Proteste gegen Wirtschaftspolitik der russischen Regierung

Opposition mobilisiert weniger Anhänger als erwartet / Moskau rechnet mit 13 Prozent Inflation und muss weiterhin Währungsreserven anzapfen

Von Frank Nienhuysen

Moskau - In vielen Städten Russlands hat es am Wochenende Demonstrationen gegen die Wirtschaftskrise gegeben. Die Teilnehmerzahl blieb aber weit unter den Erwartungen der Opposition. In Wladiwostok, wo viele Menschen wegen der erhöhten Steuern auf Importautos aus Japan und Südkorea verärgert sind, forderten etwa 3000 Menschen den Rücktritt der Regierung. In Moskau folgten tausend Anhänger der Kommunisten dem Aufruf der Partei. Proteste gegen die Moskauer Führung fanden auch in St. Petersburg statt. In Nowosibirsk und Wladiwostok verweigerten die Behörden den Kommunisten, ihre Kundgebungen auf zentralen Plätzen abzuhalten.

Die dominierende Regierungspartei im russischen Parlament, Einiges Russland, organisierte Gegendemonstrationen, an denen ebenfalls Tausende Anhänger teilnahmen. Mehrere Dutzende Anhänger verschiedener Oppositionsgruppen wurden festgenommen, unter ihnen in Moskau der Anführer der verbotenen Nationalbolschewisten, Eduard Limonow. Er sollte jedoch noch im Laufe des Sonntags freigelassen werden. Auch Anhänger des früheren Schachweltmeisters und jetzigen Oppositionspolitikers Garri Kasparow wurden in Gewahrsam genommen. Die Behörden hatten allein in der russischen Hauptstadt 5000 Sicherheitskräfte eingesetzt.

Iwan Beresin, ein Mitglied der kommunistischen Partei forderte beim Protest in Moskau: "Putin und die Regierung müssen gehen." Er sagte: "Gehen Sie doch mal in die Geschäfte rein und schauen Sie sich die hohen Preise an. Und alle Produkte kommen aus dem Ausland." Der Parteivorsitzende Gennadij Sjuganow rief, nur eine Revolution werde aus der Krise führen.

Auf dem Manegeplatz versammelten sich dagegen etwa 5000 Menschen, um die Politik der Regierung zu verteidigen. Sie skandierten: "Das Volk, Medwedjew, Putin - gemeinsam werden wir gewinnen!" Wie bei den Kommunisten nahmen überwiegend Parteimitglieder teil. "Wir müssen unsere Loyalität zeigen und die Krise gemeinsam überstehen", sagte ein Putin-Anhänger. "Die Wirtschaftskrise gibt es ja nicht nur bei uns in Russland."

Nach dem deutlichen Fall des Ölpreises rechnet die Moskauer Regierung nach Angaben von Finanzminister Alexej Kudrin statt der zunächst eingeplanten Staatseinnahmen von 10,9 Billionen Rubel (240 bis 250 Milliarden Euro) nur noch mit 6,5 Billionen Rubel. Kudrin erwartet eine Inflationsrate von 13 Prozent in diesem Jahr, und die Währungsreserven müssten voraussichtlich auch noch im nächsten und übernächsten Jahr angezapft werde, sagte der Minister.

Ministerpräsident Putin hatte zuvor bereits einen Nachtragshaushalt für 2009 angekündigt, weil sich der bisherige noch auf einen Ölpreis von 95 Dollar pro Barrel gestützt hatte; derzeit liegt er jedoch deutlich unter 50 Dollar. Mit hohen Investitionen will die Regierung nun den angeschlagenen Banken und Unternehmen helfen. Zugleich versicherte Finanzminister Kudrin, dass die Regierung all ihre sozialen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung einhalten werde.

Polizisten nahmen in Moskau Anhänger der verbotenen Nationalbolschewisten fest, gingen aber auch gegen andere Demonstranten vor. Foto: dpa

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Die friedlichste Wahl seit Saddams Sturz

Bei der Abstimmung in den Provinzen liegt die Partei von Ministerpräsident al-Maliki offenbar vorn / Obama: Wichtiger Schritt zur Selbständigkeit

Bagdad - Der Irak hat am Wochenende die friedlichste Wahl seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein vor sechs Jahren erlebt. Anders als bei der letzten Wahl im Jahr 2005 wurde die Abstimmung über die Provinzräte diesmal weder von Bombenterror noch von Boykottaufrufen militanter Gruppen gestört. Vor den zum Jahresende anstehenden Parlamentswahlen werteten Beobachter und internationale Politiker dies als ein hoffnungsvolles Zeichen. US- Präsident Barack Obama sprach von einem "wichtigen Schritt".

Knapp 15 Millionen Wahlberechtigte waren am Samstag aufgerufen, ihre Stimme abzugeben, um über die Besetzung der Regionalparlamente in 14 von 18 Provinzen zu entscheiden. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben von Beobachtern bei 51 Prozent. In den sunnitischen Regionen betrug sie sogar bis zu 70 Prozent. Die sunnitischen Parteien, die die Parlamentswahl 2005 noch aus Protest gegen die "US-Besatzung" boykottiert hatten, traten diesmal an. Da viele Iraker noch nicht genau einschätzen können, welchen Kurs der neue US-Präsident Obama einschlagen wird, war die Haltung der Kandidaten zu den USA diesmal kaum Wahlkampfthema. Es ging um Probleme wie Stromversorgung und die Vergabe von Ämtern.

Mit den Ergebnissen der Provinzwahlen im Irak ist frühestens am Mittwoch zu rechnen. Der Vorsitzende der Wahlkommission sagte sogar, aufgrund des neuen, komplizierten Wahlsystems werde das amtliche Endergebnis möglicherweise erst in mehreren Wochen vorliegen. Experten schätzen aber schon jetzt, dass sich die schiitische Liste "Koalition für einen Rechtsstaat" des amtierenden Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki Hoffnung auf den Sieg machen kann. Wegen der Erfolge der Regierung im Kampf gegen den Terror steht der Ministerpräsident hoch in der Gunst der Wähler.

Aus Angst vor Anschlägen galten bei der Wahl strenge Sicherheitsvorkehrungen. 800 internationale Beobachter und knapp eine Million irakische Soldaten und Polizisten bewachten die etwa 6500 Wahllokale. Die US-Armee hielt sich bei der Sicherung im Hintergrund. Um das Risiko von Terroranschlägen zu minimieren, hatte die Polizei in den Stadtzentren Fahrverbote verhängt. Diese wurden jedoch am Nachmittag aufgehoben, um jedem Wahlberechtigten die Chance zur Stimmabgabe zu geben. Frauen mussten vor Betreten des Wahllokales ihre Handtaschen abgeben. Mobiltelefone waren verboten.

Nur vereinzelt kam es zu Zwischenfällen: Der Nachrichtensender Al-Irakija berichtet, ein Wähler sei erschossen worden, als er mit seinem Handy ein Wahllokal betreten wollte. In Tikrit wurden fünf Mörsergranaten auf Wahllokale abgefeuert, verletzt wurde aber niemand. In der Stadt Tus Chormatu verwundete ein Sprengsatz sieben Menschen.

Dennoch lobten Beobachter den weitgehend friedlichen Verlauf des Wahltags. Iraks Ministerpräsident Nuri al-Maliki sprach von einem "Tag der Freude für den Irak". US-Präsident Barack Obama sagte: "Dieser wichtige Schritt vorwärts sollte den Prozess der Übernahme der Verantwortung der Iraker für die eigene Zukunft fördern." Er lobte vor allem, dass die irakischen Polizei- und Militärkräfte allein für Sicherheit bei den Provinzwahlen gesorgt hätten. Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier begrüßte den friedlichen Verlauf der Abstimmung. Deutschland werde sein Engagement weiter stärken, um die Iraker auf ihrem Weg zu unterstützen, sagte er. Der britische Premierminister Gordon Brown lobte den Mut der Iraker. Die Menschen im Irak hätten allen "drohenden Einschüchterungen getrotzt". SZ

Irakische Frauen in der Provinz Najaf präsentieren ihre tintenbeschmierten Zeigefinger. Durch die Farbe wird ihre Stimmabgabe dokumentiert. Die Regionalwahlen fanden am Samstag unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt. In den Stadtzentren galten Fahrverbote, Mobiltelefone und Handtaschen durften nicht mit in die Wahllokale genommen werden. Sechs Jahre nach dem Sturz von Saddam galt die Abstimmung als wichtiger Test für die Stabilität des Landes. Foto: AP

Wahlen im Irak Parteien im Irak SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gemäßigter Islamist führt Somalia

Neuer Präsident Scheich Sharif Ahmed will Milizen im Bürgerkriegsland befrieden

Von Arne Perras

Kampala - Mit großer Mehrheit ist Scheich Sharif Ahmed, ein gemäßigter Islamist, zum neuen Präsidenten des Bürgerkriegslandes Somalia gewählt worden. Der frühere Premierminister Nur Hassan Hussein, der vom Westen favorisiert worden war, hatte nach dem ersten Wahlgang seine Kandidatur zurückgezogen, was Sharif einen klaren Sieg bei der Abstimmung sicherte.

Das somalische Parlament war kurz zuvor um 149 Abgeordnete aus dem islamistischen Lager erweitert worden, um den Weg zu einer tragfähigen neuen Regierung zu ermöglichen und gemäßigte islamistische Gruppen an der Macht zu beteiligen. Erstmals seit vielen Monaten steigen nun die Chancen, das vom Krieg zerstörte Land zu stabilisieren und Verhältnisse zu schaffen, die eine bessere Versorgung von mehr als einer Million Flüchtlingen zulassen. Jeden Monat sterben hunderte Somalier bei Gefechten rivalisierender Milizen. Fast jeder zweite ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Somalia hat seit dem Sturz des Diktators Siad Barre im Jahr 1991 keine Zentralgewalt mehr.

Das Parlament ließ den neuen Präsidenten im Nachbarstaat Dschibuti wählen, weil sich die Abgeordneten in Somalia nicht sicher fühlen. Seit Abzug der äthiopischen Besatzungstruppen kämpfen unterschiedliche islamistische Gruppen um die Vormacht. Scheich Ahmed gehört der "Allianz zur Wiederbefreiung Somalias" (ARS) an, die sich schon vor dem Abzug Äthiopiens auf Friedensgespräche eingelassen hatte.

In den vergangenen Monaten war es in Somalia immer wieder zu Gefechten zwischen moderaten Islamisten und der radikalen Al-Shabab-Miliz gekommen, die nach amerikanischen Erkenntnissen Verbindungen zu al-Qaida unterhält. Al-Shabab kontrolliert den früheren Sitz des somalischen Parlaments in der Stadt Baidoa. Die neue Regierung, die auf Unterstützung der Vereinten Nationen setzen kann, wird von den radikalen Fraktionen nicht anerkannt. Die Abgeordneten sollen nun nach Mogadischu umziehen, doch es ist unklar, wie viele von ihnen dieses Risiko eingehen. Die von der Afrikanischen Union entsandte Friedenstruppe ist zu schwach, um die Sicherheit der Parlamentarier zu garantieren.

Für Scheich Ahmed markiert die Wahl eine große Wende. 2006 war er Vorsitzender der "Union der Islamischen Gerichte", die für einige Monate Mogadischu kontrollierten und eine Phase relativer Ruhe und Sicherheit in der Hauptstadt einleiteten. Doch im Dezember 2006 marschierten äthiopische Truppen ein und verjagten die Scheichs. Die Invasion wurde mit der Notwendigkeit begründet, terroristische Feinde Äthiopiens jagen zu müssen. Seither kämpfte Scheich Ahmed für den Abzug der verfeindeten Truppen aus dem Nachbarland, öffnete sich aber zugleich für Verhandlungen. Im Interview mit einer ägyptischen Zeitung setzte er ein versöhnliches Zeichen gegenüber den USA und lobte deren Rolle zur Unterstützung eines Friedens, wie er in Dschibuti ausgehandelt werden soll.

Ahmed erklärte, er strebe Frieden mit Äthiopien an. Innenpolitisch steht er vor der Aufgabe, die Gegensätze zwischen säkular orientierten Warlords und islamistischen Milizen zu überbrücken. Unklar bleibt, welche Strategie er gegenüber der rivalisierenden Al-Shabab-Miliz fahren wird, die selbst an die Macht drängt.

Scheich Sharif Ahmed Foto: AFP

Ahmed, Sheik Sharif Bürgerkrieg in Somalia Regierungen Somalias SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hexenjagd im Namen des Königs

Im Kampf gegen Kritiker und Meinungsfreiheit nutzen Thailands Machthaber das strenge Gesetz gegen Majestätsbeleidigung aus

Von Oliver Meiler

Singapur - Geduldet wird kein kritisches Wort mehr gegen den König, gegen sein Haus und seine Familie: kein geschriebenes, kein gebloggtes, kein gesprochenes, nicht einmal ein laut gedachtes. Die neue thailändische Regierung, angeführt von der Demokratischen Partei, überzieht das Land in einer Zeit der großen politischen Weichenstellungen mit einer einzigartigen Kampagne zur Zensierung aller Kritik am Palast. Manche nennen es eine Hexenjagd.

2400 Internetseiten sind in den vergangenen Wochen wegen angeblich unziemlicher politischer Kommentare gesperrt worden, Hunderte weitere könnten folgen. Ein teures Filtersystem soll sicherstellen, dass künftig keine königskritische Note aus dem Netz mehr zu den 14 Millionen thailändischen Internetnutzern dringt. Fünf lokale Radiostationen, die sich der staatlichen Kontrolle bisher entziehen konnten, stehen vor der Schließung, weil sie mit ihrer angeblichen Aufhetzung der Massen Frieden und Einheit der Nation bedroht haben sollen. Gegen vierzig Personen - Wissenschaftler, Journalisten, Aktivisten, Politiker - laufen Verfahren wegen Majestätsbeleidigung. Kürzlich wurde der australische Autor Harry Nicolaides zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er in seinem jüngsten, fiktiven Werk eine Anspielung auf den unpopulären Kronprinzen Thailands gemacht hatte. Das Buch, das in einer Auflage von 50 Exemplaren erschienen war, hatte sich vor der Verhaftung Nicolaides nur sieben Mal verkauft. Doch das reichte.

Das britische Nachrichtenmagazin The Economist wurde zwei Mal aus dem Verkauf gezogen, nachdem es Artikel publiziert hatte, die sich dem 81-jährigen König Bhumibol, dessen politischer Rolle und der Nachfolgefrage widmeten. Das sind Tabuthemen in Thailand. Die Maßnahme gegen den Economist soll Ausländern als Warnung dienen. Justizminister Pirapan Salirathavibaga sagte: "Wenn Sie in die USA einreisen, müssen Sie bei der Kontrolle am Flughafen Schuhe und Gürtel ausziehen, zum Schutz der nationalen Sicherheit. Wenn Sie in Thailand einreisen, müssen Sie in Kauf nehmen, dass Ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt wird - so schützen wir die nationale Sicherheit."

Eingeschränkt wird die Meinungsfreiheit durch das weltweit wohl strikteste Gesetz zur Majestätsbeleidigung, ein Relikt aus fernen Zeiten - und lebendig wie nie zuvor. In Thailand, das sich seit 1932 als konstitutionelle Monarchie bezeichnet, denkt man darüber nach, die Höchststrafe für Vergehen gegen den Artikel 112 im Strafgesetzbuch von 15 auf 25 Jahre zu erhöhen. Im maßgeblichen Paragrafen heißt es: "Wer den König, die Königin oder den Thronfolger verleumdet, beschimpft oder bedroht, wird mit einer Gefängnisstrafe von drei bis fünfzehn Jahren belegt." Das Gesetz definiert nicht, was mit Verleumdung und Beschimpfung gemeint ist. Das soll auch so bleiben: Je diffuser es gehalten ist, desto abschreckender die Wirkung.

Die Majestätsbeleidigung gilt als politische Allzweckwaffe des Bangkoker Establishments, das sich aus Monarchisten, Militärs und Bürokraten zusammensetzt. Diese Clique hatte das Land über viele Jahrzehnte hinweg regiert, bis ein Populist und reicher Unternehmer, Thaksin Shinawatra, sie 2001 mit seinem überraschenden Wahlsieg von der Macht verdrängte. Erst vor einigen Wochen - nach monatelangen Protesten und Blockaden der ihr gewogenen, royalistischen Gelbhemden von der sogenannten Volksallianz für Demokratie - gelangte die alte Elite zurück an die Macht. Damit diese nicht eben demokratische Rückkehr auch von Dauer ist, soll nun das politische System neu ausgerichtet werden - so schnell wie möglich, bevor Bhumibol stirbt.

Der kranke, dienstälteste Monarch der Welt sitzt schon seit 63 Jahren auf dem Thron und wird von den meisten Thailändern als weiser Fährmann verehrt. Was nach ihm kommt, ist dagegen selbst für das Establishment voller Unwägbarkeiten. Zum Systemwechsel dürfte zum Beispiel die Idee der Gelbhemden gehören, wonach das Volk künftig nur noch einen Teil, etwa 30 Prozent, des Parlaments wählen soll. Der Rest würde von Korporationen bestimmt. Populär wäre das nicht, die Reform könnte sogar schwere politische Unruhen verursachen.

Darum kommt nun das Gesetz zur Majestätsbeleidigung wieder zur Anwendung, plötzlich und massiv. Ein politischer Gegner lässt sich mit einer Klage, die seine Treue zum Palast hinterfragt, aus dem Spiel werfen, mag der Verdacht auch noch so unbegründet oder schwach gestützt sein. So zerbrachen schon viele Karrieren in Thailand. Das Schicksal des geschassten Ex-Premiers Thaksin zum Beispiel war spätestens in dem Moment besiegelt, als es hieß, er sei ein Republikaner mit Allmachtfantasien und biete dem König die Stirn. Einbringen kann eine solche Anzeige jeder Bürger. Und jede Klage muss vom Gericht geprüft werden. Das hat zur Folge, dass sich thailändische Medien selber zensieren und dass die meisten thailändischen Politexperten sofort verstummen, wenn die Rede auf den König kommt.

Problemlos sind nur Kommentare, die Bhumibol als unparteiische Kraft loben. Und dies, obschon der König in einer Rede vor vier Jahren ausdrücklich um Kritik gebeten hatte: "Auch der König macht einmal Fehler", sagte er damals. Zuweilen begnadigt er Leute, die ihn beschimpft haben. So etwa einen Schweizer, der in angetrunkenem Zustand Poster Bhumibols mit einem Farbspray verunstaltet hatte und dafür 2007 mit zehn Jahren Haft bestraft wurde. Der König könnte auch, wenn er denn wollte, das streitbare Gesetz ändern oder es ganz aufheben. Nur er könnte das. Wahrscheinlich will er aber nicht.

"Wer den König beschimpft wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren belegt."

Auszug aus Thailands Strafgesetzbuch

Lässt keine Zweifel an seiner Treue zum Palast: Der neue Premierminister Abhisit Vejjajiva wirft sich vor einem Porträt König Bhumibols zu Boden. Foto: AFP

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Kinder bei Gefecht getötet

Kabul - Bei Gefechten zwischen der Internationalen Schutztruppe Isaf und Aufständischen in der afghanischen Provinz Helmand sind zwei Kinder getötet worden. Die Isaf teilte mit, ihre Patrouille sei aus einem Gehöft heraus angegriffen worden und habe das Feuer erwidert. Nach den Kämpfen seien die zwei getöteten Kinder und drei verletzte erwachsene Zivilisten entdeckt worden. Man gehe davon aus, dass die Aufständischen die Zivilisten gezwungen haben, in dem Gehöft zu bleiben. Am Samstag und am Freitag wurden ein kanadischer und ein britischer Isaf-Soldat getötet. dpa

Kabul

- Bei Gefechten zwischen der Internationalen Schutztruppe Isaf und Aufständischen in der afghanischen Provinz Helmand sind zwei Kinder getötet worden. Die Isaf teilte mit, ihre Patrouille sei aus einem Gehöft heraus angegriffen worden und habe das Feuer erwidert. Nach den Kämpfen seien die zwei getöteten Kinder und drei verletzte erwachsene Zivilisten entdeckt worden. Man gehe davon aus, dass die Aufständischen die Zivilisten gezwungen haben, in dem Gehöft zu bleiben. Am Samstag und am Freitag wurden ein kanadischer und ein britischer Isaf-Soldat getötet.

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Nordkorea warnt vor Krieg

Seoul - Nordkorea sieht sich am Rande eines Krieges mit dem Süden. Die Konfrontationspolitik Südkoreas sei "Ursache militärischer Konflikte und des Krieges zwischen dem Norden und dem Süden", hieß es laut staatlicher Nachrichtenagentur KCNA. Erst am Freitag hatte Nordkoreas Regierung alle Abkommen mit dem Süden für hinfällig erklärt, zuvor hatte sie wiederholt gedroht, die Führung in Seoul zu vernichten. Diese hat das aber weitgehend ignoriert. Experten halten die scharfe Rhetorik für einen Versuch, die Aufmerksamkeit des neuen US-Präsidenten auf sich zu lenken.Reuters

Seoul

- Nordkorea sieht sich am Rande eines Krieges mit dem Süden. Die Konfrontationspolitik Südkoreas sei "Ursache militärischer Konflikte und des Krieges zwischen dem Norden und dem Süden", hieß es laut staatlicher Nachrichtenagentur KCNA. Erst am Freitag hatte Nordkoreas Regierung alle Abkommen mit dem Süden für hinfällig erklärt, zuvor hatte sie wiederholt gedroht, die Führung in Seoul zu vernichten. Diese hat das aber weitgehend ignoriert. Experten halten die scharfe Rhetorik für einen Versuch, die Aufmerksamkeit des neuen US-Präsidenten auf sich zu lenken.

Beziehungen Südkoreas zu Nordkorea SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Piraten rufen Reederei an

Hamburg - Zwei Tage nachdem Piraten den Tanker Longchamp vor Somalia gekapert haben, meldeten sie sich am Samstag erstmals beim deutschen Schiffsmanager. Während des Telefonats habe ein Vertreter des Unternehmens auch mit dem Kapitän sprechen können, teilte ein Sprecher des Hamburger Unternehmens Bernhard Schulte Shipmanagement mit. Nach dessen Angaben geht es allen 13 Besatzungsmitgliedern den Umständen entsprechend gut. Zu möglichen Forderungen der Piraten wollte er sich nicht äußern. Der unter der Flagge der Bahamas fahrende Flüssiggastanker war in der Nacht zum Donnerstag im Golf von Aden entführt worden. Nach Angaben des Unternehmens fuhr das Schiff nicht im Konvoi mit der deutschen Marine. Zwar hatte sich die Longchamp laut Einsatzführungskommando der Bundeswehr für den Konvoi angemeldet, war dann aber doch früher losgefahren. Seit Dezember 2008 beteiligt sich die Bundeswehr an der EU-geführten Anti-Piraten-Mission Atalanta. Im vergangenen Jahr kaperten Piraten vor Somalia mehr als 40 Schiffe und erpressten etwa 30 Millionen Dollar.AP

Hamburg

- Zwei Tage nachdem Piraten den Tanker Longchamp vor Somalia gekapert haben, meldeten sie sich am Samstag erstmals beim deutschen Schiffsmanager. Während des Telefonats habe ein Vertreter des Unternehmens auch mit dem Kapitän sprechen können, teilte ein Sprecher des Hamburger Unternehmens Bernhard Schulte Shipmanagement mit. Nach dessen Angaben geht es allen 13 Besatzungsmitgliedern den Umständen entsprechend gut. Zu möglichen Forderungen der Piraten wollte er sich nicht äußern. Der unter der Flagge der Bahamas fahrende Flüssiggastanker war in der Nacht zum Donnerstag im Golf von Aden entführt worden. Nach Angaben des Unternehmens fuhr das Schiff nicht im Konvoi mit der deutschen Marine. Zwar hatte sich die Longchamp laut Einsatzführungskommando der Bundeswehr für den Konvoi angemeldet, war dann aber doch früher losgefahren. Seit Dezember 2008 beteiligt sich die Bundeswehr an der EU-geführten Anti-Piraten-Mission Atalanta. Im vergangenen Jahr kaperten Piraten vor Somalia mehr als 40 Schiffe und erpressten etwa 30 Millionen Dollar.

Piraterie in Somalia Reedereien in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Proteste in Bangkok

Bangkok - Mehr als 30 000 Anhänger des ehemaligen Ministerpräsidenten Thaksin Shinawatra haben am Samstag in Bangkok demonstriert. Dabei verlangten sie unter anderem die Wiedereinsetzung der nach Thaksins Sturz außer Kraft gesetzten Verfassung. Der Regierung des neuen Ministerpräsidenten Abhisit Vejjajiva setzten sie eine Frist von zwei Wochen zur Erfüllung ihrer Forderungen. Für den Fall, dass dies nicht geschehe, kündigten sie tägliche Kundgebungen im Regierungsviertel an. Die Demonstration verlief nach Polizeiangaben friedlich, sie wurde von mehr als 5000 Polizisten begleitet. Der neue Regierungschef Abhisit war erst Mitte Dezember gewählt worden. AFP

Bangkok

- Mehr als 30 000 Anhänger des ehemaligen Ministerpräsidenten Thaksin Shinawatra haben am Samstag in Bangkok demonstriert. Dabei verlangten sie unter anderem die Wiedereinsetzung der nach Thaksins Sturz außer Kraft gesetzten Verfassung. Der Regierung des neuen Ministerpräsidenten Abhisit Vejjajiva setzten sie eine Frist von zwei Wochen zur Erfüllung ihrer Forderungen. Für den Fall, dass dies nicht geschehe, kündigten sie tägliche Kundgebungen im Regierungsviertel an. Die Demonstration verlief nach Polizeiangaben friedlich, sie wurde von mehr als 5000 Polizisten begleitet. Der neue Regierungschef Abhisit war erst Mitte Dezember gewählt worden.

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Sri Lanka droht Diplomaten

Colombo - Nach internationaler Kritik am Vorgehen der Regierungstruppen gegen die tamilische Zivilbevölkerung hat die Regierung von Sri Lanka den Botschaftern von Deutschland und der Schweiz mit Ausweisung gedroht. "Sie werden davongejagt", falls sie den tamilischen Rebellen "einen zweiten Wind" geben würden, sagte Verteidigungsminister Gotabhaya Rajapaksa, der auch der Bruder von Präsident Mahinda Rajapaksa ist. In einem am Sonntag veröffentlichten Interview der Zeitung Sunday Island warf Rajapaksa den Diplomaten sowie den Fernsehsendern CNN, BBC und Al-Dschasira vor, sie versuchten, Panik zu verbreitenden. Sri Lanka ist jüngst international kritisiert worden, weil zahlreiche Bewohner der Bürgerkriegsregion nach Angaben der Vereinten Nationen bei Artillerieangriffen der Regierungstruppen getötet wurden. AP

Colombo

- Nach internationaler Kritik am Vorgehen der Regierungstruppen gegen die tamilische Zivilbevölkerung hat die Regierung von Sri Lanka den Botschaftern von Deutschland und der Schweiz mit Ausweisung gedroht. "Sie werden davongejagt", falls sie den tamilischen Rebellen "einen zweiten Wind" geben würden, sagte Verteidigungsminister Gotabhaya Rajapaksa, der auch der Bruder von Präsident Mahinda Rajapaksa ist. In einem am Sonntag veröffentlichten Interview der Zeitung Sunday Island warf Rajapaksa den Diplomaten sowie den Fernsehsendern CNN, BBC und Al-Dschasira vor, sie versuchten, Panik zu verbreitenden. Sri Lanka ist jüngst international kritisiert worden, weil zahlreiche Bewohner der Bürgerkriegsregion nach Angaben der Vereinten Nationen bei Artillerieangriffen der Regierungstruppen getötet wurden.

Bürgerkrieg in Sri Lanka Beziehungen Deutschlands zu Sri Lanka SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zehn Jahre Chávez

Venezuelas Präsident feiert Jubiläum

Von Peter Burghardt

Caracas - Zur Geburtstagparty kommen einige der besten Freunde aus der Umgebung, manche von ihnen hatte Hugo Chávez gerade erst getroffen. Beim Weltsozialforum in Belém zog Venezuelas Präsident mit seinen Kollegen Evo Morales aus Bolivien, Rafael Correa aus Ecuador, Fernando Lugo aus Paraguay und Brasiliens Luiz Inácio Lula da Silva gegen den Kapitalismus zu Felde. Am Montag lädt er nun die Genossen Correa, Morales und Nicaraguas Daniel Ortega sowie Gesandte aus Kuba, Honduras und Dominica zum Gipfel seines Wirtschaftsbündnisses Alba nach Caracas - es gibt etwas zu feiern. Alba bedeutet Morgenröte, und wenn der Gastgeber sagt, "an jenem Tag begann es hell zu werden", dann meint er den 2. Februar 1999.

Damals hatte der vormalige Offizier nach seinem Wahlsieg das Kommando über Venezuela übernommen. Seitdem hat er alles mögliche verändert, unter anderem den Namen der Nation, die mittlerweile "Bolivarische Republik Venezuela" heißt, die Verfassung und um eine halbe Stunde die Uhrzeit. Zum Jubiläum ruft er nun einen Festtag aus. Am Mittwoch folgt dann die Erinnerung an seinen gescheiterten Putschversuch vom 4. Februar 1992, als sein Aufstieg an die Macht begann. Im Palast Miraflores überstand er unterdessen mehrere Wahlen, Referenden, dazu einen Staatsstreich und Generalstreik seiner Gegner. Schon steht das nächste Duell bevor.

Am 14. Februar lässt die Regierung die Wähler darüber befinden, ob der Präsident und andere Funktionäre beliebig oft wiedergewählt werden dürfen. Einmal misslang ihm der Vorstoß bereits. Im Dezember 2007 stimmten 51 Prozent der Wähler gegen eine Verfassungsreform mit dem Wiederwahl-Passus. Es war Chávez' erste Niederlage. Jetzt versucht er es wieder. Oppositionsführer Manuel Rosales wirft ihm vor, ein System kubanischen Stils installieren zu wollen.

Beide Lager organisierten Probeabstimmungen, vorläufig scheinen Für und Wider gleichauf zu liegen. Mit Sozialprogrammen und direkter Ansprache an seiner Basis ist Chávez bei großen Teilen der Bevölkerung weiterhin populär, er gerät allerdings durch den sinkenden Ölpreis, steigende Inflation und Kriminalität in Schwierigkeiten. Am Samstag demolierten außerdem Unbekannte die Synagoge von Caracas, die jüdische Gemeinde protestiert. Chávez hatte kürzlich aus Protest gegen die Angriffe auf Gaza Israels Botschafter ausgewiesen, auch zählt Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad zu seinen Verbündeten. Rivalen werfen ihm antisemitische Tendenzen vor. Außenminister Nicolás Maduro verurteilte den Angriff auf die Synagoge jedoch.

Chávez Frías, Hugo Innenpolitik Venezuelas SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Debatte um Teamchef Babbel

Luft nach oben

"Hochzufrieden" sei er mit seiner Elf, sagte VfB-Teamchef Markus Babbel nach dem 2:0 gegen Mönchengladbach, sie habe "Leidenschaft gezeigt und nie den Glauben verloren". Wer schon mal so eine Pressekonferenz verfolgt hat, der weiß: Wenn Trainer sich beim Loben allzu sehr auf deutsche Tugenden verlegen, dann war spielerisch "viel Luft nach oben", wie Babbel immerhin einräumte. Aber aus seiner Sicht war die Argumentation schlüssig: Er wird ja dafür bezahlt, dass er ein fußballerisch eher ärmliches 2:0 in einen Sieg der Willens umdeutet.

Markus Babbel, 36, gewinnt zurzeit auch für sich selbst. Obwohl er noch nicht die erforderliche Trainerlizenz besitzt, will er auch in der kommenden Saison den Sport beim VfB verantworten, aber seine Perspektiven haben sich trotz des Sieges nicht verbessert. Zum einen wurde DFB-Trainerausbilder Frank Wormuth gerade im Tagesspiegel mit einem scharf klingenden Interview auffällig. "Wir haben immer gesagt, dass es für Lothar Matthäus die letzte Sondergenehmigung gab. Man muss auch mal einen Schlussstrich ziehen. Das haben wir getan", sagte Wormuth. Aber solche Sätze sollen wohl vor allem dazu dienen, den DFB als unabhängigen Entscheider zu positionieren - im Stillen ist aber längst die Hinterzimmer-Diplomatie angelaufen. Beim VfB, der seinen Amateurcoach Rainer Adrion dem DFB im Sommer als neuen U-21-Trainer überlässt, haben sie Signale empfangen, wonach sich der DFB eine flexiblere Lösung vorstellen könnte - eine Variante, wonach Trainer wie Babbel einen Teil des Lernstoffs in der fußballfreien Zeit (z.B. Sommerpause) per Blockunterricht vermittelt bekommen, um im Spielbetrieb häufiger bei ihren Teams zu sein. Aber nach den jüngsten Entwicklungen gilt als fraglich, wie sehr der VfB um Babbel kämpfen wird. Dass die Elf müde und mutlos aus der Winterpause kam, hat die Verantwortlichen ins Grübeln gebracht. nee

Babbel, Markus VfB Stuttgart SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Berlin besiegt Friedrichshafen 3:1

Volleyball wie noch nie

Berlin - So hat die Hauptstadt nie zuvor ein Volleyballspiel zelebriert: Für die Begegnung gegen den Serienmeister VfB Friedrichshafen am Sonntagnachmittag waren die Hauptstädter des SCC Berlin von ihrer beschaulichen Charlottenburger Sömmeringhalle nach Prenzlauer Berg umgezogen, in die fast dreimal so große Max-Schmeling-Halle. Zum zweiten Mal bereits, bei der Premiere im November gegen Düren hatte dieses Manöver 4950 Zuschauer angelockt, schon das war eine lokale Bestmarke gewesen. Nun waren es 7700 Neugierige, die bis hinauf unters Hallendach mit ihren faltbaren Fächern lärmten, sogar die Stehplätze waren eng bevölkert: Ligarekord! Und nach einer kurzen Einführung in die Gepflogenheiten dieses Sports entwickelte sich vor der denkwürdigen Kulisse auch ein denkwürdiges Spiel. Berlin gewann mit 3:1 Sätzen (25:20, 20:25, 25:20, 25:19) und übernahm die Tabellenführung.

Die Ausgangslage vor der Partie war offen gewesen wie lange nicht: Die Gäste vom Bodensee hatten in dieser Saison bereits dreimal eine unbekannte Erfahrung machen müssen: gegen einen nationalen Gegner zu verlieren. Zweimal in der Liga, einmal im Pokal. Jedes Mal auswärts. Die Berliner lauerten punktgleich auf Tabellenrang zwei, "wir wollen unsere Leistungsgrenze ausloten und uns die Tabellenführung erkämpfen", hatte Trainer Michael Warm als Losung ausgegeben.

Der erste Satz war lange ausgeglichen, über 5:5, 7:7, 10:10 erkämpften sich die Berliner ihre erste Führung (14:13), Aleksandar Spirovski verwandelte schließlich einen Schmetterball zum 25:20. Friedrichshafen, das vom ehemaligen Bundestrainer Stelian Moculescu trainiert wird, fand nur im zweiten Durchgang zu seinem Rhythmus, irritierte ansonsten durch verzogene Kraftschläge und Nachlässigkeiten im Block, zudem ließen sich die Favoriten durch die Euphorie auf der anderen Netzseite einschüchtern. Der dritte Satz war bereits eine klare Angelegenheit, im vierten entglitt die Sache den Gästen endgültig. In der Finalserie um die Meisterschaft war Berlin Friedrichshafen im vergangenen Jahr noch mit 0:3 Spielen unterlegen.

Der Sonntagnachmittag verdeutlichte einmal mehr, welches Potential im Berliner Hallensport noch schlummert. Und wie sehr der Zuspruch zu einer Sportart von ihrer Präsentation abhängt. Die Basketballer von Alba Berlin waren im Herbst in die neue, 14.000 Zuschauer fassende Arena am Ostbahnhof gezogen, seither hat die Max-Schmeling-Halle nur noch den Handball-Erstligisten Füchse Berlin als festen Mieter. Das eröffnet nun dem SCC neue Möglichkeiten. Ein "erneut so großartiges Erlebnis wie gegen Düren" hatte sich SCC-Manager Kaweh Niroomand erhofft. Er ist nicht enttäuscht worden. Claudio Catuogno

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USA lassen Kameramann frei

Al-Dschasira-Mitarbeiter war seit 2002 in Guantanamo

Khartum - Nach mehr als sechs Jahren Haft im US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba ist ein Kameramann des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira freigelassen worden. Sami al-Hadsch traf am Freitag an Bord einer US-Militärmaschine in der sudanesischen Hauptstadt Khartum ein. Die Inhaftierung des 38-Jährigen ohne Anklage hatte weltweit Proteste ausgelöst. Hadsch wurde am Donnerstag mit zwei weiteren Sudanesen auf freien Fuß gesetzt. Die US-Streitkräfte hatten ihm vorgeworfen, als Kurier für eine militante islamische Organisation gearbeitet zu haben.

Hadsch warf den USA vor, sie hätten ihn gefangengenommen, weil er über Menschenrechtsverletzungen der US-Streitkräfte in Afghanistan berichtet habe. Er war der einzige Journalist eines großen internationalen Medienunternehmens, der in Guantanamo festgehalten wurde. "Das ist eine wunderbare Neuigkeit, und längst überfällig", sagte Clive Stafford, Direktor der britischen Menschenrechtsgruppe Reprieve, über Hadschs Freilassung. Nach Angaben seiner Anwälte war Hadsch seit Januar vorigen Jahres im Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Sein Anwalt hatte berichtet, der Mandant sei ausgemergelt und habe Probleme mit Leber und Nieren. Häftlinge im Hungerstreik werden in Guantanamo zweimal täglich zwangsernährt.

Der Kameramann war Ende 2001 in Pakistan festgenommen worden, als er nach Afghanistan einreisen wollte, um über die von den USA angeführte Invasion zu berichten. Er wurde an die US-Truppen übergeben und nach Guantanamo gebracht. Die USA halten dort 275 Männer fest, die Verbindungen zu al-Qaida und den Taliban haben sollen. AP

Kriegsgefangene der USA in Guantanamo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zwischenzeit

Immer Ärger im Hotel (II)

Der Aufwand, mit dem Hotels der oberen Klasse in ihren Zimmern Großzügigkeit und Gastfreundschaft zu simulieren versuchen, ist oft grotesk. Das lästigste Geschenk, das die Gäste beim Betreten des Zimmers entgegennehmen müssen, ist die Liebeserklärung auf dem Fernsehschirm, die, wie wir in der letzten Kolumne erfahren haben, oft nur unter Gewaltanwendung aus der Welt zu schaffen ist. Völlig überflüssig ist auch die auf Bütten gestanzte Grußbotschaft des Hotelchefs, die man, in der Hoffnung auf eine aktuelle Mitteilung von der Rezeption, einem dick wattierten Umschlag entnimmt und prompt im Orkus versenkt.

Beim Obst aus dem obligaten Früchtekorb ist das Entsorgen nicht so einfach. Das Ganze ist eigentlich als Stillleben mit Serviette und Besteck gedacht - und darum nur bedingt zum Verzehr geeignet. Wie alles Hotelobst entstammen die Früchte Züchtungen, die ausschließlich auf Größe und Haltbarkeit abzielen, Geschmack aber für eine lästige Zutat halten. In den USA hat man mithilfe der Gentechnik auf diesem Gebiet besondere Fortschritte gemacht. Hoteläpfel und -Birnen sind dort stets kindskopfgroß und so quittenmäßig dauerhart, dass das stumpfe Hotelmesser, oder der Zahn, den man riskiert, wie das Wälsungenschwert Notung auf ewig drin steckenbleiben. Hotelpflaumen sind beängstigend schwer wie Handgranaten, sie haben lederharte Häute und ein völlig verholztes Fleisch, das ohne jeden Tropfen Saft, ohne jede Spur von Geschmack auskommt. Bei der monumentalen Riesentraube, die wie eine billige Nachahmung aus Plastik aussieht, hängen taubeneigroße rosaviolette Einzelbeeren pflückgerecht an reptiliengrünen Rispen, doch beißt man aus Versehen auf eine dieser innerlich ausgesteiften, bitteren Knollen, hilft nur noch rasches Ausspucken vor dem Erbrechen. Eigentlich hat nur die stapelbare Banane geschmacklich eine Ähnlichkeit mit dem bekannten Naturprodukt. Nach dem Verzehrversuch, der mit klebrigen Händen endet, weiß man: Dieses Obstzeug hat schon viele Gäste überlebt, es hätte noch wochenlang als Dekorware Dienst tun können, wenn es nicht sinnwidrig geschlachtet worden wäre.

Reinigen wir uns also im Bad, das in diesem Hotel als Design-Kunstwerk angekündigt ist. Die Waschecke ist über beide Ecken von oben bis unten verspiegelt, zeigt den Eintretenden also recht unvorteilhaft von allen Seiten. Für diese Spiegelwände haben die Entwerfer alle nützlichen Vorrichtungen geopfert. Es gibt keinen einzigen ebenen Quadratzentimeter im Raum, auf dem man etwas abstellen, keinen Haken, an dem man etwas aufhängen könnte. Der Waschbeutel, der Rasierapparat, die Seife, die nasse Zahnbürste - man kann sie nur auf den Boden oder auf die Klobrille legen.

Das Waschbecken ist ein kreisrunder Edelstahlspucknapf ohne Ränder. Sein Inneres spiegelt auf peinlich exakte Art wieder, was sich über ihm ereignet. Seifenlauge, die in der blank gewischten Schüssel herunterrinnt, sieht wie Erbrochenes aus. Und wenn man sich beim Zähneputzen mundspülend über das Becken beugt, muss man mitansehen, wie man sich in Richtung eigenes Gesicht übergibt, ja auf sich selber masochistisch herunterspuckt, was einem halbwegs normal veranlagten Menschen doch recht schwerfällt.

Auch für die Dusche hat sich der geschmackssichere Designer Fatales einfallen lassen. Es gibt kein Abflussbecken, in das man hineinsteigt. Man begibt sich einfach in die Ecke des Raums und dreht die Hähne auf. Doch da der Duschvorhang vierzig Zentimeter über dem Boden endet, der Abfluss aber in der Mitte des Raums liegt, ist das Bad schon nach wenigen Minuten unter Wasser gesetzt. Mit dem Handtuch rettet man sich wütend auf die letzte trockene Insel im Raum und bastelt sich einen Satz zurecht, den man am liebsten als Warnung auf die Spiegelwand schreiben würde: Design ist Terror! GOTTFRIED KNAPP

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Amerikanischer Sisyphos

Michael Cimino, dem glücklosen Wunderkind des Hollywoodkinos, zum Siebzigsten

Cadillacs spielen eine beachtliche Rolle in den Filmen von Michael Cimino. Robert De Niro fährt ein Modell von 1959 in "The Deer Hunter", das stets schmutzig und demoliert ist, aber nie kaputtgeht. Jeff Bridges stirbt in "Thunderbolt and Lightfoot" in einem Cadillac Cabrio mit seinem besten Freund Clint Eastwood am Steuer. Strahlend weiß ist das Cabrio - wie eine morbide Hochzeitskutsche. Cadillacs sind die Apotheose des Straßenkreuzers: Autos von epischer Größe, handwerklicher Perfektion, genialem Design, ausgestattet mit einem Motor, in dem das Herz Amerikas zu schlagen scheint. Ja, Michael Cimino hat die Cadillacs des New Hollywood gemacht.

Er ist poète maudit der Panavision-Bilder, schwer einzuordnen, politisch oft inkorrekt. In seinen Filmen und seiner Persona ist er wie John Milius oder Walter Hill ein Supermacho in der Teddy-Roosevelt-Tradition. Aber in den letzten Jahren kleidet er sich wie ein femininer Hipster-Cowboy. Es geht sogar das Gerücht, er hätte sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen.

Cimino ist ein Sprössling aus wohlhabendem Hause, der sich aber immer für die Arbeiter interessiert hat, ein Konservativer, von sozialistischen Ideen fasziniert. Und ein leidenschaftlicher Patriot, der verzweifelt und nostalgisch die verlorenen Ideale der USA beschwört. Wie viele großartige Leute des US-Kinos wird er im eigenen Land nicht so geschätzt wie in Europa, speziell in Frankreich.

Cimino wuchs auf Long Island heran, sein Vater war ein erfolgreicher Musikverleger. Nach einem Kunststudium in Yale arbeitete er als Regisseur von Werbe- und Industriefilmen in Manhattan. Er machte viel Geld und fuhr bald denselben Rolls wie David Hemmings in "Blow Up". Den Sprung ins Filmgeschäft machte er über die Mitarbeit am Script zum Dirty-Harry-Thriller "Magnum Force". Mit Clint Eastwood konnte er dann 1974 sein Regiedebüt realisieren, "Thunderbolt and Lightfoot", ein homophiles buddy movie über zwei Bankräuber, das karnevalesk beginnt und melancholisch endet, in einem amerikanischen Mythos von Sisyphos.

Die psychische und physische Versehrtheit der amerikanischen Männlichkeit ist ein Hauptthema Ciminos, auch und gerade in "The Deer Hunter" mit Robert De Niro und Chris Walken, der Cimino den Regie-Oscar einbrachte und den Ruf eines Genies. Bei der Berlinale 1979 verursachte der Film über drei Freunde, die in Vietnam kämpfen, einen Skandal - die Delegationen sozialistischer Länder reisten ab wegen der negativen Darstellung des Vietcong. Dabei beschreibt der Film eher die Auswirkungen des Vietnamkriegs auf Amerika selbst, eine schmerzlich komplexe Studie von Männerfreundschaft und vom Zusammenhalt einer amerikanischen Community.

Nach "The Deer Hunter" hatte Cimino Carte blanche bei den Studios. Er machte "Heaven's Gate", einen Mix aus Western und Historienfilm. Das Epos in der Tradition von David Lean wurde zum Fiasko und ruinierte die United Artists. Der detailbesessene Mythomane Cimino ging weit über das Budget. Der vierstündige Film floppte an der Kinokasse, Ciminos Karriere schien zerstört zu sein. Er wurde als irrer Egozentriker gebrandmarkt, ein Kritiker diagnostizierte an ihm die "Perversität des Autorenkults". Die drei Filme, die Cimino danach drehte, haben alle mit der Aufarbeitung des Fiaskos zu tun: "Year of the Dragon" ist ein Polizeifilm über Wut, Rache und Erlösung, "The Sicilian" handelt vom Größenwahn, "The Desperate Hours" erforscht Disziplin und Exzess, die Grenzüberschreitung als Kammerspiel. Mit "The Sunchaser" kehrte 1996 Cimino zu seinen Anfängen zurück: Ein todkranker Ghetto-Junge und sein Arzt begeben sich auf einen Trip in eine mythische Berglandschaft. Ein bizarrer Film, in dem noch einmal künstlerischer Wagemut aufblitzt. Man wünscht Cimino, dass er sein großes Projekt, einen Film nach Malraux' "Condition humaine", verwirklichen kann. HANS SCHIFFERLE

Michael Cimino bei den Dreharbeiten zu "Die durch die Hoelle gehen" Foto: akg/pa

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Eltern tot, Tochter fröhlich

Ruedi Häusermann zeigt am Burgtheater ein szenisches Konzert mit Texten von Händl Klaus

Früher war man weniger interessiert an Produktionsvorgängen. "Erzählen Sie mir nicht, wie Sie es gemacht haben", sagte man zum Schriftsteller und "Wie Sie es gekocht haben, ist mir egal" zum Koch. Die Produkte schienen Herausforderung genug. Aber heute vergeht kaum ein Fernsehtag, an dem man nicht einem Haubenkoch beim Eieraufschlagen zuschauen muss. Man hält sich eben gerne backstage auf, als könnte man dort noch einem Geheimnis auf die Spur kommen, das sich aber dann doch nur als Rezept herausstellt.

Da wären wir dann schon bei einem Theaterabend im Kasino, dem dritten Raum des Wiener Burgtheaters, wo der Regisseur Ruedi Häusermann mit einem "szenischen Konzert mit Texten von Händl Klaus" sozusagen in eine theatralische Slowfood-Küche einlud. Aber was da über zwei Stunden angerichtet wurde, war kein Superrezept, sondern bestand in der freundlichen Einladung, vom Ergebnis abzusehen und von vorne anzufangen. Hinter den Marktplätzen den Waldrand wieder zu entdecken und mal hören, was er uns flüstert.

"Die Glocken von Innsbruck läuten den Sonntag ein" heißt der Abend. Sie läuten langsam, und man hat den Eindruck, sie suchen nach einem Glockenturm. Zu hören sind sie nur jenseits eines rein gesellschaftlich definierten Lebens und unserer leerlaufenden Tempokultur. Sie verbünden sich mit Tönen, raschelnden Geräuschen, scheppernden Tschinellen, flüsternden Gesängen, Musikinstrumenten und Pappkartons zu einem Material, aus dem Kunst entsteht, Häusermanns und Händls Kunst, die nicht in der Raffinesse, sondern in der bedrohlichen Schlichtheit das Leben entdeckt, was wiederum nicht unraffiniert ist.

Es ist kaum etwas vorbereitet, wie es scheint. Häusermanns Künstler, unter ihnen der Dichter Händl Klaus, laufen auf der Spielfläche herum, beratschlagen, verpassen dem Boden ein quadratisches Muster, das sich abseits auf einem provisorischen Reißbrett spiegelt. Krachend werden vier Klaviere beigeschafft. Bodenplatten werden verlegt, bis sich ein Flusslauf ergibt.

Solche Anfänge bleiben immer irgendwie merkwürdig. Man versteht die Absicht und ist bestenfalls berührt. Aber so einfach ist es hier nicht, es handelt sich schließlich nicht um vorgespiegelte Improvisation, sondern um den Versuch der Produktion. Die Klaviere sind nicht wohltemperiert, sondern "wohlpräpariert". Einige Tasten klingen nach Metall, andere überraschend düster. Irgendwo quietscht es, und ein Overheadprojektor wartet auf seinen Einsatz. Allmählich hat man den richtigen Verdacht, dass wir auf dieser herrlich langwierigen Baustelle, auf der jeder einzelne Ton die Musik macht, in den Kopf des Dichters Händl blicken, der aus seinem erzählerischen Werk vorliest, in dem die ganze Welt zum Detail wird.

Aus den Pappkisten sind inzwischen Häuser geworden, und ein Turm neben einem Klavier ergibt eine Kirche, ländliche Welt. Der Kern der Idylle ist Pappe, unter der sich die Künstler verstecken und Tierstimmen nachmachen.

In seinen kurzen Texten, die Händl Klaus nicht in Richtung Publikum, sondern auf einem Tisch, den er geräuschvoll herumschiebt, hinunterliest, sehr rein und von keiner Umwelt verschmutzt, entdeckt man dennoch wenig Hoffnung. Ein paar Seiten stammen aus seinem ersten Erzählband ("Legenden"). Er klammert die Hauptsachen aus und verweist damit auf das Eigentliche. Händl pflegt eine freundliche Beziehung zum Numinosen und zum Schrecklichen, das ist die stoische Tiroler Schule.

Die "rohe Grit", zum Beispiel, die in einer Händl-Geschichte über den Tod ihrer Bergsteigereltern, die ein Abgrund in sich hineinriss, zur Frohnatur wird, erregt in ihrer Umgebung ein Schaudern. "Freilich genoss Grit . . . ihr Leben." Die Geschichte hat nach dem Tod der Eltern nicht etwa ihre schlimmstmögliche Wendung genommen, sondern gar keine. Eltern tot, Grit nach wie vor fröhlich. Das ist Händls Welt. Alles steht monolithisch und enigmatisch nebeneinander. Kollisionen ohne Unfall. Das Leben ist nicht logisch und auch nicht pathetisch. Es ist aus Pappe, Kameraden.

Alles wird herbeigerufen, "evoziert" wie in der Literatur der Romantik, grüne Wiesen als Projektionen, genauso wie am Ende die Hochhaustower der neuen Unwelt, einer Umwelt, der keine Glocken mehr läuten. Die Klaviere bilden immer neue Formationen und aus dem Gerüstehimmel der Bühne (Muriel Gerstner, Ruedi Häusermann, Ulrich Schneider) knallen Tschinellen zu Boden und geben ein Konzert.

Der Abend ist ein Triumph gesteigerter Wahrnehmung, Kunst, die sich, auch ironisch, auf ihren Anfang besinnt. Aber da der Künstler zwischendurch auch Realist sein muss und auf den Laufstegen des Bildungsbürgertums seine Arbeit begründen soll, sitzt am Ende Händl Klaus vor einem Lesepult und stellt wie bei einer Literaturveranstaltung sein Können zur Disposition.

Zu Abenden wie diesen ist das Theater schon um seines Überlebens willen verpflichtet, damit es mehr als ein modischer Showtempel ist. Dem Besucher wird nichts geschenkt. Oder eben Theater. HELMUT SCHÖDEL

Klimpern gehört zum Geschäft: Ruedi Häusermanns Musiker am wohlpräparierten Klavier Foto: Georg Soulek

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Im Salon der Emotionen

Ute Frevert erforscht in Berlin die Geschichte der Gefühle

Auch kleine Wermutstropfen können schmerzen. Seit die Historikerin Ute Frevert nach Berlin gezogen ist, muss sich die passionierte Gärtnerin mit Balkonien begnügen. Insofern war der Blumenstrauß, den das Friedrich-MeineckeInstitut der Freien Universität Berlin (FU) anlässlich ihrer Antrittsvorlesung am Rednerpult drapiert hatte, in mehr als einer Hinsicht passend. Die Stängel nämlich überragten handbreit den Vasenrand und schienen so das Wirken der neuen Honorarprofessorin zu versinnbildlichen, die mit Vorliebe die Grenzen ihres Fachs überschreitet. Zugleich ergänzten die quittengelben Ranunkeln das Erscheinungsbild der Geehrten, die in Schwarz und Pink ans Mikrophon trat.

Vom Anzug eines männlichen Kollegen würde bei einer derartigen Gelegenheit niemand Notiz nehmen. Das weiß Ute Frevert vermutlich am besten. Ihre Karriere begann schließlich in der Geschlechtergeschichte und mündete schon einmal, nämlich 1991, in eine FU-Berufung. Die damals 36-Jährige führte sich mit einer Lektion über "Bürgertum, Klasse und Geschlecht" im Hörsaal ein und zollte so ihrer akademischen Herkunft Tribut. Inzwischen aber hält sie ihren Bielefelder Ziehvätern Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka eine kulturell erweiterte Historiographie entgegen.

Wer Ute Freverts Arbeit über die Jahre beobachtet und ihre Stationen - Konstanz, Bielefeld, Yale, dazwischen weltweite Gastspiele - verfolgt hat, der kommt zu dem Schluss, dass ihr aktuelles Berliner Projekt alles bündelt, womit sie sich ein halbes Gelehrtenleben lang beschäftigt hat: Die "Geschichte der Gefühle", die Frevert sowohl als Direktorin des gleichnamigen Departements am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) wie auch als FU-Honorarprofessorin vorantreiben will, ist der Kettfaden, der ihr Werk durchzieht. Ob Gender-Studien ("Frauen-Geschichte", 1986), Gepflogenheiten des Duells ("Ehrenmänner", 1995), oder Waffendienst ("Die kasernierte Nation", 2001) - stets waren jede Menge Emotionen im Spiel.

Das Schweigen der Vernunft stürzt den Geschichtswissenschaftler allerdings in massive methodische Probleme. Was verraten Dokumente über die "wahre Empfindung" ihrer Verfasser oder jener Akteure, von denen sie berichten? Ute Frevert hat darauf in ihrer Antrittsvorlesung keine Antwort gegeben, aber die Fallstricke des Unternehmens sind ihr bewusst. Wer vergangene Gefühlswelten erobern und verstehen will, muss, so Frevert, zwei Grundsätze beherzigen: "Es gibt keine Empfindung außerhalb der Sprache." Und: Zu jedem Zeitpunkt bestimmt ein gesellschaftlich definiertes "emotionales Repertoire", was Menschen fühlen und in Bild, Ton und Schrift festhalten können.

Ansonsten aber hat sich die skeptische Fragestellung ihres Vortrags - "Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?" - schnell erledigt, denn Ute Frevert weiß namhafte Gewährsmänner auf ihrer Seite: Lucien Febvre und Johan Huizinga, der 1919 die spannungsreichen Verwerfungen im "Herbst des Mittelalters" untersuchte; Norbert Elias, der den "Prozess der Zivilisation" und die damit einhergehende Modellierung der Affekte skizzierte; schließlich Peter Gay mit seinen umfangreichen Explorationen der bürgerlichen Seelenökonomie.

Sie alle haben Vorlagen und Anregungen geliefert, aber die eigentliche "Nobilitierung" ihres Anliegens wächst Frevert aus einer anderen Richtung zu. Die Neurowissenschaften, die seit den neunziger Jahren den Gefühlen auf der Spur sind und sie - dank bildgebender Verfahren - mitten im Gehirn dingfest gemacht haben, führen Rationalität und Irrationalität zusammen: Aus den Kontrahenten von einst werden siamesische Zwillinge. Dass jedes gesellschaftliche Phänomen - ob Staatenbildung oder Streik, ob Revolution oder Wirtschaftskrise - ganz wesentlich von Gefühlen gesteuert, angeheizt oder gebremst wird, kann niemand mehr bestreiten. Also müssten, wie Frevert meint, diese bislang unterbelichteten Untersuchungsobjekte "im großen Salon, in der Beletage" der Geschichtswissenschaft ein Zuhause finden, statt wie bislang im stillen Kämmerlein vor sich hin zu dämmern.

Wie das gehen soll, zeigen die Nachbardisziplinen: Scham und Stolz sind traditionelle Forschungsfelder der Anthropologie; Politologen beackern das weite Terrain des Vertrauens; Germanisten rekapitulieren die Affektdiskurse des Barock. "Historische Konjunkturen" bestimmter Gefühle nachzuzeichnen, etwa die frühliberale Hausse und wilhelminische Erosion des Vertrauens, steht demnach ebenso auf Freverts Plan wie die Erkundung jener Faktoren, die Affekte urplötzlich aus dem Tiefschlaf reißen und individuelles oder kollektives Handeln antreiben.

Die Kooperation, die Ute Freverts Berufung zwischen FU und Max-Planck-Institut einläutet, ist für beide Seiten vorteilhaft. Die international exzellent vernetzte Historikerin wird ihr ohnehin enges Zeitkorsett allerdings noch enger schnallen müssen. Da kommen Berliner Balkonpflanzen vielleicht doch besser zupass als ausgedehnte neuenglische Blumenrabatten. DORION WEICKMANN

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Wie eine Käseplatte

Quai in der Krise: Frankreichs Kulturpolitik im Ausland

Frankreich hat das Kulturbudget des Quai d'Orsay im Staatshaushalt 2009 drastisch gesenkt. Damit bricht das Land mit der Tradition einer großzügigen staatlichen Kulturförderung, gerade im Ausland. Ein Gespräch mit Olivier Poivre d'Arvor, dem Direktor von CulturesFrance, der Agentur, die für Frankreichs internationale Kulturarbeit zuständig ist.

SZ: Welche politische Idee steckt hinter der Etatkürzung?

Poivre d' Arvor: Der Etat der auswärtigen Kulturinstitute wurde bis zu dreißig Prozent gekürzt. Das heißt, dass die Botschafter weniger Geld für ihre Kulturarbeit haben. Nicht davon betroffen sind französische Schulen im Ausland und das Programm für den Künstleraustausch CulturesFrance. Ich glaube, heute wird der Einfluss eines Landes nicht mehr an der Anzahl der Kulturinstitute und Beamten im Ausland gemessen. Anstatt blindlings Geld in die staatliche Kulturförderung zu pumpen, setzen wir heute vermehrt auf die Finanzierung durch Partner aus der Privatwirtschaft.

SZ: Die Kürzungen sind geographisch unterschiedlich ausgefallen: In den Maghrebstaaten, in China, in der Ukraine und in Deutschland wurde um 15 Prozent gekürzt, in Kuba und Mittelasien sogar um 30 Prozent. Nach welchen Kriterien ist man dabei vorgegangen?

Poivre d' Arvor: Wir müssen die geographische Verteilung unserer Kulturzentren grundlegend neu gestalten. Es ist wichtig, in Afrika oder in prekären Staaten wie dem Irak und Kurdistan präsent zu sein. Ob mit einem britischen, deutschen oder französischen Kulturinstitut: Es geht darum, den Menschen in Krisenregionen den Gedanken der Freiheit zu vermitteln. Innerhalb Europas brauchen wir einen anderen Ansatz. Der Kulturaustausch etwa zwischen Deutschland und Frankreich hat sich verselbständigt, und die Rolle des Staates ist heute nicht mehr dieselbe.

SZ: Dennoch gibt es im Quai d'Orsay Stimmen, die behaupten, Außenminister Kouchner habe es versäumt, sein Budget zu verteidigen, und das gehe jetzt auf Kosten der Kultur.

Poivre d' Arvor: Der Haushalt des Außenministeriums ist in diesem Jahr sogar gestiegen, allerdings zugunsten der Gesundheits- und Entwicklungspolitik. Wir werden in den kommenden Wochen eine Restrukturierung der auswärtigen Kulturpolitik vorstellen. Die sieht nämlich derzeit aus wie eine französische Käseplatte: Wir sind stolz auf ihre Vielseitigkeit, aber es fehlt uns der Überblick. Meiner Vorstellung nach brauchen wir eine einheitliche Struktur, die sich wie das Goethe-Institut in Deutschland selbst für ihr Budget einsetzen kann und eine Präsenz in der Öffentlichkeit hat. Niemand in Frankreich kennt die Instituts Français im Ausland! Wir brauchen eine einheitliche Marke, das heißt ein Zentrum in Paris, das den Kultur- und Wissenschaftsaustausch in den 150 Ländern koordiniert, in denen wir präsent sind.

SZ: Sie wollen die Kulturpolitik im Ausland vom Außenministerium lösen und eine eigenständige Struktur schaffen. Ist das realistisch?

Poivre d' Arvor: Ich denke an eine weitgehend autonome Struktur, die formell natürlich weiterhin dem Außenministerium untersteht, die aber unabhängig von politischen Einflüssen bleibt. Wir brauchen den Austausch mit Unternehmern, Künstlern und Intellektuellen, egal welcher politischen Herkunft. Man sieht es am Beispiel der Goethe- Institute: Natürlich arbeiten die mit den deutschen Botschaften zusammen, sie haben aber gleichzeitig ausreichend Autonomie, um nicht zum Kampfinstrument des Außenministeriums zu werden. Es geht auch darum, Impulse aus der Zivilgesellschaft abzubilden und sich nicht nur administrativen Entscheidungen zu unterwerfen. Kulturarbeit verlangt eine gewisse Kontinuität, man braucht Geduld und Ausdauer. Einen echten kulturellen Dialog baut man wie eine Künstlerkarriere über Jahre und Jahrzehnte auf. Die politischen Verhältnisse ändern sich aber viel schneller.

SZ: Aber auch dafür benötigt man Geld. Der Etat des Goethe-Institutes wird 2009 zum zweiten Mal erhöht, und das Budget des spanischen Instituto Cervantes ist seit 2004 um 66 Prozent gewachsen. Sogar der arg gebeutelte Arts Council of England hat seinen Haushalt wieder aufgestockt.

Poivre d' Arvor: Trotz der Budgetkürzungen haben wir im letzten Jahr das erste Mal seit langem einen Oscar bekommen, für Marion Cotillard in "La vie en rose" von Olivier Dahan. Auch der Literaturnobelpreis ist an einen Franzosen, Jean-Marie Gustave Le Clézio, vergeben worden. Die Dynamik der auswärtigen Kulturpolitik hat heute nicht mehr wie früher mit administrativen Entscheidungen zu tun, die man im Regierungssitz trifft, um die Welt damit zu beglücken. Das ist ein kolonialistischer Gedanke! Die Kulturszene der Vereinigten Staaten hat in Europa über Generationen einen sehr großen Einfluß gehabt, ohne dass es dort je eine konzertierte Kulturpolitik gegeben hätte. Die USA exportieren Träume und geniale Erfindungen, wie zum Beispiel die Jeans. Auch wenn wir uns in Frankreich jetzt langsam von der traditionellen Kulturförderung entfernen, wird das Bild unseres Landes in der Welt nicht darunter leiden.

Interview: Cornelius Wüllenkemper

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Noch immer verkanntes Sommernachtstraumgenie: Zum 200. Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy

Ich habe mit herzlicher Freude daran gearbeitet

Der Weg zur "Antigone" - Mendelssohn als Theaterkomponist / Von Hellmut Flashar

Vielleicht ist es kein Zufall, dass unter Felix Mendelssohn Bartholdys frühen Kompositionen, geschaffen zwischen dem elften und dem zwanzigsten Lebensjahr, allein vier Opern oder Singspiele vertreten sind. Am Anfang steht das komische Singspiel "Die Soldatenliebschaft" (1820) des gerade Elfjährigen; es vertont die Liebesgeschichte zwischen einem französischen Oberst und einer spanischen Gräfin zur Zeit der Besetzung Spaniens durch Napoleon. Dann folgen 1821 "Die beiden Pädagogen" nach einem Text von Eugène Scribe, ferner die komische Oper "Die beiden Neffen oder Der Onkel von Boston", eine harmlose Verwechslungskomödie, sodann "Die Hochzeit des Camacho" nach Cervantes' Don Quichote in der Übersetzung von Ludwig Tieck, und schließlich "Die Heimkehr aus der Fremde", ein Geschenk zur Silberhochzeit der Eltern.

Das waren Übungsstücke und meist nur im privaten Rahmen aufgeführte Kompositionen, die aber bereits die frühe Meisterschaft in der Gestaltung der musikalischen Formen im Blick auf eine lebendige Szenengestaltung verraten.

Das Jahrzehnt, in dem diese frühen Opern entstanden, war von Seiten Mendelssohns mit atemberaubender Aktivität erfüllt: mehr als 100 Kompositionen (Streichquartette, die frühen Streichersymphonien, Klaviersonaten, Orgelmusik, Lieder und Gesänge), Kompositionsunterricht bei Carl Friedrich Zelter, Klavier- und Violinspiel, Sprachen und Literaturen bei den beiden Hauslehrern Karl Wilhelm Ludwig Heyse - Sprachwissenschaftler, Vater des Dichters und Nobelpreisträgers Paul Heyse - sowie bei Johann Gustav Droysen, Historiker des Hellenismus und Verfasser einer Geschichte der preußischen Politik in 14 Bänden.

Das Ergebnis war eine stupende Bildung. Mendelssohn sprach perfekt Französisch und Englisch, was damals nicht selbstverständlich war, und war im Griechischen und Lateinischen kenntnisreicher als jeder Student der Klassischen Philologie heute. Seine Übersetzung der Komödie des Terenz, "Das Mädchen von Andros", ist 1826 sogar gedruckt erschienen. Zelter schickte ein Exemplar an Goethe, den Mendelssohn in der Zeit von 1821 bis 1830 dreimal besucht hat, der begeistert war und das Buch "den Weimarischen Kunstfreunden in den nächsten zu erwartenden Winterabenden" als "belehrende Unterhaltung" empfahl. Und wenn Mendelssohn 1833, mitten in der Arbeit als Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf an seine Schwester Rebecca schreibt: "Sage mir auch, ob ich das Griechische hier wieder vornehmen soll? . . . Kann ich Aeschylos wohl verstehen", so kann man nur staunen. Hinzu kommt die Aktivität in Zelters Singakademie als Chorsänger mit der von Mendelssohn geleiteten krönenden Aufführung der wiederentdeckten Matthäus-Passion Bachs, daneben stand Zeichenunterricht mit dem Ergebnis wunderbarer Aquarelle, die Eindrücke der ersten Reisen in dieser Zeit (vor allem von der Schweizreise) festhalten.

Nach dieser ersten Phase von Schaffen und Lernen zugleich, markiert auch durch die Trennung von dem dominierenden Elternhaus, hat sich Mendelssohn der Oper nicht mehr zugewandt. Zwar war er gewohnt, vom Text her musikalisch zu denken; auch war er auf der Suche nach geeigneten Sujets und es gab Pläne ("Faust", "Hamlet", "Genoveva"), aber dass aus alledem nichts geworden ist, dürfte mehr als ein Zufall sein. Anders im Falle der Schauspielmusik zu den großen literarischen Vorlagen (Shakespeare, griechische Tragödie, biblische Texte), zu denen Mendelssohn jetzt ein vertieftes Verständnis gewonnen hatte.

Da war es denn ein Glücksfall, dass der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. gleich zu Beginn seiner Regentschaft 1840 Mendelssohn, der seit 1835 wieder in Leipzig wohnte, zur Übersiedlung nach Berlin und damit für seine weit gespannten Pläne gewinnen konnte. Am Anfang stand der Kompositionsauftrag für eine Schauspielmusik zur "Antigone" des Sophokles. Das wurde ein großes Ereignis, in dem sich - wenigstens für eine kurze Zeit - mit einer gegen die Staatsraison rebellierenden Antigone ein neu gewonnener Liberalismus Preußens widerspiegeln sollte. Die besten Kräfte sollten nach dem neuesten Stand von Kunst und Wissenschaft agieren, so authentisch wie möglich. Zugrunde gelegt wurde die gerade erschienene Übersetzung von Johann Jakob Donner "im Versmaß des Originals", was Humboldt als Mittel empfohlen hatte, etwas vom Nationalgeist einer Sprache in die andere zu transportieren. Als philologischer Berater fungierte der an der Berliner Universität wirkende August Böckh, der im Hause Mendelssohns das Erdgeschoss gemietet hatte und so mit ihm in natürlichem Kontakt stand. Verantwortlich für die Inszenierung war Ludwig Tieck. Man wollte den antiken Aufführungsbedingungen nahekommen: amphitheatralische Anlage des Theaters mit vorhangloser Bühne, kein Illusionstheater. Die von Mendelssohn erbetene Bühnenmusik sollte indes nicht archaisierend, sondern in der Tonsprache der Gegenwart gehalten sein, aber in strenger Begrenzung auf diejenigen Partien, die auch ursprünglich mit Musik verbunden waren. Also vor allem die Chorlieder (reiner Männerchor), nicht aber die dialogischen und monologischen Sprechszenen. Während bei den Szenen zwischen Chor und Schauspieler melodramatisch dem gesprochenen Wort eine Begleitung von zumeist Streichinstrumenten unterlegt ist.

Diese Vorgaben hat Mendelssohn nicht als Beschränkung empfunden. "Die Chöre knallen, dass es eine wahre Wonne ist, . . . die Aufgabe an sich war herrlich und ich habe mit herzlicher Freude daran gearbeitet." Premiere war am 28. Oktober 1841, der König, alle Minister, das ganze gelehrte Berlin waren anwesend. Es war ein gewaltiger Erfolg. Mendelsohn selbst stand am Pult, ebenso bei den sechs öffentlichen Berliner Vorstellungen dieser überhaupt ersten Präsentation einer griechischen Tragödie auf der Bühne ohne willkürliche Zutaten, nicht mehr als unverbindliche Unterhaltung, sondern als Gegenstand der Auseinandersetzung, als klassizistische Graecomanie durchaus unzureichend charakterisiert.

Die Kombination der sophokleischen Tragödie mit der Musik Mendelssohns wurde zum theatralischen Erfolgsmodell bis mindestens zum Ende des 19. Jahrhunderts mit zahlreichen Aufführungen in Deutschland und in ganz Europa: Paris, Athen, Kopenhagen, London mit 45 ausverkauften Vorstellungen in Covent Garden noch zu Lebzeiten Mendelssohns, ja sogar in New York. Dann aber waren es neue Erfahrungen des Tragischen und ihrer musikalischen Ausdrucksformen, die dieser zunächst nur vereinzelt (Heine, Meyerbeer, Wagner) kritisierten Schauspielmusik ihre unmittelbare Aktualität nahmen, die nach den Jahrzehnten der Unterdrückung seit 1977 gelegentlich den Weg in den Konzertsaal findet, mitunter in halbszenischer Form mit sparsamen theatralischen Effekten.

Der König wollte indes seine weitgespannten Theaterpläne weiterverfolgen. Doch Mendelssohn, obgleich hoch geehrt durch die Ernennung zum Preußischen Generalmusikdirektor für kirchliche und geistliche Musik und durch die Aufnahme in die neu gegründete Klasse für Wissenschaft und Politik des Ordens Pour le mérite, wollte nicht der Hofkomponist des Königs sein und sich von Berlin lösen. Er mochte die Stadt nicht: "Dies ist wahrhaftig ein Nest . . . ich denke mir China nicht viel ärger." Und die Berliner nennt er "kühle, traurige, gedrückte Stockfische". So fand denn die erste Aufführung der ganzen Musik zum "Sommernachtstraum" (die Ouvertüre war schon 1827 komponiert) in Berlin 1843 in Abwesenheit des Komponisten statt. Andere Pläne wie eine Schauspielmusik zum "König Oedipus" des Sophokles und zu den "Eumeniden" des Aischylos kamen nicht zustande, wohl aber schrieb Mendelssohn nach dem bei der "Antigone" erprobten Modell eine Musik zum "Oedipus in Kolonos", dem von Goethe so hochgeschätzten Alterswerk des 90-jährigen Sophokles. Die Erstaufführung, wieder von Mendelssohn selber geleitet, fand in Anwesenheit des Königs im November 1845 statt. Sie war jedoch in ihrer Wirkung in einer gänzlich gewandelten Atmosphäre mit dem Echo der Antigone-Aufführung nicht vergleichbar. Wohl aber war es die Qualität der Musik, die in der Schlussszene ("Überall und ewig müssen wir klagen") an die Matthäus-Passion erinnert und die Affinität des Komponisten zu dem dieser Tragödie innewohnenden Versöhnungsgedanken spüren lässt.

Nur einen Monat später hatte die letzte Schauspielmusik Mendelssohns in Berlin, im Charlottenburger Schloss, Premiere, zur Tragödie "Athalia" von Racine, dessen Dramen damals auch in den deutschen Theatern noch viel gespielt wurden. Die Entstehungsgeschichte der Komposition ist verwickelt: erst nur Frauenchöre, dann gemischter Chor, erst auf den französischen Text, dann auf die deutsche Übersetzung von Ernst Raupach. Die Geschichte von Aufstieg und Fall der grausamen Königstochter Athalia endet mit dem Triumph des alttestamentlichen Gottes, so im Schlusschor: "Durch die ganze Welt ist seine Macht verkündet, Anbetung und Dank sei dir ewig dargebracht." Im Thematischen wie in der musikalischen Gestaltung ist die Nähe zum Oratorium "Elias" spürbar, und es ist wiederum die Verbindung der Kulturen und Religionen, die Mendelssohn in der Tradition seines Großvaters, des Philosophen Moses Mendelssohn, in einer umfassenden Humanität eingebettet sah.

Der Autor lehrte bis zu seiner Emeritierung 1997 in München und hat unter anderem die Studien "Sophokles" (2000) und "Inszenierung der Antike" (erweiterte Neuausgabe 2009) veröffentlicht.

Felix Mendelssohn als Kind dirigierend - kolorierter Holzstich nach einer Zeichnung von Woldemar Friedrich Abb: akg

Felix und seine ebenfalls als Komponistin in Erscheinung getretene Schwester Fanny - vermutlich um 1840. Abb: Ullstein - Lebrecht Music & Arts

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Aquarell und Abgrund

Warum Felix Mendelssohn nie populär geworden ist

Felix Mendelssohn Bartholdy gehört, was den Großteil seines Ouvres angeht, zu den unbekannten Komponisten. Gewiss: "Sommernachtstraum"-Ouvertüre, Geigenkonzert und Italienische Symphonie zählen zu den Popstücken der Klassik, und wer auch nur einmal ein Klavier berührt hat, hat zumindest eines der "Lieder ohne Worte" gespielt.

Aber der große Rest von Mendelssohns Schaffen kann damit nicht konkurrieren. Selbst ein Hauptwerk wie das späte Oratorium "Elias" zählt zu den mit Respekt selten gehörten Stücken - ähnlich der frühe "Paulus", sechs Jahre vor Giuseppe Verdis "Nabucco" erstaufgeführt, den Mendelssohn vorauszuahnen scheint. Ganz zu schweigen von der restlichen Kirchenmusik, die in der gerade von Frieder Bernius abgeschlossenen Gesamtaufnahme bei Carus neun Alben füllt, den Theatermusiken, den Liedern, Kammermusikstücken . . .

