entfesselung all jener Kräfte, die mit dem Sozialstaat, der sexuellen Befreiung und der legalen Abtreibung ein Regime der Hölle auf Erden installierten. Roosevelts New Deal, Kennedys Bürgerrechtsgesetze und Johnsons Great Society wollten sie revidieren. Da passte selbst der traumatische 11. September ins Bild der Erneuerung. Bush inszenierte sich auf den rauchenden Trümmern als Phoenix aus der Asche und erklärte seine Kriege zur Feuertaufe.

Doch hier geriet die Erneuerung zum neuen Sündenfall. Eine ganze Litanei sprach Obama in seiner Rede an - den Abbau der Bürgerrechte, die Folter, die Angriffskriege, die menschenverachtende Ignoranz nach dem Hurrikan Katrina. All diese Sünden, so belehrte Obama seine Bürger, könnten nur sie selbst tilgen, um die Nation wieder zu jener Größe zu führen, die sie verdient und die sie zum Führer einer freien Welt macht.

Ein so offenes Bekenntnis zu Buße und Erneuerung ist ungewöhnlich für einen Präsidenten, der erst Minuten vorher seinen Amtseid geschworen hat. Es zeigt, in welch tiefer Krise sich Amerika befindet, dass Obamas Worte die Menschen zu Tränen rührten. Er hat nun den Weg aufgezeigt, die großen Selbstzweifel der letzten Jahre und Monate zu überwinden und sich über den Sündenpfuhl einer zutiefst korrupten Regierung zu erheben.

Doch noch ein Motiv der christlich gefärbten amerikanischen Mythologie schwingt hier mit. Es ist die Erlösung nicht nur von den Sünden, sondern auch vom Leid. Das aber ist ein afroamerikanisches Motiv, das seine Wurzeln im Abolitionismus findet, jener Befreiungsbewegung, die die Quäker anstießen. Da hört man nicht nur die wortgewaltigen Prediger der amerikanischen Jahrhunderte in Obamas Worten, sondern jene Klage, die der Reggae-Sänger Bob Marley auf den Punkt brachte, als er seinen "Redemption Song" dichtete, sein Lied von der Buße, in dem er die Befreiung von der Sklaverei als Allegorie für die Befreiung des menschlichen Geistes benutzte.

Ähnlich wie Bob Marley bediente sich Obama bei seiner Antrittsrede einer altmodischen, historisierenden Sprache. Ein großer Anspruch steckt hinter solchen Gesten. Der Zeitpunkt wäre günstig, denn auch in Amerika schwingt das Pendel der Geschichte viel zu langsam und schwerfällig, als dass ein Mann alleine die Richtung schon ändern könnte. Doch das Pendel hat schon gebremst. Den Umschwung aber kann gerade ein Präsident beschleunigen, den seine Bürger schon als Erlöser von historischer Konsequenz akzeptiert haben.

ANDRIAN KREYE

Durch das Raue zu den Sternen - selbst in der Raumfahrt findet sich das Motiv der Erneuerung durch Buße. Foto: Nasa, Getty Images

Schon im Wahlkampf zündete das Bild vom Erlöser Obama. Bild: flickr

Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Barack Obama Geschichte Amerikas SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die große Chance beim Bauen

Das neue Konjunkturprogramm könnte auch die Bildung fördern

Lünen an der Lippe könnte man zum Ruhrgebiet zählen. Und auch zum Münsterland. Aber als Hauptstadt Skandinaviens war Lünen bislang unbekannt. Obwohl das, wenn schon nicht in geographischer, so doch in pädagogisch-architektonischer Hinsicht durchaus denkbar wäre. Denn in Lünen gibt es die Geschwister-Scholl-Gesamtschule, entworfen vom Architekten Hans Scharoun (1893 - 1972). Diese Schule, die etwa 50 Jahre alt und entsprechend sanierungsbedürftig ist, gehört zu den wenigen deutschen Schulen, die aus Gründen der Architektur für den Pisa-Schock nicht haftbar zu machen sind. Im Gegenteil: Die Schule, die sich fast organisch um kleine, überlegt situierte Plätze, Höfe oder gassenartig ausgebildete Verkehrsachsen gruppiert, gehört zu den beispielhaften Pädagogik-Bauwerken Deutschlands.

Der Bau, der statt öden Klassenzimmern intime, identitätsstiftende Klassenwohnräume beherbergt, ist in Deutschland im Fach "Architektur des Wissens" vermutlich der Klassenprimus. Wenn es stimmt, dass die skandinavischen Länder auch deshalb die besseren Schüler haben, weil sie motiviertere Lehrer und Schüler kennen, dann sollte man sich neben dem Schulsystem auch die Schulen als Lern-Gebäude betrachten. In einem schwedischen Sprichwort ist von den drei zur schulischen Ausbildung nötigen "Lehrern" die Rede. Der erste Lehrer, das seien die Mitschüler; der zweite Lehrer, das sei der eigentliche Lehrer; der dritte Lehrer aber, das sei der Raum. Der dritte Lehrer ist also die Kunst, eine Schule so zu gestalten, dass darin in idealer Weise gelehrt und gelernt werden kann. Es ist nicht zuletzt auch die Architektur, welche die Wissensgesellschaft der Zukunft konstituiert.

Lünen tut deshalb gut daran, dass die Geschwister-Scholl-Gesamtschule demnächst für etliche Millionen Euro ertüchtigt wird. Zu danken ist das der Stadt, dem Land - aber vor allem der Wüstenrot-Stiftung, die dafür einen Millionenbetrag zur Verfügung stellt. Dabei ist es reiner Irrsinn, dass eine solch zeichenhafte, nicht nach Normen, sondern in pädagogischer Absicht erbaute Schule auf privatwirtschaftliche Zuwendungen angewiesen ist. Beziehungsweise: es war reiner Irrsinn, denn nun zielt ein nicht geringer Teil des aktuellen Konjunkturpakets der Bundesregierung auf die vielerorts überfällige Sanierung der Kindergärten und Tagesstätten, der Schulen und Universitäten. Und anders als bei der verfehlten Abwrackprämie, die alte, umweltdumme Motoren zur Schrottpresse begleitet, damit die gleichen umweltdummen Motoren neu gekauft werden können, zielt die Sanierung von Lernorten auf die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.

Räume verändern Menschen

Es sei denn: Man fummelt nur an den Wärmedurchgangskoeffizienten maroder Fenster oder an den hygienischen Bedingungen moosiger Aulen herum. Anders gesagt: Wenn, wie geplant, nur die Verbesserung der Energieeffizienz berücksichtigt werden soll, um der darniederliegenden Bauwirtschaft und dem Handwerk auf die Beine zu helfen, dann bliebe eine große Chance auf dem Boden. Die Möglichkeit nämlich, aus den falschen, überlasteten Grundrissen, die aus Kindergärten, Schulen und Hochschulen bürokratisch optimierte Aufbewahranstalten gemacht haben, Orte der Zukunft zu schälen. Das Konjunkturprogramm sollte auf dem Terrain der Infrastrukturmaßnahmen mehr sein als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme: Es sollte baukulturell ehrgeizig sein und versuchen, alte Fehler mit neuen architektonischen Mitteln zu heilen. Es geht also nicht nur um das sehr wichtige Ziel der Energieeffizienz, sondern um das gleichrangige Ziel der angemessenen, humanistisch ausstrahlenden Räume. Erst baut der Mensch Räume, heißt es, dann bauen Räume Menschen. Das Konjunkturprogramm, das solches ernst nimmt, darf sich nicht allein für Wärmedämmverbundsysteme interessieren - sondern muss die Architektur bemühen.

Das Konjunkturprogramm ist deshalb auch eine einmalige Chance für die seit Jahren mit ihrer eigenen Krise befasste Architektenschaft. Zur Erinnerung: Während die Arbeitslosigkeit für Akademiker in den vergangenen Jahren stets zwischen drei und vier Prozent lag, waren schon vor neun Jahren 12,2 Prozent der Architekten arbeitslos, 2003 waren es 16,1 Prozent - und 2005 gar 16,6 Prozent. Hier liegt etwas brach, was die Gesellschaft für sich nutzen könnte. Zum Beispiel zur Beantwortung der Frage, wie sich aus einem Land der verödeten öffentlichen Räume ein Lebensraum gewinnen lässt, in dem es sich lohnt, gegen Krisen anzudenken und anzuarbeiten.

Der BDA, Bund Deutscher Architekten, ist daher im Recht, wenn er nun in einem öffentlichen Aufruf fordert, das "Konjunkturprogramm für eine Bildungsoffensive zu nutzen", indem man die gestalterische Aufwertung von Schulen und Hochschulen betreibt. Und auch die Bundesstiftung Baukultur verbindet mit dem Konjunkturpaket der Bundesregierung die "Mahnung, bei den anstehenden Baumaßnahmen die baukulturelle Qualität nicht aus den Augen zu verlieren". Würde man das ernst nehmen, dann ginge nicht nur die Architektur aus der Krise gestärkt hervor - sondern womöglich auch die Zukunft selbst: in Form jener Lernenden und ihrer Kindeskinder, die die Kosten des Konjunkturprogramms erst noch erwirtschaften müssen. GERHARD MATZIG

Bildungswesen in Deutschland Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Sanierung von Häusern Architektur in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Landepolitik

Seehofer sucht nach Frauenverstehern

Als 1970 die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer im Bundestag mit einem Hosenanzug ans Rednerpult trat, wankte die Männerwelt. Die Frau habe die Ehre des Parlaments angegriffen, hieß es. "Sie sind ein unanständiges, würdeloses Weib", schrieben ihr erboste Bürger. Der damalige Vizepräsident des Bundestags wollte sie nicht mal ans Rednerpult lassen. Das war im Jahr 51 nach Einführung des Frauenwahlrechts. Am 12. Januar 2009 nun gibt es das Frauenwahlrecht genau 90 Jahre und immerhin, das mit den Hosen ist mittlerweile durch: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sie selbst an, wenn sie Kleid trägt und dazu Decolleté.

Alles andere aber ist nicht gelöst: Insbesondere die CSU erlebt nun, dass sie in ihren Reihen ein echtes Defizit hat: zu wenig Frauen, vor allem junge. Immer weniger Wählerinnen stimmen für die Partei, die vor allem Männer als Aushängeschild hat. Parteichef Horst Seehofer hat das erkannt und schiebt Frauen nach vorn: Ilse Aigner wurde Bundeslandwirtschaftsministerin, Christine Haderthauer bayerische Sozialministerin und Emilia Müller ist die erste Vorsitzende der CSU in der Oberpfalz. Wenn es nach Seehofer gegangen wäre, dann wäre auch gleich noch Monika Hohlmeier Spitzenkandiatin der CSU für die Europawahl geworden.

Doch je mehr Seehofer wirbt, desto härter schlägt das Imperium zurück: Bei einem seiner Auftritte vor der CSU-Basis in Barbing in der Oberpfalz maulten ein paar CSU-Mannen auf den hinteren Plätzen: "Jetzt reicht's aber mit den Weibern." Als sich am Samstag in Regensburg eine CSU-Frau erlaubte, sich gegen sechs (!) Männer aus den eigenen Reihen für eine Bewerbung für das Bundestagsmandat vorzustellen, erklärte ein Mitbewerber vernehmlich: "Der gehört die Hölle heiß gemacht."

Mit ein bisschen Seehofer-Charme ist es bei solcher Gegenwehr nicht getan. Nun fordert Sozialministerin Haderthauer, Männer und Frauen sollten nach dem Reißverschlussverfahren auf die Kandidatenlisten der CSU. Das ist in etwa so revolutionär wie damals der Hosenanzug im Bundestag. Und zumindest Hosenanzüge haben sich durchgesetzt. Annette Ramelsberger

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Dada kommt noch wer!

Michael Lentz' Phantasiestück "Warum wir also hier sind" - und wie in Frankfurt ein Quantum Sorge daraus wurde

Der Hausarzt, der plötzlich bei den beiden jungen Frauen auftaucht, liefert auch halluzinogene Stoffe. Im ersten Moment scheinen die Drogen nur die Stimmen und Erscheinungen von Friederike zu befeuern, die ja ohnehin ein träumendes Medium ist und das Fehlen liebesbegabter Männer mit Ausflügen in die Irrgärten der Phantasie kompensiert. Friederikes Phantasiegebilde wiederum sind von Vorteil für Amalia, die sofort aufschreibt, was Friederike phantasiert. Da haben sich zwei gefunden: das Medium eine Autorin und die Autorin eine Muse. Eigentlich könnten die beiden bis in alle Ewigkeit Geschichten produzieren, käme Amalia nicht auf die Idee, der liebeskranken Freundin ganz real zu liefern, was doch nur Phantasie ist: Männer aus der "Liebesquelle von Woltersdorf".

Michael Lentz' "Warum wir also hier sind" ist eine Séance für fortgeschrittene Surrealisten und der Versuch, aus Sprachspielen phantastisches Theater zu generieren. Auf der Erzählebene funktioniert das. Immerhin vermittelt Lentz, der 2001 für seinen Roman "muttersterben" den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig Professor für literarisches Schreiben ist, dass die gute Amalia einen Postboten castet, auf dass dieser als Dramatiker Christian Friedrich Grabbe zusammen mit einem Freund im Leben der Friederike erscheine. Der Freund soll den erfolglosen Physiker Johann Wilhelm Ritter mimen, dem Friederike ebenfalls sehr zugetan ist. Es versteht sich von selbst, dass ein irres Spiel im Spiel daraus wird. Allerdings stellt sich irgendwann die Frage, ob man hier Gast eines surrealistischen Kindergeburtstags oder im Seminar "Dada und die Folgen" gelandet ist.

So gesehen war es ein kluger Schachzug des Frankfurter Schauspiels, Niklaus Helbling auf den Text anzusetzen. Helbling, ein Schweizer, ist Spezialist für alles, was ansatzweise mit Dada zu tun hat. Ihm zur Seite steht der Videokünstler Philipp Batereau, der mit bewegten Applikationen an den Türen, Fenstern und Wänden der ansonsten realistischen Atelierbühne für einen maximal animierten Raum sorgt. Da blubbern Wasserblasen aus einem Colt, schwimmt ein Fisch an der Wand lang, und es zeigen sich unwirkliche Gesichter.

Dalí wäre entzückt gewesen und hätte sicherlich auch seine helle Freude an Sabine Waibel gehabt, die wie ein Irrwisch durch das Stück fegt und die Friederike in einem Reich abliefert, in dem liebeskranke Romantikerinnen verwöhnte Kinder sein dürfen. Sie erzählt mit glänzenden Augen, was der Friederike gerade als "Seherin von Prevost" erscheint. Dann schmollt, trotzt und kreischt sie, als sei sie eine Testperson des hessischen Trommelfell-TÜVs. Das muss so sein. Immerhin sitzt man ja nicht in der Uraufführung eines der üblichen Theaterstücke mit vier bis sechs Figuren, die sich mit kurzatmigen Nominalsätzen durch den Text hetzen. Wir sind in einem Text von Michael Lentz, der der dramatischen Poesie zu ihrem Recht verhilft und - wie schon in seinem Debüt als Theaterautor - verspielt nach den letzten Dingen fragt.

Vor genau zwei Jahren ging es in "Gotthelm oder Mythos Claus" unter anderem um alle möglichen Formen des Gottesbeweises. Das war ebenfalls am Frankfurter Schauspiel. Jetzt versucht Lentz zu beweisen, dass sein Stück auf keinen Fall ein Traumspiel, sondern eine phantastische Theatermaschine ist, und genau so inszeniert es Niklaus Helbling. Die Bühne ist ein Gesamttraumraum, in dem die Schauspieler wie enthemmte Kinder herumtoben dürfen. Das gilt auch für Sascha Maria Icks, die als Amalia anfänglich noch eine jener Frauen ist, die gerne mal überprüfen, ob noch genug Butter im Kühlschrank ist. Je mehr der Postbote und sein Freund sich aber in die Rollen als Grabbe und Ritter einfühlen, desto mehr wird auch sie zu einem unwirklichen Element des Spiels im Spiel.

Da dreht sich in der Wand plötzlich eine Schwingtür und katapultiert den Grabbe genauso schnell nach draußen, wie sie ihn wieder ins Spiel befördert, während aus dem Hausarzt flugs der Hausheilige Raoul Haussmann wird, der als Dadaist der ersten Stunde um die Gunst Friederikes wirbt. Es versteht sich von selbst, dass er die Herren Grabbe und Ritter auf die Plätze verweist. Sebastian Schindegger ist klasse als Haussmann, dem der lautmalerische Vers so ins Gebein fährt, dass er ins Tanzen gerät. Das kann man ungetrübt genießen, wenn man sich nicht gerade um Matthias Max' Herrmann sorgt, der eigentlich der arme Physiker Ritter sein soll, zu diesem Zeitpunkt aber schon eine ganze Weile arbeitslos auf der Bühne sitzt.

Irgendwann hat Lentz die Figur aus den Augen verloren. Ein Quantum Sorge ist gegen Ende auch im Fall von Aljoscha Stadelmann angebracht, der als Grabbe ganz gut startete, dann aber nur noch verwundert starrt, brabbelt und durch ein Stück geistert, das nicht nur vorführt, wie Dada alle Realität verschlingt, sondern zunehmend auch die eigenen Figuren vernichtet. Das muss wohl so sein, wenn der schiere Wahnsinn die Bühne entert, tut dem Theater aber nicht unbedingt gut. JÜRGEN BERGER

Ein bisschen gaga: Sabine Waibel als Friederike. Foto: Alexander P. Englert

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Der Kosmos des Bosses

Bruce Springsteens neues Album "Working On A Dream"

Nein, Bruce Springsteen hat nicht pünktlich zum wichtigsten Moment der jüngsten amerikanischen Geschichte einen Soundtrack geschrieben. Er hat nur für den soeben vereidigten 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika Barack Obama ein paar Tage zuvor vor dem Lincoln Memorial gespielt - und veröffentlicht nun eine betont hoffnungsfrohe Platte. Zufall. Klar. Denn dass in Zeiten wie diesen das Pathos-Pferd mit Springsteen durchgeht, war zu erwarten. Das neue Album heißt "Working On A Dream" und der Titel ist ebenso Programm wie das Coverartwork mit Sternenfirmament und Airbrush-Optik.

Aber der Reihe nach: Album Nummer 16 - veröffentlicht keine eineinhalb Jahre nach dem fünfzehnten mit dem Titel "Magic", nur fünf Monate nach dem letzten Konzert seiner ausverkauften und mehr als hundert Termine umfassenden Welttournee mit der E-Street-Band - beginnt fulminant: "Outlaw Pete" - ein Song, der bei weitem nicht so albern klingt, wie sein Titel vermuten lässt. Eine, nun ja, Outlaw-Hymne, die sich offensichtlich an die kompositorischen Glanzseiten von "Burn To Run" anlehnt - und nebenbei Kiss zitiert. Ein mutiger, achtminütiger Start. Es folgt Liebeserklärungs-Rock'n'Roll mit dem obligatorischen Uptempo-SaxophonSolo (und Zeilen wie: "Honey you're my lucky day, Baby you're my lucky day"). Dann Handfestes: der Blues "Good Eye" und das traditionelle Fidel- und Slideguitar-Country-Stück "Tomorrow Never Knows".

Unangenehme Überraschung

Bruce Springsteen - mittlerweile 59 Jahre alt - war in den letzten Jahren präsent wie nie. Er hat neue Songs geschrieben, war auf Konzertreisen, hat mit Rockabilly-Größen wie Mike Ness von Social Distorion musiziert, hat sich als Stilvorbild von Neulingen wie The Gaslight Anthem beknieen und von Michael Stipe (dessen Generation einst den Indierock erfand, um sich von Musikern wie Springsteen zu distanzieren) zum Übervater erklären lassen. Stets lächelte er sein müdes SpringsteenLächeln und strahlte heller als alle anderen.

Aber, "Surprise, Surprise" (Lied Nummer 11 auf "Working On A Dream"): Das neue Album wird schließlich so schlecht, dass man kaum mehr hinhören mag. "Kingdom of Days" ist eine Schlagervariation von "Your Own Worst Enemy" mit Glockenspiel und Streicherflächen und ist in seinem Überschwang nur schwer zu ertragen. "Surprise, Surprise" ist ein Kinderlied, das auch von Rolf Zukowski stammen könnte - eine Art amerikanisches "Heute kann es regnen, stürmen oder schneien".

Springsteen ist in seiner Freude über das neue Amerika etwa so unangenehm wie der eigentlich ganz nette Onkel, der auf Familienfesten nach dem fünften Glas Wein immer so sentimental wird, dass er alle nur noch herzen mag.

Erst die beiden Folkballaden am Ende des Albums - "Last Carnival" und "The Wrestler" - versöhnen. Aber da ist es leider bereits zu spät: "Working On A Dream" vereint problemlos die besten und die schlechtesten Seiten des Musikers - wie jede Bruce-Springsteen-Platte seit 1995. JAN KIRSTEN BIENER

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Gratiseintritt

Sarkozy provoziert Kritik mit kulturpolitischen Vorschlägen

Die Vorschläge von Nicolas Sarkozy zur Kulturpolitik hat der frühere Direktor des Musée Picasso, Jean Clair, scharf kritisiert. In einem Interview mit dem Journal de Dimanche bezeichnete Clair den Plan eines "Musée de l'Histoire de France" als "völlig unverständlich". Schließlich seien alle Museen historische Museen. Außerdem: Was solle in diesem Museum gezeigt werden? Eine Sammlung, die der Geschichte Frankreichs gewidmet ist, sei überdies sinnlos, wenn nicht gar gefährlich, da ein solches Museum das Vorhandensein einer einzigen und umfassenden Deutung der Geschichte behaupte.

Vor allem aber erregte der freie Eintritt in Museen für Jugendliche unter 25, der nach dem Willen Sarkozys vom 4. April an gelten soll, Clairs Zorn. Die Museen litten schon jetzt an Geldmangel, daher könnten nur einen Teil ihrer Sammlungen zeigen. Der Vorschlag würde die Budgetlöcher noch vergrößern. Außerdem wäre es der "schiere Aberwitz, eine absolute Perversion", würde man die Kultur dem Gratiskonsum überantworten. Damit liefe man Gefahr, sie jeglicher Substanz zu berauben.

Die Kritik scheint überzogen: einmal würde der Gratiseintritt nach ersten Schätzungen des Kulturministeriums 25 Millionen Euro kosten. Diesen Einnahmeverlust müssten aber, versicherte Kulturministerin Christine Albanel eilends, nicht die Museen tragen. Dazu sei geplant, Freikarten auszugeben, um so den Verlust genau kontrollieren zu können. Zum anderen bleibt abzuwarten, ob, wie Sarkozy hofft, wirklich mehr Jugendliche in Museen gehen werden, wenn der Eintritt frei ist. wms

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Wie Aufnahmen aus einem nicht gedrehten Film

Die Berliner Ausstellung von Panoramafotografien aus der direkten Nachkriegszeit dokumentiert den Scheitelpunkt zwischen Enttrümmerung und Wiederaufbau

Die Leere, die Lücken und die Brachen im Stadtraum haben hier das ideale Medium ihrer Darstellung gefunden. Das ist das erste, was beim Gang durch die faszinierende Ausstellung "Berliner Panoramafotografien aus den Jahren 1949 bis 1952" in der Berlinischen Galerie auffällt. Und während man die von viel Freiraum und Luft umgebenen, seltsam vereinzelt wirkenden Menschen betrachtet, die gegenüber den verkohlten Fassaden der Akademie der Künste und des Hotel Adlon am eingerüsteten, quadrigalosen Brandenburger Tor vorbeigehen, beginnt man langsam zu begreifen, was der historische Index dieser Fotografien ist.

Denn die dunklen Fensterhöhlen und wie angenagt wirkenden Ruinen, die hier den Stadtraum durchsetzen, rufen zwar im Kopf die Bilder des zerstörten Berlin unmittelbar im Mai 1945 wach, sie sind aber gerade nicht Bilder der Stunde Null. Ihre eigentümliche Ausstrahlung verdanken sie dem Zugleich von Zerstörung und Aufgeräumtheit. Sie dokumentieren den Übergang der Enttrümmerung in den Wiederaufbau. Die Freiflächen, die sie zeigen, sind frei, weil überall Schutt und Steine zu kleinen Hügeln aufgeschichtet sind. Ein Bild, aufgenommen im April 1950 in der Chausseestraße, zeigt die Trümmerbeseitigung selbst.

Man sollte meinen, hier sei ein Archiv entdeckt und ausgestellt worden. Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Denn bei diesen großformatigen Panoramafotografien, in denen man auch bei minutiöser Betrachtung keine Nahtstellen entdecken kann, an denen die einzelnen Aufnahmen zusammengefügt sind, handelt es sich um Zwitterwesen. Sie verdanken ihre Existenz dem Zusammenspiel von historischem Archiv und digitaler Bildproduktion.

Das Archiv ist das der Berlinischen Galerie selbst. Darin lagerten seit längerem 1200 Aufnahmen, die ein Fotograf namens "Tiedemann" zwischen 1949 und 1952 im Auftrag des Magistrats von Ost-Berlin angefertigt hatte. Als die nun gezeigte Ausstellung Ende 2008 eröffnet wurde, war die Identität dieses Fotografen noch ungeklärt. Die Ausstellung selbst hat inzwischen, weil sich Nachfahren Tiedemanns im Museum meldeten, zu seiner Identifizierung beigetragen.

Es handelt sich um Fritz Tiedemann, der 1915 in Hamburg geboren wurde und 2001 in Münster gestorben ist. Für seine Aufgabe als Fotograf im Amt für Denkmalpflege beim Magistrat von Groß-Berlin brachte er die besten Voraussetzungen mit. Er war im Grundberuf Vermessungstechniker und hatte beim Militär eine Ausbildung als Spezialist für fotografische Messbildverfahren erhalten. Als er Ende Februar 1953 versuchte, in Ost-Berlin entstandene Gebäudeaufnahmen der Westberliner Denkmalpflege zu übergeben, wurde er verhaftet, verurteilt und nach dem 17. Juni 1953 vorzeitig entlassen. Er floh mit seiner Familie nach West-Berlin, ging über Hamburg nach Münster und arbeitete dort für die Firma Plan und Karte, die spätere Hansa Luftbild GmbH.

Die Berliner Ausstellung zeigt nun in einer langen Vitrine 200 jener Einzelaufnahmen und Originalmontagen, die Tiedemann mit der Fachkamera gemacht und im Format 9 x 12 abgezogen auf braune Umschläge geklebt hat. Die großformatigen Panoramafotografien an den Wänden der Galerie aber, an denen der Betrachter wie an Straßen vorbeischreitet, sind nicht das Werk Tiedemanns. Sie hat der Stadt- und Landschaftsfotograf Arwed Messmer in digitaler Montage des Materials hergestellt.

Durch diese Vergrößerung und Überführung der Aufnahmen Tiedemanns in einen einheitlichen Bildraum erhalten diese Panoramafotografien ihre Intensität. Sie verstärken den Bühnencharakter und die leicht surrealen Effekte, die dem Medium Panorama seit je innewohnen. Nie war im realen Stadtraum der Übergang der Straße Am Friedrichshain in die Kniprodestraße, dort, wo die Hufelandstraße einmündet, so gekrümmt wie in der von Messmer hergestellten großen Panoramafotografie (unsere Abb). Hier wird ein historisches Bildformat nicht dokumentiert, sondern neu erfunden.

Das zeigt die Ausstellung im kontrastiven Blick auf die nach 1945 in Berlin entstandenen Sequenzen von Jewgeni Chaldej, der 1945 den Siegerblick von oben über den Pariser Platz gleiten lässt, oder von Otto Borutta, der 1957 von erhöhtem Standort den Bereich nördlich der Potsdamer Brücke den Stadtplanern zu Füßen legt. Anders als die digitalisierten und von Messmer in riesigen Abzügen monumentalisierten Aufnahmen Tiedemanns lassen diese Vergleichsbeispiele stets die Herkunft der Panoramafotografie aus der horizontalen Sequenz erkennbar verfugter Einzelbildern erkennen.

Wochenschauen und ein Film-Begleitprogramm, darunter Roberto Rossellinis "Deutschland im Jahre Null" (1948) belegen die Attraktivität des panoramatischen Blicks für die Wahrnehmung des zerstörten Berlin am Scheitelpunkt von Enttrümmerung und Wiederaufbau. Vor diesem Hintergrund wirken die durch Digitalisierung des Archivs entstandenen Panoramafotografien, deren Copyright-Vermerk Tiedemann und Messmer nennt, wie Film-Stills aus einem nicht gedrehten Film. In ihm rettet, wie die Reaktionen der Ausstellungsbesucher zeigen, die Panoramaform noch das geringste historische Detail. LOTHAR MÜLLER

"So weit kein Auge reicht. Berliner Panoramafotografien 1948-52." Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124-128, bis 22. Februar. Der ausgezeichnete, von Florian Ebner und Ursula Müller herausgegebene Katalogband ist bei Dumont erschienen und kostet 29,95 Euro.

Berliner Leere: Einmündung der Hufelandstraße in den Straßenzug Am Friedrichshain-Kniprodestraße, aufgenommen von Fritz Tiedemann am 5. März 1952, digitalisiert und bearbeitet von Arwed Messmer 2008. Foto: Berlinische Galerie

Berlinische Galerie Fotoausstellungen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das milde Klima und der Ernst der Revolution

Edmundo Desnoes' Roman "Erinnerungen an die Unterentwicklung" erzählt von Castros Kuba

Ein Pokerface? Der neununddreißigjährige Held und Ich-Erzähler in Edmundo Desnoes' Roman "Erinnerungen an die Unterentwicklung" trägt eine unbewegte Miene zur Schau, als gingen ihn die Umwälzungen nichts weiter an. Dabei bricht im Spätsommer 1962 kurz nach der kubanischen Revolution so ziemlich alles in sich zusammen, was vorher seine Existenz ausmachte. Der Familienbesitz wird beschlagnahmt, das elterliche Möbelgeschäft enteignet, sein Vater, seine Mutter und seine Ehefrau Laura gehen ins Exil nach New York. Er bleibt allein zurück, klemmt sich hinter seine Schreibmaschine und erforscht den neuen Daseinszustand. Ein "Luxustierchen" sei Laura gewesen, lässt er verlauten, "und ich bin ein ziemlicher Arsch".

In einem schroffen, schnoddrigen Tonfall mit selbstironischer Macho-Gebärde nimmt der neu geborene Freizeitschriftsteller sein kubanisches Leben ins Visier. Er zählt die zurückgelassenen Lippenstifte seiner Frau (achtzehn Stück!), schneidet sich die Zehennägel, streift durch Havanna und fängt aus Langeweile mit einem Mädchen eine Liebschaft an, die ihn schließlich in den Knast bringt, weil seine Gespielin noch minderjährig ist. Der glücklose Müßiggänger entgeht knapp einer Verurteilung und landet kurz nach seiner Entlassung wieder im Bett, dieses Mal mit seiner Haushaltshilfe.

Aber just in diesem Moment wird er abgelenkt: Es ist der Tag der Kubakrise, und im Rundfunk droht Kennedy mit Krieg. "Erinnerungen an die Unterentwicklung" endet mit drei von dem Helden verfassten Kurzgeschichten, auf die im Verlauf des Romans bereits angespielt wurde - wunderbare Miniaturen, die man als metaphorische Verdichtungen der kubanischen Revolution deuten kann. "Ich bin ein Träumer, und ich bin unterentwickelt; das Schlimme daran ist, dass ich es weiß", erklärt Edmundo Desnoes' Alter Ego schlecht gelaunt. "Das Klima ist sehr mild, es verlangt wenig vom Individuum. Jeder Kubaner verwendet sein ganzes Talent darauf, sich dem Moment anzupassen. Dem Anschein." In Kuba ertrage man nicht viel, ohne in Gelächter auszubrechen. Passt das zum Ernst der Revolution?

Desnoes, 1930 in Kuba geboren, 1979 in die USA emigriert und als Journalist zunächst aktiv an den Umbrüchen nach der Revolution beteiligt, verarbeitet autobiographische Erfahrungen und legt den schmalen Roman nach dem Muster eines Tagebuchs an. Das Ergebnis ist ein großartiges Zeugnis des inneren Zustands seines Landes. Im Zentrum steht eine Erfahrung von Mehrdeutigkeit - das fällt inmitten der politisch eindeutig positionierten Literatur jener Zeit ins Auge. Desnoes' Held schwankt nämlich zwischen extremen Stimmungslagen: Mal überwiegt ein Gefühl der Befreiung und der Teilhabe am tatsächlichen Leben, mal beherrschen ihn Empfindungen von Ungenügen und Depression. Für intellektuelle Energien scheint es gar keinen Raum zu geben, durch die Revolution fühlt er sich seinem Land entfremdet. Auf einmal ist man eingesperrt in Kuba, die internationalen Anbindungen sind gekappt, Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr verfügbar, Reisen unmöglich: "Ich habe keine Zukunft; die Zukunft plant der Staat", beschreibt er seine Lähmung.

Uneindeutiges Leben

Berühmter als der Roman wurde 1968 die suggestive Filmfassung von Tomás Gutiérrez Alea; es war eines der ersten international beachteten Produkte aus dem kubanischen Filminstitut ICAIC in Havanna. Man hatte über dem Film den ästhetischen Wert der literarischen Vorlage bald vergessen - trotz lobender Besprechungen der ersten, leicht gekürzten englischen Übersetzung von 1967. Bereits 1965 im Original erschienen, bricht Desnoes in "Erinnerungen an die Unterentwicklung" mit den erzählerischen Prinzipien des sozialistischen Realismus, schwelgt auch nicht in den Phantasiewelten des magischen Realismus, sondern leuchtet stattdessen das Innenleben seiner Hauptfigur aus.

Wie der Schriftsteller im Nachwort erklärt, ist der Titel "Memorias del subdesarrollo" von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch" inspiriert, das auf Spanisch "Memorias del subsuelo" heißt. Atmosphärisch ist eine Nähe zu Camus' "Der Fremde" spürbar, wobei Desnoes mit dem moralischen Rigorismus der Existentialisten nichts am Hut hatte. Ein bisschen fühlt man sich an frühe Erzählungen von Juan Carlos Onetti erinnert. Als Desnoes Roman 1965 herauskam, warf man dem Verfasser in Kuba "bürgerlichen Idealismus" vor, aber seine literarische Intensität bezieht der Roman gerade aus dem schwer greifbaren Unbehagen des Helden. Das Uneindeutige ist eben auch an der Revolution das Spannende. MAIKE ALBATH

EDMUNDO DESNOES: Erinnerungen an die Unterentwicklung. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 154 Seiten, 13,80 Euro.

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Ehre dem Attentäter

Ein Denkmal für Georg Elser in Berlin! / Von Rolf Hochhuth

Als Dr. Johannes Tuchel, Leiter "Gedenkstätte Deutscher Widerstand", im Bendlerblock an der Stauffenbergstraße hörte, ich würde den Berlinern empfehlen, zum 8. November 2009 dem Münchner Attentäter Johann Georg Elser ein Standbild zu errichten, sagte er spontan: "Das gehört dahin, wo Hitlers Reichskanzlei gestanden hat!" Also Ecke Wilhelmstraße/Voßstraße. Und wirklich muss man fragen: Was sonst könnte dorthin gebaut werden? Doch sicher keine Wäscherei, kein Behördensilo, keine Kneipe - dorthin, von wo der Braunauer den Krieg angezettelt hat, der mehr Menschen "zur Strecke brachte" als jeder vorangegangene, zweifellos weit über 50 Millionen!

Ich gestehe, Tuchels Vorschlag hat mich geradezu biblisch berührt. Denn so muss es sein, so entspricht es dem Prediger Salomo - dass dort, wo Menschenmacht in diabolischer Großmannssucht und Furchtbarkeit sich mörderisch gespreizt hat, nichts mehr bleiben soll als Gras, als nur ein Stück Rasen. Und auf dieser Wiese das Denkmal jenes einen von fast Achtzigmillionen, der früher als jeder andere wusste: Wird der Tyrann nicht beseitigt, der soeben den britischen und französischen Premierminister in Godesberg und München bösartig brüskiert hat, die beide angereist waren, den Frieden zu retten, so wird der Zweite Weltkrieg unvermeidbar werden.

Elser allein handelte bereits sechs Jahre früher als Graf Stauffenberg: Er reiste schon 1938 zur Tatortbesichtigung, um die jährliche Kundgebung im Bürgerbräukeller zu beobachten. Der Kunsttischler Johann Georg Elser beherzigte, ohne sie zu kennen, die herrliche Maxime Hegels: "Denn der Geist ist nur, was er tut." Deutsche Generalstäbler dagegen, deren zahllose seit 1933 davon sprachen, Hitler bringe das Reich ins Unglück, haben dann doch gegen ihn erst gehandelt, als sie Hitler geholfen hatten, die ihnen anvertraute Wehrmacht zu ruinieren. Und als sie nicht mehr bezweifeln konnten, der "Führer" bringe die Rote Armee auf ihre Rittergüter und nach Berlin.

Dass man unserer Nation erst erklären muss, wer Johann Georg Elser gewesen ist - kann man sich vorstellen, in einem anderen Volk wäre das auch nötig? Kaum! Wie war es denkbar, dass unsere Nachwelt aktiv versucht hat, Elser - um seine Nachwelt zu bringen? Nachdem nämlich Hitler wider besseres Wissen ab dem 9. 11. 1939 ausschreien ließ, dieses "Subjekt" sei "nichts als ein Werkzeug des britischen Geheimdienstes". Das dürften zwar nach dem Kriege sogar Nazis kaum geglaubt haben. Es hat aber dennoch dazu geführt, dass Elsers Großtat erst 1997 in den Brockhaus Eingang fand und in der Ostzone nicht erwähnt werden durfte. In der bedeutenden Hitler-Biografie von Joachim C. Fest oder in Golo Manns "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" kommt er nicht vor, der konsequenteste aller Widerstandskämpfer - der total ignorierte. Als die beiden schrieben, Fest und Mann, da hatten Anton Hoch und Lothar Gruchmann vom Münchener Institut für Zeitgeschichte Elsers Autobiografie noch nicht aufgefunden. Der Einsame hatte sie in Haft schreiben müssen; so wie er dort ja auch seine Höllenmaschine nachbaute - das einzige Mittel, die Folterungen zu beenden, unter denen er seine "britischen Auftraggeber" - nach Hitlers Wunsch - hatte herausschreien sollen. Dieser Wunschwahn allein hat dazu geführt, Elser nicht sofort zu ermorden, sondern ihn aufzuheben zu einem Schauprozess nach dem "Endsieg".

Historische Größe ist eine zeitraubende - bei Elser nun schon fast 70 Jahre andauernde -, oft von Fortschüben und Rückschlägen charakterisierte Entwicklung: Ich weiß von keinem heute Lebenden, von dem ich so überzeugt bin wie von Elser, dass sich noch in fernsten Zeiten "die Phantasie vieler von selber an dieser Gestalt weiterbildet", wie Jacob Burckhardt 1867 über die historische Größe eines Menschen schrieb. Denn der historisch einzigartige Satanismus des Braunauers macht ja erst der Menschheit den einen Einzelnen so wertvoll, der einer Gesamtheit: den Alliierten, - die blutigen Umwege, den Braunauer endlich totzutreten, hatte ersparen wollen.

Wieso nicht Stauffenberg?

Nicht nur deshalb nicht, obgleich auch der Oberst ein Heros war, handelt er doch wie kein anderer Offizier mit nur noch einem Auge, einer Hand, an der zudem zwei Finger fehlten -, doch handelte erst, schon gesagt, sechs Jahre später als Elser. Auch hat ja Elser nicht eine Minute im Solde des Tyrannen gestanden, wie jahrelang ausnahmslos alle dann gegen ihn putschenden Offiziere. Die Konstruktionspläne für Elsers Attentat-Maschine waren laut Eugen Rau, seinem Schulfreund, dem Einzigen, mit dem er sein Vorhaben besprach, schon 1938 fertig. Und da stand auch sein Entschluss schon fest, Hitler zu beseitigen - ebenso fest Elsers Gewissheit, sonst mache der Krieg. Der 1939 namhafteste Psychiater, Geheimrat Bumke, wurde aus München nach Berlin geholt und auf Elser "angesetzt": Leider hat Bumke, dem es offensichtlich nach Hitlers Ende peinlich war, von den Nazis als Gutachter geschätzt worden zu sein, nach dem Kriege seine Aufzeichnungen über die Begegnung mit Elser vernichtet. Es kommt hinzu, dass auch Bumke dem Nachkriegsgerücht aufgesessen ist - Pastor Niemöller hatte ihm und jedermann diesen Unfug erzählt, die Nazis selber hätten Elser beauftragt, den Saal hochgehen zu lassen: Dann wäre in der Tat Hitler ein todesmutiger Mann gewesen: Hätte er riskiert, sich noch elf Minuten vor der Explosion direkt neben die sprengstoffgeladene Säule zu stellen!

Mit seiner Initiative, in Berlin ein Denkmal für den Hitler-Attentäter Georg Elser zu errichten, ist der Schriftsteller Rolf Hochhuth am 18. Februar 2008 im Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses auf breite Zustimmung gestoßen. Der Ausschuss forderte den Berliner Senat jedoch lediglich auf, "die Möglichkeiten zur Errichtung eines Denkzeichens für Johann Georg Elser an zentraler, öffentlicher Stelle in Berlin zu prüfen". Mit dem hier abgedruckten Text erneuert Hochhuth sein Plädoyer für die Errichtung des Denkmals am Ort der ehemaligen Reichskanzlei.

Hochhuth, Rolf: Gastbeiträge Denkmäler in Berlin Hochhuth, Rolf Elser, Georg: Würdigungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Sockel für die Revolution

Der Schriftsteller Ingo Schulze über das Einheitsdenkmal

Dieser Entschluss, das Einheitsdenkmal auf dem Sockel des ehemaligen Reiterstandbilds Wilhelms I. auf dem Schlossplatz in Berlin zu errichten, kam knapp drei Wochen zu früh. Zwanzig Tage später wäre die Nachricht ein Aprilscherz gewesen. Für die Güte des Witzes spräche eine gewisse Folgerichtigkeit. Erst reißt man hier und da die Moderne im Zentrum ab, gleichzeitig verschwindet immer mehr öffentlicher Raum zugunsten vonkommerziellem Raum und mit dem Abriss des Palastes der Republik tilgt man historisch-kulturelles Gedächtnis aus der Mitte Berlins, sodass man meinen könnte, auf das Kaiserreich sei tatsächlich die große Bundesrepublik gefolgt. Da ist es doch nur folgerichtig, wenn man die putzigen Revolutionäre mit ihrem komischen Dialekt ("Mihr sinn das Voulk") auf ein vom Kaiser geräumtes Plateau stellt. Man muss ja nicht diese Feierabend-Spaziergänger Revolutionäre nennen, die haben ja nicht mal gestreikt, die Lieben.

Aber hier wird der Witz unglaubwürdig. Die DDR hob ja nicht mal mehr ihre Säulenheiligen auf Podeste, Marx und Engels stehen praktisch ebenerdig. Da wird man doch nicht wieder mit einem Sockel kommen. Und ausgerechnet ein kaiserlicher, ausgerechnet von Wilhelm I., der als König von Preußen begann und nach ein paar Kriegen sich von Bismarck mit Blut und Eisen die Einheit schmieden ließ. Auf dessen Sockel nun die Erinnerung an Ungehorsam, Gewaltlosigkeit, an revolutionäre Demokraten?

Schon die Entscheidung für Berlin ist die Entscheidung nicht für die Tat, sondern für die Ernte, so wie auch der bedeutungsloseste Tag des Jahres zum deutschen Nationalfeiertag gemacht wurde, obwohl der 9. Oktober die Zäsur im Herbst '89 gewesen ist - der erste Montag nach dem 40. Jahrestag der DDR, an dem sich entscheiden sollte: chinesische Lösung oder demokratische Reformen. Und diese Entscheidung fiel nun mal in Leipzig. Vielleicht fehlte in Leipzig ja einfach nur der Sockel.