Mendelssohn bleibt ein Unbekannter im Musikbetrieb, deshalb kann der 200. Geburtstag weit mehr sein als Pflichterfüllung: Einladung zur Entdeckung eines Kontinents. Doch muss man dafür seine ästhetischen Kategorien gründlich überdenken. Denn die Enttäuschung kann recht groß sein, wenn man sich naiv an diesen Komponisten heranmacht, wenn man Maßstäbe anlegt, die an anderen Komponisten entwickelt wurden.

Geradezu stereotyp wird das Mendelssohn-Verbot der Nationalsozialisten dafür verantwortlich gemacht, dass der Komponist bis heute nicht so recht populär ist. Aber man kann sehr wohl an dieser wohlfeilen These zweifeln. Allein schon weil in den vergangenen Jahrzehnten derart viel Musik mit Erfolg wiederbelebt wurde, die völlig aus dem Bewusstsein verschwunden war.

Um das Phänomen Mendelssohn und seine fehlende Popularität zu begreifen, sollte man den zentralen Chor aus der Schauspielmusik zur "Antigone" des Sophokles studieren, der den Menschen visionär kalt als Höhepunkt alles Seienden beschreibt, aber auch seine Grenzen aufzeigt. Diesen so berühmten wie grundlegenden Text möchte man sich mit den dramatischsten Mitteln, mit den extremsten Finessen der Komponierkunst ausgedeutet denken. Doch Mendelssohn verweigert sich dem. Er schreibt einen beschwingten Chorsatz, volksmusiknah, mit leicht tragischen Untertönen angereichert. Das mag bei erstem Hören völlig unangemessen wirken, aber in dieser Differenz wird Mendelssohns Ästhetik greifbar. Er ist anders als Beethoven, Berlioz oder Wagner kein Komponist, der Extremes mit extremen Mitteln verdeutlicht. Mendelssohn deutet das Extreme immer nur an, er zeichnet es in den Umrissen, drängt es dem Hörer nie gewaltsam auf.

Komponierte Unrast

Mendelssohn fordert den gebildeten, distinguierten Hörer, der in der Phantasie das musikalisch Angestoßene zu Ende denkt. Diese Dezenz findet ihre Entsprechung in Mendelssohns Malerei: Aquarelle sind auch all seine Kompositionen. Selbst seine Feenwelten und Traumgebilde sind nie grelle Abgründe. Geradezu penibel achtet er darauf, dass seine Musik immer in den Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen bleibt und nie den formalen Rahmen sprengt.

Das wird allerdings immer ein wenig dadurch verdeckt, dass Mendelssohn oft Unrast komponiert. Ein Allegro kommt bei ihm meist "vivace", "con fuoco" oder "assai appassionato" daher, und die langsamen Sätze dürfen sich nie zu großen tragischen Szenen aufschwingen, die letzte Dinge mitteilen würden. Gerade diese Vorliebe fürs rasant Elegante stellt viele Interpreten vor Probleme. Oft wirkt die "Sommernachtstraum"-Ouvertüre allzu lang, weil zu brillant gespielt und zu vordergründig. Mendelssohns Dezenz, seine Ablehnung von Experimenten und Extremen fordern einen anderen Weg.

Selten begegnet man ihm. Etwa bei Otto Klemperer, der 1951 die "Italienische" mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen hat (Archipel Records). Dieser nüchterne, allen pathetischen Entladungen reserviert gegenüberstehende Dirigent zieht Mendelssohn auf zwei Ebenen auf, indem er die formale Tadellosigkeit des Stücks mit einer ihr widersprechenden latenten Unruhe grundiert.

Mendelssohn wird bei Klemperer zu einem Komponisten, der sich bewusst, aber immer mit leichtem Unbehagen in den Grenzen des Klassizismus bewegt. Plötzlich weist das Stück weit über alles Absolut-Musikalische hinaus und wird als beängstigendes Psychogramm eines Menschen erlebbar, der mit seiner Kunst den Erfolg in der Mitte der Gesellschaft sucht. Die dabei gemachten Kompromisse werden bei Klemperer offenbar, und erweisen sich als wichtiger als das objektiv Komponierte: Mendelssohn wird da eine tragische Figur der Moderne.

Diesem anderen, gefährdet doppelbödigen Mendelssohn spüren auch Tenor Hans Jörg Mammel und Fortepianist Arthur Schoonderwoerd in ihrem Recital "Auf Flügeln des Gesanges" nach (Carus). Der Vorteil eines historischen Hammerklaviers ist nicht zu überschätzen: Der Furor, den Schoonderwoerd mit hemmungslosem Expressionismus entfacht, wäre auf dem modernen Flügel schlicht unerträglich. Aber ein Fortepiano bleibt, selbst wenn man die Grenzen radikal ausreizt, ein zartes Instrument, selbst die düstersten Visionen atmen eine dunkle Magie fern von schonungslos grellen Albträumen. REINHARD J. BREMBECK

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Genie der Offenheit

Felix, der Glückliche, der Rastlose: Seine Karriere hat viele Facetten

Wer der Person Felix Mendelssohn Bartholdys heute begegnen würde, müsste mit Überraschungen, vielleicht Irritationen rechnen. Nicht weil der "Mozart des 19. Jahrhunderts", wie Robert Schumann ihn nannte, demnach "der hellste Musiker" gewesen wäre, "der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut, und zuerst versöhnt" hätte. Schumanns Mendelssohn-Mozart-Vergleich von 1840 zielt auf klischeehafte Idealisierung, auf Genie, Kunstschönheit, Harmonie. Aber sahen die Zeitgenossen, Wagner und Berlioz ausgenommen, Mendelssohn nur auf solche allzu freundliche Weise? Immerhin ist davon bis heute viel hängengeblieben, unser Mendelssohn-Bild ist "hell" und jünglingshaft geblieben, aber auch leider ein wenig blass.

Was Schumann mit den Widersprüchen der Zeit meinte, scheint klar zu sein - etwa das komplizierte Bündnis von Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Erneuerung, klassischer und romantischer Kunst, aber wohl auch: der Kontrast zwischen dem jüdischen Erbe und der durch Taufe und Kultur protestantischen Prägung. Das bewährte Etikett des "Romantischen Klassizisten" dürfte dem Komponisten noch am ehesten entsprechen. Aber wo ist der Zeitgenosse, der Mensch, der rastlose Funktionsträger in vielerlei musikalischen Berufen?

Musik nur in Auswahl

Unsere Irritation könnte mit einigen Ungewissheiten zu tun haben, die Mendelssohn bis heute zurücklässt. Da ist die noch immer latente Frage nach dem Stil, dem ästhetischen Wesenskern seiner Musik, die sich in ein umfangreiches Oeuvre aller musikalischen Gattungen ergießen konnte. Schwer zu sagen, warum aus Mendelssohns Schaffen nur die bekannten rund fünfzehn Werke aufgeführt werden, die "Schottische" und die "Italienische" Symphonie, das Violinkonzert, die "Hebriden"- und die "Sommernachtstraum"-Ouvertüre, ein paar Klaviertrios, Streichquartette und das frühgeniale Oktett, schließlich ein bunter Strauß "Lieder ohne Worte" sowie die Variations sérieuses für Klavier. Ein Jubiläumsjahr sorgt vielleicht für mehr Neugier.

Da ist die stupende Kreativität eines "Wunderkindes", die allerdings an Mozart erinnert. Ein Knirps von zwölf Jahren konnte durch sein schon "wissendes" Musikertum am Klavier Goethe faszinieren. Ein 18-jähriger war in der Lage, die mirakulöse Musik zum "Sommernachtstraum" zu finden. Und ein 20-jähriger hatte die ungeheurliche Energie, auf eigene idealistische Faust Bachs Matthäus-Passion der Vergessenheit zu entreißen, viele Menschen dafür mitzureißen.

Zwingender als die Suche nach einer stilistischen Etikettierung - und lohnender als die Verblüffung über die frühe künstlerische Mündigkeit - ist bei Mendelssohn auf jeden Fall der Blick auf die Figur selbst, auf sein an Schauplätzen, Reisen, Musik, Arbeit, Ämtern prall gefülltes, doch nur kurzes Leben von 38 Jahren - somit zunächst auf die familiäre Herkunft von Felix, dem "Glücklichen", der von Anfang an aus dem Vollen schöpfen kann. Dieses Künstlerleben kennt so viele Facetten der Verantwortung, dass die Karriere im heutigen Sinn als "modern" gelten kann. Auch da verblüfft das Maß an persönlichem Optimismus und professioneller Sicherheit, womit der Künstler die zahlreichen "Rollen" einer multifunktionalen Laufbahn ausfüllt.

Künstler in Vielfalt

Das Grundgefühl der Sicherheit, das erst kurz vor seinem Tod erschüttert wurde durch den Tod Fannys, der geliebten Schwester, hat mit Mendelssohns großbürgerlicher Herkunft zu tun, mit der bedingungslosen Förderung durch die Eltern, der Intensität seiner Bildung, etwa der Sprach- und Literaturkenntnisse. Großmutter Salomon war es, die dem 14-jährigen, prophetisch, eine Abschrift von Bachs Matthäus-Passion geschenkt hatte. Die neue Biographie von R. Larry Todd (Verlag Carus) entwickelt auf 800 Seiten diese ganze Figur, und der soeben erschienene erste Band der kompletten Briefausgabe (Bärenreiter Verlag, 7000 Briefe werden geschätzt), führt die enorme Regsamkeit dieses Lebens vor Augen.

Die vielen Rollen, die Mendelssohn spielt - vorwiegend in Berlin, Düsseldorf, Leipzig - , zeigen die Vielseitigkeit: Komponist, Pianist, Organist und Kapellmeister, Kammermusiker, Bach- und Händelapostel, Gewandhaus- und Konservatoriumschef in Leipzig. Der Ruhm dieser Zentralfigur des bürgerlichen Musiklebens in Deutschland, eines Europäers, strahlt weit - viele Male reist er nach England, öfters nach Italien, Frankreich, Österreich, in die Schweiz. Und er hat auch noch eine Familie, sorgt mit Frau Cécile für fünf Kinder.

Wahrscheinlich ist, dass Mendelssohn an den Zwängen des beginnenden modernen Musiklebens litt, am Stress rastloser Aktivität. Fast ein Wunder: Seine Musik bleibt dabei frisch, selbstgewiss. Freilich war Überanstrengung, Druck durch den Bildungseifer der Familie und die christliche "Assimilation", früh sein Element. Der Tod nach dem Schlaganfall hat zu tun mit dem überlasteten Leben, der pausenlosen körperlichen geistigen Schwerarbeit. Felix Mendelssohn Bartholdy, ein Künstler der Noblesse, hat sowohl Richard Wagners Antisemitismus als auch den Nazi-Terror überlebt - jetzt könnten wir ihn endlich in aller Herzlichkeit umarmen. WOLFGANG SCHREIBER

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HEUTE

FEUILLETON

Sommernachtstraumgenie

Verkannt: Zum 200. Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy Seite 13

LITERATUR

Das Imperium schlägt zurück

Die CIA finanzierte Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" Seite 14

MEDIEN

Die Kurzarbeiter

Das Telekom-Portal 3min.de verbreitet neue Web-Serien Seite 15

WISSEN

Ein Schrägstrich mit Folgen

Wie sich Google für 40 Minuten selbst matt gesetzt hat Seite 16

www.sueddeutsche.de/kultur

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Der letzte Hippie

Wie wurde Charles Manson zur Kultfigur? Eine Hamburger Schau betreibt Spurensuche

Es mag wie eine Entschuldigung klingen, als sei dem Künstler seine Arbeit etwas peinlich: "Keine Relativierung, keine Verharmlosung, keine Vertuschung" steht erklärend auf dem rosa Titelschild von Thomas Kunzmanns Videoarbeit "killer powered by pop", in der er eine Verbindung zwischen Charles Manson, Andreas Baader und dem militanten Islamismus herstellt.

Doch der moralische Ernst dieser Botschaft scheint im Rahmen des Themas, das in der großen Ausstellung "Man Son 1969" in der Hamburger Kunsthalle behandelt wird, durchaus angebracht zu sein. Die Verklärung von Charles Manson zur Kultfigur, zum Märtyrer, Rebell und exzentrischen Kritiker der amerikanischen Konsum- und Gewaltkultur hat die Figur in den vier Jahrzehnten seit seinen Verbrechen so weit von den Fakten entfernt, dass eine Manson-Ausstellung leicht als Pop-Event missverstanden werden kann.

Ein kleiner Streifzug durch das Internet und die Musikgeschichte reicht völlig aus, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie die Mischung aus psychischer Deformierung, Drogen, Charisma, Gruppenzwang, Größenwahn, Privatideologie und Aggressionen, aus der heraus die mörderischen Exzesse der Manson-Family 1969 erwuchsen, zum Horror-Chic verhübscht wurde. Ob als T-Shirt-Motiv, als Voodoopuppe und Sammelfigur in der Reihe "Celebrity Serial Killers" oder als netter Irrer in der TV-Serie "South Park", ob als Pseudonym für Porno- (Milka Manson) oder Rockstars (Marilyn Manson), selbst auf dem Boden von Müsli-Schalen erscheint Charles Manson als Halloween-Heiliger einer eigensinnigen Jugend.

Betrachtet man die Zerstückelungsmorde der Manson-Family im Jahr 1969 an den Reichen und Schönen von Bel Air aber weder rein moralisch noch leichtfertig als Body-Art-Performance der extremeren Art, ausgeführt von Medien des gesellschaftlichen Verfalls, dann lassen sich in der Biographie von Charles Manson zahlreiche Verknüpfungen geschichtlicher Ereignisse finden, die zum Verständnis seines Extremismus beitragen können - und damit liefert dieser Fall ein interessantes Feld für die Kunst, deren Methoden ja ähnliche Verbindungen zwischen gesellschaftlichen und subjektiven Ereignissen suchen.

Aus diesem Gedanken entwickelten die Kuratoren Frank Barth und Dirck Möllmann im Sockelgeschoss der Galerie der Gegenwart ein ausuferndes künstlerisches Beziehungsgeflecht, das Charles Mansons verirrten Messianismus auf die entscheidenden Ereignisse seiner Zeit, insbesondere des Jahres 1969, bezieht. Die erste Mondlandung und der Vietnamkrieg, Woodstock und Altamont, Hippietum und linker Terrorismus, Drogen und Aufklärung, Esoterik und Technikgläubigkeit sind die historischen Gegensätze, aus denen Mansons absurde Gedankenarchitektur gedeutet wird.

Naive Dekoration

Missbraucht von seiner Mutter, einer Prostituierten, sozialisiert in Heimen und Gefängnissen, schließlich auftauchend in den Hippiekreisen von San Francisco und auf den Partys Hollywoods, entwickelte Manson eine ungezügelte Sehnsucht nach Selbstwert - sie führte dazu, dass er sich ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowierte, wie Jesus sprach und mit denselben Leuten Feten feierte, die er dann abschlachten ließ. Seine krude Philosophie von gesetzloser Libertinage wird in der Ausstellung als monströse Logik ihrer Zeit beschrieben.

Diese Umsetzung als These führt allerdings dazu, dass die Ausstellung als Ganzes gelungener ist als die Exponate, aus denen sie besteht. Viele der rund 100 ausgestellten und vielfach extra für die Ausstellung entwickelten Arbeiten behandeln die historische Komplexität mit naiven Gesten. Die billigen Gegenüberstellungen von Luxus- und Politsymbolen, die Josephine Meckseper unermüdlich und auch hier betreibt, oder das Nachbasteln von Raketenwerfern mit Lippenstiften und Zigarren als Neudeutung des Kalten Kriegs von Elmar Hess sind Beispiele für solche künstlerischen Grundrechenarten. Diesen stehen diverse Arbeiten gegenüber, die so verrätselt sind, dass sie ohne Kataloglektüre völlig unverständlich bleiben, etwa Peter Friedls Leuchtschrift "Neue Straßenverkehrsordnung" als Unendlichkeitszeichen, das ohne Detailinformationen aus der RAF-Geschichte reine Dekoration bleiben muss.

In der großen Menge der Positionen gibt es natürlich auch Gewichtigeres - etwa den Nachbau eines MIT-Experimentes mit Metallwürfeln, einem Roboterarm und Mäusen von 1970 durch Lutz Dammbeck, der militärisch-technokratische Verhaltensforschung aus dieser Zeit in Erinnerung ruft. Und es gibt unterhaltsam gelöste Analogien, etwa unter dem Stichwort "Charlie's Angels", womit die von Manson beherrschten Mörderinnen Susan Atkins, Patricia Krenwinkel und Leslie van Houten ebenso bezeichnet wurden wie die Agentinnen der TV-Serie aus den Siebzigern.

Das Nachvollziehen des Horrors, das, neben vielen anderen, auch Gregor Schneider mit seinem Elektroschock-Schachspiel inszeniert, setzt allerdings nur Ausrufezeichen in einer Schau, die sich primär mit dem Symbolischen beschäftigt, an dem der Manson-Fall so reich ist. Die starke Empfänglichkeit für Zeichen, die typisch für psychotisches Verhalten ist, wird in den unterschiedlichsten Bildsprachen gespiegelt - als Kasperletheater von Stephan Huber, in albtraumhaften Zeichnungen von Dennis Scholl, in den comic-artigen Mansonporträts von Joe Coleman oder den ausgekratzten Gesichtern in den Gemälden von Till Gerhard oder auf den Rockstarfotos von Douglas Gordon.

Intellektuelle wie sinnliche, humorvolle wie historische, rein assoziative wie unmittelbare Zugänge führen den Besucher auf eine Schnitzeljagd nach Aspekten und Motiven, die ihn fordern wie überfordern kann. Und damit ist "Man Son 1969" endlich mal wieder eine Themenausstellung, die anstrengend und nicht nur appetitlich ist. TILL BRIEGLEB

"Man Son 1969. Vom Schrecken der Situation", Hamburger Kunsthalle, bis 26. April. Info: Tel. 040 / 428 131 200. Begleitbuch 9 Euro.

So saßen auch "Charlie's Angels" zusammen, bevor sie loszogen: Till Gerhard, "Wächter der Natur", 2004 © Gerhard 2007

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Tizian bleibt auf der Insel

Großbritannien zahlt 50 Millionen Pfund für "Diana und Actaeon"

Die National Galleries of Scotland und die Londoner National Gallery haben gemeinsam das Tizian-Gemälde "Diana und Actaeon" erworben. Das gaben die Leiter der Museen, John Leighton und Nicholas Penny, am Montag in Edinburgh bekannt. Damit endet eine fünfmonatige Kampagne zu "Rettung des Bildes für die Nation", in deren Verlauf die zu zahlende Summe von 50 Millionen Pfund zusammengetragen wurde. Entstanden 1556-59, ist "Diana und Actaeon" das teuerste Kunstwerk, das die staatlichen Sammlungen Großbritanniens jemals angekauft haben. Bisheriger Rekordhalter war Raffaels "Madonna mit den Nelken", die die National Gallery vor knapp fünf Jahren 22 Millionen gekostet hatte.

Im vergangenen August hatte der Besitzer des Monumentalgemäldes, Francis Egerton, Herzog von Sutherland, entschieden, "Diana und Actaeon" samt seinem Komplementärwerk "Diana und Callisto" der Nation zum Kauf anzubieten. Die Gemälde sind seit 1945 im Rahmen des sogenannten "Bridgewater Loan" als Dauerleihgaben zentrale Exponate der Edinburgher National Gallery of Scotland. Experten betrachten Egertons Preisforderung von 100 Millionen Pfund für beide Werke als günstig; auf dem offenen Kunstmarkt hätte er ohne weiteres das Dreifache erzielen können. Dennoch meinten zahlreiche Kommentatoren, unter ihnen auch Labour-Politiker, es sei in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage nicht zu vertreten, einem der reichsten Männer des Landes eine solche Menge öffentlichen Geldes zu zahlen. Letztlich wurden unter anderem 12,5 Millionen Pfund von der schottischen Regierung beigetragen, 13 Millionen von Kunststiftungen wie dem National Heritage Memorial Fund und dem Art Fund und mehr als 17 Millionen aus den Finanzreserven der Museen selbst.

Bis zuletzt wurde hart über die Bedingungen der Transaktion verhandelt. Zentraler Streitpunkt war dabei der Status der übrigen Leihgaben aus Egertons Sammlung, einer der weltweit bedeutendsten Privatkollektionen Alter Meister. Der "Bridgewater Loan" umfasst nicht nur zwei weitere Gemälde Tizians, sondern auch Raffaels berühmte "Bridgewater-Madonna" sowie Werke von Poussin, Rembrandt, Rubens und Tintoretto.

Die Vertreter der Nationalgalerien rangen dem Herzog in Verhandlungen, die ein Teilnehmer laut Times als "albtraumhaft" bezeichnete, die Garantie ab, in den kommenden 21 Jahren kein weiteres Gemälde aus dem Leihgabenbestand zum Kauf anzubieten. Der hohe Preis wird nun mit dem Argument gerechtfertigt, der Öffentlichkeit insgesamt 28 Meisterwerke durch den Erwerb von zweien gesichert zu haben. Bisher ist allerdings erst ein Tizian bezahlt.

Die Museen haben nun vier Jahre Zeit, unter zunehmend prekären finanziellen Umständen weitere 50 Millionen Pfund für "Diana und Callisto" aufzutreiben.ALEXANDER MENDEN

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Glibbriger Abgrund

Die intellektuellen Folgen des katholischen Debakels

Der Papst der römischen Kirche ist kein UN-Generalsekretär, kein Bundespräsident, kein Chef des Internationalen Roten Kreuzes. Er hat gegenüber den globalen, überwiegend liberal geprägten Öffentlichkeiten keine jener Konsens- und Unparteilichkeitsverpflichtungen, wie sie weltweit oder national sichtbare Ämter wie die genannten mit sich bringen. Nicht einmal die Ökumene mit den anderen christlichen Konfessionen, geschweige der "interreligiöse Dialog" sind für das Oberhaupt der katholischen Kirche verpflichtend.

Gebunden ist der Papst allein an Kern und Überlieferung seiner Glaubenslehre, wie sie in langen Jahrhunderten der Kodifizierung immer strenger und unmissverständlicher gefasst, aber auch wechselnden Zeitbedürfnissen angepasst wurde - Letzteres mit einem Höchstmaß an Zurückhaltung. Das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in Äußerungen des Lehramts, das im Ersten Vatikanischen Konzil 1870 beschlossen wurde, hat den Papst unzerreißbar an diese Tradition gekettet, denn nun hat er jede Freiheit verloren, frühere lehramtliche Äußerungen aufzuheben. Die Übertragung moderner Verfassungsformen, gar demokratischer Art, auf die Kirche ist in diesem System ausgeschlossen.

Diese historischen, einer modernen Gesellschaft zutiefst fremden Bedingungen der Papstkirche sollte sich auch die liberale Öffentlichkeit immer wieder vor Augen rücken. Die radikale Zeitgeistbremse, die darin eingebaut ist, bedeutet auch eine Sicherung gegen Abirrungen gefährlichster Art, wie sie vor allem im frühen zwanzigsten Jahrhundert immer wieder drohten: Der Einspruch der Päpste gegen den rassistisch verschärften Nationalismus und die Behauptung der Menschenwürde gegen den Kommunismus gehören zu den großen Stunden der Kirchengeschichte; wenn man der Kirche hier Vorhaltungen machen kann, dann die, diesen Widerstand gegen herrschende Ideologien der Zeit nicht energisch genug vorgetragen zu haben, vor allem während des Zweiten Weltkriegs unter Papst Pius XII. Solche Zaghaftigkeit beim Verkünden der Wahrheit ist das wichtigste Argument gegen die Seligsprechung dieses überforderten Pontifex.

Die institutionelle Selbstverpflichtung des Papstes auf Kontinuität und Einheit der Kirche über die Jahrhunderte hinweg muss ihn auch das Problem sektiererischer Abspaltungen ernst nehmen lassen. Der augenblicklich - nach Aufhebung der Exkommunikation der traditionalistischen Bischöfe aus der Piusbruderschaft - oft zu hörende Vorwurf, um einer "Splittergruppe" willen setze der Papst die Ökumene, die Freundschaft zum Judentum und die liberale Öffnung der Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil aufs Spiel, nimmt das Problem der Sektenbildung nicht ernst genug. Aus ihrer Geschichte weiß die Kirche, dass aus jeder Splittergruppe eine große Gegenkirche wachsen kann. Die glühende Frömmigkeit, die auch der vollkommen agnostische Zuschauer während einer tridentinischen Messe, samt ihrem Charme der klandestinen Untergrundhandlung, erleben kann, ist ein Menetekel: So volle Kirchen erlebt die derzeitige Amtskirche nur an hohen Feiertagen.

Jede Sekte eine Gegenkirche

Dazu kommt ein kirchenrechtliches Problem von gefährlicher Zweideutigkeit. Die Weihe der lefebvristischen Bischöfe erfolgte 1988 zwar im Dissens mit der römischen Kirche - Versuche, einen Kompromiss zu finden, waren unmittelbar zuvor an den überzogenen Bedingungen von Erzbischof Marcel Lefebvre gescheitert -, aber der sakramentale Charakter der Weihe könnte deswegen gleichwohl unauslöschlich sein. Jedenfalls eröffnete sich hier die Chance einer abweichenden apostolischen Nachfolge mit allen magischen Qualitäten des Priestertums, die eine Heilsanstalt wie die Kirche nicht ignorieren kann.

Hier gibt es eigentlich nur zwei Wege: Kompromiss oder - heute nur bildlich - Auslöschung mit Feuer und Schwert, also mit schärfsten kirchenrechtlichen Sanktionen. Da nicht einmal die Exkommunikation fruchtete, entschloss sich Papst Benedikt XVI., den Weg des Kompromisses zu gehen, die Exkommunikation - nicht die Suspension im Amt - aufzuheben, in der Hoffnung auf weitere Einigungen. Dem liegt eine kirchenpolitische Grundentscheidung zugrunde, die im Pontifikat dieses Papstes bereits mehrfach sichtbar geworden ist: Die innere Einheit der Kirche mit ihrer Tradition ist ihm ein höheres Gut als Ökumene, Dialog mit anderen Religionen oder gar Erfolg bei den liberalen Öffentlichkeiten vor allem der westlichen Welt.

Nicht dass Benedikt all dies ganz ausschlüge: Er hat durchaus Gesten gegenüber dem Judentum und dem Islam - weniger gegenüber den protestantischen Kirchen, denen seine besondere intellektuelle Geringschätzung gilt - getan, die im Rahmen seiner dogmatischen Grundhaltung ein Höchstmaß an Großzügigkeit signalisieren sollten. Dazu kommt eine intellektuelle Offenheit gegenüber der zeitgenössischen Philosophie - beispielsweise im Dialog mit Jürgen Habermas -, die Ratzinger-Benedikt zu einem respektierten Autor auch bei Nichtkatholiken werden ließ. Wann ist das einem Papst zum letzten Mal gelungen?

Der Irrsinn des Möglichen

Doch diesen intellektuellen Kredit hat er nun erst einmal verloren. Die Äußerungen des antisemitischen, verschwörungstheoretisch infizierten Wirrkopfes Williamson sind so ekelerregend, dass beispielsweise die führenden katholischen Intellektuellen Frankreichs, unter ihnen Rémi Brague oder René Girard, sich umgehend von einer Kirche distanzierten, die die Gemeinschaft mit solchen Gestalten sucht. Das muss den Papst weit tiefer treffen als die läppischen Rücktrittsforderungen Hans Küngs oder das ziemlich beispiellose Grummeln des deutschen Episkopats. Dass der Papst zum selben Zeitpunkt einen Hetzer wie Gerhard Maria Wagner zum Weihbischof von Linz ernennt, gehört zu einem vom Vatikan bemerkenswert dilettantisch verfolgten Drehbuch im Genre "ostentative Unabhängigkeit vom Meinungsklima".

Zwar kann die Aufregung der liberalen Öffentlichkeit der Papstkirche bis zu einem gewissen Grade durchaus gleichgültig sein, selbst der Protest eines gefühlvollen, zeitgemäßen Gegenwartschristentums. Weniger aber vielleicht ihre Ausstrahlung bei all jenen, die sich um die geistige Überlieferung der Kirche auch im Kampf mit der Zeit bemühen. Hier nämlich darf man mit großer Kühle feststellen: Was nun, nach der Öffnung der von der Außenluft abgeschlossenen Kapsel Piusbruderschaft ans Licht kommt, ist außerordentlich unattraktiv.

Menschen, die - wie nun auch ein lombardisches Mitglied dieser Gemeinschaft - den Holocaust für historisch inexistent halten, werden auch sonst geneigt sein, alles Mögliche, nur nicht das Vernünftige, für wahr zu halten. Der große katholische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton hat genau diese Drift in den Irrsinn des Allesmöglichen als die größte Gefahr benannt, die vom Unglauben ausgeht. Menschen wie Williamson verhalten sich nicht nur zutiefst verletzend gegenüber den Juden, zumal den überlebenden Opfern; sie zeigen ein gestörtes Verhältnis zu den kommunikativen Grundlagen irdischer, nicht geoffenbarter Wahrheit. Für sie besteht - wie einst für die antifreimaurerischen Gegner der Französischen Revolution - die Weltgeschichte aus lauter Machenschaften hinter den Kulissen. Ihr Geist unterscheidet sich nicht von dem der Reißer eines Dan Brown, nicht einmal vom gnostischen Weltaufriss im "Harry Potter", den Weihbischof Wagner so verdammt.

Angesichts eines so glibbrigen geistigen Abgrunds darf man auch die intellektuellen Sympathisanten der Piusbruderschaft im deutschsprachigen Raum nach ihrem Verhältnis zu dieser Gespensterwelt befragen. Jedenfalls könnte sich die Aufhebung der Exkommunikation der vier Lefebvristen als ein Pyrrhus-Sieg der Traditionalisten erweisen: Schmieriger, abstoßender hat man diesen Untergrund, der doch nur Reinheit in der Tradition sucht, nie gesehen. Vielleicht hat Benedikt XVI. für die dauerhafte Einheit seiner Kirche am Ende mehr getan, als im zunächst bewusst war. GUSTAV SEIBT

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Das Zugangsbuch mit der Chiffre "J"

Aus den eigenen Beständen: Die Ausstellung "Geraubt. Die Bücher der Berliner Juden" in der Berliner Stadtbibliothek

Wer war W. F. Glock, dem "The Limitation of Music" von Eric Blom gehörte? Wie oft hat Dr. Rynarzewski das Buch "Bericht uber den Fingerhut", dessen englische Originalausgabe 1785 erschien, gelesen? Hat Heinrich Kessel eine Ahnung davon gehabt, was einmal in deutschen Städten passieren würde, als er am 4. Juli 1911 seinen Namenszug in Moritz Buesgens Buch "Der Deutsche Wald" setzte? Welches Land und welche Zeit hat A.L. Philippson in seinem Historischen Schulatlas gern gesucht?

Im Foyer der Berliner Stadtbibliothek sind jetzt in der Ausstellung "Raubgut. Die Bücher der Berliner Juden" zahlreiche Bücher zu sehen, die die Bibliothek im Jahre 1943 von der Berliner Pfandleihanstalt erworben hat. Nicht mit großer Begeisterung, muss man wohl sagen, und ohne großes Interesse für ihre ehemaligen Besitzer. Manchmal genügt schon die Wortwahl, um den Charakter einer Korrespondenz zu erahnen. Uber 40 000 Werke aus dem Besitz aus Deutschland "evakuierter Juden", weiß ein nicht namentlich erkennbarer Vertreter der Bibliothek in einem Brief an den Stadtkämmerer vom 25. 3. 43, seien in der Pfandleihanstalt verwahrt. Man habe die Lager in der Elsäßerstr. 74 und in der Thaerstr.31 besichtigt, versucht, sich einen Überblick zu verschaffen. Es sei dort "alles von wertlosem Schund bis zu recht wertvollen Beständen vorhanden, ein großer Teil ist unerwünschtes oder verbotenes Schrifttum, das eingestampft werden muss." Wichtig ist dem Bibliotheksvertreter, dass man "unentgeltlich" zu den Werken gelange. Gemäß einer "Dienstblattverfügung" aus dem Jahre 1942, die den Umgang mit dem Vermögen von "Reichsfeinden" regle.

Nein. Es handle sich, schreibt der Oberbürgermeister am 3. 4. 1943 zurück, um Bücher aus dem Vermögen "umgesiedelter Juden", das nach einer Verordnung aus dem Jahre 1942 ans Reich gefallen sei. Da sei ein Betrag zu entrichten, eingestampft werde nichts. Am 20. April resümiert ein Brief der Pfandleihanstalt an die Stadtbücherei: Für 45 000 Reichsmark habe die Bibliothek die Bücher erworben. Die Käufer wüssten, dass die Bücher aus "Judenwohnungen" stammten. Wichtig ist dem wiederum nicht namentlich erkennbaren Vertreter der Pfandleihanstalt, dass das Speditionsunternehmen, das die Bücher zum Aufbewahrungsort der Bibliothek am Schlossplatz 7a transportieren werde, vom Empfänger zu bezahlen sei.

Man wusste schon seit längerem, dass die Berliner Stadtbibliothek, wie viele andere Büchereien in Deutschland auch, Werke jüdischer Besitzer in ihren Bestand aufgenommen hat. Erst vor kurzem aber entdeckte Detlev Bockenkamm das "Zugangsbuch J", mit den Jahrzahlen 1944/45. Es enthält Titel von 1920 Büchern, die bis zum Ende des Kriegs erfasst wurden. Ein paar Monate nach Kriegsende ging die Arbeit weiter. Was sich änderte, war das Zugangsbuch. Neu wurden die Bestände aus den Wohnungen vertriebener und getöteter Juden unter anderem als "Geschenkzugang" vermerkt, versehen mit dem Herkunftshinweis "Bücherlager".

Makaber harmlos im Regal

Die Ausstellung in der Berliner Stadtbibliothek ist erst ein Anfang. Ein Teil der Bücher, deren Besitzer man nachspüren konnte, sind als kommentierte Einzelstücke in Vitrinen zu sehen. Andere, ohne Eigentümervermerk oder Widmung, stehen, makaber harmlos, in einem friedlichen Stadtbücherei-Regal zur Lektüre bereit. Ein dritter Teil des Bestands ist in einem durchsichtigen Plastikkubus mit Holzrahmen untergebracht. Einundfünfzig weitere solcher Kuben bräuchte es, um alle noch nicht identifizierten Bücher aus der Pfandleihanstalt auszustellen.

Und was geschieht nach dem Ende der Ausstellung? Wenn möglich, erzählt Andrea Gerlach, in der Bibliothek zuständig für die historischen Sammlungen, werde man die Bücher an die Eigentümer oder deren Erben zurückgeben. Bei einem immerhin werde dies gelingen. In einem Artikel im Spiegel, der sich vor einigen Monaten mit dem Problem der geraubten Bücher in ganz Deutschland befasste, wurde zufällig "Für unsere Jugend" von E. Gut genannt, "ein Unterhaltungsbuch für israelitische Kinder und Mädchen", 2. Auflage 1921, das Walter Wolfgang Lachmann gehörte. Der heute Vierundachtzigjährige las den Artikel. Er war am 21.1.1942 mit seiner Großmutter in einem Güterwagen zuerst ins Rigaer Ghetto, von dort ins KZ Kaiserwald verschleppt worden und wurde am im April 1945, typhuskrank und bis auf 87 Pfund abgemagert, von englischen Truppen aus dem KZ Bergen-Belsen befreit. Jetzt ist das Buch noch bis Ende Februar in der Ausstellung zu sehen, danach erhält Walter Lachmann, der seit 1946 in Amerika lebt, es zurück.

Doch warum wurde das Zugangsbuch "J" so lange nicht geprüft? Das "J" war handschriftlich zu "Jegor" ergänzt. Und man wusste, dass in der Bibliothek Bücher aus dem Besitz des Forschungsreisenden Fedor Jegor waren. Doch der starb Ende des 19.Jahrhunderts, seine Bücher kamen viel früher in den Besitz der Bibliothek. Ob die handschriftliche Ergänzung ein Versehen oder eine mutwillige Fälschung war, wird sich kaum mehr feststellen lassen HANS-PETER KUNISCH

"Geraubt. Die Bücher der Berliner Juden." Stadtbibliothek Berlin, bis 28. Februar. Breite Straße 32-34, 10178 Berlin. Info: 030/ 90226- 401 und www.zlb.de

Lektüre mit Blick auf Palästina und den Davidstern. Eines der Exlibris aus der Ausstellung "Geraubt. Die Bücher der Berliner Juden", mit der die Berliner Stadtbibliothek die Erforschung ihrer eigenen Bestände dokumentiert. Foto: Bockenkamm/ Stadtbibliothek Berlin

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Krieg der Bücher - das Imperium schlägt zurück

Ein russisches Buch belegt: Die CIA finanzierte Boris Pasternaks "Doktor Schiwago", um ihm den Literaturnobelpreis zu ermöglichen

Malta, Herbst 1956. Ein Flugzeug auf dem Weg von Mailand nach Rom. Der Pilot muss zwischenlanden, in Malta. Die Passagiere drängeln sich in die Abflughalle, ein paar Männer aber huschen über das Rollfeld, zum Flieger. Sie suchen einen Koffer (ein Paket? einen Luftpostbrief?), aus dem sie eine Mappe mit einem handschriftlichen russischen Manuskript ziehen, aufgegeben vom italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli an seinen Übersetzer. Heimlich bringen die Männer es in ein Büro, heimlich kopieren sie den Stapel. Es sind 600 Seiten. Es dauert zwei Stunden. Dann legen sie den Koffer (das Paket, den Luftpostbrief) zurück. Die Passagiere steigen ein. Nichts ist geschehen. Nur der Lauf der Literaturgeschichte hat eine jähe Wendung genommen: Der amerikanische Geheimdienst (der englische? der holländische?) hat Boris Pasternaks Roman "Doktor Schiwago" gestohlen.

Vielleicht hat es sich wirklich so abgespielt, mit dieser smileyhaften Präzision. Der russische Journalist Iwan Tolstoi hat die Geschichte jedenfalls dreimal gehört: von Isaiah Berlin, der in den Fünfzigern britischer Diplomat war; vom Sohn eines russischen Verlegers; und von Feltrinellis Sohn Carlo. Der Coup auf Malta ist die Schlüsselszene in Iwan Tolstois soeben erschienenem Buch "Pasternaks gewaschener Roman" (Verlag Wremja, Moskau 2009) und der Schlussstein seiner Hypothese: Dass die CIA die russische Erstausgabe von Pasternaks Revolutionsepos im Westen finanzierte und so die Verleihung des Nobelpreises an den Russen im Jahr 1958 ermöglichte.

Im Frühjahr hatte Albert Camus Pasternak nominiert, Voraussetzung für die Auszeichnung aber war eine Veröffentlichung in der Originalsprache. Und die war in der Sowjetunion so wahrscheinlich wie eine Totenmesse für Lenin. Die Liebesgeschichte des Arztes Juri Schiwago und der Krankenschwester Lara, giftete die Zeitschrift Nowyj Mir im September 1956, kranke am "pathologischen Individualismus" des Helden und lasse erkennen, dass der Autor die Revolution für einen "Fehler" halte.

Ein schöneres Empfehlungsschreiben für die CIA war nicht denkbar.

"Die Amerikaner wollten dem Kreml eine Ohrfeige verpassen. Chruschtschow hatte nach dem Tod Stalins einen neuen Kurs angekündigt", sagt Tolstoi am Telefon aus Prag: "Aber die Amerikaner dachten sich: Wir werden der westlichen Linken schon zeigen, was das für eine Freiheit ist! Sie wollten unbedingt einen verbotenen Schriftsteller herausbringen. Sie hatten an Sinjawski gedacht, aber den kannte kein Mensch." Dann stießen sie auf "Doktor Schiwago".

Manuskriptraub am Flughafen

Der Verleger Giangiacomo Feltrinelli hatte im Mai 1956 von Pasternak in Peredelkino bei Moskau eine Abschrift gekauft. Pasternak brauchte Geld, er wünschte sich Leser und verteilte "Schiwago"-Manuskripte an alle Welt, an Feltrinelli, an Isaiah Berlin und französische Slawisten. 1957 kursierten fünf "Schiwagos" zwischen Warschau und Paris. Es war kein Literaturschmuggel, kein kleinkalibriger Samisdat, Pasternak betrieb die globale Vermarktung.

Feltrinelli druckte eine italienische Ausgabe, aber was war mit der russischen? Die Frage brachte Feltrinelli, den Verleger, Kommunisten und rastlosen Revolutionär, in Nöte. Mit einem italienischen "Schiwago" wollte Feltrinelli dem Westen die Größe sowjetischer Literatur vor Augen führen, so Tolstoi: "Eine russische Ausgabe aber hätte bedeutet, dass er sich mit Moskau anlegt, mit dem Kommunismus selbst. Das war eine andere Liga." Dazu kam das Copyright: Feltrinelli hatte Pasternak zwar die Rechte für die weltweite Vermarktung abgekauft, aber er besaß nur eine unkorrigierte Fassung. Und Pasternak hatte in einem Brief erklärt, dass eine russische Ausgabe nur von jener fehlerfreien Version veröffentlicht werden dürfte, die er der Französin Jacqueline de Proyart gegeben hatte.

Feltrinelli stand vor einem Dilemma. Die CIA löste es in Malta.

Tolstois Buch führt zurück in eine Zeit, als der Feind noch erkennbar und Bücher Waffen waren, in ein Universum großer Ideale und noch größeren Verrats. Die Welt war eine Arena für das Kräftemessen der Dienste, die einander unterwanderten, umdrehten und so sehr hassten, wie sie sich ähnelten. In den Siebzigern und Achtzigern finanzierte die CIA im Westen Literaturkontore, betrieben von russischen Emigranten, die halbe Auflagen russischer Exil-Verlage abnahmen und kostenlos an sowjetische Touristen abgaben. "Da habe ich selbst eingekauft", erzählt Iwan Tolstoi: "Es gab alles, was in der Sowjetunion verboten war - Sacharow, Lermontow, Erotisches von Puschkin". Im titanischen Ringen der Ideen war kein Wort zu gering. Am Beginn dieser literarischen Kriegsführung aber stand "Doktor Schiwago".

Nach dem Raub von Malta schickte die CIA je eine Schiwago-Kopie nach Amerika und eine nach Deutschland, ließ das Buch in München in einem Emigranten-Verlag setzen und sandte die Vorlage nach Den Haag, zum Wissenschaftsverlag Mouton. So hat es der holländische Agent Joop van der Wilden einem holländischen Historiker berichtet. 10 000 Dollar zahlten die Amerikaner für den Druck, gegen Quittung erstatteten sie sogar die Kosten für den Laster, mit dem van der Wilden die Bücher abholte. In letzter Sekunde war noch Feltrinelli nach Den Haag gedonnert in seinem blauen Buick, hatte mit einer Klage gedroht und wollte wissen, wie, verdammt, seine "Schiwago"-Variante überhaupt nach Holland gekommen war. Die Holländer stellten sich stur, sprachen von einem privaten, sehr lukrativen Auftrag. Und Feltrinelli entschied, wenn schon eine Raubkopie veröffentlicht werden sollte, dann unter seinem Namen. So druckte Mouton den ersten russischen "Schiwago" in einer Auflage von 1160 Exemplaren im dunkelblauen Cover mit goldener Prägung und einer bibliographischen Angabe - "Feltrinelli, Mailand, 1958" -, an der außer der Jahreszahl nichts stimmte, nicht mal die Umschrift von Feltrinellis Namen ins Russische.

Heute kostet ein Exemplar dieses ersten russischen "Schiwago" 900 Euro. Iwan Tolstois Vater aber, ein Arzt, brachte damals aus Brüssel ein druckfrisches Exemplar für einen Pappenstiel mit nach Russland. Im September 1958 lag das Buch auf der Weltausstellung aus, gegenüber dem gigantischen Komplex der Sowjets, vor dem Pavillon des Vatikans. Pasternak im fernen Peredelkino war überglücklich. Weder er, noch Feltrinelli, noch Mouton wussten etwas von der CIA. Eine russische Ausgabe erschien in Moskau erst zur Zeit der Perestroika.

Unser Mann in Stockholm?

Iwan Tolstoi, entfernt verwandt mit dem Leo Tolstoi, ist Redakteur für Radio Liberty in Prag und hat zwanzig Jahre lang Material über Pasternak gesammelt, Interviews geführt, Memoiren, Verlagsunterlagen und Briefe ausgewertet. In seinem Buch belegt er, was sich belegen lässt, und kreist die verbliebenen weißen Flecken ein. Stockholm ist ein besonders großer Fleck. Hat die CIA, so grübelten unlängst russische Medien, die Auszeichnung Pasternaks nicht nur ermöglicht, sondern auch beeinflusst? Van der Wilden behauptet, im August 1958 habe ihm die CIA erklärt, sie habe "ihren Mann" in Stockholm. Spanische Medien spekulieren nun, wer das sein könnte: UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, Mitglied der Schwedischen Akademie? "Er hätte es tun können, er sympathisierte mit der Idee, einem unterdrückten Künstler zu helfen", sagt Tolstoi: "Es ist plausibel. Sicher ist es nicht."

Als die Schwedische Akademie Pasternak am 23. Oktober 1958 den Literaturnobelpreis zuspricht, ist dieser erst ergriffen, dann betäubt. Ihn trifft die volle Wucht der Sowjetmacht. Die Prawda schmäht ihn als "Stümper", seinen Roman als "Schmutzfleck der sozialistischen Gesellschaft". Sollte er nur einen Funken Anstand im Leib haben, müsse er den Preis zurückgeben. Pasternak rechnet mit seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und schreibt den Kollegen einen selbstmörderisch mutigen Brief: "Sie können mich erschießen, verbannen, tun, was Sie wollen. Ich verzeihe Ihnen schon jetzt. Aber übereilen Sie nichts. Es wird Ihnen kein Glück und keinen Ruhm bringen. Sie wissen, dass Sie mich ohnehin wieder rehabilitieren müssen. Bei Ihrer Praxis ist das ja nicht das erste Mal." Es nützt nichts. Er muss den Preis zurückgeben, wird aus dem Verband ausgeschlossen. Seine Popularität bewahrt ihn vor Schlimmerem.

In Italien, so schreibt ihm Feltrinelli, verkaufe sich sein Roman zehntausendfach. Während aber in Peredelkino Berge von Leserbriefen eintreffen, setzen bolschewistische Blätter eine letzte ungeheuerliche Behauptung in die Welt: "Doktor Schiwago", schreiben sie, sei vom CIA finanziert. SONJA ZEKRI

Der Verleger Giangiacomo Feltrinelli (oben) brachte das Revolutionsepos "Doktor Schiwago" erstmals heraus, in italienischer Übersetzung. Um aber 1958 den Nobelpreis erhalten zu können, musste das Buch auch in der russischen Originalsprache publiziert werden. Dabei half der amerikanische Geheimdienst CIA kräftig nach. Das Bild links zeigt den Schriftsteller Boris Pasternak kurz nach dem Erhalt der Nachricht, dass ihm der Literaturnobelpreis verliehen werde. Fotos: AP, Keystone

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Wetlands

Shocking? England diskutiert über Charlotte Roches "Feuchtgebiete"

Obwohl das offiziell zwiespältige Verhältnis der Briten zur Erotik von jeher Anlass zu hölzernen Bonmots wie "No Sex please, we're British" gibt, hat sie im öffentlichen Alltag der Insel natürlich einen ebenso festen Platz wie in allen anderen westlichen Ländern. Angesichts einer Fülle von Fernsehprogrammen mit Titeln wie "Sexcetera" und "Sexperience" scheint es sogar, als gebe es einen medialen Hang zu Überkompensation des Verklemmungs-Klischees. Der führt dazu, dass nun auf allen Kanälen vornehmlich weibliche Moderatoren einen betont entspannten, praktischen Umgang mit Sex propagieren. Seit ein Londoner Call-Girl unter dem Pseudonym "Belle du Jour" 2003 ihre Memoiren veröffentlichte, ist zudem auch der britische Buchmarkt immer besser bestückt mit fiktionaler wie nichtfiktionaler Ware, die aus weiblicher Perspektive über ein reges, abenteuerliches Sexleben berichtet. Es scheint also, als könne der Zeitpunkt nicht günstiger sein für die Publikation der englischen Übersetzung von Charlotte Roches Ultra-Bestseller "Feuchtgebiete".

Die gemischten Vorab-Besprechungen zu dem Buch, das in England am 5. Februar unter dem Titel "Wetlands" erscheint, spiegeln jedoch vor allem die bereits in Deutschland vonstatten gegangene Debatte wieder, wie bahnbrechend oder befreiend Roches berüchtigt minutiöse Darstellung von Körperfunktionen denn nun eigentlich sei. Rowan Pelling schreibt in der Daily Mail, die Tatsache, dass das alles auf ihn wenig revolutionär wirke, habe womöglich etwas mit den kulturellen Unterschieden zwischen Deutschland und Großbritannien zu tun: "Jeder, der junge betrunkene Frauen auf der Suche nach Eroberungen in den Innenstädten herumziehen sieht, weiß, dass bei dieser Generation aller geheimnisvoller femininer Nimbus nahezu ausgerottet ist."

Danuta Kean wirft der Erzählerin Helen im Independent vor allem vor, sie könne sich zwar schweinisch ausdrücken, aber es fehle ihr an emotionalem Tiefgang. Obwohl Charlotte Roche sie mit ihrem Anspruch, ein feministisches Manifest gegen den Hygieneterror verfasst zu haben, letztlich nicht überzeuge, glaube sie aber, "Feuchtgebiete" sei "gleichauf mit den besten Tabu-brechenden Romanen", so Kean. Es sei ein "Marmite-Buch" - ebenso wie den englischen Hefe-Brotaufstrich könne man es nur hassen oder lieben.

In der Times berichtet Joan Smith sehr ausführlich über den biografischen Hintergrund der in England gebürtigen Roche und kommt zu dem Schluss, dass aufschlussreichste an den "Feuchtgebieten" sei nicht die Pornografie, sondern das komplexbeladene Verhältnis der Protagonistin zu ihren Eltern. Sie vergleicht das Buch mit den Memoiren von Christina Crawford, der geschundenen Tochter der Hollywoodstars Joan Crawford, und befindet: "Die neueste erotische Sensation liest sich ein bisschen zu sehr wie ,Mommy Dearest'."

Nachdem sie beschrieben hat, wie Helen regelmäßig ihre Genitalien über die Klositze öffentlicher Toiletten reibt, meint Sophie Harrison im Observer, als Brite solle man in Zukunft froh darüber sein, dass Deutsche im Urlaub ihre Sonnenliegen nur mit Handtüchern markieren. Stilistisch stört sie vor allem die Wortwahl der englischen Übersetzung. Harrison gibt allerdings auch zu, nicht zu wissen, ob die des deutschen Originals besser ist. ALEXANDER MENDEN

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Mondschein in Asbest

"Petropolis" - das erstaunliche Romandebüt der Anya Ulinich

Kann ein Leben unter einem schlimmeren Unstern beginnen als das von Sascha Goldberg? Ihr Name verrät ihren jüdischen, Haar und Haut ihren afrikanischen Ursprung (Ergebnis eines Festivals der Völkerfreundschaft noch zu Sowjetzeiten), die Klassenkameraden drangsalieren sie, ihr Vater ist nach Amerika abgehauen, aufwachsen muss sie unter der Zuchtrute ihrer halbverrückten Mutter Ljubow, und das alles in einer Stadt am nördlichen Polarkreis mit dem anheimelnden Namen "Asbest 2".

"Die Wohnungen waren zwar inzwischen privatisiert, aber Grund und Boden gehörten immer noch Dem Volk, und Das Volk schnitt nun mal Ecken ab, trampelte Pfade durch Schluchten und über Müllkippen und schlug sich durch die Büsche, zwecks immerwährender Optimierung seiner Wege. Wenn Das Volk schlief, glitzerten seine Fußabdrücke, von Eis verkrustet oder mit Matsch aufgefüllt, im Mondschein wie ein silbernes Band. In klaren Nächten verknüpfte dieses Band die Schule mit dem Schnapsladen, den Schnapsladen mit der Asbestmine, die Mine mit der Leichenhalle und die Leichenhalle mit dem Telefonamt. Ein leicht vorsehbares Diagramm des Alltagslebens in einer Stadt, die nicht fürs Leben geschaffen war."

So, mit einem scharfen Blick für bezeichnende Details, mit Witz in hoffnungslosen Lagen und einer eigenwilligen Poesie, schildert Anya Ulinich, 1973 in Russland geboren und als Siebzehnjährige in die USA ausgewandert, in ihrem ersten Buch den Lebenslauf einer Heldin, der mit ihrem eigenen wohl mehr als zufällige Ähnlichkeiten aufweist. Sascha will um jeden Preis da raus und lässt sich von der Agentur "Amors Bogen" einem Bräutigam in Tucson / Arizona vermitteln, den sie, als sie erst mal drüben ist, leicht entbehren kann.

Ihr verschlungener weiterer Weg führt sie nach New York, sie sucht und findet ihren Vater (diese "menschliche Amöbe" bereitet ihr eine bodenlose Enttäuschung), und es gelingt ihr der Aufstieg in die Existenz einer selbständigen Putzfrau - einer Feng-Shui-Putzfrau mit Visitenkarte, die ihren Kundinnen im links-esoterischen Milieu, ohne mit der Wimper zu zucken, 25 Dollar pro Stunde abknöpft.

Auch ihre siebenjährige Tochter, die sie als Baby zurücklassen musste, holt sie nach; Nadja lernt sofort Englisch und weiß genau, was sie will. "Ich wihl Rucksack, was ihst glänzend!" Das ist komisch und traurig zugleich - und deutet an, wie hellhörig die Übersetzerin Pieke Biermann den hier erforderlichen Ton getroffen hat.

Zwei Vorsilben, ein Satz

Anya Ulinich weiß, wie man Figuren entwirft, die den Leser, auch wenn sie noch so ekelhaft sind, zur Anteilnahme zwingen, und sie weiß, wie man aus den Funken, die beim Zusammenstoß zweier Kulturen fliegen, Licht macht. "Auf dem Weg zum posjolok versucht Sascha, das Lamento der Alten zu übersetzen. Das kurze Wort ponajechali heißt so viel wie ,die sind über einen langen Zeitraum hergekommen und in solchen Mengen, dass sie ein Ärgernis geworden sind'. Oh großartige und mächtige russische Sprache! In ihr entfaltet Brutalität geballte Wirkung. Zwei Vorsilben ersetzen einen ganzen Satz. Plötzlich wird ihr klar, wie sehr ihr Brooklyn fehlt, wo die Leute sich gegenseitig einfach motherfucker nennen." Ein in jeder Hinsicht überraschendes, ein intelligentes, ein humanes Buch.

BURKHARD MÜLLER

ANYA ULINICH: Petropolis. Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Pieke Biermann. dtv, München 2008. 419 Seiten, 14,90 Euro.

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Prag hört mit

Der Europäische Zeitungsverleger- Verband (ENPA) protestiert gegen einen Gesetzentwurf, der in Tschechien die Berichterstattung über das polizeiliche Abhören von Telefonen unter Strafe stellen solle. Die beabsichtigte Gesetzesänderung sehe vor, Verstöße mit ein bis fünf Jahren Gefängnis und Bußen von umgerechnet bis zu 182 000 Euro zu bestrafen. Das Gesetz würde hohe Hürden für einen wirksamen investigativen Journalismus errichten, erklärte ENPA-Präsident Valdo Lehari. Chefredakteure tschechischer Medien hatten schon im November 2008 in einem Offenen Brief gegen das Gesetzesvorhaben protestiert. Das Gesetzesvorhaben liegt derzeit dem Senat in Prag zur Beratung vor. dpa

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Hauptverfahren zugelassen

Das Landgericht Leipzig hat das Hauptverfahren gegen den ehemaligen MDR-Sportchef Wilfried Mohren zugelassen. Wie das Gericht an diesem Montag in Leipzig mitteilte, muss sich der Sportjournalist wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit in 19 Fällen, der Vorteilsannahme in drei Fällen, des neunfachen Betrugs und der Steuerhinterziehung in drei Fällen verantworten. In seiner früheren Fernsehtätigkeit soll Mohren von verschiedenen Firmen und Organisationen Geld angenommen haben. Als Gegenleistung habe er öffentliche Veranstaltungen, die die Geldgeber gesponsert oder organisiert hatten, werbewirksam im MDR-Programm gezeigt. Auf diese Weise sollen Mohren rund 350 000 Euro zugeflossen sein. Termine zur Hauptversammlung wurden noch nicht bestimmt. epd

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Verantwortlich: Christopher Keil

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Jung und gut

ARD schreibt Web-Wettbewerb zum Ehrenamt bis 18 Jahre aus

Tue Gutes und rede darüber - so verfahren meist Großsponsoren aus der Firmenwelt. Vom Einsatz vieler Bürger für das Gemeinwesen wird dagegen vergleichsweise wenig Aufhebens gemacht. Die ARD möchte das mit einer Themenwoche rund um das Ehrenamt vom 10. bis 16. Mai ändern. Ausgeschrieben wird dabei jetzt auch ein Internet-Wettbewerb für Kinder und Jugendliche. Unter dem Motto "Tell.a.vision - Zeig, was du machst" können Jugendliche bis 18 Jahre, sowie Jugendgruppen und Schulklassen die Projekte im Internet vorstellen, für die sie sich ehrenamtlich einsetzen. Dazu gehören Ziel und Besonderheiten ihres Engagements sowie Fotos. Teilnahmebedingungen sind unter www.themenwoche.ard.de abrufbar; sie betreffen besonders die Verwertungsrechte durch die ARD, das Einverständnis der Eltern sowie die Datenformate. Bewerbungen sind ab 23. März möglich. Die Geldpreise, insgesamt 3500 Euro, kommen den ehrenamtlichen Projekten zu Gute. Die Gewinner werden von einer ARD-Jury gekürt, zudem gibt es einen Publikumspreis. SZ

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Nachrichten aus der neuen Welt

Die WAZ spart sich den dpa-Dienst, trifft im Internet aber auf Material der Agentur - die droht nun Strafgelder an

In der Samstag-Ausgabe hatte WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz selbst zur Feder gegriffen, um Sportchef Hans-Josef Justen nach 39 Jahren gebührend in den Ruhestand zu verabschieden. Es war eine Hommage an eine Legende des Sportjournalismus; und zugleich eine Erinnerung an die Zeit, in der Spielberichte aus entlegenen Orten wie Eriwan noch mühsam in die Redaktion gekabelt wurden. Wenn die Telefonleitung hielt. Eine "Glückssache", wie Reitz formulierte.

Heute funktioniert es anders. Da sitzen die Nachrichtenredakteure "den ganzen Tag im Internet (. . .) sind in allen Medien ständig unterwegs und surfen sich durch." So umschrieb der WAZ-Chefredakteur den journalistischen Arbeitsalltag jüngst im TV-Medienmagazin Zapp. Und aus dem weltweiten Netz fischt man unweigerlich auch Nachrichten der Deutschen Presse-Agentur (dpa), selbst wenn man deren Dienste gar nicht mehr bezahlt. So wie die WAZ-Gruppe, die ihren Vertrag mit der dpa für die vier Zeitungstitel in Nordrhein-Westfalen, ihr Online-Portal derwesten.de sowie die Zeitungsgruppe Thüringen nicht verlängert hatte.

Reitz, der erzürnt ist über die Art, wie seine Aussagen von den Zapp-Autoren "tendenziös" zusammengeschnitten worden seien, hatte unter anderem gesagt: "So, wie wir Informationen von dpa benutzen oder weiter daran arbeiten, so machen wir es auch mit anderen Informationsquellen, ohne für diese Informationsquellen zu bezahlen. Vielleicht ist es ein Stück weit die neue Welt."

Doch so fatalistisch will sich die dpa der neuen Welt nicht ausliefern. In einem dreiseitigen Brief wandte sich deren Chefredakteur Wilm Herlyn an die dpa-Kunden. Die Aussagen von Reitz, schrieb Herlyn, seien "ohne Beispiel". Man werde "jeder missbräuchlichen Nutzung unseres Materials nachgehen und sie ahnden".

Die dpa, 1949 gegründet, um Nachrichten für alle Medienhäuser "zu sammeln, zu verarbeiten und zu verbreiten", sieht ihr Geschäftsprinzip bedroht; nach wie vor gehört die dpa den rund 190 Medienunternehmen, die mit maximal 1,5 Prozent an der Agentur beteiligt sind. Dazu gehört auch die WAZ, die im vergangenen Jahr immerhin noch rund 10 000 Euro aus der Gewinnausschüttung verbuchen durfte. Dass ihr Gesellschafter nun nicht mehr Kunde ist, nennt Herlyn "eine Abkehr von dem Solidaritätsprinzip". Bei der WAZ-Gruppe müht man sich, der erregten Debatte die Schärfe zu nehmen. Man habe "keine Lust auf Konfrontation", sagt Geschäftsführer Bodo Hombach. "Wir ermuntern auch niemanden, es uns gleich zu tun". Es sei eine rein strategische Entscheidung für das Prinzip einer Autorenzeitung. "Wir könnten ja den ganzen Mantel nur mit dpa bestücken" so Hombach. "Das Ganze für drei Millionen Euro wäre ein guter Deal." Aber man wolle eben "keinen Einheitsbrei, sondern selbst recherchierte Geschichten".

Daran hegt man bei der dpa Zweifel. In der Hamburger Zentrale sammelt man derzeit vermeintliche Beispiele einer widerrechtlichen dpa-Verwendung. "Wir legen die Hände nicht in den Schoß", sagte Herlyn der Süddeutschen Zeitung. "Wenn es zu arg wird, werden wir da juristisch etwas machen."

Dass die Nachrichtenagentur es ernst meint, legt eine interne Mail nahe, die am 29. Dezember an alle Mitarbeiter des WAZ-Onlineportals versendet wurde. "Wir dürfen bei Androhung eines Strafgeldes von 10 000 Euro ab 1.1.2009 keinerlei Texte und Bilder mehr von DPA verwenden", heißt es in der Rundmail. Das Verbot bezog sich auch auf alte dpa-Artikel, die von WAZ-Computerexperten auch sorgsam aus dem Netz gefischt wurden. Mehr als 90 000 Artikel wurden so vom WAZ-Portal entfernt. "Wir haben den Kollegen mehrfach eingeschärft, die Finger von dpa-Material zu lassen", sagt Online-Chefin Katharina Borchert.

Borchert weiß, wie schmal der Grat ist. Erst am vergangenen Dienstagabend fühlten sich die dpa-Späher wieder bestätigt, als DerWesten.de die Liste der von Schließung bedrohten Hertie-Kaufhäuser in NRW veröffentlichte. Diese Liste hatte die dpa exklusiv vermeldet. Bei der Agentur spricht man inzwischen vom "Fall Hertie". Die WAZ-Onlinechefin dagegen betonte auf SZ-Anfrage, dass man "ganz bewusst die Finger davon gelassen hat, als es eine originäre dpa-Meldung war". Erst als andere Medien ohne dpa-Verweis darüber berichteten und zudem die hauseigenen Print-Kollegen die Agentur-Recherche bestätigten, habe man die Liste in die Meldung eingefügt. Sie finde, sagt Borchert, dass man sich da "völlig korrekt verhalten hat". Sie bedaure sehr, so Borchert, wenn sich die dpa "da vor den Kopf gestoßen fühlt, aber die Aufregung über dieses vermeintliche Beispiel finde ich dann doch unangebracht." Die neue Zeit ist längst angebrochen.

DIRK GRAALMANN

"Wir ermuntern niemanden, es uns gleich zu tun"

Bei der WAZ, das sagte der Chefredakteur Ulrich Reitz neulich im Fernsehmagazin Zapp, sitzen Nachrichtenredakteure den ganzen Tag im Internet, sind in allen Medien unterwegs und "surfen sich durch". Dass sie da auch Nachrichten der dpa finden, ist klar. Das Problem ist nur: die WAZ hat den dpa-Dienst abbestellt. Foto: Werner Otto

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Die Kurzarbeiter

Das Telekom-Portal 3min.de verbreitet neue Web-Serien

Fenster und Türen sind zugemauert, die vergilbten Rollläden heruntergelassen. Die Straße, die sich durch die Häuserzeile schlängelt, ist menschenleer. Ein junger Mann liegt auf einer verrotteten Parkbank, wacht langsam auf. Wo, das weiß er nicht. Als ihm wenig später ein blondes Mädchen ein Brett über den Kopf haut, wohl noch weniger.

Die erste Folge der Webserie Dämmerung tastet sich durch bekannte Untiefen. Was im Independentfilm Blair Witch Project einst der Wald war, ist in Dämmerung ein verlassenes Dorf. Sieben junge Menschen bringt das Schicksal dort zusammen, sie wissen nicht, warum. Ein Kampf ums Überleben beginnt, lauter Gitarrensound dröhnt durchs Netz - zwanzig Folgen, jeweils drei Minuten lang.

"Endzeit-Mystery-Serie" nennen die Macher von Dämmerung ihr Projekt. Die ersten Folgen zeigten die Studenten der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften von der Universität Köln vergangenen Sommer auf ihrer eigenen Website, bis mit der Deutschen Telekom ein Großkonzern anklopfte. Besser gesagt ein konzerneigenes Start-Up, das mit zehn Mitarbeitern und Sitz in Berlin "das erste deutschsprachige Webserien-Portal" auf die Beine stellen will. 3min.de nennt die Telekom ihre neue Internetidee, in der so gar nicht das etwas träge Image des Bonner Telekommunikationsriesen mitschwingen soll. Möglichst hochwertige Inhalte, verpackt in kurzen Folgen, sollen eine junge Zielgruppe ansprechen - von Fiction über Dokumentationen bis Comedy. Im Visier sind die 14- bis 39-Jährigen. Finanzieren muss sich das Angebot über Werbung. Ein ehrgeiziger Plan. Webserien sind in Deutschland bisher alles andere als massenfähig.

In Amerika hat sich die Produktion von kurzen fiktionalen Geschichten für die schnelle Unterhaltung im Internet längst zu einer kleinen Industrie ausgewachsen. Besonders der ehemalige Disneychef Michael Eisner mit seiner Produktionsgesellschaft Vuguru oder Sony Pictures haben sich hervorgetan. Sony füttert mit seinen Webproduktionen ("short form series") eine eigene Plattform namens Crackle.com. So weit hat es die junge Erzählform in Deutschland bei weitem noch nicht gebracht. Nur wenige Kreative erspielten sich bisher im Netz ihre Fangemeinde.

Cemal Atakan ist einer von ihnen. Mit seiner Kunstfigur Tiger Kreuzberg tingelt der Berliner Comedian als türkischer Kiezproll durch Videoseiten wie Youtube oder Myvideo. Man muss es nicht lustig finden, wenn Atakan vor einem Orient-Basar am Kottbusser Tor steht und über die Frisuren der Kreuzberg-Jugend faselt. Viele tun das aber. Und 3min-Geschäftsführer Robert Wagner, 38, ist ganz stolz, dass Atakan in dem neuen Telekom-Portal im Frühjahr eine kleine Talkrunde bekommt. Es gebe viele Lebenswelten, die das klassische Fernsehen so nicht mehr abdecke, sagt Wagner. 3min wolle das versuchen. Ganz ohne Kino- oder TV-Vorlagen scheint so ein Webserien-Portal trotzdem noch nicht auszukommen. So werden auch der Kinofilm Preußisch Gangstar, filetiert in Drei-Minuten-Häppchen, oder das Comedy-Format Kargar trifft den Nagel, zuletzt bei Comedy Central zu sehen, bei 3min laufen.

Auch die Macher von Dämmerung dürfen bald mit Telekom-Geld eine zweite Staffel vorlegen, im Sommer eine weitere "Fantasy-Comedy". Kein Wunder also, dass Martn Bondzio, Sprecher der Kölner Studenten-Gruppe, sagt, dass Webserien eine große Chance seien, etwas auszuprobieren, was dann auch jemand ansehe. Mehr als ein paar tausend Zuschauer in der Woche haben die Filmstudenten bisher zwar nicht erreicht. Dennoch, der wirkliche Vorteil im Internet sei - anders als bei Kurzfilmen - der direkte Kontakt zum Publikum, sagt der 28-jährige Jungfilmer.

Neben deutschen Independent-Formaten sollen vor allem amerikanische Produktionen das neue Telekom-Portal beleben, in synchronisierten Fassungen. Das gab es bisher in Deutschland nicht. Amerikanische Webserien-Hits wie Prom Queen aus der Vuguru-Werkstatt - eine Mischung aus Beverly Hills 90210 und Melrose Place - wurden eingekauft. An die 20 Millionen Zuschauer erreichten die beiden ersten englischsprachigen Staffeln.

Internetfernsehen ist nicht billig

Von solchen Zahlen sind deutsche Anbieter weit entfernt. Was für Georg Ramme, Leiter digitales Fernsehen bei der Berliner Produktionsgesellschaft MME, auch daran liegt, dass viele deutsche Produktionen "bisher schrottig daherkommen". Ramme weiß, wovon er spricht. Für das Netzwerk Myspace Deutschland produzierte er im vergangenen Jahr die Webserie They call us Candy Girls. Vier Mädchen zogen da mit großen Sprüchen durch das Berliner Nachtleben. Für immerhin fast zwei Millionen Abrufe war das gut. Die Nutzerkommentare unter den neunzehn Folgen gerieten allerdings über weite Strecken vernichtend. Dennoch ist nun eine zweite Staffel in Planung, wieder verantwortet von Ramme, der gerade dabei ist, auch eine große Webserie bei bild.de zu starten. Man befinde sich in der Sponsoren-Akquise für eine Candy Girls-Fortsetzung, heißt es bei Myspace.

Bisher begannen genau hier, also beim Geld, die Probleme vieler deutscher fiktionaler Webideen. "Die Finanzierung funktioniert nur, wenn es gelingt, Sponsoren und Werbepartner mit hochwertigen Inhalten zu begeistern", sagt MME-Produzent Ramme. Es sei ein Irrglaube, dass Internetfernsehen billig sein müsse. Ob Großkonzerne wie Springer und Telekom dem jungen Genre nun die nötige Starthilfe geben?

Die Telekom will mit ihrem neuen Webserien-Fundus jedenfalls schon bald ihre Angebote im Handy-TV und mobilen Internet anreichern. 3min-Mann Wagner sagt, dass er fest davon ausgehe, dass die Nutzer im Internet nach Inhalten jenseits der selbstgedrehten Spaßfilmchenflut suchten. Beweisen muss er das erst noch. SIMON FELDMER

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"Weisse Bescheid"

Das ZDF will sich im "Superwahljahr" 2009 als Multimedia-Unternehmen profilieren

Hape Kerkeling fühlt sich beim ZDF offenbar nicht unwohl. Nach dem Erfolg von Ein Mann, ein Fjord im Januar - 7,17 Millionen Zuschauer - kann das Zweite den Komiker (Horst Schlämmer) dosiert einsetzen für die Kampagne: "Mit dem Zweiten sieht man besser." Beispielsweise an diesem Montag in einem Trailer, der die Programmhöhepunkte 2009 auflistete. Gemeinsam präsentierten Intendant Markus Schächter, Programmdirektor Thomas Bellut und Chefredakteur Nikolaus Brender die Höhepunkte des "Superwahljahres" in München.

Für Schächter war der Höhepunkt möglicherweise, dass er das ZDF erstmals wieder schuldenfrei in eine neue Gebührenperiode führen konnte. Das Zweite habe einen "robusten" Jahresstart hingelegt mit 14,3 Prozent Marktanteil und der Spitzenposition im Wettbewerb. Schächter nimmt die von ihm gelenkte Anstalt inzwischen als "Multimedia-Unternehmen" wahr.

500 Millionen Euro investiert das ZDF 2009 in eigenes Programm, 350 davon in Filme, Serien und Mehrteiler. Während andere deinvestieren, wie Schächter meint, investiere das Zweite. Jedenfalls verringert es seinen Ausgaben für Fiktion und Dokumentation nicht.

Seine politische Information will der gebührenfinanzierte Sender stärker als bisher mit dem Internet zusammenführen. Chefredakteur Brender kündigte ein neues Jugendformat mit dem Titel Ich kann Kanzler an. Darin sollen Kandidaten von einer Jury auf ihre Politikfähigkeit getestet werden. Die von Maybrit Illner moderierte politische Talkshow am Donnerstagabend soll in ein paar Monaten mit der Videoplattform YouTube kooperieren. Wie die Zusammenarbeit genau aussieht, konnte Brender noch nicht sagen.

Auch wenn 2009 den Realitäten von Bundestags- und Europawahl, von Landtags-, Kommunalwahlen untergeordnet wird, möchte das ZDF auch unterhalten. Zum einen mit internationaler Lizenzware (Departed, The Good German, American Gangster oder Die Queen), zum anderen mit neuen Serien (Alisa, von 2. März an) und Eigenproduktionen wie Dutschke, dem Seewolf, einem Dreiteiler über die Krupps oder einem Zweiteiler über eine Entführung. Auch an die Varusschlacht vor 2000 Jahren oder das 60-jährige Bestehen des Grundgesetzes wird erinnert. Wie meint Horst Schlämmer: "Da weisse Bescheid." flex

Will Jugendliche 2009 via Internet zum Fernsehen locken: ZDF-Intendant Markus Schächter. Foto: dpa

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Böse Schwester Angela

Vier Monate ist das Debakel der CSU bei der Landtagswahl nun alt - und die Analyse desselbigen hat die Partei nun offiziell beendet. Mittels eines 27-seitigen Papiers, das in der Parteizentrale unter Federführung von Generalsekretär Karl-Theodor zu Guttenberg entstanden ist und dem CSU-Vorstand am Montag vorgelegt wurde. Diverse Umfragen, die Ergebnisse der Regionalkonferenzen, Papiere einzelner Vordenker - all das ist in dem Konvolut zusammengefasst. Zu einem "runden Bild", wie Guttenberg sagt. Zwar räumt er ein, dass "nichts gänzlich Neues dabei" sei, einige interessante Bemerkungen finden sich darin gleichwohl.

Vor allem da hinter jeder Fehlentwicklung stets Menschen stehen und eine Analyse somit schnell zur Schuldzuweisung werden kann. Kein Blatt vor den Mund nimmt die CSU-Führung zum Beispiel, was die Rolle der CDU betrifft. Wie schon die Redner beim Parteitag Ende Oktober geißelt das Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, das "starre Verhalten" der CDU in Sachen Steuersenkungen und Pendlerpauschale. Dass die Schwesterpartei vor der Wahl in diesen Punkten nicht auf die CSU zugegangen sei, habe die Christsozialen als unglaubwürdig und durchsetzungsschwach erscheinen lassen. Neu ist, dass diesmal auch Angela Merkel direkt angegriffen wird: So beklagt die CSU die "mangelnde schwesterliche Unterstützung der CDU-Vorsitzenden". Und zwar fett gedruckt, damit es nicht überlesen wird.

Ein Zweiter, den in der CSU viele als Mitschuldigen sehen, ist Edmund Stoiber mit seiner radikalen Reformpolitik seit dem Wahlerfolg von 2003. Er aber wird in dem Papier geschont. Zwar sei die Zweidrittel-Mehrheit von 2003 "Gift für den weiteren Erfolg der CSU" gewesen, heißt es. Doch: "Die Verantwortung dafür trägt die gesamte Partei." Ein Credo, das CSU-Chef Horst Seehofer auch am Montag nach der Vorstandssitzung wiederholte. Ergänzt um den Hinweis: "Wir waren gut beraten, die Wahlergebnisse nicht zu personalisieren und zu regionalisieren und die notwendige Selbstbeurteilung nicht in eine Selbstgeißelung zu überführen."

Unmotivierte und schlechte

Wahlkämpfer

Doch auch an die eigenen Kandidaten und Funktionsträger richtet sich ein Appell: Viele von ihnen seien für den Wahlkampf nicht motiviert gewesen, das "Wir-Gefühl" habe gefehlt, klagen die Autoren des Papiers, das nun alle Mitglieder bekommen sollen. Das sei besonders fatal gewesen, da die CSU einem nie gekannten "Kritiksturm" ihrer Gegner ausgesetzt gewesen sei: "Weil jahrzehntelang nicht gefordert bzw. seitens der CSU selbst gefördert, war auch das argumentative Vermögen vor Ort, sich mit politischen Gegnern inhaltlich und zugleich offensiv auseinanderzusetzen, nicht sehr ausgeprägt."