Aber ist der Witz nicht doch besser, als man erst dachte? Ist die Versockelung nicht eine adäquate Entsprechung zu dem Wort "ehemaliger Bürgerrechtler"? Heute wird niemand mehr in Deutschland als Bürgerrechtler bezeichnet, bestenfalls als ehemaliger Bürgerrechtler und der gehört auf den Sockel, das ist der Beleg, dass es aus und vorbei ist mit solchen Umtrieben. In meiner Verzweiflung angesichts unserer geballten demokratischen Blödheit wollte ich mich schon bereiterklären, für die Replik des kaiserlichen Reiterstandbildes sammeln zu gehen, vielleicht würde das helfen, zum falschen Schloss das richtige Denkmal.

Das ungleich bessere Denkmal wäre jedoch, den Nationalfeiertag zu verschieben, in anderen Zusammenhängen ein alter Vorschlag. Es geht dabei nicht mal um eine Woche, nur sechs Tage später. Der 9. Oktober bedeutete, für Freiheit und Demokratie, Gerechtigkeit und Würde viel, womöglich alles, zu riskieren. Es wäre die Vergegenwärtigung von Ungehorsam und Gewaltlosigkeit, von Heiterkeit und Phantasie, von einem Denken und Handeln, das das eigene Wohl und Wehe mit dem aller anderen verknüpft. Man würde sich zudem daran erinnern, dass es auch auf der anderen Seite Anstand und Mut gab, auch Helden, Funktionäre, die es ablehnten, Polizei und Armee auf die Demonstranten zu hetzen und die sich durchsetzen konnten. Neben allem, was es noch an Glückhaftem aufzuzählen und zu erinnern gäbe, wäre sogar so etwas wie Patriotismus zu entdecken. Und die Erkenntnis, dass es immer eine Minderheit ist, die ihren Kopf hinhält, aber dass diese Minderheit tatsächlich etwas verändern kann, zumindest dann, wenn sie nicht auf dreitausend Quadratmetern Platz hat.

Von Ingo Schulze erschien zuletzt der Kurzgeschichtenband "Handy" (2007).

Schulze, Ingo: Gastbeiträge Denkmäler in Berlin Gedenktag 9. November 1989 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Teuer: Sportwagen
Billig: Familienkombi

Klar, er ist erstens: unglaublich übertrieben, zweitens: unvernünftig männlich, drittens: unverschämt teuer. Aber genau das macht ihn reizvoll: den Sportwagen.

Seit ich als kleiner Junge auf dem Beifahrersitz eines roten Ferrari 288 GTO mitfahren durfte, glaube ich an den Traum absoluter Einheit von Mensch und Maschine. Dieser Sportwagen reduziert das Autofahren aufs Wesentliche. Den Sound: Der Klang des Motors bietet beste Musik beim Autofahren. Die Beschleunigung: Schon mal von 100 auf 200 km/h in den Sitz gepresst worden? Die Straßenlage: Erst in einem Sportwagen bekommt man eine Ahnung davon, was Kurvenlage bedeuten kann.

Der Sportwagen erzieht einen aber nicht nur zu Konzentration, Technikgläubigkeit und Raserei. Er ist vor allem etwas fürs Auge. Nicht umsonst steht ein Porsche 911 (mit Fuchs-Felgen) in der Münchner Pinakothek der Moderne. Andere Autos sehen heute ja aus wie das Bord-Restaurant im ICE. Kombis, Geländewagen und Vans mutieren mit den kleinen Monitoren in den Kopfstützen und ihren aufklappbaren Tischen im Fond zur Business-Class der Straße. Nur der Sportwagen entzieht sich diesem Schnickschnack. Er ist einfach Purismus in seiner schönsten Form.

In Zeiten von Feinstaub, Umweltzonen-Plaketten und steigenden Benzinpreisen ist er aber vor allem eines: Eine sündhaft teure Provokation, die nur das grüne Gewissen bremsen kann. (Foto: PA/ASA) Alexander Mühlauer

Mein Mann und ich haben uns einen Skoda Octavia Tour gekauft. Einen Neuwagen für 19 000 Euro. Gleich vorweg: Das würde ich nicht als billig bezeichnen. Da bin ich eitel. Günstig würde ich sagen, oder: angemessen. Mehr muss ein Auto nicht kosten. Überteuerte Preise für nutzfreie Sportwagen mag mein jung-dynamischer Kollege für gerechtfertigt halten. Ich nicht. Zumal: Er tankt zwischen München und Hamburg zwei Mal, mindestens. Von dem Geld kauf' ich mir lieber neue Schuhe.

Der Tour ist nicht der neue schicke Octavia, sondern das Vorgängermodell aus dem Jahr 1996. So sieht er auch aus. Skoda baut ihn weiter, für Menschen, die nicht so viel ausgeben wollen. Das ist löblich. Der Vorteil: Das Modell hat sich bewährt, es gibt keine Kinderkrankheiten und kaum moderne Elektronik, die kaputt gehen kann. Statt dessen tut es, was ein Auto tun soll: Es fährt. Mein Mann war von der Skoda-Idee zunächst gar nicht angetan. Das sei zu sehr ein Familienauto. So gar nicht cool. Der Deal: Er durfte die Sportausführung mit Alufelgen ordern, damit konnte er leben.

Zunächst dachten wir also, mit dem Skoda ein Null-Image gekauft zu haben. Doch wir irrten. In unserem Stadtviertel ist es geradezu schick, dieses Auto zu fahren. Würden hier alle Octavias mit einem Schlag von den Straßen verschwinden, wäre das Parkplatzproblem mehr als gelöst. Ja, in unserer Nachbarschaft scheinen viele vernünftige Menschen zu wohnen. (Foto: oh) Hannah Wilhelm

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Teuer: Luxus-Pumps
Billig: Alltagsschuhe

Angelina Jolie besitzt Schuhe der Marke Christian Louboutin. Ebenso Top-Model Naomi Campbell und Fußballer-Gattin Victoria Beckham. Und seit kurzem nun auch ich. Ein Paar kostet selten unter 500 Euro, meine exakt 619. Mein Mann fand es nett, mir die Schuhe zu schenken, die ich seit Wochen regelmäßig anprobiere. 619 Euro - das sind fast zwei Monate Hartz IV. Dafür bekam ich ein Paar schwarze Peep Toe Pumps, also Pumps, aus denen vorne die Zehen verstohlen herausgucken. Und natürlich, denn so ist das bei Louboutin-Schuhen, ist die Sohle rot.

Ob das Innenfutter abfärbt und die Absätze brechen? Ich weiß es nicht und werde es nie wissen. Die Pumps stehen gut verstaut in meinem Kleiderschrank, und dort bleiben sie auch. Ich könnte nicht zulassen, dass ihnen etwas geschieht. Manchmal nehme ich sie heraus, ziehe sie an, stolziere auf Zwölf-Zentimeter-Absätzen durch die Wohnung. Würde ich sie tragen, im echten Leben, ich wäre unschlagbar elegant. Mit diesem Gedanken und ein bisschen Gänsehaut lege ich sie dann zurück in den Karton. Ob sie das Geld also wert sind? Ganz sicher.

(Foto: oh) Hannah Wilhelm

Einen Tag, nachdem mir mein Mann Christian-Louboutine-Schuhe schenkte (links), kaufte ich mir ein Paar Pumps beim Schuhladen Görtz. Denn ich brauche ja auch Schuhe zum Anziehen.

Sie kosten 59, 95 Euro, sind schwarz, schlicht und vorne spitz. Säße eine Frau neben mir in der U-Bahn und trüge diese Pumps - ich würde nicht denken: schöne Schuhe. Ich würde aber auch nicht denken: hässliche Schuhe. Und das ist doch schon was wert.

Auf fünf Zentimetern lässt es sich gut laufen. Nach ein paar Wochen bleibt der Absatz im Kopfsteinpflaster hängen und der Schuster muss ran. Nach drei Monaten ist vorne die Spitze hässlich abgestoßen. Und natürlich färbt das Innenfutter ab.

Die Schuhe halten genau ein Jahr und zwei Monate. Das weiß ich schon, denn es ist das dritte Mal, dass ich eben jenes Modell gekauft habe. Es ist immer das gleiche, ich muss es vor dem Kauf nicht mal mehr anprobieren. Natürlich könnte ich 180 Euro in ein Paar investieren, das vielleicht länger hält. Aber so kann ich mich jedes Jahr neu entscheiden und neu einkaufen. Schuhe, die mittelmäßig sind. Man kann auch sagen: beruhigend normal. (Foto: oh) Hannah Wilhelm

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Der Kranich und die Schildkröte

In Bibliothekssälen und Tempeln erfolgreich in der Rolle des alten Weisen: Martin Walser auf Lesereise in China

"Die Universität grüßt ihren Ehrengast, den deutschen Schriftsteller Martin Walser." So prangte es in großen deutschen Leuchtbuchstaben an der Fassade des Hauptgebäudes der Fremdsprachen-Universität von Guangdong im Südosten Chinas, als Martin Walser dort auftrat, um in einem mit mehreren hundert Studenten und Gästen überfüllten Hörsaal aus dem Roman "Tod eines Kritikers" zu lesen - seinem letzten Roman, der ins Chinesische übersetzt wurde. Walser schaute erstaunt in die Runde. War es möglich, dass ausgerechnet dieser Roman, der doch ganz und gar auf das literarische Leben in Deutschland bezogen ist, so viele Hörer anzog?

Während Walser las, wurde die chinesische Übersetzung von Huang Liaoyu Seite für Seite auf eine Leinwand projiziert. Die anschließende, weit über eine Stunde dauernde Diskussion, wurde selbstverständlich auf Deutsch geführt. Die Fragesteller erwiesen sich als erstaunlich vertraut mit der literarischen Szene in Deutschland. Wie sei es nur zu erklären, dass der Roman in Deutschland so zwiespältig aufgenommen worden sei und Marcel Reich-Ranicki sich durch ihn so tief verletzt gefühlt habe?

Schließlich sei das Gerücht vom Tod des Kritikers von diesem doch selber inszeniert, der Inhalt des ganzen Romans sei eine einzige Mediengerüchteküche. Eine Hörerin sagte, er sei doch durchweg in einem konjunktivischen "Mutmaßungsstil" (so ihr deutscher Begriff) geschrieben, der gar keine sicheren Aussagen für oder gegen jemanden zulasse. Vor allem von Antisemitismus könne nicht im geringsten die Rede sein. Walser überließ die Antworten ans Publikum lieber seinen Mitdiskutanten auf dem Podium. Eines aber stellte er klar: Er müsse sich mit seinen Figuren immer identifizieren können, denn mit emotionalem Abstand zu ihnen, aus Hass könne er nie schreiben, sondern nur mit Liebe, auch zu denen, die in seinen Romanen eine vermeintlich schlechte Figur machten. Belustigt berief er sich auf die Feststellung seines Übersetzers Huang Liaoyu, der "Tod eines Kritikers" sei eine "Liebeserklärung" an Reich-Ranicki und eine mythische Überhöhung des Kritikers, auf welche dieser eigentlich stolz sein müsse.

Ein Plädoyer für Angela Merkel

Durch drei Städte führte Martin Walsers erste Chinareise: Peking, Shanghai und Guangzhou. Universitäten und Goethe-Institut hatten sich zusammengetan, um den neben Günter Grass berühmtesten deutschen Schriftsteller nach China zu holen. Am liebsten hätte er aus seinem Goethe-Roman "Der liebende Mann" gelesen, denn Goethe ist immer noch eine Kultfigur unter chinesischen Intellektuellen und einer der am meisten gelesenen europäischen Autoren der "Hochkultur", doch wird die Übersetzung - wiederum durch Huang Liaoyu - erst demnächst fertig. Im Mai wird Walser noch einmal nach China reisen, um dann den Goethe-Roman vorzustellen.

Als Walser Huang Liaoyu übrigens wegen seines wunderschönen Namens bewunderte, der "keinen bösen Konsonanten" enthalte, warnte dieser: "Seien Sie vorsichtig!" Der Name Liaoyu, den ihm seine revolutionär gesinnten Eltern gegeben hätten, bedeute so viel wie "Weltbrandstifter". "Da haben Sie eine bedeutendere Karriere gemacht als ich", antwortete Walser. "Ich habe es nur bis zum geistigen Brandstifter gebracht."

Gern hätte das Publikum der Lesungen, Vorträge und öffentlichen Gespräche in immer dichtgefüllten Sälen Walser nach seinen politischen Meinungen gefragt. Doch dem wich er ausdrücklich aus. Er sei nicht als politischer Kannegießer und Meinungsapostel nach China gekommen, sondern als Schriftsteller.

Nur ein einziges Mal ließ er sich zu einer politischen Meinungsäußerung hinreißen. Auf die Frage, ob die in China im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder so unbeliebte Angela Merkel nächstes Jahr unbedingt wieder Bundeskanzlerin werden müsse, sagte er, bei allem Misstrauen, das er ihr anfänglich wegen ihrer Haltung zum Irak-Krieg entgegengebracht habe, müsse er sagen, dass sie zu den wenigen Politikern gehöre, denen er jetzt Vertrauen entgegenbringe. "Ich hoffe doch sehr, dass sie nächstes Jahr wieder Bundeskanzlerin wird."

Als Walser in der Akademie für Sozialwissenschaften in Peking seinen Vortrag über Zustimmung und Kritik hielt, der beim prominenten Publikum auf viel Zustimmung stieß, überreichte ihm nach der Diskussion der Dekan der literaturwissenschaftlichen Abteilung der Akademie ein kostbares Geschenk: die Bronzeplastik eines Kranichs, der auf einer Schildkröte steht und einen Pilz im Schnabel hält: drei Symbole ewigen Lebens. Als Walser das Geschenk kaum anzunehmen wagte, sagte eine Professorin: "Sie sehen, wie kultiviert wir einmal waren. Dann kam der Sozialismus und hat alles kaputtgemacht. Doch das schöne Alte kommt wieder!"

Sprachlose Bescheidenheit

Höhepunkt der Reise Walsers war das Gespräch mit Mo Yan, dem wohl bedeutendsten chinesischen Schriftsteller der Gegenwart, im Bibliothekssaal des ältesten buddhistischen Tempels in Peking. Moderiert wurde es von Michael Kahn-Ackermann, dem zwischen Deutschem und Chinesischem souverän schaltenden Leiter des Goethe-Instituts. Mo Yan bewunderte Walsers Wechselspiel von philosophisch-ästhetischer Essayistik, Kritik und Romankunst. In China sei man nur entweder Romancier oder Essayist. Er komme sich intellektuell ganz unbedarft neben Walser vor.

Das war typisch für Mo Yan, der sich selbst dieses Pseudonym gegeben hat, das "der Sprachlose" heißt. (Sein wirklicher Name ist Guan Moye.) Doch auf diesen Topos der affektierten Bescheidenheit wollte sich Walser nicht einlassen und holte zu einer Ruhmrede auf den großen Schriftsteller Mo Yan aus, in der er dessen - auch zu Filmruhm gelangten - Roman "Das rote Kornfeld" als Meisterwerk würdigte. Er beneidete Mo Yan für die Möglichkeit, in diesem Roman, der die Wende vom alten zum modernen China zum Inhalt hat und in dessen Zentrum die Schlacht zwischen chinesischen Dorfbewohnern und der verhassten japanischen Armee in den Weiten der roten Zuckerhirsefelder steht, die chinesische Geschichte mit so positiver emotionaler Anteilnahme schildern zu dürfen. "Wir deutschen Schriftsteller trauen uns doch gar nicht, uns unserer Geschichte anders als mit schlechtem Gewissen zuzuwenden. Wir sind eben immer die Japaner." Das jedoch hörte Mo Yan nicht gern. Er habe nicht Partei für ein Volk ergreifen wollen, und ein Schriftsteller müsse immer über den Parteien stehen.

Dass der Roman vom roten Kornfeld wirklich im Geist dieser Überparteilichkeit geschrieben sei, wollte Walser freilich nicht recht glauben. Doch Mo Yan sprach wohl aus seiner Erfahrung mit der jüngsten chinesischen Geschichte, die ihn mehr und mehr mit Skepsis erfüllt hat, und mit seinem nach dem Tiananmen-Massaker abgeschlossenen Roman "Die Schnapsstadt", der seinerzeit in der Volksrepublik China nicht erscheinen durfte.

Huang Liaoyu sagte in einem Gespräch, Martin Walser entspreche von seinem Auftreten her vollkommen dem Idealbild des "alten Weisen", dem man in China so sehr anhänge. Das erkläre den großen emotionalen Zuspruch, den er hier finde. Und eine Studentin bemerkte spitzbübisch: "Wenn ihr in Deutschland nicht nett zu Martin Walser seid, behalten wir ihn einfach bei uns." DIETER BORCHMEYER

Walser, Martin: Dienstreisen Guan Moye Literatur in China SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Des Räubers Schatten

Lydia Davis' Kürzestprosa "Fast keine Erinnerung"

"Als sich unsere Frauen allesamt in Zedernbäume verwandelt hatten, stellten sie sich in eine Ecke des Friedhofs zu einer Gruppe zusammen und ächzten im Sturm." Personalpronomen und bestimmter Artikel in diesem Einleitungssatz sind trügerisch. Der knapp anderthalbseitige Text "Zedernbäume" verrät weder, welches "Wir" diese Metamorphose so lakonisch beschreibt, noch um welchen Friedhof es sich handelt. Hier wird nicht erzählt, sondern mitgeteilt, und wenn am Ende die Frauen "tief im Herzen der Zedernbäume wieder zum Leben" erwachen und "seelenruhig und scheinbar ohne besondere Eile" nach Hause zurückkehren, bleiben nicht nur die niederen epischen Bedürfnisse unbefriedigt.

Im Kurz- und bisweilen nur wenige Zeilen füllenden Kürzestprosaformat verfasst, erscheinen die Stücke der 1947 in Massachusetts geborenen Lydia Davis oft eher am Reißbrett als am Schreibtisch entstanden zu sein - und dies auch da, wo es um einen Cowboy als Mann oder um die Rekonstruktion einer historischen Russland-Reise ("Lord Roystons Tour") geht.

Im amerikanischen Original 1997 erschienen, wirken viele dieser "Erzählungen" wie einer europäischen Avantgarde nachgeschrieben, die längst ihre Plätze auf den Denkmalssockeln der Literaturgeschichte eingenommen hat. Positiv überrascht dann ein Stück wie "Der Frischwassertank", in dem die Erzählerin im Supermarkt Fische in einem Becken beobachtet: "Während ich hin und her rechne, ob ich einen fürs Abendessen kaufen soll, sehe ich gleichzeitig, wie hinter ihnen oder durch sie hindurch eine größere, schemenhafte Gestalt den Frischwassertank verdunkelt: meinen Schatten auf dem Glas, den Schatten des Räubers." Aus ihrem toten Winkel hervorkommend, überrascht sich die literarische Fiktion und Reflexion hier selbst. Das ist nicht gewollt reduktionistisch. Das ist einfach gut. ULRICH BARON

LYDIA DAVIS: Fast keine Erinnerung. Erzählungen. Aus dem Englischen von Klaus Hoffer. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2008. 188 Seiten, 19 Euro.

KURZKRITIK

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Lauschen und Hören

Zum siebzigsten Geburtstag der Autorin Erika Runge

Um Erika Runge ist es merkwürdig still geworden, aus der öffentlichen Kultur dieses Landes scheint die beredte und streitbare Schriftstellerin, Publizistin und Regisseurin wie verschwunden. Dabei war sie doch einmal in aller Munde: Das war in den siebziger Jahren der alten Bundesrepublik, zu deren publizistischen Gallionsfiguren sie gehörte. Geboren in Halle im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs als Tochter eines beinlosen Invaliden des Ersten Weltkriegs und als Kind nur mit knapper Not einem Bombenangriff entkommen, war der promovierten Literatur-, Theater- und Kunstwissenschaftlerin eine ausgeprägte Sensibilität für verwundete und bedrohte Landschaften mitgegeben, seien es körperliche oder seelische, mentale oder geographische Landschaften. Das Reportagebuch "Bottroper Protokolle", im magischen Jahr 1968 als schmale Broschüre in der "Edition Suhrkamp" erschienen, sprach da Bände und war die Inkunabel einer aus erneuerten "neusachlichen" Antrieben geschaffenen dokumentarischen Gattung, die als "Oral History" fortan auch in Deutschland Schule machte.

Von da war es nur ein kleiner Sprung zum Film, und Erika Runge nahm ihn mit gleicher Bravour noch im selben magischen Jahr mit dem Dokumentarfilm über das Leben einer Bergarbeiterfrau, "Warum ist Frau B. glücklich". Selbst ohne die davon ausgelöste Woge der interviewgestützten Nachfolgeprojekte wäre der Titel allein schon eine ganze Toposgeschichte der ausgehenden Bundesrepublik wert. Runge selbst warf sich mit ihrer vielseitig applizierbaren - auf Schrift, Bild, Tonband und Bühnen - dokumentarischen Methode in einen Stafettenlauf der Projekte, der sie vom Ruhrpott bis in Frauenhäuser und von der realsozialistischen DDR bis in den Apartheitstaat Südafrika führte. Und mit dem Fernsehspiel "Lisas Traum vom Glück" (1987) schuf sie abermals einen Titel, der sich unauslöschlich ins Kollektivgedächtnis der alten BRD eingeschrieben hat.

Aber schon damals war es still um Erika Runge geworden und bald hörte man gar nichts mehr von ihr. Schon als Münchner Studentin der illegalen KPD angehörig, war sie bis zum Ende der DDR mit deren hiesiger Filiale, der DKP, verbandelt. Bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten war ihr Stern infolgedessen seit den "Radikalenerlassen" gesunken. Es soll aber keiner denken, dass Erika Runge, die heute in Berlin ihren siebzigsten Geburtstag feiert, aus allen neuralgischen Diskursen ausgetreten sei. Ganz im Gegenteil. Heute spricht sie vielleicht weniger als früher, ihre Methode des empathischen Zuhörens hat sie aber ausgefeilt und zum zweiten Beruf gemacht: Seit mehr als einem Jahrzehnt ist Erika Runge, lauschend und spürend, als Psychotherapeutin tätig. VOLKER BREIDECKER

Erika Runge Klaus Rose/Das Fotoarchiv

Runge, Erika: Geburtstag SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Victor Hugos Zeichnungen: "Tintenkleckse tierischen Aussehens"

Der Mann mit der roten Weste beim Theaterkrach um Victor Hugos Stück "Hernani", Théophile Gautier, hat einmal bemerkt: "Wäre Victor Hugo nicht Dichter, er wäre ein Maler ersten Ranges; er versteht es vortrefflich, in düsteren und wilden Fantasien die Hell-Dunkel-Effekte Goyas mit den architektonischen Schrecken Piranesis zu verschmelzen." Gautier reihte also die Zeichnungen des "genialen Dummkopfs", wie Baudelaire so liebevoll wie sarkastisch Hugo nannte, sogleich unter die Heiligen der Schwarzen Romantik ein und definierte damit den Rang dieser verblüffenden Bildwelten, die der Meister selbst bescheiden als "schöne Nebensache" ansah. Seit etwa 1830 hat er 40 Jahre lang mit Feder, Stift, Pinsel und anderen Werkzeugen auf verschiedenen Papiersorten in allen Spielarten des Clair-obscure ein unverwechselbares Ouvre von über 3000 Zeichnungen geschaffen. Hugo ging sorgsam mit dem Konvolut um und vermachte es schließlich der Nationalbibliothek.