Mit dem Wahljahr 2009 steht der CSU nun nach Seehofers Worten ein "Härtetest" bevor. Um verloren gegangene Stimmen wieder zu bekommen, müsse man alte Wählerhochburgen halten, heißt es in dem Papier: Katholiken, Alte, speziell Frauen auf dem Land - dazu frühere Wähler aus den Reihen von Bauern, Mittelständlern und Familien zurückgewinnen. Die vielen Stimmen an FDP und Freie Wähler seien nicht dauerhaft verloren, sie seien nur anderswo im bürgerlichen Lager "geparkt". Dass inzwischen sogar 90 Prozent der CSU-Wähler das Ende der absoluten Mehrheit gut heißen, steht nicht darin. Auch wenn es zu dem gehört, was Seehofer in den vergangenen Wochen am meisten erscheckt hat.Kassian Stroh

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Der Oberhirte verstört die Gläubigen

"Das führt die Kirche zurück ins Mittelalter"

Selbst in der bayerischen Heimat verzweifeln die Katholiken an ihrem Papst: Sie hatten sich Zukunft erwartet

Als Papst Benedikt XVI. vor drei Jahren seine Heimat Bayern besuchte, da glich die Reise einem Triumphzug. Nun aber irritiert der Papst auch die Treuesten der Treuen in seiner Heimat: mit der Integration einer rückwärtsgewandten Christengruppe, mit der Berufung von extrem Konservativen und der Versöhnung gar mit einem Mann wie dem Bischof Richard Williamson, der den Judenmord in Gaskammern leugnet. Die SZ hat sich in Bayern umgehört.

Hanspeter Heinz, 69, pensionierter Theologieprofessor und Pfarrer in Bachern (Landkreis Aichach-Friedberg): Der Papst ist ein sehr intelligenter und gebildeter Mann, aber er hat eine große Schwachstelle: Er hat kein Einschätzungsvermögen für Situationen und in Personalfragen. Dazu kommt ein selbstherrlicher Regierungsstil - weil er nicht nach Rat fragt, kommt es zu Unfällen. Wenn er für die militante Piusbruderschaft ohne Vorbedingungen die Tür öffnet, dann verseucht das das Ansehen des Papstes und der katholischen Kirche und natürlich die Beziehung zu anderen Religionen. Der Papst hat in seiner Amtszeit einige hervorragende Signale gesetzt, aber in dieser Sache muss er zugeben, dass er einen Fehler gemacht hat.

Josef Kaiser, 58, Pfarrer im Papstgeburtsort Marktl am Inn: Es sind ja zwei Sachen: Die Wiederaufnahme von Bischof Williamson ist absolut unverständlich. Ein Mensch, der solche Positionen vertritt, steht immer außerhalb der Kirche. Natürlich hat ein Papst nicht zu spalten, sondern zu einen. Aber das kann nicht sein. Dann ist da aber noch grundsätzlich eine Richtung zu spüren, die rückwärtsgewandt ist. Leider Gottes. Das ist insgesamt schon entmutigend, wenn es wieder hinter das Konzil zurückgeht.

Bodo Dreisbach, 64, Vorsitzender des Pfarrgemeinderats in Maria Himmelfahrt, Bad Tölz: Natürlich ist das ungeschickt, wenn ich einen solchen Bischof zurückhole. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Generell hat er mit seinen Büchern und seiner Enzyklika über die Liebe etwas geschaffen, was wir uns wünschen. Nur passen diverse Entscheidungen nicht in diese Grundhaltung.

Martin Berni, 49, Bruder der ökumenisch-franziskanischen Gemeinschaft San Damiano und Leiter der Straßenambulanz Ingolstadt: Diese Wiederaufnahme ist voll daneben. Leider finden bei Papst Benedikt konservative Strömungen viel mehr Gehör als bei seinem Vorgänger. Ich bin gegen diese Richtung, das führt die Kirche zurück ins Mittelalter. Solche Aussagen wie von Bischof Williamson dürfen von einem Christen nicht kommen, schon gar nicht, wenn er ein Amt bekleidet. Es wurden ganz andere Menschen mit Predigtverbot oder Exkommunikation bestraft, deren Äußerungen weit weniger schlimm waren. Auch den Personenkult um den Papst finde ich sehr übertrieben. Man sollte sich am Leben von Jesus orientieren, da muss man kein Theologe sein, um zu erkennen, was da alles überflüssig ist. Ich kenne viele engagierte Menschen, die über das Vorgehen des Papstes den Kopf schütteln. Diese Leute sind sehr gefestigt in ihrem Glauben, haben aber große Probleme mit der Institution Kirche.

Helmut Mangold, Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken: Diese Diskussion läuft auf mehreren Ebenen. Ich rege mich über Bischof Williamson auf, nicht über die Rückkehr der Pius-Bruderschaft in die katholische Kirche - weil es der Kirche nicht guttut, wenn es zu viele Abweichler gibt. Eines der wichtigsten Ziele von Papst Benedikt ist die Einheit der Christen. Jetzt hat er eine Tür aufgemacht, die man aber nur nach dem Lösen einer Eintrittskarte durchschreiten kann. Für die Pius-Bruderschaft wird das teuer, denn sie muss die päpstliche Autorität und das Zweite Vatikanische Konzil anerkennen. Dazu gehört ganz entscheidend das Dekret über die Religionsfreiheit. Ich finde es wichtig, dass es immer wieder Bewegung gibt. Aber ich hoffe sehr, dass sich solche Ansichten wie der Léfèbvre-Anhänger nicht einschleichen, denn das wäre schlecht für die Ökumene.

Heinrich-Josef Brand, Vorsitzender des Pfarrgemeinderates im unterfränkischen Lohr am Main: Wir hatten gestern Pfarrversammlung und wollten ursprünglich über etwas ganz Anderes sprechen. Dann aber hat unser Pfarrer erklärt, er müsse zunächst etwas Grundsätzliches zu den aktuellen Vorgängen in Rom sagen. Er war dann nicht der einzige. Die Stimmung in unserer Gemeinde ist absolut einhellig: Wir glauben, die Rückkehr der Pius-Bruderschaft zur katholischen Kirche ist das völlig falsche Signal. Wir haben auch keine Angst, das offen zu sagen - es gibt schließlich keine Inquisition mehr, die uns als Ketzer vor Gericht stellen könnte. Wir sehen wohl das Bedürfnis des Heiligen Vaters, verloren gegangene Schäfchen in den Schoß der Kirche zurückzuholen. Wir befürchten aber, dass durch sein Handeln nun andere Gläubige verloren gehen. Um es mit einem Wort zu sagen: Wir sind einfach enttäuscht von der Art, wie der Papst sein Amt interpretiert. An der Spitze der Glaubenskongregation hatte er ja eine ganz bestimmte Rolle auszufüllen. Aber nun als Papst? Da hatten wir uns als Gläubige etwas ganz anderes erwartet.

Maria Geiss-Wittmann, 74, Landesvorsitzende des Beirates von Donum Vitae: Die Kirche hat zu wenig Hoffnung in die Zukunft, zu wenig Vertrauen in die katholischen Laien. Der Papst hofft jetzt, mit einem Rückgriff auf frühere Ansichten die Zukunft meistern zu können - und das halte ich nicht für richtig. Es geht ja gar nicht darum, die Traditionen ad acta zu legen. Aber ein Leben im Geiste der Ahnen, das funktioniert einfach nicht. Dabei geht es doch um die Frage: Was kann die jungen Menschen heute an der Kirche begeistern. Durch einen Rückgriff auf gestern werden die Jungen keine Affinität zur Kirche bekommen. Das tut mir wirklich weh. Wir haben bei unserer Schwangerenkonfliktberatung ständig mit jungen Menschen zu tun, die Orientierung brauchen. In einer rückwärtsgewandten Kirchenpolitik kann ich keinen Weg finden, den wir solchen Menschen anbieten könnten.

Christian Arzberger, 21, Ministrant und Gruppenleiter in München-Allach: Viele Jugendliche sehen die gegen das Vaticanische Konzil gerichtete Entwicklung mit Sorge. Sie halten die katholische Kirche eh schon für zu konservativ und sind unglücklich über die jetzigen Vorgänge. Dass der Vatikan die Bischöfe zuerst exkommuniziert und jetzt einfach seine Meinung ändert, das ist nicht in Ordnung. Benedikt bleibt zwar trotzdem unser bayerischer Papst, aber Freunde macht er sich zurzeit nicht.

Leo Meyer, Pfarrer der Gemeinde St. Bonifaz in Erlangen: Der Papst wird seine Entscheidung überdenken müssen. Ehrlich gesagt: Auf die betreffenden vier Bischöfe können wir getrost verzichten. Die Herren treten vielleicht mal bei irgendeinem Seminar auf - aber an der Kirchenbasis sind die Vier fast nie zu sehen.

heff, kaa, stma, prz, dm, hak

Damals war die Welt noch in Ordnung: Beim Besuch des Papstes 2006 in Bayern huldigten ihm Bischöfe und Gläubige, auch die ganz Kleinen. Fotos: dpa, lok

Benedikt XVI., ein Papst, der lange Schatten wirft - nicht nur hier auf dem Kapellplatz in Altötting, sondern auch, was die Richtung der Kirche betrifft Foto: dpa

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Bayern bleibt grün

Polizisten im Freistaat behalten ihre alten Uniformen

München - Bayerns Polizisten werden weiterhin grün tragen - zumindest in den nächsten fünf Jahren. Um die Frage nämlich, ob der Freistaat nicht doch dem bundesweiten Trend zur blauen Uniform folgen sollte, ging es bei den jüngsten Haushaltsberatungen. Ergebnis: Eine Umstellung der Uniformen sei in dieser Legislaturperiode "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten", teilte Christian Meißner, der innenpolitische Sprecher der CSU-Landtagsfraktion der Polizei mit. Für Hermann Vogelgsang, den stellvertretenden Landesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft DPolG, sind das klare Worte. Und darüber ist er sehr erleichtert.

Ihre Uniform müssen Polizisten selbst kaufen, erhalten jedoch ein Kleidergeld: 22,50 Euro im Monat, steuerfrei. Zur Ausstattung zählen mehr als 40 Kleidungsstücke, darunter sieben Hemden, drei Hosen und vier Jacken. Viele Polizisten, sagt Vogelgsang, hätten bislang gezögert, in die alte grüne Uniform zu investieren. Denn für eine Lederjacke beispielsweise müsse man bis zu 400 Euro zahlen. Davor scheuten viele zurück, so lange unklar war, ob die Dienstjacke nicht ohnehin bald ausrangiert wird. Bei manchem, erzählt Vogelgsang, habe die Uniform "nicht mehr so blendend ausgeschaut".

Bayern ist neben dem Saarland das einzige Bundesland, das keine Umstellung der Uniform plant. So lange sich die Innenminister nicht darauf einigen, Polizisten bundesweit einheitlich einzukleiden, sei das nicht sinnvoll, heißt es aus dem bayerischen Innenressort. Wie teuer die neue Uniform für den Freistaat tatsächlich werde, hänge letztlich davon ab, wie schnell sie eingeführt wird, sagte ein Sprecher. Nordrhein-Westfalen lässt sich die Neueinkleidung von 30 000 Polizisten bis zum Jahresende immerhin 33 Millionen Euro kosten. Mecklenburg-Vorpommern hingegen gewährt den Polizisten eine Übergangsphase von fünf Jahren, in denen sie sich schrittweise neu einkleiden. Während dieser Zeit sind auch blau-grüne Kombinationen möglich. Solche Patchwork-Polizisten sollen für Bayern allerdings kein Vorbild sein.

Die Hansestadt Hamburg führte vor fünf Jahren unter dem damaligen Innensenator Ronald Schill als erstes Bundesland die blauen Polizeiuniformen ein. Inzwischen laufen in zehn weiteren Ländern Polizisten Streife in blau. Die alte Uniform, 1973 vom Modeschöpfer Heinz Oestergaard entworfen und in Deutschland einheitlich eingeführt, gilt nicht nur wegen ihrer schlammgrünen und ockerfarbenen Stoffe als unbeliebt. Im Sommer zu warm, im Winter zu kalt - und zwicken tut sie in jeder Saison, so die oft geäußerte Kritik, die Vogelgsang allerdings nicht mehr gelten lässt: "Da hat sich in den letzten fünf Jahren viel getan, die Stoffe sind bequemer geworden."

Also ist die Wahl zwischen grün und blau eine rein ästhetische? Es habe Bayern nie ganz schlecht getan, ein bisschen anders zu sein, sagt Vogelgsang. "Aber für die Wahrnehmung beim Bürger würde ein einheitliches Erscheinungsbild schon vieles einfacher machen." Denn neben den 33 000 bayerischen Polizisten, sind auch einige tausend Beamte in blauen Uniformen im Freistaat im Einsatz: die der Bundespolizei.Varinia Bernau

Bayerns Polizisten standen Modell für die Playmobil-Figuren. Foto: AP

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Begehrt, begehrter, München

Investoren wählen die Stadt neben Hamburg zum Top-Immobilienstandort in Europa

Von Alfred Dürr

In diesen wirtschaftlichen Krisenzeiten sind positive Nachrichten viel wert. Der deutsche Immobilienmarkt stehe vor einem Boomjahr, heißt es in einer neuen Marktanalyse des Wirtschaftsprüfungsinstituts Pricewaterhouse Coopers (PwC) und der Forschungsorganisation Urban Land Institut. Und es kommt noch besser: In Europa profitierten vor allem München - aber auch Hamburg - vom wiedererwachten Interesse der internationalen Investoren. Die Metropolen im Süden und im Norden Deutschlands zählen nach Ansicht von 500 befragten Immobilienexperten zu den attraktivsten Standorten. Beide Städte locken mit überdurchschnittlichen Erträgen bei vergleichsweise niedrigen Risiken.

Hinsichtlich der Renditeerwartungen als auch der Risikobeurteilung nimmt München nun auf der europäischen Rangliste die Spitzenposition ein. Als sehr attraktiv gilt hier vor allem der private Wohnungsmarkt, für den 50 Prozent der Immobilienexperten eine Kaufempfehlung aussprechen. Im Vorjahr lag die Bayern-Metropole noch auf Platz vier.

Hamburg verbesserte sich vom dritten auf den zweiten Platz. Auf Rang drei folgt Istanbul. Zürich stieg mit seinem jetzigen Platz vier von Rang 17 auf. Dann kommt London auf Nummer fünf. Die Stadt an der Themse verbesserte sich damit von Platz 15 im Jahr 2008. Deutlicher Verlierer ist Moskau. Das heißt, die Investitionsrisiken werden jetzt für die russische Hauptstadt im europäischen Vergleich als besonders hoch angesehen. Moskau stand im Vorjahresranking noch an der Spitze, jetzt reicht es nur für Position sechs. Auf sieben ist Helsinki, auf acht Paris. Berlin konnte seinen neunten Platz halten. Frankfurt rutschte vom siebten auf den zehnten Platz ab. Die Bankenstadt bekomme die Finanzkrise eben besonders deutlich zu spüren, sagen die Fachleute von PwC.

München ist keineswegs eine Insel der Seligen. Auch hier schwächelt im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise der Markt für Büroimmobilien. Aber nicht so stark wie in anderen vergleichbaren Großstädten. Nach sehr erfolgreichen Jahren ist das Transaktionsvolumen bei Immobiliengeschäften deutlich nach unten gegangen. Noch bis zum Herbst vergangenen Jahres hat auch München noch relativ gut von der stabilen wirtschaftlichen Lage und der guten Beschäftigungsentwicklung profitiert. Danach sei aber dann mit dem einbrechenden Büromarkt auch die letzte Bastion im Rezessionskampf gefallen, hieß es in einer Analyse des Beratungsunternehmens Jones Lang LaSalle. Auch in diesem Jahr habe München gute Chancen wieder den höchsten Umsatz aller deutschen Bürostandorte zu erzielen - wenn auch auf niedrigerem Niveau, sagen Immobilienexperten in der bayerischen Landeshauptstadt.

"Es passt gut in die Landschaft, dass in wirtschaftlich schwierigen Zeiten in Standorte wie München investiert wird", kommentiert Kurt Kapp vom städtischen Wirtschaftsreferat die Ergebnisse der PwC-Studie. Kapp ist in der Behörde für den Bereich Wirtschaftsförderung zuständig. München gelte mit seiner breit angelegten Branchenstruktur als werthaltig und krisenfest. Wenn es einem Zweig schlecht gehe, breche nicht gleich die ganze Stadt zusammen. Dabei bekommt man in München gute Immobilien keineswegs zu Schnäppchenpreisen. Doch die Investoren würden immer auch den hohen und beständigen Wert der Immobilien im Auge haben, meint Kapp: "Wir gehen fest davon aus, dass München aus schweren Zeiten auch als erster wieder gestärkt hervorgehen wird."

Der Münchner Markt habe nie solche Preis-Exzesse wie in London oder Moskau erlebt, urteilen die PwC-Experten. Das bedeute: Wo man nicht nach oben schieße, könne man auch nicht hysterisch wieder nach unten fallen.

Auch in der Krise attraktiv: München führt die europäische Rangliste an.

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Torso der Leiche im Wald entdeckt

Spur im Mordfall Markus Schindlbeck führt in die Tschechische Republik

Von Susi Wimmer und Monika Maier-Albang

Im Mordfall Markus Schindlbeck führt jetzt eine Spur in die Tschechische Republik. Dort wurde der Torso des ermordeten Münchners gefunden. Die abgetrennten Arme des 35-Jährigen hatte ein Angler zuvor in der Isar bei Geretsried entdeckt. Die Polizei schließt einen Raubmord nicht aus und ermittelt auch im Homosexuellen-Milieu.

Spaziergänger hatten bereits am 27. Januar einen in schwarzer Folie eingewickelten Torso in einem Waldstück nahe der deutsch-tschechischen Grenze gefunden. Die tschechischen Ermittler konnten aber zu dem Zeitpunkt nicht feststellen, woher die Leiche, von der Arme und Beine sowie der Kopf abgetrennt waren, stammt. Erst nachdem am Freitag in der Isar bei Geretsried zwei Arme gefunden worden waren, ließ sich die Identität des Ermordeten feststellen. Experten in Weilheim untersuchten die Gewebeteile und seit Montag steht fest, dass der in Tschechien gefundene Torso der Körper des ermordeten Münchners Markus Schindlbeck ist.

Der oder die Täter waren offenbar mit dem Leichnam über die Grenze gefahren und hatten ihn rund zehn Kilometer nach Furth im Wald etwas abseits der vielbefahrenen Straße nach Pilsen hinter einem Baum abgeladen. Eingepackt in die Folie war nur der Torso des Ermordeten; seine an der Hüfte abgetrennten Beine fehlen bislang ebenso wie der Kopf und die Fingerkuppen des Ermordeten. Die Fingerkuppen hatte der Täter abgetrennt vermutlich in der Hoffnung, dass der Tote dann nicht so leicht zu identifizieren sei. Die Ermittler konnten allerdings anhand der Handballen die Identität des Toten klären.

Wann genau Markus Schindlbeck ermordet wurde, ist nach wie vor unklar. Das letzte Lebenszeichen des Toten stammt vom 22. Januar, einem Donnerstag. Damals hatte Schindlbeck mit seinen Eltern telefoniert. Die Arme des Ermordeten wurden am vergangenen Freitag in der Isar gefunden, sie lagen zu dem Zeitpunkt aber wohl bereits einige Tage im Wasser. Einen Hinweis auf den Zeitpunkt des Mordes erhoffen sich die Ermittler jetzt vom Anruf eines Zeugen aus dem Raum Miesbach. Der Zeuge glaubt, am 26. oder 27. Januar den Dienstwagen Schindlbecks an einem Kleidercontainer bei Waagkirchen gesehen zu haben. Von dem Auto, einem silberfarbenen Opel Vectra Kombi (Kennzeichen: H-GK 2010) fehlt nach wie vor jede Spur. Nach dem Wagen wird europaweit gefahndet. Auch das Handy des Mordopfers sowie ein Laptop sind spurlos verschwunden. Der Wagen habe eine "Schlüsselrolle" für die Ermittlungen, sagt Polizeisprecher Peter Reichl. Die Polizei bittet Zeugen, die das Fahrzeug gesehen haben, sich zu melden (089/2910-0).

Für die Polizei ist es mittlerweile nicht ausgeschlossen, dass der Mörder von Markus Schindlbeck im Homosexuellen-Milieu zu finden ist. Schindlbeck hatte sich beispielweise bei einer Homosexuellen-Börse im Internet angemeldet und war dort gut bekannt. Mittlerweile sind bei der Polizei etliche Hinweise auf die Person Schindlbeck eingegangen. Der Mann wird als umgänglich und nett beschrieben. "Ein netter Typ, freundlich, aber recht zurückhaltend", sagt auch ein Nachbar aus dem Haus an der Lenggrieser Straße über Markus Schindlbeck. In dem gelbgetünchten, modernen Haus direkt hinter der Großmarkthalle herrscht nach dem Tod des Mieters Entsetzen. Vor der Wohnungstüre von Schindlbeck mit dem messingfarbenen Namensschild haben die Beamten der Spurensicherung noch immer ihre Koffer mit Utensilien auf dem Boden ausgebreitet. "Stopp, hier nicht weiter, Tatortbereich", sagt einer der Polizisten im weißen Schutzanzug. "Wir werden hier noch die ganze Woche zu tun haben", schätzt er und streift sich ein neues Paar Gummihandschuhe über.

Die Polizei geht aufgrund der Blutspuren davon aus, dass Markus Schindlbeck in seiner Wohnung ermordet wurde. Blutspuren, so sagt Erster Kriminalhauptkommissar Wolfgang Wycisk vom Erkennungsdienst, könne der Täter zwar wegwischen, "aber wir können sie mit dem Luminol-Verfahren später wieder sichtbar machen". Die Chemikalie wird großflächig aufgesprüht und dann mit UV-Licht beleuchtet. Fluoriszierende Rückständen können Blut sein - aber auch bestimmte Haushaltsreiniger. Am Tatort in der Lenggrieser Straße gehe es jetzt an die Feinarbeit. Sozusagen jeder Quadratzentimeter wird auf DNS-Spuren hin untersucht. "Was wir am Anfang nicht haben, ist später schwer nachzuermitteln", sagt Kriminaloberrat Ernst Schwanghart. Vermutlich werden die Ermittler auch klären können, ob die Leiche bereits in der Wohnung zerstückelt worden ist.

Spurensuche: Noch am Montag versuchten Ermittler in der Wohnung von Markus Schindlbeck (rechts) Verwertbares zu finden. Der Münchner wurde vermutlich in seiner Wohnung ermordet, sein Leichnam später zerzückelt. Fotos: rob,oh

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Reich an allen Übeln

Im Westen gilt der Sudan als Paria-Staat, und Präsident Bashir droht wegen des Darfur-Konflikts sogar eine Anklage als Völkermörder. Die Hauptstadt Khartum aber erlebt einen enormen Boom. Denn die Sanktionen spürt keiner mehr - dank der Öl-Milliarden und der Hilfe Chinas

Von Arne Perras

Khartum - Pink ist die Farbe des sudanesischen Winters, zumindest hier im Ozone Café. Die Frauen tragen rosa Kopftücher, manche kommen in ausgefransten Jeans und poppigen Turnschuhen. Links unter den Bäumen löffeln sie gerade Schokoeiscreme, am Tisch daneben rühren sie in ihrem Cappuccino und schlürfen Cola. Sie schwatzen und kichern und stellen dicke Brillanten an den Fingern zur Schau. Im Ozone treffen sich die Schönen und Reichen der Stadt. Das hat es früher nicht gegeben im streng islamischen Khartum, der Hauptstadt des Sudan.

Doch nicht nur das Ozone Café verblüfft den Besucher. Es ist noch gar nicht lange her, da wirkte Khartum ruhig und beschaulich, manchmal gar ein wenig schläfrig. Oft war nur die Stimme des Muezzins zu vernehmen, der seine Gläubigen zum Gebet rief. Nun aber gibt überall der Presslufthammer den Ton an. Wohin man blickt, wird gebaggert und gebaut. Die Stadt verwandelt sich rasant.

Nur das herrschende Regime hat seit zwanzig Jahren nicht gewechselt. Khartum ist immer noch die Bastion von Putschistengeneral Omar al-Bashir, der 1989 die gewählte Regierung im Sudan stürzte. Bashir ist der starke Mann am Nil. Aber er ist auch ein Gejagter. Denn die Justiz sitzt ihm im Nacken. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) in Den Haag möchte ihn hinter Gitter bringen. Luis Moreno-Ocampo sieht in ihm einen Völkermörder, den Drahtzieher eines Vernichtungsfeldzuges gegen die Bauernvölker in Darfur, der umkämpften Westprovinz des Sudan. Also hat Ocampo Haftbefehl gegen den 64-Jährigen beantragt.

Der Fall wird Geschichte schreiben: Zum ersten Mal soll sich ein amtierender Präsident vor der internationalen Strafjustiz verantworten. Man rechnet damit, dass die Richter in Kürze über den Antrag Ocampos entscheiden. Und in Khartum wächst die Spannung. Niemand kann abschätzen, wie das Regime reagiert, wenn es noch weiter in die Enge getrieben wird. Unter den Ausländern herrscht Sorge, manchmal blanke Angst. Evakuierungspläne liegen bereit. Auch die Vereinten Nationen, die gleich mit zwei großen Friedensmissionen und mehr als 20 000 Blauhelmen im Sudan stationiert sind, könnten aus dem Land gewiesen werden. Die ausgelassene Stimmung, wie man sie im Ozone Café beobachten kann, ist also trügerisch.

Die Signale der Regierung wirken widersprüchlich. Einmal droht Sicherheitsminister Salah Gosh, dass er für das Wohl der Ausländer nicht mehr garantieren könne, wenn der Haftbefehl kommt. Dann gibt das Regime wieder Beruhigungspillen an Botschaften und UN-Büros aus. Ausländische Vertretungen würden natürlich auf obersten Befehl beschützt, heißt es. Doch in Wahrheit weiß niemand, welche politischen Stürme die Jäger der Justiz entfachen können. Menschenrechtler betrachten den Fall Bashir als Meilenstein auf dem Weg zu globaler Gerechtigkeit. Manche Sudanesen sehen ihn als gefährliches Experiment, das zur politischen Explosion führen kann.

Noch ist Bashir ein freier Mann. Und der Ort, an dem er seinen Machtapparat lenkt, wirkt keineswegs wie die Hauptstadt eines geächteten Paria-Staates. Im Gegenteil: Khartum boomt, wie man es nie zuvor gesehen hat. Das liegt an den Ölquellen im Süden des Sudan, die seit einigen Jahren reichlich sprudeln und Milliarden Petrodollars in die Staatskasse fließen lassen. Sudans Ölvorräte werden auf 700 Millionen Barrel geschätzt. Dies macht das Land zu einem der rohstoffreichsten des Kontinents. Schon jetzt exportiert der Sudan Öl im Wert von acht Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Die Investoren kommen fast alle aus dem Nahen und Fernen Osten. Vor allem Geschäftsleute aus China und der arabischen Welt pumpen Geld in die Wirtschaft. Dass die Weltmacht USA das Land seit Jahren als Sponsor des Terrorismus geißelt und mit harten Wirtschaftssanktionen straft, bremst den Aufschwung von Khartum kaum. Auch europäische Firmen haben sich weitgehend zurückgezogen, hier suchen nun andere ihre Chance. Sudanesische Geschäftsleute schütteln heute nur mitleidig den Kopf, wenn sie von den Amerikanern und den Sanktionen sprechen. Die Strafen schmerzen kaum noch.

Khartums Architektur versprüht wenig Charme, meist glotzen einen nur einfallslose Betonklötze zwischen den mächtigen Moscheen an. Doch manche in der Stadt haben ehrgeizige Pläne, die man im Internet schon besichtigen kann. Sudanesische Unternehmen zaubern dort schillernde Simulationen auf den Bildschirm. "Sudans Antwort auf Dubai oder Shanghai" nennt das der Großunternehmer Osama Daoud, der zum Gespräch in seine edle Firmenzentrale geladen hat und sich gerade eine Schüssel mit knackigen Ökosalaten servieren lässt. In der Computeranimation, die er präsentiert, wird die Stadt am Nil gleichsam neu erfunden. Glaspaläste ragen in den Himmel, Luxushotels, Bankentürme, Golfplätze, Shopping-Malls. Es geht um den besten und teuersten Platz am Ort, die Landzunge Almogran. Vier Milliarden US-Dollar sollen in diesem Dreieck investiert werden. Dort treffen der weiße Nil und der blaue Nil zusammen, dort bieten sich grandiose Blicke auf den Zusammenfluss der beiden großen Ströme, wie sie nirgendwo sonst zu finden sind. "Ein Geschenk Gottes", schwärmt Amir Diglal, der sich als PR-Manager des Unternehmens vorstellt.

Noch ist es vor allem eine virtuelle Welt. Aber es wird schon fleißig an ihr gebaut. "Willkommen im Central Business District", sagt Diglal strahlend. Soeben hat er seine weiße Limousine mitten hineingesteuert in die gigantische Grube, aus der Khartums Zukunft erstehen soll. Das Gebiet erinnert auf den ersten Blick eher an einen großen Bombenkrater. Doch am Rand sind schon die ersten fertigen Bauten zu besichtigen: zwei Bürotürme, Giganten aus Stahl, Beton und Glas.

Der Gedanke an Shanghai liegt gar nicht so fern, denn überall stiefeln chinesische Bauarbeiter durchs Revier, sie messen, graben, rechnen. Alle winken freundlich, aber ein längeres Gespräch kommt nicht zustande. Ihr Chef ist all die Tage nicht zu sprechen. "Zu beschäftigt", heißt es. Man darf schließlich Fragen per E-Mail schicken, doch auch die werden nie beantwortet. Sie sind scheu, die Chinesen in Afrika, sie meiden das Rampenlicht. "Sie arbeiten immer sehr hart", sagt Diglal, als müsse er sie entschuldigen. "Und sie sind bereit, Risiken einzugehen." Der Friede zwischen Nord- und Südsudan ist noch recht brüchig. Und im wilden Westen von Darfur jagen Reitermilizen der Regierung immer noch hinter den Rebellen her.

Für Khartum ist die Achse nach Peking von größter Bedeutung. Nicht nur ökonomisch, auch politisch. Denn China hält bislang seine schützende Hand über das im Westen verrufene Regime. Als Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat kann es harte Strafen gegen die Regierung am Nil verhindern. Peking ist der wichtigste Pate, den Khartum hat.

Auf der anderen Seite des weißen Nils, in der quirligen Schwesterstadt Omdurman, wirkt alles noch etwas uriger als drüben in Khartum. Hier stößt man nicht auf ehrgeizige Zukunftspläne, sondern auf die Spuren einer bewegten, oft blutigen Geschichte. An den Ufern sprießt heute auf kleinen Feldern Salat oder Gemüse, doch entlang der Straße sind noch ockerfarbene Erdwälle mit Schießscharten erhalten. In Omdurman tobten einst grimmige Kämpfe, hier stemmten sich die Mahdisten gegen die britischen Eroberer unter dem Befehl von Horatio Herbert Kitchener. Man schrieb das Jahr 1898, 13 Jahre zuvor hatten die Truppen des Mahdi den Gouverneur Charles Gordon in Khartum erdolcht und seinen Kopf als Trophäe aufgepflanzt. Diese Schmach war in London nicht vergessen. Nun rückte Kitchener an zur großen Revanche. Die Mahdisten sollten wissen, dass niemand die Weltmacht ungestraft herausforderte.

Am Nil prallten nicht nur zwei ungleiche Armeen, sondern Welten aufeinander: 52 000 Krieger der Mahdisten mit Trommeln, Speeren und alten Gewehren stürmten gegen eine moderne Kolonialarmee an: 25 000 Briten, Sudanesen und Ägypter, bewaffnet mit Dudelsäcken, der neuesten Artillerie und gepanzerten Kanonenbooten. Von den Briten fielen damals einige Dutzend Soldaten - die Mahdisten verloren 9700 Mann.

Kräfte aus dem abendländischen Westen fanden im Sudan also erbitterten Widerstand. Kein Wunder, dass Militärmachthaber Omar al-Bashir heute noch die antikolonialen Reflexe zu beleben versucht, wenn er vor dem imperialen Verschwörertum warnt, das den Sudan nun wieder bedrohe. Natürlich rechnet er auch Chefankläger Ocampo in Den Haag zu diesen finsteren Mächten.

Die Menschen in Khartum bekommen ihren Präsidenten nicht allzu häufig zu sehen. Viel Charisma wird ihm nicht zugeschrieben, ganz anders als seinem früheren Weggenossen und heutigen Rivalen, dem Islam-Gelehrten Hassan al-Turabi. Der frühere Chefideologe und heutige Oppositionelle ist gerade wieder einmal verhaftet worden, weil er Bashir öffentlich aufgefordert hatte, er möge sich den Richtern in Den Haag stellen. Es dauerte nicht lange, bis die Geheimdienstoffiziere den alten Mann mit den listigen Augen aus seinem Haus holten und mit ihm davonfuhren. Der 76-Jährige sitzt nun in Einzelhaft, seine Familie bangt um seine Gesundheit.

Die Geheimdienste haben ihre Ohren überall in der Stadt. Meist scheuen die Menschen ein offenes Gespräch auf der Straße, aber es lassen sich doch Plätze finden, wo sie ihre Meinung sagen. Eine junge Frau, die Tee verkauft, würde Bashir niemals im Leben ihre Stimme geben. "Hätten sie ihn doch schon nach Den Haag geholt", sagt sie. "Es ist höchste Zeit." Mit ihrem Job als Teefrau kann sie hier gerade überleben. Zwei Drittel der Sudanesen leiden unter bitterer Armut. Daran werden auch neue Glitzerfassaden in der Hauptstadt nichts ändern.

Wer sich am Straßenrand zu einer Tasse Tee niederlässt, kann erahnen, wie viele Welten der Sudan, Afrikas größter Staat, umfasst. Hier in Khartum blitzen sie alle irgendwo auf: Man sieht hünenhafte Dinkas vorbeilaufen, die in den Sümpfen und Savannen des Südsudan zu Hause sind. Arabische Nilbauern steuern ihre Eselskarren durch die Stadt. Neureiche Geschäftsleute lassen sich in Luxuslimousinen herumchauffieren. Nubier und Fur, Beja und Shilluk, Nuer und Masalit - Menschen vieler Ethnien ballen sich hier zusammen und suchen nach ihrem Platz in Khartum. Vom neuen Reichtum profitiert die Masse bislang nicht.

Eine Regierung, die dem ganzen Volk verpflichtet wäre, würde mehr gegen die Armut unternehmen. Doch sie ist nicht in Sicht. Eigentlich müssten in diesem Jahr Wahlen im Sudan stattfinden, doch niemand glaubt so recht daran, dass Bashirs Partei ein Votum wagen wird. Seine Macht stützt sich auf die Sicherheitskräfte, er entstammt, wie die meisten Minister und höchsten Beamten, einer kleinen privilegierten Schicht aus dem Niltal, die in sauberen demokratischen Wahlen niemals triumphieren könnte.

Fahrt auf der Nile Street: Links tanzen die Wellen des blauen Nils, rechts reihen sich Ministerien in schmucken Kolonialgebäuden aneinander. Hohe Alleebäume säumen die Straße, und bald signalisiert ein Polizeiposten, dass man nun gleich den weißen Präsidentenpalast passieren wird. Dort, auf den steinernen Stufen, fand einst Gouverneur Gordon den Tod.

Heute ist es General Bashir, der vom Palast aus seine Geheimdienste lenkt, das Militär und die Minister. Es ist eine recht kleine Gruppe von Getreuen, die er um sich geschart hat. Wie treu sie wirklich sind, wird er bald noch spüren, wenn der Druck auf ihn größer wird. "Wenn Bashir gehen muss, könnte es sogar passieren, dass noch radikalere Kräfte die Macht an sich reißen", sagt ein westlicher Beobachter. Nicht nur unter Ausländern, auch in der sudanesischen Geschäftswelt wächst die Nervosität. Kaum einer ist bereit, Bashirs Politik in Darfur noch zu verteidigen. Selbst ein Präsidentenberater sagt: "Es ist der Kernfehler aller Regierungen gewesen, dass wir so viele Ressourcen in Kriegen verschwendet haben, die wir nicht gewinnen konnten." Einst war es der Kampf gegen die Rebellen im Süden, nun ist es der gnadenlose Feldzug gegen Aufständische in Darfur. Aber früher ist es dem Regime wenigstens noch gelungen, seine Schlachten in der Ferne zu schlagen. "Unsere Kriege haben nie die Cocktailpartys in Khartum gestört", sagt ein wohlhabender Sudanese, der die wahren Verhältnisse in der Hauptstadt des Alkoholverbots kennt.

Inzwischen aber muss sich das Regime doch bedroht fühlen. Die Rebellengruppe Jem aus Darfur hat es bei einem Angriff im vergangenen Jahr schon einmal bis nach Omdurman geschafft - ein Schock für die Armee Bashirs. Und dann kam auch noch die Sache mit dem Haftbefehl.

"Wir brauchen Stabilität, um den Sudan zu entwickeln. Mit einer Anklage schafft man hier keinen Frieden", glaubt ein Geschäftsmann, der seinen Namen nicht genannt wissen möchte. Manche haben Angst, dass die Jagd nach Bashir den Sudan noch tiefer ins Chaos stürzt. Noch hält ein fragiler Friede zwischen den früheren Rebellen des Südsudan und der Regierung in Khartum. Doch es gibt warnende Stimmen, dass der Haftbefehl auch diese Annäherung untergraben könnte. Vielleicht schwächen die Ankläger in Den Haag den Präsidenten tatsächlich so weit, dass er die Kontrolle verliert. Slobodan Milosevic ist es so in Belgrad ergangen. Nur weiß im Falle des Sudan niemand, wie es dann weitergeht. Wer übernimmt die Macht? Kehrt Frieden ein in Darfur oder eskaliert der Krieg? Brechen alte Konflikte wieder auf? Oder werden neue entzündet?

Komplizierte Fragen, aber manche sehen die Dinge viel einfacher. Ein Fischhändler in Khartum sagt: "Wenn ich etwas verbrochen habe, dann muss ich ins Gefängnis. Warum soll es dem General anders ergehen als mir?" Fische werde es auch noch geben, wenn Bashir fort sei, meint er und lächelt. Khartum liegt ja am Nil. Und der fließt immer weiter.

Unter den Ausländern herrscht die blanke Angst

Der alte Gegenspieler sitzt nun in Einzelhaft

"Unsere Kriege haben nie die Cocktailpartys gestört"

Gejagt von der internationalen Strafjustiz: Präsident Omar al-Bashir soll sich als erster amtierender Präsident in Den Haag verantworten. Reuters

"Sudans Antwort auf Dubai oder Shanghai": In Khartum wachsen Geschäftstürme in den Himmel, doch zugleich wächst die politische Unsicherheit. Foto: laif

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Sterne, Gift und königliche Rache

Der große Astronom Tycho Brahe wurde möglicherweise Opfer eines Mordanschlags. Mehr als 400 Jahre nach seinem Tod wollen Wissenschaftler den Fall klären

Von Klaus Brill

Prag - Es muss ihm schlechtgegangen sein in seinen letzten Tagen, sehr schlecht. Nach dem, was überliefert ist, nahm Tycho Brahe im Oktober 1601 am Hof des Kaisers Rudolph II. in Prag an einem Festbankett teil, bei dem er plötzlich einen starken Harndrang verspürte. Der Etikette wegen soll er sich jedoch nicht getraut haben, sich von der Tafel zu entfernen, weshalb ihm dann die Blase gerissen sei. Zehn Tage später starb er 53-jährig unter Schmerzen, und man kann nicht einmal sagen, dass er wenigstens danach in seinem Grab in der prachtvollen Prager Teynkirche sanft geruht habe. 1901 schob man die schwere Marmorplatte, die ihn im Halbrelief in vollem Harnisch mit einem Globus zeigt, beiseite, entnahm verbliebene Kleidungsstücke und bettete die Gebeine in einen neuen Sarg. Und wenn es jetzt nach ein paar dänischen Forschern geht, dann soll er demnächst erneut in seiner Totenruhe gestört werden.

Tycho Brahe ist nicht irgendwer, und ein Mordverdacht ist keine Bagatelle, auch wenn das Opfer nun schon mehr als 400 Jahre in der Teynkirche liegt. Dänische Archäologen und Geschichtsforscher sind einem historischen Komplott auf der Spur, in das höchste Zelebritäten verwickelt gewesen sein sollen. Wenn's stimmt, dann müssten die dänische und die böhmische Geschichte ein wenig umgeschrieben werden, und deshalb ist der Vorgang auch im Prag des Jahres 2009 den Medien noch eine Sensationsstory wert.

Tycho Brahe, ein dänischer Adliger, war berühmt geworden als Astronom. 1572 hatte er eine Supernova entdeckt und erstmals beschrieben. Mit Geld

des dänischen Königs durfte er sich

danach auf einer Insel im Öresund eine einmalige Sternwarte bauen. Noch ehe das Fernrohr erfunden war, kam er durch systematische Himmelsbeobachtung mit Quadranten und Sextanten zu den erstaunlichsten Erkenntnissen, die noch lange nachwirkten.

In einem aber irrte er. Zwar hatte er das Ptolemäische Weltbild, wonach sich die Planeten um die Erde drehen, schon überwunden. Aber zu der Erkenntnis, dass die Sonne der einzige zentrale Himmelskörper war, drang er nur ein Stück weit vor. Dies hatte vor ihm schon Nikolaus Kopernikus behauptet, und nach ihm wurde es durch den Württemberger Johannes Kepler bestätigt, den Tycho Brahe ein Jahr vor seinem Tod als jungen Assistenten nach Prag geholt hatte. Kepler wurde Brahes Nachfolger als Hofmathematicus und Astrologe von Rudolph II., der als Habsburger Kaiser weniger durch politische Entschlusskraft als durch die Begeisterung für Wissenschaft, Kunst und Alchemie sowie durch die eigene Betätigung als Goldschmied in Erinnerung blieb.

Was aber jenen Vorfall beim Hofbankett so verdächtig macht, ist die Frage, ob Brahe wirklich an den Folgen seiner Harnverhaltung hinschied oder ob da mehr im Spiel war. Der Lebemann hatte mächtige Feinde. Nach Prag war er erst 1597 gekommen, nachdem er die Gunst des jungen Dänen-Königs Christian IV. verloren hatte und überstürzt geflohen war. Christian IV., für die Dänen ein herausragender Monarch, der sogar in der Nationalhymne vorkommt, ist nun in Verdacht geraten, aus Rachsucht den Sternenforscher auch im Ausland verfolgt und dessen schwedischen Verwandten Erik Brahe zum Giftmord angestiftet zu haben. So sieht es jedenfalls der dänische Germanist Peter Andersen, der in Straßburg lehrt. Er stützt sich nach einem Bericht des Spiegel auf ein von ihm ausgewertetes Tagebuch des tatverdächtigen Erik Brahe, der an bestimmten Tagen verdächtige Eintragungen hinterlassen habe.

Außerdem gibt es da alte Zweifel. Aus Prager Museumsbeständen hatten dänische Forscher schon 1991 mehrere Schnurrbarthaare Tycho Brahes erhalten. Im Labor stellten sie eine mehr als hundertfach überhöhte Quecksilberbelastung fest. Der Astronom soll das Quecksilber, das zu seiner Zeit als Heilmittel oft verwendet wurde und in seiner Giftigkeit noch nicht erkannt war, in voller Menge 13 Stunden vor dem Tod eingenommen haben.

Neue Erkenntnisse erhoffen sich nun Archäologen, Chemiker und Mediziner aus Dänemark von Untersuchungen der Gebeine des berühmten Toten. Beim zuständigen katholischen Pfarrer der Teynkirche und bei den Prager Denkmalbehörden haben sie schon angefragt. Dort gibt man sich jedoch zugeknöpft, über eine Antwort wird nachgedacht. Eine Archäologin warnte vor schweren Schäden, die eine neuerliche Öffnung des Grabes nach sich ziehe. Und Sprecher der Pfarrei der Teynkirche sowie der katholischen Erzdiözese Prag warfen die Frage auf, ob die Entnahme von Gewebeproben tatsächlich wissenschaftlichen Zwecken diene oder nur die Sensationsgier befriedige.

So oder so - Tycho Brahe ist mausetot und dennoch unsterblich. Auf ewig ist sein Name in den Geschichtsbüchern verzeichnet. In Prag steht auf dem Berg hinter der Burg auch ein Denkmal, das ihn mit Johannes Kepler zeigt. Außerdem sind je ein Krater auf dem Mond und auf dem Mars nach ihm benannt.

Verdächtige Eintragungen im Tagebuch des schwedischen Verwandten

Reichlich Quecksilber im Barthaar: Tycho Brahe starb 1601 in Prag, dort ruht er in der Teynkirche. KPA/PA

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Der alte römisch-katholische Dünkel

Der Vatikan ist nicht einfach nur schlecht organisiert, wie Kardinal Walter Kasper glauben machen möchte. Der Vatikan ist schlecht regiert. Es regiert dort nicht mehr der aufgeklärte Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, nicht mehr der Geist der Ökumene, der Geist der Brüderlichkeit und der Geist der Duldsamkeit gegenüber anderen Religionen. Es regiert dort wieder der alte vorkonziliare römische Herrschaftsanspruch und der alte katholische Dünkel. Duldsam ist dieser Vatikan nur denen gegenüber, die die Errungenschaften des Konzils als Verirrung verurteilen.

Die Pius-Bruderschaft will das Konzil ungeschehen machen. Wenn der Papst die Exkommunikation der Bischöfe dieser Sekte aufhebt, ist das kein "Akt väterlicher Güte", sondern ein Akt der Sympathie. Papst Benedikt hat die Exkommunikation nämlich ohne jede Gegenleistung der Konzilsfeinde aufgehoben - und ohne Anhörung der betroffenen nationalen Bischofskonferenzen. Er hat autoritär und autokratisch entschieden: Das ist der wahre Organisationsmangel, aber dahinter steckt Absicht und Methode: der römische Zentralismus, den das Konzil abbauen wollte, ist stärker denn je.

Es mag sein, dass der Papst von antisemitischen Tiraden des Bischofs Williamson nichts gewusst hat (obwohl man sich das angesichts der Akribie, mit der ansonsten das Leben jedes Würdenträgers durchleuchtet wird, nicht vorstellen kann). Es bliebe auch dann die Tatsache, dass er Leuten entgegenkommt, die die Kirche ins 19. Jahrhundert zurückverfrachten wollen, die das Konzil als Fortsetzung der französischen Revolution und als Guillotinierung der wahren Religion beschimpfen. Der Vatikan hat dem Ungeist die Tür geöffnet. pra

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Karikatur

Buchstütze SZ-Zeichnung: Gabor Benedek

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Blick in die Presse

Starrsinniges Krisenmanagement

Die Financial Times Deutschland zu Bahn-chef Mehdorns Verhalten in der Datenschutzaffäre:

"Die Regierung kann erwarten, dass gerade ein Staatskonzern im Umgang mit seinen Mitarbeitern nur zu Mitteln greift, die auch zielführend und verhältnismäßig sind. (...) Zum Desaster wird Mehdorns starrsinniges Krisenmanagement dadurch, dass er sich die Einmischung der Politik verbittet. Einen solchen Affront gegen den Eigentümer mag sich der Bahnchef leisten können, wenn er es nur mit dem leichtgewichtigen Verkehrsminister zu tun hat. Legt er sich auch mit der Kanzlerin an, kann er nur verlieren."

Rom provoziert die Gläubigen

Die Zeitung Oberösterreichische Nachrichten (Linz) zur Ernennung des konservativen Gerhard Wagner zum Linzer Weihbischof:

"Was also will Rom damit zum Ausdruck bringen, wenn es der Linzer Diözese in Gerhard Maria Wagner einen Weihbischof schickt, der die Flut- und Sturmkatastrophe Katrina in New Orleans vor vier Jahren in seinem Pfarrblatt in die Nähe einer Strafe Gottes gerückt hatte, nämlich für Hurerei, Schwulenparaden und gehäufte Abtreibungen? Der Zusammenhänge herstellt zwischen den Thailand-Urlauben der reichen Leute aus dem Westen - und dem Auftreten des Tsunami ausgerechnet zur Urlauber-Hochsaison, und der um das Seelenheil jener Kinder fürchtet, die sich in Harry-Potter-Bücher vertiefen? Egal, wie wir seine Ausrichtung benennen, ob konservativ, oder richtiger ultrakonservativ oder weltfremd. Wagner und seine Ansichten werden in der Linzer Diözese bestenfalls von einer Minderheit geteilt, und das ist hoch gegriffen. Rom provoziert, und es nimmt selbst den höchsten Preis dafür in Kauf: Dass in einer Diözese, die zu den lebendigeren gehört, die Leute zwar weiter glauben werden, aber sich von der Institution Kirche abwenden."

Die Passauer Neue Presse meint zum Thema:

"Mit der Ernennung des selbstgerechten Schwadroneurs Gerhard Wagner zum Linzer Weihbischof hat der Papst viele österreichische Katholiken verprellt und zudem all jenen eine Steilvorlage geliefert, die ihm einen ultrakonservativen Kurs bescheinigen. Wer ernsthaft darüber nachdenkt, ob der Hurrikan Katrina eine "Strafe Gottes" darstellt, weil in New Orleans ja auch Abtreibungskliniken zerstört wurden, der kann weder als katholischer Theologe noch als Seelsorger ernst genommen werden. Ein Geistlicher, der auf einem solchen Niveau argumentiert, sollte erst einmal seine theologische Grundausbildung wiederholen, bevor er auf die Menschheit losgelassen wird."

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Die Ära Mehdorn ist vorbei

Der Bahnchef verliert zusehends Rückhalt und er ist unfähig zur Demut - er sollte besser abtreten

Von Michael Bauchmüller

Vom 25. Stock des Berliner Bahntowers aus scheint die Welt sehr weit weg. In der Ferne fahren Züge in den Hauptbahnhof ein, als wäre ganz Berlin eine große Modelleisenbahn. Auf den Fluren der Chefetage ist die Deutsche Bahn in Zahlen gegossene Materie, mehr nicht. Gemessen an den Zahlen ging es dem Konzern zwar schon besser, aber es geht ihm auch nicht schlecht. Gemessen an der Realität im Bahntower gibt es weit und breit kein echtes Problem. Doch darin genau liegt das Problem von Hartmut Mehdorn. Entrückt von der Welt droht er eine wichtige Entscheidung zu verpassen: die über seinen eigenen Abgang.

Der Grad der Entrückung lässt sich an nichts so gut ablesen wie am Streit um den heimlichen Datenabgleich bei Bahnmitarbeitern. 173 000 Mitarbeiter ließ die Bahn überprüfen. Keiner von ihnen erfuhr davon. Und was sagt der Bahnchef dazu? Für den ist eine solche Kontrolle das Natürlichste von der Welt, vergleichbar mit dem Kauf von Briefkuverts. Da muss sich ja auch nicht der Vorstandschef einmischen. Sagt Mehdorn.

Realitäten prallen aufeinander. In der Realität des Bahnchefs läuft hier eine Verschwörung ab, Gegner hat er reichlich. In Mehdorns Wirklichkeit gibt es auch nichts daran auszusetzen, dass ein Unternehmen durch heimlichen, massenhaften Abgleich von Daten nach potentiellen Betrüger in den eigenen Reihen fahndet. Dass Mitarbeiter empört sind, Gewerkschaften auf die Barrikaden steigen: Für Mehdorn ist das unverständlich. Eine Entschuldigung käme für ihn einem ungerechtfertigten Kniefall gleich und ist daher abzulehnen. Die Fähigkeit nachzugeben, und sei es nur um des Friedens willen, ist bei Mehdorn nicht ausgeprägt.

Es naht ein Ende, das Mehdorn in dieser Form nicht unbedingt verdient hätte. Tatsächlich hat der Bahnchef in den vergangenen neun Jahren aus der Bahn einiges gemacht. Sie ist effizienter geworden, auf manchen Strecken sogar verlässlicher. Sie ist unter Mehdorn ein Unternehmen geworden, das im Wettbewerb mit Logistikkonzernen aus aller Welt mitspielt. Um ein Haar hätte er sogar einen Teil des Unternehmens an die Börse bringen können, die Finanzkrise kam dazwischen. Seitdem geht es bergab.

Lange konnte sich Mehdorn des Rückhalts in der Politik gewiss sein. Gerhard Schröder stützte ihn nach Kräften, seine Nachfolgerin Angela Merkel ebenso. Da der Bund eine Privatisierung der Bahn wollte, musste er auch Mehdorn wollen; der Bahnchef hatte den Willen und die Kraft zum Börsengang. Vieles ließen sie ihm durchgehen, bis hin zu derben Angriffen auf Parlamentarier und Intrigen gegen den Verkehrsminister. Die aber haben ein gutes Gedächtnis.

Jetzt wird es einsam um Mehdorn. Das Projekt Börsengang ist faktisch bis 2010 tot, möglicherweise wird sich die SPD im nächsten Wahlkampf sogar völlig von der Idee abwenden. Die Wirtschaftskrise setzt Mehdorns Logistikkonzern ernsthaft zu. Diesen Sommer wird Mehdorn 67 Jahre alt, sein Vertrag aber endet erst 2011. Ohne Aussicht auf einen Börsengang, ohne echten Rückhalt aus der Bundesregierung dürften es die unangenehmsten zwei Jahre seiner Amtszeit werden. Jede umstrittene Entscheidung, jedes Problem wird nun auf seine Person gemünzt - seien es Servicegebühren für Bahnkunden, gebrochene ICE-Achsen, Bonuszahlungen für das Management oder eigenartige Aufträge an Detektive.

Mehdorn kann schlecht loslassen. Er wird die Bahn kaum in diesem Zustand verlassen wollen, mit absehbar schwindenden Gewinnen und ohne Aussicht auf Privatisierung. Dennoch wäre es die beste Entscheidung, er träte ab: Erstens für die Bahn, die sonst nicht durch Erfolge, sondern durch Affären von sich reden macht; dafür werden Mehdorns Widersacher zu sorgen wissen. Zweitens für ihn selbst, weil er sonst um den letzten Rest seines Vermächtnisses käme. Er wäre nicht der erste, der aus Hybris den rechten Zeitpunkt für den Abgang verpasst.

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Horst Seehofer, der Regional-Querulant

Angela Merkel darf dem CSU-Chef entgegenkommen, Appeasement aber sollte sie nicht betreiben

Von Kurt Kister

Horst Seehofer hat eine Begabung, die für einen Politiker Gold wert ist. Viele Menschen haben nach einem Gespräch mit ihm das Gefühl, er sei nett und habe auch irgendwie recht. Zwar stellen etliche Gesprächspartner Seehofers hinterher fest, dass er jemandem anderen zum selben Thema etwas ganz anderes gesagt hat, ganz zu schweigen davon, dass er hin und wieder das eine sagt und das andere tut. Trotzdem erweckt er immer wieder den Eindruck, er sei genau das, was Bayern, die CSU, der VdK oder sein Wahlkreis gerade brauchen. Seehofer ist eine Art Zelig der deutschen Politik. (Zelig heißt der Held in Woody Allens gleichnamigem Film, der sich an jede Umgebung so anpassen kann, als sei er schon immer in ihr verwurzelt gewesen.)

Nach hundert Tagen im Amt ist Ministerpräsident Zelig, wen wundert's, relativ populär in Bayern. Fast könnte man meinen, die CSU habe sich unter seiner Führung verändert - und sei es nur, weil man Huber, Beckstein, Goppel etc. kaum mehr sieht. Zwar wurden die zum Teil handstreichartig im Stoiber-Stil abserviert, aber Seehofer hat sich charmant von gerade diesem Stil distanziert.

Außerdem profiliert sich Seehofer gerade als Krawallist gegen Berlin und die CDU. So fordert er in Zeiten, in denen die Staatsausgaben steigen, eine Verringerung der Staatseinnahmen, also Steuersenkungen. Dass er damit indirekt für eine noch höhere Neuverschuldung plädiert, ficht ihn nicht an, auch weil er weiß, dass die Steuern ohnehin nicht nennenswert gesenkt werden. Die CSU jedenfalls ist jetzt auch noch die Steuersenkungspartei, sozusagen eine Zelig-FDP.

Ähnlich ist es beim Umweltgesetzbuch. Der Konflikt wäre lösbar gewesen, wenn die CSU Interesse daran gehabt hätte. Sicher war die politische Lage in diesem Fall schwierig, weil auch Teile der CDU bremsten und der seit langem stärker ambitionierte als erfolgreiche Minister Gabriel Gas gab. Die CSU aber wollte nicht, auch weil Seehofer und seine Geschöpfe annehmen, die CSU würde in Bayern erstarken, wenn sie Widerstand im Bund leiste - egal gegen wen, Hauptsache Schlachtenlärm.

Das ist ein Trugschluss. Selbst wenn die CSU an Ansehen im Freistaat gewinnt, schadet sie der Union im Bund - und das im Jahr der Bundestagswahl. Seehofer wird außerhalb Bayerns nicht als der tapfere Schmied von Kochel wahrgenommen, sondern als Regional-Querulant. Er sorgt mit seinem Loden-Machotum dafür, dass auch die Union als zerstritten und uneins gesehen wird. Solche Parteien wählt man nicht so gern, zumal nicht in Zeiten der Krise.

Gewiss muss Merkel darauf achten, dass Seehofer sein Gesicht nicht verliert. Kommt sie ihm aber zu weit entgegen, sieht es so aus, als lasse sie sich von ihm treiben. Das schadet ihrem Ansehen und damit in stärkerem Maße dem Ansehen der Union im Bund. Rücksicht auf Seehofers politische und sonstige Psyche sollte Merkel sicher nehmen. Ein Appeasement gegenüber Seehofer aber geht zu weit.

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Prüfung für Deutschland

Mancher mag sich an den Kopf fassen, wenn ausgerechnet die russische Regierung Deutschland der Korruption bezichtigt, oder wenn Iran die Lage religiöser Minderheiten hierzulande beklagt oder Liechtenstein der Bundesregierung gönnerhaft auf die Schulter klopft. So geschehen im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Im Vier-Jahres-Turnus wird dort jedes Land geprüft, am Montag war Deutschland an der Reihe. Mancher Vorwurf, der in Genf geäußert wurde, entpuppte sich auch als allzu durchsichtiges Manöver, etwa die Forderung nach mehr Entwicklungshilfe.

Eine Farce ist das Genfer Menschenrechts-Examen, das erst vor kurzem eingeführt wurde, dennoch nicht: Nur weil sich auch jene Länder, in denen Menschenrechte einen hohen Stellenwert genießen, der Prozedur unterziehen, entkommen die "Schurkenstaaten" dem öffentlichen Pranger nicht. Zum Zweiten: Wenn befreundete Staaten wie die Niederlande eine in manchen Fällen exzessive Polizeigewalt rügen, wenn Australien das neue Anti-Terror-Gesetz kritisiert, oder sich die Finnen Gedanken über deutsche Ausländerfeindlichkeit machen, kann Berlin das nicht einfach vom Tisch wischen. Ignorieren lässt sich auch nicht der immer wieder geäußerte Vorwurf, Ausländerkinder seien an den deutschen Schulen und bei der Gesundheitsversorgung benachteiligt, oder Muslime hätten de facto kaum eine Chance auf eine Stelle im öffentlichen Dienst.

Die Politik neigt dazu, die Interessen von Randgruppen, die keine Wählerstimmen haben, hintenan zu setzen. Deshalb tut es selbst Deutschland gut, sich der Genfer Prüfung zu stellen und die Ergebnisse ernst zu nehmen, so bizarr ein paar Facetten dabei auch sein mögen. lsb.

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Gestärkt gegen Sarkozy

Nicolas Sarkozy, gerade 54 geworden, ist im besten Präsidentenalter. Am Montag feierte er Hochzeitstag, aber der Honigmond mit seinen Wählern ist längst vorbei. Zwar haben seine Gefolgsleute eine komfortable Parlamentsmehrheit, aber wenn etwa 70 Prozent der Franzosen die großen Demonstrationen der Gewerkschaften für gerechtfertigt halten, dann kündigen sich unruhige Zeiten für das bürgerliche Regierungslager an. Die sozialistische Linke könnte dem Präsidenten das Leben schwermachen - so sie denn ein klares Konzept hätte.

Bislang haben sich die Sozialisten, die wichtigste Oppositionspartei, als harmlos erwiesen. Seit dem verlorenen Kampf um die Präsidentschaft haben sie erst über viele Monate ihre Führungskämpfe ausgetragen. Und selbst nach der Wahl der wenig charismatischen Ex-Ministerin Martine Aubry an die Spitze der Partei ging kein Ruck durch die Reihen der Sozialisten. Sie schreiten noch immer nicht Seit' an Seit', die Gräben zwischen Aubrys Leuten und den Anhängern von Ségolène Royal sind nicht zugeschüttet. Links von den Sozialisten bleibt Platz für Splitterparteien, deren Stimmen sich - etwa bei den Europawahlen - auf eine zweistellige Prozentzahl summieren und damit den Sozialisten fehlen könnten.

Als eigentliche Gegenmacht gegen den selbstherrlichen Präsidenten profilieren sich die Gewerkschaften. Dass sie zwei Millionen Menschen auf die Straße gebracht haben, hat die politische Lage verändert. Die Sozialistin Aubry und ihre Leutnants haben sich eingereiht. Die Linke hat ihre Chance erkannt, im Bündnis mit den Gewerkschaften von den Bürgern endlich wieder wahrgenommen zu werden. Nun muss sie zeigen, wie nachhaltig die wiedergefundene Kraft ist. kr.

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Der neue Irak

Von Tomas Avenarius

Ist das Irak-Drama beendet? Auf den ersten Blick befindet sich das arabische Land nach fast sechs Jahren Krieg auf dem Weg zu mehr Sicherheit und Stabilität: Regionalwahlen haben stattgefunden - ohne dass Bomben vor den Wahllokalen explodierten. Die Menschen haben ihre Stimme abgeben können, ohne bei jedem Schritt Angst haben zu müssen vor Al-Qaida-Terror, Selbstmordkommandos oder Entführern. Es gibt inzwischen so etwas wie relative Sicherheit vor der Willkürherrschaft von religiösen Milizen und kriminellen Banden. Funktioniert die von den USA mit Waffengewalt und dem Sturz der Saddam-Diktatur eingeführte Demokratie im Irak am Ende also doch?

Freie Wahlen sind gut. Aber sie sind nicht alles. Für die Mehrheit der Iraker bleiben andere Fragen ebenso wichtig: Ist der rasche wirtschaftliche Aufbau des zerstörten Landes garantiert? Gibt es wieder ein funktionierendes Sozial- und Bildungssystem? Sind religiöse und ethnische Minderheiten vor staatlicher Willkür geschützt - seien es große Gruppen, wie die Kurden und Sunniten, oder kleine Gemeinden, wie die Christen. Kurz: Können alle Iraker in Frieden und mit der Perspektive auf erreichbaren Wohlstand leben?

Es gibt bislang keine Garantie dafür. Die Chancen auf Verbesserung stehen aber nicht schlecht. Unverkennbar hat sich das Land unter der Herrschaft von Premierminister Nuri al-Maliki stabilisieren können. Assistiert von den US-Truppen hat der irakische Regierungschef die religiösen Milizen mit militärischer Gewalt in die Ecke gedrängt. Er ist sowohl gegen die Banden der Schiiten als auch gegen die der Sunniten vorgegangen. Maliki hat sich so den Ruf eines Law-and-Order-Politikers erworben. In einem Land, in dem die Menschen an manchen Orten aus Angst vor Attentätern nicht mehr auf den Markt gehen oder ihre Kinder wegen Entführungsdrohungen nicht mehr zur Schule schicken konnten, ist dies viel.

Noch ist es eine Sicherheit mit fremder Hilfe. Wie fest Maliki im Sattel sitzt, wird sich erst nach dem Abzug der amerikanischen Soldaten zeigen. US-Präsident Barack Obama hat einen raschen Truppenabbau angekündigt. Spätestens 2011, möglicherweise schon früher, müssen die irakische Armee und die Polizei ihren Job alleine machen. Wie gut sie dies tun werden, muss man sehen. Die politische Verantwortung dafür trägt dann die Führung in Bagdad jedenfalls allein.

Der Aufbau der Wirtschaft hingegen kann nicht nur in irakischer Hand liegen.

Die Beseitigung der immensen Kriegsschäden wird noch jahrelang internationale Hilfe erfordern. Die Weltwirtschaftskrise werden die USA, die Europäer und die am Wiederaufbau beteiligten arabischen und asiatischen Staaten zum Sparen zwingen. Der Irak aber wäre der falsche Platz dafür. Sicherheit und Stabilität sind auch Folge von Wohlstand und Entwicklung. Also muss gezahlt werden, denn Stabilität in einem der zentralen Staaten des Nahen Ostens liegt im gemeinsamen Interesse der USA, Europas, der arabischen Staaten und auch Irans.

Iraks Nachbarstaat bleibt aber ein schwer zu berechnender Faktor. Ohne Zweifel hat Iran viel Positives zum Aufbau des Irak beigetragen. Die Verbindungen zwischen iranischen und irakischen Schiiten haben die Wirtschaft vor allem im Südirak wieder zum Laufen gebracht. Teheran hat Schulen und Moscheen mitfinanziert und Geld in die heiligen Stätten investiert. Iran hat dies nie uneigennützig getan; diese Einflussnahme ist auch legitim zwischen Nachbarstaaten. Wegen seines Atomprogramms liegt das Regime in Teheran allerdings auch im Dauerstreit mit fast dem gesamten Rest der Welt. Eine Verschärfung des Atomkonflikts, ob politisch oder militärisch, könnte die iranische Führung in Versuchung bringen, ihre "irakische Trumpfkarte" zu spielen. Das Schicksal des Irak bleibt also vorerst an das Verhältnis Irans zur übrigen Welt gekoppelt.

Die innerirakischen Probleme sind ebenfalls Legion: Kehrt das Land am Ende zum Zentralismus arabischer Machart zurück? Oder lässt sich das in der Verfassung angelegte Föderalmodell so umsetzen, dass die ethischen Gruppen bei allem Recht auf Autonomie das Interesse am Gesamtstaat im Auge behalten? Die Frage, wer die ölreiche Provinz rund um die Stadt Kirkuk kontrolliert, könnte zur Nagelprobe werden. Bisher lassen die Kurden wenig Zweifel daran, dass Autonomie ihr erstes Anliegen bleibt und sie Anspruch auf Kirkuk erheben. In diesem Streit geht es um mehr als um Öl oder ethnisch-nationalistische Ansprüche. Es geht um den Zusammenhalt des Irak. Ein Schlagwort, wie "Kirkuk ist kurdisch", wird als Antwort kaum ausreichen.

Seit George W. Bush 2003 mit seinem Ausspruch "Mission accomplished" den Irak-Krieg voreilig für beendet erklärte, sind fast sechs Jahre vergangen. Die Frage, ob dieser Krieg so geführt werden musste, oder ob Saddam Hussein auf weniger blutige Weise hätte entmachtet werden können, ist obsolet. Was zählt nach Krieg und bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen ist für die Iraker nur eines: Frieden und Stabilität. Die positiven Anzeichen im Irak sollten daher nicht als Gelegenheit missverstanden werden, das zertrümmerte Land alleine zu lassen.

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Gerhard Maria Wagner Neuer Weihbischof von Linz mit Hang zu Fundamentalismus

Gerhard Maria Wagner ist neuer Weihbischof in Linz, und seine Ernennung hat in Österreichs Kirche Aufruhr verursacht. Der 54jährige ultrakonservative Priester beruft sich jedoch auf die Reinheit des Herzens: Jene, die ihm vorwerfen, die Kirche zu spalten, müssten sich fragen lassen, ob sie nicht selbst Spalter seien. Denn warum sollte es die Christenheit entzweien, dem Willen des Papstes zu folgen? Heute gelte jeder, der nur richtig katholisch sei, schon als erzkonservativ, polemisiert Wagner.

Sogar Josef Pühringer, der zurückhaltende christsoziale Landeshauptmann von Oberösterreich, empört sich, dass diese Ernennung ein "völlig falsches Bild Roms" vom Katholizismus in seinem Lande zeichne. Den bisherigen Pfarrer im oberösterreichischen Windischgarsten, der am 22. März zum Bischof geweiht werden soll, aber werden Enttäuschung und wütende Proteste nicht anfechten. Der als fundamentalistisch geltende Geistliche bekennt freimütig: "Ich bin einer, der den Konflikt sucht. Wenn es ihn nicht gibt, bin ich eher beunruhigt und mir ist mulmig."

Im Vorfeld der Entscheidung gab es durchaus Gegenwind. Doch den obligatorischen Dreiervorschlag der Diözese, zu dem der Name Wagner nicht gehörte, hat der Vatikan ignoriert und damit auch den konservativen Diözesanbischof Ludwig Schwarz düpiert. Der Papst hat nicht nur Gläubige und Laienorganisationen tief ernüchtert, er hat auch an der Spitze des österreichischen Kirche vernehmliches Murren ausgelöst. So fühlt sich auch der ebenfalls konservative, aber jeder Provokation abholde Wiener Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn nicht ausreichend konsultiert.

In seiner Heimatgemeinde, wo der Fußballfan Wagner durchaus beliebt ist, dürfen Mädchen nicht ministrieren, hält man Laien vom Altarraum und von sakralen Handlungen eisern fern. Zölibat und liturgische Unterordnung der Frauen sind Wagner heilig. Seiner Überzeugung, in den Harry-Potter-Büchern finde sich "Satanismus", bleibt der Priester ebenso treu, wie den Auslassungen über Naturkatastrophen. Hurrikan Katrina bezeichnete er als Gottesurteil wegen "geistiger Umweltverschmutzung". Selbst die kirchenfreundliche Wiener Zeitung Die Presse deutet Wagners Ernennung als weiteren Schritt in Richtung Sekte, spricht von einer "verschworenen Katakombengemeinschaft der gnadenlos Guten" und fürchtet: "Wer nicht spurt, kommt in den Gulag der Exkommunikation." Wagners Haltungen zum Sakramenten-Empfang seien die eines päpstlichen Politkommissars.

Wagner, Arbeiterkind aus Wartberg ob der Aist, hat in Linz und Rom mit Auszeichnung Theologie und Philosophie studiert. Er ist Mitglied des vom berüchtigten Bischof Kurt Krenn gegründeten Linzer Priesterkreises, der über den angeblich zersetzenden Einfluss des Liberalismus lamentiert. Rom-Kritiker sehen in der Entscheidung für Wagner päpstlichen Revisionismus: Wie einst mit der Ernennung des Weihbischofs Krenn in Wien die Ära des legendären Versöhners Franz Kardinal König beendet werden sollte, so solle Wagner nun der aufgeklärten Kirchen-Tradition in Linz endgültig den Garaus machen. Michael Frank

Foto: dpa

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Indonesische Brautpaare müssen Ehekurs machen

Jakarta - Brautpaare in Indonesien müssen künftig obligatorisch einen Ehekurs durchlaufen. Damit solle die Zahl der Scheidungen reduziert werden, erklärte am Montag ein Sprecher des Religionsministeriums in Jakarta. Der Kurs solle einen Tag dauern, am Ende gebe es eine Bescheinigung. "Ohne Zertifikat können die Paare nicht offiziell heiraten", sagte der Sprecher. "Wir haben festgestellt, dass die Zunahme der Scheidungen zusammenhängt mit unzureichenden Kenntnissen der Rechte und Pflichten in einer Ehe." Die Regierung macht vor allem die Polygamie für die Zunahme der Scheidungen verantwortlich. Im muslimischen Indonesien kann ein Mann bis zu fünf Frauen haben. Jedoch muss er vor der Heirat einer weiteren Frau die Zustimmung der bereits vorhandenen Frauen einholen. AFP

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LEUTE

Nicolas Sarkozy, 54, französischer Präsident, ist kurz vor dem ersten Hochzeitstag auch offiziell zu seiner Frau Carla gezogen. Seit Anfang Januar sei der Premier im 16. Pariser Bezirk in der Wählerliste eingetragen, berichtete Le Figaro am Montag. Sarkozy hatte die italienische Sängerin Carla Bruni im vergangenen Jahr am 2. Februar im kleinsten Kreis im Élysée geheiratet. Die Öffentlichkeit erfuhr erst im Anschluss davon, offizielle Bilder gab es nicht. Carla Sarkozy habe sich leicht in ihre Rolle als Première Dame hineingefunden, sei den Franzosen aber zu distanziert, schreibt Le Parisien. Sie habe aber immerhin dazu beigetragen, das Image des Präsidenten zu verbessern.

Britney Spears, 27, Sängerin, will ihre Comeback-Tournee im Frühling angeblich absagen, sollten ihre Söhne sie nicht begleiten dürfen. Spears habe gemeinsam mit ihrem Vater und Vormund Jamie sowie Ex-Mann Kevin Federline einen ausgeklügelten Reiseplan für ihre Söhne erstellt, berichtet TMZ.com. Demnach sollen in New Jersey, New Orleans und Los Angeles Quartiere für Sean Preston und Jayden James eingerichtet werden, zu denen Spears vor und nach den Konzerten fahren könnte. Federlines Anwälte sollen jedoch nicht in die Planungen einbezogen worden sein und drohen nun, das Arrangement zu kippen. Für diesen Fall sei Spears entschlossen, ihre Tournee abzusagen, hieß es. Die Tour soll am 3. März in New Orleans beginnen.

Jennifer Hudson, 27, Sängerin, stand zwei Monate nach ihrer Familientragödie wieder auf der Bühne. Beim landesweit übertragenen Super Bowl, dem Finale der US-Football-Liga, sang sie am Sonntag die Nationalhymne. Hudson hatte sich komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, nachdem ihr Bruder, ihre Mutter und ihr Neffe ermordet worden waren. Als Tatverdächtiger gilt Hudsons Schwager.

Alex Rodriguez, 33, Baseballspieler, ist geschieden. Bereits am 12. Januar sei die Ehe des angeblichen Liebhabers von Popstar Madonna, 50, und seiner Ehefrau Cynthia aufgelöst worden, berichtet der Internetdienst E!Online. Das Paar war fünf Jahre verheiratet und hat zwei Töchter. Gerüchte um eine Affäre zwischen dem Spieler der New York Yankees und der Sängerin waren während Madonnas Scheidung von Regisseur Guy Ritchie aufgekommen. Rodriguez hatte die Liebschaft dementiert. Allerdings sollen er und Madonna das vergangene Wochenende im Haus des Komikers Jerry Seinfeld in East Hampton verbracht haben.

Michael Phelps, 23, Schwimmer, hat sich für ein Foto entschuldigt, das ihn beim Inhalieren aus einer Marihuana-Pfeife zeigt. Er habe eine "schlechte Entscheidung" getroffen, schrieb Phelps in einer Erklärung. Er verspreche, dass so etwas nicht mehr vorkomme. Die Boulevardzeitung News of the World hatte das Foto am Sonntag veröffentlicht, es soll auf einer Party im vergangenen November aufgenommen worden sein. Phelps, der bei den Olympischen Spielen in Peking acht Goldmedaillen gewonnen hatte, stritt die Echtheit des Fotos nicht ab.

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Peinliche Verwandtschaft

Kiffende Brüder, randalierende Söhne, hellsehende Mütter - die schwarzen Schafe aus prominenter Familie

Das hat ihm gerade noch gefehlt: Nicht genug, dass drei seiner Minister offenbar mit dem Gesetz im Clinch liegen, nun wird Barack Obamas ansonsten unbefleckte Präsidentschaft auch noch durch einen Halbbruder belastet, der wegen Drogenbesitzes in Kenia im Knast sitzt. Obama ist dabei nur einer von vielen Prominenten, dem die liebe Verwandtschaft mitunter das Leben schwer macht. Eine Auswahl.