Nun haben Françoise Chomard und Dietrich Harth eine gut kommentierte Auswahl herausgegeben (Tintenklecks und Schattenmund. Victor Hugos Zeichnungen. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008. 192 Seiten, 29,80 Euro). Viele dieser Blätter wirken wie rasch hingetuschte Bildnachrichten aus den Zwischenreichen von Zwielicht, Dämmerung und Nebel oder wie Gesichte, die Hugo in Halbschlaf, Trance und Traum bedrängten. Andere bieten grandiose Seestücke, auf denen das finstere Meer die Silhouetten von Schiffen zu verschlingen droht. Wieder andere entstammen einer bizarren Figuren- und Tierwelt, wie jenes struppige Federvieh, 1872/73 entstanden, das Hugo im Bild so beschreibt: "Verkommener Vogel, dessen Gezwitscher die Hexe blamiert hat." HARALD EGGEBRECHT

Hugo, Victor: Werk SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Fünf Linden stehen dem Militär im Weg

Berliner Grünflächenamt streitet wieder mit Verteidigungsministerium - diesmal geht es um die Sicht auf das geplante Bundeswehr-Ehrenmal

Von Peter Blechschmidt

Berlin - Eigentlich handelt es sich um eine Provinzposse. Doch weil es nicht um eine "Kirmesbude, sondern um ein Bauwerk nationalen Ranges" geht, so ein Offizier im Verteidigungsministerium, wird die Angelegenheit allmählich zur Chefsache. Streitobjekt sind fünf junge Straßenbäume, die erst noch richtige Bäume werden wollen. Sie stehen in der Berliner Hildebrandstraße und würden den freien Blick auf das geplante Ehrenmal für die toten Soldaten der Bundeswehr verstellen, sollte es denn eines Tages realisiert werden. Deshalb wünscht der Architekt ihre Entfernung. Dagegen aber sperrt sich bisher das Grünflächenamt des Bezirks Berlin-Mitte.

Nun wäre das keine Erwähnung wert, hätte sich besagtes Amt nicht vor kurzem schon einmal bei einem Vorhaben der Bundeswehr quergelegt. Da ging es um den Wunsch des Verteidigungsministeriums, vor dem Reichstagsgebäude ein öffentliches Gelöbnis von 500 Rekruten zu veranstalten. Das Grünflächenamt aber fürchtete um Rasen und Bewässerungsanlage und legte sein Veto ein, das vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) höchstselbst aufgehoben werden musste. Auf wundersame Weise wurde nach dem Gelöbnis dann am vergangenen Sonntag die Baumgeschichte bekannt. Aha, war die allgemeine Reaktion, da sitzt im Grünflächenamt ein Bundeswehr-Hasser. Und damit hatte die Geschichte plötzlich eine politische Dimension, die mittlerweile derart groß geworden ist, dass die Bundesministerien für Verteidigung und für Bauwesen die Pressearbeit in diesem Fall an sich gezogen haben. Ist doch das Ehrenmal eine Herzensangelegenheit von Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU).

Den Verdacht, in seinem Amt möge man die Bundeswehr nicht, weist Baustadtrat Ephraim Gothe energisch zurück. Im Gegenteil: Schon im vorigen Jahr habe er ohne Umstände einen zwölf Zentimeter breiten Streifen vom Bürgersteig an das Ministerium abgetreten, damit das Ehrenmal so wie vom Architekten geplant verwirklicht werden könne, sagte Gothe am Mittwoch der Süddeutschen Zeitung. Aber wenn es um Bäume gehe, sei der Berliner halt besonders sensibel, wie sich im vorigen Jahr gezeigt habe, als die Böschung des berühmten Landwehrkanals durch die Wurzeln mächtiger Kastanien zu bersten drohte. Nach heftigen Bürgerprotesten wurden die Bäume nicht gefällt, sondern durch aufwendige und ästhetisch wenig anspreche Stützmaßnahmen gesichert.

Eingedenk dieser Erfahrung habe er der Bitte des für die Errichtung des Ehrenmals zuständigen Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) um Abholzung der fünf jungen Linden nicht heimlich, still und leise stattgeben wollen, sagte Gothe. Er habe sich vielmehr die Rückendeckung des Bauausschusses holen wollen. Dort aber seien Bedenken geäußert worden. Deshalb habe er BBR-Chef Florian Mausbach für die nächste Ausschusssitzung im September eingeladen, damit er die Wünsche des Bundes noch einmal erläutere. Er selbst habe Verständnis für das Anliegen, einen freien Blick auf das Ehrenmal zu ermöglichen, und werde es unterstützen, versicherte Gothe. Es gebe aber gar keinen Zeitdruck, weil mit dem Bau des - längst genehmigten - Ehrenmals überhaupt noch nicht begonnen worden sei.

Das Verteidigungsministerium räumt ein, "die Durchführung der Baumaßnahme" werde durch die Bäume nicht behindert. Dass mehr als ein Jahr nach dem Kabinettsbeschluss zur Errichtung des Ehrenmals der erste Spatenstich noch immer aussteht, liege an durchaus üblichen Veränderungen der Detailplanung. Man gehe jetzt davon aus, dass im Herbst der Grundstein gelegt werden könne.

"Es geht um keine Kirmesbude, sondern um ein Bauwerk nationalen Ranges"

Offizier im Verteidigungsministerium

Bundesministerium der Verteidigung Denkmäler in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Die Autotür öffnet sich"

Es ist vollbracht: Barack Obamas Amtseinführung im deutschen Fernsehen

Die Amerikaner gehören natürlich zu den glühendsten Verehrern des Barack Obama, aber mit den Deutschen kommen sie doch nicht ganz mit. Schon gar nicht mit jenen Deutschen, die Fernsehen machen. Und schon überhaupt gar nicht mit Dennenesch Zoudé. Für das ZDF hat sich die aus Äthiopien stammende Schauspielerin unter die jubelnde Menge auf der Washingtoner Mall gemischt. Um die Gefahr journalistischer Distanz von vornherein zu bannen, hat sie sich eine rote Obama-Fan-Kappe aufgesetzt. Die soll sie wohl auch wappnen gegen all die Begeisterungsbeben und Euphoriewellen, die sie halbminütlich an den Rand des Kollaps bringen. "Es ist vollbracht", schreit irgendwer neben ihr, als Obama den Eid geleistet hat. Zoudé bemüht sich eher zaghaft um Einordnung: "Es ist vollbracht", schreit auch sie und zeigt auf ihre Mütze.

Gut zehn Stunden ist das deutsche Fernsehen am Dienstag damit beschäftigt, den 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten ins Amt zu begleiten. Historisch ist der Anlass und entsprechend üppig die Ergriffenheit. Das Vorspiel freilich zieht sich. N-tv meldet um 16.35 Uhr "Breaking News": "U-Bahn-Züge in Washington überfüllt". Bei Phoenix spielt der Moderator mit einem Wackel-Barack. N24 verlautbart: Linken-Chef Gysi hat Obama postalisch darauf hingewiesen, seine Inauguration könne ein "Jahrtausendereignis" werden. CNN kündigt unterdessen mal wieder eine grandiose technische Neuerung an - vorübergehend ist zu befürchten, dass sich Wolf Blitzer als Hologramm auf Michelle Obamas Schoß projizieren lässt. Dann ist es doch nur ein Satellitenbild der Mall.

Verschiedene Sender erbringen den Nachweis, dass spontane Stimmungsinterviews auf der Straße verzichtbar sind. Florian Bahrdt von der ARD fragt eine schwarze Frau mit Obama-Glitzer-Hut, ob dieser Tag für sie eine "historische Dimension" habe. Die Frau teilt mit, das sei der Fall. Die Zeremonie beginnt. Die deutschen Sender trauen - im Gegensatz zu CNN - ihren Bildern nicht, dabei hat das ZDF sogar eigene. Die Kommentatoren wollen künstliche Erhabenheit herbeireden, und quatschen die echte damit kaputt. Angenehm fällt auf, wer die Stimme nicht in Dauervibrato versetzt: Steffen Seibert beim ZDF, Tom Buhrow bei der ARD. Letzterer tut sich auch mit Sachkenntnis hervor, während sich ARD-Kollegin Hanni Hüsch beim Einzug der Verfassungsrichter über "prominente US-Stars" auf der Tribüne freut. Peter Kloeppel hat sich in der guten Stunde, die RTL dem Spektakel widmet, offenbar Zurückhaltung auferlegt. Er brummt wie ein Braunbär mit Halsentzündung. Man kann gar nicht genug haben von diesem Kloeppel-Brummen.

Kurz vor sieben. Die Obamas stehen winkend auf den Stufen an der Rückseite des Kapitols, die Bushs steigen in den Hubschrauber Marine One - es ist ein großer Moment, die Nahtstelle zweier Epochen. Genau jetzt schalten die Öffentlich-Rechtlichen weg. Die ARD zeigt Die Bräuteschule, es geht um Hauswirtschaftsunterricht in den Fünfzigern. Bei CNN entschwebt der unbeliebteste US-Präsident aller Zeiten am Horizont. Bei der ARD mahnt eine gestrenge Lehrerin: "Kochen Sie stets mit Fantasie!"

Das Heute-Journal, live aus Washington. Bisher haben alle gut verborgen, dass sie frieren bei minus acht Grad. Marietta Slomka tut das nicht. Heute muss man sagen dürfen, dass sie unterkühlt wirkt. Auf ihrem Pult stehen Obama-Tassen, das ist Kinderfasching gegen den Wackel-Barack. Im Heute-Journal - und auch bei den Tagesthemen - kommt die frenetische Berichterstattung, die bis dahin von Minimalereignis zu Minimalereignis ("Die Autotür öffnet sich!") hetzte, endlich wieder zu Atem. Es gibt Auszüge aus Obamas Rede, in frischer Übersetzung, die dem Rhythmus und Ausdruck des Präsidenten gerecht wird. Und es gibt bedachte Beiträge: ZDF-Reporter Peter Kranz etwa hat inmitten des Washingtoner Wahnsinns tatsächlich intime Momente eingefangen. Frau Slomka sagt dann noch, dass die Welt wegen Obama nicht stehen bleibe.

ARD und ZDF beschließen den Abend mit viertelstündigen Zusammenfassungen. Die im Ersten heißt Obama!!!, ist aber trotzdem recht nüchtern. Die Nachrichtensender bleiben dran, beobachten die große Parade. Die Kommentatoren schlagen sich bei der Vertonung der öden Angelegenheit wacker, auch wenn sie in ihrem Übermut die eine oder andere Wissenslücke offenbaren. So zelebriert n-tv mit einigem Pathos den Moment, in dem die Obamas die Schwelle des Weißen Hauses überschreiten. Es handelt sich nur leider um die Schwelle zu dem Plastikpavillon, in dem die First Family die Parade guckt.

Frieren mit Frau Slomka

Es ist spät geworden. Beim N24-Talk Links-Rechts wird Obama mit Jürgen Klinsmann verglichen, was den Studiogast und niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff nur kurz aus dem Konzept bringt. Danach tut N24, was schon den ganzen Tag über zu erwarten war: Der Sender zeigt eine Dokumentation über Kampfflugzeuge. Es ist jetzt Mitternacht vorbei in Deutschland, und Paradenzuschauerin Michelle Obama hat sichtlich Mühe, beim Vorüberzug der hundertsten High-School-Marschkapelle Begeisterung vorzuschützen.

Solche Probleme kennen Professor Thomas Jäger und Brian Thomas bei Phoenix nicht: Seit 14.45 Uhr sind der Politkwissenschaftler und der Deutsche- Welle-Mann auf Sendung. Um 0.55 Uhr diskutieren sie immer noch mit einer Wonne, als hätten sie just in diesem Augenblick das erste Mal ein Mikro unter der Nase. Irgendwann, ein Resümee ist gefragt, sagt Jäger: "Einen grundlegenden Wandel wird es auch mit Obama nicht geben." Wohl ein Defätist. Der Professor sollte sich den wahren Stand der Dinge rasch von Dennenesch Zoudé erklären lassen. ROMAN DEININGER

Obama im Blick: Der Arbeitsbeginn des 44. US-Präsidenten war ein TV-Großereignis; hier ein Geschäft in Seoul. Foto: AP

Brummig, aber ruhig: Am Tag der Amtsübernahme wahrte RTL-Anchor Peter Kloeppel die Form. Foto: RTL

Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Barack Obama Programmgestaltung im Fernsehen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Ende der Fiesta

Spaniens Traditionsblatt "El Pais" steht vor der Zersplitterung

Vor gut zehn Jahren veröffentlichte Juan Luis Cebrißn, Gründungschefredakteur der spanischen Zeitung El País, "Briefe an einen jungen Journalisten". In seinem Büchlein setzte sich Cebrißn auch mit dem Einfluss der neuen Technologien auf Medien auseinander, gestand seine "absolute Unwissenheit" über zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten ein und kam doch zu einer optimistischen Schlussfolgerung: "Es werden weiterhin fundamentale Barrieren existieren, die eine Ersetzung der diversen Funktionen verhindert, die eine Zeitung erfüllt." Gemessen an einem zweistündigen Monolog, den Cebrißn, mittlerweile 64-jähriger Vorstandschef des País-Mutterkonzerns Grupo Prisa, vor der Redaktion des Blattes in Madrid hielt, sind diese Barrieren auf immer hinweggefegt. Am Mittwoch fasste El País Cebrißns Sicht der Lage zusammen, der Einstiegssatz las sich wie eine Art Nachruf: "Die Zeitungsindustrie, die im XIX. Jahrhundert an der Hand der industriellen Revolution geboren wurde, ist am Ende."

In fünf Jahren werde es "mit absoluter Sicherheit", in zehn Jahren "wahrscheinlich" noch Zeitungen geben. Aber in 15 Jahren? "Die Sterblichkeitsrate der Zeitungen ist enorm hoch. Die Fiesta ist vorbei, für alle", so Cebrißn.

Die Beschreibung der Apokalypse dürfte auch als Disziplinierungsmittel gedacht sein. Denn der Mediengigant Prisa, dem unter anderem der Buchverlag Santilla, der Radiosender Ser oder die Sportzeitung As gehören, wackelt gewaltig. 2007 kaufte Prisa 100 Prozent der Aktien der TV-Plattform Sogecable auf, mittlerweile gilt das als gravierender Managementfehler. Der Weiterverkauf Sogecables zieht sich hin, die Schulden Prisas sind auf 5,5 Milliarden Euro angeschwollen, im März werden ebenfalls milliardenschwere Kredite fällig. Auch wegen dieser Lage gärt es bei der El País, denn sie war bei stabiler Auflage (440 000 Exemplare) auch im Krisenjahr 2008 profitabel. Nach den ersten drei Quartalen wies Prisa für El País einen Vorsteuergewinn von 43 Millionen Euro aus. Dennoch wurden mehr als 70 Arbeitsplätze abgebaut, soll die Zeitung selbst zersplittert werden.

Unter anderem kündigte Cebrißn die Fusion der Print- und Online-Redaktionen von El País an. Ein Konzept für die am 1. März beginnende Zusammenarbeit wurde allerdings nicht erläutert. Verwaltung und Druckereien wiederum werden in zwei neue Firmen ausgegliedert, unter dem Dach der Prisa-Gruppe. Die Belegschaft fürchtet, dies sei nur ein Schritt, um leichter betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen, als Vorstufe eines möglichen Verkaufs. Nach einem Streik im Dezember sind auch für Februar neuerliche Ausstände einberufen worden.

Restrukturierung sei der einzige Überlebensplan, sagt Cebrißn. Der Streik sei ihm weitgehend einerlei. Zumal die Zeitung immer weniger zum Prisa-Ergebnis beitragen werde. Subtext: Ein bislang für ausgeschlossen gehaltener Verkauf des Flagschiffs dürfte immer leichter fallen. Interessenten für das angebliche Verfallsprodukt hat es bereits gegeben. Vor ein paar Monaten soll der mexikanische Milliardär Carlos Slim aufgemerkt haben, der sich gerade bei der New York Times engagiert. JAVIER CÁCERES

Promotora de Informaciones SA (PRISA): Finanzen El Pais SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Fernseherfolg Obama

Barack Obamas Amtseinführung haben am Dienstag in Deutschland über elf Millionen Menschen live im Fernsehen verfolgt. Die ARD erreichte zwischen 17 und 19 Uhr mit 5,08 Millionen Zuschauern den größten Marktanteil. Die zeitgleiche Livesendung im ZDF sahen 4,08 Millionen. Das RTL-Spezial schalteten 1,63 Millionen Zuschauer ein. Weitere 800 000 verfolgten Obamas Eid bei n-tv, Phoenix und N24. SZ

Einschaltquoten im Fernsehen Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Barack Obama SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Festliche "Zeit"

An diesem Donnerstag enden für die Zeit die Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Der Herausgeber wird noch einmal mit einem Festakt beehrt. Da passt es der Hamburger Wochenzeitschrift (Holtzbrinck) gut, dass sie festliche Zahlen verkünden kann: Um 18 Prozent steigerte sie im Fünfjahresvergleich die Auflage auf den Höchststand von 501 394 Exemplaren (viertes Quartal 2008). Gleichzeitig nahm der Anzeigenumsatz, 49 Millionen Euro, seit 2003 um 70 Prozent zu, bei einem Gesamtumsatz in 2008 von 122 Millionen. SZ

Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck GmbH: Umsatz Die Zeit SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Google scheitert offline

Der Internetriese Google ist bei dem Versuch, seine Dominanz bei der Online-Werbung auf den Printbereich auszuweiten gescheitert. Vom 28. Februar an wird das Unternehmen keine Print-Anzeigen für US-Zeitungen mehr verkaufen, wie der verantwortliche Direktor Spencer Spinell am Dienstag in einem Internet-Blog erklärte. Als Grund nannte er ausbleibenden Erfolg. Das Projekt, bei dem Werbekunden online auf noch nicht vergebene Anzeigenplätze in den beteiligten Blättern bieten, war im Jahr 2006 mit 50 Partnerzeitungen gestartet. Aktuell umfasst das Anzeigennetzwerk rund 800 US-Zeitungen, darunter die New York Times und die Washington Post. SZ

Google Inc., Mountain View: Marketing SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lebedew kauft "Standard"

Der frühere KGB-Spion Alexander Lebedew übernimmt wie erwartet die kriselnde Londoner Zeitung Evening Standard für den symbolischen Preis von einem Pfund. Der russische Oligarch erwerbe 75,1 Prozent der Anteile des Blattes, teilte der bisherige Eigentümer Daily Mail & General Trust am Mittwoch mit. SZ

Lebedew, Alexander Daily Mail & General Trust DMGT: Verkauf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vereint für die Kultur

Das Goethe-Institut und die Deutsche Welle wollen strategisch zusammenarbeiten. In regelmäßigen Treffen sollen gemeinsame Themen und geeignete Formate für die Präsentation der auswärtigen Kulturpolitik gefunden werden. Es gebe "keine Konkurrenzsituation", hieß es in einer Mitteilung beider Häuser. dpa

Deutsche Welle: Zusammenarbeit Goethe-Institute in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vereint im Kummer

Die Nachtgestalten Kai Diekmann und Henryk M. Broder

Der eine ist smart, trägt gute Anzüge zu gegelten Haaren, stand stets eher rechts von der Mitte und kann mit 44 Jahren noch Hoffnung auf weitere Karriereschritte hegen. Der andere ist klein, untersetzt, legt auf Kleidung augenscheinlich keinen großen Wert, nennt sich "links" und will mit 62 nicht mehr groß etwas werden.

Aufs Erste also eine prima Idee des Kultursenders Arte, für seine Reihe "Durch die Nacht mit. . ." den Bild-Chefredakteur Kai Diekmann mit dem Spiegel-Reporter Henryk M. Broder zu paaren. Der Gegensatz könnte mächtig Funken schlagen. Was am Ende aber bleibt, ist der Eindruck schaler Inszenierungen, die brechen.

Der Job von Journalisten ist es, andere zu befragen und zu beschreiben. Wenn sie selbst die Hauptrolle spielen, neigen sie jedoch zur Überperfektion in Wortwahl und Gestus, weil sie ja zu wissen glauben, was beim Publikum ankommt. Das macht eine TV-Nacht mit Spitzenleuten der Branche zur fortgesetzten Spiegelfechterei um das beste Drehbuch und die richtige Pointe.

Verblüffenderweise schneidet der Mann von Bild dabei besser ab. Sicher, die permanenten Controletti-Anrufe in der Redaktion ("Zu Minu gibt's noch mehr Text") mit dem roten Diensthandy machen ihn nicht sympathischer, und der Gag im Restaurant - die Wurst auf dem Teller gilt als "Pferdepimmel mit Gleitcreme" - verträgt keine Lacher. Aber es ist auch viel Nachdenklichkeit zu erkennen über die Themen von Bild: "Man muss nicht alles tun, was erlaubt ist." Als sich Diekmann angesichts des Wortschwalls seines Gesprächspartners beim ungewohnten U-Bahn-Fahren ins Schweigen rettet, wirkt er ausgesprochen menschlich.

Henryk M. Broder dagegen spielt seine Rolle als Provokateur vom Dienst mit der Manie eines Schulmeisters. In den Sechzigern hat er gegen Axel Springer demonstriert, jetzt sitzt er in der dicken Dienstlimousine des Verlagshauses und freut sich königlich. Für den Abend hat er ein Sortiment lustiger Kopfbedeckungen gewählt, etwa eine arabische Mütze, die er passend zur Lage einsetzt. Wie gehabt stichelt der Autor gegen Israel-Feindlichkeit, Gutmenschen und Political Correctness - und bringt immerhin den Witz ein, dass Diekmann bei seiner Papst-Audienz statt der "Volksbibel" vielleicht doch besser "die Mädchen von Seite eins" überreicht hätte.

Das wäre mal etwas gewesen, besser jedenfalls als das alte, etwas muffige West-Berlin, das die beiden Journalisten vorführen. Im Übrigen sind sie vereint im Kummer über die Entpolitisierung, die "Irren" im Internet, den "langweiligen Stern", die Sozialdemokratisierung fast aller Parteien - und natürlich die bösen 68er.

Am Ende der Soiree ist es gespensterleer, als das ungleich gleiche Duo durch das Druckhaus Berlin-Spandau wandelt, wo druckfrische Bild-Ausgaben über die Bänder laufen. Hier wirkt Diekmann wie die Inkarnation des Verlegers, der sagt, Zeitungsdruck zu erleben, das mache demütig. Der Polemiker an seiner Seite kann dann nur noch nicken und verabschiedet sich mit "Verehrung". Eine Kolumne auf Bild wird dem Spiegel-Mann auch nach diesem netten Abend versagt bleiben - es gibt da keinen Bedarf. "Ich hab auch meinen Broder", sagt Diekmann, "und der heißt Franz Josef Wagner." HANS-JÜRGEN JAKOBS

Durch die Nacht mit Henryk M. Broder und Kai Diekmann, Arte, 23.40 Uhr.

"Bild"-Chef Kai Diekmann (r.) liest im Blog des ";Spiegel"-Reporters Henryk M. Broder, dass beide gerade durch die Nacht reisen. Foto: avanti media

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Völlig egal

An dem Streik von Sat-1 am Berliner Standort, der Mitternacht an diesem Mittwoch endete, sollen sich circa 300 Mitarbeiter (von 1000) beteiligt haben. Sie protestierten gegen Stellenabbau und den Umzug nach München. Nur N24 und die ehemalige Zentralredaktion bleiben in der Hauptstadt. Auswirkungen aufs Programm habe es keine gegeben, sagte Sat-1-Sprecherin Kristina Fassler - die Wetterkarte im Frühstücks-TV ausgenommen, die fehlte. Das, so Fassler, sei " völlig egal". Einen Wetterbericht habe es gegeben sowie die üblichen Live-Elemente, das Gewinnspiel etwa. SZ

SAT 1 Satelliten Fernsehen GmbH: Umzug SAT 1 Satelliten Fernsehen GmbH: Personal SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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KORREKTUREN

Am 16. Januar stand in "Schandtaten in Schnipseln", der Landesbischof von Thüringen sei aufgrund rekonstruierter Akten als Stasi-Spitzel enttarnt worden. Gemeint war nicht der derzeitige Amtsinhaber, sondern Ingo Braecklein, ein verstorbener Vorgänger.

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Blüten der Forschung

Startet der umstrittene Algen-Versuch im Südpolarmeer doch?

Die Besatzung der Polarstern erlebt eine Odyssee. Bereits kurz nachdem das deutsche Forschungsschiff am 7. Januar von Südafrika aus in Richtung Südpolarmeer aufgebrochen war, geriet es in einen Sturm, der Meeresforschern und Seeleuten an Bord zu schaffen machte. Doch inzwischen bedrückt die 53 Forscher auf der Polarstern nicht allein das schlechte Wetter. Ihnen wurde einstweilen verboten, ihren wichtigsten Auftrag zu erfüllen. Eigentlich wollten die Wissenschaftler aus sieben Ländern am Mittwoch damit beginnen, den Ozean mit Eisensulfat zu düngen. Das rund vier Millionen Euro teure Experiment sollte zeigen, wie viel Treibhausgas eine auf diese Weise erzeugte Algenblüte binden kann.

Doch nach einem Streit deutscher Ministerien wurde das Experiment Anfang vergangener Woche ausgesetzt. Erst am Montag will die Bundesregierung entscheiden, ob die Forscher mit der Arbeit beginnen können. Sie hat Gutachter beauftragt, die Umweltfolgen des Dünge-Experimentes zu bewerten. Nach Informationen der SZ wird es voraussichtlich einen positiven Bescheid geben.

Deutschland ist zwar für die Verzögerung des Projektes verantwortlich, betreibt es jedoch nicht allein. Das Großexperiment war im Beisein von Indiens Premierminister Manmohan Singh und Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2007 als indisch-deutsches Kooperationsprojekt unterzeichnet worden. An Bord der Polarstern sind 32 indische und elf deutsche Forscher, sowie Wissenschaftler anderer Nationen.

Die erzwungene Verzögerung des Experiments wird die Internationale Maritime Organisation IMO beschäftigen, die sich im Februar des Falls annehmen will. Die IMO ist eine Agentur der Vereinten Nationen, die für die Sicherheit und Sauberkeit der Ozeane verantwortlich ist. Vergangenen Oktober hatte die IMO mit der sogenannten Londoner Konvention die Eisen-Düngung der Meere verboten - allerdings mit einer Ausnahme: Zu Forschungszwecken sollte sie erlaubt sein.

Dennoch fordert das deutsche Umweltministerium unter Sigmar Gabriel (SPD) den Stopp des Polarstern-Projekts: Deutschlands Glaubwürdigkeit leide durch das geplante Experiment, so die Begründung. Gabriel verweist auf einen Beschluss der UN vom vergangenen Jahr in Bonn. Auf der Tagung über biologische Vielfalt (CBD) hatte sich die UN im Mai 2008 unter Vorsitz Deutschlands ebenfalls gegen Eisen-Düngung der Meere ausgesprochen. Das Polarstern-Projekt stehe im Gegensatz zu den unter deutschem Vorsitz gefassten UN-Beschlüssen, sagt Gabriel.

Um Wissenslücken zu schließen, einigten sich auf der CBD 191 Staaten darauf, "kleinflächige Eisen-Düngung im Rahmen von Wissenschaftsprojekten" zuzulassen. Doch die IMO solle nun prüfen, wie ",kleinflächig' verbindlich definiert werden muss", fordert das Umweltministerium. Die Londoner Konvention fordere "ausdrücklich" Forschung zur Eisendüngung, erklärt hingegen das Forschungsministerium BMBF von Annette Schavan (CDU).

Das BMBF hatte sich zunächst Gabriels Protest gebeugt. Das Düngungs-Experiment wurde solange ausgesetzt, bis eine Stellungnahme zur Unbedenklichkeit der Untersuchungen vorliegt. Gleichwohl sei es "verwunderlich, dass die Proteste gegen das Experiment erst so spät kamen" - nachdem die Polarstern abgelegt hatte, erklärt das BMBF. Die späte Reaktion sei auf Druck von Umweltverbänden zustande gekommen.

Nun erarbeiten drei renommierte Meeresforschungsinstitute bis Samstag eine Stellungnahme zur ökologischen Risikobewertung des Projektes - um "zusätzliche Transparenz zu schaffen", wie das BMBF erklärt: Das Ifremer in Frankreich, der British Antarctic Survey und das IFM Geomar in Kiel. Die Ermittlungen stützen sich vor allem auf fünf ähnliche Experimente, die bislang im Südpolarmeer stattfanden.

Zudem vergleichen die Gutachter das Experiment mit natürlichen Prozessen: Schmelzende Eisberge etwa hinterlassen ähnliche Eisenmengen. Und nahe der Küste enthält Meerwasser pro Liter mehr als zehnmal so viel Eisen. Das Eisen lässt Algen aufblühen, die Grundnahrung für Krill, dessen Bestand sich in den letzten Jahren drastisch verringert hat. Doch Eisen-Düngung muss keine ökologische Wohltat sein. Zwar entziehen Algen dem Wasser und somit der Luft Treibhausgas. Doch muss untersucht werden, was mit den Algen passiert und welche Substanzen sie freisetzen.

Manche Forscher denken, mit großflächiger Eisen-Düngung lasse sich ein Fünftel des jährlichen menschengemachten Treibhausgas-Ausstoßes entsorgen. Doch der wissenschaftliche Leiter der Polarstern, AWI-Forscher Victor Smetacek, ist skeptisch: "Bisher konnte nicht überzeugend bewiesen werden, dass Kohlenstoffverbindungen - also auch Treibhausgase - für längere Zeit entsorgt wurden." AXEL BOJANOWSKI

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Die Antarktis ist gar nicht so kalt

Forscher haben bisher unterschätzt, wie stark sich der Kontinent am Südpol erwärmt

Wenn in Deutschland Schnee fällt, ist in der Antarktis Sommer. Seit Jahren starren Polarforscher dann gebannt auf die großen Eisschelfe am Rand des Kontinents, ob wieder Platten von der Größe ganzer Länder abbrechen. Im Jahr 2000 zum Beispiel hatte sich eine Fläche so groß wie Jamaika gelöst. Zurzeit beobachten die Wissenschaftler das Wilkins-Schild im Nordwesten des Kontinents. Dort schwamm einst Eis von der Größe Schleswig-Holsteins auf dem Wasser. Ein Drittel davon ist zerbröselt, ein weiteres Viertel wird nur durch einen kleinen Steg Eis festgehalten. Er ähnelt einer Stange Spargel, die sich mit dem Kopf an eine Insel lehnt. An der schmalsten Stelle ist der Steg aber nur noch 900 Meter breit, sagt Angelika Humbert von der Universität Münster. "Im schlimmsten Fall werden 3800 Quadratkilometer Eis instabil, wenn es dort bricht."

Polarforscher verknüpfen solche spektakulären Ereignisse mit dem globalen Klimawandel. Die Erwärmung hat einer Studie zufolge bereits die Antarktis als Ganzes erfasst. Bisher hieß es meist, die Temperaturen stiegen vor allem auf der antarktischen Halbinsel im Westen, die sich Feuerland entgegenstreckt; also in der Region, zu der auch das Wilkins-Schelf gehört. Der Osten des Kontinents hingegen kühle eher aus. Dem widersprechen nun sechs amerikanische Wissenschaftler um Eric Steig von der Universität des Bundesstaats Washington in Seattle. Nur im Südherbst zeige sich die Abkühlung im Osten. Ansonsten aber habe sich der Kontinent insgesamt seit 1957 um etwa 0,6 Grad Celsius erwärmt (Nature, Bd. 457, S. 459, 2009), weil die Temperaturen überall gestiegen seien.

Dieser Aussage liegt eine komplizierte Analyse zugrunde, denn die Daten aus der Antarktis sind spärlich. Zwischen 1957 und 1980 gibt es zuverlässige Messungen nur von gut zwei Dutzend bemannten Forschungsstationen, die fast alle in der Nähe der Küsten lagen. 1980 kamen automatisierte Wetterstationen hinzu, erst seit 1982 liefern Satelliten einen Überblick über die Fläche. Die Forscher mussten also die fehlenden Daten aus früheren Zeiten und aus dem Landesinneren hochrechnen. Sie erkannten dabei, dass es zwischen den unterschiedlich gemessenen Temperaturen ab 1982 feste Relationen gab, die sie dann auf die früheren Jahre übertragen konnten.

Weiterbildung für den Klimarat

Dieses Verfahren wandten sie unabhängig voneinander auf die Daten der Satelliten und der automatischen Wetterstationen an; beide lieferten nahezu identische Ergebnisse. "Das ist eine sehr seriöse Arbeit", lobt Angelika Humbert, die mit den gleichen Daten und einem ähnlichen Verfahren die Temperaturen auf dem Ross-Eisschelf im Südwesten der Antarktis rekonstruiert hatte und zu den gleichen Ergebnissen gekommen war. "Es ist aber das erste Mal, dass jemand diese Erwärmung des Ostens zeigen kann."

Allerdings hängt die Temperatur des antarktischen Ostens stark vom genauen Zeitraum ab. Zwischen 1957 und 2006 ergibt sich eine leichte Erwärmung, zwischen 1969 und 2000 eine Abkühlung. Neben den Treibhausgasen spielen am Südpol eben noch andere Faktoren ein Rolle: Veränderungen in der vorherrschenden Luftzirkulation und das Ozonloch, das den höher gelegenen Osten kühlt. "Die Bemühungen, das Ozonloch zu stopfen, werden irgendwann wirken. Wenn das passiert, könnte sich die Antarktis im Gleichschritt mit dem Rest der Welt erwärmen", warnt Eric Steig.

Ohnehin hatte vor einigen Wochen eine andere Forschergruppe belegt, dass der Einfluss des Menschen längst die Antarktis erfasst - der Weltklimarat IPCC hat diese Frage in seinem Bericht 2007 offengelassen. Die Wissenschaftler um Nathan Gillett von der University of East Anglia in Norwich haben die verfügbaren Temperaturdaten mit vier Klimamodellen verglichen, die die Vergangenheit nachvollziehen sollten. Ignorierten die Computer den Einfluss des Menschen auf das Klima, passten die berechneten Temperaturen nicht zu den realen Messwerten aus der Südpolregion. Erst als die Rechner beim simulierten Blick zurück Treibhausgase, andere Schadstoffe und das Ozonloch berücksichtigten, ergab sich das korrekte Muster. CHRISTOPHER SCHRADER

Ein hohes Gebirge teilt die Antarktis. Der Westen erwärmt sich seit Jahrzehnten stark - hier gekennzeichnet durch die kräftige rote Farbe. Aber auch der Osten schimmert zart rosa. Dort ist es heute ebenfalls wärmer als 1957. Bild: Steig / Nasa

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Die letzten Erreger

Kinderlähmung soll nun endgültig ausgerottet werden

Jetzt soll es der Krankheit endgültig an den Kragen gehen. Immer wieder hat sich die Kinderlähmung vor ihren Verfolgern versteckt, hat stillgehalten, um doch wieder loszuschlagen. Regelmäßig lodert sie in Indien, Pakistan, Nigeria und Afghanistan auf und führt dort alljährlich zu einigen hundert Krankheitsfällen. Es sind nicht mehr viele, vergessen die Zeiten, als die Kinderlähmung weltweit gefürchtet war. Aber ihre Erreger zeigen: Wir sind noch da.

Ihre Verfolger aber meinen es nun noch einmal ernst. Mit 630 Millionen Dollar wollen sie der Kinderlähmung den Garaus machen; wollen die Krankheit, die Millionen Kinder am Laufen gehindert, in die eiserne Lunge gepresst oder getötet hat, endgültig besiegen. Am Mittwoch verkündeten die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die Rotary-Vereinigung und die Regierungen von Deutschland und Großbritannien, dass sie die Summe aufbringen werden. 255 Millionen Dollar zahlt die Stiftung von Microsoft-Gründer Gates, die sich seit Jahren mit viel Geld und gigantischem PR-Aufwand gegen die Geißeln der Menschheit engagiert, bisher vor allem gegen Aids, Malaria und Tuberkulose.

Eigentlich sollte es die Kinderlähmung längst nicht mehr geben. Schon 1988 hatte sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Ziel gesetzt, die Erreger der Poliomyelitis genannten Krankheit auszurotten. Weil es Impfstoffe gibt und Polio-Viren nur im Menschen überleben können, standen die Chancen nicht schlecht. So sollte die Kinderlähmung nach den Pocken als zweite Krankheit vom Erdball verschwinden.

Die Erfolge können sich sehen lassen. Europa, Amerika und Australien wurden im Zuge der Kampagne offiziell für "poliofrei" erklärt. Während 1988 noch 350 000 Kinder in aller Welt erkrankten, waren es 2008 nur noch 1600. Doch um die letzten vier Staaten in Asien und Afrika von der Plage zu befreien, bedarf es einer Kraftanstrengung. Immer wieder flammt die Krankheit dort auf und wird in andere Länder wie Tschad und Niger getragen, was die Ausrottung gefährdet. "Heute quält die Kinderlähmung nur noch eine kleine Zahl der Kinder dieser Welt", sagt Bill Gates. "Aber die vollständige Ausrottung ist schwierig und wird es noch für einige Jahre bleiben."

Mehr als sechs Milliarden Dollar hat die Ausrottungskampagne seit 1988 gekostet. "Die zugesicherten 630 Millionen sind ein sehr großer Beitrag für die kommenden Jahre", sagt WHO-Sprecher Oliver Rosenbauer. Allerdings seien die Finanzen nicht die einzige Schwierigkeit. "Wir haben inzwischen Lösungen für die meisten Probleme gefunden, aber sie müssen in den Ländern auch strategisch umgesetzt werden", sagt Rosenbauer. So hätten sich die Bevölkerungen der beiden betroffenen Bundesstaaten Indiens, Bihar und Uttar Pradesh, in den vergangenen Jahren immer wieder gegenseitig angesteckt. "Die Ausrottung muss zeitgleich erfolgen", so der WHO-Mann. "Nur dann haben wir eine Chance."

Allerdings sind die Viren heimtückisch. Bei Kleinkindern können sie binnen Stunden zu einer völligen Lähmung führen. Die meisten Ansteckungen aber verlaufen ohne Symptome. "Das ist das Gefährliche an dem Virus", sagt Rosenbauer. "Die Menschen merken nichts davon, verbreiten den Erreger aber weiter." Im August 2007 haben es die Erreger auf diese Weise sogar bis nach Genf geschafft. Die Schweizer Behörden isolierten damals aus Abwässern der Stadt Polio-Viren, die wohl aus dem Tschad stammten. Rosenbauer appelliert deshalb auch an die Menschen im längst poliofreien Europa, sich alle zehn Jahre impfen zu lassen. "Wenn solche Viren in ungeimpfte Bevölkerungen gelangen, kommt es in Windeseile zu einer Epidemie." CHRISTINA BERNDT

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Eilige Jahreszeit

Der Frühling kommt immer früher

Frühling und Herbst beginnen immer früher. Der gesamte Jahreszyklus habe sich in den vergangenen 50 Jahren um 1,7 Tage nach vorne verschoben, berichten Forscher um Alexander Stine von der Universität Kalifornien in Berkeley in der aktuellen Ausgabe des britischen Fachjournals Nature (Bd. 457, S. 435, 2009). Für die Verschiebung der Jahreszeiten machen die Wissenschaftler die Erderwärmung verantwortlich. Insgesamt fallen die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter zudem zusehends schwächer aus. Die Wissenschaftler haben für ihre Studie jahreszeitliche Wettertrends der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verglichen. Während die Ergebnisse für die Landmassen eindeutig erscheinen, ergab sich für das Meeresklima kein ähnlich klares Bild. Den Wissenschaftlern zufolge lässt sich die saisonale Verschiebung nicht durch natürliche Temperaturschwankungen erklären.dpa

Frühling und Herbst beginnen immer früher. Der gesamte Jahreszyklus habe sich in den vergangenen 50 Jahren um 1,7 Tage nach vorne verschoben, berichten Forscher um Alexander Stine von der Universität Kalifornien in Berkeley in der aktuellen Ausgabe des britischen Fachjournals Nature (Bd. 457, S. 435, 2009). Für die Verschiebung der Jahreszeiten machen die Wissenschaftler die Erderwärmung verantwortlich. Insgesamt fallen die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter zudem zusehends schwächer aus. Die Wissenschaftler haben für ihre Studie jahreszeitliche Wettertrends der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verglichen. Während die Ergebnisse für die Landmassen eindeutig erscheinen, ergab sich für das Meeresklima kein ähnlich klares Bild. Den Wissenschaftlern zufolge lässt sich die saisonale Verschiebung nicht durch natürliche Temperaturschwankungen erklären.

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Frischfleisch statt Aas

Erster jagender Mistkäfer entdeckt

Deltochilum valgum ist ein Mistkäfer, der sich nichts aus Mist macht. Statt Mistkügelchen zu rollen oder Aas zu fressen wie andere Artgenossen, geht er auf die Jagd. Dazu benutzt er seine scharfen Mundwerkzeuge, um verletzte Tausendfüßer zu köpfen und zu fressen. Amerikanische Wissenschaftler haben ihn jetzt im peruanischen Regenwald bei seinem nächtlichen Beutezug gefilmt und konnten das ungewöhnliche Verhalten kaum glauben: "Das ist eine bemerkenswerte Wandlung", schreibt der Forscher Trond Larsen in der Zeitschrift Biology Letters der Royal Society (online). "Das ist die erste bekannte Art eines jagenden Mistkäfers." Sie hatten den Käfern auch normale Mistkäfer-Nahrung wie Pilze, Früchte und Dung angeboten, doch die Tiere wollten nur Tausendfüßer fressen. Dabei umschlangen sie die sich windende Beute mit ihren kräftigen Beinen und zerteilten sie mit der scharfen Kante ihrer Oberlippe. Mit seiner ungewöhnlichen Strategie hat der räuberische Mistkäfer wohl einen Vorteil gegenüber der aasfressenden Verwandtschaft: Er muss sich nicht mehr mit den vielen anderen Insekten um die gleiche Nahrung streiten. emm

Der Mistkäfer überwältigt die Beute mit seinen kräftigen Beinen. Larsen

Deltochilum valgum ist ein Mistkäfer, der sich nichts aus Mist macht. Statt Mistkügelchen zu rollen oder Aas zu fressen wie andere Artgenossen, geht er auf die Jagd. Dazu benutzt er seine scharfen Mundwerkzeuge, um verletzte Tausendfüßer zu köpfen und zu fressen. Amerikanische Wissenschaftler haben ihn jetzt im peruanischen Regenwald bei seinem nächtlichen Beutezug gefilmt und konnten das ungewöhnliche Verhalten kaum glauben: "Das ist eine bemerkenswerte Wandlung", schreibt der Forscher Trond Larsen in der Zeitschrift Biology Letters der Royal Society (online). "Das ist die erste bekannte Art eines jagenden Mistkäfers." Sie hatten den Käfern auch normale Mistkäfer-Nahrung wie Pilze, Früchte und Dung angeboten, doch die Tiere wollten nur Tausendfüßer fressen. Dabei umschlangen sie die sich windende Beute mit ihren kräftigen Beinen und zerteilten sie mit der scharfen Kante ihrer Oberlippe. Mit seiner ungewöhnlichen Strategie hat der räuberische Mistkäfer wohl einen Vorteil gegenüber der aasfressenden Verwandtschaft: Er muss sich nicht mehr mit den vielen anderen Insekten um die gleiche Nahrung streiten.