George W. Bush gilt oft als schwarzes Schaf der Familie. Doch was soll man erst seinen jüngeren Bruder Neil Bush sagen? Die Serie seiner Pannen reicht bis zurück in die Achtziger, als sein Dad noch Vizepräsident war. Die Silverado-Bank, deren Chef er war, ging pleite, der Staat sprang mit einer Milliarde Steuergeldern ein. Später wurde er des Insiderhandels beschuldigt, als er an einem Tag 800 000 Dollar mit Aktien einer Firma verdiente, deren Berater er war. Auch seine Beziehungen zu einer chinesischen Halbleiterfirma mit Verbindungen zum damaligen chinesischen Präsidenten waren anrüchig. Auf Geschäftsreise in Thailand wurde Neil Bush mit Callgirls erwischt. Zurück zu Hause riss ihm seine Frau ein Haar aus, um es auf Kokain zu testen. Worauf ein Freund von Bush sie beschuldigte, es habe sich um eine Voodoo-Zeremonie gehandelt. . . jhl

"Oh, daß ich große Laster säh, Verbrechen, blutig, kolossal", schrieb Heinrich Heine. Er hingegen, Ben Tewaag, 32, Sohn von Uschi Glas: im P 1 einen Kameramann mit Rum übergossen und angezündet. Fahren ohne Führerschein. "Idiot" zu einem Polizisten gesagt. Das ist alles so klein, so wenig Rock'n'Roll, blutig vielleicht, aber auf keinen Fall kolossal. Denn Tewaag, der sich gern zum Anarchisten stilisiert, ist in Wahrheit, wie diese Zeitung einmal schrieb, "eine Münchner Disko-Nase, deren einziger Antrieb die Langeweile ist". Gerade ist er in einer Suchtklinik, wenn die Therapie beendet ist, muss er ein halbes Jahr ins Gefängnis. So weit kann einen Langeweile bringen.stha

Bei Youtube kursiert ein Filmchen mit dem Titel "The Monster", zu sehen ist nicht etwa der Weiße Hai, Osama bin Laden oder die Conti-Aktie, sondern: Sie. Sie trägt den Bademantel offen, das rote Wallehaar wirr und den Mund so, dass Angelina neben ihr schmallippig rüberkäme; jedenfalls hat sie Zugang zu einem Chirurgen, der für Geld zu allem bereit ist. "The Monster" heißt Jackie Stallone, ist 87 Jahre alt und die Mutter von Sylvester. Peinlich an ihr ist nicht, dass sie als Astrologin arbeitet, peinlich ist, dass sie ihren Klienten die Zukunft vom Hintern abliest. Auch ist es keine Schande, bei der Promi-Ausgabe von "Big Brother" als Erste rausgewählt zu werden. Dass sie im Container jedoch mit Ex-Schwiegertochter Brigitte Nielsen heikle Details aus der Ehe mit Sylvester besprach, hat ihr der Sohn nie verziehen. tar

Als Bill Clinton 1993 ins Weiße Haus einzog, hatte sein zehn Jahre jüngerer Halbbruder Roger Clinton bereits wegen Kokaindealerei im Gefängnis gesessen. So fand der Geheimdienst gleich einen Code-Namen für den familiären Klotz am Bein des Präsidenten: "Headache" - Kopfschmerz. Doch abgesehen von einem Prozess wegen Trunkenheit am Steuer (2001) kam Roger nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt. Was für Bill keine Erleichterung bedeutete, war sein Halbbruder doch außerhalb des Knasts viel peinlicher: So wandelte Roger mit seiner Band "Politics" auf Elvis' Spuren. Und er liebte Auftritte in B-Movies. Höhepunkte seines Schaffens: "Agent 00 - mit der Lizenz zum Todlachen" und "Pumpkinhead II - Blood Wings", ein Splatter-Streifen, in dem ein reinkarnierter Monsterkürbis eine Jugendclique meuchelt. rff

Eigentlich wusste niemand besser als Gerhard Schröder, wie man von seiner Verwandtschaft profitiert: Ob putzende Mutter oder Ost-Cousinen - sie alle stärkten den Mythos vom Underdog, der sich zum Kanzler gemausert hatte. Bis er in seinem Halbbruder seinen Meister fand. Als Kind hatte Lothar Vosseler mit Gerhard das ungeheizte Schlafzimmer geteilt, nun war er der berühmteste Arbeitslose des Landes, vernachlässigt vom eigenen Bruder, dem kaltherzigen Genossen der Bosse. Schröder saß es aus, doch leicht machte Vosseler es ihm nicht. Der Ex-Hausmeister und Brot-Fachberater war überall: Im Big-Brother-Container, im Kölner Express (Gastkolumne) und auf Mallorca (U-Boot-Reiseführer). Gnade ließ Vosseler erst mit dem Ende von Schröders Amtszeit walten. Das letzte Buch (2005): "Der Kanzler, leider mein Bruder, und ich." rff

Die Spielregeln im Königreich der Elfen und Trolle sind unerbittlich: Kronen tragen dürfen nur Söhne und so kam Märtha Louise zwar 1971 als erstes Kind von König Harald und Königin Sonja zur Welt, aber schon zwei Jahre später war sie abgemeldet, als Bruder Haakon geboren wurde. Traumatisiert flüchtete sie in die Arme des Pornoschriftstellers Ari Behn, dem eine Affinität zu Rauschgift nachgesagt wird. Von der Engelstrompete muss Märtha Louise öfter genascht haben, jedenfalls behauptet sie, nicht nur mit Pferden, sondern auch mit Himmelswesen sprechen zu können. Weil man bei Königs ja immer so schrecklich klamm ist, eröffnete sie eine Schule, in der sie für 3000 Euro Kontakte zu Engeln vermittelt. Manche verlangten ihre Einweisung in die Psychiatrie, andere riefen nach Exorzisten. Ihr Bruder Haakon lächelt dazu nur, irgendwie erleuchtet. from

Kleine Brüder können auch im fortgeschrittenen Alter ganz schön nerven. Diese Erfahrung musste Madonna an ihrem 50. Geburtstag machen. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Christopher Ciccone hatte sich ein nicht ganz uneigennütziges Geschenk einfallen lassen: ein Enthüllungsbuch. "Meine Schwester Madonna und ich" ist der Höhepunkt einer mehr als fünf Jahre dauernden Funkstille. Auslöser war, da ist sich der homosexuelle Ciccone ganz sicher, Madonnas Ex Guy Ritchie. Der habe was gegen Schwule und deshalb sein einst so enges Verhältnis zur großen Schwester - er diente ihr als Background-Tänzer, Garderobier und Innenarchitekt - zerstört. Madonna ließ wissen, sie verachte das Partyleben des Bruders und seinen Hang zum Kokain. Nun ja, es kann eben nicht jeder so gesundheitsbewusst leben wie die Queen of Pop. ake

"Meine Mutter ist mit 68 dem Friedenscorps beigetreten, meine eine Schwester ist ein Motorrad-Freak, meine andere Schwester vom Heiligen Geist beseelt, und mein Bruder will Präsident werden. Ich bin der einzig Normale in der Familie." Billy Carter (1937 bis 1988) war jedenfalls alles, was sein älterer Bruder Jimmy nicht war: Großmaul, Lebemann und legendärer Saufkopf, der für das gefürchtete Billy Beer glaubwürdig Werbung machte - Rehab inklusive. Leicht vernebelt rannte er dann auch in sein Libyen-Abenteuer: 1980, im dritten Jahr von Jimmys Präsidentschaft, ließ er sich als Botschafter der libyschen Regierung anheuern; er sollte helfen, den Ölabsatz anzukurbeln. Der Präsident soll sich damals nach den Zeiten zurückgesehnt haben, als sein Bruder bloß öffentlich urinierte. tar

Wenn man französischer Präsident ist, dann kann man, wie es François Mitterrand lange gelungen ist, eine illegitime Tochter, ja die ganze Zweitfamilie vor der Öffentlichkeit verstecken, ohne dass es einem peinlich wäre. Viele wussten davon, aber erst gegen Ende seines Lebens hat sich der Alte dazu bekannt. Dem Fürsten von Monaco, Albert II., hätte man Ähnliches kaum zugetraut: Als ihn eine exotische Schönheit auf dem Titel von Paris Match an das gemeinsame Kind, den kleinen Alexandre Coste, erinnerte, bekam der ganze Hofstaat rote Ohren. Albert gestand und wusste doch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch die Existenz von Jazmin Grace Rotolo offenbar würde. Alexandre ist inzwischen sechs, Jazmin fast 17 Jahre alt. Um die Kinder muss man sich nicht sorgen. Der Hochadel hat schon immer gut für die gesorgt, die, wie die Briten sagen, auf der falschen Seite des Lakens geboren sind. krk

Von oben re. im Uhrzeigersinn: Ben Tewaag (Sohn von Uschi Glas), Jackie Stallone (Sylvesters Mutter), Roger Clinton (Bills Bruder), Neil Bush (George W.s Bruder), Lothar Vosseler (Gerhard Schröders Halbbruder), Märtha Louise, Billy Carter (Jimmys Bruder) und Christopher Ciccone (Madonnas Bruder).

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Goldmünzen im Ärmelkanal

Schatzsucher wollen das Wrack der "HMS Victory" geortet haben

London - Es geschah am helllichten Tag, und bis heute ist nicht geklärt, weshalb der Dreimaster HMS Victory nachmittags um 15.30 Uhr am 4. Oktober 1744 mitten im Ärmelkanal Sichtkontakt zu seinem Flottenverband verlor. Kurz darauf kam ein Sturm auf, der die Victory auf eines der Felseneilande der Casquets, 13 Kilometer nordwestlich der Kanalinsel Alderney, schleuderte. Das Schiff, der Stolz der britischen Marine, sank mit 1100 Mann an Bord - und 100 000 portugiesischen Goldmünzen. Der Leuchtturmwärter von Alderney wurde später vor Gericht gestellt, weil er es versäumt hatte, das Leuchtfeuer zu entzünden.

Schon immer hatten Wracksucher sich bemüht, das Schiff zu finden - doch bislang vergeblich. Erst jetzt will das seit Jahren vor allem in der Karibik und in der Südsee operierende amerikanische Unternehmen Odyssee Marine Exploration aus Tampa in Florida die Überreste des mit 100 Kanonen bestückten Linienschiffes entdeckt haben - 100 Meter unter dem Meeresspiegel und mehr als 80 Kilometer von jener Stelle entfernt, an der man das Wrack bislang vermutet hatte. Odyssee hatte die Victory bereits im vergangenen Mai gefunden, doch erst jetzt wurde die Entdeckung publik. Die Firma will nun einige der bereits an die Oberfläche gebrachten Fundstücke ausstellen, um zu beweisen, dass es sich wirklich um die Victory handelt. Dazu gehören zwei Kanonen aus Messing. Sie tragen das Wappen des englischen Königs Georg III. und stammen daher aus der richtigen Epoche.

Vorsorglich hat das Verteidigungsministerium in London die Amerikaner bereits darauf hingewiesen, dass die Überreste eines jeden britischen Kriegsschiffes Eigentum der Krone seien - auch wenn sie in internationalen Gewässern gefunden würden, wie dies bei der Victory angeblich der Fall ist. "Das bedeutet, dass ohne Einwilligung des Vereinigten Königreiches keine Handlungen ergriffen werden dürfen, die in den Bestand (des Wracks) eingreifen", hieß es in einer Erklärung. Odyssee Marine Exploration befindet sich bereits in einem Rechtsstreit mit der spanischen Regierung über die Rechte an 500 000 Silbermünzen, welche die Firma an Bord einer vor Portugal gesunkenen spanischen Galeone gefunden haben wollte. Vor fünf Jahren barg Odyssee das Wrack des US- Schaufelraddampfers Republic mit einem Münzschatz im Schätzwert von 75 Millionen Dollar.

Die Victory hatte sich auf dem Rückweg von Portugal in ihren Heimathafen Portsmouth befunden. Sie war maßgeblich daran beteiligt gewesen, die Blockade der Tajo-Mündung durch französische und spanische Schiffe zu brechen. Sie war von dem bereits 74 Jahre alten Admiral Sir John Balchen, einem Veteran des Neunjährigen und des Spanischen Erbfolgekrieges, kommandiert worden, als sie sank. Wolfgang Koydl

HMS-Victory-Replik bei der 200-Jahr-Feier der Trafalgar-Schlacht. Foto:dpa

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Heute bei

Der schlichte Schlüssel

Das eigene Geburtsdatum, die Zahlenfolge "123456" oder einfach nur "Passwort": Bei den meisten Internetnutzern siegt Bequemlichkeit vor Sicherheit.

www.sueddeutsche.de/passwort

Angst vor dem Kollaps

Warum arbeitet der Bankenrettungsfonds im Geheimen? Ist der Soffin gar die neue Finanz-Treuhand? Der Chefkontrolleur des Rettungsfonds im Interview. www.sueddeutsche.de/soffin

Foto: Buschmann

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Das Brot ist wieder frei

"Bernd das Brot" ist nach elftägiger Entführung wieder frei. Der mürrische Star des Kinderkanals wurde in einem dunklen Kellergewölbe nahe Weimar gefunden. "Kriminalisten sind bei ihm. Er ist es definitiv, und er ist unverletzt", teilte die Erfurter Polizei mit. Zur Befreiung des Kastenbrots mit den viel zu kurzen Armen hätten Kinder beigetragen. Beim Spielen auf einem verfallenen Kasernengelände bei Nohra zwischen Erfurt und Weimar hätten sie Bernd entdeckt und die Polizei alarmiert. Mit der Identifizierung des Grimmepreis-Trägers gab sich die Polizei alle Mühe. Er wurde auch vermessen, sagte ein Sprecher. "Wir wollten sichergehen, dass es nicht ein Doppelgänger ist." Die knapp zwei Meter große und 125 Kilogramm schwere Figur hatte vor ihrem Verschwinden in der Erfurter Altstadt für den Kinderkanal von ARD und ZDF geworben, der in der Thüringer Landeshauptstadt seinen Sitz hat. Bernd war dort im Herbst 2008 zum zehnjährigen Senderjubiläum aufgestellt worden. Zum Diebstahl des beliebten Fotomotivs hatten sich Sympathisanten der Hausbesetzer-Szene bekannt. Wer die Entführer waren und wie sie das schwere Kastenbrot in den Keller brachten, ist noch nicht geklärt. Am Mittwoch soll Bernd wieder an seinem Platz vor dem Rathaus aufgestellt werden, teilte der Sender am Montag mit. dpa, Foto: ddp

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Eltern der verhungerten Jacqueline vor Gericht

Gießen - Knapp zwei Jahre nach dem Hungertod der 14 Monate alten Jacqueline aus dem hessischen Bromskirchen stehen die Eltern seit Montag erneut wegen Mordes vor Gericht. Im Revisionsprozess am Landgericht Gießen drohen den zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilten Eltern nun lebenslange Freiheitsstrafen. Der 23 Jahre alten Mutter und ihrem 35 Jahre alten Ehemann werden Mord durch Unterlassen und die Misshandlung Schutzbefohlener zur Last gelegt. Jacqueline war im März 2007 im Haus ihrer Eltern verhungert und verdurstet. Zum Prozessauftakt in Gießen sagte nur der Angeklagte aus. Er habe von Jacquelines schlechtem Zustand nichts gewusst. Der Vater schilderte unter Tränen, wie er erst am Tag von Jacquelines Geburt von der Schwangerschaft seiner Frau erfahren habe. Auch wenn es überraschend gewesen sei, habe er sich gefreut. An der Versorgung und Pflege des Kindes habe er sich nicht beteiligt: "Das ist mir halt alles über den Kopf gewachsen." Der Fall muss neu aufgerollt werden, weil der Bundesgerichtshof im vergangenen September die Beweiswürdigung des Landgerichts Marburg gerügt und das Urteil vom Januar 2008 aufgehoben hatte. dpa

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Kinderhandel in Kairo aufgeflogen

Amerikanische Ehepaare sollen ägyptischen Frauen ihre Babys abgekauft haben - einheimische Ärzte agierten dabei als Vermittler

Von Karin El Minawi

Kairo - Das Paar war eigens aus den USA eingeflogen, die beiden Amerikaner wollten ihre telefonisch bestellten Babys aus Ägypten abholen. Daraus wurde allerdings nichts: Die Geschäftsfrau, 39, und der Unternehmer, 69, wurden in Kairo verhaftet und kommen wegen Kinderschmuggels demnächst vor den Strafgerichtshof.

Dies ist beileibe kein Einzelfall. Neben den beiden wurden ein weiteres amerikanisches Paar, zwei Frauenärzte, ein Bankangestellter und eine Krankenschwester verhaftet. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft in Kairo bestätigt, dass zumindest die Ärzte inzwischen gestanden haben: "Sie haben schwangeren Mädchen ihre Babys abgekauft, und sie an kinderlose amerikanische Ehepaare weiterverkauft."Nach Angaben des Sprechers agierten der Bankangestellte und die Krankenschwester als Vermittler zwischen den Amerikanern und den Ärzten. Gegen einen dritten Arzt und ein weiteres US- Ehepaar liegen Haftbefehle vor.

Die Paare hätten niemals mit den Kindern nach Amerika ausfliegen können - hätten ihnen nicht einheimische Ärzte geholfen. Denn um Reisepässe für Babys zu bekommen, die in Ägypten geboren wurden, muss man sich in der US-Botschaft registrieren lassen, wofür man unter anderem die vom Frauenarzt unterschriebene Geburtsurkunde benötigt und ein Dokument des Krankenhauses, das die Geburt des Babys in ihrem Hospital bestätigt.

Als die Geschäftsfrau und der Unternehmer mit eben diesen Dokumenten die Botschaft aufsuchten, um ihre angeblich in Kairo geborenen Zwillinge anzumelden, wurde ein Angestellter skeptisch: Das Einreisedatum der angeblichen Mutter, eine gebürtige Ägypterin, lag nur vier Tage vor dem Geburtsdatum. Die US-Botschaft benachrichtigte die Polizei, woraufhin die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleitete. "Es stellte sich heraus, dass das Ehepaar die Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, für umgerechnet 3700 Euro gekauft hatte", sagt der Sprecher des ermittelnden Staatsanwaltes Abdel Maguid Mahmoud. "Die Dokumente waren von den Ärzten gefälscht worden."

In einem anderen Fall hatte ein kinderloses Paar einen ägyptischen Bankangestellten schon aus den USA kontaktiert. Sie sagten ihm , dass sie sich zwei Kinder wünschten - ein Mädchen und einen Jungen. Da Adoption in Ägypten verboten ist, schlug der Bankangestellte den Kauf neugeborener Babys vor - Kindern, die nach der Geburt von ihren Müttern ausgesetzt oder in Waisenhäusern abgegeben wurden. Die Müttern sind oft junge Mädchen, die durch außerehelichen Sex schwanger wurden - in Ägypten ein großes Tabu.

Über eine Krankenschwester, die der Bankangestellte privat kannte, wurde der Kontakt zu zwei Ärzten aufgebaut. Nachdem sie sich geeinigt hatten, kamen die Babys direkt nach der Geburt zu der Krankenschwester. Diese kümmerte sich um die Neugeborenen, bis die neuen Eltern aus Amerika angereist kamen. Die Schwester ist nun ebenso wie die Ärzte und der Bankangestellte in Haft.

Inzwischen wurde ein weiteres Ehepaar verhaftet. Ein anderes Paar musste offenbar aus Termingründen vor Fertigstellung der Papiere Ägypten verlassen und zurück in die USA fliegen. Sie ließen das Neugeborene bei Bekannten zurück, um es später zu holen. Gegen sie liegt nun ebenfalls ein Haftbefehl vor. Die Kinder befinden sich inzwischen in verschiedenen Waisenhäusern. Das Krankenhaus wurde nach Angaben der ägyptischen Zeitung Al Masry el Youm auf Anordnung des Gesundheitsministeriums geschlossen. Bei einer Verurteilung müssen die Beschuldigten mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen, die Amerikaner ebenfalls. Die Sprecherin der US-Botschaft wollte sich zu den Ermittlungen nicht äußern.

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Zwei Schwerverletzte nach Familiendrama

Wuppertal - Nach einem Familiendrama sind in Wuppertal zwei Männer lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus gebracht worden. Nach ersten Erkenntnissen der Polizei hatte ein 62-jähriger Inhaber eines Installationsbetriebes am Freitag seinen 41-jährigen Schwiegersohn durch Schläge lebensgefährlich am Kopf verletzt. Anschließend sei der mutmaßliche Täter auf der Flucht mit einem Kleintransporter - möglicherweise in Selbstmordabsicht - frontal gegen eine Hauswand gefahren. Hausbewohner hatten den 41-jährigen Handwerker kurz im Keller gefunden. Gegen den Firmeninhaber wird jetzt wegen versuchten Mordes ermittelt. dpa

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Explosion in Kenia: Opfer-Zahl erhöht sich

Nairobi - Nach dem schweren Tanklaster-Unglück in Kenia hat am Montag eine einwöchige Staatstrauer um die mindestens 115 Toten begonnen. Präsident Mwai Kibaki ließ offizielle Feiern absagen und Fahnen auf Halbmast setzen. Auch am zweiten Tag nach dem Unglück nahe der Stadt Molo bargen Retter noch verkohlte Leichen. Bei Molo war am Samstag ein Benzinlaster von der Straße abgekommen und umgestürzt. Während am Unfallort Hunderte Menschen versuchten, das Benzin in Behältern zu sammeln, fing der Treibstoff Feuer. Als Auslöser der Katastrophe, bei der auch 200 Menschen verletzt wurden, gilt eine Zigarette. 100 Menschen wurden noch vermisst. Reuters

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Keine Busfahrkarte: Junge läuft elf Kilometer

Uetze - Weil er seine Schülerfahrkarte für den Bus vergessen hatte, musste ein Elfjähriger aus Uetze bei Hannover knapp neun Kilometer zu Fuß nach Hause laufen. Der Junge hatte auch kein Geld, um sich ein Einzelticket zu kaufen. Zwei Busfahrer hätten das Kind abgewiesen, sagte die Großmutter der Kinder. Einer habe gesagt: "Steig aus, ich habe keine Zeit, ich muss den Fahrplan einhalten."Mit seinem schweren Ranzen auf dem Rücken und behindert von einer Halskrause, die er nach einem Unfall tragen muss, sei ihr Enkel über Feldwege gegangen und habe zweieinhalb Stunden bis nach Hause benötigt. Ein Sprecher des Busunternehmens bedauerte den Vorfall. dpa

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DIE FRAGE

Was macht man mit 17,5 Millionen Euro?

Bei der Ziehung am Samstag ist der Lotto-Jackpot geknackt worden. Zwei Gewinner teilen sich 35 Millionen Euro und dürfen jetzt überlegen, was sie mit dem Geld eigentlich anfangen wollen.

Ferien: Die Penthouse-Suite im 52. Stock des Four Seasons Hotel in New York kostet pro Nacht 30 000 Dollar. Beim aktuellen Umrechnungskurs könnte man dort also 743 Nächte verbringen. Bei längeren Aufenthalten gibt es aber sogar einen Preisnachlass, als Lottogewinner kann man also etwa zwei Jahre und acht Monate dort bleiben.

Häuser: In Los Angeles steht derzeit Bob Dylans alte Villa zum Verkauf. Fünf Schlafzimmer, acht Badezimmer und sieben offene Kamine, zu haben für umgerechnet 8,6 Millionen Euro. Im Nobelort Kampen auf Sylt werden Ferienimmobilien mit sieben Schlafzimmern gebaut. Kosten: 14,5 Millionen Euro. Im Londoner Stadtteil Chelsea bietet ein Industrieller seine Villa zum Verkauf: 11,7 Millionen Euro, und da kann sogar noch verhandelt werden. Da bliebe noch Geld für die Einrichtung übrig - etwa für das eine oder andere Stück aus dem Besitz des verstorbenen Modedesigners Gianni Versace. Dessen Möbel kommen im März bei Sotheby's in London unter den Hammer: Gesamtwert etwa fünf Millionen Euro.

Flugzeuge: Einen Airbus A318 gibt es erst ab 46 Millionen, und das ist nur die schnöde Basisversion. Als Jackpot-Knacker muss man sich da mit kleineren Modellen begnügen, etwa mit neun kleinen Cessnas, Typ Citation Mustang.

Hautcreme: Ein Tiegel Hautcreme von LaMer kostet etwa 2100 Euro. Mit 8333 Stück sollte auch ein jugendlicher Gewinner bis zur Rente durchkommen.

Kaviar: Roter Beluga war gestern, heute muss es weißer Almas sein. Denn beim Kaviar gilt: Je älter der Fisch, desto teurer die Eier. Almas stammt von 100 Jahre alten Stören aus dem Kaspischen Meer. Für 17,5 Millionen gibt es 472 Dosen.

Autos: Der Bugatti Veyron 16.4 kostet 1,3 Millionen Euro. 13 Stück sind da also locker drin und die Knöllchen kann man dann auch noch bezahlen. Der Veyron schafft schließlich 407 Kilometer pro Stunde.

Marmelade: Die teuerste Marmelade der Welt kostet 7500 Euro je Glas. Sie wurde mit Whisky veredelt, einem 62 Jahre alte Dalmore, 50 000 Euro pro Flasche. Lottogewinner wählen zwischen 2333 Gläsern Marmelade oder 350 Flaschen Whisky.

Pizza: In einer Pizzeria in London wird die "Beluga King" angeboten. Sie hat 50 Zentimeter Durchmesser und ist mit Mozzarella, Zwiebeln, italienischen Hühnereiern und Kaviar belegt. Bei einem Preis von 440 Euro kann man dort 39 772 Mal speisen. Trinkgeld noch nicht mitgerechnet. Fotos: oh

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Brisanter Fund

Bauarbeiter entdecken in Berliner Wohnung Sprengstoff

Berlin - Dosen mit Kabeln und Klebeband - was Berliner Bauarbeiter am Montag in einer leerstehenden Wohnung gefunden haben, muss zunächst wie Abfall ausgesehen haben. Doch bei dem scheinbar harmlosen Material handeltete es sich um 15 selbstgebaute Rohrbomben mit Zündvorrichtungen. Den gefährlichen Fund machten die Handwerker bei Sanierungsarbeiten in einer Zwischendecke zum ersten Obergeschoss.

Aus Sicherheitsgründen evakuierte die Polizei 20 Menschen aus dem Haus und dem dazugehörenden Hinterhaus im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Ob die Bomben überhaupt funktionsfähig waren und wie viel Sprengkraft sie entwickeln hätten können, muss jetzt eine Untersuchung klären. Auch wie lange die Rohrbomben in ihrem Versteck gelegen haben, soll dabei ermittelt werden.

"Wir gehen nicht davon aus, dass man mit den Bomben das Haus in die Luft sprengen wollte", sagte ein Berliner Polizeisprecher am Montag. Vielmehr vermutet er, dass die Täter die Rohrbomben dort gelagert haben, weil die Erdgeschosswohnung bereits seit zehn Jahren leerstand. Deswegen müsse auch herausgefunden werden, wer Zutritt zu der ehemaligen Kindertagesstätte gehabt hat.

Ein Zusammenhang zu der aktuellen Serie von Brandstiftungen an Luxusautos im Prenzlauer Berg sieht die Polizei nicht. Es werde in alle Richtungen ermittelt. lawe

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Frostig grüßt das Murmeltier

Am "Groundhog Day" erwarten Zehntausende Phils Wetterbericht

Washington - Es bleibt frostig in den USA - zumindest wenn man dem traditionell am 2. Februar befragten Murmeltier in einem Wäldchen bei Punxsutawney (US-Staat Pennsylvania) glaubt. Bestaunt von Zehntausenden Menschen wurde das aktuelle Murmeltier namens Phil am "Groundhog Day" (Murmeltiertag) aus seinem Winterquartier gelockt - und sah seinen Schatten im Sonnenlicht. Der Tradition zufolge ist das ein klares Zeichen dafür, dass der Winter noch mindestens bis Mitte März anhält. Geschieht dies nicht, dürfen die Bürger hoffen, dass die Temperaturen bald nach dem Auftritt des Tieres ansteigen.

Die Zeremonie wird schon seit 1887 praktiziert und hat sich mittlerweile zu einem Tourismusmagneten für den kleinen Ort entwickelt: 30 000 Besucher aus aller Welt zieht Phils Prognose durchschnittlich an. Nach Vermutungen von Brauchtumsforschern geht die Tradition auf eine Verschmelzung von Legenden amerikanischer Ureinwohner und deutscher Siedler zurück. Danach glaubte ein seinerzeit in Punxsutawney lebender Indianerstamm, dass seine Vorfahren Murmeltiere waren. Die christlichen Siedler wiederum brachten eine eigene "Weisheit" mit: Danach wacht ein Murmeltier am 2. Februar, Mariä Lichtmess, aus seinem Winterschlaf auf, erschreckt sich, wenn es seinen eigenen Schatten sieht und zieht sich dann rasch wieder zum Schlafen in den Bau zurück. dpa

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Kaltes Chaos

Ein Tief aus Sibirien legt Englands Südosten lahm, in London geht nach 15 Zentimetern Neuschnee nichts mehr

Von Wolfgang Koydl

London - Als Myra Velkovic vor die Haustür trat, um nach London ins Büro zu fahren, da musterte sie die tiefverschneite Winterlandschaft mit einem Anflug von Herablassung: "Wo ich herkomme ist das kein Schnee", meinte die Kroatin spöttisch, zog sich den Schal fester um den Hals und stapfte in Richtung Bahnhof davon. Zwanzig Minuten später war sie wieder zurück. Für Großbritannien, so musste sie auf dem menschenleeren Bahnsteig erkennen, gelten andere Maßstäbe: 15 Zentimeter Neuschnee haben hier dieselbe Wirkung wie meterhohe Schneeverwehungen in ihrem heimatlichen Kroatien.

Meteorologen und Journalisten waren sich nicht einig, wann es das letzte Mal so heftig geschneit hatte; Vor acht, 18 oder noch mehr Jahren. Kein Zweifel bestand an den katastrophalen Folgen, welche die Kaltfront hatte, die aus Sibirien über die Nordsee kam und ihre Schneelast über England ablud: Der gesamte Südosten des Landes kam praktisch zum Stillstand. In London, Europas größter Stadt, bewegte sich am Montag gar nichts mehr. Nach einer Vielzahl von Karambolagen beorderten die Busbetriebe alle städtischen Busse in die Garagen zurück. Wenig später kapitulierten die U-Bahnen: Mit einer Ausnahme stellten alle Linien den Betrieb mehr oder minder ein, weil Schnee auf den überirdischen Streckenabschnitten die Gleisanlagen zugedeckt hatte. Ähnliche Probleme meldeten die Bahnbetriebe.

Hunderttausende von Pendlern wurde geraten, sich gar nicht erst zu ihren Vorortbahnhöfen zu bemühen. Viele allerdings erhielten die Nachricht nicht, weil die Websites der Bahnfirmen unter dem Ansturm der Anfragen zusammengebrochen waren. Chaos herrschte auch auf den Straßen. Da man im Süden Englands messbare Schneefälle tatsächlich nur im Jahrzehntetakt kennt, ersparen sich die meisten Autofahrer die Auslagen für einen Satz Winterreifen. Die Folgen konnte man allerorten studieren. Obwohl Streufahrzeuge die ganze Nacht über in Einsatz waren, blieben die meisten Nebenstraßen ungeräumt. Aber auch auf Autobahnen kam es zu zahlreichen Unfällen. Die wichtige M25, die rings um London führt, war abschnittsweise für Stunden geschlossen.

Der Autofahrerverband AA warnte eindringlich vor unnötigen Fahrten. Wer sich dennoch hinaus wage, solle sich entsprechend vorbereiten und warme Decken, Lebensmittel, heiße Getränke, eine Taschenlampe und wenn möglich einen Spaten in den Kofferraum packen. Die Liste las sich wie das Inventar des britischen Antarktis-Forschers Robert Falcon Scott. Bei aller Hektik gelang es den Briten, ihren Sinn für Humor und Understatement nicht zu verlieren. Wer keinen Mantel mitnehme und am Straßenrand mit einer Panne liegen bleibe, mahnte etwa AA-Sprecher Andy Taylor die Autofahrer, der "flirtet mit Hypothermie".

Flugpassagieren war dennoch nicht nach einem Flirt zumute. Alle fünf Londoner Airports - Heathrow, Gatwick, Luton, Standsted, und City - stellten entweder total den Betrieb ein oder verzeichneten teilweise mehrstündige Verspätungen. In Heathrow wurden beide Start- und Landebahnen vorübergehend geschlossen, nachdem eine Maschine von Cyprus Airways bei der Landung ins Schlittern geraten und von der Landebahn abgekommen war. Niemand wurde verletzt. British Airways strich vorsorglich alle Flüge bis zum späten Nachmittag.

Viele Briten ließen es sich nicht zweimal raten, angesichts der Wetterverhältnisse lieber zuhause zu bleiben - zumal da ja auch ihre Kinder von den meisten Schulen schneefrei bekommen hatten. Hinzu kam, dass der erste Montag im Februar seit Jahren ohnehin als "Nationaler Krankfeiertag" gilt: An keinem Tag des Jahres melden sich mehr Arbeitnehmer krank - getrieben von deprimierendem Winterwetter, Kreditkartenabrechnungen, und einer allgemeinen Niedergeschlagenheit nach den Weihnachtsexzessen.

In diesem Jahr könnte die Stimmung gehoben werden - durch einen extra freien Tag. Denn während die Nation noch durch den Schnee tappte, war schon eine neue sibirische Front im Anmarsch.

Schneekuppel: Am Montag hielt sich London weiß bedeckt, der Verkehr lag lahm und selbst die St. Pauls Kathedrale zeigte sich selten verschneit. Foto: AP

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Weltklimaabkommen

Gipfel der Erwartungen: Bis Anfang Dezember 2009 muss der Chef des UN-Klimasekretariats, Yvo de Boer, Ölförderländer, Industrienationen und bedrohte Pazifikinseln für ein gemeinsames Klimaabkommen gewinnen. Geht alles nach Plan, soll die Weltgemeinschaft dann auf ihrer nächsten Klimakonferenz in Kopenhagen ein Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll verabschieden.

In dem Protokoll, das am 16. Februar 2005 in Kraft trat und 2012 ausläuft, hatten sich Industrieländer erstmals auf völkerrechtlich verbindliche Ziele für den Ausstoß von Treibhausgasen festgelegt. Sie gelten als die hauptsächliche Ursache der globalen Erwärmung. Das Kyoto-Protokoll sieht vor, die Emissionen in den Industrieländern bis 2012 um jährlich 5,2 Prozent zu senken. Allerdings leidet das Kyoto-Protokoll unter dem Boykott der USA, dem größten Klimasünder der Welt. Die Vereinigten Staaten hatten sich keine Klimaziele auferlegt. Das könnte sich nun ändern. Der neue US-Präsident Barack Obama habe signalisiert, sein Land werde in der Klimapolitik eine Kehrtwende vollziehen, heißt es aus dem UN-Klimasekretariat. Die USA stünden zum neuen Abkommen in diesem Jahr.

Der neue Pakt von Kopenhagen soll 2013 in Kraft treten und festlegen, welche Klimaziele die 190 Staaten nach Auslaufen des Kyoto-Protokolls verfolgen werden. Doch noch immer liegen die Positionen weit auseinander - vor allem zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Die Erste Welt will insbesondere Schwellenländer wie Indien und China zum Handeln zwingen. Doch die verweisen auf die historische Schuld der Industriestaaten. Trotz aller Zerwürfnisse: Bereits im Sommer dieses Jahres soll ein erster Entwurf des neuen Abkommens vorliegen. mbal

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Industrie streicht Jobs

Berlin - Die von der globalen Flaute gebeutelte deutsche Industrie hat zum Jahresauftakt im Rekordtempo Arbeitsplätze gestrichen. Wegen der sinkenden Nachfrage sah sich die Branche im Januar gezwungen, auch die Produktion erneut drastisch zu drosseln. Das geht aus der Markit-Umfrage unter 500 Firmen hervor. Da immer mehr Betriebe auf die anhaltende Unterauslastung mit Stellenstreichungen reagierten, kam es in der Industrie zum stärksten Beschäftigungsabbau seit Umfragebeginn vor fast 13 Jahren. Zudem führten viele Unternehmen Kurzarbeit ein. Reuters

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Geld für Irlands Banken

Dublin - Die irische Regierung will nach Angaben aus Kreisen zwei der größten Banken des Landes insgesamt acht Milliarden Euro zuschießen und zusätzlich für faule Kredite geradestehen. Die Allied Irish Bank und die Bank of Ireland sollen jeweils vier Milliarden Euro erhalten. Bislang ziere sich die Allied Irish Bank noch, das Geld anzunehmen, hieß es in Kreisen. Der Plan zur Rekapitalisierung der Banken soll noch in dieser Woche vorgestellt werden. Ursprünglich wollte die Regierung in Dublin durch den Kauf von Vorzugsaktien nur halb so viel in die Banken investieren. Reuters

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US-Verbraucher sparen

Washington - Die Verbraucher in den USA haben im Dezember den sechsten Monat in Folge ihre Ausgaben eingeschränkt. Verglichen mit November sank der private Konsum um 1,0 Prozent und damit etwas stärker als zunächst angenommen. Bereits im Vormonat lag das Minus bei 0,8 Prozent. Zu schaffen machen dürfte den Verbrauchern ihr sinkendes Einkommen; ihnen stand 0,2 Prozent weniger Geld zur Verfügung als im Vormonat. Im gesamten Jahr 2008 steigerten die Verbraucher ihren Konsum um 3,6 Prozent und damit so langsam wie seit 1961 nicht mehr. Reuters

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Prämie bringt wenig

Paris - In Frankreich hat die Verschrottungsprämie für Altautos vorerst keinen Boom bei Neuwagenverkäufen ausgelöst. Der Absatz im Januar sei aber deutlich weniger tief eingebrochen als in den beiden Vormonaten, teilte der Verband der französischen Automobilhersteller (CCFA) mit. Demnach wurden 149 385 Kraftfahrzeuge abgesetzt und damit 7,9 Prozent weniger als im Vorjahresmonat. Im November und Dezember gingen die Zahlen um 14,0 und 15,8 Prozent zurück. Laut CCFA wird sich die Wirkung der Prämie in Höhe von 1000 Euro erst im zweiten Quartal deutlich zeigen. AFP

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"Unser Lebensstil muss sich radikal ändern"

UN-Klimaschützer Yvo de Boer über den schleppenden Kampf gegen die Erderwärmung, Folgen der Wirtschaftskrise für die Umwelt und die grüne Revolution im Weißen Haus

Bis zur Klimakonferenz Ende des Jahres in Kopenhagen soll der Holländer Yvo de Boer die Welt auf die Abkehr von fossilen Brennstoffen einschwören. Trotz Wirtschaftskrise müsse es gelingen, den Schadstoffausstoß drastisch zu senken, sagt de Boer und fordert, Industrieländer sollten im Streit mit den Ärmsten einlenken und sich höhere Umweltziele setzen.

SZ: Herr de Boer, Sie gelten als grünes Weltgewissen. Kämpfen Sie in diesen klammen Zeiten auf verlorenem Posten?

De Boer: Niemand kann leugnen: Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat Einfluss auf die internationale Klimapolitik. Sie macht es schwerer, an Geld für den Klimaschutz zu kommen. Aber klar ist auch: Sie ist ein weltweiter Weckruf.

SZ: Was meinen Sie?

De Boer: Ich glaube, die Menschheit lernt in diesen Tagen eine bittere Lektion: Wir erleben, was es heißt, nicht nachhaltig zu wirtschaften. Wir haben lange über unsere Verhältnisse gelebt. Das ist ähnlich wie beim Klimaproblem. Die Gründe der Finanz- und Wirtschaftskrise liegen in unbezahlter Schuld. Investoren, Politik und Banken lernen jetzt hoffentlich, genauer hinzuschauen - und nachhaltig zu handeln.

SZ: Glauben Sie das wirklich? Seit 2000 haben die Industrieländer ihre Treibhausgas-Emissionen erhöht, statt sie zu senken. Jetzt auch noch die Wirtschaftskrise. Droht die Welt beim Klimaschutz zu versagen?

De Boer: Die Emissionen liegen tatsächlich höher als jemals zuvor in der Geschichte. Aber unsere jüngsten Zahlen geben nur bis 2005 Aufschluss. Im gleichen Jahr trat das Kyoto-Protokoll in Kraft. Viele Länder haben erst danach ernsthaft angefangen, Emissionen zu reduzieren. Ich bin mir sicher, dass das Abkommen greift und dass die Gruppe der Industrieländer, die das Kyoto-Protokoll ratifiziert hat, bis 2012 im Schnitt einen leichten Rückgang erreicht.

SZ: Die Zeit drängt. Sie fordern, schon bis zur nächsten Klimakonferenz in Kopenhagen Ende dieses Jahres Produktion und Konsum umzusteuern. Was muss passieren?

De Boer: Unser Lebensstil muss sich radikal ändern. Schauen Sie: Das Kyoto-Abkommen war gut. Die vereinbarten gut fünf Prozent weniger Emissionen reichen aber langfristig bei weitem nicht aus. Die Wissenschaft macht uns klar: Wir brauchen Kürzungen von 80 Prozent, um den Klimawandel zu stoppen.

SZ: Wie soll das funktionieren?

De Boer: Die Kyoto-Ziele lassen sich noch mit etwas mehr Energieeffizienz, sparsameren Autos oder besserer Wärmedämmung für Häuser erreichen - diese neuen Ziele nicht. Sie stellen Fundamentales in Frage: Die Mittel der Energieerzeugung und der Fortbewegung zum Beispiel. Auf der nächsten Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember müssen wir den ersten Schritt gehen in eine nachhaltige Energiezukunft mit erneuerbaren Ressourcen.

SZ: Die Industrieländer nehmen gerade Milliarden in die Hand, um das Fundament ihrer Wirtschaft zu retten. Wie wollen Sie den Klimaschutz in den nächsten Monaten ganz oben auf der Agenda der Weltpolitik halten?

De Boer: Die US-Regierung denkt über eine Neuverschuldung von zwei Billionen Dollar nach. Die Staatsverschuldung liegt dann bei zwölf Billionen Dollar auf Höhe des Bruttosozialprodukts. Und die Amerikaner sind ja nur ein Beispiel von vielen. Nirgendwo auf der Welt ist das der ideale Moment für einen Besuch beim Finanzminister, um zu fragen: Sind noch ein paar Milliarden für die Klimapolitik da? Es wäre Unsinn, das zu leugnen.

SZ: Woher soll das Geld für die Klimapolitik dann kommen?

De Boer: Das Geheimnis wird es sein, es im Klimaprozess aufzutreiben, nicht draußen. Ein Beispiel: Deutschland versteigert Emissionsrechte - Geld, das in internationale Kooperationen und heimische Klimaprojekte fließen soll. Ein anderes: Europa führt eine Steuer auf den internationalen Luftverkehr ein. Solche Projekte sind der Weg der Zukunft. Es gibt viele Chancen, die Verursacher von Umweltproblemen auch dafür zahlen zu lassen.

SZ: Flugreisen in den Süden oder das Autofahren müssen teurer werden?

De Boer: Menschen hassen es, Freiheiten zu verlieren. Aber wenn man ihnen erklärt: Ihr könnt das alles tun, aber erwartet nicht, dass die anderen dafür zahlen, wird die Botschaft akzeptabler. Von mir aus kann jeder Erdbeeren im kältesten Winter essen. Aber es ist doch fair, wenn man dann auch den hohen Preis für Energie und Emissionen zahlt. Das Kuriose ist doch: Viele Menschen finden Klimapolitik sehr wichtig - aber nicht auf Kosten ihres eigenen Lebensstils. Das kann nicht klappen.

SZ: Die internationalen Klimaverhandlungen stocken - auch weil sich die USA lange gegen einen Pakt gesträubt haben. Wird Präsident Barack Obama das ändern?

De Boer: Der Wechsel im Weißen Haus ist für die Klimapolitik sehr wichtig. Alles, was Präsident Obama sagt, deutet darauf hin, dass er eine Führungsrolle im Kampf gegen den Klimawandel einnehmen, dass er an internationalen Verhandlungen teilnehmen und dass er Entwicklungsländern die Hand reichen und ihnen helfen will.

SZ: Der Streit zwischen Entwicklungs- und Industrieländern ist zuletzt eskaliert. Sie sprechen von einer historischen Schuld der reichen Welt. Warum?

De Boer: Es gibt in der Klimapolitik einen deutlichen Vertrauensverlust zwischen Reich und Arm - leider nicht ohne Grund. Vor allem die USA verlangten unter Präsident Bush zuletzt von Ländern wie China, Indien und Brasilien, exakt die gleichen Schritte wie die Erste Welt zu unternehmen. Aus der Perspektive von Entwicklungs- und Schwellenländern ist das unfair. Schließlich haben Industrienationen das Klimaproblem zum Großteil selbst verursacht - durch die industrielle Revolution und ihr Wachstum zu enormem Wohlstand.

SZ: Vor gut einem Jahr haben Sie 150 versammelten Ministern bei der Klimakonferenz in Bali mit Hausarrest gedroht, wenn sie sich nicht einigen. Wen nehmen Sie nun ins Gebet?

De Boer: Die Industrieländer müssen Verantwortung übernehmen. Sie müssen die Emissionen um 20 Prozent reduzieren - ohne Vorgaben für die Dritte Welt. Aber sie sollten Anreize setzen und ihren Beitrag dann auf 30 Prozent erhöhen, wenn Entwicklungsländer beim Klimaschutz mitmachen. Und sie müssen ihnen beim Klimaschutz finanziell helfen. Europa wird wohl im März ein solches Paket vorlegen. Dann lässt sich guten Gewissens sagen: Seht her, wir tun was. Was ist euer Beitrag?

SZ: Sie müssen in den nächsten Monaten Ölförderländer wie Saudi-Arabien und bedrohte Pazifikinseln, Industrienationen und solche, die es werden wollen, im Kampf für ein Kyoto-Nachfolgeprotokoll unter einen Hut bringen. Plagt Sie die Angst vor dem Scheitern?

De Boer: Nein, nicht vor dem Scheitern. Aber davor, dass wir auf der Konferenz in Kopenhagen zu viel wollen und dann nicht genug schaffen. Mein größter Albtraum ist, dazustehen wie mein guter Freund Pascal Lamy, der Chef der Welthandelsorganisation WTO. Die macht ergebnislos weiter. Das darf nicht passieren - dann hätte die Welt ein Problem.

Interview: Markus Balser

"Die Menschheit

lernt in diesen Tagen eine

bittere Lektion."

"Fünf Prozent weniger

Emissionen reichen nicht -

wir brauchen 80 Prozent."

In der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten muss UN- Klimachef Yvo de Boer einen neuen Umweltpakt mit 190 Regierungen schmieden. Er gilt als strenge Autorität, aber auch als verletzlich: Völlig verausgabt brach der Diplomat am letzten Tag der Klimakonferenz von Bali auf offener Bühne in Tränen aus. Foto: Karlheinz Jardner

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Union zweifelt an höherer Lkw-Maut

Berlin - In der Union rührt sich Widerstand gegen die höhere Lkw-Maut. Bis 2010 solle mindestens ein Teil der Erhöhung ausgesetzt werden, forderte Unions-Fraktionsvize Hans-Peter Friedrich am Montag in Berlin. Die Maut war erst Anfang Januar erhöht worden. Sie ist stärker als zuvor gespreizt, belastet also Lastwagen mit hohem Schadstoffausstoß mehr als jene mit geringem. Gleichzeitig setzt der Bund damit die Ergebnisse des jüngsten "Wegekostengutachtens" um. Es sollte klären, wie groß die finanziellen Belastungen sind, die dem Bund durch den Schwerlastverkehr entstehen.

Dem allerdings will der Spediteursverband BGL widersprechen. Der erste Entwurf eines Rechtsgutachtens für den BGL zeige, "dass die Lkw-Mauterhöhung europarechtlich auf schwachen Fundamenten steht und vieles für deren Rechtswidrigkeit spricht", schrieb das Verbands-Präsidium vorige Woche an die Mitglieder. Deshalb wolle der Verband "massenhaften Protest des Gewerbes auf die Straße bringen". Auch in Brüssel mehrten sich Zweifel an der deutschen Methode der Wegekosten-Berechnung, sagte Friedrich der Süddeutschen Zeitung. "Die Mauterhöhung sollte insoweit bis zu einer rechtlichen Klärung ausgesetzt werden." Die Wegekosten machen rund 1,3 Cent je Kilometer aus.

Laut Verkehrsministerium steht eine solche Aussetzung aber nicht zur Debatte. Unterdessen stellte Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) den Spediteuren zusätzlich 100 Millionen Euro für die Aufrüstung ihres Fuhrparks in Aussicht. Dies solle die Folgen des Abschwungs für die Branche lindern. miba

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Im Schatten der Akropolis

Bilder von brennenden Straßen und zerstörten Läden verschrecken die Griechenland-Touristen. Jetzt soll eine Werbeoffensive gegensteuern

Von Kai Strittmatter

Istanbul - Als ob ihnen die globale Krise nicht schon genug zu schaffen machte. Im griechischen Tourismussektor herrscht Ärger über das Bild, das Griechenland zur Zeit abgibt und Sorge über die Auswirkungen, die das im kommenden Jahr für die Branche und das ganze Land haben könnte. Blauer Himmel, klares Wasser, weißgetünchte Häuslein - im Moment sind das nicht unbedingt die ersten Dinge, die vielen in den Sinn kommen, wenn das Wort "Griechenland" fällt. Stattdessen erfuhr ganz Europa in den letzten Wochen vor allem von randalierenden Jugendlichen, schießwütigen Terroristen, autobahnblockierenden Bauern, arbeitsunwilligen Fluglotsen und dafür umso fleißigeren Entführern. "Griechenland - ein echtes Erlebnis", wie die Tourismusbehörde wirbt? Mag sein für manche, aber offenbar nicht jenes, das sie sich für ihren Urlaub wünschen. Die Hauptstadt bekam dies als Erste zu spüren: Die Besucherzahlen für Athen sind dramatisch eingebrochen.

Sinkende Kreditwürdigkeit

Ein Einbruch im Tourismusgeschäft im kommenden Jahr würde Griechenland besonders hart treffen, weil das Land so abhängig ist vom Tourismus wie wenige andere. Die Vereinigung der griechischen Tourismusunternehmer Sete schätzt, dass jeder fünfte Arbeitsplatz und jede vierte kleine Firma im Land direkt oder indirekt vom Tourismus abhängen. Gleichzeitig träfe ein solcher Rückgang das Land zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Die Europäische Kommission hat eben erst für die griechische Gesamtwirtschaft einen Einbruch des Wachstums von zuletzt 2,9 auf nur mehr 0,2 Prozent vorausgesagt. Dann gab der frischernannte Wirtschaftsminister Jannis Papathanassiou bekannt, dass das griechische Budgetdefizit 2008 - anders als noch im Dezember behauptet - tatsächlich die Maastricht-Grenze von höchstens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gerissen hat. Schließlich stufte das Ratingunternehmen Standard & Poor's auch noch die Kreditwürdigkeit des griechischen Staates um eine Stufe herab: von "A" auf "A-", damit ist Griechenland Schlusslicht der Eurozone.

Das Beste, was man bislang von griechischen Tourismusexperten zu hören bekam, war die Einschätzung, die Aussichten für 2009 seien "neblig". Andere sprechen lieber von trüb bis stürmisch. Vor allem die Zahlen für Athen schockierten die Branche. Im Dezember - jenem Monat, in dem die Bilder von brennenden Straßen und zerstörten Läden im Zentrum der Stadt um die Welt gingen - gingen die Buchungen verglichen mit Dezember 2007 um die Hälfte zurück. Und für die ersten beiden Monate im neuen Jahr sieht es noch schlechter aus: 70 Prozent weniger reservierte Hotelzimmer als vor einem Jahr. "Athen hat ein ernstes Problem. Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand diese Stadt besuchen sollte", sagte Nikos Angelopoulos, Präsident des Tourismusunternehmerverbandes Sete während der wochenlangen Straßenschlachten: "Wieder einmal erwischte es uns unvorbereitet." Es passte, dass eines der Gebäude, das die Randalierer angegriffen hatten, das Büro des staatlichen Tourismusverbandes war. Das englischsprachige Wochenblatt Athens Plus klagte gar nach der auch im Januar nicht enden wollenden Serie negativer Schlagzeilen vor einer Woche, das Land sei "auf tragische und geradezu kriminelle Weise unfähig" zur professionellen Imagepflege. Es wirke im Gegenteil so, als täten die Griechen "alles in ihrer Macht Stehende, Touristen zu verscheuchen." Auch wenn jeder Einheimische wisse, dass dies Unsinn sei, so müssten Ausländer doch den Eindruck bekommen, das Land werde von Gesetzlosigkeit und kriminellen Banden beherrscht.

Opfer der Sparsamkeit

Oberflächlich betrachtet war noch 2008 ein Jahr der Rekorde: der Devisenzufluss durch Touristen stieg um mehr als sechs Prozent. Aber erste Alarmzeichen gab es auch schon da: Eine Studie zeigte, dass von Januar bis Oktober 2008 sämtliche Konkurrenten in der Eurozone Griechenland beim Wachstum der Besucherzahlen überholt hatten. Nun geht die Angst um, dass auch jene Griechenland-Stammgäste, die die Bilder und Schlagzeilen richtig einzuordnen wissen und sich nicht so leicht abschrecken lassen, ausbleiben - weil sie ihren Inselurlaub in diesem Jahr der Sparsamkeit opfern.

Im Zentrum der Furcht stehen vor allem die Briten, bislang eine Säule des Griechenland-Tourismus. Fast jeder sechste Besucher war im letzten Jahr ein Brite. Und ausgerechnet die Briten trifft die Finanzkrise härter als die anderen Europäer: Das Pfund hat einen rasanten Wertverfall hinter sich. Die Regierung in Athen hat nun eine Werbeoffensive angekündigt. Eines sei klar, sagte Anfang der Woche der Direktor des staatlichen Statistikamtes: Wie stark die globale Krise Griechenland 2009 treffen werde, hänge vor allem von einem ab - vom Tourismus.

Blauer Himmel, klares Wasser, weißgetünchte Häuslein und die Akropolis (Bild) - im Moment sind das nicht unbedingt die ersten Dinge, die vielen in den Sinn kommen, wenn das Wort "Griechenland" fällt. Foto: AP

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GEWINNQUOTEN

Lotto (31. Januar):

Lottozahlen: 7 - 9 - 11 - 14 - 17 - 31

Zusatzzahl: 1; Superzahl: 2.

1. Rang (6 Treffer und Superzahl) 17 523 606,50 Euro, 2. Rang (6 Treffer) 424 475,80 Euro, 3. Rang (5 Treffer mit Zusatzzahl) 19 531,00 Euro, 4. Rang (5 Treffer) 1679,90 Euro, 5. Rang (4 Treffer mit Zusatzzahl) 77,10 Euro, 6. Rang (4 Treffer) 26,10 Euro, 7. Rang (3 Treffer mit Zusatzzahl) 14,60 Euro, 8. Rang (3 Treffer) 7,30 Euro.

Spiel 77: 1212784

Gewinnklasse 1, Super 7: unbesetzt, im Jackpot 1 646 772,50 Euro, Gewinnklasse 2: 70 000,00 Euro, Gewinnklasse 3: 7000,00 Euro, Gewinnklasse 4: 700,00 Euro, Gewinnklasse 5: 70,00 Euro, Gewinnklasse 6: 7,00 Euro, Gewinnklasse 7: 2,50 Euro.

13er-Wette: 1. Rang 72 963,40 Euro, 2. Rang 1709,90 Euro, 3. Rang 124,40 Euro, 4. Rang 12,60 Euro.

Auswahlwette: Gewinnklasse 1: unbesetzt, im Jackpot 825 467,40 Euro, Gewinnklasse 2: unbesetzt, im Jackpot 33 484,10 Euro, Gewinnklasse 3: 508,30 Euro, Gewinnklasse 4: 23,00 Euro, Gewinnklasse 5: 5,40 Euro, Gewinnklasse 6: 2,60 Euro.

Lotterie Aktion Mensch: Ziehung 27. Januar: Geldziehung Rang 1: Nr. 0 578 660, Rang 2: 5 543 421, 1 380 414, Rang 3: 9 674 202, 7 757 149, 3 103 045, 9 970 209, Rang 4: 492 921. (Ohne Gewähr)

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Zahlen für Sparpläne korrigiert

München - Der Investmentverband BVI korrigiert seine Daten über Sparpläne (vgl. SZ vom 24. Januar). Anleger, die in Aktienfonds mit Schwerpunkt Deutschland 10 Jahre lang monatlich 100 Euro einzahlten, verfügten demnach Ende 2008 über 10 125 Euro und nicht über 4 683 Euro. Die Wertentwicklung betrug minus 3, nicht minus 10 Prozent pro Jahr. Der Verband bedauert dies. SZ

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Die Erinnerung an viele Nullen

Was werden die Menschen in einigen Jahrzehnten über Deutschland am Beginn der Wirtschaftskrise denken? So könnte ein Zeitzeugen berichten

Von Alexander Mühlauer

Kann gut sein, dass einer von uns in ein paar Jahrzehnten gefragt wird, wie es so war, damals, in Deutschland, am Anfang der Wirtschaftskrise 2009. Als Zeitzeuge wird er dasitzen, vielleicht am Ufer des Mains, hinter ihm die Frankfurter Bankentürme, falls es die noch gibt. Er wird Dinge erzählen, die wir jetzt noch nicht wissen können. Kann gut sein, dass sich alles dramatischer anhört, als es heute den Anschein hat. Vielleicht so dramatisch wie die Erinnerungen jener Zeitzeugen, die uns dieses Jahr noch zu den Ohren heraushängen werden: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik - wie gesagt, etwas Dramatisches eben.

Also, wie fühlte es sich an, als die größte Wirtschaftskrise seit 1929 über die Welt hereinbrach? Nun ja, müsste man sagen, es ging recht zögerlich los.

Zunächst gab es wütende Menschen vor einer britischen Bank namens Northern Rock. Dann gab es wütende Menschen vor einer amerikanischen Bank namens Lehman Brothers. In Deutschland waren zunächst vor allem einige Menschen wütend, die ihr Geld verloren hatten. Manche von ihnen waren unwissend, manche zu gierig. Schnell wurden aus ein paar Verlierern ganz viele Menschen, die Angst um ihr Erspartes hatten. Sie horteten es. Und wenn sie es ausgaben, dann vorzugsweise beim Discounter, bei Aldi, Lidl, C&A. Neue Möbel? Lieber später. Der geplante Urlaub in Ägypten? Ostsee ist billiger.

Anfangs war die Krise dem sogenannten Durchschnittsbürger ziemlich egal gewesen. Aber das änderte sich, als sie immer greifbarer wurde - und immer seltsamer. Auf einmal gehörte uns ein Viertel Commerzbank. Gefragt, ob wir das überhaupt wollten, hatte uns keiner. Und warum wir das Viertel Bank kaufen sollten, verstand sowieso niemand so richtig. Es regte sich auch keiner darüber auf. Der Staat, so die Mehrheitsmeinung, werde schon wissen, was er seinen Steuerzahlern zumutet.

Überhaupt der Staat. So mancher Bürger hatte das Vertrauen in die Marktwirtschaft verloren, in der Krise generierte sich der Staat zum Super-Staat. Er schnürte Pakete, Milliardenpakete, um die Konjunktur anzukurbeln. Es waren Zahlen mit gigantisch vielen Nullen. Diese Summen verloren mehr und mehr ihren Schrecken. Beim wievielten Milliardenpaket der Staat eigentlich pleite sein würde? Gute Frage. Keiner wusste es.

Richtig bedrohlich wurde die Krise für viele, als es hieß, wir müssten unbedingt die Autoindustrie retten. Und mit ihr: Tausende Arbeitsplätze. Das muss man sich mal vorstellen! Deutsche Autos, das wusste doch jeder, waren ein Stück Identität unseres Landes. Und jetzt sollte dieses Stück Deutschland auf einmal bedroht sein. Opel, BMW, Mercedes-Benz, einfach so auf der Kippe.

Wehmütig dachte so mancher an die Zeit, als Wohlstand für alle noch möglich war. Als Raucher noch willkommen und Arbeitsplätze noch sicher waren. Diese Glorifizierung der Vergangenheit wurde Woche für Woche bedient. Kein Wunder, dass in den Talkshows der Republik diejenigen saßen, die sie am besten bedienen konnten. Es waren die alten Männer. Über-Kanzler Schmidt, FDP-Graf Lambsdorff, die Vogel-Brüder, Norbert-die-Rente-ist-sicher-Blüm. Sie waren alle wieder da. Es schien so, als ob sie jahrelang irgendwo gebrütet hätten, um dann allen ihre Weisheiten mitteilen zu können.

Sie sagten kluge Dinge. Man hörte ihnen gerne zu. Aber sie waren alt. Sie hatten selbst genug Zeit gehabt, dieses Land mitzugestalten. Irgendwie hatten sie es hingekriegt, mal besser, mal schlechter. Aber sollten ausgerechnet sie es sein, die uns sagten, was sein wird? Es sah ganz danach aus, als ob die Merkel-Steinmeier-Regierung auch nicht viel mehr wusste als die Altvorderen. Reformen? Pustekuchen! Man stärkte das, was da war (Industriegesellschaft); nicht das, was etwas werden konnte (Wissensgesellschaft). Statt mehr Geld in Bildung und Forschung zu stecken, zahlte der Staat lieber den Weg zur Arbeit. Die Pendlerpauschale war 2009 schon mehr als 50 Jahre alt. Irgendwann fragte keiner mehr nach dem Grund, sie war einfach da. Die Politiker zementierten Strukturen und sorgten so dafür, dass die Krise noch viel länger dauerte.

Dabei hätte es die Große Koalition nicht so schwer gehabt. Wann bitteschön ist eine Gesellschaft reformfreudiger als in Zeiten des Umbruchs? Damals, als die Krise über uns kam, wäre die Chance da gewesen, endlich umzudenken, die Chance, alles einmal so richtig zu hinterfragen. Wir haben es nicht getan. Wir haben viel zu lange alte Industrien hochgepäpppelt und alte Rezepte nachgebetet.

Wir ließen es einfach geschehen, dass der Staat Lasten anhäufte, die noch lange zu spüren waren. Dass die junge Generation die Milliardenschulden für all die Rettungs-, Konjunktur- und Sonstwas-Pakete irgendwann zurückzahlen musste, dass sie inzwischen so gut wie keine Rente mehr bekommt - alles kein Aufreger damals.

Auch die Sache mit dem Klimawandel wäre ein paar Debatten mehr wert gewesen. War aber nicht mehr so wichtig - vergessen, vertagt, verschwunden, irgendwo im Berliner Politikbetrieb. Wer damals jung war, machte sich so seine Gedanken. Über den Klimawandel, vielleicht über die Folgen der Globalisierung und die Überalterung der Gesellschaft, ganz sicher über die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Alles Dinge, die die deutsche Krisenpolitik verdrängte. Man versuchte, Bestehendes zu stärken, vor dem Untergang zu retten. Was aber, wenn es nicht mehr zu retten war? Ja, was dann? Das traute sich keiner zu fragen, damals.

Es gab keine Garantien mehr. Alles war unsicher. Daran hatte man sich gewöhnt. Es war ein Gefühl der Ohnmacht. Auch wer privat fürs Alter vorsorgte, durfte sich nicht wundern, wenn das Unternehmen, bei dem man eine Versicherung abgeschlossen hatte, plötzlich pleite ging. Konnte gut sein.

Gerne hätte man damals gewusst, wohin mit all dem Geld, wenn man denn noch welches hatte. Aktien? Kannste vergessen, sagten alle, das wissen wir doch schon seit Manfred Krug und all den anderen Marktschreiern der Dot-Com-Blase. Was blieb also? Wahre Werte, sagten die Geldanlage-Strategen, Gold sei krisensicher. Ein Haus oder eine Wohnung wäre auch nicht schlecht gewesen. Aber man sollte ja mobil bleiben, in dieser globalisierten Gesellschaft, niemals sesshaft werden, immer im Fluss bleiben, mitschwimmen.

Statt zukunftsträchtige Ideen zu fördern, beschäftigten sich Politiker und Manager lieber mit der Frage, ob wir den Tiefpunkt der Krise bereits erreicht hätten. Dass es schon damals wichtigere Fragen gab, etwa unser System und sein mögliches Auseinanderbrechen, schien niemanden so richtig zu interessieren. Dabei war bereits Anfang 2009 vieles absehbar: die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Spaltung in gut versorgte Senioren und künftige Altersrentner ohne Geld. Doch die Politiker verdrängten alles und hofften stattdessen auf den Aufschwung. Ja, wenn er nur ganz schnell käme. So schnell kam er aber nicht. Er ließ noch lange auf sich warten - und all die politischen Fehler waren ein wichtiger Grund dafür.

Die Politiker zementierten Strukturen und erreichten so, dass die Krise länger dauerte.

Deutschland 2008, dunkle Wolken hängen über den Frankfurter Bankentürmen. Am Anfang war die Krise den meisten Bürgern ziemlich egal. Solange egal, bis es immer seltsamer wurde. Plötzlich gehörte ihnen ein Viertel Commerzbank - immerhin der höchste Turm. Gefragt, ob sie das überhaupt wollten, hatte keiner. Und warum sie das Viertel Bank kaufen sollten, verstand sowieso niemand richtig. Foto: ddp

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Tricks am Wühltisch

Start des Schlussverkaufs: Was hinter den Rabatten steckt

Von Andreas Kunze

Düsseldorf - Die Wühltisch-Saison hat wieder begonnen. Wegen der Wirtschaftskrise locken die Händler beim Winterschlussverkauf mit extremen Preisnachlässen von bis zu 70 Prozent. Aber mitunter werden die Kunden auch für dumm verkauft.

Grundsätzlich können Händler mittlerweile das ganze Jahr über Sonderverkäufe starten. Die früher verbindliche Pflicht für einheitliche Termine im Sommer und im Winter gibt es seit 2004 nicht mehr. Der bundesweit vom Einzelhandel koordinierte inoffizielle WSV hat in dieser Woche erneut - wie früher Tradition - am letzten Montag im Januar begonnen. Mitunter werden Vorteile allerdings lediglich vorgegaukelt, etwa bei so genannten "Mondpreisen": Der Händler hat vor dem Schlussverkauf Preise erhöht - und streicht sie dann plakativ zusammen.

Ebenfalls gern genommen: Der Hinweis auf die natürlich hohe "unverbindliche Preisempfehlung" (UVP) des Herstellers. Der tatsächliche Preis soll im Vergleich dagegen günstig wirken. Die UVP ist aber gerade bei kurzlebigen Elektroartikeln meist nur Makulatur, da wegen Nachfolgemodellen der Marktpreis schon abgestürzt ist.

Besonders ärgerlich sind "Lockvogelangebote" - also besonders günstig klingende Angebote, die wegen geringer Stückzahl schon nach kurzer Zeit ausverkauft sind. Generell besteht die Pflicht, dass beworbene Ware in angemessener Menge vorhanden ist. "Ist die Bevorratung kürzer als zwei Tage, obliegt es dem Unternehmer, die Angemessenheit nachzuweisen", heißt es dazu im vor kurzem neu gefassten Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Dass wenige Stunden nach Ladenöffnung das Superschnäppchen schon vergriffen ist, darf demnach eigentlich nicht vorkommen.

Verstöße gegen das Wettbewerbsgesetz können Schadenersatzansprüche nach sich ziehen. Die können aber nur Mitbewerber, also andere Händler, geltend machen. Dem geneppten Schnäppchenjäger bleibt nur die Beschwerde bei einer Verbraucherzentrale oder der Wettbewerbszentrale, die per Abmahnung das unseriöse Treiben stoppen können. Jedoch könnte schon die Androhung einer Beschwerde dazu führen, dass der Geschäftsführer doch noch Schnäppchen im Lager findet oder eines beschafft.

Eindeutiger sieht es für den Verbraucher aus, wenn ihm eine mangelhafte Ware angedreht wurde. Dann kann er seine Ansprüche als Käufer stellen - ganz egal, ob er während eines Sonderverkaufes oder an einem ganz normalen Tag gekauft hat. Von Schildern wie "Aktionsware vom Umtausch ausgeschlossen" sollte er sich nicht bluffen lassen. Nur wenn eindeutig vor dem Kauf auf Fehler hingewiesen wurde (zum Beispiel durch die Aufschrift "2. Wahl"), sind die Ansprüche eingeschränkt. Das leuchtet ein, denn wenn jemand einen Fehler kannte, soll er sich hinterher nicht beschweren.

Ansonsten aber muss selbst um 70 Prozent reduzierte Ware in Ordnung sein. Der Verkäufer hat das zu gewährleisten, und zwar 24 Monate lang. Bei einem Mangel kann der Käufer zunächst die so genannte Nacherfüllung fordern, entweder per Reparatur oder per Ersatzlieferung. Bis zu zwei Reparaturversuche sind zu erdulden. Dauert die Reparatur zu lange oder misslingt sie, kann der Kunde sein Geld zurückfordern. Die Minderung ist eine andere Möglichkeit, auf den nicht behobenen Mangel zu reagieren. Der Käufer verlangt nicht sein Geld zurück, sondern nur den Teil, der der Bedeutung des Mangels entspricht.

Schaufensterdekorationen für den Winterschluss-Verkauf. Foto: ddp

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LBBW muss die Risikovorsorge erhöhen

Stuttgart - Die größte deutsche Landesbank, die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), hat einer mit der Situation vertrauten Person zufolge wegen der Wirtschaftskrise ihre Vorsorge für Kreditausfälle deutlich erhöht. In der Bilanz für 2008 sei eine Risikovorsorge von rund einer halben Milliarde Euro gebildet worden. Im abgelaufenen Geschäftsjahr berücksichtigt die Bank erstmals die knapp der Pleite entronnene SachsenLB und die Landesbank Rheinland-Pfalz in ihren Büchern. 2007 war die LBBW mit einer Risikovorsorge in Höhe von 186 Millionen Euro ausgekommen. Reuters

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Vor den Trümmern des goldenen Zeitalters

Die Krise trifft Finanzinvestoren mitten in einer Phase des Umbruchs. Einige müssen sich neu erfinden.

Von Martin Hesse

Berlin - "Sie hätten mich auch als Fossil bezeichnen können", sagt Thomas Pütter ironisch, nachdem ihn sein Vorredner freundlich als Veteranen der Beteiligungsbranche vorgestellt hat. Das aber hätte der Chef des größten deutschen Finanzinvestors Allianz Capital Partners wohl doch übel genommen. Denn als Fissil, als "Rest von Lebewesen der erdgeschichtlichen Vergangenheit" (Brockhaus), sehen sich die schwer gebeutelten Firmenkäufer bei allen Schwierigkeiten noch lange nicht. Sehr wohl aber stehen die Väter der deutschen wie der internationalen Beteiligungsszene bei ihrem Branchentreffen "Super Return" vor den Trümmern ihres Geschäftsmodells.

Die klassische schuldenfinanzierte Übernahme gehöre der Vergangenheit an, sagt Pütter. "Dieser Hebel hat keinen Wert geschaffen, er hat lediglich unsere Renditen nach oben geschraubt", bekannte der 50-jährige Manager ungewohnt offen. Die Gründer der Beteiligungsbranche wie Henry Kravis von KKR und David Rubenstein von Carlyle begannen in Amerika in den Siebzigerjahren, hohe Kredite aufzunehmen, damit Firmen zu kaufen und diesen die Schulden aufzuladen. Seit Banken um das Überleben ringen, bekommen Firmenkäufer aber kaum noch Kredit.

Viele Beteiligungsfirmen trifft die Krise nun in einer Phase des Umbruchs. In dem Übernahmeboom von 2005 bis 2007 waren Investoren wie Blackstone, KKR und Carlyle in den USA sowie Permira, CVC oder BC Partners in Europa in neue Dimensionen gewachsen. Sie sammelten bis zu 20 Milliarden Dollar ein. Die Gründer begannen daher, das Geschäft auf mehr Schultern zu verteilen. Auch der Börsengang von Blackstone im Sommer 2007 auf dem Höhepunkt des Booms diente dazu, die Firma auf eine breitere Basis zu stellen und den Gründern Stephen Schwarzman und Peter Peterson einen (Teil-)Rückzug zu ermöglichen.

Die dramatischen Probleme der Beteiligungsbranche könnten nun den Generationswechsel sogar verzögern. Zwar scheint es, als habe die Krise den Rückzug einiger Veteranen beschleunigt. Bei Permira übergab Deutschlandchef Thomas Krenz vergangenes Jahr den Stab an Jörg Rockenhäuser. Bei BC Partners zog sich Europachef Jens Reidel Anfang Januar zurück. Der langjährige Chef der britischen Beteiligungsgesellschaft 3i, Philip Yea, gab vergangene Woche auf. Doch jeder dieser Fälle ist anders. Permira hat zwar derzeit mit Firmen wie Pro Sieben Sat 1, Cognis und Hugo Boss große Schwierigkeiten. Doch Krenz hatte seinen Rückzug schon angebahnt, als diese Schwierigkeiten noch nicht akut waren. Das gilt auch für Reidel, der BC Partners zudem bis zuletzt vergleichsweise gut durch die Krise gesteuert hatte. Yea wiederum war ein Quereinsteiger - und machte bei 3i Platz für echten Veteranen, Michael Queen (Personalien).

"Es ist eher ein Problem der Finanzbranche, dass viele sehr jung sind und noch nicht erfahren haben, was Risiko bedeutet", sagt Martina Ecker von der Investmentbank Jefferies. Einige Veteranen dürften jetzt auch deshalb eher noch länger weitermachen, um zu beweisen, dass sie auch ohne den Schuldenhebel Erfolg haben können. "Die Exzesse von 2006 und 2007 waren nicht gerade förderlich für die Reputation", sagt Pütter. Von ihrem alten, auf Schulden gebauten Geschäftsmodell haben sich aber noch längst nicht alle Firmenkäufer verabschiedet. "Der fehlende Kredithebel ist das Kernproblem", sagte Thorsten Langheim, einer der wenigen deutschen Manager bei Blackstone. Wie es zu lösen ist, darüber grübelt sein Chef Schwarzman offenbar anderswo. Erstmals seit Jahren ist der Blackstone-Gründer dem Spitzentreffen der Firmenkäufer ferngeblieben.

Stephen Schwarzman, Gründer der Investorenfirma Blackstone: Die Branche hat derzeit enorme Schwierigkeiten. Seit Banken um das Überleben ringen, bekommen Firmenaufkäufer immer seltener Kredit. Foto: Bloomberg

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Eine Frage des Alters

Dieses Jahr gibt es die Eigenheimzulage auch wieder für Kinder über 25 Jahre

Von Marco Völklein

München - Eigentlich spielt die Eigenheimzulage seit 2006 keine Rolle mehr. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hatte die große Koalition die Unterstützung für Häuslebauer abgeschafft. Doch auch in den nächsten Jahren wird sie noch viele Bürger und auch die Finanzämter beschäftigen. Denn wer bis zum 31. Dezember 2005 einen Bauantrag gestellt oder einen Kaufvertrag unterschrieben hatte, kann die Eigenheimzulage beantragen - auch wenn er zum Beispiel erst 2007 in das fertiggestellte Haus einziehen konnte. Die Zulage fließt dann in einer Höhe von maximal 1250 Euro pro Jahr für längstens acht Jahre. Also in diesem Fall sogar noch bis zum Jahr 2014.

Zudem hat der Gesetzgeber nun mit dem Jahressteuergesetz eine kleine Änderung vorgenommen, die für viele Bezieher der Eigenheimzulage interessant sein kann. Denn seit Jahresanfang hat die schwarz-rote Koalition die ursprüngliche Absenkung der Altersgrenze für die Kinderzulage auf das 25. Lebensjahr aufgehoben. "Damit ist der Bezug einer jährlichen Kinderzulage von 800 Euro wieder bis zum 27. Lebensjahr des Kindes möglich", erläutert Marlies Spargen vom Neuen Verband der Lohnsteuerhilfevereine (NVL). Die Kinderzulage gibt es zusätzlich zur Grundzulage ebenfalls acht Jahre lang - allerdings nur, wenn im ersten Jahr der Nutzung der Immobilie Kinder zum Haushalt gehörten. "Voraussetzung ist zudem, dass im jeweiligen Förderjahr ein Kindergeldanspruch besteht", sagt Spargen. Kindergeld zahlt die Familienkasse jedoch nach einer Gesetzesänderung seit Januar 2008 in der Regel nur noch bis zum 25. Lebensjahr des Kindes. Expertin Spargen: "Diese Grenze soll aber für den Kinderzuschuss bei der Eigenheimzulage nicht gelten."

Wer also Kinder in diesem Alter hat, die zudem noch eine Ausbildung absolvieren, sollte Mitte März genau aufpassen. Jedes Jahr zum Stichtag 15. März überweisen die Finanzämter die Eigenheimzulage an die Bürger - ohne dass ein neuer Antrag nötig wäre. "Man sollte genau darauf achten, ob die Verwaltung die Kinderzulage auch über das 25. Lebensjahr hinaus zahlt", sagt Spargen. Sollte das Finanzamt nur die Grundzulage überweisen, empfiehlt die Expertin, die Kinderzulage beim Finanzamt zu beantragen. "Das kann mit einem formlosen Schreiben geschehen." Im Zweifelsfall muss das Amt prüfen, ob für das Kind nach alter Rechtslage noch Anspruch auf Kindergeld gezahlt worden wäre. Das ist der Fall, wenn der Nachwuchs mit seinen Einkünften und Bezügen unter 7680 Euro bleibt. Dann muss die Kinderzulage wieder fließen.

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Die Wölfe (3)

ZDF, 20.15 Uhr. Im Finale dieser großartigen deutsch-deutschen Familienchronik stehen die einstigen Mitglieder der Wölfe-Bande mitsamt ihren Kindern neuerlich an einer Wendemarke: Thomas (Florian David Fitz), der Sohn des Stasi-Beamten Jakob, flieht kurz vor dem Mauerfall nach Westen und nimmt unwissend gekappte Beziehungen wieder auf. Foto: ZDF

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Gen für langes Leben

Was Hundertjährige auszeichnet

Eine Variante des Gens FOXO3A sorgt offenbar wirklich dafür, dass Menschen besonders alt werden. Kieler Forscher haben die Rolle dieses Langlebigkeits-Gens nun bestätigt. Die FOXO3A-Variation trete auffällig oft bei Menschen über 100 Jahre auf, berichten die Wissenschaftler um Stefan Schreiber von der Universität Kiel. Im September 2008 hatten amerikanische Forscher erstmals auf die Bedeutung der FOXO3A-Variante für den Menschen hingewiesen. Sie fanden sie auffällig häufig bei hochbetagten Japanern. Allerdings fehlten bis jetzt Studien an anderen Bevölkerungsgruppen. Das haben die Kieler Forscher nun nachgeholt.

Stefan Schreibers Team hatte dabei einen gewaltigen Vorteil: Die Forscher können auf die Biodatenbank Popgen zurückgreifen. Sie enthält mehr als 660 Erbgutproben von Hundertjährigen - so viel wie kaum eine andere DNS-Sammlung weltweit. So konnten die Wissenschaftler das Erbgut von 388 hundertjährigen Deutschen mit dem von 731 jüngeren vergleichen (PNAS online). "Jetzt können wir davon ausgehen, dass dieses Gen für das Erreichen eines hohen Alters wahrscheinlich weltweit eine Rolle spielt", sagte die Leiterin der Forschungsgruppe "Gesundes Altern", Almut Nebel.

FOXO3A hat im Körper eine wichtige Funktion. Das Gen trägt dazu bei, dass sich Körperzellen zum Wohle des Organismus selbst zerstören, wenn sie alt oder krank sind. Gerät dieser Prozess aus dem Gleichgewicht, kann sich leicht Krebs entwickeln. So ist FOXO3A auch an einer Form von Leukämie beteiligt. Wie stark der Einfluss einzelner Gene auf die Lebenserwartung sein kann, haben Tierexperimente bereits gezeigt. Beim Wurm C. elegans etwa hänge es erheblich von seiner genetischen Ausstattung ab, wie alt er werde, sagt der Humangenetiker Arne Pfeufer vom Helmholtz-Zentrum München. bern

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Immer schön cool bleiben

Alle haben ständig Gefühle, aber niemand zeigt sie: Woher es kommt, dass schon Kinder ihre Emotionen kontrollieren

Jeder Mensch hat ständig Emotionen und zeigt sie doch nicht immer. Jugendliche beim Bowling zum Beispiel: Läuft die Kugel schlecht, wenden sie sich meist cool ab. Aber auch wenn viele Pins umfallen, behalten die Jugendlichen ihre Gefühle zunächst für sich. Erst wenn sie sich zu ihren Kumpels umgedreht haben, lässt ihre Körperhaltung Freude und Stolz erkennen. Die Faust wird hochgerissenen. Dann erst breitet sich auf dem Gesicht ein Strahlen aus.

"Der Ausdruck der Emotion hat hier eine eindeutig soziale Funktion, er ist ein Appell", sagt der Entwicklungspsychologe Manfred Holodynski von der Universität Münster. Die gezeigte Freude ist abgekoppelt vom spontanen Gefühl der Freude über den gelungenen Wurf. Nur, wie geht das? Wie gelingt es dem Menschen, mit seiner Willenskraft seine Emotionen zu regulieren? Und wann im Leben entwickeln sich diese Fähigkeiten? Diese Fragen standen im Zentrum des von der Volkswagenstiftung geförderten Projekts "Animal emotionale".

Als Baby hat der Mensch noch fünf vage Gefühlslagen. "Vorläufer-Emotionen" nennen Experten die Unzufriedenheit, das Interesse, die Freude, die furchtsame Anspannung und den Ekel, den Babys empfinden. Erst später differenziert sich das Gefühlsleben aus - Stolz und Scham zum Beispiel kommen ins Spiel, und gleichzeitig werden die Empfindungen zunehmend stärker kontrolliert.

Der Gefühlsausdruck verlagere sich im Verlauf der Kindheit von außen nach innen, sagt Holodynski. In den ersten drei Jahren seien die Emotionen vor allem soziale Appelle, um andere zu beeinflussen. Wenn das Baby schreit, kommt jemand. Zwischen drei und sechs Jahren bekommt das Kind dann Gefühlsregungen wie Enttäuschung und Ärger zunehmend selbst in den Griff - zum Beispiel, indem es mit sich selbst spricht. Vom Schulalter an verlagert es seinen Gefühlsausdruck immer stärker nach innen. So sprechen viele Erstklässler bei schwierigen Rechenaufgaben noch mit sich selbst. In der dritten Klasse sind Selbstgespräche die Ausnahme. Die Kinder reden innerlich mit sich, unhörbar.

Anders als ein Sechsjähriger lässt ein Achtjähriger auch kaum noch Freude erkennen, wenn aus einem für die Forschung manipulierten Automaten Süßigkeiten plumpsen - und wenn sie ausbleiben auch keine Enttäuschung. Dann verrät allenfalls eine Andeutung zusammengezogener Augenbrauen, was er fühlt, wie Feinanalysen von Videos belegen.

So ist es aber nur, wenn ein Kind auf sich gestellt ist. Bleibt ein Betreuer im Raum, drückt es durchaus Freude und Enttäuschung aus - was verblüffend an die Regulationsmöglichkeiten der jugendlicher Bowler erinnert.

Bei diesen Regulationen haben Normen der jeweiligen Kultur einen großen Einfluss. "Amerikanerinnen ermuntern ihre Kinder ganz besonders, über ihre Erfolge zu reden. Mütter aus Taiwan lassen sie viel stärker über Misserfolge sprechen", sagt die Kulturpsychologin Batja Mesquita von der Universität Leuven in Belgien. Nicht in allen Kulturen gehe es wie in den USA primär darum, gute Gefühle zu maximieren und andere zu vermeiden: "Japaner und Chinesen halten negative Emotionen für wichtig und erziehen ihre Kinder entsprechend." Wie mit Emotionen umgegangen wird, hängt also immer auch von den Erwartungen der Anderen ab.

Was dabei genau im Gehirn passiert, hat sich Henrik Walter angeschaut. Der Psychologe von der Universität Bonn blickt mit Hilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) unter die Schädeldecke und erkennt so, welche Zentren des Gehirns gerade besonders aktiv sind. Walters Arbeitsgruppe zeigte jungen Frauen (weil sie stärker emotional reagieren) acht Sekunden lang Bilder mit neutralem oder erschreckendem Inhalt. Erwartungsgemäß waren bei den neutralen Bildern die Nervenzellen im Gefühle verarbeitenden Mandelkern weniger aktiv.

Aber was passiert, wenn die Frauen wissen, dass gleich ein unangenehmes Bild erscheinen wird? Schon in der Erwartung von Unangenehmem werden die Mandelkerne aktiv. "Das ist wie beim Zahnarzt, wo man schon im Wartezimmer zittert", erläutert die Medizinpsychologin Susanne Erk aus dem Bonner Team. Wenn die Frauen aber versuchen sollten, die unangenehmen Gefühle zu verdrängen, sprachen ihre Mandelkerne weniger stark an. "Dafür wurden Nervenzellen hinter der Stirn aktiver, wo das bewusste Denken angesiedelt ist", so Erk. Die Angst lasse sich noch besser bewältigen, wenn man sich mit etwas wirklich Interessantem beschäftigt, sagt sie. Statt in diversen Illustrierten zu blättern, sollte man im Wartezimmer lieber komplexe Denkaufgaben lösen. Bei den Frauen im Tomographen feuerten die Mandelkerne dann jedenfalls weniger stark.

Reguliert werden aber nicht nur die Gefühlsintensität und der äußere Eindruck, betont der Psychologe Klaus Scherer von der Universität Genf. Ständig bewertet der Mensch Ereignisse neu. Dabei spielt das Umfeld eine Rolle, aber auch Gelerntes. Auch das Gedächtnis und das Selbstverständnis funken in diesen Abgleichprozess, der nur zum Teil bewusst abläuft. Dennoch beeinflusse er physiologische Reaktionen wie die Hormonausschüttung und verändere auch die Motivation, etwas zu tun oder zu lassen.

Einen Eindruck von der Komplexität der Abläufe vermittelt Klaus Scherer am Beispiel zweier nicht gerade fröhlicher Frauengesichter. Die Frauen warteten an einem leeren Band auf ihr Fluggepäck. Über 100 solcher Fluggäste wurden in Genf - bei einem fingierten Gepäckverlust - gefilmt und danach befragt. Das Erstaunliche: Niemand verspürte einfach nur Ärger. Fast alle erlebten einen Mix aus Gefühlen, die sich im Alltag offenbar überlagern, ablösen und durch die Situation reguliert werden. Stress, Traurigkeit, Indifferenz und Humor - sie alle spielten eine unterschiedlich große Rolle. Diese Vielfalt ist eine weitere Antwort auf die Frage nach der Regulation von Emotionen. Sie ist äußert individuell. ELKE BRÜSER

Kleine Kinder zeigen ihre Freude noch ungehemmt. Foto: Mauritius Images

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Ein Schrägstrich mit Folgen

Wie sich Google 40 Minuten lang selbst matt gesetzt hat

Eigentlich wollte der Internetkonzern erst an diesem Montag Schlagzeilen machen - positive natürlich. Google Earth, der populäre Satelliten-Weltatlas, sollte mit Pomp und Prominenz in einer neuen Version vorgestellt werden (siehe unten). Doch es kam anders. Samstagfrüh amerikanischer Westküstenzeit drückte ein Mitarbeiter bei einem Routine-Job eine einzige falsche Taste, die mit dem Zeichen "/". Ein kleiner Fehler mit großen Folgen, wie sich zeigen sollte. Der Mitarbeiter war damit beschäftigt, eine sogenannte Blacklist zu aktualisieren, eine Liste von Internetadressen also, deren Besuch den Computer von Internet-Surfern möglicherweise in Gefahr bringt. Das Zeichen "/", das man auf amerikanischen Tastaturen übrigens eingibt, ohne die Großtaste benutzen zu müssen, stand jedoch bei dem von Google benutzten Programm für "alle Webseiten". Internetnutzer auf der ganzen Welt konnten von den Google-Ergebnislisten aus keine einzige Webseite mehr aufrufen - selbst Googles eigene Seiten wurden als "potenziell gefährlich" eingestuft. Der Fehler war der größte seit Jahren, den sich die Suchmaschinenfirma geleistet hat.

Die Blacklist wird von Google selbst angelegt. Die Firma arbeitet allerdings auch mit Organisationen wie StopBadware.org zusammen, die - unter anderem durch Google-Spenden finanziert - Informationen darüber liefern, welche Seiten bedrohlich sein könnten. Wie Google-Sprecher Stefan Keuchel erläutert, werden die Listen, welche Internetseiten als gefährlich gelten, ständig aktualisiert. "Das liegt da nicht rum und wird nur alle vier Wochen verteilt." Dieser Service sei bisher von den Nutzern auch gut angenommen worden, etwa zu den Zeiten, als manche Kriminelle versuchten, mit Einwahlprogrammen, den sogenannten Dialern, Kasse zu machen, indem sie die Telefon-Verbindung zum Internet auf teure 0190er-Nummern umlenkten.

Da heute die Mehrheit der Internetnutzer über DSL oder über Kabelanschlüsse online geht, funktioniert dies nicht mehr. Den Abzockern sind aber die Tricks noch lange nicht ausgegangen. Insbesondere seit den vergangenen zwei Jahren versuchen sie, ihre Fußangeln auf unverdächtigen Internetseiten auszulegen. Sie dringen über Sicherheitslücken in die Server der Anbieter ein und hinterlegen auf deren Seiten kleine Schadprogramme. Wenn ein Nutzer mit einem schlecht geschützten PC sie anwählt, können sie schon beim bloßen Aufruf ihre gefährliche Fracht weiterreichen. Diese Art der Infektion mit Schadprogrammen wird daher Drive-by download genannt, Laden im Vorbeifahren. Vor solchen Gefahren soll die Blacklist schützen, die den Benutzer abfängt und warnt, bevor er auf die Seite gelangt. HELMUT MARTIN-JUNG

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Eingetaucht

Google Earth zeigt auch die Meere

Mehr als 400 Millionen Mal wurde der Satelliten-Atlas Earth des Suchmaschinenkonzerns Google weltweit bereits heruntergeladen. Und so mancher lässt sich für längere Zeit in dem Ozean der Weltbilder, Himmelskörper und Galaxien treiben. Der größte Teil der Erde aber war bisher sozusagen Aqua incognita: die Weltmeere. Earth 5.0, das am Montagabend deutscher Zeit im Beisein des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore vorgestellt werden sollte, enthält nun einen Teil namens Ocean, mit dem man auch in die Weltmeere eintauchen kann. Damit lassen sich Karten des Meeresbodens abrufen, ebenso Kurzfilme der BBC oder des legendären Meeresforschers Jacques Cousteau. Tiere, die mit einem Sender versehen sind, können auf ihren Wanderungen verfolgt werden, zum Beispiel Wale oder Meeresschildkröten. Auf virtuellen Tauchgängen kann man Unterwasser-Vulkane und Schwarze Raucher besuchen oder unterseeische Gebirgszüge wie etwa den mittelozeanischen Rücken entlangsurfen.

Earth 5.0 erlaubt es ferner, Luftbildaufnahmen verschiedenen Datums miteinander zu vergleichen. In manchen Regionen der USA reichen diese Aufnahmen zurück bis in die 1940er Jahre. Mit einem Schieberegler kann man selbst Zeitraffer spielen und verfolgen, wie Städte sich verändert haben. Mit einem GPS-Empfänger kann man auf Reisen seinen aktuellen Standort bekannt geben, bisher war dieser Dienst kostenpflichtig. Virtuelle Flüge lassen sich als Filme abspeichern und per E-Mail verschicken. Als weitere Dreingabe bietet die neue Version schließlich auch noch Bilder des Nachbarplaneten Mars in stereoskopischen Aufnahmen an.ma

Google Ocean zeigt jetzt auch die Wassertemperaturen im Meer. oh

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Die vermeidbare Masern-Epidemie

WHO kritisiert Impfmüdigkeit in Deutschland

Masern-Epidemien wie in Duisburg im Jahre 2006 hätten laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verhindert werden können. Notwendig gewesen wären dazu wiederholte Aufforderungen zu Impfungen und entsprechend eine bessere Aufklärung der Eltern, heißt es im Bulletin of the World Health Organization, das am Montag in Genf veröffentlicht wurde. Darin wird hervorgehoben, dass von 614 Masern-Erkrankten, die 2006 in Duisburg registriert wurden, mindestens 80 Prozent nicht geimpft waren. Zwei Kinder starben damals.

Selbst in Ländern mit guten nationalen Gesundheitsdiensten könnten die Masern zu einer gefährlichen Krankheit werden, sagte Peter Strebel von der WHO-Abteilung für Immunisierungen. Masern seien immer noch für etwa 197 000 Todesfälle pro Jahr auf der Welt verantwortlich. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren. "Eltern und Ärzte müssen stets daran erinnert werden, dass die Masern höchst ansteckend sind", sagte Strebel. Die Masern können von Folgekomplikationen wie Lungen- oder einer Gehirnentzündung begleitet werden und deshalb in seltenen Fällen zum Tod führen. Die zwei Kinder in Duisburg starben an den Spätfolgen einer Masern-Gehirnentzündung.

Als Grund für die mangelnden Impfungen wurde laut WHO-Bulletin zumeist angegeben, dass die Eltern eine Immunisierung entweder vergessen oder sich bewusst dagegen entschieden hätten. Vielerorts sei der Irrglaube verbreitet, der Impfstoff könne für die Kinder gefährlicher sein als eine Masern-Erkrankung. Eben deshalb muss der WHO zufolge viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden - besonders in Deutschland.AP

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Kosmischer Hurrikan

Stromnetze, Satelliten, Funkverkehr: Ein Sonnensturm wie vor 150 Jahren wäre verheerend für die Zivilisation

Ungewöhnlich früh waren im September 1859 die Goldgräber in den Rocky Mountains auf den Beinen. Es war kurz nach Mitternacht, helles Licht drang in die Zelte. Die Arbeiter begannen, ihre Frühstücksbrote zu streichen. Andernorts konnten nächtliche Zeitungsleser ihre Kerzen auslöschen. Grüne, blaue und blutrote Lichterscheinungen huschten über den Himmel. Bis hinunter in El Salvador war das Spektakel zu sehen.

Die Beamten in den Telegrafenämtern hatten derweil ganz andere Sorgen. Die seltsamen Lichter entzündeten das Telegrafenpapier; immer wieder durchzuckten Stromschläge ihre Finger. In Baltimore brauchte ein Funker 14 Stunden, um ein paar dünne Zeilen über die mysteriösen Ereignisse zu übermitteln.

Knapp 150 Jahre später sind Forscher überzeugt: Ein Sonnensturm, womöglich der gewaltigste seit Menschengedenken, war für diese Phänomene verantwortlich. Der Sturm traf jedoch eine Erde, die technologisch kaum entwickelt war und so blieben die Schäden in Grenzen.

Heute sähe das völlig anders aus.

"Mögliche Schäden durch das Weltraumwetter sind Anlass zu wachsender Sorge", warnte die amerikanische Akademie der Wissenschaften vor kurzem. In einem Bericht schreiben die Experten: "Würden sich die Ereignisse von 1859 wiederholen, hätte das beträchtliche wirtschaftliche und soziale Störungen zur Folge." Strom- und Wasserversorgung könnten zusammenbrechen, Satelliten ausfallen, Geldströme versiegen. Ohne GPS- und Telekommunikationssysteme kämen weite Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen. Der ökonomische Schaden, so die Berechnungen der Forscher, könne zwei Billionen Dollar erreichen - mehr als 20-mal so viel wie der Hurrikan Katrina kostete.

Kann die lebensspendende Sonne derart gefährlich werden? Von Zeit zu Zeit läuft auch im Kraftwerk Sonne nicht alles rund. Dann kommt es auf der Oberfläche des Sterns zu gewaltigen Ausbrüchen, die große Mengen Strahlung und geladener Teilchen ins All befördern.

Um verlässlich sagen zu können, wie häufig und wie intensiv diese Ausbrüche sind, fehlen historische Aufzeichnungen. Wissenschaftler haben allerdings einen Trick gefunden, die Geschichte vergangener Eruptionen nachzuzeichnen. Weil die Protonen, die die Sonne bei ihren extremen Ausbrüchen in Richtung Erde schleudert, mit dem Stickstoff der Atmosphäre reagieren, regnet jedes Mal etwas Nitrat auf den Erdboden. In Eisproben aus Grönland und der Antarktis konnte ein Team um Margaret Shea vom Forschungszentrum der US-Luftwaffe in Maryland die Nitratspuren eindeutig ausmachen. Insgesamt stießen sie auf Überreste von 19 Sonneneruptionen der Jahre 1561 bis 1950; der Sturm von 1859 war dabei fast doppelt so stark wie alle anderen. Statistisch betrachtet dürfte eine Katastrophe wie im 19. Jahrhundert die Erde also nur alle 500 Jahre treffen.

David Hathaway, Solarphysiker bei der Nasa, warnt allerdings, solche Aussagen allzu wörtlich zu nehmen. Bis zum nächsten katastrophalen Ausbruch könnte es 300 Jahre dauern, vielleicht aber auch nur 30 Tage.

Selbst kleinere solare Eruptionen würden auf der Erde verheerende Spuren hinterlassen, warnen die Nasa-Astronomen Sten Odenwald und James Green in der Zeitschrift Scientific American: Etwa alle 50 Jahre werde der Planet von einer Eruption heimgesucht, die etwa halb so stark ausfällt wie der Sonnenausbruch aus dem Jahr 1859. Zuletzt sei dies 1960 der Fall gewesen.

Erstes Opfer wären heute die Satelliten. Bereits die alltägliche kosmische Strahlung, die auf deren Sonnensegel einprasselt, verringert die Leistungsfähigkeit der Solarzellen jährlich um zwei Prozent. Die Plasmapartikel einer Sonneneruption richten noch mehr Schaden an. Innerhalb weniger Stunden würde sie, wie Odenwald und Green berechnet haben, die Lebensdauer eines Satelliten um ein bis drei Jahre reduzieren. Zudem sei mit hunderten Pannen in der Elektronik zu rechnen - bis zum Ausfall kompletter Transponder. Allein die Schäden an den Satelliten könnten sich auf 20 bis 70 Milliarden Dollar summieren. Schon heute versuchen Satellitenbetreiber, ihre teuren Gerätschaften bei Schwankungen der Sonnenaktivität von den einfallenden Teilchen wegzudrehen und riskante Manöver zu vermeiden.

Keinen Schutz gibt es gegen eine weitere Begleiterscheinung solarer Eruptionen: Die Sonne pumpt verstärkt Röntgenstrahlung in die Atmosphäre. Die Lufthülle dehnt sich aus, deren Moleküle vergrößern die Reibung im erdnahen Weltall. Dadurch werden alle Raumfahrzeuge gebremst, die in weniger als 600 Kilometern Höhe kreisen. Sie drohen innerhalb weniger Wochen abzustürzen. Einem japanischen Forschungssatelliten ist das im Jahr 2000 bereits zum Verhängnis geworden - während eines relativ leichten Sonnensturms.

Röntgenstrahlung kann auch die Kommunikation zwischen Erde und Satelliten stören. So schaltete die Sonne im Dezember 2005 das globale Navigationssystem GPS aus. Die Störung dauerte zwar nur zehn Minuten, für Louis Lanzerotti, Herausgeber der Fachzeitschrift Space Weather, war das aber lange genug: "Ich möchte während der Zeit nicht in einem Flugzeug gesessen haben, das sich im GPS-gesteuerten Landeanflug befand."

Da die geladenen Sonnenteilchen die oberen Atmosphärenschichten ionisieren, wird auch der normale Funkverkehr gestört. Betroffen wären besonders Flugzeuge auf Routen am Nordpol. Während kleinerer Sonneneruptionen im Januar 2005 musste allein United Airlines 26 Flüge umleiten, wie Flugmanager Michael Stills im Bericht der Wissenschaftsakademie erläutert.

Normalerweise schützt das Erdmagnetfeld den Planeten vor solchen Phänomenen. Im Fall extrem starker Sonnenaktivitäten wird es aber selbst zum Opfer. Die geladenen Teilchen quetschen und schütteln es, sodass ein geomagnetischer Sturm über die Erde fegt. Der wiederum kann in Stromleitungen gewaltige Induktionen erzeugen. Die Kupferspulen von Transformatoren brennen durch, das Stromnetz bricht zusammen. Im März 1989 waren sechs Millionen Kanadier infolge eines Sonnensturms neun Stunden lang ohne Strom.

Heute wären die Folgen deutlich schlimmer, warnt der US-Report. Die weltweiten Stromnetze sind stärker gekoppelt, Sicherheitsreserven kaum mehr vorhanden. Nach Berechnungen von John Kappenmann, der im Auftrag der kalifornischen Firma Metatech elektromagnetische Störungen analysiert, könnte in den USA bereits ein mittelmäßiger Sonnensturm 350 Transformatoren ausschalten und 150 Millionen Menschen im Dunkeln sitzen lassen. "Innerhalb weniger Stunden ist die Wasserversorgung betroffen", sagt Kappenmann. "Verderbliche Nahrung und Medikamente gehen nach 24 Stunden verloren."

Mit Satelliten und bodengestützten Messgeräten versuchen Nasa und auch die europäische Raumfahrtbehörde Esa, das Weltraumwetter besser vorherzusagen. Fehlalarme und verpasste Sonnenstürme seien aber an der Tagesordnung, kritisiert die amerikanische Akademie der Wissenschaften.

Auch Sten Odenwald und James Green fordern, die Investitionen in Vorhersage, Modellierung und Grundlagenforschung noch einmal zu verdoppeln - zum Schutz vor dem nächsten großen Sonnensturm. "Nicht wenige Kollegen", so die Nasa-Wissenschaftler, "erinnert die gegenwärtige Vorhersage solarer Eruptionen an die Art und Weise, wie Anfang der 50er Jahre das normale Wetter prognostiziert wurde." ALEXANDER STIRN

Eine für ultraviolettes Licht empfindliche Kamera zeigt die gewaltigen Energieausbrüche auf der Sonnenoberfläche. Der dadurch angefachte Sonnenwind kann schwere Schäden auf der Erde anrichten. Foto: Esa/Nasa

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"Ärger, Unmut und Empörung"

Katholiken kritisieren Gnadendekret des Papstes für Holocaust-Leugner / Ämter melden mehr Kirchenaustritte

Von Charlotte Frank und Johann Osel

München - Nur vier Worte braucht Christian Weisner, um die Stimmung zu beschreiben, die ihm dieser Tage von Katholiken aus ganz Deutschland entgegenschlägt: "Ärger, Unmut, Enttäuschung, Empörung". So fasst der Vorsitzende der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" zusammen, wie sich viele Katholiken fühlen, seit Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation von Bischöfen der traditionalistischen Pius-Bruderschaft aufgehoben hat, unter ihnen der bekennende Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson.

Eine kritische Online-Petition von "Wir sind Kirche", in der die Unterzeichner die "uneingeschränkte Anerkennung der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils" fordern, haben allein binnen drei Tagen mehr als tausend Menschen unterschrieben, sagt Weisner, vom renommierten Theologieprofessor über hohe kirchliche Funktionsträger bis hin zum katholischen Gemeindemitglied. Dass die Petition die Entscheidungen des Papstes in ungewöhnlich scharfen Sätzen angreift - etwa: "Diese Rückwärtswendung lässt die Rückkehr von Teilen der römisch-katholischen Kirche in eine antimodernistische Exklave befürchten" - scheint die Unterzeichner dabei kaum zu stören. Im Gegenteil: "Die Zuschriften gehen bei uns im Minutentakt ein", sagt Christian Weisner, die Entrüstung im Kirchenvolk sei immens.

Das bekommen auch die Mitarbeiter zahlreicher Standesämter in Deutschland zu spüren - die Behörden sind zuständig für die Kirchenaustritte evangelischer und katholischer Christen. In der Stuttgarter Innenstadt etwa wurden allein am Montag, dem erstmöglichen Tag im Februar, sechs Austritte aus der katholischen Kirche gemeldet. "An normalen Tagen sind es im Durchschnitt zwei Austritte", sagt eine Mitarbeiterin. So stehen den sechs jüngsten Austritten vom Montag in Stuttgart-Innenstadt 63 Austritte im gesamten Monat Januar gegenüber.

Auch in Saarbrücken wird ein leichter Anstieg der Kirchenaustritte im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet: "In den vergangenen zwei Wochen wurden bei uns 17 Austritte aus der katholischen Kirche registriert", sagt eine Mitarbeiterin, das sei etwas mehr als im Vergleichszeitraum 2008. Und Jürgen Mannebeck vom Amtsgericht Köln, das in Nordrhein-Westfalen für Kirchenaustritte zuständig ist, sagt, eine Statistik liege ihm noch nicht vor, aber auch so sei einigen Kölner Rechtspflegern eine erhöhte Zahl von Austritten bereits aufgefallen. "Verlässliche Zahlen werden wir in den nächsten Wochen bekommen, wenn Statistiken vorliegen", so Mannebeck.

Die öffentlich geäußerte Kritik aus dem katholischen Kirchenvolk an der Politik des Vatikans riss unterdessen am Montag nicht ab - vielmehr wurde sie wegen der Ernennung des erzkonservativen Priesters Gerhard Maria Wagner zum neuen Linzer Weihbischof vom Wochenende noch befördert. In aller Deutlichkeit äußerte sich etwa Dirk Tänzler, der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Er nannte die Entscheidungen des Papstes "für die meisten Jugendlichen unverständlich". Junge Katholiken würden im Freundeskreis, in der Schule oder am Ausbildungsplatz mit diesen Maßnahmen konfrontiert. "Sie müssen etwas rechtfertigen, was sie zum Großteil weder verstehen noch mittragen können oder wollen", sagte Tänzler. Somit schade Benedikt XVI. nicht nur "dem Image von Kirche in Deutschland, sondern auch der katholischen Jugendarbeit".

Ähnlich äußerte sich Stefan Vesper, der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Er sprach von "vielen Reaktionen voller Enttäuschung und Ratlosigkeit" und bedauerte, "dass die Glaubwürdigkeit der Kirche infrage gestellt wird". Es sei zwar eine wichtige Aufgabe des Papstes, sich um die Einheit der Kirche zu mühen, "die Einheit mit einigen darf aber nicht zu einer Erschütterung der großen Zahl von Menschen führen, die in der Mitte der Kirche sind", sagte Vesper.

Diesen Reaktionen entspricht die Einschätzung des Theologen Hans Küng, der am Montag im Deutschlandradio Kultur über Benedikt XVI sagte, dieser schotte sich von der Welt außerhalb des Vatikans zunehmend ab. "Er merkt gar nicht, wie seine Aktionen in der Welt ankommen", sagte Küng über den Papst.

Kritische Petition von "Wir sind Kirche" im Internet

Glaubwürdigkeit der Kirche infrage gestellt

Die von Papst Benedikt XVI. betriebene Aussöhnung mit den Traditionalisten in der katholischen Kirche verstört zahlreiche Gläubige. Foto: dpa

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Aigner soll sich für Ampel einsetzen

Verbraucherschützer fordern Nährwertkennzeichnung in Rot, Gelb und Grün

Von Daniela Kuhr

Berlin - Die Verbraucherorganisation Foodwatch hat Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner aufgefordert, sich vehement für die Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln einzusetzen. Bei dem Spitzentreffen an diesem Dienstag mit Vertretern der Ernährungsindustrie dürfe die Ministerin "nicht davon abrücken", sagte Foodwatch-Gründer Thilo Bode zur Süddeutschen Zeitung. "Wenn sie keine Politik für die Industrie, sondern für die Verbraucher machen will, kann das Ergebnis nur die Ampel sein." Aigner trifft sich mit Vertretern der Ernährungsindustrie und Verbraucherschützern, um über eine sinnvolle Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln zu diskutieren.

Das Ampelmodell wurde in Großbritannien entwickelt, um bei Lebensmitteln die Gehalte an Zucker, Fett, gesättigten Fettsäuren und Salz transparent zu machen. Auf der Verpackung signalisieren die Farben Rot, Gelb und Grün, ob der Gehalt alarmierend hoch oder eher niedrig ist. Die Lebensmittelindustrie lehnt das Modell als irreführend ab. Aigners Vorgänger Horst Seehofer hatte als Alternative das sogenannte 1 plus 4-Modell entwickelt. Danach sollen Lebensmittelverpackungen zwar im Großen und Ganzen die gleichen Angaben enthalten wie bei der Ampel, sie sollen sich aber jeweils auf eine Portion beziehen und in Prozent zum Tagesbedarf eines Erwachsenen gesetzt werden. Eine farbliche Kennzeichnung hatte das Ministerium anfangs abgelehnt, schließt sie mittlerweile aber nicht mehr aus. Dennoch kritisieren Verbraucherschützer Seehofers Modell als zu kompliziert und zu wenig aussagekräftig. "Das 1 plus 4-Modell verwirrt durch Nährwertangaben für willkürliche Portionsgrößen", sagt Bode. "Die Ampel dagegen ist einheitlich, eindeutig und einfach zu verstehen." Bei der Ampel sollen sich die Angaben auf jeweils 100 Gramm oder 100 Milliliter beziehen. Nach einer von Foodwatch in Auftrag gegebenen Umfrage sind zwei von drei Verbrauchern für die Ampelkennzeichnung.

Auch die Verbraucherschutzminister der Länder hatten sich im September dafür ausgesprochen und die Bundesregierung aufgefordert, sich auf EU-Ebene für eine "verpflichtende Nährwertkennzeichnung" einzusetzen, die "den Gehalt der Nährwerte in den Farben Grün, Gelb und Rot kennzeichnet". Bode befürchtet, dass das Treffen am Dienstag dazu dienen soll, dieses "klare Mandat" aufzuweichen. Dem widerspricht man im Ministerium. Es gehe nur darum, mit der Industrie und dem Bundesverband der Verbraucherzentralen zu diskutieren und sich eine Meinung zu bilden, sagte eine Sprecherin. Aigner sei grundsätzlich offen für eine "Visualisierung" der Angaben auf den Verpackungen. "Das ist einer der Punkte, um die es bei dem Treffen gehen wird", sagte die Sprecherin.

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SPD-Spitze sucht Gespräch mit der Basis

Steinmeier und Müntefering touren von Mitte Februar an durch 35 Städte

Von Nico Fried

Berlin - Die SPD will mit einer breit angelegten Kampagne für ihre Politik werben. Man werde in einer Veranstaltungsreihe in insgesamt 35 deutschen Städten Gespräche darüber führen, "wie wir uns das neue Jahrzehnt in Deutschland vorstellen", sagte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am Montag nach Sitzungen aller Führungsgremien der Partei. Dies geschehe in einer Zeit, in der wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise bei vielen Menschen "Irritation und Unsicherheit" herrschten. Es werde in der Kampagne mit dem Titel "Das neue Jahrzehnt" auch darum gehen, "welche Erwartungen die Bürger an die Politik haben", sagte Steinmeier.

Die SPD könne solche Gespräche selbstbewusst führen. "Wir haben gezeigt, dass wir etwas einzubringen haben", sagte der Vizekanzler mit Blick auf das Konjunkturprogramm der Bundesregierung. Politik müsse beweisen, "dass sie in der Lage ist, durch die Krise zu steuern". Sie dürfe sich dabei aber nicht überheben, warnte der Vizekanzler auch mit Blick auf die aktuellen Debatten über staatliche Interventionen in der privaten Wirtschaft. "Ich werde mich an den Verstaatlichungsarien nicht beteiligen, die da gerade in Düsseldorf und anderswo gesungen werden", sagte Steinmeier in Anspielung auf den Vorschlag des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU), der Staat solle sich notfalls auch direkt an Unternehmen beteiligen.

Politik müsse sich derzeit stärker als in den vergangenen Jahren auf vielen innenpolitischen Feldern bewähren, so Steinmeier. Darauf dürfe man nicht mit den üblichen Ritualen antworten und sich nur "im engen Kreis von Kompetenzen und Zuständigkeiten bewegen". Als Beispiel nannte er den Investitionspakt im Rahmen des Konjunkturpakets der Bundesregierung, bei dem Bund, Länder und Gemeinden eine gemeinsame Anstrengung unternähmen.

Von Mitte Februar an werden Steinmeier, der Parteivorsitzende Franz Müntefering und andere führende SPD-Politiker durch Deutschland touren und sich der Diskussion mit der Parteibasis, aber auch mit Nichtmitgliedern stellen. Als Themen nannte Steinmeier unter anderem Schul- und Bildungsfragen, die Modernisierung der wirtschaftlichen Strukturen, die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme, Arbeitnehmerrechte sowie die Kinderarmut. Parallel dazu laufen in der SPD die Beratungen über das Programm für die Bundestagswahl. Mitte April soll dazu der Entwurf, auf dem Parteitag am 14. Juni dann das Programm beschlossen werden.

Das neue Parteiprogramm soll am 14. Juni beschlossen werden

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Deutsche Bildungswege

Wissenschaftler starten Langzeitstudie mit 60 000 Bürgern

Nach den hierzulande besonders intensiv geführten Debatten über die Pisa-Studie entwickelt sich Deutschland zu einem Pionier der Bildungsforschung. In einer feierlichen Auftaktveranstaltung starten Politiker und Wissenschaftler an diesem Dienstag in Bamberg ein "Nationales Bildungspanel". Die Forscher wollen 60 000 Bürger verschiedener Altersstufen über mehrere Jahre hinweg begleiten und so Bildungswege im Lebensverlauf nachzeichnen. Sie setzen damit europaweit neue Maßstäbe, viele halten es für das größte sozialwissenschaftliche Projekt, das es bisher in Deutschland gab. Zumindest in den Dimensionen ist es kaum zu schlagen: Bis 2014 wird das Programm etwa 60 Millionen Euro kosten, mehr als 150 Wissenschaftler und alle namhaften Institute des Landes sind beteiligt.

Im Panel-Verfahren wird dieselbe Gruppe von Menschen in bestimmten Abständen immer wieder befragt und getestet. Da solche Längsschnittstudien aufwendig und teuer sind, wagt man sie selten. Auch Pisa ist nur eine Querschnittsstudie, die Momentaufnahmen vom Wissensstand der 15-Jährigen liefert. Zwar wird Pisa im Abstand von drei Jahren wiederholt, so dass sich Trends zeigen; die Schüler sind jedoch stets andere.

Vom neuen Panel, kurz NEPS ("National Educational Panel Study"), erhoffen sich Politiker und Wissenschaftler Antworten auf viele Fragen, die Pisa und ähnliche Studien nicht oder nur unzureichend beantworten: Wie entwickeln sich Fähigkeiten im Verlaufe mehrerer Jahre, welche Wirkung haben verschiedene Schultypen, wodurch werden Migranten in der Schullaufbahn gehemmt oder gefördert? Ist es erst einmal aufgebaut, könnte das Panel noch in Jahrzehnten laufen. Das Geld kommt überwiegend vom Bundesbildungsministerium, auch die Länder und die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützen das Projekt.

Die Wissenschaftler wollen an mehreren Schnittstellen jährlich Daten erheben: in der Vorschule, am Ende der Grundschule, in der neunten Klasse, zu Beginn eines Studiums und während des Berufslebens. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen werden dann in den folgenden Jahren immer wieder befragt. "Wir drehen praktisch Filme über Bildungswege", sagt der Bamberger Soziologe Hans-Peter Blossfeld, der die Studie leitet. Pisa liefere dagegen nur einzelne "Fotos". Das Panel sei nicht irgendein weiterer Test, betont Blossfeld, sondern eine "Revolution der Bildungsforschung". Erstmals könnten die Forscher systematisch verfolgen, wie sich Bildungskarrieren entwickeln.

Vorliegende Studien liefern auch noch kein besonders scharfes Bild. So zeigen etwa die sogenannten Iglu-Studien, dass die Viertklässler in Deutschland vergleichsweise gut Texte verstehen können. Die 15-Jährigen bei Pisa schneiden darin aber eher schlecht ab. Das neue Panel könnte helfen, diesen Leistungsverlust zu erklären. Erhoben werden Einstellungen und soziale Merkmale, aber auch Fähigkeiten im Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften. In diesem Jahr wird eine Stichprobe von 13 000 Erwachsenen zwischen 23 und 64 Jahren gezogen, 2010 folgen Vierjährige, Fünft- und Neuntklässler sowie Studenten.

Bei einem Panel müssen die Forscher viel dafür tun, dass die ausgewählten Personen jahrelang mitmachen, geplant sind deshalb auch Preise als Dankeschön. Mit einem anderen Panel haben deutsche Sozialwissenschaftler bereits gute Erfahrungen gesammelt: Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wurde im vorigen Jahr 25 Jahre alt. Es liefert regelmäßig Daten zum Wertewandel und zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Bürger. Tanjev Schultz

Die Studie begleitet junge Menschen von der Vorschule bis zur Uni. dpa

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Agrardiesel bald billiger

Berlin - Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) ist auf die Unionsforderung nach einer Senkung der Agrardieselsteuer eingeschwenkt. "Der derzeitige Zustand ist gegenüber den deutschen Landwirten nicht gerecht", sagte Aigner der Passauer Neuen Presse. Es sei nötig, Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen EU-Staaten zu vermeiden. Der Steuersatz für Agrardiesel liegt bei 25,56 Cent pro Liter. Die Ermäßigung gilt nur bis zu einem Verbrauch von 10 000 Litern im Jahr. Danach müssen Bauern den vollen Steuersatz zahlen. Ein Autofahrer muss 47 Cent Mineralölsteuer pro Liter Diesel ausgeben. dpa

Schieflage: Im Ausland ist die Steuer auf Agrardiesel oft niedriger. Foto: dpa

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Althaus-Gutachten erwartet

Leoben - Die Staatsanwaltschaft im österreichischen Leoben will frühestens in zwei Wochen über eine mögliche Anklage gegen den thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) wegen seines Skiunfalls entscheiden. Dann würden die ausstehenden Gutachten der Gerichtsmedizin und des Technikers zum Unfallhergang, bei dem eine Frau starb, vorliegen, sagte Staatsanwalt Walter Plöbst am Montag. Ermittelt wird wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Althaus sei aus medizinischer Sicht weiter nicht vernehmungsfähig, er mache aber bei den Therapien Fortschritte, sagte ein Kliniksprecher. AP

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Bürgermeister verklagt die eigene Stadt

Homosexueller Beamter fordert von Heidelbergs Verwaltung Ehegatten-Zuschlag

Von Bernd Dörries

Stuttgart - In Heidelberg war bisher nicht jedem klar, was der Bürgermeister für Integration und Chancengleichheit macht. Das Amt wurde erst im Jahr 2007 für den Grünen Wolfgang Erichson geschaffen, der es seitdem engagiert aber unauffällig bekleidete - bis in die vergangene Woche. Da machte Erichson bekannt, dass er die Stadt Heidelberg beim Verwaltungsgericht Karlsruhe verklagt, seinen eigenen Arbeitgeber also, weil sie ihm den Ehegatten-Zuschlag verweigere. Erichson sieht sich diskriminiert, er ist homosexuell und seit 2008 mit seinem zweiten Mann verheiratet.

Früher einmal lebte Wolfgang Erichson, 53, in Berlin, war mit einer Frau verheiratetet und Mitglied der CDU. Mittlerweile hatte er sein Coming-out, ist nach Heidelberg gezogen und zu den Grünen gewechselt. Die Stadt sei nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof verpflichtet, ihm den Ehegatten-Zuschlag in Höhe von 108,14 Euro auszuzahlen, sagt Erichson. Ihm gehe es aber nicht um das Geld, sondern darum, die Benachteiligung von Homosexuellen zu beenden - in Heidelberg und im Süden Deutschlands überhaupt. Die Stadtverwaltung selbst hätte Erichson durchaus den Zuschlag gezahlt, muss sich aber an das Beamtenrecht halten, das von der CDU-geführten Landesregierung in Stuttgart vorgegeben wird.

Was die Besoldung homosexueller Beamter angeht, ist die Republik geteilt. In nördlichen Bundesländern wie Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen zahlen die öffentlichen Arbeitgeber auch ihren in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft lebenden Beamten den Ehegatten-Zuschlag. In den südlichen Ländern bereitet lediglich Rheinland-Pfalz eine Gesetzesänderung vor, um den Zuschlag einzuführen.

Baden-Württemberg lehnt eine Änderung des Dienstrechtes ab und beruft sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das im Juni 2008 entschieden hatte, dass homosexuelle Beamte, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, keinen Anspruch auf eine Zulage für Eheleute haben. Der Verheiratetenzuschlag werde nur bei einer Ehe gewährt, nicht aber bei einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, so die Karlsruher Richter. Bei der Ehe sei meist ein Partner mit der Kindererziehung befasst, der wegen dieser Einschränkung der eigenen Erwerbstätigkeit Unterhalt von seinem Ehegatten erhält.

Die nördlichen Bundesländer orientieren sich hingegen an einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das die Rechte Homosexueller bei der Witwenrente gestärkt hatte. In Berlin bekommen schwule Beamte den Ehegattenzuschlag sogar rückwirkend bis zum Jahr 2003 ausgezahlt. Wolfgang Erichson hat deshalb bereits einen Antrag ausgefüllt und nach Berlin geschickt. Bevor er nach Heidelberg kam, arbeitete er dort in der Senatsverwaltung.

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Wirtschaft macht den Lehrlingen Hoffnung

Arbeitgeber rechnen trotz Konjunkturkrise vorerst nicht mit weniger Ausbildungsstellen / Sorge um Migranten-Kinder

Von Daniela Kuhr

Berlin - Trotz Wirtschaftskrise blicken Arbeitgeber, Bundesregierung und Bundesagentur für Arbeit (BA) optimistisch auf den Ausbildungsmarkt. Man sei zuversichtlich, dass die Betriebe auch in diesem Jahr wieder neue Lehrstellen schafften, sagten die Partner des Ausbildungspakts am Montag in Berlin. Zugleich betonten sie jedoch: "Je länger Deutschland sich in der Rezession befinden wird, desto größer werden die Auswirkungen auf den Ausbildungsmarkt im Jahr 2009 sein." Handwerks-Präsident Otto Kentzler zeigte sich überzeugt, dass die Unternehmen "die negativen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise für die Ausbildung eindämmen" könnten. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt erwartet, dass die Betriebe ihre Ausbildungsanstrengungen vorerst nicht deutlich verringern werden. Vor allem Jugendliche aus Zuwandererfamilien sollen bessere Chancen erhalten.

Das Ausbildungsjahr 2008 bezeichneteten die Vertreter der Bundesregierung und der Spitzenverbände der Wirtschaft als Erfolg. Die Wirtschaft hatte 86 500 neue Lehrstellen angeboten und damit ihre Zusage von 60 000 übertroffen. Dennoch blieb zu Jahresbeginn eine Lehrstellenlücke. Allerdings konnten die Arbeitsagenturen und die Verbände in der sogenannten Nachvermittlung seit Ende September die Zahl der zunächst leer ausgegangenen Bewerber deutlich verringern. Von 14 500 erfolglosen Ausbildungsbewerbern am 30. September waren Mitte Januar noch 6000 übrig. Für sie gab es noch 3300 offene Stellen. Rechnerisch fehlten also 2700 Lehrstellen.

Insgesamt sank die Zahl der Ausbildungsverträge im vergangenen Jahr auf 616 259. Das ist ein Rückgang von 9655 besetzten Lehrstellen im Vergleich zum Vorjahr, teilten die Pakt-Partner mit. Die Krise ist jedoch nicht der alleinige Grund für die reduzierte Stellenzahl. Vielmehr habe auch die sinkende Zahl von Schulabgängern eine Rolle gespielt. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagte: "Die Bundesregierung will sich im neuen Ausbildungsjahr noch stärker um diejenigen Jugendlichen kümmern, die es schwerhaben auf dem Ausbildungsmarkt."

Die Vertreter der Wirtschaft kritisierten, dass viele Bewerber für eine Lehrstelle nicht qualifiziert genug seien. DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun mahnte, die Ausbildung der Schulabgänger müsse besser werden. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) sagte, man müsse auch den Leuten eine Chance geben, "die nicht so gute Voraussetzungen mitbringen". Es sei eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, jedem eine Ausbildung zu ermöglichen. "Wenn wir das nicht schaffen, dann droht unserem Land und natürlich diesen konkreten Bürgern Armut. Jede junge Frau und jeder junge Mann, die jetzt nicht ausgebildet werden, sind für unsere Volkswirtschaft eine Krise." Deutschland müsse sich das ehrgeizige Ziel setzen, dass jeder gesunde Mensch entweder Abitur oder eine Berufsausbildung habe. "Davon sind wir noch weit entfernt."

Vor allem Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln soll der Weg in den Beruf künftig erleichtert werden. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), betonte, immer noch seien überproportional viele ausländische Jugendliche ohne Berufsabschluss. Trotz einiger Fortschritte sei deren Lage weiter "dramatisch". Mit Blick auf den Geburtenrückgang sagte sie: "Es liegt im ureigenen Interesse der Unternehmen, mehr Jugendliche aus Zuwandererfamilien auszubilden, da die Zahl der Schulabgänger zurückgeht."

Mit dem Ausbildungspakt hatte die Wirtschaft 2004 Pläne der damaligen rot-grünen Bundesregierung für eine Ausbildungsabgabe abgewehrt. Partner des Pakts sind die großen Wirtschaftsverbände, die Bundesregierung und die BA. Der Ausbildungspakt sei ein großer Erfolg, sagte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Im Vergleich zum Jahr 2003, also dem Jahr vor dem Ausbildungspakt, seien im vergangenen Jahr 59 000 Ausbildungsplätze mehr abgeschlossen worden. Das entspricht einem Zuwachs von gut zehn Prozent.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund forderte einen "wirksamen Schutzschirm für Ausbildungsplätze". Die Bundesregierung und die Arbeitgeber dürften die Lage nicht länger beschönigen, sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock. Nötig seien stattdessen schnell wirkende Maßnahmen zur Stabilisierung des Ausbildungsmarktes. Vor allem benachteiligte Jugendliche könnten Verlierer der Krise werden. (Seite 4)

"Man muss auch den Leuten eine Chance geben, die schlechte Voraussetzungen mitbringen"

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Riskante Wetten

160 Kommunen in NRW spekulieren gegen Banken

Düsseldorf - Mindestens 160 der 396 Kommunen aus Nordrhein-Westfalen haben mit Steuergeld auf die Entwicklung von Zinsen gewettet. Dies ergibt eine Umfrage, die der Bund der Steuerzahler am Montag veröffentlicht hat. Bocholt, Mülheim, Remscheid, Moers und Hagen räumen Verluste zwischen 0,1 und 27,7 Millionen Euro ein. 188 Kommunen haben nach eigenen Angaben keine solchen Zins-Geschäfte getätigt. Damit wollten Kommunen oder deren Unternehmen sich kostengünstig Fremdkapital beschaffen. Viele Städte wollten auf diesem Weg ihre Schulden reduzieren. Praktisch handelt es sich um Wetten gegen eine Bank auf den Abstand zwischen kurz- und langfristigen Zinsen. Die kommunalen Spekulanten setzten darauf, dass die langfristigen Zinsen stärker als die kurzfristigen Zinsen steigen würden. Insbesondere wegen der Finanzkrise verloren sie die Wette gegen die Banken.

93 Kommunen wollen Gewinn gemacht haben, davon nennen vier aber keine Zahlen. So sprachen die Verantwortlichen der Stadt Bad Oeynhausen gegenüber dem Bund der Steuerzahler von Gewinnen bis Ende 2007. Die Lokalpresse hatte da längst herausgefunden, das mittlerweile ein Verlust in Höhe von rund vier Millionen Euro entstanden ist. Dies verschwieg die Stadt dem Bund der Steuerzahler. 19 Städte und Gemeinden, darunter Gelsenkirchen, Dormagen und Unna, machten keine oder nur unklare Angaben. Der Verband will notfalls die Informationen vor Gericht einklagen. Auf Zeit spielen nach Ansicht des Steuerzahlerbundes Emsdetten, Soest, Velbert und sieben weitere Städte. Sie könnten mit dem Begriff "Zinswette" nichts anfangen, antworteten sie.

Einige Städte hatten gegen die Deutsche Bank wegen fehlerhafter Beratung bei diesen Geschäften geklagt. Würzburg hatte in erste Instanz im März 2008 gewonnen. Dagegen legte die Bank Berufung ein. Sie hatte einen Prozess gegen die Stadt Hagen gewonnen. dom

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Rücktritt in Köln

Köln - Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche ist ein Kölner CDU-Politiker wegen eines umstrittenen Beratervertrages zurückgetreten. Bürgermeister Josef Müller erklärte am späten Sonntagabend den sofortigen Verzicht auf alle politischen Ämter. Der 70-jährige Müller, Stellvertreter des CDU-Oberbürgermeister Fritz Schramma, hatte im Jahr 2001 einen Beratervertrag mit einer Tochtergesellschaft der Düsseldorfer Sparkasse geschlossen. Am Wochenende musste Müller jedoch einräumen, dass ihm das Honorar für seine drei Jahre dauernde Tätigkeit in angeblich sechsstelliger Höhe von der heimischen Sparkasse Köln-Bonn gezahlt worden war. Erst vor wenigen Tagen hatte der Kölner CDU-Politiker Rolf Bietmann den Verzicht auf seine Bundestagskandidatur erklärt. Bietmann war unter Druck geraten, als bekannt geworden war, dass er von der Sparkasse Köln/Bonn für Beratungsleistungen ein Honorar von 900 000 Euro erhalten hatte. graa

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Neue Stelle für Schavan

Berlin - Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) wird Honorarprofessorin für Katholische Theologie an der Freien Universität Berlin. Der Akademische Senat der Hochschule hatte die Verleihung auf Antrag des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften beschlossen. Ihre Antrittsvorlesung werde Schavan im Sommersemester halten. Die Katholikin Schavan verbinde geisteswissenschaftliche Exzellenz mit gesellschaftlicher Wirksamkeit, erklärte die Universität. Mit ihrem wissenschaftlichen Werk in Moraltheologie und praktischer Theologie vertrete sie eine Öffnung des Fachs zur Welt. KNA

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CDU verspricht Entlastung

Berlin - Trotz Aufnahme einer Rekord-Neuverschuldung geht die CDU mit dem Versprechen in den Bundestagswahlkampf, die Steuern zu senken. "Wir sind der Auffassung, dass es weitere Steuersenkungen in der nächsten Legislaturperiode geben muss", sagte CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla nach einer Präsidiumssitzung am Montag in Berlin. Details nannte er nicht. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) warnte dagegen davor, voreilig Steuerentlastungen zu versprechen. Wegen der zu erwartenden Rekordschulden des Staates sei "eine Steuersenkung auf Pump der falsche Weg", sagte Oettinger der Südwest Presse. AP

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Anstieg bei Zwangsehen

Berlin - In Berlin werden immer mehr Fälle von Zwangsverheiratungen bekannt. Im Jahr 2007 wurden 378 Fälle von drohender oder tatsächlicher Zwangsverheiratung gemeldet, wie Frauensenator Harald Wolf am Montag bekanntgab. Im Jahr 2005 seien es Umfragen zufolge 330, im Jahr 2002 etwa 220 Fälle gewesen. Der Linken-Politiker führte den Anstieg der Meldungen auf eine Sensibilisierung und größeren Mut der Betroffenen zurück. Früher habe es nicht weniger Zwangsehen gegeben, sie seien nur nicht so häufig gemeldet worden. Wolf sagte, die Dunkelziffer liege vermutlich deutlich höher. Hilfsvereine schätzen, dass jährlich mehr als 1000 Mädchen und Frauen, die in Deutschland aufgewachsen sind, gegen ihren Willen im Heimatland ihrer Familie verheiratet werden. AP

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Im Netz der Bürokraten

Ausländische Akademiker bringen oft mit, was deutsche Unternehmen suchen - dennoch legt ihnen die Politik viele Steine in den Weg

Von Laura Weißmüller

Berlin - Hunderte Stellenanzeigen jede Woche, gleich zwei Zusagen auf nur sechs Bewerbungen - dass die Jobsuche in Deutschland so einfach werden würde, hätte Mohamed Hafez Abdelrehim aus Alexandria nicht gedacht. Nur ein paar Wochen musste der junge Assistenzarzt aus Ägypten warten, bis er die ersten Stellenangebote bekam. Abdelrehim bringt einen großen Vorteil mit: Während Wirtschaft und Regierung erst am Montag wieder ein niedriges Bildungsniveau bei Zuwanderer-Kindern in Deutschland beklagten, kann der Ägypter Fachwissen vorweisen. Trotzdem wird es Qualifizierten wie ihm schwergemacht, ins Land zu kommen - obwohl Deutschland weiter unter Fachkräftemangel leidet.

Weil Abdelrehim Arzt ist, muss er seinen Abschluss erst anerkennen lassen. Gerade für Personen aus Nicht-EU-Ländern wird es dann schwierig. "Wenn Geld und Zeit kein Thema wären, wäre das alles problemlos", sagt der 29-Jährige sarkastisch. Doch der junge Ägypter wollte unbedingt in der Bundesrepublik arbeiten. Er schätzt den hohen Standard der deutschen Facharztausbildung - und er möchte näher bei seiner Frau leben: Abdelrehim ist mit einer Schweizerin verheiratet. Dort zu arbeiten war nicht möglich. Die Zeit bis zur Arbeitserlaubnis in Deutschland, zerrte jedoch auch an seinen Nerven und seinem Ersparten: Jedes, der vielen Dokument, die er einreichen musste, kostete Abdelrehim 40 Euro, das entspricht in Ägypten etwa dem Monatslohn eines Assistenzarztes.

Noch immer sind die Hürden hoch, wenn Nicht-Europäer in Deutschland arbeiten wollen und das, obwohl der Fachkräftemangel enorm ist. Das Institut der Deutschen Wirtschaft schätzt, dass durch fehlende Arbeitskräfte in Deutschland jährlich 20 Milliarden Euro verloren gehen. Der Verlust wird in den nächsten Jahren noch größer werden, weil die Bevölkerungszahl in Deutschland schrumpft. Auch die Bundesregierung hat diesen dringenden Bedarf erkannt: Erst Anfang Januar hat sie die Einkommensgrenzen, die ausländische Hochqualifizierte in ihrem neuen Job vorweisen müssen, von 85 000 auf 63 000 Euro gesenkt. Ob dieser Schritt den Durchbruch bringt, bezweifeln Migrationsexperten allerdings.

Deutschland ist gerade für Akademiker kein attraktives Ziel, lässt es sich doch in Ländern wie Kanada und Großbritannien nicht nur leichter arbeiten, sondern auch mehr verdienen. Nach einer Studie des Migrationsforschers Steffen Angenendt im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt die Bundesrepublik innerhalb der OECD-Staaten nur einen der letzten Plätze in puncto Einwanderung, das Land ist noch dazu eines der wenigen, in dem die Zuwanderung zurückgeht.

Obwohl gerade in den neuen Ländern Mediziner dringend gesucht werden, dauerte es vier Monate bis der Facharzt Abdelrehim seine Stelle an der Uniklinik in Magdeburg antreten durfte. Wenn der Ägypter seine Geschichte erzählt, ist er darauf bedacht, nicht undankbar zu klingen. Als Arzt sei er hier nie in Frage gestellt worden und voll anerkannt, sagt er in gebrochenem Deutsch.

Nachdem er die Stelle an der Uniklinik bekam, musste er eine sogenannte Gleichwertigkeitsprüfung absolvieren, damit sein ägyptisches Medizinstudium anerkannt wird. Das ist international so üblich, nur dass in Deutschland jedes einzelne Bundesland seine eigene Prüfung mit unterschiedlichen Bestimmungen und Anforderungen hat. Für jemanden, der gerade erst eingewandert ist, sind die rechtlichen Feinheiten kaum zu verstehen. Das Prozedere wiederholt sich, sobald Abdelrehim das Bundesland wechseln möchte: Will er statt in Sachsen-Anhalt einmal in Bayern arbeiten, muss er dort erneut eine Gleichwertigkeitsprüfung bestehen.

Für den libanesischen IT-Ingenieur Rachid el Assir war es dagegen nicht nur eine Prüfung, sondern ein ganzes Studium, das er in Deutschland erfolgreich ableisten musste. Der 27-Jährige hatte seinen Bachelor an der amerikanischen Universität in Beirut als einer der Besten abgeschlossen, doch der Abschluss wurde in Deutschland nicht anerkannt. Um seinen Beruf ausüben zu dürfen, blieb el Assir nichts anderes übrig, als ein komplettes Magisterstudium in Bayern zu machen. Die Jobsuche danach ging umso schneller. Kein Wunder, fehlen doch laut einer Umfrage vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) der heimischen Industrie rund 95 000 Ingenieure.

Dieses Defizit können die Zuwanderer, die aktuell nach Deutschland einreisen, nicht beheben. Einwanderungsgrund Nummer eins im Land ist immer noch der Familiennachzug. Doch diejenigen, die nachkommen, sind überwiegend schlecht oder gar nicht ausgebildet, hochqualifiziert sind die wenigsten. In Kanada verhält sich das genau umgekehrt: Hier sind die Zuwanderer sogar besser ausgebildet als die Einheimischen. Das Land regelt seit langem den Zuzug nach einem Punktesystem. Für einzelne Kriterien wie Ausbildung, Sprachkenntnis und Alter werden darin Punkte vergeben. Erreicht der Antragsteller eine gewisse Punktzahl, muss er zur Einreise keinen Arbeitsplatz vorweisen - man geht davon aus, dass er sich aufgrund seiner Fähigkeiten aus eigener Kraft im Arbeitsmarkt integrieren kann. Nach diesem Prinzip würde der 29-jährige Facharzt Abdelrehim, der Englisch und Deutsch spricht, genügend Punkte besitzen, um einreisen zu dürfen.

Seit Jahren wird auch in der Bundesrepublik ein solches Punktesystem vorgeschlagen, verwirklicht worden ist es nicht. Stattdessen prüft die Arbeitsagentur, ob nicht doch ein Deutscher für die Stelle in Frage kommt. "Dieses Verfahren ist bürokratisch und blockierend", kritisiert Angenendt.

Ein paar Wochen musste der duldsame Facharzt so wieder warten, bis die Arbeitsagentur entschied, dass es keinen inländischen Bewerber für die Stelle gibt. Nun ist Abdelrehim sehr zufrieden an der Uniklinik. Bereits die Sachbearbeiterin auf dem Ausländeramt habe ihn extrem freundlich empfangen. "Ägypter haben ein solides Studium", kommentierte sie seine Unterlagen. Andere haben für diese Einsicht länger gebraucht.

"Wenn Geld und Zeit kein Thema wären, wäre das alles problemlos."

Bis Ausländer mit einer Fachausbildung - hier ein Arzt aus Afghanistan - in Deutschland ihren Beruf ausüben dürfen, kann es Monate dauern. Foto: dpa

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Zeichen der Stabilität

Die Regionalwahlen im Irak sind weitgehend friedlich verlaufen, religiöse Parteien verzeichnen offenbar Verluste

Von Christiane Schlötzer

München - Nach dem weitgehend friedliche Verlauf der Provinzwahlen im Irak sieht sich US-Präsident Barack Obama in seinem Vorhaben bestärkt, die amerikanischen Truppen dort rasch abzuziehen. In einem Interview mit dem US-Sender NBC sagte Obama, die USA sähen sich nun in der Lage, "mehr Verantwortung den Irakern zu übertragen". Er bejahte auch die Reporterfrage, ob beim nächsten Super Bowl, dem Finale der US-Football-Liga, das am ersten Februar-Sonntag ausgetragen wird, eine erhebliche Zahl von Soldaten zurückgekehrt sein würden.

14 der 18 irakischen Provinzen wählten am Wochenende die Mitglieder regionaler politischer Vertretungen. Nicht beteiligt hatten sich die drei Provinzen der weitgehend autonomen Kurdenregion im Norden und die Provinz Kirkuk, die zwischen Arabern und Kurden umstritten ist. Dort soll der Wahltermin erst noch festgelegt werden.

Es waren die bislang ruhigsten Wahlen seit der US-geführten Invasion im Irak im Jahr 2003. Sie galten auch als ein genereller Stimmungstest für die später in diesem Jahr geplanten nationalen Wahlen. Dass es nur wenige blutige Zwischenfälle gab, werteten Beobachter als Zeichen einer neuen Stabilität im Irak.

Ersten Trends zufolge sollen die säkularen Parteien hinzugewonnen haben, während religiöse Gruppierungen Verluste erlitten. Allerdings gab es am Montag noch keine offiziellen Zahlen. Die Wahlkommission teilte mit, die Auszählung werde noch zwei bis drei Tage beanspruchen. In den schiitischen Regionen zeichnete sich den Trendmeldungen zufolge eine Stärkung des gegenwärtigen Regierungslagers ab. Die Kandidaten, die Ministerpräsident Nuri al-Maliki unterstützen, erzielten in den schiitischen Gebieten im Süden des Iraks offenbar besonders gute Ergebnisse.

Die konkurrierende größte schiitische Partei, der Oberster Islamische Rat SCI, wies erste Meldungen zurück, viele Stimmen verloren zu haben. Seine Partei führe in elf der 14 Provinzen, in denen gewählt worden sei, betonte der Rats-Vorsitzende Abdul-Asis al-Hakim in einer schriftlichen Erklärung. Seine Gruppierung bleibe eine wichtige Kraft in der irakischen Parteienlandschaft, fügte er hinzu, nannte aber keine Zahlen. Gute Ergebnisse für SCI meldete nur die al-Hakim nahestehende Zeitung Adala.

Die landesweite Wahlbeteiligung erreichte nach einer ersten Auswertung 51 Prozent, wie der Vorsitzende der Wahlkommission, Faradsch al Haidari, mitteilte. Es war mit einer etwas höheren Teilnahme von etwa 60 Prozent gerechnet worden. In der Provinz Niniveh mit der Hauptstadt Mossul, in der auch Kurden und Araber um die Macht ringen, war nach irakischen Berichten ein arabisches Bündnis erfolgreich, das im Wahlkampf den Abzug kurdischer Kämpfer aus Mossul gefordert hatte. In Niniveh hatte der sunnitische Boykott der Provinzwahlen von 2005 besonders tiefe Gräben hinterlassen. In Folge des Boykotts hatten die Parteien der Kurden, die höchstens ein Drittel der Einwohner der Provinz stellen, 31 von 41 Sitzen in dem Regionalparlament errungen, was zu Spannungen führte. Im Raum Mossul war die Sicherheitslage zuletzt besonders schlecht. Die Wahlbeteiligung in der Provinz soll nun überdurchschnittlich hoch gewesen sein, wie auch in den anderen überwiegend sunnitischen Gebieten. Die Provinzräte besitzen erhebliche Entscheidungsgewalt, vor allem was Investitionen und die Besetzung von Positionen im lokalen Sicherheitsapparat betrifft. (Seite 4)

Das Regierungslager von Präsident al-Maliki erzielte gute Ergebnisse

Der Irak hat gewählt: In der Stadt Nadschaf werden Plakate abmontiert. Foto: AP

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Waffenstillstand in Gaza erneut gebrochen

Gaza - Der Waffenstillstand im GazaStreifen bleibt brüchig. Die israelische Luftwaffe bombardierte am Montag erneut Stellungen in dem Palästinenser-Gebiet und übte damit nach Darstellung des Militärs Vergeltung für Granatwerfer- und Raketenangriffe. Bei dem Angriff auf ein Auto in der Stadt Rafah nahe der Grenze zu Ägypten kam nach Angaben palästinensischer Rettungssanitäter ein Kämpfer des radikalen Volkswiderstands-Komitees ums Leben, drei andere wurden verletzt. Eine Woche vor der Wahl in Israel schloss Verteidigungsminister Ehud Barak eine neue Großoffensive nach dem Vorbild der "Operation gegossenes Blei" vom Januar aus. Israel habe Vergeltung für Raketen- und Granatwerferangriffe aus dem Gaza-Streifen angekündigt und sie auch wahr gemacht. Die Äußerungen des Chefs der sozialdemokratischen Arbeitspartei standen im Gegensatz zur Drohung von Außenministerin Tzipi Livni mit einer neuen Großoffensive. Barak und Kadima-Chefin Livni streben bei der Wahl das Amt des Regierungschefs an.Reuters

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Neun Tote nach Beschuss von Klinik in Sri Lanka

Noch ist unklar, ob die Armee oder die Rebellen verantwortlich sind / Empörung beim Roten Kreuz

Von Oliver Meiler

Singapur - Im umkämpften Nordosten Sri Lankas ist ein Krankenhaus mit Artilleriefeuer angegriffen worden. Innerhalb weniger Stunden wurde die Klinik offenbar drei Mal beschossen. Dabei starben mindestens neun Menschen, viele wurden laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) verletzt. Einige Geschosse trafen sogar die Kinderabteilung im Krankenhaus von Puthukkudiyiruppu, diese Klinik ist eine der wenigen in der Region, die bisher noch funktionstüchtig ist. Seit der Einlieferung von 500 Verletzten in den vergangenen Tagen arbeiten die Ärzte und Krankenschwestern in Puthukkudiyiruppu unter Hochdruck.

"Wir sind entsetzt", sagte eine Sprecherin des IKRK in der srilankischen Hauptstadt Colombo. "Das ist die dritte Klinik, die beschossen wurde. Hier wird auf grobe Art internationales humanitäres Recht gebrochen. Medizinische Einrichtungen und Personal dürfen unter keinen Umständen angegriffen werden. Das ist völlig inakzeptabel", sagte sie. Die Vereinten Nationen gaben sich ebenfalls empört.

Zunächst war unklar, welche Kriegspartei für den Beschuss des Krankenhauses verantwortlich gewesen sein könnte. Unabhängige Berichte gibt es keine mehr, seit in- und ausländischen Reportern im vergangenen Jahr verboten wurde, das Kriegsgebiet zu besuchen. Um einen Unfall konnte es sich nicht gehandelt haben, da die Rebellen und die Armee die Lage des Krankenhauses kannten und mehrmals gewarnt worden waren, keine Zivilisten zu gefährden. Die tamilische Rebellenorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), die seit 25 Jahren für einen unabhängigen Staat für die unterdrückte tamilische Minderheit im mehrheitlich singhalesischen Land kämpft, behauptete am Montag auf ihrer Internetseite, die Regierungstruppen hätten die Klinik beschossen. Die Operation, so stellte es Tamilnet dar, passe zur neuen Strategie des srilankischen Verteidigungsministers Gotabhaya Rajapakse, des Bruders von Staatspräsident Mahinda Rajapakse, der Zivilisten von Krankenhäusern abschneiden wolle. Die Regierung konterte mit der Behauptung, die Tamil Tiger würden die in der Kriegszone verbliebenen Zivilisten gefangen halten und als menschliche Schutzschilder missbrauchen.

Das IKRK schätzt die Zahl der Menschen, die in das Kreuzfeuer der Konfliktparteien geraten sind, auf 250 000. In Colombo heißt es, diese Zahl sei übertrieben, es handle sich "höchstens" um 125 000. Die Regierung beteuert, sie setze alles daran, zivile Opfer möglichst zu vermeiden. Die Zweifel daran sind jedoch groß. In den vergangenen Wochen sollen die Gefechte laut Berichten von Hilfsorganisationen immer brutaler geworden sein und Hunderte ziviler Opfer gefordert haben.

Die Armee hat die Rebellen mit ihrer einjährigen Großoffensive in ein 300 Quadratmeter großes Stück Dschungel im Nordosten zurückgedrängt. Das Ziel der Regierung ist es, die Tiger, deren Zahl auf einige tausend geschrumpft sein dürfte, bis April militärisch zu besiegen. In dieser Phase des Krieges verbittet sie sich jede Kritik.

Den Nachrichtensendern CNN, BBC und al-Dschasira wirft die Regierung vor, sie würden mit der Ausstrahlung von Videos, die ihnen von tamilischen Organisationen zugespielt würden, Stimmung für die Tamil Tiger machen. Vertretern der nationalen Medien, die das Vorgehen der Regierung als kurzsichtig kritisieren, hat der Präsident einmal unterstellt, sie begingen "Verrat am Staat" und sympathisierten mit den "Terroristen". Experten halten es aber für unwahrscheinlich, dass die Insel rein militärisch, also ohne einen politischen Kompromiss, befriedet werden kann.

"Hier wird auf grobe Art internationales humanitäres Recht gebrochen"

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Indien öffnet sich für IAEA

München - Indien hat am Montag in Wien ein Abkommen mit der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) unterzeichnet, mit dem es von 2014 an einen Teil seiner Atomanlagen für Inspektionen öffnet. Das Abkommen ist Voraussetzung dafür, dass nach mehr als drei Jahrzehnten Embargo wegen des indischen Atomwaffenprogramms künftig wieder Nukleartechnologie an Indien geliefert werden darf. Obwohl Indien dem Atomwaffensperrvertrag nicht angehört, hatten die USA 2005 im Zuge einer strategischen Partnerschaft die Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomenergie zugesagt und auf eine Ende des Boykotts gedrungen. Indien will Engpässe in der Energieversorgung bewältigen. Das Land muss bei der IAEA jedoch noch die Anlagen als zivil deklarieren, die es künftig Kontrollen unterstellt. pkr

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Kehrtwende in Holland

Balkenende muss Haltung zum Irak-Krieg prüfen lassen

Den Haag - Der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende hat eine unabhängige Untersuchung der Entscheidung seines Landes zur Unterstützung der US-Invasion im Irak 2003 angeordnet. Der Beschluss vom Montag stellt eine Kehrtwende in der Politik der Regierung dar, die bislang jede Untersuchung abgelehnt hatte. Der Druck wurde in jüngster Zeit aber immer größer, vor allem nachdem bekannt geworden war, dass Rechtsberater der Regierung der Ansicht waren, die Invasion könne nach dem Völkerrecht illegal gewesen sein. Dies wäre für ein Land wie die Niederlande, die führende internationale Gerichte beheimaten, peinlich. Die Regierung schickte keine Soldaten zur Unterstützung der US-Invasion, unterstützte aber das militärische Vorgehen zum Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein. Die Irak-Untersuchungskommission, die unter Leitung von Willibrord Davids, dem früheren Präsidenten des Obersten Gerichts, steht, soll am 1. November ihren Bericht vorlegen.

Balkenende war unter Druck geraten, weil ein Brief aus dem Außenministerium, und vor der Irak-Invasion 2003 geschrieben, kürzlich bekannt geworden war. In dem vertraulichen Schreiben wurde unter anderem vor der politischen Unterstützung des Irak-Krieges gewarnt, weil der Krieg im Widerstreit mit dem internationalen Recht sein könne. Das sogenannte Irak-Memo, geschrieben von in Völkerrecht spezialisierten Juristen, soll den damaligen Außenminister, Jaap de Hoop Scheffer, nicht erreicht haben. Ob der Politiker mündlich informiert wurde, ist nicht bekannt. Es bestehe jedoch kein Zusammenhang zwischen der Ernennung seines Parteifreundes de Hoop Scheffer zum Nato-Generalsekretär und der politischen Unterstützung der Niederlande für den Einfall der Amerikaner im Irak, erklärte Balkenende. Er widersprach damit dem ehemaligen amerikanischen stellvertretenden Außenminister Richard Armitage, der in holländischen Medien erklärt hatte, dass der heutige Nato-Chef seinen Posten der niederländischen Unterstützung des Irak-Kriegs zu verdanken habe. sw/AP

Juristen haben die Regierung gewarnt

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Aufgewärmte Freundschaft

Raúl Castro ist nach Jahren wieder einmal in Moskau

Moskau - Wieder ist Raúl Castro in einer russischen Iljuschin in Moskau angereist, wieder hat er, wie einst, gebratenen Speck gegessen. Und auch sonst geben sich Russland und Kuba Mühe, die Distanz der letzten Jahre in Vergessenheit geraten zu lassen. Es ist der ranghöchste Besuch aus Kuba seit Jahrzehnten. Der kubanische Präsident Raúl Castro reiste zuletzt vor 25 Jahren an. Damals war Kuba der sowjetische Vorposten in der Karibik. Dann zerfiel die Sowjetunion, und Kuba kollabierte fast auch.

Diesmal aber nahmen sich beide Seiten acht lange Tage Zeit, um auf Chruschtschows ehemaliger Datscha in Sawidowo bei Twer am Lagerfeuer Nettigkeiten auszutauschen; später wurden 30 Abkommen unterzeichnet. Es gibt Pläne für einen gemeinsamen Flugzeug- und Autobau, für Medizin und Mobilfunk, es soll Stipendien für kubanische Studenten geben, der russische Stromkonzern Inter RAO und die kubanische Union Electrica wollen ein Kraftwerk auf Kuba bauen. Russland schickt nicht nur Flugzeugladungen mit Weizen nach Kuba, sondern gewährt in den kommenden Jahren auch Kredite in Höhe von insgesamt 354 Millionen Dollar, schreibt die Wirtschaftszeitung Wedomosti. Zuvor war nur von einem Kredit über 20 Millionen Dollar die Rede gewesen. Im Laufe der Gespräche sei der Kreditrahmen plötzlich um 250 Millionen Dollar erweitert worden, berichtet die Zeitung. Von einer "neuen Seite" in den Beziehungen" sprach Medwedjew, von einem "historischen Moment" Raúl Castro.

Sollte es auch um militärische Zusammenarbeit gehen, drang davon jedenfalls nichts an die Öffentlichkeit. Vize-Premier Igor Setschin, einer der Befürworter der russisch-karibischen Zusammenarbeit, wies eine entsprechende Frage auf einer Pressekonferenz zurück. Zuvor hatte er allerdings erklärt, die militärisch-technische Zusammenarbeit sei fester Bestandteil der Beziehung: "Sie zielt auf eine Sicherheitsgarantie und gehört zur Souveränität unserer Staaten", zitierte ihn die staatsnahe Zeitung Rossiskaja Gaseta. Würde Kuba sein Militär modernisieren, käme als Anbieter nur Moskau in Frage. Die kubanische Armee ist ausschließlich mit sowjetischen Waffen ausgerüstet.

Kuba hofft zwar auf einen Kurswechsel unter dem neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, ächzt aber nach wie vor unter dem amerikanischen Embargo. Und Russland drängt demonstrativ zurück in die Karibik, pflegt auch ausgiebige Kontakte zu Venezuelas Präsident Hugo Chávez.