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Spion im System

Kreditkartendaten ausgespäht

Bei dem amerikanischen Kreditkartendienstleister Heartland sind im Jahr 2008 offenbar Kreditkartendaten in größerem Umfang gestohlen worden. Heartland, das für 250 000 Firmen Kreditkartentransaktionen sowie Lohnzahlungen abwickelt, räumte am Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten Barack Obama ein, dass Computerforensiker in dem Rechnersystem der Firma eine Software gefunden hätten, die Kreditkartendaten ausspähen konnte. Wie viele Kunden betroffen sind und welche, steht Firmenangaben zufolge noch nicht fest. US-Medien vermuten, bei der Attacke könnte es sich um den größten Fall von Datendiebstahl überhaupt handeln. Die Kreditkartenunternehmen Visa und Mastercard hatten Heartland im Spätherbst auf eigenartige Transaktionen hingewiesen. Bei eigenen Untersuchungen kam aber zunächst nichts heraus. Erst als die Firma externe Forensiker beauftragte, wurde die Späh-Software auf den Rechnern der Firma schließlich entdeckt. In dem Fall, den Heartland als möglichen Teil eines großgeanlegten internationalen Online-Betrugs bezeichnet, ermitteln der Secret Service und das US-Justizministerium. Von dem Datenklau könnten auch deutsche Kartenbesitzer betroffen sein, wenn sie in der fraglichen Zeit in den USA waren und dort mit ihrer Kreditkarte bezahlt haben. ma

Bei dem amerikanischen Kreditkartendienstleister Heartland sind im Jahr 2008 offenbar Kreditkartendaten in größerem Umfang gestohlen worden. Heartland, das für 250 000 Firmen Kreditkartentransaktionen sowie Lohnzahlungen abwickelt, räumte am Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten Barack Obama ein, dass Computerforensiker in dem Rechnersystem der Firma eine Software gefunden hätten, die Kreditkartendaten ausspähen konnte. Wie viele Kunden betroffen sind und welche, steht Firmenangaben zufolge noch nicht fest. US-Medien vermuten, bei der Attacke könnte es sich um den größten Fall von Datendiebstahl überhaupt handeln. Die Kreditkartenunternehmen Visa und Mastercard hatten Heartland im Spätherbst auf eigenartige Transaktionen hingewiesen. Bei eigenen Untersuchungen kam aber zunächst nichts heraus. Erst als die Firma externe Forensiker beauftragte, wurde die Späh-Software auf den Rechnern der Firma schließlich entdeckt. In dem Fall, den Heartland als möglichen Teil eines großgeanlegten internationalen Online-Betrugs bezeichnet, ermitteln der Secret Service und das US-Justizministerium. Von dem Datenklau könnten auch deutsche Kartenbesitzer betroffen sein, wenn sie in der fraglichen Zeit in den USA waren und dort mit ihrer Kreditkarte bezahlt haben.

Kreditkartenbetrug Computerkriminalität in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Action-Diva

Porträt des erschöpften Helden: Van Damme in "JCVD"

Sicherlich ist er als Actionheld im Macho-Kino der achtziger und neunziger Jahre besser gewesen als der hölzerne Dolph Lundgren oder der pomadige Steven Seagal oder der knorrige Chuck Norris. Weil er nicht nur die martial arts perfekt und geradezu grazil beherrschte und einen durchtrainierten Körper besaß, sondern bis heute ein Gesicht mit sensiblen Zügen aufweist. Die Rede ist von Jean-Claude Van Damme, den nicht nur seine belgischen Landsleute "the muscles from Brussels" nennen. Ein genuiner tintin ist er gewesen im Kino des Kampfsports, eine Art Alain Delon im Karatekosmos: schön und verletzlich, gefährlich und europäisch. Einige seiner Filme warten auf ihre Wiederentdeckung: "Hard Target" von John Woo etwa oder "Nowhere to Run" von Robert Harmon.

Körperliche Präsenz und erzählerische Präzision haben die besseren Van- Damme-Werke ausgezeichnet. Das kann man nun nicht von seinem neuen Film behaupten, in dem er dennoch ein großartiges Comeback feiert. Regisseur Mabrouk El Mechri hat nämlich ein ambitioniertes Meta-Movie gemacht, mit seinen ausgebleichten Farben und den hektischen Kamerabewegungen schwankt der Film wüst zwischen Dekonstruktion und Hommage, zwischen feiner Star-Elegie und derber Action-Comedy. Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven geschildert, die Zeitebenen ändern sich dauernd: Es gibt Vorausblenden, Flashbacks, Retakes. Dazu gesellen sich unzählige Zitate und In-Jokes. Als wollte El Mechri die Narration zum Kampfsport machen. "JCVD" ist kein Requiem auf einen Star wie "The Wrestler" mit Mickey Rourke, sondern ein überdrehtes Pulp-Puzzle, in dem Van Dammes Melancholie auf den jugendlichen Übermut des Regisseurs trifft.

Jean-Claude Van Damme spielt also Jean-Claude Van Damme, kurz und zeitgemäß JCVD genannt. Der Mann ist ausgepowert von anstrengenden Drehs in Billiglohnländern mit durchgeknallten Jungregisseuren. In Los Angeles läuft zudem ein nerviger und sündhaft teurer Sorgerechtsprozess um seine geliebte kleine Tochter. Wie ein erschöpfter Odysseus kehrt der 47-Jährige in seine Heimatstadt Brüssel zurück. Doch auch hier findet er keine Ruhe. Wie eine Action-Diva am Rande des Nervenzusammenbruchs und des finanziellen Ruins driftet er durch die Stadt.

Rap mit Verfremdungseffekt

Als er, um ein wenig Bargeld abzuholen, eine Postbank in einem Brüsseler Vorort betritt, bricht die Katastrophe vollends über ihn herein. Nein, er ist nicht bei der "versteckten Kamera" gelandet, sondern in der Wirklichkeit eines Banküberfalls. Er wird sogar als Rädelsführer und Geiselnehmer verdächtigt. Bald hat er wieder ein großes Publikum: aus Polizei, Sondereinsatzkommandos und Schaulustigen, die die Realität zum bizarren Filmset machen. Doch der arme Jean-Claude ist selbst nur eine Geisel. Die Geisel von drei merkwürdigen, überforderten Bankräubern - und Geisel seiner eigenen Lebenskrise. Die Postbank wird zum Workshop der ironischen Celebrity-Reflexionen, teilweise befinden wir uns angesichts vieler grotesker Räuber und Gendarmen im Reich von Tarantino, Guy Ritchie oder Benoît Poelvoorde, andererseits erinnert die Situation an TV-Reality-Soaps: "Ich bin ein Star, holt mich hier raus!" Auf keinen Fall soll dies zum Sunset Boulevard für Van Damme werden. Ganz im Gegenteil: Hier soll er wiedergeboren werden. Und so macht der verspielte, auch ein wenig präpotente El Mechri sogar auf Brecht und Verfremdung - er hebt Van Damme per Kran aus der Illusion heraus und lässt ihn eine Rede direkt an uns, das Kinopublikum, richten. Diese Rede, ein Abgesang auf das Leben als Actionstar, ist natürlich auch komisch gemeint. Aber Van Damme macht durch seine Präsenz mehr daraus: einen poetischen Rap über das Dasein als Showbiz-Gaukler, der wirklich berührt. HANS SCHIFFERLE

JCVD, F/B/Lux 2008 - Regie: Mabrouk El Mechri. Buch: Frédéric Bénudis, Christophe Turpin, M. El Mechri. Kamera: Pierre-Yves Bastard. Mit: Jean-Claude Van Damme, François Damiens, Karim Belkhadra. 96 Minuten.

Außerdem laufen an

Alles für meinen Vater, von Dror Zahavi

Bolt - Ein Hund für alle Fälle, von Byron Howard und Chris Williams

Destere, von Gürcan Yurt

Der fremde Sohn, von Clint Eastwood (siehe Feuilleton vom Mittwoch)

Das Gesetz der Ehre, v. Gavin O'Connor

Das Morpheus-Geheimnis, von Karola Hattop

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Die Leichtigkeit der Rebellion

"Man on Wire", ein Dokumentarfilm über den waghalsigen Seiltänzer Philippe Petit

Die Schwere, die dem Dokumentarfilm scheinbar naturgegeben innewohnt, die ihm zur Last geworden ist, als Image-Problem und vermeintlicher Zwang zur Seriosität - sie ist in "Man on Wire" vollkommen überwunden. Selten korrespondieren Inhalt und Form eines Films so vollendet wie hier: Der Film von James Marsh über einen spektakulären Seiltanz ist selbst ein so luftiges Kunststück, wie es nur die Beherrschung eines Metiers hervorbringen kann.

Das Bild, in dem die Verbindung von Leichtigkeit und Perfektion kulminiert, ist atemberaubend: Da spaziert ein Mann auf einem Drahtseil zwischen den Türmen des World Trade Center hin und her. Achtmal überquert der französische Seiltänzer Philippe Petit am 7. August 1974 den Abgrund, läuft vor und zurück, kniet auf dem Seil und lässt die Beine baumeln. 45 Minuten verbringt er auf diese Weise in 417 Metern Höhe. Zwischen den massiven Stahltürmen des World Trade Center, über der auch akustisch wuchtig präsenten Stadt wirkt das drahtige, ganz in Schwarz gekleidete Männchen mit der Balancierstange noch kleiner. Petit ist ein Punkt in der Leere, das Drahtseil kaum zu sehen.

Während etwa Pepe Danquart in seinem Extrem-Bergsteigerfilm "Am Limit" das Heroische betont und auch die Kamera äußerste Anstrengung dokumentiert, kreieren Petit und Marsh die Illusion von Mühelosigkeit, ganz in der Tradition des Films als Jahrmarktsattraktion. Zur zauberhaften Atmosphäre trägt auch die Filmmusik von Michael Nyman bei, die Petit selbst beim Training ausschließlich hört. Petit, der ohne jede Sicherung arbeitet, fordert den Tod heraus - indem er mit ihm flirtet! Auf dem Seil ist dieser Mann ganz bei sich; einmal legt er sich hin, als träume er. "Wie schön, wie schön", ruft seine damalige Freundin Annie noch heute aus und hat Tränen in den Augen.

Auch Marsh arbeitet gewissermaßen ohne Netz, die Sicherheit, die Gattungsgrenzen bieten, hat der Regisseur, der zuvor "The King" und "Wisconsin Death Trip" gedreht hat, nicht nötig. Das, was nicht dokumentiert wurde, was sich vielleicht nicht dokumentieren lässt, wird von ihm nachinszeniert, ohne die üblichen Unbeholfenheiten, ohne mit dem Zaunpfahl die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion zu markieren. Ist "Man on Wire" also noch ein Dokumentarfilm? Aber ja doch, weil die artistische Leistung im Zentrum tatsächlich stattgefunden hat und auch dokumentiert wurde; genauso wie die Akteure "real" sind, vor allem Petit, der auch heute noch kriminell viel Energie und Charisma ausstrahlt, keine Minute stillsitzen kann und jeden Raum in eine Bühne verwandelt - ganz so, wie er architektonische Wahrzeichen der Macht für seine Auftritte okkupierte. "Man on Wire" gewinnt seine Überzeugungskraft jedoch nicht nur durch solche Inhalte, sondern maßgeblich durch seine Form, das ist das Begeisternde an diesem Film, was ihm unter anderem den Grand-Jury- und den Publikumspreis in Sundance einbrachte.

Besonders charmant sind die Elemente des Heist-Films, mit denen Marsh seine Geschichte versieht - ein Genre, in dem es ebenfalls um äußerste Professionalität im Kriminellen geht, deshalb sind die Erzählmuster so passend. Paul Auster, ein Freund Petits, nennt den Seiltanz zwischen den WTC-Türmen "das künstlerische Verbrechen des Jahrhunderts". Denn natürlich war es auch damals nicht legal, zwischen den - noch im Bau befindlichen - Türmen hin und her zu spazieren. Monatelang wurde der "Coup" vorbereitet, unter dem Vorwand, Journalist zu sein, interviewte Petit den WTC-Bauleiter Guy F. Tozzoli, verschaffte sich einen gefälschten Zugangsausweis, um schließlich mit Hilfe von Komplizen das schwere Equipment ins oberste Stockwerk zu schaffen. Das ist spannend wie ein Thriller; vor allem in den Rückblenden, die in Frankreich spielen, verströmt der Film aber auch die romantisch-anarchische Atmosphäre der Nouvelle Vague mit ihren schönen jungen Menschen. "Warum?" wird Petit nach seinem Seiltanz zwischen den Türmen von der Polizei gefragt. "Die Schönheit", sagt er, "besteht darin, dass es kein Warum gibt."

Wie nebenbei wird eine Zeit lebendig, in der Nixon zurücktrat wegen der Watergate-Affäre, Manhattan schmutzig und gefährlich war und fünf Jungs mitfranzösischem Akzent am John-F.-Kennedy-Flughafen einreisen konnten, mit Drahtseilen, Werkzeug sowie Pfeil und Bogen im Gepäck. Die USA waren eine himmelstürmende Nation, die es sich leisten konnte, einen Mann wie Petit straffrei ausgehen zu lassen. Dem Nimbus des Landes wie des WTC haben solche Aktionen natürlich nur genutzt.

9/11 wird in Marshs Film mit keinem Wort erwähnt, das muss, ja darf auch gar nicht sein: Bilder der einstürzenden Türme oder der Ruinen könnten das luftige Gespinst des Films zerstören. Man muss "Man on Wire" vor dem Hintergrund der Bush-Ära sehen, als der Überschuss an Energie, die Leichtigkeit und poetische Rebellion, die in Petits Aktion stecken, regelrechte Phantomschmerzen auslösten.

MARTINA KNOBEN

MAN ON WIRE, GB 2008 - Regie: James Marsh. Kamera: Igor Martinovic. Schnitt: Jinx Godfrey. Musik: Michael Nyman / J. Ralph. Mit: Philippe Petit, Ardis Campbell. Arsenal, 94 Minuten.

Philippe Petit zwischen den Türmen des World Trade Center Foto: Arsenal

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Die Unbelehrbare

In "Lulu und Jimi" zeigt Oskar Roehler eine große Mutterhexe

Meist lässt sie ihre tiefe, versoffene Stimme vulgär dröhnen. Aber Gertrud (Katrin Sass) kann auch säuseln - etwa wenn der geckenhafte Millionärserbe Ernst (Bastian Pastewka), den sie zum Schwiegersohn auserkoren hat, zu Besuch kommt. "Sieht er nicht gut aus, unser Ernst. Erfolg macht eben glücklich", zirpt sie dann. Ihre Tochter Lulu dagegen wird tyrannisch abgekanzelt. Denn Lulu liebt einen anderen, den amerikanischen Rummelplatzgehilfen Jimi. Ein ehemaliger GI, der zudem noch die falsche Hautfarbe hat: "ein Neger". Die Geschichte spielt in einer fränkischen Provinzstadt des Jahres 1959, da redet man eben so, schlicht und rassistisch.

Diese grandios-schreckliche Hexe ist eine Schöpfung des Regisseurs Oskar Roehler, der sich mit abgründigen Mutterfiguren bestens auskennt ("Die Unberührbare"). Er lässt sie giftiger erscheinen als alle bekannten Märchen-Stiefmütter zusammengenommen. Katrin Sass, die man so viel liebenswerter aus "Good Bye, Lenin!" kennt, formt daraus eine wahre Paraderolle. Schrill aufgeschminkt wie ein abgetakelter Vamp torkelt sie - gefolgt von einem pinkfarbenen Pudel, der auch mal einen Fußtritt abbekommt - durch ihre Villa und setzt alles daran, Lulu und Jimi auseinander zu bringen. Schon ihren Ehemann (Rolf Zacher) - einst als "Daddy Cool" bekannt, Rock'n'Roll-Rebell und Prophet einer popkulturellen Spaßgesellschaft - hat sie brutal durch die Mangel gedreht, entmannt, zur jämmerlichen Erscheinung erniedrigt.

Die Geschichte beginnt bonbonbunt wie eine Romanze der Rock'n'Roll-Ära, mit Petticoats, "My Boy Lollipop" und zuckergussumrandeten Lebkuchenherzen auf dem Rummelplatz, am Autoscooter. Hier lernen sich die hübsche, rehäugige Lulu (Jennifer Decker) und sexy Jimi (Ray Fearon), Schwarm aller lokalen Teeniegirls, kennen. Sofort schlagen ihre Herzen im gleichen Takt, und Lulu denkt sich nichts dabei, ihren Jimi zu einer Party der Provinz-Schickeria mitzunehmen. Dort lässt man ihn jedoch gegen eine Mauer aus Arroganz und schroffer Ablehnung laufen. Das Böse wirft immer dunklere Schatten. Gertrud hetzt ihren maliziösen Chauffeur (Udo Kier) und den dämonischen Psychiater Dr. von Oppeln (Hans-Michael Rehberg) auf die Liebenden, die mit einem Straßenkreuzer fliehen, auf einer paradiesischen Waldlichtung ein Rehkitz sichten und sich schwören: "Wir gehören zusammen. Das Böse hat gegen uns keine Chance!"

"Lulu & Jimi" ist ein wilder Mix aus Melo und Märchen, Kitsch und Krassheit, aus Seifenblasen-Liebesidylle und ätzender Sozialfarce. Für viele Szenen lässt sich Roehler von David Lynchs "Wild at Heart" inspirieren, aber er vermeidet dessen selbstparodistischen Surrealismus, konzentriert sich darauf, den Albtraum einer bigotten, ressentimentgeladenen Fünfziger-Jahre-BRD zu exorzieren. Manchmal nimmt er es mit den historischen Details nicht so genau, verwendet Automarken und Phrasen, die erst für die sechziger Jahre charakteristisch sind. Aber das fällt nicht entscheidend ins Gewicht. Auch an die zuerst irritierenden Schwankungen im Tonfall der Erzählung, wenn plötzlich von simpler Karikatur ins Groteske und von dort ins Zuckersüße gezappt wird, gewöhnt man sich mit der Zeit. Allein schon Roehlers unbändige Lust an der Stilisierung comichaft-praller Kinobildern macht "Lulu & Jimi" zur staunenswerten und vergnüglichen Ausnahmeerscheinung im derzeit arg biederen deutschen Erzählkino.

Am besten gelingen ihm die Bösen. Sie bleiben stärker in Erinnerung als das vergleichsweise blasse Liebespaar: der Hypnose-Psychiater aus dem Horrorkabinett des Dr. Mabuse, der Lulu - wie schon vor Jahren ihren Vater - erst einmal unter Drogen setzt; die von Ulrich Thomsen verkörperte Hassfigur des paranoiden Auftragskillers - eine hübsche Variante des superfiesen Bobby Peru (Willem Dafoe) aus "Wild at Heart"; und vor allem die meist in giftgrüne Roben gehüllt Gertrud, die am Ende mütterlich-fürsorglich nur noch eines will - dass die schwangere Lulu ihr Kind abtreibt. Sie hasst es, wenn die Augen ihrer Tochter vor Glück strahlen. Roehler zeichnet diese Gertrud mit einer Inbrunst, dass man es liebt, sie zu hassen. RAINER GANSERA

LULU UND JIMI, D 2008 - Buch und Regie: Oskar Roehler. Kamera: Wedigo von Schultzendorff. Musik: Martin Todsharow. Mit Jennifer Decker, Ray Fearon, Katrin Sass. X-Verleih, 94 Minuten.

Jennifer Decker und Ray Fearon sind "Lulu und Jimi" Foto: X-Verleih

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Meister der tickenden Uhr

In Bryan Singers "Operation Walküre" nimmt sich Hollywood das Recht, Geschichte auf seine Art zu überliefern

Jetzt ist es raus: "Operation Walküre" ist ein guter Film. Historisch weitgehend korrekt, spannend, gut gespielt. Allerorten also Entwarnung. Das ist im Sinne der Debatte unbefriedigend. Wäre der Film ein Meisterwerk oder ein Reinfall gewesen, hätte das Werk den Streit eindeutig entscheiden können. So aber bleibt dieses öde Gefühl, das sich immer dann einstellt, wenn ein Konflikt mit der ach so langweiligen Vernunft gelöst wird. Wo bitte bleibt da das Drama, die Aufregung, wie sollen sich da die hitzigen Meinungen noch beweisen? Doch auch in diesem Konsens des Mittelmaßes bleibt die Grundsatzfrage bestehen, wie Hollywood mit großen Themen der Menschheitsgeschichte umgeht. Und die beantwortet "Operation Walküre" ganz eindeutig.

Handwerklich liegt die Stärke des Films deutlich im Drehbuch, das Christopher McQuarrie geschrieben hat. Darin steckt auch das eigentlich spekulative Moment von erzählerischer Lust, das man hier spüren kann. Es erinnert an den großen Wurf, der McQuarrie als 26-Jährigem gemeinsam mit seinem Schulfreund, dem Regisseur Bryan Singer, gelungen ist. Ihr Krimi "Die üblichen Verdächtigen" wurde 1994 zu einem jener epochalen Filme, deren Figuren im Kanon der Popkultur ein Eigenleben entwickeln. Da gibt es sogar in Berlin Mitte eine Kneipe, die nach dem Filmschurken Keyser Söze benannt ist.

In Berlin fanden die beiden vor ein paar Jahren den Stoff, der sie an ihren Durchbruch erinnert haben muss. Die Geschichte des missglückten Attentats, das Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Hitler verübte, ist ähnlich wie ";Die üblichen Verdächtigen" eine dramatische Intrigengeschichte mit einem Ensemble aus höchst unterschiedlichen Charakteren.

Nun hat der Zweite Weltkrieg den Nachteil, dass er wenig Spielraum für überraschende Wendungen lässt. Da aber beweisen sich McQuarrie und Singer als Meister ihres Fachs. Kunstvoll steigern sie die Spannungsmomente von Akt zu Akt. Dabei bedienen sie sich sämtlicher dramaturgischer Möglichkeiten.