Medwedjew selbst war vor zwei Monaten zum ersten Mal mit der russischen Flotte zu Besuch in Havanna. Auf dem Tiefpunkt des amerikanisch-russischen Verhältnisses nach dem Georgien-Krieg und den amerikanischen Raketenplänen für Osteuropa kursierten Gerüchte über einen neuen russischen Militärstützpunkt auf Kuba. Im Jahr 2002 hatte der damalige Präsident Wladimir Putin seine Truppen abgezogen. Putin empfing Castro am Montag. Sonja Zekri

Russland gewährt Kuba Kredite in Höhe von 354 Millionen Dollar

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Neuer Vermittlungsversuch

Rangun - Der UN-Sondergesandte Ibrahim Gambari hat am Montag die birmanische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi und Funktionäre ihrer Partei NLD getroffen. Dabei stellten die seit Jahren unter Hausarrest stehende Friedensnobelpreisträgerin und die NLD vier Vorbedingungen für eine Aussöhnung mit der Militärjunta. Alle politischen Häftlinge müssten freigelassen, eine Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung eingerichtet, das Parlament einberufen und ein Dialog zwischen Regierung und Opposition eingeleitet werden, sagte ein Sprecher. Es war das erste Mal, dass das Regime ein Treffen Gambaris mit Suu Kyi im Gästehaus der Regierung erlaubte. Gambari war am Samstag zu neuen Gesprächen mit der Militärführung in Birma eingetroffen. dpa

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Farc lässt vier Geiseln frei

Bogotá - Die linksgerichtete Guerillaorganisation Farc in Kolumbien hat am Sonntag (Ortszeit) vier Geiseln freigelassen. Bei den 2007 verschleppten Männern handelt es sich Medienberichten zufolge um drei Soldaten und einen Polizisten. Zwei weitere prominente Politiker, die sich seit sieben beziehungsweise acht Jahren in der Gewalt der Rebellen befinden und ebenfalls freigelassen werden sollten, blieben dagegen überraschend in Geiselhaft. Nach kolumbianischen Medienberichten sollen der ehemalige Gouverneur Alan Jara und der Abgeordnete Sigifredo Lopez aber noch in dieser Woche auf freien Fuß kommen. Die Farc hatte die Freilassung bereits im Dezember angekündigt, aber immer wieder verschoben. KNA

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Gaddafi wird AU-Präsident

Addis Abeba - Die Staats- und Regierungschefs der Afrikanischen Union (AU) haben den libyschen Staatschef Muammar el Gaddafi für ein Jahr zum Präsidenten der Organisation gewählt. Dies teilte eine Sprecherin am Montag in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba mit. Gaddafi tritt die Nachfolge des tansanischen Präsidenten Jakaya Kikwete an. Zum Auftakt des Treffens hatte die AU am Sonntag erste Reformschritte auf dem Weg zu einer afrikanischen Einheitsregierung beschlossen. Die AU-Kommission solle in eine "AU-Behörde" mit einem breiteren Mandat und größerer Kapazität umgewandelt werden, teilte der Kommissionsvorsitzende Jean Ping mit. Die Behörde solle von einem Präsidenten und einem Stellvertreter geleitet werden, die Kommissare würden wie Minister mit eigenen Zuständigkeitsbereichen ausgestattet. Die neue Institution solle den Kontinent näher an das Ziel der "Vereinigten Staaten von Afrika" bringen, sagte Ping. Viele afrikanische Staats- und Regierungschefs stehen einer Einheitsregierung des Kontinents skeptisch gegenüber, da sie einen Verlust ihrer nationalen Selbstbestimmung fürchten. Auf dem zwölften AU-Gipfel beraten die 53 Mitgliedstaaten noch bis Dienstag über die Zukunft des Kontinents. AFP

Gaddafi wünscht sich eine afrikanische Einheitsregierung. Reuters

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Anschlag auf Polizeischule

Kabul - Ein Selbstmordattentäter hat im Süden Afghanistans mindestens 21 Polizisten mit in den Tod gerissen. Wie der Polizeichef der Provinz Urusgan, Juma Gul Hemat, am Montag mitteilte, wurden mindestens 20 weitere Sicherheitskräfte verletzt, als der Attentäter seinen am Körper befestigten Sprengsatz in einer Polizeischule in der Provinzhauptstadt Tarin Kot zündete. Die radikal-islamischen Taliban bekannten sich zu der Tat. Der Attentäter habe eine Uniform der afghanischen Polizei getragen, mit der er sich Zugang zu der Schule verschafft haben könnte, erklärte Polizeichef Hemat. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass es sich bei dem Täter um einen zu den Taliban übergelaufenen Polizisten handelt. dpa

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Zwanzig Millionen Wanderarbeiter ohne Job

Überraschend offen gibt Peking zu, wie sehr China unter der Wirtschaftskrise leidet

Von Katja Riedel

München - Zwanzig Millionen chinesische Wanderarbeiter haben in den vergangenen Monaten die Arbeit verloren. Dies hat am Montag die chinesische Regierung erklärt. Im Zuge des Abschwungs habe fast jeder fünfte der 130 Millionen Arbeiter seinen Job verloren oder keine Beschäftigung gefunden, sagte Chen Xiwen, Direktor der Behörde für ländliche Entwicklung. Diese hatte eine Untersuchung in 150 Dörfern in Auftrag gegeben. Die Zahl überrascht, hatte die chinesische Statistikbehörde doch im Januar gemeldet, dass aufgrund der Wirtschaftskrise nur sechs Millionen Wanderarbeiter ohne Beschäftigung seien.

Zwar sind die Zahlen mit Vorsicht zu werten, da die meisten Wanderarbeiter unangemeldet und ohne Verträge beschäftigt und deshalb nicht statistisch erfasst sind. Die Offenheit der chinesischen Regierung zeigt aber, dass Peking Anlass zur Sorge sieht. Jahrelang waren die Arbeiter, die aus entlegenen chinesischen Provinzen in die industriellen Zentren strömten, um dort für wenig Lohn schwere körperliche Arbeit zu verrichten, die Garanten des Wirtschaftsbooms. Infolge des eingebrochenen Exports verlieren sie nun zuhauf ihre Arbeit. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert nach Jahren zweistelligen Wirtschaftswachstums für 2009 lediglich ein Plus von 6,7 Prozent in China. Tausende Fabriken sollen bereits ihre Produktion eingestellt haben.

Die Krise zieht eine Entwicklung nach sich, die die chinesische Regierung nun aus Angst vor sozialem Druck zu Maßnahmen bewegen könnte, die sie in besseren wirtschaftlichen Zeiten nicht in Angriff genommen hat: Regelungen zu finden, die den weitestgehend ungeschützten Wanderarbeitern zu einer besseren sozialen Absicherung verhelfen. Bislang sind die Wanderarbeiter allenfalls informell in Arbeitervereinen organisiert, gewerkschaftliche Strukturen gibt es für sie genauso wenig wie verbindliche Verträge, Arbeitsschutzmaßnahmen und eine Versorgung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter. "Der Schutz der Arbeitsplätze und der sozialen Sicherung schützt die Stabilität auf dem Land", sagte Chen jetzt bei der Veröffentlichung der Zahlen. Zugleich kündigte er ein gelasseneres Vorgehen bei Unruhen und Demonstrationen gegen Entlassungen an. Zuletzt war es dabei zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Kurz vor Bekanntgabe der Zahlen hatte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao außerdem ein Konjunkturpaket in Höhe von 450 Milliarden Euro angekündigt, das Arbeitsplätze retten soll - auch die der Wanderarbeiter.

Wanderarbeiter im Bahnhof von Peking: Fast jeder Fünfte hat bereits seinen Job verloren, neue Beschäftigung ist kaum zu finden. Foto: Reuters

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Der dritte Mann

Die Kür des Republikaners Judd Gregg zum Minister könnte das Machtgefüge im Kongress durcheinanderbringen

Von Christian Wernicke

Washington - Präsident Barack Obama scheint entschlossen zu sein, mit der Ernennung des Republikaners Judd Gregg zum US-Handels-und Wirtschaftsminister erneut ein Zeichen für mehr parteiübergreifende Zusammenarbeit setzen zu wollen. Gregg, ein politisch moderater Senator aus New Hampshire, ist nach Aussagen von Freunden bereit zum Wechsel in die Regierung, da er aufgrund der Krise seiner Partei um seine Wiederwahl 2010 bangen muss. Obama-Vertraute im Weißen Haus signalisierten, Gregg sei "die erste Wahl" für den Kabinettsposten. Noch ungewiss ist, welche Folgen die Personalie für die Machtverhältnisse im Kongress haben wird: Die Republikaner fürchten, Greggs Abgang könne sie um jene Sperrminorität von 41 Stimmen bringen, mit der sie bisher im Senat unliebsame Gesetze blockieren können.

Loyale Opposition

Gregg wäre bereits der dritte Minister, der dem Lager der Oppositionspartei zugerechnet wird: Der frühere Kongressabgeordnete Ray LaHood aus Obamas Heimatstaat Illinois ist inzwischen Transportminister, zudem beließ der neue Präsident mit Robert Gates den (formal parteilosen) Verteidigungsminister der Bush-Regierung im Pentagon. Der 61-jährige Gregg, der sich selbst erst vergangene Woche als "Mitglied der loyalen Opposition" beschrieben hatte, erwarb sich auf dem Kapitol Respekt als leiser, unideologischer Mann der Mitte: So zählt er zu den verschwindend wenigen Republikanern, die sich noch für eine umfassende Reform des US-Einwanderungsrechts einsetzen. Gregg, der Anfang der neunziger Jahre Gouverneur von New Hampshire war, kämpfte im Budgetausschuss des Senats zuletzt für einen überparteilichen Vorstoß, um mit Hilfe eines "Rates der Weisen" das rasant steigende Haushaltsdefizit der US-Regierung mittelfristig in den Griff zu bekommen. Obama erklärte, er wolle die Idee aufgreifen.

Der Posten des US-Handelsministers, der faktisch dem Amt eines Wirtschaftsministers entspricht, blieb bislang unbesetzt, da der ursprüngliche Kandidat überraschend abgesagt hatte: Gegen Bill Richardson, den engen Obama-Freund und demokratischen Gouverneur von New Mexiko, ermittelt das FBI wegen des Verdachts, er habe öffentliche Aufträge im Tausch gegen Spenden vergeben. Richardson beteuert seine Unschuld.

Die Gerüchte um Greggs Wechsel ins Ministeramt und sein Ausscheiden aus dem Senat hatten unter Republikanern auf dem Kapitol zunächst Spekulationen über ein "perfides Machtspiel" des Weißen Hauses geschürt. Das Privileg, Greggs Nachfolger zu benennen, steht allein dem Gouverneur von New Hampshire zu. Dies ist derzeit der Demokrat John Lynch - und falls Lynch einen seiner Parteifreunde nominieren würde, verlören die Republikaner im Kongress das Recht, per Dauerrede eine Abstimmung im Senat zu blockieren.

Dieses so genannte Filibuster zählt zu den legendären Ritualen der US-Demokratie. Verewigt in Hollywood-Klassikern wie "Mr. Smith goes to Washington" mit James Stewart, dient die Senatsregel Nummer 22 dem Schutz der parlamentarischen Minderheit: Anders als im Kino ist es heute jedoch nicht mehr nötig, dass sich ein Senator leibhaftig an sein Pult stellt und stundenlang bis zur Erschöpfung redet; es genügt ein simpler Antrag der Minderheit, mithin die schlichte Androhung eines Filibusters. Nötig ist eine Mehrheit von drei Fünftel der Senatoren (derzeit 60 Stimmen), um die Debatte zu beenden und zur Abstimmung zu schreiten, bei der dann die einfache Mehrheit von 50 Stimmen genügt.

Derzeit zählt die demokratische Senatsfraktion 58 Mitglieder, ein 59. Senator wartet im Staat Minnesota auf die gerichtliche Bestätigung seines knappen Wahlsieges. Mit Greggs Nachfolger könnten die Demokraten also die magische Zahl von 60 Stimmen erlangen - und Obamas scheinbar überparteiliche Kabinettsbildung würde plötzlich wirken wie ein machtpolitisches Manöver. Hinter den Kulissen scheinen Senator Gregg wie auch Obama selbst bemüht zu sein, diese Sorgen zu zerstreuen. Angeblich ist mit Gouverneur Lynch vereinbart, dass der künftige Senator von New Hampshire erneut der republikanischen Fraktion angehören soll. Auch Mitch McConnell, Oppositionsführer im Senat, sagt: Gregg habe ihm versichert, er wolle nur Minister werden, "wenn es nicht die Zusammensetzung des Senats im Sinne von Mehrheit und Minderheit verändert."

US-Senator Judd Gregg ist dieser Tage in Washington allgegenwärtig, wenn es um das geplante Konjunkturpaket der Demokraten geht. Foto: Getty

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Neuer Anlauf für die Abrüstung

Frank-Walter Steinmeier sucht Unterstützung in den USA

Berlin - Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will in Washington die Chancen für einen Neuanfang in der Abrüstung ausloten. "Ich finde jetzt Gesprächspartner bei Themen, wo sie in der Vergangenheit schwierig zu finden waren", sagte Steinmeier am Montag vor seinem Abflug in die USA. Als erster Europäer wird Steinmeier in Washington von der neuen US-Außenministerin Hillary Clinton empfangen. In einem Beitrag für die am Mittwoch erscheinende SZ-Beilage zur Münchner Sicherheitskonferenz äußert Steinmeier die Hoffnung, dass "nach jahrelanger Blockade durch Präsident George Bush" Bewegung in die Abrüstung komme. Das gelte für ein Nachfolgeabkommen mit Russland für den auslaufenden Start-Vertrag über strategische Nuklearwaffen ebenso wie für die Ratifizierung des Atomteststoppvertrags durch den US-Senat.

Das Bemühen um Abrüstung sei einer der Schwerpunkte der Regierung von US-Präsident Barack Obama, lobt der Außenminister; er tritt aber auch mit konkreten Wünschen an Obamas Team heran. So will Steinmeier die neue US-Regierung auffordern, Abstand von der noch unter dem früheren US-Präsidenten George W. Bush vorangetriebenen und von Russland abgelehnten Raketenabwehr zu nehmen. "Jetzt erwarte ich, dass alle Seiten auch in der strittigen Frage des geplanten US-Raketenabwehrschirms in Osteuropa noch einmal aufeinander zugehen. Ich bleibe dabei: Wo es um gemeinsame Bedrohungen geht, sind auch gemeinsame Antworten möglich", versichert Steinmeier. Ein positives Zeichen sei, dass Russland die Pläne für die Stationierung von Abwehrraketen in Kaliningrad vorerst gestoppt habe. Zudem tritt Steinmeier für eine Wiederbelebung des Nato-Russland-Rates ein. Es handele sich um ein "Gremium, das wir gerade in schwierigen Zeiten als Forum des Dialogs dringend brauchen".

Während ihrer Anhörung im US-Senat hatte Clinton eine Wende in der amerikanischen Außenpolitik angekündigt. Diese müsse "auf Prinzipien und Pragmatismus, nicht auf rigider Ideologie" beruhen. So ist die neue US-Regierung im Streit um das iranische Atomprogramm zu Gesprächen mit der Führung in Teheran bereit. Iran müsse diese Chance ergreifen, forderte Steinmeier. Im Kampf gegen die Verbreitung von Kernwaffen will er aber auch die USA zu weiteren Abrüstungsschritten ermuntern. "Nur wenn die Atomstaaten bereit sind, ihre Arsenale zu reduzieren, werden wir auch die Weiterverbreitung von Kernwaffen dauerhaft verhindern können", betonte er. Deutsche Hilfe will der Außenminister im Bemühen um konventionelle Abrüstung anbieten. Im Juni werde er zu einem hochrangigen Expertentreffen nach Berlin einladen, das über Möglichkeiten zur Rettung des von Russland ausgesetzten KSE-Vertrages beraten soll. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa setzt Obergrenzen für bestimmte Waffengattungen fest. Daniel Brössler

Außenminister Steinmeier will eine engere Abstimmung mit Washington. rtr

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Ukraine warnt vor Moskaus Monopol

Berlin - Die Beilegung des Gasstreits mit Russland garantiert nach ukrainischer Darstellung keine Versorgungssicherheit für Europa. "Um die Wiederholung einer solchen Situation zu verhindern, müssen eine Reihe von Maßnahmen getroffen werden", sagte der ukrainische Vize-Außenminister und Gas-Chefunterhändler Konstantin Jelissejew der Süddeutschen Zeitung am Montag in Berlin. Die Einigung vom 19. Januar, die einen zweiwöchigen Lieferstopp beendet hatte, schließe neue Schwierigkeiten nicht aus. "Wir müssen das Monopolproblem in Angriff nehmen", forderte Jelissejew. Energiesicherheit werde es nur geben, wenn die Vormachtstellung des russischen Gazprom-Konzerns eingeschränkt - und die Ukraine ins Energiesystem der Europäischen Union integriert werde.

"Wir müssen den Missbrauch von Gas als politisches Druckmittel verhindern", sagte Jelissejew. Er erneuerte damit den Vorwurf, Russland habe den Gasstreit aus politischen Gründen eskalieren lassen. Russland hatte angebliche ukrainische Schulden und die Uneinigkeit über Lieferpreise ins Feld geführt. Nach dem jetzt geltenden Kompromiss muss die Ukraine europäische Marktpreise für russisches Gas zahlen, zunächst mit einem 20-prozentigen Abschlag, ab 2010 in voller Höhe. Der zeitweilige Lieferstopp hatte in mehreren EU-Ländern extreme Versorgungsengpässe ausgelöst und erhebliche Verärgerung sowohl über den Lieferanten Russland als auch über das Transitland Ukraine ausgelöst.

Trotz des Imageschadens wünscht sich die Ukraine nun eine Stärkung ihrer Rolle. "Wir haben den Vorschlag gemacht, dass die EU-Staaten ihr Gas an der russisch-ukrainischen Grenze kaufen", erläuterte Jelissejew. Die Ukraine würde dadurch zum Zwischenhändler werden.

Die geplante Ostsee-Pipeline bezeichnete Jelissejew als unwirtschaftlich. Sinnvoller sei es, durch Investitionen in Höhe von zwei bis drei Milliarden Euro die Effizienz des ukrainischen Durchleitungsnetzes zu steigern. Auch deutsche Experten warnen vor Unsicherheiten für die künftige Gasversorgung. Grundlegende Probleme blieben ungelöst und lieferten Zündstoff für neuen Streit, heißt es in einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. "Damit muss die Versorgungssicherheit auf dieser Route weiterhin als gefährdet gelten", wird gewarnt. Daniel Brössler

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Aus für Österreichs Vorzeige-Grünen

Wien - Der Bundesvorstand der Grünen Alternative Österreichs hat den bekanntesten Europapolitiker der Partei nicht noch einmal für die Wahl zum Straßburger Parlament aufgestellt. Johannes Voggenhuber, Mitbegründer der österreichischen Grünen und seit dem EU-Beitritt des Landes 1995 Europa-Abgeordneter, darf nicht wieder antreten. So hat es der Parteivorstand endgültig beschlossen. Zuvor war es zu einem Gerangel zwischen ihm und der außenpolitischen Sprecherin Ulrike Lunacek um den ersten Listenplatz gekommen. Voggenhuber hatte bislang immer die Liste angeführt, nun beanspruchte Lunacek, die erstmals für Straßburg kandidiert, die Führung. Voggenhuber selbst sagt, er sei in einen "politischen Geschlechterkampf" geraten, wobei es auch darum gegangen sei, einen alten "Silberrücken" auszuschalten.

Ein Parteitag im Januar hatte Lunacek auf Platz eins gesetzt. Voggenhuber hatte daraufhin angekündigt, nicht mehr zu kandidieren. Auf Drängen vieler Landesorganisationen und Parteimitglieder besann er sich und erklärte sich zu einer Kandidatur auch auf dem "letzten" Listenplatz bereit.

Österreich kennt allerdings sogenannte Vorzugsstimmen, bei denen die Kandidaten von hinteren auf vordere Listenplätze gewählt werden können. Offenbar befürchtete der Grünen-Vorstand, eine Vorzugsstimmenkampagne könnte die bereits fertige Liste auf den Kopf stellen. Man traut Voggenhuber zu, alle anderen Kandidaten zu überholen und einen der Sitze in Straßburg zu holen. Dies wollte man verhindern: Die neue Grünen-Vorsitzende Ewa Glawischnig, so hieß es, sei sonst "geschwächt".

Österreichs Grüne riskieren damit, lieber einen ihrer bisher zwei Sitze zu verlieren, als Voggenhuber kandidieren zu lassen. Neben dem Kampf um Einfluss für den neuen Vorstand nach dem Abgang von Alexander Van der Bellen als erstem Bundessprecher geht es auch um den künftigen Europakurs selbst. Die neue Sprecherin Glawischnig hatte nach der Abstimmung in Irland den Vertrag von Lissabon über die neuen EU-Regeln für "tot" erklärt. Voggenhuber, der als Reformpolitiker im EU-Parlament gilt, tritt hingegen dafür ein, den Vertrag mit Korrekturen in Kraft zu setzen.

Vogggenhuber, der einst ein progressives Stadtentwicklungsprogramm für Salzburg durchsetzte, ist einer der kritischen Geister der Partei: Die Selbstzufriedenheit, die sich in der Partei während des jahrzehntelangem Aufstiegs breitmachte und die 2008 erstmal zu Stimmverlusten führte, hat er lange kommen sehen. Als Gewissen der Partei war er für viele unentbehrlich. Voggenhuber hat mittlerweile die grünen Landesorganisationen aufgefordert, ihn nicht etwa über Landeslisten doch noch zu nominieren, was möglich wäre. Er werde niemals gleichsam "gegen" die Grünen kandidieren. Michael Frank

"Es geht darum einen alten Silberrücken auszuschalten"

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Kleine Siege mit Hilfe fremder Truppen

Frankreichs zerstrittene Sozialisten wollen an der Seite der Gewerkschaften zu alter Größe und mehr Einfluss zurückfinden

Von Gerd Kröncke

Paris - In der Mutualité, dem traditionellen Pariser Versammlungssaal der französischen Linken, versuchte Martine Aubry sich in einem Frontalangriff gegen Nicolas Sarkozy: "Wenn der Präsident glaubt, das Land gehöre ihm, dann ist das eine Verunstaltung der Republik." Das hörten die Genossen gern, auch wenn Angriffe der Opposition Nicolas Sarkozy kalt lassen. Was ihn mehr beeindruckte, waren die Demonstrationen der Gewerkschaften in der vergangenen Woche, als etwa zwei Millionen Franzosen gegen ihn und seine Regierung protestierten. Martine Aubry ist mitmarschiert, sie sieht ihre Chance in einem Bündnis mit den Gewerkschaften.

Doch bevor es dazu kommt, muss die französische Linke selbst zur Geschlossenheit zurückfinden. Während sich die Sozialisten für die bevorstehenden Europa-Wahlen warmlaufen, trafen sich im Pariser Vorort Limeil-Brévannes die Anhänger der französischen Linkspartei (Le Parti de gauche) zu ihrem Gründungskongress. Der Senator Jean-Luc Mélenchon, dem der Kurs der Sozialisten zu wenig antikapitalistisch war, hatte die Splitter-Organisation Ende vergangenen Jahres als neue Heimat für enttäuschte Sozialisten gegründet. Nun träumt er von einer starken Formation links von der Sozialistischen Partei (PS). Eine Meinungsumfrage, die er selbst in Auftrag gegeben hat, bescheinigt ihm ein Potential von 14,5 Prozent, wenn es gelingen sollte, die Kommunisten und die Trotzkisten mit ins Boot zu holen. Die Kommunistin Marie-Georges Buffet ist nicht abgeneigt, aber der junge Chef der "Neuen Antikapitalistischen Partei" hat abgewinkt. "Meinungsumfragen reichen nicht aus, um sich auf einen gemeinsamen Weg zu einigen," sagt Olivier Besancenot. Die Partei des populären Briefträgers hat gute Chancen, bei den Europa-Wahlen auf eigene Rechnung genügend Stimmen zu holen, um ins Straßburger Parlament einzuziehen.

Suche nach Verbündeten

Die Sozialisten, die mit Martine Aubry eine neue Ära beginnen wollen, sind selbst nicht einig. Das Trauma der Wahl ihrer Vorsitzenden ist auch nach mehr als zwei Monaten noch nicht überwunden. Im November hatte die Hälfte der Partei (minus ein paar Dutzend Stimmen) für Ségolène Royal gestimmt, und ihre Anhänger fühlen sich von der Siegerin übergangen. Martine Aubry hat sie weitgehend isoliert. Royal mokiert sich in ihrem jüngsten Buch über die Rivalin: "Sie behandelt mich noch immer wie ihre Unter-Ministerin." Zu Mitterrands Zeiten war Aubry nämlich Sozialministerin gewesen - und Royal ihre beigeordnete Familienministerin. Zwischen den beiden bleibt das Tischtuch zerschnitten, trotzdem muss Martine Aubry akzeptieren, dass bei der Europa-Wahl wenigstens sieben Royalisten auf aussichtsreichen Plätzen kandidieren.

Bei den Demos vorige Woche waren die Sozialisten immerhin wieder präsent. "Wir stehen im Herzen der politischen Debatte", sagt Parteisprecher Benoît Hamon, und vom "schwarzen Donnerstag" gingen "tausend Initiativen aus, um die Krise zu bekämpfen". Martine Aubry ergänzt: Gemeinsam mit den Gewerkschaften werde die PS "ein neues Gesellschafts-Modell vorbereiten".

Die Gewerkschaften beratschlagen derweil bereits über einen weiteren Aktionstag gegen Sarkozy, und Martine Aubrys Sozialisten wollen sich wieder einreihen. Am Montag, als der Anstieg der Arbeitslosenzahlen bekanntgegeben wurde, warnte Aubry den Präsidenten vor einen "sozialen Tsunami". Der Druck, den die Gewerkschaften auf Sarkozy ausüben, so das Kalkül der Sozialistin, könnte die eigene Position stärken.

Diese Woche wird ihre Partei auch wieder daran erinnert, dass sie einmal die stärkste Kraft im Land war: Michel Rocard tritt ab. Sechs Jahrzehnte lang hat der Sozialist von der Politik und für sie gelebt. Auf dem Zenith seiner Karriere war er Premierminister unter François Mitterrand. Zuletzt war Rocard Europa-Abgeordneter, nun will er aufhören. Mit der aktuellen Lage ist Rocard vertraut: Seine Partei war schon oft genauso ohnmächtig wie jetzt. Und wie schon früher setzt eine schwache Führung auch diesmal vor allem darauf, dass der Gegner Schwächen zeigt.

Die Parteispitze der Sozialisten, hier bei der Großdemonstration gegen die Politik von Präsident Nicolas Sarkozy, plant ein neues "Gesellschaftsmodell". AFP

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"Zigeuner" als Täter

Ungarischer Polizist trotzt dem Vorwurf des Rassismus

Von Kathrin Lauer

Budapest - Die sozialistische Regierung Ungarns hat einen ranghohen Polizisten nach seiner Suspendierung überraschend wieder eingesetzt, der mit rassistischen Äußerungen an die Öffentlichkeit gegangen - und dafür von der rechtsradikalen Szene gefeiert worden war. Der Polizeichef der nordungarischen Stadt Miskolc, Albert Pasztor, hatte am vergangenen Freitag vor Journalisten gesagt, dass in seiner Stadt alle Straßenraubdelikte der vergangenen zwei Monate von "Zigeunern" verübt worden seien. Dies läuft dem Geist des ungarischen Gesetzes zuwider, wonach die Polizei die ethnische Zugehörigkeit von Straftätern nicht festhalten darf. Die Erstellung entsprechender Statistiken war zuletzt während des Kommunismus üblich gewesen. Roma wurden in der so genannten "Kategorie C" erfasst. "C" stand für "cigany", das ungarische Wort für "Zigeuner".

Der Fauxpas des Polizeichefs von Miskolc ist insofern brisant, als "Zigeunerkriminalität" ein beliebtes Thema bei den ungarischen Rechtsradikalen ist. Vor allem der vor zwei Jahren gegründete paramilitärische Verein "Ungarische Garde" wirbt mit Slogans, in denen von Rache für Straftaten die Rede ist, die von Roma begangen wurden.

Bei der betreffenden Pressekonferenz hatte Albert Pasztor den Journalisten auch zu verstehen gegeben, dass er die Roma nicht zur ungarischen Nation zählt. "Eigentlich muss ich sagen, dass in Miskolc der Ungar höchstens ein Geldinstitut oder eine Tankstelle ausraubt, jeder andere Raub kommt von ihnen (den Roma)", sagte er. Der Roma-Status jedoch, argumentierte Pasztor weiter, würde bisweilen als mildernder Umstand gewertet, deswegen gäben viele Verdächtige im Verhör die Zugehörigkeit zum Volk der Roma als Nationalität an.

Landes-Polizeichef Jozsef Bencze enthob Pasztor daraufhin seines Amtes. Innenminister Tibor Draskovics bestätigte, Pasztor habe "eine Grenze überschritten". Auch Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany sagte am vergangenen Samstag, dass Pasztor "nicht weiter tragbar" sei. Zwei Tage später machte Draskovics jedoch einen Rückzieher. Pasztor darf seinen Posten nun doch behalten, bekommt aber eine Verwarnung. Pasztor sein kein Rassist; er habe weder Persönlichkeitsrechte noch Datenschutzauflagen verletzt. Zuvor hatte sich der Bürgermeister von Miskolc für ihn eingesetzt. Kritisch über die Rehabilitierung äußerten sich der Verband der Roma-Polizisten sowie die Zentrale der liberalen Partei SZDSZ.

Die Rechtsradikalen - darunter viele uniformierte "Gardisten" - feierten danach am Sonntagabend zu Tausenden bei einer Großdemo in Miskolc Pasztors "Rettung". "Es gibt Zigeuner-Kriminalität", skandierten sie, und auch die Redner auf der Kundgebung bejubelten die Entscheidung der Politik.

Ungarns Rechtsradikale feiern die Wiedereinsetzung des Polizisten

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Gewalt gegen Fremde

Deutschland vor dem UN-Menschenrechtsrat

Von Gerd Zitzelsberger

Genf - Viele Regierungen beobachten mit Besorgnis die Situation von Ausländern und anderen Randgruppen in Deutschland. Dies wurde am Montag im UN-Menschenrechtsrat in Genf deutlich. Jedes Land muss dort im Vier-Jahres-Turnus einen Bericht zur Lage Menschenrechte vorlegen und sich einer Anhörung unterziehen. Ihre Schlussfolgerungen zu Deutschland, das an diesem Montag an der Reihe war, wird die UN-Organisation am Mittwoch vorlegen. Selbst Vertreter befreundeter Regierungen zeigten sich bei der Anhörung besorgt über Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Mehrmals verwiesen UN-Vertreter auf die zunehmende Gewalttätigkeit in Deutschland gegenüber Fremden. Reihum kritisierten die 40 Staaten, die zu Wort kamen, dass ausländische Kinder im deutschen Schulsystem und im Gesundheitswesen benachteiligt würden. Illegale Ausländer gingen aus Angst vor Abschiebung nicht zum Arzt.

Der UN-Botschafter Irans bemängelte, dass Muslime im Berufsleben diskriminiert würden und kaum einen Chance auf einen Job im öffentlichen Dienst hätten. Vertreter der Bundesregierung sagten dazu, das "mehrere 100 Muslime" eine solche Position innehätten. Zur Sprache kam, dass religiöse Symbole in Teilbereichen des öffentlichen Lebens verboten seien, aber Ausnahmen für die christlichen Religionen gemacht würden.

Mehrfach fragten die UN-Vertreter nach der Lage der Sinti und Roma in Deutschland. Vertreter nordischer Staaten bemängelten, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften steuerlich gegenüber Ehepaaren benachteiligt seien. Die Gesandte Australiens kritisierte die deutsche Anti-Terror-Gesetzgebung.

Gleichzeitig lobten allerdings auch eine Vielzahl von Staaten die Bundesregierung dafür, dass sie einen sehr offenen und umfassenden Bericht zur Lage der Menschenrechte in Deutschland vorgelegt habe. Verschiedenen Nichtregierungsorganisationen dagegen warfen am Rande der Anhörung Berlin vor, die Menschenrechts-Situation zu beschönigen. So kritisierte Amnesty International die Praxis, durch so genannte diplomatische Zusicherungen die Abschiebung von Terror-Verdächtigen zu erleichtern, selbst wenn ihnen in der Heimat Folter drohe. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler, nannte als eine der Verbesserungen der jüngsten Zeit, dass künftig auch unangemeldete Besuche zur Qualitätskontrolle von Altersheimen möglich seien. Die Konvention zum Schutz der Wanderarbeiter wolle Berlin - ebenso wie die anderen EU-Staaten - nicht unterschreiben. Tatsächlich aber würden solche Arbeitnehmer deshalb nicht weniger geschützt.

Der menschenrechtspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Florian Toncar, sagte, dass eine Reihe von Staaten "zu Recht" ein besseres Integrationskonzept für Ausländer angemahnt habe. Die Grünen kritisierten am Rande der Sitzung, dass das Recht auf Familienleben für Ausländer in Frage gestellt sei, weil auch der Ehepartner deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müsse.

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Kurz gemeldet

Wegen Umbauarbeiten zur WM-Endrunde 2014 in Brasilien soll im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro für rund zwei Jahre der Ball ruhen. Dies gab die in der Landesregierung Rios für den Sport zuständige Politikerin Marcia Lins bekannt. Die Bauarbeiten in der 1950 zur ersten WM in Brasilien eröffneten Arena sollen spätestens im Januar 2010 beginnen. Als Baukosten sind rund 270 Millionen Euro veranschlagt.

Martin Kaymer, Golfprofi, ist trotz seines vierten Platzes beim Turnier in Dubai in der Golf-Weltrangliste vom 19. auf den 22. Platz (3,48 Durchschnittspunkte) abgerutscht. Es führt weiter der verletzte Tiger Woods (USA/10,46) vor Sergio Garcia (Spanien/7,96). Alexander Cejka (München) belegt Rang 246, Bernhard Langer (Anhausen) Platz 301.

Iwan Uchow, 22, russischer Hochspringer, hat in Moskau mit 2,35 Meter seine eigene Weltjahresbestleistung um einen Zentimeter gesteigert.

Mit Patty Schnyder, der 16. der Weltrangliste, empfängt das Schweizer Fed-Cup-Team die deutschen Tennis-Frauen zur Partie der Weltgruppe II am 7./8. Februar in Zürich. Zudem stehen die Weltranglisten-60. Timea Bacsinsky sowie als Ersatz Stefanie Vögele (124.) und Nicole Riner (405.) im Team. Die deutsche Mannschaft tritt mit Sabine Lisicki (Berlin), Anna-Lena Grönefeld (Nordhorn), Kristina Barrois (Stuttgart) und Tatjana Malek (Bad Saulgau) an.

Britta Kamrau-Corestein hat den Sieg zum Auftakt der Grand-Prix-Saison im Freiwasserschwimmen knapp verpasst. Nach 57 Kilometern im Rio Coronda musste sich die 29 Jahre alte Jurastudentin aus Rostock, die zuletzt vor allem in Mexiko trainiert hatte, im Ziel in Santa Fe/Argentinien nur der Niederländerin Linsy Heister geschlagen geben.

Miriam Gössner hat bei der Junioren-WM der Biathleten in Canmore/Kanada das vierte Gold für den Deutschen Skiverband gewonnen. Die 18-Jährige aus Garmisch siegte im 10-km-Jagdrennen trotz acht Strafrunden nach Schießfehlern mit 11,1 Sekunden Vorsprung vor der Tschechin Veronika Vitkova. Bronze ging an Nicole Wötzel (Elterlein/18,6 Sekunden zurück), die nach Siegen im Einzel und Sprint ihre dritte WM-Medaille holte. Im 12,5-km-Jagdrennen der Junioren gewann Simon Schempp (Uhlingen) die Silbermedaille.

Daniel Heun hat den deutschen Skilangläufern bei der U23-WM in Praz de Lys die erste Medaille beschert. Im 1,5-km-Sprint sicherte sich der 22-Jährige aus Gersfeld Bronze.

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Löwen locken

Mannheims Handballer wollen Karabatic, Glandorf und Kavticnik

Zagreb (sid/SZ) - Der erste Millionentransfer der Handballgeschichte steht vor dem Abschluss: Nikola Karabatic, der aktuelle Welthandballer, soll vom deutschen Meister THW Kiel zum Liga-Konkurrenten Rhein-Neckar Löwen wechseln. Als bislang teuerster Transfer eines Bundesligisten gilt eine Verpflichtung der SG Flensburg-Handewitt, die vor der laufenden Saison den Montenegriner Alen Muratovic für rund 700 000 Euro bei BM Valladolid in Spanien auslöste. Neben Karabatic sollen die Löwen auch mit dem deutschen Nationalspieler Holger Glandorf (HSG Nordhorn) und dem Slowenen Vid Kavticnik (Kiel) vor einer Einigung stehen.

Wie der Mannheimer Morgen berichtete, geht es beim Karabatic-Transfer nur noch ums Geld. "Karabatic wird ab dem 1. Juli für die Löwen spielen", sagte Löwen-Gesellschafter Jesper Nielsen einem dänischen Fernsehsender: "Er ist die Korsettstange in unserem Projekt, der weltbeste Handball-Klub zu werden." Da Karabatic seinen Vertrag in Kiel aber erst 2007 bis 2012 verlängert hat, müssen die Mannheimer ihn teuer aus dem Kontrakt herauskaufen. Die Kieler Nachrichten schreiben von 1,5 Millionen für den THW und einer weiteren halben Million als Handgeld für Karabatic.

Löwen-Manager Thorsten Storm bezeichnete die Aussagen Nielsens am Montag als "Wunschvorstellung". Storm: "Es gibt keinen neuen Stand. Es hat vor zwei Wochen ein Gespräch mit dem THW gegeben, und wir haben den Kielern mitgeteilt, dass Nikola und sein Berater auf uns zugekommen sind." Karabatic-Berater Bhakti Ong redet auch schon von Abschied: "Nikola wäre über einen Wechsel glücklich. Wenn sich beide Vereine einigen, kann alles ganz schnell gehen." Der Franzose will Noka Serdarusic folgen, der im Sommer 2008 im Streit als Trainer in Kiel aufgehört hat und nun im kommenden Sommer bei den Löwen beginnt.

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Zweiter Bochumer Saisonsieg

Alles auf die Acht

Bochum - Der abgewanderte Fußballer Thomas Zdebel ist in Bochum zum Symbol des Widerstands geworden. Die Fans des VfL streckten vor dem Spiel gegen den Karlsruher SC mit der tausendfach auf Papier gedruckten Zahl "8" die Rückennummer ihres zu Bayer Leverkusen abgeschobenen Mittelfeldspielers in die Höhe. Sie demonstrierten mit ihrer Sympathiekundgebung für den verlustigen Publikumsliebling zugleich gegen den aus diesem Machtkampf als Sieger hervorgegangenen Trainer Marcel Koller. Doch für den VfL Bochum sollte sich die "8" am Sonntag im Spiel gegen den Karlsruher SC auch als Glückszahl erweisen. Bochum siegte 2:0. Die Fans geben vorerst Ruhe.

Zdebel hatte fünfeinhalb Jahre die "8" getragen. Er soll sich mit diskreditierenden Gesten gegen Koller aufgelehnt und den VfL in der Winterpause deswegen zwangsweise verlassen haben. Er spielt jetzt in Leverkusen und gilt den Koller-Gegnern als Märtyrer. Die ihn nun symbolisierende "8" besitzt aber noch mehr Assoziationen. Diese mythologisch beladene Zahl hat dem VfL Glück gebracht.

Das Sonnensystem hat acht Planeten. In China gilt die Acht als Glückssymbol. In Noahs Arche überlebten acht Menschen die Flut. Die Acht heißt auf Italienisch: Otto. Otto Wüst und sein Sohn Ottokar waren frühere Präsidenten des VfL Bochum. Die Acht symbolisiert Bochums Glück, denn wer trotz 34 Prozent Ballbesitz ein schicksalhaftes Spiel gegen den KSC gewinnt, darf sich nicht beklagen. "Wegen mir kann es so weitergehen", sagte Koller und stellte nach dem erst zweiten Saisonsieg fest, dass es nach der Achter-Demo der "Koller raus!" geifernden Fans keine Missfallensäußerungen mehr gab. "Es liegt ja nur an den Ergebnissen", sagte Koller zur Wut der Fans: "Wir können sogar schlecht spielen - wenn wir gewinnen, sind alle zufrieden!"

Gegen Karlsruhe war es phasenweise so gewesen. Die Bochumer spielten kaum besser als in der Hinrunde, sie profitierten bloß von ihren Toren (Christian Fuchs/26., Diego Klimowicz/65.) und der Tatsache, dass die Karlsruher aus ihrem Ballbesitz kein Kapital schlagen konnten. "Dass wir trotz 66 Prozent Ballbesitz und 8:2 Ecken keine klaren Chancen hatten, sollte uns zu denken geben", sagte Trainer Edmund Becker. Tags darauf präsentierten die Karlsruher in dem aus Wolfsburg ausgeliehenen Mahir Saglik einen neuen Stürmer, denn in Edmond Kapllani und Joshua Kennedy besitzt der Klub gleich zwei erfolglose Spezialisten, die in dieser Saison noch kein Tor geschossen haben.

Während sich beim VfL Bochum die Akquisition des Dortmunder Stürmers Klimowicz offenbar gelohnt hat, müssen die Karlsruher auf neue Impulse im Angriff hoffen, denn die mitwirkenden Zugänge Giovanni Federico (Dortmund), Marco Engelhardt (Nürnberg) und Dino Drpic (Dinamo Zagreb) vermochten die Effektivität des nicht einmal unansehnlichen Karlsruher Auftritts nicht zu erweitern. Trainer Becker erklärte die Situation nach dem 0:1 im Pokal gegen Wehen und dem 0:2 in Bochum zur "schwierigsten, seit ich hier Trainer bin", erhielt aber vom Manager Rolf Dohmen uneingeschränktes Vertrauen ausgesprochen.

Selbiges gilt nach hartnäckiger Auskunft des VfL-Präsidenten Werner Altegoer auch für den Bochumer Trainer Marcel Koller, allerdings weiß der um die Halbwertzeit sowohl solcher Aussagen als auch solcher Siege wie am Sonntagabend. "Das war nur das erste von 17 Endspielen", sagte Koller; "nur ein kleiner Schritt, ein kurzes Durchatmen", ergänzte Bochums Sportdirektor Thomas Ernst. In einem Monat bekommen sie es mit Bayer Leverkusen zu tun. In den bis dahin vier Spielen wird sich zeigen, ob Thomas Zdebel und die "8" dann immer noch ein großes Thema sind. Ulrich Hartmann

Gute, alte Steinzeit

"Zu meiner Zeit als Spieler hat der Trainer die Bälle auf die Fünf-Meter-Linie gelegt und aufs leere Tor schießen lassen - das gab Selbstvertrauen."

KSC-Trainer Edmund Becker erwägt, das Stürmer-Training umzustellen

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Elogen auf Experten

Weltmeister Frankreich profitiert von den bitteren Lehren aus der WM 2007

Zagreb/München - Die Deutschen spielten nicht mit in diesem Finale der Handball-Weltmeisterschaft 2009, aber sie spielten ihre Rolle - im Geiste der Franzosen. Es war Mitte der ersten Halbzeit. Das Spiel gegen Kroatien stand auf Messers Schneide, und die Schiedsrichter annullierten ein Tor von Luc Abalo, weil er angeblich im Kreis gestanden hatte. "Wir dachten in dem Moment an das Halbfinale 2007", berichtete Michaël Guigou, der Linksaußen aus Montpellier: an das 31:32 nach Verlängerung gegen die Deutschen, WM-Gastgeber seinerzeit wie diesmal die Kroaten. Damals hatten die Franzosen wegen ein paar umstrittener Schiedsrichter-Entscheidungen die Nerven verloren und damit ein Spiel, das sie niemals verlieren durften. Diesmal bewahrten sie die Ruhe. "Wir haben unsere Lektion gelernt", sagte Guigou, der zehn Tore zum 24:19 beisteuerte. "Die Experten", wie das Team in der Heimat angesichts ihrer überragenden Einzelkönner genannt wird, hören nicht auf zu lernen auf ihrem Weg in die Geschichtsbücher.

Europameister 2006. Olympiasieger 2008. Weltmeister 2009. In so kurzer Zeit hat keine andere Mannschaft die wichtigsten Titel in diesem Sport errungen. Selbst Claude Onesta, der stets misstrauische Trainer, wirkte fast milde. Aber ein kleines Nachtreten gegen die Deutschen konnte er sich nicht verkneifen. "Es war eine wunderbare WM, ein Turnier für die Spieler", sagte er, "anders als die in Deutschland, wo es nur darum ging, Kohle zu machen." Onesta, seit 2001 im Amt, hat sich im Laufe der Jahre zu einer Art Lieblingsfeind von Bundestrainer Heiner Brand entwickelt, nicht zuletzt wegen jenes Halbfinals 2007. Der Franzose sprach von einer "deutschen Mafia", die im Handball die Strippen ziehe, und fügte hinzu, es gebe "keinen Grund, warum diese Scheiße nicht weiter gehen sollte". Seit ihrem WM-Titel 2007 sind die Deutschen nicht direkt protegiert worden, aber von einer französischen Mafia würde nun niemand sprechen. Dazu sind die Franzosen zu gut, die Spieler wie ihr Trainer.

Claude Onesta, 51, der als Vereinstrainer in Montpellier seine Karriere begann, neigt nicht dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. "Ich habe davon geträumt, ein Team zu bauen, das auf dem Spielfeld autonom entscheidet und mich nicht mehr braucht, jetzt habe ich es geschafft", sagte er am Sonntagabend. "Es gibt nicht viele Trainer, die so arbeiten wie ich." Selbst der Spielverlauf sei geplant gewesen, behauptete Onesta: nicht zu früh davonziehen, weil bei einer Aufholjagd der Gastgeber die 15 000 kroatischen Zuschauer verrückt spielen und ihr Team zum Sieg peitschen könnten. Abwehrmann Didier Dinart berichtete dagegen, Trainer und Mannschaft hätten sich in der Halbzeit mächtig gefetzt: weil die Kroaten immer noch auf Tuchfühlung waren. In der Viertelstunde setzten sich die Franzosen mit ihren Bärenkräften durch, die sich zu ihrer spielerischen Klasse gesellen.

Es gibt Fachleute, die behaupten, die Franzosen würden auf fast allen Positionen die besten Spieler der Welt stellen. Es sind vor allem französische Fachleute, aber sie argumentieren mit guten Gründen. Jedes Team würde sich gern mit Thierry Omeyer verstärken, dem Torwart vom THW Kiel, mit Didier Dinart, der seine Gegner mit der Wucht einer Schrottpresse umklammert, mit dem Rückraumschützen Daniel Narcisse oder den Außen Luc Abalo und Michäel Guigou. Der 38-jährige Joël Abati, nach vielen Jahren in Magdeburg jetzt in Montpellier unter Vertrag, war zum Halbfinale nachnominiert worden und fügte sich nahtlos ein. Er feierte seinen zweiten WM-Titel nach 2001. Nicola Karabatic vom THW Kiel, als bester Spieler der Welt gerühmt, blieb im Finale blass. Er hatte seine größte Bewährungsprobe zu bestehen, als ihn der kroatische Star Ivano Balic zu einer Rauferei verleiten wollte. Es war die 48. Minute, es stand 18:18. Karabatic behielt die Nerven, und Frankreich zog unwiderstehlich davon.

Am Tag danach hagelte es Elogen auf das Team. Staatspräsident Sarkozy und Ministerpräsident Fillon würdigten den Triumph, die heimische Presse bediente die übliche Klaviatur des Pathos. Die "Experten" haben Sportgeschichte geschrieben und werden verglichen mit den Fußballern um Zidane, die 1998 den WM-Titel und 2000 die EM gewannen. Das Team selbst fand, von ihren Titeln sei dieser der wertvollste. "Es hat noch keine Mannschaft gegeben, die im WM-Finale gegen die Gastgeber gewonnen hat", sagte Guillaume Gille, Spielmacher vom HSV Hamburg. "Feiern und Champagner trinken, die ganze Nacht", kündigte Thierry Omeyer aus diesem Anlass an. Die "Experten" gingen trinken, in der Gewissheit, "dass bei den nächsten Turnieren die anderen uns noch mehr fürchten" (Dinart). Sie brauchen bloß noch ein neues Feindbild - jetzt, da sie auch ihr Gespenst namens Deutschland besiegt haben. Josef Kelnberger

WM-Endspiele seit 1990

1990 Schweden - UdSSR 27:23

1993 Russland - Frankreich 28:19

1995 Frankreich - Kroatien 23:19

1997 Russland - Schweden 23:21

1999 Schweden - Russland 25:24

2001 Frankreich - Schweden n.V. 28:25

2003 Kroatien - Deutschland 34:31

2005 Spanien - Kroatien 40:34

2007 Deutschland - Polen 29:24

2009 Frankreich - Kroatien 24:19

Die hintere Reihe, quasi die Rückraumreihe dieses Gruppenphotos, zeigt drei der Hauptdarsteller des französischen Titelgewinns: den sprungstarken Daniel Narcisse (links), den Zungerausstrecker Nikola Karabatic und Trainer Claude Onesta, der am Spielfeldrand und in der Freizeit stets schwarze Oberhemden trägt. Foto: dpa

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Mit Stacheldraht besaitet

Nadal hat Federer jetzt auch auf dem Hartplatz niedergerungen

Melbourne - Rafael Nadal ist in der Stunde des Triumphes bescheiden geblieben. Bei den French Open hatte er Roger Federer auf Sand gedemütigt. In Wimbledon, auf dessen geliebtem Gras, hat er ihn niedergerungen. Und jetzt hat er den Besitzer von 13 Grand-Slam-Trophäen auch in Melbourne kleingehalten, auf einem Hartplatz, dem Belag, auf dem bei den meisten Turniere gespielt wird. Rafael Nadal ist die Nummer eins der Weltrangliste. Er ist erst 22 Jahre alt und hat schon sechs Grand-Slam-Titel gewonnen. So viele besaß so jung nur ein anderer: Björn Borg. Federer kam im gleichen Alter lediglich auf zwei der begehrten Turnier-Siege. Trotzdem ist meist nur von ihm die Rede, wenn es darum geht, wer vielleicht Rekorde aufstellt. Wie viele Grand-Slam-Erfolge er sich selbst zutraue, ist Rafael Nadal gefragt worden, als er den Australian Open-Pokal in Händen hielt. Geantwortet hat er mit einer vier Jahre alten Geschichte. 2005 hatte er bei den French Open zum ersten Mal triumphiert. "Damals", sagt Nadal, "habe ich nicht gewusst, ob ich noch ein Grand-Slam-Turnier gewinnen werde." So gehe es ihm nun wieder. Man müsse bescheiden bleiben im Leben. Weiterarbeiten. Dann käme der Erfolg schon.

Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten.

Weiterarbeiten. Wenn es ein Wort gibt, das seinen Erfolg in Melbourne zusammenfasst, dann dieses. Im Halbfinale hatte Nadal in der Nacht zum Samstag gegen Fernando Verdasco mehr als fünf Stunden lang arbeiten müssen. Danach war er müde. Fertig. Er hatte sich das rechte Bein gezerrt. Natürlich gibt so etwas kein Tennisprofi zu, doch als Nadal gegen Federer aufs Feld schritt, war es zu merken. Kleinlaut gab Nadal an, einfach sein Bestes versuchen zu wollen. Das tat er. Und Federer war freundlich genug, ihn ins Spiel kommen zu lassen. "Ich hatte eigentlich das Gefühl, das Match phasenweise zu kontrollieren", sagte Federer. Das Gefühl war trügerisch. Weil Nadal kämpfte. Auch, als sein Bein im dritten Satz wieder schmerzte. Am Ende gewann er, weil er nie aufgab. Die Zeitung The Age druckte am Montag ein Foto von Nadal in Jubelpose auf ihrer Sport-Titelseite und als Schlagzeile dazu Darwins Evolutionsthese: "Survival of the fittest." Der Mann, "dessen Schläger mit Stacheldraht besaitet ist", habe über denjenigen triumphiert, "dessen Schläger mit Seide bezogen ist". Das trifft.

Andy Roddick, den Federer im Halbfinal in drei Sätzen abspeiste, hat anschließend geschildert, wie frustrierend es sein kann, gegen den Schweizer zu spielen, wenn der einen guten Tag erwischt: "Bei ihm wirkt alles so mühelos. Er muss sich scheinbar gar nicht anstrengen. Das hilft seinem Körper auf lange Sicht." Fernando Verdasco kehrte mit einer ganz anderen Erfahrung aus dem Halbfinale gegen Nadal zurück. Der 25-Jährige war einfach nur erledigt und berichtete, wie frustrierend es sei, gegen jemanden zu spielen, der keinen Ball verloren gibt.

Die Erfahrung, wie weit er es damit bringen kann, dürfte Nadal nun noch mehr beflügeln. "Mein erster Grand-Slam-Titel auf einem Hartplatz. Das ist etwas Besonderes", deutete er vorsichtig an, wie mächtig sein Horizont sich seit Sonntag erweitert hat. Jetzt weiß er: Er kann überall gewinnen und Federer immer bezwingen. Der Unterlegene haderte sichtbar mit dieser Erkenntnis. Gewaltig enttäuscht, die Baseballkappe tief in die Stirn gezogen, gab Federer an, manchmal wünsche er sich, auch Linkshänder zu sein - dann fiele es ihm bei Breakchancen leichter, Nadals Aufschlägen zu begegnen. Das mag stimmen, zeigt aber vor allem eines: Im Augenblick ist der talentierteste Tennisspieler ratlos, wenn er es mit dem stärksten zu tun bekommt.

Federer will unbedingt Pete Sampras' Rekord von 14 Grand-Slam-Titeln erreichen. Wie wichtig ihm das Spiel mit der Geschichte ist, war in Melbourne zu sehen: An seiner Gehemmtheit im Finale, an seiner Ergriffenheit, als er bei der Siegerehrung Rod Laver gegenübertrat, an seinen Tränen. "Ich liebe diesen Sport", hat er hinterher in einer stilleren Minute bekannt. Neben seiner Freundin und seinen Eltern sei er das einzige, was er habe. So viel Bedeutung kann zur Belastung werden. Im August wird Roger Federer 28. Er ist fünf Jahre älter als Nadal. Vielleicht kann er trotzdem auf Zeit spielen.

Als der Spanier die Szene betrat, prophezeite sein Landsmann Alex Corretja: Nadal werde die Tenniswelt auf den Kopf stellen. Erst auf Sand, dann auch auf den anderen Belägen. Er werde die Nummer eins. Nicht lange. Sein Spiel belaste Sehnen und Gelenke so sehr, dass er sich nicht an der Spitze werde halten können. "Vielleicht ein, zwei Jahre", schätzte Corretja. Bislang sind seine Vorhersagen exakt eingetreten.René Hofmann

Mann mit Trophäe: Rafael Nadal präsentiert sich vor der Skyline von Melbourne nach seinem ersten Erfolg bei den Australian Open. Foto: AP

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Geld gegen Posten

Der ehemalige Profi Stevic steigt wohl bei 1860 mit Investoren ein

München - Die Grünwalder Straße 114, Montag, zehn Uhr morgens: Ein Dutzend Reporter stehen vor dem Trainingsplatz des Fußball-Zweitligisten TSV 1860 München und tippeln wie hungrige Tiere hin und her. Im Zehn-Minuten-Takt trudeln weitere Journalisten ein. Von der Presse, vom Hörfunk, von Online-Büros. Fernsehteams rücken an, eines sogar mit einem Übertragungswagen. Als die Spieler aus der Kabine schreiten, müssen sie sich durchschlängeln. Fans blockieren den Weg, weichen aber murrend zur Seite. Es herrscht eine Aufregung, als würde gleich der Papst zurücktreten. "Ja, zefix, hört das hier nie auf", flüstert Christl, die rührseelige Chefin der Vereinsgaststätte, als sie das Szenario betrachtet.

Nein, es hört nie auf. Das Chaos ist bei 1860 zu Hause wie der bayerische Dialekt und die weiß-blaue Vereinsfarbe.

Es ist der Tag nach dem 0:2 gegen den SC Freiburg. Die Münchner Löwen haben zum Rückrundenstart 80 der 90 Spielminuten schlecht gespielt, willen- und konzeptlos, mit der Folge, dass sie neben dem FSV Frankfurt das schlechteste Heimteam der Liga sind und sich im Niemandsland der Tabelle befinden - auf Rang elf, mit der Tendenz nach unten. 2008 war sportlich weitestgehend zum Vergessen, finanziell kämpft der Verein ohnehin ums Überleben. Es hätte viele nachvollziehbare Momente für einen radikalen Schnitt gegeben, aber die Sechziger - allen voran der fürs Sportliche verantwortliche Geschäftsführer Stefan Reuter- spielten auf Zeit. Tenor stets: Alles wird gut! Lasst uns nur machen!

Seit gestern aber wird nicht mehr alles gut, zumindest für Reuter nicht, das einzige Gesicht der Löwen, das wohl auch Menschen in Buxtehude kennen. Reuter soll einem neuen starken Mann weichen: Miroslav Stevic, 39, ehemaliger Bundesligaprofi und nun Spielerberater (u.a. von Marko Marin). Der nächste Weltmeister der ruhmreichen 1990er Elf wäre damit wie andere seiner Kollegen gescheitert bei dem Versuch, nach der aktiven Laufbahn zu reüssieren. Dass Reuter von sich aus ins zweite Glied rückt und sich etwa nur noch um Sponsoren kümmert, bei denen der Manager dank seines freundlichen Naturells wohlgelitten ist, darf bezweifelt werden. Reuter und Stevic sind einander spinnefeind. Und Stevic duldet sicher auch keinen Nebenbuhler. Das lässt sich an der Art erkennen, wie er sich jetzt positioniert.

Der gewiefte Serbe bringt eine Investorengruppe mit, die er vor fast einem Jahr zusammengestellt hat, um bei 1860 einzusteigen. Seitdem hat er ständig angeklopft. Doch bisher konnte 1860-Präsident Rainer Beeck Stevic abwehren, mit dem Hinweis, die Investorengruppe sei nicht seriös genug, weil sie mitbestimmen wolle im Tagesgeschäft. Nun scheint die finanzielle Not so groß zu sein, dass Stevic' Leute gar 20 Prozent der Anteile der 1860-KGaA übernehmen, für kolportierte sieben Millionen Euro. 1860 hatte immer betont, nur zehn Prozent abzugeben. Das Blatt hat sich gedreht. Stevic, wohl neuer Sportdirektor, stellt offenbar die Bedingungen - und der TSV muss parieren.

Dem Vernehmen nach soll es nämlich keine anderen Interessenten geben, die mit einer Millionen-Summe einsteigen wollen. Die Zeiten sind eben nicht rosig auf dem Finanzmarkt. Möglicherweise hat Beeck deshalb darauf gedrängt, die Ablehnung gegenüber Stevic zu vergessen, ehe die Lage noch prekärer wird und der Preis der Anteile noch mehr sinkt. Dass nach wie vor Vieles im Unklaren ist, hat mit der eigenwilligen Informationspolitik des TSV zu tun. Angekündigte Pressekonferenzen wurden abgesagt, neu angesetzt, dann wollte Beeck reden, schließlich hieß es, eine schriftliche Erklärung komme; sie kam aber bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe nicht.

Klar ist immerhin: Mit Stevic wird 1860 den durch die Finanznot geborenen Stil, hauptsächlich auf eigene Talente und ehemalige Sechziger zu setzen, verlassen. Bereits am Montagnachmittag verpflichtete der Verein zwei serbische Spieler, die offenbar auf der Wunschliste von Stevic standen: Nikola Gulan, 19, vom AC Florenz und Reservist Antonio Rukavina, 25, von Borussia Dortmund. Unter der Führung Stevics könnte auch Trainer Marco Kurz den Posten verlieren. Als Nachfolger wird Klaus Augenthaler gehandelt. Gerald Kleffmann

Miroslav Stevic ddp

Stefan Reuter dpa

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Uefa-Cup gegen Werder Bremen

Beckham gemeldet

Attenzione!, Werder Bremen: Der AC Mailand setzt im Zwischenrunden-Duell des Uefa-Pokals auf David Beckham, 33. Milan will den Engländer nun endgültig nicht mehr zurück in die USA ziehen lassen und hat ihn bereits bei der Europäischen Fußball-Union für die Europacup-Partien am 18. (in Bremen) und 26. Februar gegen den Bundesligisten gemeldet. "Unverzichtbar" nennt ihn Trainer Carlo Ancelotti bereits, dabei sollte Beckham als Zeitarbeiter nur bis zum 8. März in Europa aushelfen, während bei seinem eigentlichen Arbeitgeber, Los Angeles Galaxy, der Spielbetrieb ruht. Nun ist er nach nur einem Monat bei Milan kaum noch wegzudenken, "Gigant" nannte ihn die gewohnt begeisterungsfähige Gazzetta dello Sport am Montag. Sicher ist die Euphorie um Beckham gut für die Auflage, aber er überzeugt die Skeptiker auch durch seine Taten. Nach zuvor zwei Serie-A-Toren beteiligte er sich am 3:0 bei Lazio Rom mit zwei wichtigen Vorlagen. Zunächst vollstreckte der Brasilianer Pato (42.) eine Flanke, dann vollendete Ambrosini (47.) Beckhams Vorarbeit, ehe Kakà (83.) ohne ihn auskam. Milan ist mit Beckham unbesiegt - und zurück im Titelrennen. dpa

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Die letzten Drücker

Schalke 04 verkauft überraschend den Mittelfeldspieler Fabian Ernst - ansonsten geht der Trend im turbulenten Winterschlussverlauf eindeutig zum risikoarmen Leihgeschäft

Es gehört zu den menschlichen Eigenheiten, Dinge gerne auf den letzten Drücker zu erledigen: aufräumen, die Steuererklärung abgeben, solche Dinge. Besonders menschlich sind offenbar die Manager von Fußballklubs, die genau wissen, dass das Transferfenster II in diesem Winter vom 1. Januar bis zum 2. Februar geöffnet hat, was sie nicht daran hindert, ihre Transfers in den letzten beiden Nächten abzuwickeln. Aber so viel letzten Drücker wie in diesem Winter gab's noch nie: Am Montag lagen oft nur wenige Minute zwischen Transfervollzügen, weiteren Gerüchten und wieder neuen Vollzügen. Es war das turbulente Ende einer Transferperiode, die wegen der Finanzkrise erwartungsgemäß ruhig begann - und, auch wegen der Finanzkrise, unerwartet bunt endete. Viele Klubs fühlten sich von den Aktivitäten anderer Klubs unter Druck gesetzt, aber wirklich Geld locker machen konnte in diesen unsicheren Tagen kaum einer - weshalb sich viele Klubs auf eine risikoärmere Transfervariante verlegten. Der Trend ging in diesem Winter zum Leihgeschäft, selbst bei Klubs, die enorm viel Geld einnahmen wie der Hamburger SV. Am Ende investierten die 18 Bundesligisten knapp 20 Millionen Euro in über 40 neue Spieler - deutlich weniger als im Rekordwinter des vergangenen Jahres, als die Erstligaklubs 48 Millionen ausgaben. Ein Überblick über die bislang hektischsten Stunden des Jahres 2009.

Ein Musterklub

Der HSV hat in den letzten Tagen seinem Hobby gefrönt: Er hat wieder ein paar Spieler geholt. Als letzter Neuer kam am Montag der bei Schalke ausgemusterte Albert Streit, 28. Zuvor wurde der dänische Abwehrspieler Michal Gravgaard, 30, vom FC Nantes als Ersatz für den verletzten Bastian Reinhardt (Mittelfußbruch) dingfest gemacht. Es waren die Profis fünf und sechs, die der HSV in diesem Winter geholt hat - aber nur für den Franzosen Mickael Tavarez, 26, von Slavia Prag gab man eine nennenswerte Summe aus: 1,5 Millionen Euro investierte der Klub und gab dem defensiven Mittelfeldspieler einen Vertrag bis 2012. Alle anderen: nur geliehen. Streit, Gravgaard und der Gladbacher Marcel Ndjeng bis Saisonende, der Venezolaner Tomas Rincon bis zum Jahresende, wobei sich der HSV eine Kaufoption für den 21-jährigen Südamerikaner gesichert hat. Und Torwart Khalid Sinouh, 33, zuletzt ohne Verein, unterschrieb einen Kontrakt bis Juni.

Trotz eines halben Dutzends neuer Spieler hat der HSV das große Geld, das er für de Jong (knapp 20 Millionen Euro von Manchester City) und Thiago Neves (6,5 Millionen vom saudischen Klub Al-Hilal) einnahm, zusammengehalten. So scheiterte auch der Einkauf von Szabolcs Huszti, weil der bisherige Hannoveraner bei Zenit St. Petersburg deutlich mehr verdienen darf. Vom Wolfsburger Abwehrspieler Alexander Madlung nahm man Abstand, weil dieser nicht im Uefa-Cup hätte eingesetzt werden können (er spielte in diesem Wettbewerb schon für den VfL). Und den ebenfalls ernsthaft umworbenen Nationalspieler Marko Marin, 20, geben die Gladbacher im Winter nicht her.

So taugt der HSV einstweilen zum Musterklub in der weltweiten Finanzkrise: Er spart sich seine finanziellen Mittel bis zum Sommer auf. Dann, so glauben HSV-Chef Bernd Hoffmann und Sportchef Dietmar Beiersdorfer, werden einige Klubs ihre internationale Spitzenspieler für wenig Geld verkaufen müssen.

Kein Musterklub

Fabian Ernst, 29, hat sich in den dreieinhalb Jahren bei Schalke nicht als Torkanone ausgezeichnet. In 106 Bundesligapartien gelang ihm ein Treffer. Dennoch ist es mehr als erstaunlich, dass Schalke den ehemaligen Nationalspieler am Montag auf die Transferliste gesetzt hat, um ihn sogleich an Besiktas Istanbul zu verkaufen. Zwar kamen bereits Mitte Januar Gerüchte auf, dass sich der türkische Klub für den Mittelfeldspieler interessiere, doch entsprechende Meldungen wurden von Schalkes Manager Andreas Müller empört zurückgewiesen. Nun lautet die offizielle Version, dass Ernst "mit dem Wunsch an uns herangetreten ist, das Angebot von Besiktas zu prüfen". Angeblich war die Offerte so attraktiv, dass sowohl Schalke wie Ernst sie annehmen mussten. "Wir mussten eine Güterabwägung treffen, was für uns und Fabian auf Sicht gesehen das Beste ist", erklärte Müller. Über die Ablösesumme werden unterschiedliche Zahlen verbreitet. Besiktas beziffert sie mit drei Millionen Euro.

Genug für eine spielprägende Stammkraft? Sowohl kurz- wie langfristig scheint es für Schalke derzeit von vorrangigem Interesse zu sein, Kosten zu sparen. Der Personaletat, in den besseren Tagen der Champions-League-Zugehörigkeit mit 55 Millionen Euro pro Jahr beziffert, belastet den Verein, die sportlichen Aussichten sind trüb. Daher ist die Trennung von Ernst wie auch der Massenexodus der Reservisten (von Lövenkrands bis Streit) als Teil eines Kurswechsels zu verstehen. Die jüngste Großinvestition in den Kader - die teure Vertragsverlängerung mit dem 20-jährigen Verteidiger Benedikt Höwedes - passt in diesen Zusammenhang.

In Anbetracht dieser Aktivitäten bekam es sogar Kevin Kuranyi, 26, mit der Angst zu tun, man könnte ihn aus Gelsenkirchen fortschicken. Er habe "ehrlich gesagt" den Eindruck, dass man ihn verkaufen wolle, berichtete er dem kicker. Müller teilte daraufhin mit, Kuranyi sei "unverkäuflich". Lockeres Interesse hat Tottenham Hotspur gezeigt, der Spieler werde weiter beobachtet, heißt es. Ob Kevin Kuranyi in diesem Sommer immer noch "unverkäuflich" ist?

Grieche trifft Griechen

Einen Tag, nachdem mit dem 19-jährigen Münchner Toni Kroos eines der größten deutschen Talente - natürlich leihweise - in Leverkusen landete, kam es im Transferfenster II zu einer hochinteressanten Begegnung. Beim Rausklettern traf der 28-jährige Grieche Theofanis Gekas den 28-jährigen Griechen Angelos Charisteas, der gerade reinkletterte. Gekas, eigentlich als loyaler Arbeitnehmer bekannt, hat es am Ende doch nicht mehr ausgehalten hinter dem ligabesten Sturmduo Patrick Helmes/Stefan Kießling, hinter dem er keine große Perspektive mehr sah. In Leverkusen wollten sie sich keinen frustrierten Ex-Torjäger mehr leisten, weshalb Gekas an den englischen Erstligisten FC Portsmouth verliehen wurde (mit Kaufoption). Weil aber kein Klub mit einem einzigen Sturmduo (und sei es noch so gut) durch die Rückrunde kommt, liehen sich die Leverkusener ihrerseits den Nürnberger Charisteas bis Saisonende aus (ohne Kaufoption). Ein für beide Seiten perfekter Nottransfer - Charisteas war in Franken nicht mehr glücklich, und die Leverkusener scheiterten beim Versuch, den Basler Eren Derdiyok, der im Sommer kommt, vorzeitig zu holen: Der FC Basel wollte zu viel Geld. "Vor vier, fünf Monaten hätten wir vielleicht trotzdem versucht, Derdiyok gleich zu holen", sagt Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser, "das ist eben die Kehrseite, wenn man die Tochter eines Konzerns ist." Heißt: Wenn der Konzern Bayer Stellen streicht, kann der Fußballklub Bayer seine Stellen nur mit einem Leiharbeiter besetzen.

Was sonst noch geschah

Zwei weitere bemerkenswerte Funde gab's auf den letzten Transferdrücker. Erstens: Hannover holt als Ersatz für den linksfüßigen Freistoßspezialisten Huszti den linksfüßigen Freistoßspezialisten Jacek Krzynowek vom VfL Wolfsburg (gekauft, nicht geliehen!). Zweitens: Der Karlsruher SC holt etwas ganz Neues: einen Torjäger! Nämlich Mahir Saglik vom VfL Wolfsburg (leihweise), der zuvor in der dritten Liga für Wuppertal 27 Tore schoss (in einer Saison, nicht wie ein KSC-Stürmer in einem ganzen Leben). Bemerkenswert auch: Mittelfeldspieler Nenad Milijas, Kapitän von Roter Stern Belgrad, hat am letzten Transfertag seinen geplanten Wechsel nach Wolfsburg abgesagt. Es gibt also auch Spieler, die Felix Magath nicht holt.

Was noch geschehen wird

Sonderlich viel Zeit, sich vom Latenight-Shopping zu erholen, haben die Manager nicht: Das Karussell bleibt in Bewegung, auch wenn der Ausstieg fürs Erste untersagt sein mag. Die Kader für nächste Saison werden ja ab sofort erstellt, und der FC Bayern liegt natürlich wieder vorn. "Im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen haben wir schon ein Gerüst", sagt Manager Uli Hoeneß am Montag um 13.50 Uhr, der Kader sei "nur noch schwerpunktmäßig zu optimieren". Nach Stürmer Olic (Hamburger SV) und Mönchengladbachs Talent Baumjohann sei jetzt auch der Zugang des ukrainischen Sechsers Anatoli Timoschtschuk (Zenit St. Petersburg) endgültig verabredet: "Offen ist nur noch, ob er zum April zu uns kommen kann oder muss oder erst zum 1. Juli." In Russland gelten zum Glück andere Vertragslaufzeiten. Wäre ja sonst auch langweilig.

Texte: Christof Kneer, Jörg Marwedel, Philipp Selldorf, Andreas Burkert

Jubelt nun in Russland: Szabolcs Huszti, bislang Hannover dpa

Grieche in England: Theofanis Gekas, bislang Leverkusen ddp

Jongliert nun in Istanbul: Fabian Ernst, ehemals Schalke AP

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Entschlossen wankelmütig

Anstatt eine Aufholjagd zu starten, scheint sich bei Werder Bremen einfach die Hinrunde zu wiederholen

Bremen - Thomas Schaaf musste seine Gefühlslage nicht erst umständlich beschreiben, man sah ihm auch so an, dass er nicht gut drauf war. Der Trainer von Werder Bremen lässt sich seit geraumer Zeit einen Bart stehen, das verfinstert seine Mine sowieso erheblich. Ein übellauniger Schaaf sieht mit dem Bart und der etwas zu bunten Baseball-Kappe auf dem Kopf jetzt aus wie ein Möbelpacker, der gerade den Fahrer des Wagens sucht, der seinen Lkw zugeparkt hat, in dem das Klavier steht, das er in den dritten Stock schleppen soll. Man möchte diesem Mann derzeit lieber nicht begegnen, dessen Mannschaft am Sonntag 1:2 gegen Arminia Bielefeld verloren hat. Eine Niederlage war das, die aus mehreren Gründen historisch zu nennen ist und die den Trainer in Tiefststimmung versetzte: "Ich bin grantig", nuschelte Schaaf durch seinen Möbelpacker-Bart. Man hatte es geahnt.

Noch nie in ihrer Bundesliga-Geschichte hatten die Gäste aus Westfalens Osten, für die Artur Wichniarek den Siegtreffer schoss (49.), im Weserstadion gewonnen, seit 25 Partien hintereinander auswärts überhaupt keinen Sieg mehr errungen, und sie waren in der vergangenen Saison 1:8 an gleicher Stelle untergegangen. Nicht, dass Werder Bremen nicht schon ähnliche Pleiten in dieser verkorksten Saison gelungen wären; aber der Schlag vom Sonntagabend trifft die Bremer an einer empfindlichen Stelle. Denn sie wähnten sich nach dem Auswärtssieg im DFB-Pokal bei Borussia Dortmund am Beginn einer Aufholjagd - die nun schon abgeblasen ist: "Über Meisterschaft oder Champions League müssen wir nicht mehr reden", sagte Sportdirektor Klaus Allofs. Er war auch grantig.

Statt alles auf Anfang zu stellen, scheint sich bei Werder Bremen einfach die Hinrunde zu wiederholen. Im Grunde aber überrascht es nicht, dass die Elf aus der siebenwöchigen Winterpause mit derselben entschlossenen Wankelmütigkeit herausgeht, in der sie auch hineingestolpert war. Denn diese Pause selbst war eine schier groteske Zusammenfassung all jener Probleme, die Werder seit längerem beschäftigen. Die Bremer verloren alle Testspiele im türkischen Trainingsquartier, obwohl Trainer Schaaf jedes Mal vorgab, mit der Leistung an sich zufrieden gewesen zu sein. Sie kassierten auch in den Trainingsspielchen Platzverweise durch Unbeherrschtheiten, die spätestens nach den langen, aus den letzten Hinrundenspielen resultierenden Sperren für Diego und Pizarro, auf dem Index stehen sollten. Und auch außerhalb des Platzes bekam die sportliche Führung, die forsch "straffere Zügel" (Allofs) angekündigt hatte, ihre Machtlosigkeit zu spüren, als der Brasilianer Diego wegen einer Trunkenheitsfahrt mit der Straßenverkehrsordnung in Konflikt geriet. In Folge dessen wurde bekannt, dass er bereits 14 Punkte in Flensburg gesammelt hat. Könnte sich Werder die in der Tabelle gutschreiben lassen, wären sie knapp vor der TSG 1899 Hoffenheim Tabellenführer.

Stattdessen ist Werder auf Platz zehn gelistet - und hat, größte Überraschung der Winterpause, auf dem Grabbeltisch des Transfermarktes trotzdem nicht mehr zugegriffen. Zwar vertickte der Meisterschaftszweite des vergangenen Jahres trotz aller gegenteiliger Beteuerungen doch noch Boubacar Sanogo im letzten Moment nach Hoffenheim, verpflichtete aber für die latent unterbesetzten Regionen des Spielfeldes keinen Ersatz. So werkeln hinten links weiterhin entweder der gegen Bielefeld mal wieder bedauernswert einfallslos flankende Serbe Dusko Tosic oder der übermütige Sebastian Bönisch. Es habe für diese Position niemanden gegeben, der dem Team weiterhelfen würde oder bezahlbar gewesen wäre, sagte Allofs. Und im Angriff blieben nach Sanogos Vermietung und Pizarros Sperre nur noch der Portugiese Hugo Almeida, der mit einem gewaltigen Freistoß (44. Minute) die Bielefelder Führung durch Thorben Marx (24.) ausgeglichen hatte, und der unsichtbare Schwede Markus Rosenberg. Harnik? Hunt? Mister X? Alles uneingelöste Versprechen.

Werder wolle, sagt Klaus Allofs, auch in dieser Runde an seiner soliden Einkaufspolitik festhalten und Spieler mit Perspektive verpflichten, sich nicht von der Not treiben lassen. Dass sie in der jüngeren Vergangenheit schon häufiger auch ohne Not daneben gegriffen haben - beim Brasilianer Carlos Alberto, bei Sanogo, bald muss auch Tosic dazu gerechnet werden - könnte ein Grund für die Zurückhaltung sein. Ein anderer, dass Werder schon lange kein großer Transfer mehr geglückt ist. Als letzter brachte Miroslav Klose 2007 richtig Geld in die Kasse, seitdem verließen entweder Spieler für relativ kleines Geld den Verein, gingen die Guten wie Klasnic oder Borowski ablösefrei oder wurden die teuren Fehleinkäufe, dem Trend der Liga folgend, per Leihgeschäft nur umgeparkt (siehe Text unten). Es fehlt schlicht Geld, Werders über Jahre makellose Transferbilanz hat damit ähnliche Schrammen wie die sportliche: Nach fünf Jahren Champions League hintereinander "denken wir jetzt nur noch von Spiel zu Spiel", sagte Torsten Frings.

Das nächste ist auf Schalke das Duell der Enttäuschten. Aus Bremer Sicht begann die Vorbereitung wenig verheißungsvoll: Thomas Schaaf hat sich krank gemeldet. Auch das noch. Ralf Wiegand

Bremer Friede

"Wir werden jetzt nicht den Trainingsplatz verminen."

Werders Sportdirektor Klaus Allofs auf die Frage, ob es den Spielern in Bremen zu gut gehe

Zu viele für die Stadtmusikanten, zu wenig für ein funktionierendes Fußball-Team: Bremer Kicker nach dem 1:2 gegen Bielefeld Foto: team2

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Wie eine Ballerina

Durch einen späten Pass und einen akrobatischen Fang gegen Arizona werden die Pittsburgh Steelers zum NFL-Rekordmeister

Tampa - Dass Santonio Holmes gut fangen kann, war bekannt. Dass er dabei auch auf Zehenspitzen balancieren kann, war in diesem Moment nicht zu erwarten. Denn Holmes und seine Pittsburgh Steelers hatten bereits jegliche Standhaftigkeit verloren. Die Favoriten waren nervös geworden, sie hatten Fouls begangen, die sie sonst nur selten begehen, und mit den daraus resultierenden Strafen hatten sie die Arizona Cardinals wieder in das Spiel zurückgeholt. 35 Sekunden vor Schluss jedoch fing Holmes einen Pass seines Quarterbacks Ben Roethlisberger, auf spitzen Zehen wie eine Ballerina und mit 98 Prozent seines Körpers außerhalb der Endzone. Aber das reicht eben für einen Touchdown. Und für den Titel des wertvollsten Spielers der Super Bowl 43.

Durch diesen Fang wurde eine Dynastie im American Football gefestigt: Die Steelers gewannen gegen die Cardinals 27:23 und haben nur durch ihre Finalsiege 2006 und 2009 die Dallas Cowboys und die San Francisco 49ers als Rekordmeister der National Football League überholt. Sie zählen nun sechs Siege aus den 43 Endspielen der NFL-Historie.

Beide Male war Ben Roethlisberger dabei. Vor dem Spiel hatte der Quarterback immer wieder gesagt, er sei in Tampa, um Spaß zu haben, er, Big Ben genannt, sei ja ein großes Kind, er könne gar nicht anders. Nach dem Spiel sah das anders aus. Da saß der Absender des entscheidenden Passes fast eine halbe Stunde in der Kabine, auf den Boden blickend, mit Tränen in den Augen. Ab und zu schüttelte er ungläubig den Kopf, jenen Kopf, der seit dem Super Bowl-Erfolg 2006 drei berufsbedingte Gehirnerschütterungen ertragen musste. Er war auch sonst sehr selten gesund gewesen, wenn er aufs Feld ging. Doch Roethlisberger zeigte in Tampa in den letzten drei Spielminuten, dass die Pittsburgh Steelers sich nicht immer nur auf ihre Abwehr verlassen müssen, um wichtige Spiele zu gewinnen.

Zehn Meter von ihm entfernt schwärmte einer seiner Passempfänger in den höchsten Tönen von Roethlisbergers Willenskraft: "Er ist ein besserer Anführer als vor drei Jahren, er hat sich weiter entwickelt. Jetzt ist er der Anführer. Er ist unglaublich", sagte Heath Miller. Er hat es allen bewiesen, auch Ken Whisenhunt, dem Cheftrainer der Cardinals, unter dem er einst in Pittsburgh spielte. Die beiden waren nie die besten Freunde. Auf dem Papier hatte Whisenhunt in der Super Bowl auch den besseren Quarterback: Kurt Warner warf im letzten Viertel genauso viele Yards wie Roethlisberger im gesamten Spiel.

Auch andere Steelers weinten, vor allem aber waren sie erschöpft. James Harrison klebte noch ein silberner Konfetti von der Siegerehrung an der Backe, als er sagte: "Ich bin mehr müde als froh, ich will einfach nur noch schlafen." Der 110 Kilo schwere Abwehrspieler war zum Ende der ersten Halbzeit exakt 100 Yards zum Touchdown gelaufen, nachdem er einen Pass von Kurt Warner an der eigenen Endzone abgefangen hatte. "Als ich am Schluss am Boden lag, konnte ich nicht mehr atmen", sagte der 30-Jährige. Es war der einzige große Moment der sonst stets stark aufspielenden Steelers-Abwehr, sowie ein neuer Super-Bowl-Rekord für einen Abwehrspieler.

Und zugleich der einzige Rekord von Bedeutung. Zur Sicherheit reichern die NFL und die um sie rotierende Medienmaschine jedes Jahr die Super Bowl mit Rekorden an, damit bloß kein Spiel in Vergessenheit gerät. Die wichtigsten unwichtigen Rekorde in diesem Jahr: Die teuerste TV-Werbung (100 000 Dollar pro Sekunde), weil die Verträge schlauerweise vor der Finanzkrise ausgehandelt wurden. Der kürzeste Werbespot (für genau 100 000 Dollar). Pittsburghs Cheftrainer Mike Tomlin mit 36 Jahren der jüngste erfolgreiche Super-Bowl-Trainer. Und endlich, endlich hatte sich Bruce Springsteen breitschlagen lassen, in der Halbzeitshow aufzutreten. Der fehlte der NFL noch in ihrer Sammlung.

Dank an Barack Obama

Doch die Super Bowl 43 hat diese Rekorde gar nicht nötig, um im Sportgedächtnis Amerikas hängen zu bleiben. Die Dramatik der letzten Minuten genügt. Bis zum Ende des dritten Viertels hatten die Pittsburgh Steelers das Spiel gegen den Außenseiter dominiert, noch deutlicher als erwartet. Die Abwehr hatte dabei zumindest Larry Fitzgerald im Griff, jenen Passempfänger von Arizona, der nach den drei Playoff-Partien plötzlich als bester Passempfänger der Liga galt. Doch mit Beginn des letzten Spielviertels zeigte sich die Steelers-Abwehr erschöpft. Kurt Warner warf zwei Touchdown-Pässe zu Fitzgerald, hinzu kam ein regeltechnischer Spezialfall - ein Safety für zwei Punkte - dank eines Pittsburgher Fouls in der eigenen Endzone. Beinahe wäre dem Außenseiter aus Arizona die Aufholjagd gegen die beste Abwehr der Liga gelungen.

Weil das aber dank Roethlisberger nicht gelang, stand hernach Steelers-Präsident Art Rooney auf dem Podest, um die Lombardi-Trophäe entgegenzunehmen. Und er machte die Siegerehrung staatstragend: "Ich danke Präsident Obama und all den anderen Fans, die über die Jahre zu uns gehalten haben." Barack Obama hatte offiziell auf einen Steelers-Sieg gehofft, auch weil Rooney, ein Republikaner, ihn im Wahlkampf unterstützt hatte.

Vielleicht sagte Rooney das, weil er den 100 Millionen Amerikanern vor den Fernsehern noch etwas anderes mitteilen wollte: Ihr müsst nie die Hoffnung aufgeben, auch nicht in wirtschaftlich schweren Zeiten, auch wenn die Lage noch so aussichtslos ist. Die Super Bowl gilt als der wahre große Feiertag der Amerikaner. Und an solchen Tagen darf man so etwas wohl sagen. Christoph Leischwitz

Super Bowls seit 1990

2009 Pittsburgh Steelers - Arizona Cardinals 27:23

2008 New York Giants - New England Patriots 17:14

2007 Indianapolis Colts - Chicago Bears 29:17

2006 Pittsburgh Steelers - Seattle Seahawks 21:10

2005 New England - Philadelphia Eagles 24:21

2004 New England - Carolina Panthers 32:29

2003 Tampa Bay - Oakland Raiders 48:21

2002 New England Patriots - St. Louis Rams 20:17

2001 Baltimore Ravens - New York Giants 34: 7

2000 St. Louis Rams - Tennessee Titans 23:16

1999 Denver Broncos - Atlanta Falcons 34:19

1998 Denver Broncos - Green Bay Packers 31:24

1997 Green Bay - New England Patriots 35:21

1996 Dallas Cowboys - Pittsburgh Steelers 27:17

1995 San Francisco - San Diego Chargers 49:16

1994 Dallas Cowboys - Buffalo Bills 30:13

1993 Dallas Cowboys - Buffalo Bills 52:17

1992 Washington Redskins - Buffalo Bills 37:24

1991 New York Giants - Buffalo Bills 20:19

1990 San Francisco 49ers - Denver Broncos 55:10

Zweimal fest zugepackt: Passempfänger Santonio Holmes (Nr. 10) schnappte sich zunächst den entscheidenden Pass des Spiels - und bekam dann von Quarterback Ben Roethlisberger (rechts) die Trophäe für den wertvollsten Spieler der Partie überreicht. Fotos: AFP, Reuters

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Marihuanapfeifen-Affäre

IOC verzeiht Phelps

Tampa (dpa) - Michael Phelps ist nach seinem öffentlichen Bedauern abgetaucht, doch so schnell wird er sich nicht freischwimmen. "Phelps entschuldigt sich für Marihuanapfeifen-Foto", schrieb die New York Times, aber da war sein Image als "Golden Boy" mit 14 Olympiasiegen schon beschmutzt. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) immerhin akzeptierte die Einsicht des Schwimmstars, der sich für "sein Fehlverhalten" entschuldigte. Das britische Boulevardblatt News of the World hatte ein Foto veröffentlicht, das ihn mit der Marihuana-Pfeife auf einer Studentenparty zeigte. Ein Verlust seiner acht Goldmedaillen von Peking droht Phelps aber nicht. "Er hat sich für sein unangemessenes Verhalten entschuldigt. Wir haben keinen Grund, an seiner Ernsthaftigkeit und an seinem Willen zu zweifeln, sich in Zukunft wie ein Vorbild verhalten zu wollen", teilte das IOC mit.

Im Dezember 2004 hatte ein US- Gericht Phelps zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er alkoholisiert am Steuer seines Wagens erwischt wurde. Die Sponsoren haben damals seine Reue akzeptiert. Es ist offen, wie sie nach der neuerlichen unrühmlichen Episode reagieren. "Seine Reife hat noch nicht das Level seines Bankkontos erreicht", kommentierte die Chicago Tribune und erinnerte an Bilder, die Phelps vor ein paar Monaten mit Stripteasetänzerinnen in Las Vegas gezeigt haben. "Wir sind enttäuscht über sein Verhalten. Michael ist ein Vorbild und sich seiner Verantwortung gegenüber anderen, vor allem jungen Leuten, sehr wohl bewusst. In diesem Fall hat er bedauerlicherweise versagt", verbreitete das Nationale Olympische Komitee der USA (USOC). Travis Tygart, Präsident der nationalen Anti-Doping Agentur der USA (Usada), war bestürzt: "Für einen der größten Olympioniken aller Zeiten ist es enttäuschend, was er gemacht hat." Phelps gehört einer Athletengruppe an, die zugestimmt hat, an einem Pilotprogramm zur Verbesserung von Dopingtests teilzunehmen. Tygart kündigte an, dass der Name Phelps jetzt aus dem Programm gestrichen werden könnte. Von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hat Phelps keine Strafe zu befürchten. "Der Fall ist nicht in unserem Zuständigkeitsbereich, außerhalb von Wettkämpfen ist Marihuana nicht verboten", erklärte der geschäftsführende Wada-Direktor David Howman.

Nach seinen Gold-Festival in Peking hatte Phelps eine monatelange Auszeit genommen und lukrative Werbeverträge unterschrieben. Sein Manager Peter Carlisle prophezeite, sein Klient könne mehr als 100 Millionen Dollar verdienen. "Er bedauert sein Verhalten, und ich bin sicher, er lernt aus dieser Erfahrung", ließ nun sein Coach Bob Bowman ausrichten, "ich bin froh, dass er wieder trainiert."

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Zwischen Pool und Party

Von Josef Kelnberger

Bill Clinton hat es geraucht, aber nicht inhaliert, wie er behauptet. Barack Obama hat es geraucht und, wie er ausdrücklich gestand, auch inhaliert. Das amerikanische Volk hat zwei Politiker zu Präsidenten gewählt, die in ihrer Jugend Marihuana konsumierten, Obama sogar Kokain, wie er einräumt. Nun ist die Frage, wie das amerikanische Volk darauf reagiert, dass sein 23-jähriger Sportheld Michael Phelps auf einer Studentenparty sehr souverän mit einer Marihuana-Pfeife hantierte. Würde es den Schwimmer zu seinem Präsidenten wählen?

Der Vergleich hinkt natürlich. Clinton und Obama rauchten anonym, Phelps dagegen repräsentiert internationale Großkonzerne und soll als 14-maliger Olympiasieger der Jugend der Welt als Vorbild dienen. Was denkt also der US-Teenie, der seine Packung Kellog's Cornflakes öffnet und darauf das Bild von Kiffer Phelps sieht. Was sagt die Jugend in China, wenn sie beim Autohändler den US-Kiffer Phelps als Repräsentanten von Mazda entdeckt? Es ist wohl so: Die Jugend der Welt wird in nicht geringer Zahl erleichtert sein, dass Phelps mehr kann als "essen, schlafen, schwimmen", wie er selbst einmal sein Sportlerleben beschrieb. Die Nachrichten, die seit den Spielen in Peking von ihm kursieren, lassen vermuten: Er kann auch Party. Und er lässt dabei wenig aus.

Die Regeln für die Jugend der Welt sind allerdings von Erwachsenen gemacht. Erste Reaktionen aus den USA und vom IOC lassen vermuten, dass die Erwachsenenwelt Phelps nicht fallen lassen wird. Motto: Er bleibt unser Junge, daraus wollen wir nun alle lernen - auf dass die Geschäfte mit ihm weiter laufen. Besser ein bisschen Marihuana in der trainingsfreien Zeit als ein richtiger Dopingfund. Der würde Olympia in seinem Kern zerstören.

Tatsächlich erscheint es angesichts der Dopingseuche problematisch, wenn der erfolgreichste Athlet der olympischen Geschichte mit Rauschmitteln hantiert. Allerdings verweist das Foto mit der Marihuana-Pfeife wohl eher auf ein persönliches Problem. Phelps war ein traumatisiertes Scheidungskind und Klassenclown, wegen ADS viele Jahre mit Medikamenten ruhig gestellt. Erst der Sport gab ihm Selbstvertrauen. Die Frage ist vor allem, wie er sein Leben in den Griff bekommen wird, wenn er die Wettkampf-Pools dieser Welt für immer verlässt.

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"Viele Leute glauben es eigentlich gar nicht"

Maria Riesch über öffentliche Zweifel an ihrer Freundschaft zu US-Konkurrentin Lindsey Vonn und ihre Medaillen-Erwartungen für die WM in Frankreich

An diesem Dienstag beginnen mit dem Super-G der Frauen die 40. alpinen Ski-Weltmeisterschaften in Val d'Isère. Nach ihrem fünften Platz am Sonntag im Super-G in ihrem Heimatort Garmisch-Partenkirchen rechnet sich auch die Deutsche Maria Riesch in dieser Disziplin wieder Chancen aus. Ihrer größten Ambitionen hegt die 24-Jährige aber im Slalom, da sie in dieser Disziplin in diesem Winter vier Weltcup-Rennen gewinnen konnte. Aussichtsreich ist sie auch in der Kombination, die traditionell aus Abfahrt und Slalom besteht.

SZ: Frau Riesch, gehen Sie zuweilen auch mal privat Skifahren?

Riesch: Keine Zeit. Manchmal würde es mich schon reizen, bei schönem Wetter, wenn ich die Touristen fahren sehe. Aber ich muss auch mal frei machen.

SZ: Skifahren ist für Sie nur Beruf?

Riesch: Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Skifahren ist die Hauptbeschäftigung, aber es macht immer noch Spaß. Auch andere Leute finden ihren Traumjob - für mich gibt es eben keine schöneren Beruf als Skifahren.

SZ: Sie gelten als eine Frau, die öffentliches Interesse sehr gut handhaben kann. Aber war der Druck schon mal so hoch wie in diesem Winter, speziell nach ihrer Siegesserie im Slalom?

Riesch: Nein, aber ich kam gut damit zurecht. Und es war sicher nicht der öffentliche Druck der Grund, weswegen ich nach meiner Slalomserie ein paar Mal ausschied. Man muss diese Einflüsse ausblenden, im Rennen, wenn es darauf ankommt. Wenn ich im Starthaus stehe, denke ich an nichts anderes als an meinen Lauf. Nicht daran, was die Leute von mir erwarten, oder dass ich punkten muss für den Gesamtweltcup.

SZ: Intern hieß es, für die WM sei es gar nicht schlecht, dass sie in der Gesamtwertung hinter Lindsey Vonn auf Platz zwei zurückgefallen sind - damit habe sich das Thema Weltcup erledigt, und Sie könnten sich auf die WM konzentrieren. Ist das das Gute im Schlechten?

Riesch: Sowieso, zumal die WM-Rennen nicht zählen für den Weltcup. Deshalb konnte ich diesen Komplex endlich mal beiseite schieben und mich komplett neu orientieren auf die WM. Man muss für so ein Ereignis frei sein im Kopf.

SZ: Eine Zeitlang war Ihre Freundschaft mit Ihrer amerikanischen Konkurrentin Lindsey Vonn ein beherrschendes Thema im Weltcup. Wurde Ihnen das nicht mal zu viel?

Riesch: Zuweilen schon, weil sich alles nur noch darum drehte - mehr als 50 Prozent der Interviews gingen darüber. Das ist nett, denn es ist ja auch eine gute Story, aber irgendwann reicht es. Vor allem, weil viele Leute, die einen darüber interviewen, es eigentlich gar nicht glauben. Kürzlich gaben Lindsey und ich ein Doppelinterview, und der Mann, der uns interviewte, schaute uns an, als denke er: Das kann doch nicht euer Ernst sein! Es klingt ja auch ein bisschen wie ein Märchen. Das konnte man nicht bremsen, weil es zumindest im ersten Teil der Saison so aussah, als ob es zwischen uns das große Duell werden würde. Das war das i-Tüpfelchen auf der Geschichte: dass wir beide im Weltcup vorne dabei sind, und beide in allen Disziplinen recht gut. Da wird drauf herumgeritten. Lindsey und ich lassen uns dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Unser Verhältnis hat sich auch nicht geändert durch die verschärfte Situation im Weltcup.

SZ: Sie treten zum dritten Mal bei einer WM an, aber Val d'Isère ist das erste Großereignis, das für Sie zur rechten Zeit zu kommen scheint.

Riesch: Beim ersten Mal, 2003 in St. Moritz, war ich gerade 18, jene WM war nur zum Kennenlernen. In Åre 2007 kam ich nach meinem zweiten Kreuzbandriss erst wieder zurück, da war ich auch nicht unbedingt die Medaillenhoffnung. Obwohl es in der Abfahrt hätte funktionieren können, ich war nicht weit weg vom Podium (als Neunte, eine halbe Sekunde zurück, Anm. d. Red.). Trotzdem wäre es die Sensation gewesen. Jetzt, in Val d'Isère, wäre es fast das Erwartete, wenn ich eine Medaille hole. Meine Situation ist dadurch schwieriger, weil auch ich viel von mir erwarte. Da darf man nicht verkrampfen, die Medaille nicht erzwingen wollen. Aber wenn es anders kommt als erhofft, habe ich 2011 bei der WM in Garmisch die nächste Chance und 2013 in Schladming noch eine.

SZ: Ist es für Sie eine Beruhigung, so viele Großereignisse vor sich zu haben?

Riesch: In unserem Sport kann man nichts weit im voraus planen. Jetzt denken alle, ich muss eine Medaille holen. Möglicherweise gewinne ich aber in zwei Jahren eine Medaille, ohne zuvor im Weltcup was zerrissen zu haben. Es gab schon einige, die über Jahre im Weltcup vorn dabei waren und nie eine Medaille holten. Ich hoffe, dass mir das nicht passiert.

SZ: Entwickelt sich in einer Siegesserie eine Art beflügelnder Euphorie?

Riesch: In gewisser Weise schon. Das bekam von Sieg zu Sieg eine stärkere Eigendynamik. Zwar dachte ich mir am Start immer: Irgendwann ist es vorbei. Aber dann gewann ich wieder und wieder, irgendwie kann man es sich selbst nicht erklären - es passiert einfach, so wie Ausfälle und Misserfolge auch.

SZ: Es geht alles wie von selbst, wenn man die Welle reitet?

Riesch: Zu überheblich darf man nicht werden, aber es ist schon so, dass man in solchen Phasen lockerer ist, ruhiger wird am Start. Man macht sich keine Gedanken mehr darüber, wie es geht, man stellt sich auf die Ski, fährt - und es klappt.

SZ: Wie empfanden Sie Ihren ersten Ausfall nach der Siegesserie?

Riesch: Das war in Zauchensee, wirklich schmerzhaft. Denn ausgerechnet dort, wo ich noch nie besonders geglänzt hatte, war mir zuvor so eine gute Kombinationsabfahrt gelungen, und dann kommt das Aus gerade in der Disziplin, in der ich bis dahin so gar kein Problem hatte.

SZ: Nachdem am vergangenen Freitag in Garmisch Lindsey Vonn vor Ihnen gewonnen hatte, erklärte Ihre Freundin Sie zur schärfsten Konkurrentin in den meisten Disziplinen bei der WM. Sie prophezeite: Maria Riesch gewinnt den Slalom! Verstehen Sie sich in Val d'Isère in erster Linie als Slalomfahrerin?

Riesch: Immer noch als Allrounderin. Das war mein Ziel und bleibt es für die nächsten Jahre: Konstanter zu werden in allen Disziplinen, so wie es Lindsey heute meist schon gelingt. Bei der Weltmeisterschaft ist mein Fokus natürlich auf Slalom und Super-Kombination - logisch, bei meinen Vorleistungen. Aber ich wäre auch in der Abfahrt gut drauf, und im Super-G ist zwar zurzeit ein bisschen der Wurm drin, aber da fehlt es auch nicht skifahrerisch. Nachdem ich bis Garmisch erst ein Ergebnis stehen hatte, und kein sehr gutes - Platz 24 in Lake Louise -, war es eine große Erleichterung, dass ich dort Fünfte wurde.

SZ: Die Schwedin Anja Pärson, die in diesem Rennen den zweiten Platz belegte, scheint sich für Großereignisse stets speziell in Form bringen zu können. Kann man das planen?

Riesch: Nicht generell. Anja ist da wirklich ein Phänomen, ähnlich wie früher die Amerikaner, die immer in Richtung WM oder Olympia stark wurden. Die hatten die Mentalität, zulegen zu können, wenn es um Medaillen geht. Das will jeder, aber nicht jedem gelingt es.

Interview: Wolfgang Gärner

Maria Riesch ddp

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Mehdorns Babylon

In der Datenaffäre bei der Deutschen Bahn wächst der Druck auf den Konzernchef. Manchen Aufsichtsräten wäre es am liebsten, er würde von sich aus gehen

Von Michael Bauchmüller und Klaus Ott

Berlin/München - In der Affäre um den heimlichen Datenabgleich bei 173 000 Mitarbeitern der Deutschen Bahn (DB) gerät deren Vorstandschef Hartmut Mehdorn zunehmend in die Defensive. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte sich am Montag demonstrativ hinter Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). Der hatte vergangene Woche erst eine lückenlose Aufklärung gefordert und später die Schnüffelaktion kritisiert. Das habe nichts mit "guter Unternehmenskultur" zu tun. Mehdorn hatte sogleich erwidert, Tiefensee habe "damit nichts zu tun und braucht sich da auch nicht einzubringen". Am Montag erhielt der Bahnchef eine deutliche Antwort. Die Bundeskanzlerin stütze "ausdrücklich den Kurs des Bundesverkehrsministers in dieser Frage", erklärte ein Regierungssprecher.

Anschließend legte Tiefensee nach. Ein Sprecher des Verkehrsministers erklärte, dass Mehdorn vergangene Woche die Berliner Staatsanwaltschaft eingeschaltet habe, um den Datenabgleich untersuchen zu lassen, lenke vom eigentlichen Problem ab. Die Bahn, die dem Staat gehört, solle ein "Vorzeigeunternehmen" sein. Die Überwachung nahezu der gesamten Belegschaft sei aber "nicht die richtige Art, mit den Mitarbeitern umzugehen". Die beiden Bahngewerkschaften Transnet und GDBA meldeten sich ebenfalls noch einmal zu Wort. Die Gewerkschaftschefs Alexander Kirchner und Klaus-Dieter Hommel warfen Mehdorn vor, kein Gespür für die Stimmung in der Belegschaft zu haben. Ein "Tut mir leid" des Bahnchefs werde nicht reichen. Es müsse sichergestellt werden, dass so etwas nicht mehr geschehe.

Die Bahn hatte unter dem Codenamen "Babylon" bis 2007 insgesamt 173 000 Mitarbeiter von der Detektei Network Deutschland überprüfen lassen. Ziel der Aktion war es, mögliche Scheinfirmen aufzudecken, über die sich Mitarbeiter selbst Aufträge zuschanzten. In den Folgejahren habe die Bahn die Daten ihrer Mitarbeiter nicht mehr einem solchen "Screening" unterzogen, sagte ein Bahnsprecher auf Anfrage. Die Beschäftigten erfuhren davon nichts. Insgesamt 43 Aufträge hatte die Bahn an Network Deutschland vergeben. Was die Detektive alles taten, ist bisher nur bruchstückhaft bekannt.

Im Aufsichtsrat ist die Stimmung so frostig wie noch nie in Mehdorns neunjähriger Amtszeit. Die Kontrolleure sind sauer, weil sie von der Durchleuchtung der Belegschaft aus den Medien erfahren haben, von Mehdorn aber mitgeteilt bekommen, der Aufsichtsrat sei doch "regelmäßig" informiert worden. So steht es in einem Schreiben des Konzernchefs. Darin erklärte Mehdorn dem Aufsichtsrat, der bei den Mitarbeitern vorgenommene Datenabgleich mit den Adressen und Bankverbindungen von 80 000 Lieferanten der Bahn sei "grundsätzlich als rechtmäßig anzusehen und in der Industrie auch üblich". Auch habe die für die Bahn tätige Wirtschaftsprüfergesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) "dieses Vorgehen sogar empfohlen". Eine PwC-Stellungnahme war beigefügt.

Das PwC-Papier las sich aber etwas anders. Ein solcher Datenabgleich könne sinnvoll sein, "unter Beachtung" der gesetzlichen Vorschriften, befand PwC im Nachhinein. Eine vor Beginn der Schnüffelaktion ausgesprochene Empfehlung war das also nicht. Mehdorns Versuch, sich unter Hinweis auf PwC aus der Affäre herauszuwinden, sei "idiotisch", heißt es im Aufsichtsrat. Am liebsten wäre es manchen Kontrolleuren offenbar, der Vorstandschef träte zurück. Mehdorn müsse entscheiden, ob er unter diesen Umständen seinen Job noch weiter mache, heißt es aus dem Aufsichtsrat. Dass Mehdorn von sich aus hinwirft, damit ist freilich nicht zu rechnen. Das entspräche nicht seinem Naturell.

Bei den Bahn-Beschäftigten herrscht offene Empörung über die Bespitzelung. Ein klares Wort des Chefs blieb aus. Foto: Marcus Brandt/ddp

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Meister der Sanierung

Michael Queen leitet nun die Beteiligungsgesellschaft 3i

Seinen gerade geschassten Vorgänger Philip Yea lobte Michael Queen in den höchsten Tönen. "Phil" habe exzellente Arbeit geleistet, und er selbst sei mit ihm über die langfristige Strategie des Unternehmens völlig einig, erklärte der neue Chef der britischen Kapitalbeteiligungsgesellschaft 3i. Im Londoner Finanzviertel heißt es allerdings, dass dem Führungswechsel bei 3i Ende vergangener Woche ein harter Machtkampf vorangegangen ist. Der 54-jährige Yea, seit fünf Jahren an der Spitze, musste schließlich seinen Sessel räumen, weil 3i infolge der Finanzkrise mit zunehmenden wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat. Nun soll Queen Europas größte börsennotierte Kapitalbeteiligungsgesellschaft sanieren.

Es ist ein schwieriger Auftrag für den 47-Jährigen. Die Finanzkrise hat nicht nur 3i, sondern die gesamte Branche schwer getroffen, sie muss auch einen Kulturwandel durchlaufen. Während der vergangenen Jahre, als das Beteiligungsgeschäft boomte, hatten sich die Manager oft als die Meister des Universums gefühlt, die nicht mit Millionen-, sondern mit Milliardensummen rechneten. Doch nun sind sie kleinlaut geworden. Queen steht vor einem Scherbenhaufen. Innerhalb eines Jahres hat 3i etwa 70 Prozent seines Börsenwerts verloren. Zuletzt musste das Unternehmen hohe Abschreibungen vornehmen. Analysten sagen, dass 3i auf einem Schuldenberg von bis zu 2,1 Milliarden Pfund, etwa 2,2 Milliarden Euro, sitzt. Zwar kann Queen auf Barreserven zurückgreifen, die sich immerhin noch auf mehr als 800 Millionen Pfund belaufen sollen. Doch der neue Chef wird sich auch auf langwierige Verhandlungen mit den finanzierenden Banken einlassen müssen. Die Institute sitzen ihm im Nacken und haben ihre Kreditkonditionen verschärft.

"Es ist klar, dass wir derzeit in einem harschen wirtschaftlichen Klima leben. Doch wir werden da durchkommen", erklärte Queen. Er weiß, dass er gleich an zwei Fronten kämpfen muss. Zum einen sorgt der Abbau von 100 der insgesamt 660 Stellen in der Londoner 3i-Zentrale für Unruhe. Wie es heißt, trage die Nachricht von der üppigen Abfindung für Yea in Höhe von 790 000 Pfund plus Pensionsansprüche in Höhe von 290 000 Pfund nicht gerade zur Verbesserung des Betriebsklimas bei.

Zum anderen wird Queen gezwungen sein, sich von einigen der etwa 50 strategisch wichtigen Beteiligungen zu trennen, um den hohen Schuldenberg abzutragen. Die Zeit für solche Geschäfte ist allerdings alles andere als günstig, die Käufer stehen nicht gerade Schlange. Außerdem meinen Kritiker, dass das Portfolio sehr unübersichtlich ist, was einen Verkauf erschweren könnte. Es reicht von Beteiligungen an Medienfirmen wie beispielsweise dem deutschen TV-Home-Shopping-Kanal 123 TV bis hin zu Energieunternehmen und Pharmaherstellern. Immerhin kommt Queen seine 20-jährige Erfahrung bei 3i zugute - er kennt das Unternehmen genau. Bereits 2004 hatte er sich Hoffnungen auf den Chefposten gemacht. Damals machte Yea das Rennen. Nun ging die Krone doch noch an Queen. Andreas Oldag

Im Blickpunkt

Michael Queen Foto: oh

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Ein Geldgeber wird gesucht

Bernhard Schreier, Chef der Heidelberger Druckmaschinen, kämpft mit Verlusten und Schulden. Am Dienstag muss er sich harten Fragen stellen

Trübe Geschäftsaussichten, anhaltender Verfall des Aktienkurses, klemmender Kreditmarkt - Bernhard Schreier hat derzeit mit vielen Problemen zu kämpfen. Wenn der Chef von Heidelberger Druckmaschinen am heutigen Dienstag die Zahlen für das dritte Geschäftsquartal erläutert, dürfte das weder bei ihm noch bei den Anlegern viel Freude auslösen. Analysten rechnen mit einem Nettoverlust von etwa 150 Millionen Euro allein in den ersten neun Monaten, dazu drückten den angeschlagenen Weltmarktführer für Druckmaschinen schon nach dem ersten Halbjahr Schulden von knapp 350 Millionen Euro.

Aus Finanzkreisen verlautet denn schon des längeren, dass Heideldruck auf der Suche nach einem Großinvestor ist und bei potentiellen Interessenten vorstellig wird. Offiziell will das Unternehmen das nicht bestätigen, doch sicher ist, dass Heideldruck frisches Geld braucht. Auch dazu wird sich Schreier wohl bei der Zahlenvorlage äußern müssen.

Schon zweimal hat Schreier im vergangenen Jahr die Prognose gesenkt. Gegen den krisenbedingten Geschäftseinbruch steuert er bereits mit einem Sparprogramm und dem Abbau von 2500 der weltweit 20 000 Stellen im Konzern gegen. Aber das Gegrummel von Investoren und Aktionären hält an, ob es damit in Sachen Zukunftssicherung für Schreier schon getan sei. Zumal es keinerlei Anzeichen gibt, dass sich die Geschäftslage für die Druckmaschinenhersteller schon demnächst nennenswert bessern wird.

Kritik der Aktionäre

Seit vielen Monaten ist beim Management von "anhaltender Seitwärtsbewegung" die Rede. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Klientel der Druckbranche ganz andere Strukturen aufweist als die anderer Maschinenbauer. 80 Prozent der Heideldruck-Kunden sind kleine Familienunternehmen, die stark von der zyklischen Werbewirtschaft abhängig sind. Und die wiederum bekommt die derzeitige Wirtschaftskrise mit voller Wucht zu spüren.

Schon auf der Hauptversammlung im vergangenen Juli musste Schreier harsche Kritik an der fehlenden Zukunftsstrategie einstecken. Außerdem habe er viel zu spät auf die sich längst abzeichnende Krise reagiert und in der Vergangenheit strategische Fehlentscheidungen getroffen. Als Schreier 1999 das Amt des Vorstandschefs von seinem Vorgänger Hartmut Mehdorn übernahm, stoppte er dessen Expansionspolitik, die aus dem Traditionsbetrieb einen Komplettanbieter für alle Drucksparten formen sollte. Aber die Schrumpfkur und die damit verbundene Konzentration auf den zyklischen Bogendruck machte die Heidelberger auch krisenanfälliger. Daher setzt Heideldruck zur Stabilisierung jetzt auf den Ausbau des Verpackungsdrucks.

Erschwerend kommt für Bernhard Schreier hinzu, dass es die Sache des 54-jährigen, bescheiden auftretenden Maschinenbauingenieurs nicht ist, den großen Unternehmenslenker mit flottem Mundwerk zu geben. Nachdem er im vergangenen Jahr mehrmals die Prognosen gesenkt und die Finanzgemeinde damit irritiert hatte, gab sich Schreier im Interview mit dem Handelsblatt reumütig: "Unsere Kommunikation war nicht immer glücklich. Mea culpa. Das werden wir besser machen." Dagmar Deckstein

Mehrmals hat Bernhard Schreier im vergangenen Jahr die Prognosen für das Geschäft nach unten korrigieren müssen und die Anleger und Analysten damit nachhaltig irritiert. Foto: Bloomberg

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Gruppe der 30

Die "Gruppe der 30" ist ein Gremium unabhängiger Wirtschaftsexperten, das 1978 auf Initiative der Rockefeller-Stiftung gegründet wurde. Aufgabe der Gruppe ist es laut Satzung, "das Verständnis internationaler Wirtschafts- und Finanzfragen zu vertiefen, die internationalen Auswirkungen von Entscheidungen zu untersuchen, die im Privat- und im öffentlichen Sektor getroffen werden, und die Handlungsalternativen von Marktteilnehmern und Politikern zu überprüfen." In der Vergangenheit nahm die Gruppe zu einer Fülle von Themen Stellung - von der Reform des Internationalen Währungsfonds bis zur Schuldenkrise der achtziger Jahre. Vorsitzender ist Jacob Frenkel, der frühere Präsident der israelischen Nationalbank, Vorsitzender des Kuratoriums Paul Volcker. Zu den Mitgliedern gehört Nobelpreisträger Paul Krugman. N.P.

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Zu viele Posten

Der Techniker Krankenkasse (TK) droht Ärger durch das Bundesversicherungsamt. Die Aufsichtsbehörde will die Wahl von Ralf Hermes in den Vorstand der größten deutschen Krankenkasse für ungültig erklären. Eine TK-Sprecherin bestätigte, das Bundesversicherungsamt störe sich daran, dass Hermes auch Vorstand der IKK Nord und des IKK Landesverbands Nord sei. Der Verwaltungsrat der TK hatte Hermes Anfang Januar als dritten Vorstand bestellt. Zuvor war er Vorstandschef der IKK-Direkt, die zum Jahreswechsel mit der TK fusionierte. Hermes werde die zusätzlichen Posten abgeben, sobald ein Nachfolger gefunden sei, hieß es nun bei der TK. dpa

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Playmobil-Erfinder gestorben

Er war der "Vater" der kleinen Playmobil-Figuren: Im Alter von 79 Jahren ist Hans Beck, der Erfinder des erfolgreichen Spielsystems, im Alter von 79 Jahren nach schwerer Krankheit am Bodensee, wo er sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte, gestorben. Der gebürtige Thüringer war viele Jahre Entwicklungsleiter des Herstellers der Playmobil-Figuren, der Firma Geobra Brandstätter in Zirndorf. Firmeninhaber Horst Brandstätter hatte den gelernten Möbeltischler und passionierten Modellbauer 1958 als "Mustermacher" angestellt - eine Entscheidung, die sich als Glücksgriff erwies. Denn mit Playmobil, das 1974 auf den Markt kam, gelang Beck der große Wurf. Brandstätter hatte an ihn den Wunsch nach einem Serienspielzeug herangetragen, dachte nach Firmenangaben aber mehr an eine Fahrzeugserie für Kleinkinder. Beck jedoch erfand etwas ganz Neues: Eine 7,5 Zentimeter große Kunststoff-Figur mit beweglichen Armen und Beinen. Bauarbeiter, Ritter und Indianer - das waren die ersten Playmobil-Männchen, für die Beck auch Zubehör entwarf. Auf der Nürnberger Spielwarenmesse 1974 wurden die ersten Figuren vorgestellt. Die Branche reagierte reserviert, doch die Kinder waren begeistert. Eine Erfolgsstory begann, die die Zirndorfer Firma zu einem der größten deutschen Spielwarenhersteller mit knapp 3000 Mitarbeitern und einem Umsatz von zuletzt rund 452 Millionen Euro gemacht hat. "Kein Horror, keine vordergründige Gewalt, keine kurzfristigen Trends" war Becks Grundsatz, dem die Franken treu geblieben sind. dpa

Hans Beck Foto: oh

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Von Reagan zu Obama

Der ehemalige Notenbankchef Paul Volcker hat eine Schlüsselrolle im Wirtschaftsteam des neuen Präsidenten

Von Nikolaus Piper

Paul Volcker ist es gewohnt herabzublicken. Der 81-Jährige mit den schlohweißen Haaren und der altmodischen Brille ist genau zwei Meter und einen Zentimeter groß und beugt sich daher habituell herunter, wenn er mit anderen spricht. Es ist ein grauer Januarmorgen, und im Konferenzsaal an der dritten Avenue in Manhattan erzählt Volcker ein paar Finanzjournalisten, welche Lehren er aus der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise zieht. "Es gibt in einem Finanzsystem zentrale, systemrelevante Institutionen, und die müssen streng reguliert werden," sagt er mit eindrucksvoller Bass-Stimme.

Paul Volcker, Präsident der Notenbank Federal Reserve von 1979 bis 1987, ist eine Institution, eine Ikone der amerikanischen Geld- und Finanzpolitik. Trotzdem ist die Präsenz bei der Pressekonferenz an diesem Morgen eher dürftig. Das mag damit zusammenhängen, dass Volcker nur für eine außerhalb von Fachkreisen kaum bekannte Institution sprach: die "Gruppe der 30", ein akademischer Zirkel aktiver und pensionierter Notenbanker und Ökonomen, der in regelmäßigen Abständen Studien zu Fragen des Weltfinanzsystems vorlegt.

Blaupause für die Reform

Erst mit ein paar Tagen Verzögerung realisierten die Medien in New York, dass Volckers "Rahmenplan" für eine Finanzreform alles andere als akademisch ist, sondern eine Blaupause für den neuen Präsidenten im Weißen Haus. Barack Obama wird Volckers Plan vermutlich als Vorlage dienen, wenn in diesem Frühjahr internationale Verhandlungen zu diesem Thema beginnen. Grundidee: Jedes Finanzinstitut, das die Stabilität des Systems bedrohen kann, muss künftig unter staatliche Regulierung fallen.

Volcker gehört eben nicht nur der "Gruppe der 30" an, er hat, obwohl offiziell schon seit 21 Jahren im Ruhestand, noch einmal eine Regierungsaufgabe übernommen. Präsident Obama ernannte ihn zum Vorsitzenden eines Gremiums namens "Beraterstab des Präsidenten für den Wirtschaftsaufschwung" (President's Economic Recovery Advisory Board). Der Stab setzt sich ausschließlich aus unabhängigen Experten zusammen und wird Vorschläge zur Belebung der Wirtschaft und zur Reform der Finanzmärkte vorlegen. Ein derartiges Beratergremium gab es bisher nur einmal in der amerikanischen Geschichte: Präsident Dwight Eisenhower suchte 1956 mit dessen Hilfe Rat außerhalb der Regierungsbürokratie, um die sowjetische Bedrohung besser zu verstehen.

Schon allein die Tatsache, dass Paul Volcker Präsident Obama berät, zeigt, in welch außerordentlicher Situation sich die Vereinigten Staaten befinden. Schließlich war es Volcker, der jene Epoche einleitete, mit deren Exzessen er jetzt fertig werden muss: die Zeit des außerordentlichen Wachstums der Finanzmärkte, die mehr als eine Generation an der Wall Street prägte. Der Demokrat Paul Volcker hatte sein Amt an der Spitze der Federal Reserve am 6. August 1979 angetreten. Damals lag die Teuerungsrate in den Vereinigten Staaten bei über elf Prozent, die ganzen siebziger Jahre waren von Stagnation und hoher Arbeitslosigkeit geprägt gewesen. Für Volcker stand fest, dass die Probleme nur zu lösen waren, wenn es gelang, die Inflation zu brechen. Daher verknappte die Fed unter seiner Regie die Geldmenge konsequent und ließ den Leitzins, die Federal Funds Rate, so lange steigen, bis er im Juni 1981 beispiellose 19,10 Prozent erreicht hatte. Heute sind es null bis 0,25 Prozent.

Rosskur mit Erfolg

Das Ergebnis war eine schwere Rezession, die bis dahin schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber die Rosskur hatte Erfolg: 1983 war die Inflationsrate auf 3,21 Prozent gesunken. Volcker schuf so die Voraussetzung für die marktwirtschaftlichen Reformen von Präsident Ronald Reagan, für die Erneuerung der amerikanischen Wirtschaft, aber auch für außerordentliche Börsengewinne und für die wilden Zeiten an der Wall Street.

Am 11. August 1987 übergab Volcker das Amt an seinen Nachfolger Alan Greenspan. Er widmete sich seinem Hobby, dem Fliegenfischen, und trat in eine kleine Finanzfirma ein, die von James Wolfensohn geleitet wurde, dem späteren Weltbankpräsidenten. Er beriet die Familie Rockefeller, befasste sich mit der Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und war Mitglied der "Trilateralen Kommission", einem Gremium, das sich der Verbesserung der Beziehungen zwischen Nordamerika, Europa und Japan befasst. 2004 beauftragten ihn die Vereinten Nationen, Korruption im Zusammenhang mit dem "Öl-für-Lebensmittel-Programm" der UN für den Irak zu untersuchen.

Nach Ausbruch der Finanzkrise begann sich Volcker wieder politisch zu engagieren. Im vergangenen April nutzte er eine Rede vor dem angesehenen Economic Club of New York, um die bisherige Politik der Federal Reserve in der Krise als unzureichend zu kritisieren. Im Herbst machte er Wahlkampf für Barack Obama und beriet ihn, wie es hieß, fast täglich über Fragen der Wirtschaftskrise. Wenn es Obama tatsächlich gelingen sollte, eine neue Ära in der Wirtschaftspolitik zu beginnen, dann wird Volcker dazu mindestens so viel beigetragen haben wie seinerzeit zur Ära Reagan.

Der frühere US-Notenbankchef Paul Volcker ist heute ein wichtiger Berater des US-Präsidenten Barack Obama in Wirtschaftsfragen. Foto: Bloomberg

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Schaeffler-Betriebsräte bitten um Hilfe

Herzogenaurach - Die Betriebsräte des angeschlagenen Automobilzulieferers Schaeffler haben die Bundesregierung um Hilfe für den Konzern gebeten. "Nach unserem Eindruck ist diese Schieflage aus eigener Kraft nicht zu meistern", schrieben sie in einem Brief an Bundeswirtschaftminister Michael Glos (CSU). Die Zukunft des Konzernverbundes stehe auf dem Spiel. Die Arbeitnehmervertreter bitten deshalb, "den Einsatz von Staatshilfen positiv zu prüfen". Sie forderten zugleich, die Rettung an Bedingungen zu knüpfen. So müssten die Arbeitnehmer an der Erarbeitung eines Zukunftskonzeptes beteiligt werden und der Konzern müsse einen Aufsichtsrat bekommen, in dem Vertreter von Staat und Gewerkschaft säßen.

Nach Angaben des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer ist eine Entscheidung über staatliche Hilfen für Schaeffler keineswegs gefallen. In diesem Punkt dürfe niemand "schnoddrig von außen Festlegungen treffen", sagte er. Der Konzern müsse jetzt ein tragfähiges, mit den Banken abgestimmtes Konzept vorlegen und dann die Gespräche unter Federführung des Bundes fortsetzen. Bundeskanzlerin Merkel hatte betont, das Familienunternehmen müsse selbständig eine Lösung finden. Schaeffler-Konkurrent SKF wandte sich gegen staatliche Hilfe und warnte vor Wettbewerbsverzerrungen. Zu einer möglichen Übernahme von Teilen von Schaeffler teilten die Schweden mit, ihnen sei noch nichts angeboten worden. AP/Reuters

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Jedes Jahr im Risiko

Die Skiindustrie leidet schon seit langem, doch der letzte deutsche Hersteller Völkl kommt gut durch die Krise

Von Caspar Busse

München - Anfang der siebziger Jahre feiert der niederbayerische Skiproduzent Völkl Erfolge mit einem neuartigen Produkt: "Renntiger" hieß der erste Ski aus Metall und wenig später auch aus Carbon. Heute, einige Krisen später, produziert die Traditionsfirma immer noch. Seit 2005 ist auch der Renntiger wieder in den Geschäften, inzwischen allerdings neudeutsch als "Racetiger". Man habe internationalisieren müssen, sagt Völkl-Chef Christoph Bronder, 47.

Die Skihersteller, die derzeit auf der Sportartikelmesse Ispo in München ihre neuen Modelle zeigen, kämpfen schon lange gegen die Krise. Der Absatz geht seit Jahrzehnten zurück, viele kleinere Hersteller mussten aufgeben, zuletzt geriet die Traditionsfirma Rossignol in Probleme. Auch der weltweit zweitgrößte Sportartikler Adidas hatte nie Erfolg im Wintersportgeschäft und zuletzt seine Tochtergesellschaft Salomon an den finnischen Amer-Konzern verkauft. Völkl ist inzwischen der letzte deutsche Skihersteller, gehört seit 2004 zum amerikanischen Mischkonzern Jarden, der sich gerade auch an Rossignol beteiligte.

Der weltweite Klimawandel und besonders der extrem schneearme Winter 2006/07 haben zu einer nochmaligen Verschärfung der Lage geführt. Damals fiel der Absatz weltweit auf nur noch 3,4 Millionen Paar Ski. Die Händler blieben auf hohen Lagerbeständen sitzen und waren dementsprechend vorsichtig mit neuen Bestellungen. Inzwischen hat sich die Lage wieder erholt, auch wegen der aktuell guten Schneesituation. In diesem Jahr ist etwa in den französischen und italienischen Alpen so viel Schnee gefallen wie seit Jahren nicht mehr. Zudem rüsten viele Skigebiete auf und investieren massiv in Beschneiungsanlagen.

"Unsere Beobachtung ist: Skifahren liegt im Trend, auch bei jungen Leuten. Auch die städtische Jugend begeistert sich für Skifahren und Natur", glaubt Völkl-Chef Bronder. Die Hersteller werben gerade um junge Leute, gefragt sind bei der Ispo breite und bunte Spaßski mit zwei Spitzen, die den Snowboards Konkurrenz machen sollen. "Wir sind eine Art Modebranche, die sich jedes Jahr neu erfinden muss", sagt Bronder.

Wie stark die Wirtschaftskrise die Branche nun treffen wird, ist unklar. Die deutschen Sporthändler rechnen jedenfalls für 2009 mit lebhafter Nachfrage und steigenden Umsätzen. "Wir haben allen Grund zum Strahlen", sagte Klaus Jost vom größten deutschen Sportfachhändler-Verbund Intersport. 2008 stieg der Gesamtumsatz im Handel mit Sportartikeln nach Angaben des Verbandes Deutscher Sportfachhandel (VDS) um drei Prozent auf 7,1 Milliarden Euro. Die Skihersteller profitieren vom anhaltenden Winterwetter, die Händler ordern so kräftig für die kommende Saison.

Produktion in Straubing

"Ich bin zuversichtlich: Die Händler konzentrieren sich in der Krise auf starke Marken", sagt auch Bronder, der seit 1996 Firmenchef ist. Sorge mache ihm allerdings das US-Geschäft, inzwischen der größte Markt für Völkl - zum Unternehmen gehört auch der US-Bindungshersteller Marker. Seit 1923 werden in Straubing Skier produziert. 1992 musste die Gründerfamilie Völkl in der Krise auf Druck der Banken verkaufen, zunächst an die beiden Schweizer Investoren Gregor Furrer und Hans-Dieter Cleven, welche die Firma 2004 an den US-Skihersteller K 2 weiterreichten. Seit 2007 gehören Völkl und K 2 zum US-Konzern Jarden, der 5,3 Milliarden Dollar Jahresumsatz macht, davon weniger als zehn Prozent im Wintersport. Völkl ist nach eigenen Angaben profitabel und hinter Atomic und Rossignol mit einem Weltmarktanteil von knapp 13 Prozent der drittgrößte Skiproduzent der Welt, gleichauf mit Head . Ein Völkl-Ski kostet durchschnittlich 340 Euro.

Produziert wird nach wie vor in Straubing, dort werden 400 Mitarbeiter beschäftigt. 1997 wurde ein neues Werk gebaut, 2005 sollte die Produktion nach China verlegt werden. Nach Zugeständnissen der Mitarbeiter wurde die Verlagerung gestoppt, jetzt wird neu verhandelt. "Ich hoffe, dass wir in Straubing keine Arbeitsplätze abbauen müssen. Ich kämpfe dafür, dass wir den Standort erhalten können", betont Bronder. Er weiß, wie nah die nächste Krise sein kann. "Die Skibranche ist eine heikle Branche", sagt er. "Eigentlich riskiert man jedes Jahr das Unternehmen."

Tiefschneepiste am Arlberg: Der Skiabsatz geht immer weiter zurück. Ein Grund ist, dass sich immer mehr Menschen ihre Skier lieber vor Ort leihen. Foto: ddp

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Wenn Piloten gegeneinander kämpfen

Der Präsident der Vereinigung Cockpit ficht mit seinem Vorgänger einen Richtungsstreit aus. Neuwahlen sind Anfang April

Der Aufruf klingt ein bisschen nach Pfeifen im Wald: "Eine Spaltung zu vermeiden, muss Aufgabe der außerordentlichen Mitgliederversammlung sein", schreibt der Beirat der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC). Das einflussreiche Gremium kritisiert die Gegner des Vorstands scharf. Die als "Initiative starke VC" auftretende Gruppe rund um den Ex-Gewerkschaftschef Thomas von Sturm habe "eine erhebliche Schwächung der VC verursacht" und die "Durchsetzungsfähigkeit unserer Tarifkommissionen stark beeinträchtigt." Am Donnerstag treffen sich die Mitglieder wegen der Zerwürfnisse und hoffen, doch noch eine gemeinsame Linie zu finden. Anfang April stehen Neuwahlen an. Der VC-Vorstand mit Präsident Tim Würfel wird wohl wieder kandidieren - alleine, um eine Strategiewende zu verhindern.

In der Auseinandersetzung stehen sich Würfel und sein Vorgänger Sturm, beides Lufthansa-Kapitäne, gegenüber. Während Würfel mit dem ehemaligen Vorstand Tarifpolitik, Michael Tarp, eine eher moderate Linie durchgehalten und damit der VC auch bei Airlines außerhalb der Lufthansa mehr Einfluss gesichert hat, vertritt Sturm die Ansicht, dass nur eine kompromisslose Haltung vor allem gegenüber der Lufthansa die Interessen der Piloten sichert.

Die Gruppe um Sturm hatte sich im Herbst 2008 offen gegen den Vorstand gewandt und eine härtere Gewerkschaftslinie gefordert, die vor allem auf die Interessen der in der VC zahlenmäßig immer noch dominierenden Lufthansa-Besatzungen ausgerichtet ist. Zwei der Unterzeichner, Jörg Cebulla und Stefan Ziegler, sind Mitglieder des Lufthansa-Aufsichtsrates, ihre Mandate in der Tarifkommission lassen sie wegen des Konfliktes ruhen. Auf der anderen Seite hat Würfel seinen Mitstreiter Tarp verloren. Der sah keine Möglichkeit, das Zerwürfnis mit dem wichtigen Gremium zu kitten, selbst wenn ihn die Gegenseite wieder akzeptiert hätte.

Der Machtkampf hat auch dazu geführt, dass praktisch alle wesentlichen Verhandlungen mit deutschen Fluggesellschaften auf Eis liegen. So ist immer noch keine Lösung gefunden, wie die neuen Embraer-Regionaljets bei der Lufthansa eingesetzt werden können. Dieser Streitpunkt hatte bei den Streiks der Regionalableger Cityline und Eurowings 2008 eine wesentliche Rolle gespielt. Auch bei LTU und Air Berlin wären einige Fragen dringend zu klären. VC-Kreise befürchten, dass sich Sturm und seine Leute auch (wieder) in die Lufthansa-Tarifkommission wählen lassen könnten und von dort aus die Opposition fortsetzen. Jens Flottau

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RYANAIR

Bessere Prognose

Dublin - Trotz eines Verlusts im dritten Quartal ihres Geschäftsjahres sieht sich die Billigfluggesellschaft Ryanair als Gewinner der Krise. Nach einem Minus von 118,8 Millionen Pfund (132,8 Millionen Euro) von Oktober bis Dezember rechnet Firmenchef Michael O'Leary im Gesamtjahr 2008/2009 dank sinkender Ölpreise mit einem Nettogewinn von 50 bis 80 Millionen Pfund. Damit korrigierte O'Leary seine Prognose nach oben. Zuletzt hatte er einen Verlust in dem im März endenden Geschäftsjahr nicht ausgeschlossen. "Je länger und tiefer die Rezession ist, desto besser wird die Lage für Billiganbieter aller Branchen", so der Firmenchef. Im Geschäftsjahr 2009/10 erwarte das Unternehmen ein Wachstum der Verkehrszahlen und des Gewinns. AP

Ryanair - hier Maschinen am Dubliner Flughafen - ist zuversichtlich. F.: dpa

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EDSCHA

Insolvenz angemeldet

Düsseldorf - Der Automobilzulieferer Edscha hat Antrag auf Insolvenz gestellt. Hintergrund sei eine "massiv rückläufige Entwicklung" am Automobilmarkt sowie der erschwerte Zugang zu Kapital, sagte eine Sprecherin. Der Antrag sei beim Amtsgericht Wuppertal für die europäischen Standorte gestellt worden. Betroffen seien etwa 4200 Mitarbeiter. Das Unternehmen mit Sitz in Nordrhein-Westfalen hatte im Geschäftsjahr 2006/07 (zum 30. Juni) mit 6500 Mitarbeitern einen Umsatz von etwa 1,1 Milliarden Euro eingefahren. Vor mehreren Jahren hatte der Mehrheitseigner Carlyle dem ehemals börsennotierten Unternehmen einen Sparkurs verordnet. Reuters

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BMW

Treffen bei Sarkozy

Paris - BMW und Peugeot/Citroën wollen ihre Zusammenarbeit bei Zukunftstechnologien wie Elektroantrieben besser abstimmen. Vertreter des Münchner Autoherstellers trafen sich deswegen mit Kollegen von Peugeot und dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy im Elysée-Palast, wie BMW bestätigte. Nach französischen Medienberichten diente das Treffen in der vergangenen Woche sogar der Vorbereitung einer Allianz zwischen den beiden Unternehmen. Peugeot sei über die bisherige Zusammenarbeit hinaus "an einer echten Partnerschaft interessiert", berichtete die Zeitung La Tribune unter Berufung auf Insider. AP

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General Motors fürchtet Steuerbelastung

New York - Die ums Überleben ringenden US-Autohersteller General Motors (GM) und Chrysler kämpfen mit neuen Problemen. Die Opel-Mutter GM befürchtet US-Medien zufolge eine Steuerschuld von bis zu sieben Milliarden Dollar. Im Gegenzug für milliardenschwere staatliche Notkredite müssen GM und Chrysler der US-Regierung bis Mitte Februar Pläne für deutliche Einsparungen und Umschuldungen vorlegen. Der Abbau des Schuldenbergs könnte aber steuerlich als Einnahme gelten. GM befürchte deswegen Steuerbelastungen, die den Hersteller zahlungsunfähig machen könnten, hieß es in Berichten. GM und Chrysler würden zudem unter einer immer zurückhaltenderen Vergabe von Autokrediten durch die Ex-Finanzierungstöchter leiden, die mittlerweile dem Finanzinvestor Cerberus gehören. dpa

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Chinesen sollen Minenkonzern Rio Tinto retten

In der Rohstoffbranche werden die Karten nach dem dramatischen Einbruch der Preise für Industriemetalle neu gemischt

Von Andreas Oldag

London - Der hochverschuldete australisch-britische Minenkonzern Rio Tinto sucht Rettung bei den Chinesen. Rio-Tinto-Chef Tom Albanese ist offenbar jedes Mittel recht, um den Konzern aus der Krise zu führen. Er bietet dem chinesischen Minen- und Aluminium-Konzern Chinalco den Erwerb von Minderheitsbeteiligungen an verschiedenen Rio-Tinto-Geschäften sowie den Kauf von Wandelanleihen an, was insgesamt 15 Milliarden Dollar bringen könnte. Denkbar ist, dass Chinalco seinen bisherigen Anteil auf mindestens 15 Prozent aufstockt. "Angesichts der schwierigen und unsicheren Wirtschaftslage und dem beispiellosen Abschwung unserer Märkte müssen wir uns darauf konzentrieren, Geld zu beschaffen und Schulden zurückzuzahlen", erklärte Rio-Tinto-Chef-Albanese.

Finanzanalysten in London schließen indes nicht aus, dass Rio Tinto langfristig sogar seine Selbständigkeit verlieren oder zerschlagen wird. Die Schulden des Unternehmens belaufen sich auf fast 39 Milliarden Dollar (etwa 30 Milliarden Euro). Rio Tinto ist Opfer des drastischen Verfalls der Rohstoffpreise infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Noch vor einem Jahr strotzte die Branche vor Kraft. Doch innerhalb des zweiten Halbjahres sind die Preise für wichtige Industriemetalle um bis zu 55 Prozent eingebrochen. Die Prognosen sind düster: Der weltweite Stahlverbrauch geht in der Autoindustrie zurück, vor allem aber auch in der stark konjunkturabhängigen Bauindustrie. Nun müssen die Unternehmen Gewinn- und Umsatzprognosen korrigieren.

Rio Tinto hat sich zudem durch die Übernahme der kanadischen Aluminium-Gruppe Alcan im Jahr 2007 hoch verschuldet. Nun will der Rio-Tinto-Chef das Unternehmen durch einen harten Sparkurs wieder auf Kurs bringen. Weltweit sollen 14 000 Jobs wegfallen, das sind etwa 13 Prozent der Stellen. Darüber hinaus ist der Konzern dabei, Geschäftsteile zu verkaufen. Vergangene Woche erst gab Rio Tinto den Verkauf einer Eisenerzmine in Brasilien und eines Kalisalzprojekts in Argentinien für 1,6 Milliarden Dollar bekannt.

Aktienkurse im Keller

Kürzlich hatte der britisch-australische Konkurrent BHP Billiton seine milliardenschweren Übernahmepläne für Rio Tinto fallengelassen. BHP Billiton wollte Rio für etwa 140 Milliarden Dollar übernehmen. Wegen der globalen Konjunkturabschwächung sind die Aktienkurse von Bergbauunternehmen in den vergangenen Wochen in den Keller gesackt. Daher hatte das feindliche Fusionsvorhaben zuletzt nur noch ein Volumen von 66 Milliarden Dollar. Doch auch diese Summe wollten die kreditgebenden Banken offenbar nicht mehr mitfinanzieren. Die "Risiko-Dimensionen" des Projekts hätten sich geändert, räumte BHP-Chef Marius Kloppers kleinlaut ein. Unterschätzt hat Kloppers auch den Widerstand der Kartellbehörden, insbesondere der EU-Kommission. Brüssel schickte BHP eine Warnung, die sich auf die Einschränkung des Wettbewerbs bei der Eisenerzversorgung bezog. Auf diesem für die Stahlindustrie wichtigen Markt hätten BHP und Rio Tinto zwei Drittel der Rohmaterialexporte kontrolliert.

Kloppers Vision ist geplatzt: Mit der milliardenschweren Offerte wollte er einen riesigen Bergbaukonzern schmieden, dessen Aktivitäten von Alaska bis nach Südafrika und Australien gereicht hätten. Nun muss Kloppers erst einmal im eigenen Haus 6000 Stellen streichen und eisern sparen. "Die Karten werden in der Branche neu gemischt. Schwache Unternehmen suchen Schutz bei stärkeren", meint ein Banker in London.

Chinalco hatte bereits im vergangenen Jahr zusammen mit dem amerikanischen Aluminium-Hersteller Alcoa eine zwölfprozentige Beteiligung an Rio Tinto erworben. Der vom ehemaligen Siemens-Chef Klaus Kleinfeld geführte Alcoa-Konzern steckt allerdings selbst in erheblichen Schwierigkeiten: Das Unternehmen verbuchte im letzten Quartal 2008 einen Verlust von mehr als einer Milliarde Dollar. Nun sollen weltweit 15 000 Arbeitsplätze abgebaut werden - etwa 15 Prozent der Belegschaft.

Gewinner der Krise könnte Chinalco werden. Hinter dem Konzern mit 200 000 Beschäftigten steht der chinesische Staat. Chinalco hat in den vergangenen Jahren unter anderem in Rohstoffprojekte in Australien, Peru und Vietnam investiert. Obwohl das Unternehmen auch die sinkende Nachfrage nach Aluminium auf dem Heimatmarkt zu spüren bekommt, geht es Peking um die langfristige Sicherung der Erzversorgung. Insofern könnte Chinalco die Gelegenheit zu weiteren Zukäufen vor allem in der westlichen Rohstoffindustrie nutzen.

Rio Tinto hat sich durch die Übernahme der kanadischen Alcan 2007 hoch verschuldet und leidet nun unter dem Preisverfall. Im Bild ein Lastwagen an einer Kohlenmine von Rio Tinto nahe Sydney. Foto: Reuters

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Kurzarbeit in der Chemiebranche

Lohneinbußen für Beschäftigte von Bayer, Lanxess und Evonik

Von Stefan Weber

Düsseldorf - Mit Kurzarbeit und Lohnsenkungen reagieren Lanxess, Bayer und Evonik auf die anhaltende Schwäche im Chemiegeschäft. Für die 5000 Tarifmitarbeiter des Lanxess-Konzerns in Deutschland gilt von März an für zwölf Monate die 35-Stunden-Woche mit entsprechender Lohnkürzung. Bisher arbeiten die Beschäftigten des Leverkusener Konzerns 37,5 Stunden in der Woche. Zudem werden die Mitarbeiter für 2009 keinen Bonus erhalten, teilte Lanxess mit.

Auch Vorstand und leitende Mitarbeiter leisten einen Sparbeitrag. So verzichten Vorstandsmitglieder auf variable Einkommensbestandteile in Höhe von zehn Prozent des fixen Jahreseinkommens. Bei leitenden Mitarbeitern werden die variablen Einkommensbestandteile in nicht genannter Höhe reduziert und anstehende Gehaltszuschläge um sechs Monate verschoben. Mit diesen Maßnahmen will Lanxess die Kosten um etwa 50 Millionen Euro senken. Bei einer Verschärfung der Krise würden weitere Schritte beraten, kündigte der Konzern an. "Die Nachfrage unserer Kunden ist auch im Januar schwach gewesen. Wir erwarten keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in der vor uns liegenden Zeit", sagte Vorstandschef Axel Heitmann.

Auch die bundesweit 5500 Mitarbeiter der Bayer-Kunststoffsparte Material Science arbeiten von Montag nächster Woche an nur noch 35 Stunden pro Woche anstatt bisher 37,5 Stunden. Entsprechend sinkt ihr Tarifentgelt um 6,7 Prozent. Die im Tarifvertrag für April vereinbarte Gehaltserhöhung um 3,3 Prozent würden die Beschäftigten aber erhalten, teilte Bayer mit. Auch für die leitenden Mitarbeiter wird es Einschnitte geben. Unter anderem sollen Einkommenserhöhungen vorläufig ausgesetzt werden.

Der Industriekonzern Evonik hat wegen deutlich gesunkener Bestellungen seiner Kunden aus der Automobil-, Bau- und Textilindustrie in Teilen seiner deutschen Chemiesparte, der früheren Degussa, Kurzarbeit beantragt. Betroffen sind nach Angaben des Unternehmens 1160 Mitarbeiter. Die Maßnahme ist zunächst auf sechs Monate befristet.

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Verfassungswidrige Enteignung

In der Bundesregierung gibt es gravierende Bedenken gegen die Pläne des Finanzministeriums zur Verstaatlichung von Banken

Von Guido Bohsem

Berlin - In der Bundesregierung ist ein massiver Streit über die Pläne des Finanzministeriums entbrannt, Banken vollständig zu verstaatlichen und dabei die bisherigen Besitzer zu enteignen. So gibt es in anderen Bundesministerien massive Bedenken, ob ein solcher drastischer Schritt nicht gegen das Grundgesetz verstößt. "Die Verfassung gebietet, zunächst nach milderen Mitteln zur Erreichung des Ziels zu suchen", hieß es am Montag in Regierungskreisen.

Die Experten des Finanzministeriums hatten in einem Entwurf zur Änderung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes eine Enteignung der Aktionäre einer Bank empfohlen, "wenn dies zur Sicherung der Finanzmarktstabilität erforderlich ist und andere rechtlich und wirtschaftlich zumutbare Lösungen nicht zur Verfügung stehen". Die Aktionäre sollen im Gegenzug nur eine geringe Entschädigung enthalten. Diese soll sich den Plänen nach an dem durchschnittlichen Kurs der Aktien in den vergangenen zwei Wochen nach der Ankündigung der Enteignung orientieren. In besonderen Fällen kann sie aber auch niedriger sein.

Verfassungsrechtlich bedenklich sei insbesondere, dass die Voraussetzungen für eine Enteignung sehr weit gefasst seien, hieß es. Dies sei insbesondere deshalb problematisch, weil sich die Bundesregierung damit auf einen ordnungspolitisch kaum zu vermittelnden Weg begebe, "dessen Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik kaum absehbar sind."

Auch werde bei einer Enteignung viel Geld dafür eingesetzt, die enteigneten Aktionäre zu entschädigen. Besser sei es, die Mittel in das Überleben der Bank zu investieren. Als Alternative solle deshalb zunächst die im Finanzmarktstabilisierungsgesetz vorgesehene Möglichkeit einer Kapitalerhöhung weiter ausgebaut werden. An anderer Stelle der Bundesregierung hieß es, man wolle sich bis Mittwoch kommender Woche auf einen abgestimmten Gesetzentwurf verständigt haben. Am späten Montagabend wollten die mit dem Thema befassten Minister der Bundesregierung die Beratungen über das Thema fortsetzen.

Im Finanzministerium hält man eine Enteignungsregelung für notwendig, um die 90 bis 95 Prozent des angeschlagenen Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate (HRE) übernehmen zu können. Nur so könne der tägliche Mittelabfluss bei der HRE gestoppt, die Übernahme des Instituts durch einen Konkurrenten verhindert und die zur Rettung der HRE eingesetzten knapp 90 Milliarden Euro Steuergelder gesichert werden.

Krisenbank HRE: Eine Enteignung der Aktionäre wird erwogen. Foto: Reuters

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Devisen und Rohstoffe: Euro erholt sich

Der Euro hat sich am Montag im Handelsverlauf von seinen anfänglichenVerlusten erholt. Die europäische Devise notierte gegen 16 Uhr bei 1,2825 Dollar nach 1,2805 Dollar am Freitagabend. Spekulationen auf weitere Zinssenkungen durch die Europäische Zentralbank hatten den Euro zunächst belastet, während der Dollar von der Hoffnung profitierte, dass die umfangreichen Staatshilfen die US-Wirtschaft tatsächlich ankurbeln werden.

An den Rohstoffmärkten führte der weltweite Wirtschaftsabschwung zu einer schwächeren Nachfrage und setzte die Preise für Rohöl unter Druck. Ein Fass (159 Liter) der US-Sorte WTI kostete 40,80 Dollar und damit knapp zwei Prozent weniger als am Vortag.

Der Goldpreis veränderte sich kaum. Zum Londoner Nachmittagsfixing wurde ein Preis von 918,25 (Freitag: 919,50) Dollar je Feinunze des Edelmetalls errechnet. SZ/Reuters/ dpa

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Deutsche Börse: Dax verliert deutlich

Die Absage der Bundesregierung an die Einrichtung einer zentralen "Bad Bank" hat am Montag bei vielen Anlegern Furcht vor weiteren Milliardenabschreibungen bei den Finanzwerten geschürt. In deren Sog rutschte der Dax gegen 16 Uhr um zwei Prozent ab auf 4995 Punkte. Der MDax fiel um 2,1 Prozent auf 4989 Zähler. Der TecDax sank unter dem Druck von Kursverlusten bei den Titeln erneuerbarer Energien um 3,5 Prozent auf 468 Punkte.

Die Aktien der Deutschen Bank gaben am Dax-Ende 6,8 Prozent auf 19,27 Euro nach. Titel der Commerzbank sackten um 5,6 Prozent auf 3,35 Euro ab und Postbank fielen um 3,9 Prozent auf 9,05 Euro zurück. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich am Wochenende gegen die Einrichtung eines zentralen staatlichen Institutes, in das die Banken ihre Risikopapiere abschieben können, ausgesprochen. Im MDax stemmten sich Premiere-Aktien gegen den schwachen Markttrend und legten um 8,1 Prozent auf 3,27 Euro zu. Der schwer angeschlagene Medienkonzern ist seiner Rettung einen Schritt näher gekommen. Der US-Konzern News Corp müsse gemäß einer Entscheidung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) kein Pflichtangebot für die ausstehenden Aktien der Münchner vorlegen, teilte News Corp mit. Diese Entscheidung hatte Konzernchef Rupert Murdoch aber zur Bedingung für ein Rettungspaket gemacht.

Am deutschen Rentenmarkt stieg der Bund-Future angesichts der Verluste am Aktienmarkt auf 122,71 (Freitag: 122,37) Prozent.

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Ein Abladeplatz für schwierige Fälle

Frankfurt - Als eine "Bad Bank" würde der Sprecher die BAG Bankgesellschaft in Hamm nicht bezeichnen. Aber er nimmt es gelassen, wenn sie so tituliert wird. Er spricht lieber von einem "Kompetenzzentrum für Problemkredite" im genossenschaftlichen Finanzsektor. Die BAG fühlt sich für faule Kredite der Volks- und Raiffeisenbanken zuständig. Sie übernimmt diese Forderungen, verwertet sie und berät die Banken. Von der aktuellen politischen Diskussion zur Gründung neuer Bad Banks ist das weit weg, weil es dort um Wertpapiere geht. "Mit Lehman und Co. haben wir nichts zu tun", heißt es in Hamm.

Dabei hatte auch die Hammer Bank Spadaka einst ein zu großes Rad gedreht. Sie galt als Sammelbecken für Schwarzgeld und als Geldleiher für schwierige Fälle. Mitte der 1980er Jahre ging sie pleite und sollte aufgelöst werden. Ihre Abwickler aber lernten dabei so viel, dass es zu schade gewesen wäre, dieses Wissen einfach zu vergessen. Sie gründeten die BAG Bankaktiengesellschaft in Hamm. Die kümmert sich seither um faule Kredite, entwertete Immobilien und schwierige Fälle der Genossenschaftsbanken. Der erste Großeinsatz kam gleich nach der Wende. Zwei von drei Volks- und Raiffeisenbanken im Osten gaben auf. Aber auch im Westen setzten die Genossen so manchen Kredit in den Sand. Beispielsweise übernahm die BAG von der Berliner Volksbank, der größten Genossenschaftsbank überhaupt, Kundenforderungen in Milliardenhöhe. Die Bank hatte Immobilienfonds in Dresden und Berlin finanziert, die Bauträger übernahmen sich. Bald darauf musste die Frankfurter Ökobank, Pionier grüner Geldanlagen, den Gang nach Hamm antreten.

In den vergangenen 22 Jahren dürfte die BAG etwa 200 Genossenschaftsbanken aus der Klemme geholfen haben. In ihrer letzten Bilanz aus dem Jahr 2007 weist sie Forderungen von 2,9 Milliarden Euro aus bei einer Bilanzsumme von 32 Milliarden Euro. he

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Gefangene der UBS

Schweizer hadern mit Staatshilfen, aber ohne wäre ihr Land gefährdet

Von Gerd Zitzelsberger

Zürich - Jeden Tag empört sich die Schweizer Öffentlichkeit aufs Neue über die Zürcher Großbank UBS, ihre Fehlspekulationen am US-Immobilienmarkt und vor allem über Gehälter und Bonus-Zahlungen an Spitzenmanager. Mit der staatlichen Rettungsaktion für die Bank aber sind die Eidgenossen ganz zufrieden, auch wenn sie die Aktionäre geschont und den Steuerzahlern hohe Risiken aufgebürdet hat.

Kernpunkt des Rettungsprogramms ist neben einer Kapitalspritze des Staates die Gründung einer Bad Bank unter den Fittichen der staatlichen Zentralbank SNB. Offiziell heißt sie SNB StabFund Kommanditgesellschaft für kollektive Anlagen. Entgegen ursprünglichen Plänen ist ihr Sitz aber nicht in der Steueroase Cayman Islands, sondern - nach öffentlichen Protesten - in Bern. Diese Bad Bank ist juristisch eine Tochtergesellschaft der SNB, verwaltet aber wird sie von der UBS selbst.

Das neue Institut hat der Großbank Wackelkredite, Ramschanleihen und ähnlichen finanziellen Giftmüll in Höhe von 60 Milliarden Dollar, umgerechnet 47 Milliarden Euro, abgekauft. Mit anderen Worten: UBS durfte kaum kalkulierbare Risiken zur Nationalbank beziehungsweise zum Staat hinüberschieben und konnte damit ihre Bilanz weitestgehend säubern. Wirtschaftlicher Hintergrund der Aktion: Anders als UBS muss die Bad Bank den Giftmüll nicht schnellstmöglich per Notverkauf versilbern, sondern sie kann warten, bis die Märkte wieder liquide oder die Papiere fällig sind.