Wenn Oberst Henning von Tresckow (Kenneth Branagh) versucht, Hitler mit einer Paketbombe zu töten, die er in das Führerflugzeug geschmuggelt hat, und diese dann nicht losgeht, nutzen sie die schlichte Angst vor der Entdeckung des Protagonisten. Wenn Stauffenberg (Tom Cruise) die Bombe mit dem Zeitzünder endlich unter Hitlers Kartentisch platziert, kombinieren sie schon eine Staffelung von Angst vor der Entdeckung, Angst vor dem Misslingen und dem wirkungsvollsten aller Spannungsmomente, der tickenden Uhr.

Das eigentliche Drama aber spielt sich nach dem Attentat ab, als Stauffenberg und seine Mitverschwörer Hitlers eigenen Notfallplan "Operation Walküre" aktivieren und für Stunden große Teile des Regierungsviertels in Berlin unter ihre Kontrolle bringen. Da realisiert der Zuschauer erst, wie klug der Putsch geplant war. Die Unvermeidlichkeit, mit der die Handlung nun auf das Ende vor dem Erschießungskommando im Bendlerblock zusteuert, kann der Spannung kaum die Spitzen nehmen. Da zeigt sich, wie souverän Singer und McQuarrie Stringenz ins Chaos bringen können.

Nicht ganz so souverän sind da die schauspielerischen Leistungen. Wahrscheinlich ist "Operation Walküre" der erste Film in der Geschichte des Kinos, der in der synchronisierten Fassung besser ist als im englischen Original. Das Problem liegt darin, dass Singer seinen Schauspielern ihre eigenen Akzente erlaubt hat. So marschiert ein hochmotivierter Tom Cruise mit seinem schneidigen amerikanischen Englisch durch ein Ensemble aus älteren Herren vorwiegend britischer Herkunft, denen man die langjährige Shakespeare-Erfahrung in jedem ihrer wohlformulierten Sätze anhört. Da prallen in den Dialogen unaufhörlich "Mission Impossible" und das "Masterpiece Theater" aufeinander. Das aber verschleift sich wohltuend im deutschen Synchronstudio.

Nichts als Nervenkitzel?

So bleibt - die Spannung. Tom Cruise selbst hat es in dieser Zeitung vor zwei Tagen ganz deutlich formuliert: "Was für ein guter, spannender Filmstoff - und wie merkwürdig, dass ich von diesen Ereignissen noch nichts wusste. Es ist doch wirklich ein Thriller!" Da aber bestätigte Cruise alle Ängste und Vorbehalte gegen die Art, wie Hollywood die großen Stoffe der Menschheitsgeschichte verarbeitet. Wobei es egal ist, ob sich United Artists an der Geschichte vom guten Wehrmachtsoffizier vergreift, oder Disney für seine Zeichentrickfilme den Schatz der Sagen und Fabeln plündert. Denn es ist letztlich die Hollywood-Verfilmung an sich, die nach dem Vorurteil den Akt der Trivialisierung vollzieht. Für ein amerikanisches Publikum ist dieses Kapitel der deutschen Geschichte eben doch nichts anderes als Stoff für Nervenkitzel.

Die eigentliche Frage aber ist, ob der Vorwurf der Trivialisierung überhaupt berechtigt ist. Niemand hat so lange und gute Erfahrungen damit gemacht, die großen Stoffe der Weltgeschichte in vereinfachter Form zu erzählen, wie Hollywood. Man verdirbt ja keinem historisch interessierten Publikum die wertvolle Erfahrung, authentische Werke zu studieren. Die meisten Kinobesucher würden ihren Samstagabend allerdings kaum damit verbringen, Homer, die Brüder Grimm oder Peter Hoffmanns 700-seitige Stauffenberg-Biographie zu lesen. So übernimmt Hollywood doch letztlich die Funktion der antiken Märchen- und Geschichtenerzähler, die der Nachwelt die großen Epen der Vergangenheit überliefert haben. Solche Überlieferung ist das ureigenste Anliegen allen Erzählens - und dabei ist es dann auch egal, ob es die Form von Oden, Fabeln oder Actionfilmen annimmt. ANDRIAN KREY E

VALKYRIE, USA 2008 - Regie: Bryan Singer. Buch: Christopher McQuarrie, Nathan Alexander; Kamera: Newton Thomas Sigel; Schnitt und Musik: John Ottman. Mit Tom Cruise, Kenneth Branagh, Bill Nighy, Tom Wilkinson, Carice van Houten, Thomas Kretschmann. Verleih: Fox, 120 Minuten.

Gruppenbild des Widerstands: Mertz von Quirnheim (Christian Berkel), Carl Goerdeler (Kevin McNally), Friedrich Olbricht (Bill Nighy), Claus Graf von Stauffenberg (Tom Cruise), Ludwig Beck (Terence Stamp) , Erwin von Witzleben (David Schofield) und Henning von Tresckow (Kenneth Branagh) (v.l.n.r.) Foto: Fox

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Tildas Team

Die Berlinale-Jury ist vollständig

Der Schrifsteller Henning Mankell und der Theaterregisseur Christoph Schlingensief werden bei der Berlinale, die am 5. Februar eröffnet wird, in der Jury sitzen. Präsidentin ist die Schauspielerin Tilda Swinton, das Gremium entscheidet, wer den Goldenen und die Silbernen Bären im Wettbewerb des Filmfestivals bekommt. Weitere Jurymitglieder sind die spanische Regisseurin Isabel Coixet ("Elegy"), der Regisseur Gaston Kaboré aus Burkina Faso sowie aus den USA der Filmemacher Wayne Wang ("Smoke") und die kalifornische Starköchin und Ernährungsaktivistin Alice Waters. dpa

59. Internationale Filmfestspiele Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Bread & Butter" verlässt Barcelona

Madrid - Erst am Mittwoch ist in Barcelona die Modemesse "Bread & Butter" eröffnet worden, und durch die Messehallen weht bereits ein Hauch von Abschied. Verschiedenen Medienberichten zufolge verlässt die Messe Barcelona nach knapp vier Jahren und kehrt schon in diesem Sommer nach Berlin zurück. Nachdem die Geschäftsführung Angeboten aus Istanbul und Moskau widerstanden hatte, habe Berlin nun eine "unwiderstehliche Offerte" vorgelegt, berichtete etwa La Vanguardia. Das ultimative Argument sei gewesen, den stillgelegten Flughafen in Tempelhof als Kulisse nutzen zu können. Die Stadträtin Gemma Mumbrú bestätigte den Umzug, Branchenkreise ebenso - PR-Sprecher aller beteiligten Parteien eierten jedoch reichlich herum. "Bread & Butter"-Geschäftsführer Karl-Heinz Müller ließ sich ebenfalls nicht festnageln: Er bezeichnete die Umzugs-Meldungen in der spanischen Presse als bloße "Spekulation" und verwies auf eine für Freitag angesetzte Pressekonferenz. jc

Internationale Modemesse bread & butter SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Das rasche Verbot ist richtig"

Der Suchtmediziner Michael Musalek über die Modedroge Spice, die von diesem Donnerstag an in Deutschland illegal ist

Die Modedroge "Spice" ist per Eilverordnung durch das Bundesgesundheitsministerium verboten worden. Damit ist jede Form der Herstellung, des Handels und des Besitzes nach dem Betäubungsmittelgesetz untersagt. Michael Musalek leitet das Anton-Proksch-Institut in Wien, die größte Suchtklinik Europas, und hat sich intensiv mit Spice befasst.

SZ: Herr Musalek, Spice ist von nun an in Deutschland eine verbotene Substanz, das Bundeskriminalamt warnt eindringlich vor der Droge. Wie schätzen Sie die Gefahr ein?

Musalek: Sehr hoch, darum ist das rasche Verbot auch der richtige Weg. In Spice befinden sich Substanzen, die psychoaktiv sind, also Veränderungen der Psyche und des Bewusstseins zur Folge haben. Vom Wirkprofil ist es wie eine Mischung aus einem Opioid und einem Cannabinoid. Erst wirkt Spice euphorisierend und nach kurzer Zeit schon sedierend, wie das bei Cannabis erst in sehr hohen Dosierungen auftritt. Ein Joint mit Spice wirkt fünf- bis zehnmal stärker als einer mit der gleichen Menge Marihuana.

SZ: Wissenschaftler der Universität Freiburg haben bereits herausgefunden, dass Spice ein hochwirksames synthetisches Cannabinoid enthält. Lässt sich mit dieser Erkenntnis die Droge eher in den Griff kriegen?

Musalek: Dieser Wirkstoff ist zwar jetzt bekannt, aber Spice bleibt eine Black Box, man weiß also nicht genau, was sich dahinter verbirgt. Das große Problem ist, dass man es bei so einer Kräutermischung mit vielen Interaktionen einzelner Substanzen zu tun hat, die völlig unabsehbar auf den jeweiligen Körper wirken. Zudem weiß man nicht, mit welchen chemischen Stoffen die Mischung noch versetzt wird. Schon bevor klar war, was sich hinter Spice verbirgt, wussten wir: Es muss etwas Hochwirksames sein.

SZ: Spielt Spice auf den Stationen Ihrer Suchtklinik eine Rolle?

Musalek: Die Droge ist gerade mal ein Jahr auf dem Markt, es gibt noch keine Studien zum Suchtpotenzial, Abhängigkeitsfälle sind bislang nicht bekannt. Wir haben in unseren Drogenambulanzen eine Umfrage gemacht, wer von den Drogenabhängigen Spice nimmt - wir haben keinen gefunden. Opiat- und Kokainabhängige nehmen es nicht zusätzlich.

SZ: Wer konsumiert Spice dann?

Musalek: Es sind vor allem Jugendliche, die sonst keine Drogen zu sich nehmen. Die glauben, dass alles, was in der Natur vorkommt, gesund ist. Dass es also gesunde, biogene Drogen gibt. Viele der Konsumenten sagen, sie würden niemals Cannabis nehmen, da würden sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Das ist das Gefährliche an Spice: Es wird ein komplett neuer Sektor von Konsumenten aufgemacht. Damit wird eine Droge, die von der psychoaktiven Wirkung her als gefährlich einzustufen ist, bagatellisiert.

SZ: Bislang griffen manche Konsumenten zu Spice, weil man das per Bluttest nicht nachweisen konnte. Man riskierte also nicht seinen Führerschein.

Musalek: Da man nun dieses Cannabinoid gefunden hat, kann man es mit einem Bluttest nachweisen. Wenn man allerdings die Zusammensetzung von Spice geringfügig verändert, ist es nicht mehr nachweisbar - und auch nicht verboten. Dieses Problem kennt man vom Doping - man läuft immer einen Schritt hinterher.

SZ: Kann ein Verbot eine Modedroge wie Spice eindämmen?

Musalek: Wenn es europaweit durchgesetzt wird, gehe ich davon aus, das es Wirkung zeigt. Dann werden die professionellen Händler sich etwas anderes suchen. So gut ist die Substanz nicht, dass sie eine Chance am Schwarzmarkt hätte.

Interview: Claudia Fromme

Michael Musalek. Foto: oh

Illegales Kraut: Die Modedroge Spice ist fortan verboten. Foto: dpa

Musalek, Michael: Interviews Drogenszene in Deutschland Drogen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DIE FRAGE

Wie schaffen Politiker ein 16-Stunden-Programm?

Barack Obama absolvierte zur Amtseinführung ein Marathon-Programm von früh morgens bis spät in die Nacht: Gottesdienst, Vereidigung, Ansprachen, Händeschütteln, anschließend zehn Festbälle.

Gabriele Hermani, Sprecherin des Bundesinnenministeriums: "Sechszehnstündige Arbeitstage sind bei Politikern nicht ungewöhnlich. Sie unterscheiden sich davon auch nicht von anderen Berufsgruppen wie etwa berufstätigen Müttern von mehreren Kindern ohne Haushaltshilfe. Ob ein Politiker derartig lange Arbeitstage aushält, hängt natürlich auch von der persönlichen Physis und Kondition ab. Bei der Erstellung von Programmen wird darauf grundsätzlich Rücksicht genommen. So achtet das staatliche Protokoll beispielsweise bei mehrtägigen Konferenzen darauf, dass es zwischendurch freie Zeit zum Kleidungswechsel oder Zeit für kurze Ruhephasen gibt, und dass die Fußwege oder Stehzeiten nicht unangemessen lang sind. Darüber hinaus gibt es bereits im Vorfeld von Freiluftprogrammen Hinweise auf anzuratende Kleidung, wie beispielsweise temperatur- und witterungsangepasste Kleidung sowie entsprechendes Schuhwerk bei Stadtrundgängen über schwieriges Kopfsteinpflaster. Bei längeren Veranstaltungen werden nach Möglichkeit Transportmittel und Sitzgelegenheiten bereit gestellt."

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Kälte hinter der "Bilderbuchfassade"

Anklage fordert elf Jahre Haft für die Pflegemutter der getöteten Talea

Wuppertal - In dem Prozess um den gewaltsamen Tod der fünfjährigen Talea hat die Staatsanwaltschaft für die angeklagte Pflegemutter eine elfjährige Freiheitsstrafe wegen Totschlags beantragt. Nach 14 Verhandlungstagen vor dem Wuppertaler Schwurgericht hielt Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt die 38-jährige Angeklagte Kaja G. aufgrund einer Vielzahl belastender Indizien für überführt, am 18. März 2008 ihre Pflegetochter getötet zu haben.

Vermutlich als Bestrafung für das Einnässen habe die Angeklagte das Mädchen kalt abgeduscht und ihr dabei Mund und Nase zugehalten, um die Schreie zu ersticken, erklärte der Ankläger am Mittwoch. Anschließend habe die Pflegemutter die reglose Talea in die Badewanne mit dem kalten Duschwasser gelegt. Dort ist das Kind nach Feststellung der Gutachter schließlich an Unterkühlung gestorben. Staatsanwalt Kaune-Gebhardt sieht bei der Pflegemutter "keinen direkten, aber einen bedingten Tötungsvorsatz", weil sie den Tod von Talea "billigend in Kauf genommen" habe. Damit habe sich Kaja G. eindeutig des Totschlags schuldig gemacht. Für einen Mord habe die Beweisaufnahme aber keine Hinweise erbracht.

Bei der Erziehung ihres Pflegekindes, aber auch ihrer beiden leiblichen Kinder ist die Angeklagte nach Erkenntnis der Staatsanwaltschaft häufiger gewalttätig geworden. Zeugen hätten die Pflegemutter als "gefühlskalt, aufbrausend und aggressiv" geschildert. Kaja G. sei es bis zu ihrer Festnahme gelungen, um ihre Person "eine Bilderbuchfassade" zu errichten, sagte der Staatsanwalt. "Dieser Scheinwelt" sei offenbar aus das Jugendamt erlegen gewesen. Dessen Mitarbeitern seien bei der Auswahl von Taleas Pflegemutter keine Fehler anzulasten.

Dagegen warf die Nebenklägerin, die die leiblichen Eltern Taleas vertritt, dem Jugendamt vor, bei Hausbesuchen der Pflegemutter nicht intensiv genug "geprüft und nachgeforscht" zu haben. Die Nebenklage beantragte eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren. Dagegen hält die Verteidigung die Angeklagte für unschuldig. Der Tod Taleas sei durch "ein Unfallgeschehen" verursacht worden.

Johannes Nitschmann

Kindesmißhandlung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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LEUTE

Koji Matsuzaki , Bürgermeister der Kleinstadt Obama in Japan, hat mit seinen Bürgern den Amtsantritt von Barack Obama bejubelt. Die japanische Hafenstadt feierte den neuen US-Präsidenten mit Tempelglocken und der Hula-Tanzgruppe "Obama Girls", die am Dienstag den eisigen Temperaturen trotzte. „Seit den Vorwahlen der Demokratischen Partei haben wir auf diesen Tag gewartet, um uns mit Ihnen freuen zu können", sagte Matsuzaki an den Präsidenten gerichtet. Er lud Obama ein, bei einem möglichen Japan-Besuch auch in seiner Namensvetter-Stadt Station zu machen.

Bernd das Brot , Trickfilmfigur, ist von Hausbesetzern entführt worden. Die Zwei-Meter-Plastik wurde von ihrem Platz am Erfurter Rathaus entfernt. Das griesgrämige Kastenbrot wirbt für den Sender Ki.Ka, der in Erfurt seinen Sitz hat. Die Stadt hatte zuvor erfolglos versucht, den Hausbesetzern eine alternative Immobilie anzubieten, was diese ablehnten. In einem Schreiben der Entführer hieß es, "Bernd das Brot" werde "zu gegebener Zeit" wiederkommen. Foto: ddp

Giulia Siegel , 34, Ex-Model, hat nach der Ablehnung durch ihre Mitbewohner im Dschungelcamp zweifelhafte Schützenhilfe von ihrer Mutter Dunja Siegel erhalten.

Giulia habe die Fähigkeit, Deutschlands bedeutendste Showmasterin zu werden, sagte Dunja Siegel der Illustrierten Bunte. Sie sei "blond, attraktiv, mehrsprachig und schlagfertig. Schon deshalb ist sie für mich die ideale Nachfolgerin für Thomas Gottschalk bei ,Wetten dass?'."

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Schauspieler mit Millionengage

Die Anklageschrift im Fall Klatten zeichnet den mutmaßlichen Erpresser Sgarbi als skrupellosen Hochstapler

Von Hans Holzhaider

München - Für den ersten Verhandlungstag am 9. März hat die 8. Strafkammer des Landgerichts München den Saal A 101 reserviert, den sogenannten Schwurgerichtssaal, den größten im Gerichtsgebäude an der Nymphenburger Straße. 136 Zuschauer finden hier Platz, aber trotzdem werden an diesem Tag viele vor der Tür bleiben müssen. Das Publikumsinteresse wird enorm sein, vergleichbar höchstens mit dem Ansturm beim Steuerprozess gegen den Tennisspieler Boris Becker im Oktober 2002. Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Helg Sgarbi, 44 Jahre alt, gebürtig aus Zürich, von Beruf Übersetzer. Sgarbi wird beschuldigt, im September 2007 die Unternehmerin Susanne Klatten, 46, um sieben Millionen Euro betrogen und danach versucht zu haben, weitere 49 Millionen Euro von der Milliardärin zu erpressen, die als reichste Frau Deutschlands gilt. Nach seiner Verhaftung im Januar 2008 stellte sich her- aus, dass Sgarbi mutmaßlich auch drei weitere Frauen betrogen und dabei insgesamt 2,4 Millionen Euro erbeutet hat.

Die Anklageschrift gegen Helg Sgarbi macht deutlich, mit welcher Hartnäckigkeit und Skrupellosigkeit der Schweizer bei den mutmaßlichen Erpressungen vorgegangensein soll. Im Juli 2007 soll Sgarbi sich in einem Gesundheitszentrum bei Innsbruck etwa gezielt an Susanne Klatten herangemacht und vorgetäuscht haben, er habe sich in sie verliebt. Klatten ließ ihn jedoch zunächst abblitzen und war auch nach weiteren Kontaktversuchen per Telefon und SMS nicht zu einem Treffen bereit. Sgarbi soll einige Wochen später unangemeldet im Ferienort Klattens in Südfrankreich aufgetaucht sein. Am 20. August kam es schließlich zu einem Treffen Sgarbis mit Klatten in einem Münchner Hotel. Dort soll Sgarbi heimlich Videoaufzeichnungen von Intimitäten zwischen ihm und der Milliardärin gemacht haben. Sgarbi soll sich als Sonderberater der Schweizer Regierung ausgegeben haben, der oft in politischen Krisengebieten unterwegs sei und gleich anschließend in die USA reisen müsse.

14 000 Scheine à 500 Euro

Wenige Tage nach diesem Treffen meldete sich Sgarbi telefonisch und bat dringend um eine weitere Verabredung. In einem Hotel in der Nähe des Münchner Flughafens log er Klatten vor, er habe in den USA einen Verkehrsunfall verschuldet, bei dem ein Kind schwer verletzt worden sei. Er müsse sieben Millionen Euro aufbringen, um das querschnittsgelähmte Mädchen zu unterstützen. Susanne Klatten glaubte ihm das und übergab Sgarbi am 11. September sieben Millionen Euro in 500-Euro-Scheinen. Sgarbi soll versprochen haben, das Geld später mit Zinsen zurückzuzahlen. Bei einer weiteren Begegnung Anfang Oktober soll Sgarbi Susanne Klatten aufgefordert haben, sich von ihrem Mann zu trennen und mit ihm zusammenzuleben. Dazu solle sie 290 Millionen Euro in eine Stiftung einbringen, um den Lebensunterhalt des Paares zu sichern. Diesmal lehnte Susanne Klatten rundweg ab.

Fünf Tage später erklärte die Milliardärin die Beziehung mit Sgarbi für beendet, mit dem Erfolg, dass Sgarbi sich jetzt als Erpresser zu erkennen gab. Per Post schickte er ihr zwei der von ihm heimlich angefertigten Videoprints. Er soll 49 Millionen Euro gefordert und damit gedroht haben, die Videos an Susanne Klattens Ehemann, an die Vorstände der Unternehmen, an denen Klatten beteiligt ist, und an die Presse zu schicken. In einem weitern Brief reduzierte Sgarbi seine Forderung auf 14 Millionen Euro und setzte für die Zahlung eine Frist zum 15. Januar 2008. Einen Tag vor Ablauf der Frist wurde er in Vomp in Tirol festgenommen. Susanne Klatten hatte sich der Erpressung nicht gebeugt und hatte die Staatsanwaltschaft informiert.

Schweigegeld für die Mafia

Im Zuge der Ermittlungen wurden drei weitere Betrugs- und Erpressungsfälle bekannt, die alle nach ähnlichem Muster abgelaufen sein sollen. Das erste Opfer hatte Sgarbi der Anklage zufolge im Dezember 2005 in einem Luxushotel im Schweizer Kanton St. Gallen kennengelernt. Auch dieser Frau erzählte er von einem Unfall, den er in den USA verursacht habe. Die Frau übergab ihm daraufhin 600 000 Euro, wobei sie 380 000 Euro als Kredit aufnehmen musste. Später erklärte er ihr, er habe auf seinem Laptop Fotos von intimen Treffen gespeichert. Dieser Laptop sei ihm in Rom gestohlen worden, nun drohe die Mafia mit der Veröffentlichung der Fotos, wenn er nicht 1,5 Millionen Euro zahle. Die Frau nahm daraufhin einen Kredit über diese Summe auf und gab Sgarbi das Geld. Im November 2007 soll Sgarbi noch einmal mit der Veröffentlichung der Fotos gedroht und weitere zwei Millionen Euro gefordert haben. Daraufhin beauftragte die Frau einen Rechtsanwalt, der mit Sgarbi Kontakt aufnahm, was diesen dazu bewog, sein Vorhaben aufzugeben.

In einem weiteren Fall soll Sgarbi, wieder unter dem Vorwand, er habe einen Unfall verursacht und werde von der Mafia erpresst, 300 000 Euro ergaunert haben. Ein vierter Betrugsversuch scheiterte: Die Frau weigerte sich zu zahlen.

Für den Prozess gegen Helg Sgarbi hat das Gericht nur vier Verhandlungstage angesetzt. Das könnte darauf hindeuten, dass Sgarbi zu einem Geständnis bereit ist und es deshalb zu keiner langwierigen Beweisaufnahme kommen muss.

Umgarntes Opfer: Die Milliardärin Susanne Klatten, deren mutmaßlicher Erpresser Helg Sgarbi vom 9. März an in München vor Gericht stehen wird. Foto: dpa

Klatten, Susanne: Opfer Sgarbi, Helg: Rechtliches Erpressung von Prominenten Erpressungsdelikte in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Seine Krawatte, sein Auto, sein Bär

Das Geschäft mit Erinnerungsstücken an den Rechtspolitiker Jörg Haider blüht - der Unfallwagen ist seiner Partei 40 000 Euro wert

Von Angelika Slavik

Es gibt Ausgaben, um die kommt eine politische Partei nicht herum. Gelegentlich müssen Plakate gedruckt und ein paar werbetaugliche Kugelschreiber bestellt werden, und manchmal, da muss eine Partei eben auch 40 000 Euro für den Kauf eines Autowracks locker machen, zumindest in Österreich.

Dort hat das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) jetzt angekündigt, einen völlig zerstörten VW Phaeton von einer Leasingfirma erwerben zu wollen - die Überreste jenes Wagens, mit dem der Rechtspopulist und BZÖ-Chef Jörg Haider Anfang Oktober einen tödlichen Autounfall hatte. Das sei "eine politisch-menschliche Entscheidung", sagt Haiders Nachfolger als Kärntner Regierungschef, Gerhard Dörfler, und hat auch schon eine Reihe guter Vorschläge parat, was man mit dem geschichtsträchtigen Altmetall so anfangen könnte: Bestimmt gebe es Kunstschaffende, die sich mit dem Unfall "künstlerisch auseinandersetzen" wollten, ist sich Dörfler sicher. Aber auch eine Versteigerung könne er sich vorstellen, "zugunsten einer sozialen Einrichtung".

Tatsächlich scheint die Idee, dass es neben seinen Parteifreunden auch noch andere Interessenten für Haiders schrottreifen Dienstwagen geben könnte, gar nicht so abwegig. Denn der Handel mit skurrilen Haider-Devotionalien blüht, vor allem im Internet. Dort gibt es Shirts und Pullover mit Haiders Foto und dem Aufdruck "Wir werden Dich nie vergessen", eine angeblich von ihm getragene Krawatte, dazu Kappen, Kaffeebecher, Spielkarten und "Jörgi"-Stoffbären. Ein Exemplar von Haiders Taschenbuch "Die Freiheit, die ich meine" wurde vor kurzem für 73 Euro versteigert - das Sechsfache des Ladenpreises. Für Haider-Autogramme werden mehr als 30 Euro geboten.

Sogar die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt ORF bietet ihre Übertragung vom Begräbnis des Politikers auf DVD an: Barocke Inszenierung und schwülstige Trauerreden zum Immer-Wieder-Anschauen, zu haben für 22,90 Euro inklusive Versand. Der größte Zeitschriftenverlag des Landes, die Verlagsgruppe News, beglückte die Haider-Fans sogar mit einem Erinnerungskalender: Haider in Tracht, Haider am Berg, Haider mit nacktem Oberkörper an einem Kärntner See. Der Kalender war wenige Tage nach dem Verkaufsstart vergriffen.

"Haiders Karriere war voller Höhen und Tiefen, sein Unfalltod war spektakulär. Das trägt natürlich zur Mythenbildung bei", sagt der Wiener Politikwissenschaftler Peter Filzmaier. Der Kaufrausch der Haider-Fans sei vergleichbar mit der Aufregung, die ein getragenes T-Shirt von Sänger Justin Timberlake bei dessen Anhängern auslöse: "Das ist ein Popstar-Phänomen, und in vielerlei Hinsicht wurde Jörg Haider schon zu Lebzeiten wie ein Popstar verehrt, zumindest von seiner Klientel."

Dass Haider mit 1,8 Promille Alkohol im Blut und deutlich überhöhter Geschwindigkeit verunglückte, schreckt seine Fans nicht. Sie kaufen eifrig ein, unter anderem auch bei einem Teleshopping-Anbieter, der eine eigene "Dr. Jörg Haider In Memoriam Collection" anbietet. Darin enthalten: Ein "Megaposter", eine DVD und eine CD, auf der Haider - mit Lederhose, vor Alpenpanorama - Kärntner Lieder singt. Bloß die Titel sind vielleicht ein wenig unglücklich gewählt: Eines der Lieder heißt "I trink hiatz kan Schnaps mehr".

"Alle Trümpfe": Haider-Spielkarten oh

Haider, Jörg: Image Haider, Jörg: Fan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alte Wohnungen

Gut gegen Klimawandel und Finanzkrise

Die Sanierung und Modernisierung von Bestandsbauten aus den Jahren vor 1984 haben für Politik und Bauwirtschaft inzwischen die oberste Priorität - so sparen die Bewohner langfristig an Energie

Von Christoph Neuschäffer

Die Wörter des Jahres 2007 und 2008 - Klimawandel und Finanzkrise - werden auf der Bau 2009 mit Sicherheit in aller Munde sein. Denn beim alle zwei Jahre stattfindenden Branchentreff in München erhofft man sich gerade aus der Bauwirtschaft nicht nur Impulse für energieeffiziente Neubauten, sondern Produktinnovationen für das sogenannte Bauen im Bestand. Denn gerade die Sanierung und Modernisierung von Bestandsbauten könnte einen entscheidenden Beitrag sowohl im langfristigen Kampf gegen den Klimawandel als auch bei den Folgen der aktuellen Finanzkrise leisten.

Zwei Drittel der Wohnungen in Deutschland sind älter als 25 Jahre, und auch bei den Privathäusern sieht es nicht anders aus. "Von den rund 15 Millionen Ein- und Zweifamilienhäusern in Deutschland sind etwa 12 Millionen vor 1984 gebaut worden und zu großen Teilen sanierungsbedürftig", sagt Fritz Brickwedde von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), die seit zwei Jahren die Kampagne "Haus sanieren - profitieren" unterstützt. "Privathäuser verbrauchen sogar noch mehr Energie als die Industrie hierzulande", sagt er über die Bedeutung einer möglichst breit angelegten Sanierung im Wohnbereich. Das würde nicht nur den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren helfen, sondern angesichts steigender Energiepreise auch die Hausbesitzer und Mieter entlasten, die bis zu 80 Prozent ihrer Energie im Haushalt fürs Heizen verbrauchten.

Angesichts stagnierender Bevölkerungszahlen, hinreichender Wohnraumversorgung - abgesehen von einzelnen Ballungsräumen - und einer nach wie vor verhaltenen Entwicklung im Wohnungsneubau gewinnt die Modernisierung und Instandsetzung von Bestandsbauten ohnehin weiter an Bedeutung. Mittlerweile werden mehr als 60 Prozent aller Wohnungsbauinvestitionen im Bestand erbracht. Ganze Branchen, vom Großkonzern bis zum kleinen Handwerksbetrieb, erzielen mit Bestandsmaßnahmen den Großteil ihres Umsatzes. Um der durch die Finanzkrise drohenden Rezession entgegenzuwirken, setzt die Bundesregierung gezielt auf die Bau- und Wohnungswirtschaft. "Mit dem sehr erfolgreichen CO2-Gebäudesanierungsprogramm, den KfW-Programmen und dem Investitionspakt für die Sanierung von Schulen und Kindergärten stärken wir das Wachstum und sichern Beschäftigung. Wir haben für 2009 bis 2011 nun zusätzliche Investitionsmittel in Höhe von drei Milliarden Euro vorgesehen."

Einen weiteren Impuls erhofft sich die Bauwirtschaft auch vom Wohneigentümergesetz (WEG). Hohe Energiekosten waren in den vergangenen Jahren das heiße Thema auf vielen Wohneigentümerversammlungen. Häufig scheiterte der Beschluss für eine Modernisierung jedoch an den Gegenstimmen einzelner Eigentümer. Dank des neuen WEG-Rechts reicht heute eine Dreiviertelmehrheit, um Beschlüsse zu fassen. "Damit löst sich ein regelrechter Modernisierungsstau auf", sagt Rüdiger Grimmert von der BHW Bausparkasse. "Aufgrund der hohen Heizkosten ist die Bereitschaft zu handeln ohnehin gestiegen. Jetzt ist der Weg für intelligente Energiekonzepte in Mehrfamilienhäusern endlich geebnet."

Die wichtigste Frage, die Hausbesitzer vor einer anstehenden Sanierung beantwortet wissen wollen, ist die nach Kosten und Nutzen einer Maßnahme. Denn oft ist es ja ein ganzes Bündel an Arbeiten - von der Sanierung des Dachs über die Erneuerung der Heizung bis hin zum Austausch von Fenstern und Fassade - die auf den Sanierer zukommen. Ulrich Zink, Architekt und Vorsitzender des Bundesarbeitskreises Altbauerneuerung (Baka), hat daher mit "idi-al", dem intelligenten Diagnose- und Informationssystem Altbau, ein Instrument zur Bewertung von Immobilien entwickelt. Auch der Tüv, die Dekra und andere Anbieter ermitteln auf ähnliche Weise die Stärken und Schwächen einzelner Bauteile. Wer nicht alles auf einmal in Angriff nehmen kann, muss sinnvoll vorgehen: Wer zum Beispiel zunächst die Heizung austauscht und dann die Wände dämmt, wirft Geld zum Fenster hinaus. Denn nach dem Einpacken genügt eine kleinere Anlage, um das Haus zu heizen.

Die Erneuerung der Fassade inklusive Einbau einer modernen Wärmedämmung schlägt zwar mit circa 100 Euro pro Quadratmeter zu Buche, birgt aber laut Deutscher Energie Agentur ein Energieeinsparpotential von 30 Prozent. Ähnlich teuer ist eine Dachsanierung, die den Energieverbrauch um etwa zehn Prozent senkt. Wesentlich teurer ist dagegen der Einsatz einer Wärmeschutzverglasung, mit dem sich weitere zehn Prozent sparen lassen. Eine Heizung und Sonnenkollektoren oder Erdwärmesonden machen zwar Investitionen im fünfstelligen Bereich erforderlich, rechnen sich je nach Energiepreisentwicklung jedoch innerhalb von zehn Jahren. Kein Wunder, dass das Bauen im Bestand auch auf der Bau 2009 wieder einen speziellen Ausstellungsbereich in Halle B0 einnimmt. Neben der Gebäudediagnose, Schäden erkennen, Mängel beseitigen, Energiesparendes Bauen und Vorschriften und Gesetze der Gebäudemodernisierung werden auch Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten auf dem Programm stehen.

Im Ausstellungsbereich wird vor allem die Baustoffindustrie ihre Innovationen rund ums Sanieren und Modernisieren zeigen. Der Trend geht dabei zu möglichst umweltfreundlichen Dämmstoffen für Fassaden, Dächer, Fenster und Türen, die immer weniger Platz bei hoher Dämmkraft verbrauchen. Der oberpfälzische Hersteller Variotec präsentiert beispielsweise seine Vakuumdämm-Konzepte kombiniert mit weiteren Bau- und Sanierungselementen. "Bauherren sollten sich immer die Frage stellen, ob sie nicht schon heute anspruchsvolle Energie- und Kimaschutzziele erfüllen wollen", sagt Variotec-Geschäftsführer Christof Stölzel. Denn die Richtlinien der Energieeinsparverordnung werden in zehn Jahren schon nicht mehr reichen. Einen neuartigen Dämmstoff aus Altglas zeigt die Firma Technopor aus dem sächsischen Großenhain. Das Glasschaum-Granulat ist absolut altersbeständig, witterungsresistent und unbrennbar. Bei der Herstellung wird Altglas zu feinem Glasmehl vermahlen und "aufgebacken". Der so gewonnene Dämmstoff ist leicht handhabbar, kostengünstig und umweltfreundlich, denn für die Herstellung von einem Kubikmeter davon wird weniger Energie verbraucht als ein Mittelklassewagen auf 200 Kilometern benötigt. Ein gutes Beispiel dafür, wie Innovation und Gebäudesanierung einen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten können. Und wenn genügend Bauherren mitmachen, sogar gegen die Finanzkrise.

"Privathäuser verbrauchen noch mehr Energie als

die Industrie hierzulande"

Die Richtlinien von heute werden in zehn Jahren

wohl bereits überholt sein

Vorher, nachher oder der Wow-Effekt: Nicht nur altersschwache Fassaden lassen sich wieder zu sehr schmucken Außenansichten umwandeln. Foto: ddp

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Zeichnen für Demokratie

Afrikas Karikaturisten leben gefährlich

"Spiel mir den Ball zu", sagt François Compaoré zu seinem Bruder Blaise, dem amtierenden Präsidenten von Burkina Faso. "Kannst du nicht bis 2015 warten", erwidert dieser. Die Karikatur des Zeichners Damien Glez erschien kürzlich im Journal du Jeudi (Burkina Faso). Sie spielt darauf an, dass der umstrittene Präsident, der seit 1987 an der Spitze des Staates steht, die Macht an seinen jüngeren Bruder abgeben könnte, was ihm Straffreiheit sichern würde: Sein Bruder würde ihn weder gerichtlich verfolgen noch an internationale Gerichte ausliefern. Nach der Verfassung könnte Blaise Compaoré, der im Verdacht steht, vom Handel mit Waffen und "Blutdiamanten" profitiert zu haben, allerdings bis 2015 Präsident bleiben und dann sogar die Verfassung für eine Amtsverlängerung ändern. Das hat er bereits einmal getan.

Damien Glez steht unter Beobachtung. Für diese Zeichnung wurde er zwar nicht vom Obersten Presserat der Regierung vorgeladen - anders als bei einer früheren Karikatur, für die man ihm wegen "Beleidigung des Staatsoberhauptes" mit Strafen drohte. Dass Zeichner in Afrika nicht immer so glimpflich davonkommen, berichteten Betroffene vor kurzem beim Workshop "Die Kunst der Pointe". Das Goethe-Institut hatte neben Karikaturisten aus den afrikanischen Ländern Burkina Faso, Elfenbeinküste und Tschad auch Zeichner der Süddeutschen Zeitung nach Ouagadougou eingeladen.

Mit Exil, Gefängnisstrafen und sogar tödlichen Angriffen müssen Zeichner in Ländern wie Simbabwe, Nigeria oder Liberia rechnen, weil sie sich nicht einschüchtern lassen. Trotz der gefährlichen Arbeitsbedingungen gibt es eine überraschende Vielzahl an politisch-satirischen Blättern, die eine große Akzeptanz genießen. Afrikanische Karikaturisten gehören damit zu wichtigen Kritikern der politischen Zustände. Gabor Benedek

Burkina Fasos Präsident und sein Bruder beim Ballspiel. Zeichnung: D. Glez

Compaoré, Blaise: Karikaturen Innenpolitik Burkina Fasos Karikaturisten Meinungsfreiheit Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen in Afrika SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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KURZ GEFAHREN

Mut zur Lücke

Hyundai setzt mit dem Winzling i10 offenbar auf das richtige Modell

Hyundai i10 1.1: 49 kW (67 PS); max. Drehmoment: 98 Nm bei 2800/min;

0-100 km/h: 10,7 s; Vmax: 151 km/h;

Testverbrauch: 5,3 l Super (lt. Werk:

5,0 l, CO2: 119 g/km); Euro 4; Grundpreis: 9990 Euro.

Mut hat er, der Hyundai i10, denn er will nicht weniger als die Kleinstwagen-Klasse aufmischen. Das heißt: Er will nicht nur, er hat es bereits getan. Schon im November 2008 hat er nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes mit 3107 verkauften Modellen im Segment die Führung übernommen und dort den Smart abgelöst. Kein Wunder: Mit einem Listenpreis unter 10 000 Euro ist die koreanische Kurzware (3,56 Meter lang) das richtige Angebot in Zeiten krisenbedingter Sparsamkeit. Immerhin: Dreieinhalb Meter Auto treffen auf fünf Türen und fünf Plätze. Der Innenraum ist sauber aufgeräumt, das Plastik der Oberflächen versucht, gut auszusehen und es gibt allerlei Ablagen und einen Cup-Holder. Die Sitze fallen zwar etwas zierlich aus, dennoch ist selbst auf der Rückbank für Erwachsene erfreulich viel Platz. Die hinteren Lehnen lassen sich simpel und flott umlegen und vergrößern den Laderaum von 225 auf immerhin 910 Liter.

In der Stadt erweist sich der i10 als Wiesel - quirlig und recht leise. Der Vierzylinder-Motor wirkt nie angestrengt. Weil der Fahrer im Vergleich zu anderen Kleinwagen höher sitzt, steigt er nicht nur leichter ein, sondern freut sich außerdem über eine gute Übersicht. Auch der höhergelegte Schalthebel ist eine prima Angelegenheit. Die etwas zu leichtgängige Lenkung arbeitet ausreichend präzise, das gutmütige Untersteuern in rasch durchfahrenen Kurven nimmt man gerne hin. Selbst Überland-Fahrten sind dank des etwas längeren Radstandes einigermaßen erträglich. Allerdings: Das komfortablere Autofahrer-Leben beginnt erst mit der Style-Ausstattung (11 990 Euro). Nur ESP gibt es für den kleinen Benziner nicht. gf

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Schweizer Rankingschmiede

Die ETH Zürich erstellt (k)eine Liste der besten Gymnasien

Der mathematische Fetisch der Moderne ist die Statistik, deren erfolgreichste Unterarten wiederum die Tabelle oder das Ranking, also die kompetitive Statistik ist. Schicksale ganzer Universitäten können heute davon abhängen, auf welchem Platz sie im jährlichen Shanghai-Ranking landen. Wer das Shanghai-Ranking noch nicht kennen sollte: Die Universität Jiaotong in Shanghai hatte vor 10 Jahren die Idee, eine Liste der 500 weltweit besten Universitäten aufzustellen. Für das Shanghai-Ranking werden alle Publikationen aller Fakultäten in einen Mixer geworfen, mit dem durchschnittlichen Betreuungsverhältnis gemischt und dann mit der Anzahl der Nobelpreise der Professoren verrechnet, kein Witz. Auf Rang eins landet meist die Harvard University. Dabei ist das erste, was man als Student in Harvard lernt: Belege nie einen Kurs bei einem Nobelpreisträger, die müssen dauernd auf CNN die Weltlage kommentieren, bei David Letterman ihr neues Buch promoten oder in Stockholm ihren Preis abholen.

Mittlerweile gibt es hunderte verschiedener Universitätsrankings und -statistiken, auf deren Ergebnisse Politiker und Rektoren so ängstlich starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Wen wundert's, wer oben ist, bekommt mehr Geld, mehr Reputation, bessere Leute. Dass deshalb freilich "Rankings erst die Wirklichkeit erschaffen, die sie zu untersuchen vorgeben", wie der Bamberger Soziologe Richard Münch es ausdrückt, ficht kaum jemanden an.

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Unter den deutschsprachigen Universitäten führt seit Jahren die Eidgenössiche Technische Hochschule (ETH) Zürich die Rankings an, zwar torkelt sie, je nach Bewertungsschlüssel der verschiedenen Listen, auf dem internationalen Parkett zwischen den Plätzen 4 und Platz 60 umher, im Durchschnitt aber steht sie klar und unangefochten vor der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität da, die meist den zweiten Platz belegt.

Ebendiese ETH geht nun einen Schritt weiter und gibt den mit jedem Ranking verbundenen Image-Druck weiter an die Gymnasien: Lange schon regen sich Vertreter der ETH darüber auf, dass sie, anders als die amerikanischen Elite-Universitäten, die so schwere wie undurchschaubare Aufnahmeverfahren veranstalten, jeden Abiturienten annehmen müssen, der sich bei ihnen einschreibt. Dazu muss man wissen, dass in der Schweiz jeder Abiturient studieren kann, wo und was er will. Den Universitäten passt das lange schon nicht, sie sieben in den ersten Semestern stark aus.

Die ETH untersuchte nun, welche Faktoren einen Studienerfolg an der ETH positiv beeinflussen. Dafür wurde der Zusammenhang zwischen Abitur- und Zwischenprüfung nach Gymnasien aufgeschlüsselt. Die ETH-Rektorin Heidi Wunderli-Allenspach betonte zwar bei der Präsentation, dass diese Studie kein Ranking darstelle, erklärte aber gleichzeitig, dass der Erfolg an der ETH stark "von der gymnasialen Herkunft" abhänge und präsentierte die Ergebnisse in Form einer Tabelle, in der die Schulen in einer Reihenfolge aufgelistet werden, die erfolgreichsten oben, die erfolglosesten zuletzt. Die NZZ schrieb am Tag nach der Präsentation, im Saal habe sich in Windeseile "Ranking-Stimmung" breitgemacht. Ranking-Stimmung, ein düsterauratisches Kompositum, das hat was von Lynch-Justiz oder Panik-Verkäufen.

Besagte Stimmung muss dann über Nacht durch die ganze Schweiz geschwappt sein: Dass die Liste auf absurd dünnen Beinen steht (es wurden nur die Schulen gelistet, von denen 30 oder mehr Schüler in den letzten vier Jahren zur Basisprüfung der ETH angetreten sind), ging fast überall unter, die meisten Medien stellten die Untersuchung schlicht als "Liste der besten Gymnasien" (Sonntagszeitung) vor - und viele verschreckte Rektoren können sich nun kaum noch retten vor Anrufen panischer Eltern, die fragen, warum die Schule ihres Kindes nur auf Rang 40 stehe. ALEX RÜHLE

Schulwesen in der Schweiz Hochschul-Ranglisten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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