Ohne diese Hilfe wäre der Aktienkurs der UBS in den vergangenen zwölf Monaten nicht um 70 Prozent eingebrochen, sondern die UBS-Aktie wäre heute wohl nur noch ein paar Rappen wert. Die staatliche Rettungsaktion war nötig, um die Existenz der UBS zu sichern und eine weitere Eskalation der Finanzkrise zu verhindern. Die Kunden hatten schon in Massen begonnen, ihre Konten bei der UBS zu räumen und ihre Guthaben zu anderen Banken zu verlagern oder in Goldbarren umzuwandeln.

Eine UBS-Pleite aber hätte gleichzeitig den wichtigsten Vermögenswert des Schweizer Staates zerstört: Das Vertrauen in seine Stabilität und Solidität. Die Schweizer sind regelrecht Gefangene ihrer beiden Großbanken. Kostenlos ist die Hilfe der Zentralbank freilich nicht: Die UBS musste für 4,7 Milliarden Euro - zu zahlen an die SNB - eine Option auf Rückkauf der Bad Bank zeichnen. Sollte nach der Abwicklung Geld übrig bleiben, dann gehen davon nochmals bis zu drei Milliarden Euro an die SNB.

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Marktdaten 2.2.09Vortag Änd.
MDax(16 Uhr)4996,155098,09 - 2,00 %
TecDax(16 Uhr)468,77485,04 - 3,35 %
Euro Stoxx 50(16 Uhr)2184,042236,98 - 2,37 %
Dow Jones(16 Uhr)7904,418000,86 - 1,21 %
Euro Interbanken(16 Uhr)1,27901,2805 -0,0015 $
Gold je Feinunze * 918,25919,50 - 1,25 $
Brent-Öl je Barrel(16 Uhr)44,7245,88 - 1,16 $
10j. Bundesanl.(16 Uhr)3,273,31 - 0,04**
10j. US-Staatsanl.(16 Uhr)2,802,86 - 0,06**
* Londoner Nachmittagsfixing ** Prozentpunkte
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Bonus über alles

Viele Regionalbanken in Amerika verzichten auf Hilfe, weil das die Managergehälter begrenzt

Von Moritz Koch

New York - Mit ihren jüngsten Bonuszahlungen sind die Wall Street Banken zu weit gegangen. Mehr als 18 Milliarden Dollar haben sie inmitten der Finanzkrise an ihre Mitarbeiter ausgeschüttet. Wohl noch in dieser Woche wird die neue US-Regierung Beschränkungen für Managergehälter in staatlich gestützten Unternehmen beschließen. Doch so verständlich es sein mag, dass der Staat die Löhne in der Finanzbranche nicht subventionieren will - unproblematisch ist das Vorhaben nicht. Mehrere regionale Banken haben bereits entschieden, sich nicht von dem Stabilisierungsfonds der Regierung helfen zu lassen. Sie befürchten, dass der Staat zu starken Einfluss auf ihre Gehaltspolitik und ihre Dividendenzahlungen nehmen würde. Damit gerät das Ziel in Gefahr, den Kreditmarkt wieder in Gang zu bringen.

Das Finanzministerium hat etwa 250 Milliarden Dollar für Kapitalinfusionen reserviert. Gerade finanziell gesunde Banken sollen Geld erhalten, damit sie mehr Kredite vergeben und so die Wirtschaft ankurbeln können. Bisher sind fast 195 Milliarden Dollar ausgezahlt worden, große Teile davon an Provinzbanken, die bei der Finanzierung von Familienunternehmen eine entscheidende Rolle spielen. Doch immer mehr Kreditinstitute ziehen ihre Bewerbungen zurück.

Einige Bankmanager sprechen ihre Sorgen offen aus. "Es gibt Provisionen, die es der Regierung erlauben, einseitig die Regeln zu verändern," sagt Rick Adams, Vorstandsmitglied bei United Bankshares, einer Bank aus West Virginia. Vorige Woche lehnte sie die Hilfszahlung von fast 200 Millionen Dollar ab, die ihr die Regierung überweisen wollte. Als Gründe nannte das Unternehmen Beschränkungen bei Dividendenausschüttungen und "Unsicherheit über die künftigen Auflagen des Programms". Die Versicherung der Regierung, strenge Vorschriften nur bei besonders hilfsbedürftigen Banken anzuwenden, konnte das Management offenbar nicht beruhigen.

Stärke demonstrieren

Auch die Rurban Financial Corporation in Ohio hat ihr Interesse an dem Staatsgeld verloren. Ihr Chef Ken Joyce sagt, das Angebot, vom Staat "billiges Kapital" zu erhalten, habe zunächst verlockend geklungen. Doch die möglichen Eingriffe der Regierung seien beunruhigend. Der Bankensektor sei ohnehin schon stark reguliert, "da erschien es nicht besonders klug", sich zusätzliche Vorschriften machen zu lassen. Insgesamt haben in den USA etwa 320 Banken Hilfen erhalten. Viele weitere haben sich beworben. Doch das ursprünglich anvisierte Ziel, 2000 der insgesamt 8000 Banken des Landes Kapital zuzuführen, wird wohl nicht erreicht. Nicht immer sind die Gehalts- und Dividendenrestriktionen der Grund für die Zurückhaltung der Banken. In einigen Fällen wollen die Institute ihren Aktionären und Gläubiger einfach nur demonstrieren, dass ihre Kapitalausstattung so solide ist, dass sie keine Hilfe nötig haben.

Die Planungen der Regierung von Präsident Barack Obama sehen vor, dass Manager von Unternehmen, die "außergewöhnlich" viel Staatsgeld erhalten, keine Abfindungen mehr bekommen dürfen. Das Topmanagement muss zudem mit einer Absenkung seines Bonuspools um mindestens 40 Prozent rechnen. Einzelheiten wollte Finanzminister Timothy Geithner am Montag unter anderem mit US-Notenbankchef Ben Bernanke und der Chefin des US-Einlagensicherungsfonds FDIC, Sheila Bair, besprechen.

Der Vorschlag, die Gehälter in angeschlagenen Banken auf 400 000 Dollar zu begrenzen - das entspricht Obamas Einkommen - wird offenbar nicht weiter verfolgt. Die Regierung bewegt sich in einem Spannungsfeld. Einerseits muss sie die Vorschriften verschärfen, um das Vertrauen in die Finanzpolitik wieder herzustellen. Andererseits muss sie darauf achten, die Anreize für die Teilnahme nicht komplett zu zerstören.

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Teure Lehren der Geschichte

Die Vereinigten Staaten sammelten in den neunziger Jahren Erfahrungen mit einer Bad Bank

Von Nikolaus Piper

New York - In dieser Woche wird der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner vermutlich seine Pläne zur Gründung einer "Bad Bank" bekannt geben. Das Institut soll den normalen Banken ihre faulen Wertpapiere abnehmen und so deren Bilanzen entlasten. Unklar ist bis jetzt noch, welchen Preis die Bad Bank - und damit der Steuerzahler - für die Papiere bezahlen soll.

Die amerikanische Bankenpolitik glich bisher einer Zickzack-Linie. Im September, kurz nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers, kündigte Finanzminister Henry Paulson seine Pläne für einen Fonds zum Aufkauf fauler Kreditpapiere an - was nichts anderes gewesen wäre als eine Bad Bank. Aus dem Fonds wurde das "Troubled Assets Relief Program" (Tarp) mit einem Volumen von 700 Milliarden Dollar. Das Programm wurde durch den Kongress gepeitscht, doch Paulson verwendete das Geld ganz anders als zunächst angekündigt: nicht für den Kauf von Wertpapieren, sondern für die Rekapitalisierung der Banken.

Zwei Modelle

Nachdem dies nicht den gewünschten Erfolg brachte, muss nun Paulsons Nachfolger Geithner zurück an den Anfang: zur Bad Bank. Der Internationale Währungsfonds (IWF) forderte Geithner regelrecht auf, dies zu tun. Vermutlich wird die Bad Bank vom staatlichen Einlagensicherungsfonds FDIC verwaltet werden. Offen ist neben dem Preis auch die Frage, wo das Geld überhaupt herkommen soll. Theoretisch stünde dafür die zweite Tranche aus dem Tarp-Programm zur Verfügung, also 350 Milliarden Dollar. Aber es ist unklar, ob die Summe reicht, außerdem wird Geithner einen Teil benötigen, um Hausbesitzer vor der Zwangsvollstreckung zu schützen.

Für den Umgang mit gescheiterten Banken gibt es in der US-Geschichte zwei Modelle. Das erste stammt noch aus der Weltwirtschaftskrise. Präsident Herbert Hoover gründete 1932 die Reconstruction Finance Corporation, um Banken vor dem Zusammenbruch zu bewahren und den Kreditfluss in der Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die RFC konnte, mit der Garantie der Regierung im Rücken, Kredite aufnehmen und an Banken und Unternehmen weiterreichen. 1932 vergab die RFC 1,5 Milliarden Dollar, 1933 1,8 Milliarden Dollar.

Nach übereinstimmender Meinung der Historiker war die RFC ein kompletter Fehlschlag, Präsident Hoover gelang es nicht, den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern. Als Hoovers Nachfolger Franklin Roosevelt 1933 Amt antrat, gab es in den meisten Bundesstaaten keine funktionierenden Banken mehr. Die RFC war zu klein für die Aufgabe, sie arbeitete zu langsam und zu bürokratisch.

Mehr Erfolg hatte die amerikanische Regierung Ende der achtziger Jahre mit der Resolution Trust Corporation (RTC), einer Institution, die am ehesten einer Bad Bank glich. Die RTC war 1989 gegründet worden, um die Folgen der Savings- and Loan-Krise in den Griff zu bekommen. Savings and Loan Corporations waren ursprünglich konservative Institute zur Finanzierung von Wohneigentum, vergleichbar deutschen Bausparkassen. Nach einer schlecht vorbereiteten Deregulierung des Sektors 1982 hatten sich die Institute jedoch in eine Spekulationsorgie gestürzt. Es kam zu Betrug und Veruntreuung von Kundeneinlagen. Folge war eine nationale Bankenkrise, die bisher schwerste seit der Weltwirtschaftskrise. Insgesamt gingen über 1600 Institute unter, 764 Manager wurden wegen Betrugs vor Gericht gestellt, 326 wanderten ins Gefängnis, Strafen und Geldbußen über acht Millionen Dollar wurden verhängt. Die RTC übernahm aus dem Bestand der maroden Banken Vermögenswerte, vor allem Häuser und Grundstücke und vermarktete diese später. Das minderte den Verkaufsdruck und stabilisierte die Preise. In den meisten Fällen ging die RTC dabei Partnerschaften mit privaten Investoren ein.

Die Einrichtung trug wesentlich dazu bei, dass das Vertrauen in den Bankensektor zurückkehrte. Allerdings blieben am Ende Kosten von 124 Millionen Dollar, für die die Steuerzahler aufkommen mussten; die Summe entsprach 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eines Jahres. Unter den Objekten, die die RTC damals von bankrotten Banken übernahm, war auch eine Rarität: das Hotel Mount Washington in Bretton Woods, wo 1944 die legendäre Konferenz zur Neuordnung der Weltfinanzen stattgefunden hatte. Eine Gruppe von Investoren aus New Hampshire kaufte das Hotel kurze Zeit danach und renovierte es.

Der Staat und die Banken: Was frühere Rettungskonzepte bewirkten und was Experten kritisieren

Ob Betrug oder Wirtschaftskrise: Um Banken zu retten, musste immer viel Geld eingesetzt werden. Foto:photothek

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Weltbörsen: Mattel-Aktien sacken ab

Die wichtigsten US-Aktienindizes sind mit Verlusten in die neue Handelswoche gestartet. Der Dow Jones notierte nach 45 Handelsminuten um 0,7 Prozent tiefer bei 7950 Punkten. Der S&P 500 verlor 0,3 Prozent auf 823 Zähler. Dagegen stieg der technologielastige Nasdaq Composite um 0,7 Prozent auf 1487 Punkte. Die jüngsten Signale von der Konjunkturseite fielen gemischt aus. So sind in den USA die Konsumausgaben im Dezember den sechsten Monat in Folge gesunken. Der Rückgang fiel höher als prognostiziert aus. Die persönlichen Einnahmen gaben ebenfalls nach, aber weniger stark als erwartet.

Bei den Einzelwerten sackten die Titel von Mattel um knapp 18 Prozent nach unten. Der Barbiepuppen-Hersteller war mit seinem Quartalsgewinn weit hinter den Erwartungen geblieben. Finanztitel wurden erneut von der anhaltenden Unsicherheit über die Zukunft der Branche belastet. So notierten etwa die Aktien der Bank of America mehr als sieben Prozent tiefer.

Der europäische Aktienmarkt präsentierte sich ebenfalls schwach. Der Euro Stoxx 50 um 2,9 Prozent auf 2172 Zähler nach und der Londoner FTSE 100 sank um 2,3 Prozent auf 4054 Punkte.

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"Verluste werden unsichtbar"

Bilanzexperte moniert neue Verschleierungstaktik für Banken

Karlheinz Küting arbeitet als Professor am Institut für Wirtschaftsprüfung an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Er kritisiert die neuen Freiheiten der Banken bei der Bilanzierung.

SZ: Herr Küting, was halten Sie von einer "Bad Bank"?

Küting: Wir wiederholen damit alte Fehler. Jahrelang haben viele Großbanken ihre riskanten Geschäfte in eine Zweckgesellschaft ausgelagert - ein Beispiel ist die IKB. Doch die Haftungsmasse für den Fall, dass es schiefgeht, war nicht in der Bilanz sichtbar. So ist es auch mit einer Bad Bank. Die Verluste sind nicht weg, nur weil man sie isoliert.

SZ: Warum sind die Bankenverluste so hoch?

Küting: Die Bewertung nach dem fairen Wert, dem Fair Value, hat die Krise beschleunigt. Fair Value bedeutet, dass Wertpapiere in der Bilanz zu aktuellen Marktpreisen bewertet und als Gewinn verbucht werden, obwohl sie noch gar nicht geflossen sind. Bei steigenden Börsen steigt der Profit immens an, doch bei fallenden Preisen gibt es eben hohe Verluste.

SZ: Lässt sich das vermeiden?

Küting: Im deutschen Bilanzrecht wäre so etwas nicht möglich. Hier werden in der Bilanz maximal die Anschaffungskosten angesetzt. Bezahlt die Bank eine Million Euro für ein Aktienpaket und verdoppelt sich dessen Wert, dann steht nach deutschem Recht auch weiterhin eine Million Euro in der Bilanz. Das reduziert die Fallhöhe in schlechten Zeiten und macht die Bilanzen stabiler.

SZ: Doch das Fair-Value-Prinzip wurde nun ausgesetzt.

Küting: Ja, solange die Preise fallen, sollen die Regeln nicht mehr gelten. Banken konnten so für das Geschäftsjahr 2008 ihren Abschreibungsbedarf reduzieren, indem sie nicht den aktuellen Marktpreis eines Wertpapiers, sondern einen früheren, viel höheren Preis bilanzierten. Problematisch für die Institute ist jedoch, dass diese Papiere immer noch in der Bilanz stehen und immer weiter abgeschrieben werden müssen. Deshalb fordern sie eine Bad Bank, denn sie wollen buchhalterisch die Verluste unsichtbar machen.

Interview: Markus Zydra

Experte Karlheinz Küting Foto: oh

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Wie Firmen auch im Abschwung wachsen

Veröffentlichen Unternehmen in diesen Wochen Mitteilungen, ist das meistens kein Grund zur Freude für Mitarbeiter und Aktionäre: Viele Betriebe wollen Stellen streichen, die Gewinne sind zum Jahreswechsel eingebrochen. Doch es gibt auch Firmen, denen die Krise scheinbar nichts anhaben kann. Ihre Geschäfte laufen hervorragend - trotz oder gerade wegen des Abschwungs. Diese Unternehmen haben genau das im Angebot, was die Verbraucher wollen: etwa billige Lebensmittel oder preisgünstige Autos. Oder die Produkte der Betriebe sind derart beliebt, dass selbst eine Rezession die Kunden nicht davon abbringen kann, hierfür Geld auszugeben. Und dank der Steuersenkungen haben die Bürger ja wieder mehr Geld zur Verfügung.

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Illustrationen: S. Dimitrov, Fotos: Reuters, dpa, Getty, oh

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Strahlen in der Krise

Nicht alle Branchen müssen leiden: Die Verbraucher bleiben mehr zuhause und wollen sparen. Viele Firmen profitieren davon

Von Karl-Heinz Büschemann

In Köln ist die Stimmung bestens. Dort läuft die Süßwarenmesse, und es gibt keine Anzeichen einer Krise. Bis Mittwoch zeigen 1593 Aussteller aus 65 Ländern ihre Künste, unter anderem präsentieren sie Kuriositäten wie Spargel-Gebäck oder Pumpernickel-Schokolade. Der Süßwarenhandel erwartet für 2009 einen gleichbleibenden Umsatz, behauptet der Branchenverband. Die Kunden hätten trotz Wirtschaftskrise Lust auf Süßes. Das würde Wolfgang Twardawa anders ausdrücken. Der Konsumforscher von der GFK in Nürnberg sagt, die Deutschen verlangen gerade wegen der Krise nach Süßem. Wer sich Sorgen macht um die Zukunft, so seine These, ziehe sich in die eigenen vier Wände zurück, gehe weniger ins Restaurant und genieße das Leben zuhause. Deshalb sei der Lebensmittelhandel ein Gewinner der Krise. "Wenn man sich schon keinen neuen Kühlschrank kauft, soll der alte wenigstens gut gefüllt sein."

Nicht nur Konkursverwalter oder Pfandleiher sind die Profiteure der jetzigen Krise. Ganze Branchen werden sich passabel durch die Flaute bewegen. Roland Döhrn vom Essener Forschungsinstitut RWI hat zwei Formeln bei der Hand. "Je näher eine Branche am Konsumenten ist, desto besser wird es ihr 2009 ergehen", sagt der Ökonom. Das heißt nichts Gutes für Maschinenbauer oder Chemiekonzerne, lässt aber in der Autoindustrie wenigstens ein bisschen Hoffnung auf Erholung keimen. Merksatz Nummer zwei: "Je näher eine Branche am täglichen Konsum ist, desto besser wird sie dastehen." Das könnte für Baumärkte schlechte Zeiten bedeuten. Aber von der Lebensmittelindustrie und vom -handel hört man kaum Klagen.

"Der Lebensmittelhandel wird nicht getroffen", sagt Konsumforscher Twardawa. Der private Verbrauch wird in diesem Jahr noch um ein halbes Prozent wachsen, schätzt die GfK. Doch nicht nur der Handel, auch Dienstleistungen aller Art werden gewinnen, glaubt Christian Dreger vom Berliner Wirtschafts-Forschungsinstitut DIW. Es ist ja noch Geld da, fast die Hälfte der deutschen Haushalte muss sich um die Zukunft nicht sorgen. Sie sind von Rentnern oder Gutverdienern mit sicheren Jobs bewohnt. Es gibt bald ein paar Steuerentlastungen, eine Prämie für Kinder, die Pendlerpauschale wird wieder eingeführt, und im Sommer werden die Renten erhöht. Die niedrigeren Preissteigerungsraten sorgen außerdem für steigende Reallöhne.

"Die Voraussetzungen sind gar nicht so ungünstig", sagt RWI-Experte Döhrn. Erst in der zweiten Jahreshälfte werden die Spielräume enger, wenn die Bedrohung durch mögliche Arbeitslosigkeit die Stimmung der Konsumenten stärker drückt. Schon jetzt zeigt sich allerdings ein Trend zum Billigsegment, nicht nur bei Lebensmitteln. Was für den Lebensmittelkäufer Aldi oder Lidl sind, ist für den Käufer der Wohnungseinrichtung das schwedische Möbelhaus Ikea.

"Auch die Möbelindustrie erhofft sich neue Impulse", berichtet GfK-Forscher Twardawa. Wo sich die Menschen aus Furcht vor der Krise ins Schneckenhaus der eigenen vier Wände zurückziehen, könnten die Einrichter zum Nutznießer werden. "Die Spieleindustrie wird ebenfalls profitieren", sagt der Fachmann. Auch Hersteller von Fertiggerichten könnten zu den Gewinnern zählen, ebenso die Anbieter von Cremes und Haarwaschmitteln: "Man möchte in der Krise wenigstens gut aussehen", sagt der Konsumforscher.

"Die Menschen

möchten wenigstens

gut aussehen."

Wolfgang Twardawa, Konsumforscher

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Dacia: Gewinn dank Staatsprämie

Mit den Wechselwirkungen in der globalisierten Wirtschaft ist das so eine Sache. Wenn noch der Staat verzerrend eingreift, wird es ganz kompliziert. So hat Frankreich Deutschland erst auf die Idee mit der Abwrackprämie gebracht, jedoch die Franzosen lässt die eigene "prime à la casse" kalt, während die Deutschen in einen wahren Kaufrausch geraten - und zwar wenn sie Autos aus dem Hause Dacia erblicken. Und das gehört zum französischen Hersteller Renault. Dacia ist eindeutig Gewinner der Abwrackprämie. Nun wäre es aber falsch zu glauben, Ideengeber Frankreich oder Renault würden von der deutschen Prämie profitieren. Dacia produziert seine Billigautos Logan und Sandero vor allem in Rumänien.

Also profitiert Rumänien? Es ist, wie gesagt, kompliziert. Aus dem rumänischen Pitesti dringt die Nachricht, Dacia wolle ein Viertel der Belegschaft streichen, weil die Kosten zu hoch sind und, nun ja, Nachfrage fehlt. Dacia verkaufte 2008 weltweit 258472 Autos, 28 000 mehr als im Vorjahr. 100000 hätten es laut Plan nur sein sollen. Doch im Januar brach allein in Frankreich der Verkauf um ein Viertel ein. Der Dacia-Rausch ist also ein deutsches Phänomen - und nur bedingt ein Erfolg für die Umwelt. Logan und Sandero halten die Norm von 140 Gramm CO2 pro Kilometer nur mit Ach und Krach ein. kläs

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Süßes gegen den Frust

In der Not hilft Schokolade. Wenn sich Banker in London über die Finanzkrise trösten wollen, finden sie Hilfe bei Selfridges. Das Luxuskaufhaus hat eine Schokolade gegen den Frust im Abschwung entwickelt: Credit crunch, Kreditklemme (Foto), heißen die mit dunklem Schmelz überzogenen Honigwaffeln. Ganz billig kommt der Trost - etwa bei Jobverlust und gekürzten Boni - aber nicht. Die Tüte kostet 3,99 Pfund, gut 4,40 Euro.

Auch in Deutschland greifen Arbeitnehmer in der Krise häufig zu Süßigkeiten: "Manche Menschen trösten sich mit Schokolade, manche mit Lakritz, und die Dritten mit Gummibärchen", sagt Torben Erbrath vom Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie. Die Branche profitiert, der Appetit auf Schokolade, Fruchtgummi und Kekse hat zuletzt zugelegt: Der Einzelhandel verbuchte im vergangenen Jahr ein Umsatzplus von vier Prozent bei Süßwaren. Im Schnitt verzehrte jeder Deutsche mehr als 31 Kilogramm Süßes und ließ mehr als 112 Euro im Laden.

Das soll auch 2009 so bleiben: "Süßwaren sind relativ konjunkturunabhängig", sagt Hans Strohmaier, Geschäftsführer des Verbands Sweets Global Network. Haribo-Chef Hans Riegel betont ebenfalls, seine Firma spüre nichts vom Abschwung. Wer in Deutschland aus Krisenfrust zu Schoko greifen will, der sei auf die Confiserie Hussel verwiesen: Dort gibt es eine Trinkschokolade mit dem schönen Namen "Seelenstreichler". läs

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Apple: Vorbild für die Branche

Handyhersteller wie Nokia oder Motorola leiden: Die Kunden zögern beim Kauf von Mobiltelefonen. Bei Computerbauern wie Dell, Fujitsu Siemens Computers oder Lenovo kein besseres Bild: Der PC-Markt wächst so langsam wie seit 2002 nicht mehr. Auch Musikspieler wie der Zune von Microsoft bleiben in den Regalen liegen. Der Umsatz mit dem MP3-Gerät des Softwareherstellers brach im Weihnachtsquartal um mehr als die Hälfte ein. Sind Handy, PC und MP3-Spieler Verlierer der Wirtschaftskrise?

Wer einen Blick auf Apple wirft, könnte diese Frage für unsinnig halten. Im vierten Quartal hat der kalifornische Konzern erstmals in der 33-jährigen Firmengeschichte mehr als zehn Milliarden Dollar umgesetzt - mit iPhone-Handys, Mac-Computern und iPod-Spielern. Von der Branchenkrise spürt die Firma nichts. Der Konzern um Mitgründer Steve Jobs hat es wie kein zweiter Anbieter verstanden, den Nerv der Kunden zu treffen: komplexe Produkte, aber einfach zu benutzen, hübsch anzusehen - und deshalb einen Aufpreis wert. Die Geräte sind eng verknüpft: Wer erst mal einen iPod nutzt, ist schnell zum Umstieg auf Mac und iPhone überredet. Dazu hat Apple Kultstatus. Mit religiösem Eifer geführte Debatten im Internet zeigen, dass Apple-Fans wohl lieber auf das tägliche Brot verzichten als auf das neueste Spielzeug der Firma. rdl

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Xing: Ein Netz voller Kontakte

Der Gründer von Xing, der Internet-Plattform für Geschäftskontakte, hat Weitsicht bewiesen. "Einer anhaltenden Finanzmarktkrise folgen zwangsläufig weitere Krisen in anderen Branchen", schrieb Lars Hinrichs schon vergangenen November in einem Brief an die Aktionäre. "Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten bieten wir unseren Mitgliedern vielseitige Chancen, ihr berufliches Netzwerk zu erweitern." Seit gut zwei Wochen führt Stefan Groß-Selbeck nun das deutsche Internet-Unternehmen - und profitiert vom Konjunkturtief wie sein Vorgänger Hinrichs, der im Mai für den Aufsichtsrat kandidiert.

Seit dem Börsengang Ende 2006 hat Xing sieben Quartale in Folge ein Plus bei den Nutzern verzeichnet. "Die Mitgliederzahlen entwickeln sich aktuell sehr erfreulich - sicher auch wegen des Wirtschaftsabschwungs", sagt ein Sprecher. Genaue Zahlen darf er nicht nennen, denn das Unternehmen zieht erst Ende März Bilanz. Doch der Aktienkurs spricht Bände: Seit dem Rekordtief Anfang November ist das Papier in einem schlechten Umfeld um fast 20 Prozent gestiegen. In Zeiten, in denen viele Firmen Stellen streichen, knüpfen Nutzer virtuelle Kontakte vor allem mit ihren (Noch-)Kollegen. "Jetzt werden viele Alumni-Gruppen gegründet", erklärt der Xing-Sprecher. Das sei auch direkt nach der Pleite der Lehman-Bank der Fall gewesen. rdl

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Arbeit für Berater

Wenn Jobs in Gefahr geraten, suchen Unternehmen und Mitarbeiter den Rat von Fachleuten

Von Sibylle Haas

München - Arbeitsrechtler haben derzeit Hochkonjunktur. "Arbeitgeber wollen wissen, wie sie die Personalkosten in den Griff bekommen, ohne mit dem Arbeitsrecht anzuecken. Das betrifft das ganze Instrumentarium, angefangen bei Kurzarbeit bis zur Kündigung", sagt Dirk Schreiner, Rechtsanwalt für Arbeitsrecht der Kanzlei Dr. Schreiner und Partner, die ausschließlich Arbeitgeber berät. "Wir haben rund 30 Prozent mehr Arbeit als vor einem Jahr."

Auch viele Arbeitnehmer lassen sich von Anwälten helfen, wenn sie die Kündigung erhalten. Deshalb kommen auch auf die Arbeitsgerichte harte Zeiten zu. "Wir erwarten eine Klagewelle", sagt Joachim Vetter, der Vorsitzende des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit. Immer mehr Arbeitnehmer, denen wegen schlechter Auftragslage gekündigt werde, versuchten, sich gerichtlich gegen die Kündigung zu wehren, berichtet Vetter. Im Dezember habe es schon eine deutliche Steigerung der Klagen gegeben. Der Trend habe sich im Januar fortgesetzt.

"In den Verfahren wird härter gefochten als sonst", beobachtet Vetter außerdem. Arbeitnehmer ließen sich in der Rezession nicht so schnell auf eine Abfindung ein wie im Aufschwung, weil die Chancen, einen neuen Job zu finden, schlecht seien. Deshalb sei es schwierig, einen Vergleich zu finden. Die Verfahren dauerten daher in der Krise länger. Einige Arbeitsgerichte, vor allem in Westdeutschland, seien bereits überlastet.

Mehr Anfragen

Personalberater profitieren von der Wirtschaftskrise. "Seit ungefähr drei Monaten stellen wir in bestimmten Beratungsbereichen eine deutliche Steigerung an Anfragen und Aufträgen fest", berichtet Eberhard von Rundstedt, Vorsitzender der Geschäftsführung der Beratungsgesellschaft von Rundstedt. Das Unternehmen hilft Firmen bei der Entlassung von Mitarbeitern und bei der Gründung von Transfergesellschaften. Transfergesellschaften sollen Mitarbeiter einer Firma, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind, in neue Jobs vermitteln. Die in die Transfergesellschaft eingetretenen Mitarbeiter erhalten Kurzarbeitergeld von der Bundesagentur für Arbeit. Es beträgt bei Arbeitnehmern mit Kindern 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens, sonst 60 Prozent.

"In der derzeitigen Wirtschaftskrise beauftragen uns immer mehr Arbeitgeber mit der Gründung von Transfergesellschaften, um den Stellenabbau so sozialverträglich wie möglich zu machen", sagt Jens-Peter Paulsen, Geschäftsführer von m.o.v.e. hr. Seit mehr als 13 Jahren unterstützt er Unternehmen wie den Chemiekonzern Dupont, die Dresdner Bank oder den Ölkonzern BP bundesweit dabei, Entlassungen sozialverträglich zu gestalten. "Im vergangenen Jahr haben wir allein in den zwei Wochen vor Weihnachten so viele Aufträge bekommen wie sonst im ganzen Jahr nicht", sagt Paulsen.

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Boom mit Blaubeerwaffeln

Werden die Zeiten härter, gehen die Käufer eher zu Discountern wie Aldi und Lidl

Von Silvia Liebrich

München - Die Liste der Sonderangebote im Internet ist übersichtlich und entspricht ganz dem amerikanischen Geschmack: Blaubeerwaffeln gibt es diese Woche in den US-Filialen von Aldi für 1,15 Dollar je Packung, eine Schachtel mit zwölf tiefgefrorenen Donuts ist für 1,99 Dollar zu haben. Deutsche Discounter sind auf dem Vormarsch, nicht nur auf dem heimischem Markt, sondern auch im Ausland. Sie profitieren von der weltweiten Rezession, die immer mehr Verbraucher rund um den Globus zum Sparen zwingt, vor allem auch beim Essen. Allein Aldi wird in diesem Jahr voraussichtlich 100 neue Filialen in Übersee eröffnen, und auch dessen deutscher Konkurrent Lidl expandiert kräftig.

Vor allem das Auslandsgeschäft verspricht hohe Umsatzzuwächse, nachdem Deutschland mit einem Discounter-Anteil von 43 Prozent als weitgehend ausgereizt gilt. Besonders in den USA, Großbritannien, der Schweiz und Spanien boomt derzeit das Geschäft der Billiganbieter. Bei vielen ausländischen Konsumenten, die bislang den Weg zum Discounter scheuten, setzt nach Einschätzung von Konsumforschern ein Umdenken ein. Zwar fahren die wenigsten ihre Ansprüche an gesunde Lebensmittel zurück. "Doch die Kunden schwenken problemlos auf Discounter über, das hat sich schon bei früheren Krisen gezeigt", stellt der GfK-Konsumforscher Wolfgang Twardawa fest.

Chancen im Ausland

Deutsche Billiganbieter zählen inzwischen auch auf internationaler Ebene zu den Schwergewichten. Einer Studie der Unternehmensberatung Deloitte zufolge befinden sich drei deutsche Händler unter den Top Ten, darunter Aldi und Lidl, die Marktführer im deutschen Discounthandel. Während die Schwarz-Gruppe, zu der Lidl gehört, am Umsatz gemessen Rang sieben belegt, schaffte es Aldi auf den zehnten Platz. Auf Platz vier rangiert der Metro-Konzern.

Der Zulauf bei den Billiganbietern setzt auch die Zulieferer in der Lebensmittelindustrie unter Druck. Die Gewinnmargen der Nahrungsmittelproduzenten sind wegen des hohen Discounter-Anteils in Deutschland so niedrig wie in kaum in einem anderen Land. Zwar wuchs der Umsatz deutscher Hersteller 2008 insgesamt um 5,6 Prozent auf 155 Milliarden Euro, das Plus stammt jedoch fast ausschließlich aus dem florierenden Auslandsgeschäft.

Auch beim Bundesverband der Ernährungsindustrie (BVE) räumt man ein, dass das Auslandsgeschäft für viele Unternehmen der wichtigste Wachstumstreiber ist. Die deutschen Hersteller gelten im Ausland als konkurrenzfähig, denn der starke Preisdruck seitens des deutschen Handels zwang viele Unternehmen in den vergangenen Jahren dazu, ihre Prozessabläufe und Kosten zu optimieren. Der BVE geht deshalb davon aus, dass die 530 000 Arbeitsplätze in der Nahrungsmittelindustrie krisenfest sind.

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Oettinger: Erfolg mit Billig-Bier

Das Brauereigeschäft zählt hierzulande nicht gerade zu den Wachstumsbranchen: Von Jahr zu Jahr wird weniger Bier getrunken. Die Hersteller kämpfen mit Überkapazitäten und steigenden Kosten. Es gibt jedoch auch Produzenten, die es in einem schrumpfenden Markt schaffen, ihren Marktanteil auszubauen. Dazu gehört die schwäbische Oettinger-Brauerei. Sie liefert das meistgetrunkene Bier Deutschlands und setzte allein im vergangenen Jahr 6,61 Millionen Hektoliter ab. Damit lag sie deutlich vor Krombacher mit 5,45 Millionen Hektoliter. Billiganbieter wie Oettinger bedrängen zunehmend die Hersteller von Premiummarken, deren Biere auch deshalb teuer sind, weil Verbraucher die Kosten für aufwendige und kostspielige Marketingkampagnen mittragen müssen.

"In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sind viele Konsumenten dazu einfach nicht mehr bereit", sagt ein Brancheninsider. Das Geschäftsmodell von Oettinger funktioniert auch deshalb gut, weil der Handel direkt beliefert wird. Die Gewinnspannen des Großhandels entfallen damit. Auf Werbung wird verzichtet. Oettinger trägt deshalb in der Branche den Titel "Bier-Aldi". Das Unternehmen gilt als Beispiel dafür, dass eine Biertradition, die immerhin bis auf das Jahr 1333 zurückgeht, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Bestand und sogar Erfolg haben kann. slb

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In die Jahre gekommen

Sie wird in diesem Jahr 50, doch außer Ken reißt sich offenbar kaum mehr jemand um Barbie (Foto: AP). Ein schlechtes Geschäft mit dem Puppen-Klassiker hat dem US-Spielzeugkonzern Mattel im Weihnachtsquartal einen Gewinneinbruch verschafft. So verdiente der Konzern nur noch 176 Millionen Dollar und damit 46 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Aktie des Herstellers verlor auf die Nachricht hin fast ein Fünftel an Wert. Mattel sei gegen die Wirtschaftskrise nicht immun, sagte Konzernchef Robert Eckert am Montag im kalifornischen El Segundo. Barbie leidet aber auch unter der Konkurrenz der "Bratz"- Puppen des Wettbewerbers MGA. dpa

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Kommentare

Schlecht, satt und faul

Wer den Welthandel blockiert, verschlimmert die Wirtschaftskrise

Von Alexander Hagelüken

Jahrelang waren sie unsichtbar. Hatten sich weggeduckt, versteckt, während die Globalisierung scheinbar unaufhaltsam voranschritt. In der Krise tauchen sie auf einmal wieder auf, die Gegner des freien Handels. Die USA wollen bei ihrem Konjunkturpaket den Kauf heimischer Waren vorschreiben (Buy American), Russland verteuert ausländische Autos, Indien fremden Stahl. Das ist der offene Protektionismus. Dazu kommt, dass Regierungen angeschlagene Firmen subventionieren, auf diese Weise den internationalen Wettbewerb verzerren - und das Klima zwischen den Exportnationen vergiften. Es droht ein Handelskrieg, der nur Verlierer hinterlässt, denn eines ist gewiss: Der Protektionismus wird die Nöte der einzelnen Länder nicht lindern, sondern verschlimmern.

Warum die Regierungen Importe blockieren, liegt auf der Hand. Sie wollen ihren Bürgern demonstrieren, dass sie etwas gegen die Krise tun. Dass sie weniger ratlos sind, als es in Wahrheit der Fall ist. Die Turbulenzen des Finanzsystems sind so schwer verständlich wie hartnäckig, die Konjunkturprogramme werden den Abschwung womöglich kaum bremsen. Eine brutale Zollerhöhung dagegen hat den Vorteil, schnell und eindeutig zu wirken: Die ausländische Ware wird unattraktiv, heimische Produkte haben auf einmal bessere Chancen. So lassen sich Wähler beruhigen, weil die Regierung scheinbar Arbeitsplätze sichert.

Die Sicherung der Jobs ist aber eine Fiktion. Protektionismus hat zwei negative Effekte, die alle kurzfristigen Vorteile überwiegen. Erstens werden Unternehmen schlecht, satt und faul, wenn sie keine Konkurrenz mehr haben. Das Nachsehen haben der Kunde und die ganze Volkswirtschaft. Zweitens bleibt Protektionismus selten einseitig. Regierungen übertreffen sich nach dem Motto: Magst du meine Hormonrinder nicht mehr essen, lasse ich deinen Käse im Container verschimmeln. Das führt zu skurrilen Episoden wie dem sogenannten BH-Krieg von 2005, als europäische Häscher chinesische Wäschestücke an den Grenzen abfingen. Die wirtschaftlichen Ergebnisse sind weitaus weniger lustig. Wenn die Exporte auf allen Seiten zurückgehen, fällt der Konjunkturtreiber aus, der dem Erdball in den vergangenen Jahren einen ungeahnten Wohlstand bescherte.

Protektionismus sichert keine Arbeitsplätze, er vernichtet sie. Der Welthandel dürfte 2009 ohnehin zum ersten Mal seit Anfang der neunziger Jahre schrumpfen. Ein Wettlauf um Handelsschranken wird diese Bilanz noch schlechter ausfallen lassen und die Rezession vergrößern.

Es bahnt sich ein Rückfall in die dreißiger Jahre an. Nach dem Börsencrash 1929 sperrten amerikanische Politiker ausländische Produkte aus. Die anderen Nationen schlugen zurück, der Welthandel schrumpfte auf ein Drittel seines bisherigen Umfangs - und die Industrienationen versanken in tiefer Depression. Es endete eine Ära der Globalisierung, die im 19. Jahrhundert begonnen und die Menschen reicher und freier gemacht hatte. Es endete ein Zeitalter, in dem der Brite "seinen Morgentee im Bett schlürfen und dabei per Telefon Produkte aus der ganzen Welt ordern sowie sein Vermögen in jedem Winkel des Erdballs mehren konnte", wie der Ökonom John Maynard Keynes schrieb.

Ein solch radikaler Rückschlag wie in den dreißiger Jahren droht heute wohl nicht. Dafür sind die Industrienationen schon zu sehr verflochten. Und die Politiker sind auch liberaler als damals. Wie der Aufschwung des Protektionismus beweist, sind sie aber nicht liberal genug. US-Präsident Barack Obama sollte seinen Flirt mit den Feinden des Freihandels rasch beenden, die Welthandelsorganisation Indien und China rügen - und Europa darauf verzichten, die Exporte seiner Milchbauern zu subventionieren. Es wäre notwendig, die Konjunkturprogramme international zu koordinieren, um die Wettbewerbsverzerrungen gering zu halten. Es wäre wichtig, endlich das Welthandelsabkommen abzuschließen, an dem seit 2001 gefeilt wird. Doch dies sind alles fromme Wünsche. Jetzt regieren die Protektionisten, und ihre Ergebnisse werden schrecklich sein.

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EZB arbeitet an Leitlinien für Bad Banks

Frankfurt/Brüssel - Die Europäische Zentralbank (EZB) arbeitet derzeit in enger Abstimmung mit der Europäischen Kommission an Leitlinien für sogenannte "Bad Banks" in den Mitgliedsstaaten der Union. Die Richtlinien sollen Standards für die Auslagerung fauler Kredite und toxischer Papiere aus den Bankbilanzen beinhalten, bestätigte eine Sprecherin der Notenbank. Darüber hinaus gehe es auch um die Ausgestaltung staatlicher Garantien für Risiken in den Bilanzen, die auf den ersten Blick verschwindend klein seien, aber unter Umständen enorme Folgen haben könnten.

In vielen Ländern wird derzeit über die Einrichtung von Bad Banks nachgedacht. Sie könnten riskante Wertpapiere und Kreditforderungen von den Banken übernehmen und so für saubere Bilanzen bei den Instituten sorgen. Befürworter hoffen, dass dadurch die sich verstärkende Welle aus immer neuen Abschreibungen und gegenseitigem Misstrauen der Banken zum Stillstand kommt. Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnt allerdings eine zentrale Bad Bank für die deutschen Banken bislang unter Hinweis auf die Risiken für den Steuerzahler ab. Dagegen dürfte eine Bad Bank in den USA in den kommenden Wochen wohl Realität werden. (Seite 23) Reuters

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Teures Rettungspaket

Die beiden Konjunkturpakete der Regierung haben insgesamt ein Volumen von rund 80 Milliarden Euro in den Jahren 2009 und 2010. Hinzu kommt die rückwirkend geltende Wiedereinführung der Pendlerpauschale, die die Einnahmen um weitere acht Milliarden Euro schmälert. Damit gibt der Staat eine Summe aus, die jeweils rund 1,75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmacht. Der Europäische Rat hatte pro Land Konjunkturmaßnahmen von rund 1,5 Prozent des nationalen BIP gefordert. gwb

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Erst Banken, dann Staaten

Die Krise Russlands könnte auch zur Gefahr für den Westen werden

Von Ulrich Schäfer

Alle reden darüber, wie man die Banken in Europa oder Amerika rettet. Tatsächlich jedoch gibt es in dieser Weltwirtschaftskrise ein zweites, mindestens ebenso gewichtiges Problem: dass ganze Staaten kollabieren. Russland etwa. Oder im schlimmsten Fall gar China. Unmöglich? Undenkbar? Nein, keineswegs.

Bereits im vergangenen Oktober gerieten etliche Länder in Not. Erst Island, dann Pakistan, Ungarn, Weißrussland und die Ukraine. Sie alle litten darunter, dass ihr Aufschwung vor allem auf dem flüchtigen Kapital ausländischer Investoren basierte, das im Krisenfall schnell verschwindet. Auch Russland leidet unter diesem Phänomen, wobei hier zwei Aspekte hinzukommen. Der erste: Zu den ausländischen Investoren zählen auch zahlreiche Russen, die ihr Geld in den Jahren zuvor in Briefkastenfirmen in Steuerparadiese geschafft haben. Von dort floss es zurück in Firmen und Aktien, in gewagte Geschäfte. Der zweite Aspekt: Russlands Boom hing nicht nur am Kapital der Ausländer, sondern am Export von Öl und Gas - doch die Preise dafür fallen seit Monaten.

Dem Reich von Putin und Medwedjew droht deshalb ein gewaltiger Abschwung. Immer mehr Geld verlässt das Land, und so verliert auch die Währung zusehends an Wert. Längst haben Spekulanten erkannt, dass sie mit Wetten gegen den Rubel viel Geld verdienen können; denn die Reserven der Zentralbank reichen womöglich nur noch wenige Monate. 1998 haben die Währungsspekulanten Russland bereits einmal in den Bankrott getrieben. So könnte es auch diesmal enden - mit dem Unterschied, dass Russlands Bedeutung für die Weltwirtschaft inzwischen kräftig gewachsen ist. Mithin wären die Folgen weit gravierender.

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Billig lohnt sich

Die Lebensmittelindustrie profitiert vom Preisdruck der Discounter

Von Silvia Liebrich

Billiganbieter wie Aldi und Lidl gehören zu den großen Profiteuren in Krisenzeiten. Das zeigt einmal mehr die derzeitige Rezession. Als sicher gilt schon heute, dass die Billigketten zu den großen und wenigen Gewinnern dieser Krise gehören werden. Im Sog dieses Erfolgs könnte jedoch auch eine andere Branche einen ungeahnten Aufschwung erleben: die deutsche Lebensmittelindustrie - ausgerechnet jene Branche, die in den vergangenen Jahren so heftig über den wachsenden Druck der Billiganbieter klagte.

Die Hälfte aller Lebensmittel wird in Deutschland inzwischen bei Aldi, Lidl und Co. verkauft. Das ist im internationalen Vergleich absolute Spitze. Doch damit wächst die Verhandlungsmacht der Discounter gegenüber ihren Lieferanten. Sie wollen zu immer günstigeren Konditionen beliefert werden und das vor allem auf Kosten der Lieferanten, die sich mit niedrigeren Abnahmepreisen und Gewinnen zufrieden geben müssen. Dem Preisdiktat der Discounter können sich immer weniger Lebensmittelhersteller entziehen. Denn wer nicht in den Regalen der Billiganbieter steht, riskiert empfindliche Umsatzeinbußen.

Unter dem starken Kostendruck haben viele Nahrungsmittelhersteller in den vergangenen Jahren ihre Produktionsprozesse optimiert und sind damit konkurrenzfähiger geworden, auch international. Dies zahlt sich nun aus. Das zeigt auch der wachsende Auslandsumsatz der deutschen Lebensmittelindustrie. Er stieg 2008 um 15 Prozent. Viele deutsche Hersteller profitieren nun dank Aldi und Lidl davon, dass es Konkurrenten im Ausland in den vergangenen Jahren versäumt haben, ihre Kosten zu senken. (Seite 20)

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Prognose der Bundesregierung

Schulden steigen drastisch

Die Wirtschaftskrise wird die öffentlichen Kassen noch auf Jahre hin gewaltig belasten

Von Guido Bohsem

Berlin - Der Kampf gegen die Rezession wird Deutschland deutlich länger und tiefer in die Verschuldung reißen als angenommen. Nach Berechnungen des Finanzministeriums wird der Schuldenstand im Jahr 2012 auf mehr als 72 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) anwachsen, etwa elf Punkte mehr als noch im Dezember angenommen.

Das geht aus dem überarbeiteten Stabilitätsprogramm hervor, das die Bundesregierung in der vergangenen Woche an die EU-Kommission in Brüssel geschickt hat. Die Regierungen unterrichten die Brüsseler Behörde mit den Programmen gewöhnlich zweimal im Jahr über die Entwicklung der Neuverschuldung und den Schuldenstand, zuletzt im Dezember. Die Aktualisierung des Papiers war durch die dramatisch verschlechterten wirtschaftlichen Aussichten notwendig geworden.

Der massive Anstieg der Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung entsteht zum einem durch das Schrumpfen des BIP. Die Bundesregierung geht hier von einem Minus von 2,25 Prozent aus. Der Anstieg der Kredite ist aber vor allem eine Folge der beiden Konjunkturprogramme, für die der Staat in den Jahren 2009 und 2010 fast 90 Milliarden Euro ausgeben möchte. Geld, das er vor allem durch zusätzliche Kredite finanziert. Der Vertrag von Maastricht sieht eigentlich eine maximale Verschuldung von 60 Prozent des BIP vor. Sie zeigt vor allem die langfristigen Schwierigkeiten eines Staates auf, denn dieser muss die aus den Schulden entstehenden Zinszahlungen ja laufend bedienen.

Die Neuverschuldung wird durch die Wirtschaftskrise und die Konjunkturprogramme in den Jahren 2009 und 2011 bei etwa drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen und damit gefährlich nahe an der im europäischen Stabilitätspakt vorgesehenen Obergrenze.

Im Jahr 2010 wird die Bundesrepublik diese Marke deutlich reißen. Dann wird die Neuverschuldung nach der Unterlage bei etwa vier Prozent des BIP liegen. Erst 2012 sinkt die Neuverschuldung aller öffentlichen Haushalt wieder auf einen Wert von 2,5 Prozent. Zum Vergleich, 2007 und 2008 hatte es der Staat geschafft, erstmals seit fast 20 Jahren ganz ohne neue Schulden auszukommen. Nach dem Szenario dürfte es nahezu ausgeschlossen sein, in der kommenden Legislaturperiode einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen und gleichzeitig die Steuern zu senken, wie dies die CDU am Montag erneut ankündigte.

Das Finanzministerium weist in seinem Stabilitätsprogramm ausdrücklich darauf hin, dass die Berechnungen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind. So werde davon ausgegangen, dass der konjunkturelle Einbruch auf das laufende Jahr beschränkt bleibe. Demzufolge werde die Arbeitslosigkeit nur verhältnismäßig gering steigen, was die Einnahmeausfälle für die Sozialversicherungen in Grenzen halte. Dauere die Krise länger an, verschlechtere sich auch die Lage der öffentlichen Kassen. Zudem bestehe das Risiko, dass Garantien fällig würden, die der Bund an Industrieunternehmen vergebe.

Die Haushaltsexperten der Koalitionsfraktionen bezeichneten die Zahlen als Alarmsignal. Der Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider (SPD) sagte, sie belegten, in welcher Ausnahmesituation sich das Land befinde. "Insbesondere der Schuldenstand zeigt, dass wir uns mit den vorgeschlagenen Maßnahmen an der Grenze der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft bewegen." Auch sein Amtskollege von der Union, Steffen Kampeter (CDU), verwies auf die Dramatik der Lage. "Das ist eine katastrophale Verschlechterung der Haushaltslage des Landes." Beide forderten daher Bund und Länder auf, sich möglichst schnell auf eine im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse zu verständigen.

"Die Zahlen belegen eindrucksvoll die Notwendigkeit einer Schuldenbremse", sagte Kampeter weiter. Er rufe deshalb Bund und Länder zum gemeinsamen Handeln auf, "um den fiskalischen Missbrauch künftiger Generationen zu verhindern. Schneider appellierte an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Ministerpräsidenten der unionsregierten Länder auf den Beschluss einer Schuldenbremse einzuschwören.

Schneider erteilte zudem den Forderungen der CDU nach Steuersenkungen eine scharfe Absage: "Steuersenkungen und Schuldenabbau passen nicht zusammen", sagte er. Die CDU stelle mit ihren Aussagen die letzten Reste ihrer finanz- und wirtschaftspolitischen Kompetenz zur Disposition

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INHALT

PERSONALIEN

Von Reagan zu Obama

Ex-Notenbankchef Paul Volcker berät den neuen US-Präsidenten. Seite 18

POLITIK UND MARKT

"Eine bittere Lektion"

Interview mit dem Chef des UN-Klimaprogramms, Yvo de Boer Seite 19

UNTERNEHMEN

Im Abschwung wachsen

Es gibt noch Unternehmen, denen die Krise nichts anhaben kann. Seite 20

GELD

Teure Lehren der Geschichte

Amerika sammelte schon in den 90ern Erfahrungen mit einer Bad Bank. Seite 23

Kursteil Seiten 22 und 24

Fondsseiten Seiten 24 und 25

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Kurse des Tages

Eine Reihe von Ländern feilt an Konzepten für Bad Banks, die Kreditinstitute von hochriskanten Wertpapieren befreien sollen. Noch wird gestritten, wie genau die Deponien für toxische Anlagen aussehen sollen - oder ob nicht besser gleich die Geldhäuser verstaatlicht werden. Den Aktionären behagt das nicht: Sie stoßen Bankaktien ab. (Seite 23)

Der verschuldete britisch-australische Minenkonzern Rio Tinto ist mit China in Gesprächen über eine Finanzspritze. Das Unternehmen verhandelt mit dem staatlichen Aluminiumkonzern Chinalco über einen "möglichen Minderheitsanteil" und den Kauf von Wandelanleihen. Der Erfolg der Gespräche ist ungewiss, der Aktienkurs legte zu. (Seite 21)

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Der Rubel rutscht

Russlands Regierung verbrennt Devisen, um den Fall der Währung zu stoppen

Von Sonja Zekri

Moskau - Der Rubel rutscht trotz milliardenschwerer Stützungskäufe in die Nähe einer psychologisch wichtigen Marke. Seit August hat die russische Zentralbank 200 Milliarden Dollar und damit ein Drittel ihrer Währungsreserven in Stützungskäufe investiert, dennoch näherte sich die russische Währung am Montag einer erst vor wenigen Wochen proklamierten Untergrenze. Im Januar hatte die Notenbank garantiert, dass der Rubel innerhalb einer Spanne von 26 bis 41 Rubel für einen Korb aus Euro und Dollar bleibt. Am Montag aber lag das Verhältnis für das Währungsgemisch bei 40,80 Rubel.

Vor elf Jahren hatten der Staatsbankrott und die radikale Abwertung des Rubel über Nacht das Vermögen von Millionen vernichtet. Um eine Panik unter den Sparern zu vermeiden, hat sich die russische Führung diesmal zu einer allmählichen Anpassung entschlossen. Seit Herbst wurde der Rubel über 20-mal abgewertet, insgesamt hat er 30 Prozent verloren. Analysten vermuten, dass Spekulanten auf die Abwertung des Rubel setzen und die Währung unter Druck setzen. Mit Spannung wird deshalb erwartet, was sich die Zentralbank die Verteidigung ihrer selbstgesetzten Marke von 41 Rubel für den Euro-Dollar-Korb in den nächsten Tagen kosten lässt. Dass der Rubel eine internationale Leitwährung wird, wie es der russische Präsident Dmitrij Medwedjew noch vor Monaten propagierte, ist heute undenkbar.

Verglichen mit der auftrumpfenden Haltung der Vorjahre ist die russische Führung ohnehin kleinlaut geworden. Auf dem Wirtschaftstreffen in Davos verzichtete Premierminister Wladimir Putin fast auf seine gewohnten Ausfälle gegen den Westen und warnte zum Erstaunen aller stattdessen vor dem schädlichen Einfluss des Staates in der Wirtschaft. In Wahrheit gelten die Verquickung von Staat und Wirtschaft, die Bildung riesiger staatlicher Industriekonglomerate auf oberster Ebene und behördliche Willkür auf unterer als ein Grund für die Kapitalflucht.

Im vergangenen Jahr haben ausländische Investoren 130 Milliarden Dollar abgezogen, hat Finanzminister Alexej Kudrin zugegeben. In diesem Jahr rechnet er mit einer Kapitalflucht von bis zu 110 Milliarden Dollar. Für ein Land mit schwacher Infrastruktur und dünner Kapitaldecke ist das ein herber Schlag. Dabei hat gerade die Krise gezeigt, wie eng Russland inzwischen mit dem Westen verbunden ist: Ausländische Investoren besaßen große Anteile an russischen Unternehmen, nach ihrer Flucht ging der russische Aktienmarkt in die Knie. Ohne ausländische Geldgeber und ausländisches Know-how aber kann Russland seine Gas- und Ölreserven nicht erschließen. Zudem haben russische Unternehmer ihre internationalen Einkaufstouren mit Krediten in London oder New York finanziert, nun hoffen sie auf den russischen Staat, der ihre Verbindlichkeiten übernehmen soll.

Russlands Wirtschaft wird nach zuletzt sieben Prozent Wachstum in diesem Jahr schrumpfen. Auf Putins Anweisung berechnet Kudrin gerade einen Nachtragshaushalt, der nicht mehr von 95 Dollar pro Barrel Öl ausgeht, sondern von 41. Die politischen Folgen sind nicht absehbar. Am Wochenende hatten in ganz Russland Tausende Menschen demonstriert. Die Zahl der Arbeitslosen ist bislang nur moderat gestiegen, dafür haben viele Unternehmen auf Kurzarbeit umgestellt oder zahlen keine Löhne. Bislang bemüht sich die Regierung, Kürzungen bei den Sozialausgaben zu vermeiden, sie hat ein Programm zur Belebung des Arbeitsmarktes aufgelegt. Am Freitag aber erklärte der erste Vizepremier Igor Schuwalow, die Regierung werde "höchstwahrscheinlich" ihre Ausgaben kürzen. (Kommentare)

Der Verfall des Rubel macht das Leben teuer: Eine Frau zählt das Wechselgeld nach dem Einkauf. Foto: Reuters

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Heute in der SZ

Reich an allen Übeln

Die Hauptstadt des Sudan boomt - dank Öl-Milliarden und der Hilfe Chinas.

Von Arne Perras 3

Der neue Irak

Wahlen ohne Gewalt sind ein großer Erfolg für die Regierung in Bagdad.

Leitartikel von Tomas Avenarius 4

Peinliche Verwandtschaft

Kiffende Brüder, randalierende Söhne, hellsehende Mütter - die schwarzen Schafe der Familie. 9

Glibbriger Abgrund

Die intellektuellen Folgen des katholischen Debakels. Von Gustav Seibt 11

Immer schön cool bleiben

Alle haben Gefühle, aber niemand zeigt sie: Woher es kommt, dass schon Kinder ihre Emotionen kontrollieren. 16

Auf spitzen Zehen

Dank eines späten, akrobatischen Passfangs gewinnt Arizona die Super Bowl. Von Christoph Leischwitz 29

Begehrt, begehrter, München

Investoren wählen die Stadt neben Hamburg zum Top-Immobilienstandort in Europa. Von Alfred Dürr 30

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Gute Aussichten auf eine Lehrstelle

Berlin - Die Wirtschaft hat 2008 etwa 86 500 neue Ausbildungsplätze geschaffen. Damit wurden die Zusagen übertroffen, im Rahmen des Ausbildungspakts jährlich 60 000 Lehrstellen neu zu schaffen. Dennoch ging die Zahl der Ausbildungsverträge auf 616 300 zurück. Das sei ein Minus von 9600 im Vergleich zu 2008, teilten Arbeitgeber und Bundesregierung mit. Derzeit seien noch 6000 Bewerber unversorgt. (Seite 6) dku

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Weltliche Parteien behaupten sich im Irak

Bagdad - Bei den Regionalwahlen im Irak haben ersten Trends zufolge säkulare Parteien hinzugewonnen, während religiöse Parteien Verluste erlitten. Offizielle Zahlen gab es am Montag noch nicht. In den schiitischen Regionen zeichnete sich eine Stärkung des Regierungslagers ab. Die Kandidaten, die Ministerpräsident Nuri al-Maliki unterstützen, erzielten in den schiitischen Gebieten im Süden des Iraks offenbar besonders gute Ergebnisse. (Seiten 4 und 8)AP

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Streit über Holocaust-Leugner Williamson

Vatikan gibt Fehler zu

Kurienkardinal Kasper räumt schlechtes Krisen-Management ein / Kirchensender in Rom spricht von "Debakel"

Von Christiane Kohl

München - Im Fall des von Papst Benedikt XVI. wieder in die Kirche aufgenommenen englischen Bischofs und Holocaust-Leugners Richard Williamson hat der Vatikan jetzt erstmals Fehler eingeräumt. Der einflussreiche Kurienkardinal Walter Kasper erklärte im Radio Vatikan, es seien "Fehler gemacht worden im Management". In einem Kommentar des Senders war zudem von einem "Debakel" die Rede, das nie wieder vorkommen dürfe.

Am 24. Januar hatte Papst Benedikt die Exkommunikation von vier Bischöfen aufgehoben, die einst vom Kirchenrebellen Marcel Lefebvre geweiht worden waren. Anlass war für ihn der 20. Jahrestag der Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils im Januar 1959 durch den damaligen Papst Johannes XXIII. gewesen. In der Folge dieses Konzils hatte sich Lefebvre unter anderem wegen Auseinandersetzungen um die Religionsfreiheit gegen die Kirchenführung aufgelehnt. Als er ohne das Einverständnis aus Rom eigene Bischöfe weihte, waren diese vor etwa 20 Jahren automatisch exkommuniziert worden. Zu diesen Bischöfen gehörte auch Williamson, dessen Rehabilitierung nun einen Sturm der Entrüstung auslöste: Erst kurz zuvor war ein Interview mit ihm erschienen, in dem er die Gaskammern der Nazis geleugnet hatte.

Im Vatikan heißt es nun, dass Papst Benedikt möglicherweise gar keine Kenntnis von Williamsons Äußerungen gehabt habe. Ihm sei es vor allem darum gegangen, wieder mit den erzkonservativen Lefebvre-Bischöfen ins Gespräch zu kommen. "Der Papst wollte das Gespräch eröffnen, weil er die Einheit nach innen will und nach außen", so Kardinal Kasper. Der Papst dürfte auch ein persönliches Interesse an mehr kirchlicher Einheit in diesem Bereich haben, da er seinerzeit, als der Konflikt mit Lefebvre ausbrach, Verhandlungsführer des Vatikan war. Allerdings wird die jetzt entbrannte öffentliche Auseinandersetzung um den Schritt des Papstes unter Vatikan-Mitarbeitern auch unverhüllt als "ein einziges Desaster" beschrieben.

"Ich beobachte die Debatte mit großer Besorgnis", erklärte Kardinal Kasper, der im Vatikan federführend für den Dialog zwischen den Religionen ist. "Man hat da vorher im Vatikan zu wenig miteinander gesprochen", räumte er ein und erklärte, dass es in der Kurie zuweilen an der internen Kommunikation mangele. Kasper gilt als äußerst einflussreicher Kardinal in Rom. Radio Vatikan ist das offizielle Organ der Kurie - seine Interviewäußerungen haben daher durchaus offiziösen Charakter.

Unterdessen blieb auch unter Kirchenmännern in Deutschland die Kritik am römischen Pontifex ein Thema. So kritisierte der Hamburger Erzbischof Werner Thissen die Aufhebung der Exkommunikation als "schlechte Entscheidung", die vor allem durch schlampige Vorarbeit hervorgerufen worden sei. "Man muss annehmen, dass der Papst nicht weiß, wes Geistes diese Bruderschaft ist", so Thissen in Anspielung auf die Lefebvre-Jünger. Schon zuvor hatte der Bischof von Rottenburg Kritik an dem Schritt des Papstes geübt. Auch in Österreich gibt es Kritik an jüngste Personalentscheidungen aus Rom.

In für den Vatikan höchst ungewöhnlicher Offenheit sprach der Leiter des deutschsprachigen Programms bei Radio Vatikan, Pater Eberhard von Gemmingen, von Missverständnissen und mangelnder Professionalität in der Kurie. "Beten Sie für den Papst und seinen Stab", schloss Gemmingen seinen Kommentar im Ton der Verzweiflung: "Ein solches Missverständnis und Debakel darf nie wieder passieren". (Seiten 4, 5 und 6, Feuilleton)

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Zwei Tipper knacken Lotto-Jackpot

Stuttgart - Der dritthöchste Jackpot der deutschen Lotto-Geschichte ist geknackt. Je ein Spieler aus Bayern und dem Weserbergland landeten mit ihren Zahlen bei der Ziehung am Samstag einen Volltreffer, wie der Deutsche Lotto- und Totoblock in Stuttgart mitteilte. Sie teilen sich die Gewinnsumme von 35 Millionen Euro. (Panorama) SZ

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Kanzlerin setzt Mehdorn unter Druck

Berlin/München - In der Datenaffäre bei der Deutschen Bahn (DB) unterstützt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), der eine lückenlose Aufklärung fordert. Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte zuvor erklärt, diese Angelegenheit gehe Tiefensee nichts an. Aus dem Aufsichtsrat der Bahn heißt es, der von allen Seiten unter Druck geratene Konzernchef müsse entscheiden, ob er unter diesem Umständen seinen Job noch machen wolle. (Seite 4 und Wirtschaft) miba/o.k.

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"USA sollen abrüsten"

Steinmeier fordert Verzicht auf Raketenabwehr

Berlin - Nach dem Machtwechsel in den USA will Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Washington für rasche Schritte zur Abrüstung werben. "Ich bin mir sicher, dass wir zusammen einiges bewegen können", betont er in einem am Mittwoch anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz erscheinenden Beitrag für die Süddeutsche Zeitung. Nutzen will Steinmeier hierfür auch seine erste Begegnung mit US-Außenministerin Hillary Clinton an diesem Dienstag. Von der US-Regierung erwartet Steinmeier eine Absage an den Raketenabwehrschild in Osteuropa sowie ein Nachfolgeabkommen zum Start-Vertrag über strategische Nukelarwaffen mit Russland. Er sehe die Chance für eine "neue Ära" der Bewältigung nuklearer Herausforderungen. (Seite 7) dbr

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Krise trifft Chinas Wanderarbeiter

Peking - In China könnte die soziale Unzufriedenheit wegen der weltweiten Wirtschaftskrise dramatisch anwachsen. Im Zuge des Abschwungs habe fast jeder Fünfte der 130 Millionen Wanderarbeiter seine Arbeit verloren oder keine Beschäftigung gefunden, sagte ein ranghoher Regierungsvertreter. Die chinesische Statistikbehörde hatte jüngst angegeben, nur sechs Millionen Wanderarbeiter hätten keine Arbeit. (Seiten 2, 8) AFP

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Das Streiflicht

(SZ) Was Petra angeht, so reißt uns ehrlich gesagt langsam der Geduldsfaden, zumal wir das befremdliche Wirken des Münsteraner Trauerschwans von Anfang an ziemlich einfühlsam begleitet haben. Gott, war das ein Theater, als Petra im kalten Winter vor drei Jahren vom Aasee ins warme Zoogehege umziehen musste und ausgerechnet in die Pelikan-Abteilung kam, wo sie die sympathischen, ruhigen Tiere mit den originellen Hautsäcken fast zum Wahnsinn getrieben hat. Denn Petra - und dieser Umstand hat sie ja so berühmt gemacht - hegte damals noch eine so widernatürliche wie unwürdige Liebe zu einem Tretboot in Schwanengestalt. Selbstverständlich musste das Freizeitgerät ebenfalls im Pelikan-Quartier untergebracht werden, weil Petra ohne ihren kettenbetriebenen Geliebten nicht auskommen konnte. Was war noch? Den Fuß hat sie sich verletzt, weshalb eine Operation nötig war. Psychologisch wurde der Vogel ohnehin ununterbrochen betreut, und weil die Menschen zu Tieren mit abnormem Verhalten eine unerklärliche Liebe pflegen, gruppierte sich nach und nach der "Freundeskreis Schwarze Petra" um den Schwan.

Was jetzt schon wieder mit Petra los ist? Geduld, wir kommen gleich darauf. Aber es darf ja wohl noch einmal daran erinnert werden, dass die Flatterhaftigkeit der schwarzgefiederten Zicke einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, als Petra sich vor knapp einem Jahr kurzfristig vom Tretboot losgesagt hatte und mit einem anderen, diesmal echten Schwan ging respektive schwamm. Dieser Schwanerich hatte aber auch kein Interesse an einer langfristigen Bindung, so dass Petra binnen kurzem wieder auf das Tretboot zurückgriff. Also, es war ein elendes Hin und Her mit Petra - und jetzt ist sie auch noch spurlos verschwunden. Ja, Petra, der schwarze Trauerschwan, ist weg. Der Freundeskreis hat überall Plakate ausgehängt und den kompletten Aasee nach ihr abgesucht. Aber die Schwänin hat ihre schwarzen Flügel ausgebreitet, sich hoch über den See und das seltsame Münsterland erhoben und ist in unbekannte Richtung abgedreht. Erst hieß es ja, sie sei in Xanten gesehen worden, und das hätte auch gut zu diesem schlecht unterrichteten Tier gepasst. Der Niederrhein ist nämlich der Abenteuerspielplatz der Römer gewesen und nicht der Griechen. Aber Zeus, der sich in Schwanengestalt an Leda heranschwarwenzelt hat, war doch wohl eher Grieche, nicht wahr?

Jedenfalls war der schwarze Schwan in Xanten ein anderer, und so langsam müssen sich die Münsteraner Trauerschwanliebhaber darauf einstellen, dass sie Petra ein für allemal los sind. Aufatmen wird aber in jedem Fall das Tretboot, weil es endlich aus dieser Mesalliance raus ist und sich in Ruhe ein anständiges, gut geöltes Tretbootweibchen suchen kann.

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Schön kalt

Es hat geschneit in Großbritannien, 15 Zentimeter hoch. Keine Sensation? Für die Briten schon, sie haben das seit fast zwanzig Jahren nicht mehr erlebt. Auf den Straßen ging am Montag nichts mehr, die Londoner Busse blieben in der Garage, die U-Bahn stand still. Auf den Flughäfen der Hauptstadt kam es zu Verspätungen, Tausende Schulen wurden geschlossen. Und in den kommenden Tagen soll es weiter schneien. (Panorama) Foto: AFP

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Geruch des Todes

Die Zahl seelisch verwundeter deutscher Soldaten nimmt zu

Mit heiler Haut sind sie davongekommen, aber ihre Seele ist schwer verwundet. Sie haben Menschen elendig sterben sehen und sind selbst dem Tod mit knapper Not entronnen. Viele Soldaten der Bundeswehr, die von einem Auslandseinsatz zurückkehren - speziell aus Afghanistan - haben Schreckliches durchgemacht, und nicht jeder kann das Gesehene verkraften. Manchmal zeigt sich erst nach Wochen und Monaten, wie sehr das innere Gleichgewicht durch das Erlebte gestört worden ist.

Posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt PTBS, haben die Mediziner diese Krankheit der Seele genannt. Griffiger ist allerdings die Bezeichnung "Rückkehrer-Trauma". Depressionen, Gereiztheit, Verschlossenheit und Suchtprobleme sind häufig auftretende Symptome bei Soldaten, die sich nach einem Einsatz in der Normalität der Heimat nicht mehr zurechtfinden. Der Geruch von gegrilltem Fleisch oder das Splittern eines Glases rufen die Erinnerung an Raketenbeschuss und Selbstmordattentate immer wieder wach.

Ein Fernsehfilm in der ARD hat am Montag einem Millionenpublikum ein Problem nähergebracht, das bis dahin von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Zwar kennt man PTBS auch aus anderen Berufen, bei Feuerwehrleuten oder Lokführern etwa, doch in Bezug auf Soldaten war es lange Zeit ein Tabu-Thema. Mittlerweile aber hat auch die Politik erkannt, dass "angesichts steigender Fallzahlen und absehbarer zukünftiger Einsatzszenarien Handlungsbedarf" bestehe - so Union und SPD in einem Antrag an die Bundesregierung, der kommende Woche im Parlament verabschiedet werden soll.

Die Forderungen an die Regierung legen offen, wo bisher die Defizite liegen. So wird vorgeschlagen, ein PTBS-Forschungszentrum einzurichten, den "Wissenstransfer" mit zivilen Einrichtungen und mit alliierten Sanitätsdiensten zu intensivieren und die Betreuung von Soldaten nach dem Einsatz zu verbessern. Auch die Anregung des Bundeswehr-Verbandes wird aufgegriffen, in den Einheiten Telefonberater zu benennen, an die sich Soldaten auch anonym wenden können. Viele Soldaten versuchten, mit ihrem Trauma allein fertig zu werden, weil sie vor den Kameraden nicht als "Weichei" gelten wollten, sagt der Verbandsvorsitzende, Oberstleutnant Ulrich Kirsch.

Für die Vermutung einer hohen Dunkelziffer spricht auch die bisherige Informationspolitik des Verteidigungsministeriums. Noch kürzlich galt die Sprachregelung, dass die Zahl der PTBS-Fälle bezogen auf die Gesamtzahl der in den Einsatz entsandten Soldaten unter einem Prozent liege. In den Streitkräften der USA oder skandinavischer Länder beträgt dieser Wert vier bis fünf Prozent. Erst jetzt bequemte sich das Ministerium auf Drängen der FDP-Abgeordneten Elke Hoff zu der konkreten Mitteilung, wie sich die Zahl der PTBS-Fälle speziell in Afghanistan in den vergangenen drei Jahren entwickelt hat: von 55 im Jahr 2006 über 130 in 2007 bis zu 226 in 2008.

Angesichts dieser Tendenz wollen nun die Abgeordneten die Regierung zum Handeln zwingen. Dem Antrag von Union und SPD stimmten im Verteidigungsausschuss auch alle Oppositionsfraktionen zu, nachdem die Koalition im vorigen Sommer ähnliche Vorstöße von FDP und Linkspartei noch abgelehnt hatte. Der SPD-Berichterstatter Jörn Thiessen sieht darin "ein starkes Zeichen gegenüber denen im Ministerium, die das Thema nicht so spannend finden wie wir im Parlament". Peter Blechschmidt

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Das Wetter

München - Besonders im Norden und Osten dicke Wolken, örtlich etwas Regen oder Schnee. Im Westen anfangs sonnig, später zunehmend bewölkt, gebietsweise Regen, vereinzelt auch Schneefall. Zwei bis zehn Grad. (Seite 31)

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Merkel lässt Umwelt-Gesetzbuch fallen

Kanzlerin vermeidet neuen Ärger mit Seehofer und Fraktion / Gabriel spricht von "komplettem Unsinn" der Union

Von Nico Fried

Berlin - Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht keine Veranlassung, sich persönlich in den Streit über das Umwelt-Gesetzbuch einzuschalten. Sie geht damit neuem Ärger mit CSU-Chef Horst Seehofer und Teilen der Unions-Fraktion im Bundestag aus dem Weg, die das Projekt in der bisher geplanten Form ablehnen. Damit dürfte das Umwelt-Gesetzbuch, für das Merkel selbst einst als Bundesumweltministerin in der Regierung Kohl den Anstoß gab, auch in dieser Legislaturperiode keine Chance mehr haben.

Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte die Verhandlungen über das Gesetzbuch zuvor für gescheitert erklärt. Vize-Regierungssprecher Thomas Steg sagte, Merkel habe diese Einschätzung Gabriels am Montag Vormittag in einem Telefonat "zur Kenntnis genommen". Sie unterstütze nun die Absicht des Ministers, einzelne Gesetzesvorhaben in das Kabinett einzubringen. Dies soll bereits in dieser Woche geschehen. Damit akzeptiere Merkel "uneingeschränkt" die Zuständigkeit des Umweltministers. Steg vermied es, namens der Kanzlerin für eine Seite Partei zu ergreifen. Er wies lediglich darauf hin, das Merkel in der Vergangenheit keinen Zweifel habe aufkommen lassen, dass sie ein integriertes Gesetzbuch für einen großen Fortschritt hielte. Der vorliegende Entwurf sei aber strittig.

Mit dem geplanten Umwelt-Gesetzbuch sollten die unterschiedlichen deutschen Umweltgesetze und -verordnungen gebündelt werden, um Genehmigungsverfahren zu erleichtern. Gabriel und die von der CSU geführte bayerische Staatsregierung konnten sich jedoch am Wochenende nicht auf Kompromisse in letzten Streitpunkten verständigen. Gabriel sagte, die Kanzlerin habe das Umwelt-Gesetzbuch unterstützt. Gleichwohl kritisierte er Merkel indirekt: Es habe niemanden gegeben, der in der Union für Ordnung gesorgt habe.

Gabriel machte Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sowie Bayerns Ministerpräsident Seehofer und Umweltminister Markus Söder (beide CSU) für das Scheitern verantwortlich. Seehofer habe zuletzt eine Option verlangt, wonach das Umweltgesetzbuch in Bayern gar nicht gelten solle. Gabriel sagte, er sei kompromissbereit, könne aber nicht "kompletten Unsinn" beschließen. Seehofer wiederum gab Gabriel die Alleinschuld für das Scheitern. Der Umweltminister sei nicht in der Lage gewesen, einen von ihm selbst vorgelegten Kompromissvorschlag in der SPD durchzusetzen, sagte Seehofer. Auch CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sprach von Kompromissvorschlägen, für die Gabriel keine Unterstützung der SPD gehabt habe. Das Umweltministerium wies die Darstellung aus CDU und CSU als "kompletten Blödsinn" zurück. SPD-Vorsitzender Franz Müntefering kritisierte, die CSU gehe "ohne Rücksicht auf Verluste" vor. Die Christsozialen seien offenbar nicht mehr bereit, konstruktiv in der großen Koalition mitzuarbeiten.

Andererseits gaben die CDU-Ministerpräsidenten Christian Wulff und Roland Koch Gabriel die Schuld für das Scheitern. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) kritisierte dagegen in der Sitzung der Parteispitze den Widerstand der bayerischen CSU/FDP-Landesregierung scharf. Die Grünen bezeichneten das Scheitern als "Desaster". Massive Kritik kam auch von Umweltverbänden. (Seiten 2 und 4)

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