Scheitern in der Masse

Von René Hofmann

Das fängt ja gut an. Das Männer-Turnier am Hamburger Rothenbaum: ab diesem Jahr nur noch eine zweitklassige Veranstaltung. Der Deutsche Tennis-Bund: in einen existenzbedrohenden Streit mit der Männertennistour verwickelt. Das Frauenturnier in Berlin: ab sofort nicht mehr existent, weil die Scheichs, denen die Veranstaltung schon lange gehört, plötzlich die Rechnungen nicht mehr bezahlen.

In dieser Woche hätten die Protagonisten selbst in Melbourne die Chance gehabt, das schlechte Bild, das der Tennissport hierzulande derzeit abgibt, etwas zu korrigieren. Elf deutsche Männer und neun deutsche Frauen traten zur ersten Runde der Australian Open an. Das waren so viele wie schon lange nicht mehr. Statt großer Klasse viel Masse. Mehr Profis sandten lediglich drei Länder ins erste Grand-Slam-Turnier 2009: Frankreich, Spanien, Russland.

Inzwischen haben sich die Reihen down under schon gelichtet, und es steht fest: Die Charme-Offensive ist mächtig schiefgegangen. Nicht nur, weil die Deutschen in Massen scheiterten, vor allem die Klasse, mit der sie aus der Veranstaltungen gingen, erschreckte. Philipp Kohlschreiber, 25: verliert in fünf Sätzen gegen den 36 Jahre alten Fabrice Santoro und nennt diesen daraufhin einen müden Nichtskönner. Rainer Schüttler, 32: stiehlt sich nach der Niederlage gegen einen Qualifikanten kommentarlos davon. Anna-Lena Grönefeld, 23: wirkt unfit und deshalb schon im Vergleich mit einer Gegnerin von Weltranglistenplatz 134 überfordert. Julia Görges, 20: erschrickt beim Anblick eines Platzes, an dem 10 000 Menschen sitzen. Andrea Petkovic, 21: vergisst beim ersten Match bei blendendem Sonnenschein ihre Schildkappe und bricht angesichts des 1:6 und 0:6 im zweiten Spiel in Tränen aus. Florian Mayer, 25: entdeckt nach sechs Profi-Jahren, dass es ein Vorteil ist, ordentlich Ausdauer trainiert zu haben.

Sechs Beispiele. Alle so passiert. Nichts dazu erfunden. Ähnlich offensichtlich dilettantisch bewegt sich keine andere Nation durch die Szene. Niemand erwartet, dass eine der deutschen Tennis-Größen demnächst einen Grand-Slam-Titel gewinnt. Aber ein bisschen mehr Professionalität dürfte es schon sein.

Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Billig: Selber Putzen Teuer: VIP-Reinigungsservice

Dienstleistungen sind das Beste, das man mit Geld kaufen kann. Zum Beispiel: das Putzen der eigenen Wohnung. Morgens ein chaotisches Inferno von ungespültem Geschirr und ungebügelter Wäsche zu verlassen und abends in ein angenehm duftendes, strahlendes Reich zurückzukehren, ist Luxus. Und was für einer.

Wer es besonders luxuriös liebt, kann sich einen Frühjahrsputz kaufen. Die Damen der Firma Happy Maids reinigen nicht nur die Wohnung, sie bügeln auch und gehen mit dem Hund Gassi. Da der Frühjahrsputz vergangenes Jahr ausgefallen ist und auch 2008 keine freie Zeit in Sicht ist, rief ich die Happy Maids an. Jetzt sieht es in meinem Kleiderschrank aus wie in einer Boutique. Mein Kühlschrank ist nicht nur sauber, sondern der Inhalt nach süß und salzig, Obst und Gemüse sortiert. Die Schubladen glänzen - auch innen. Mehr Ordnung war nie.

Das ist schön, aber es hat Überwindung gekostet. Spätestens als die beiden fremden Damen zwischen den T-Shirts des Liebsten und meinen Socken herumräumten, wurde ich nervös. Die Intimsphäre leidet. Hinzu kommt ein bleiernes Schuldgefühl: Eigentlich solltest Du das selbst machen. Dieses Gefühl verflüchtigt sich aber schon kurz nach der Flucht aus der Wohnung. Was bleibt, ist die Freude auf das Nachhause-Kommen, auf das neu sortierte Gewürzregal, die blitzenden Badarmaturen und den endlich reparierten Staubsauger.

Dieser Frühjahrsputz teuer. Meiner kostete gut 250 Euro. Das ist viel Geld. Aber alle zwei Jahre ist das drin. Kein Verständnis habe ich für Menschen, die selbst putzen, weil sie meinen, es besser als die Fachkräfte zu können. Diese Fachkräfte reinigen Tag ein, Tag aus Wohnungen - sie kennen jeden Trick. Wirklich jeden. Wussten Sie, dass man Silikon nicht nass wischen sollte? Ich nicht. Das will ich, das muss ich auch nicht wissen. Deshalb vergesse ich das jetzt sofort wieder. (Foto: plainpicture) Hannah Wilhelm

Fremde Menschen, die unter unserem Sofa saugen, die ranzigen Rückstände vom Spülbecken entfernen, durch alle Schubladen stöbern und dafür auch noch Geld kassieren? Niemals! Nicht, dass für die Reinigung unserer Spüle kein Entgelt angebracht wäre, auch das Wohnzimmer böte professionellen Raumpflegern ein weites Betätigungsfeld. Doch den Einblick in meinen Kleiderschrank oder eine Neuordnung meiner Aktenordner, die mit einem umfassenden Frühjahrsputz unweigerlich verbunden sind, möchte ich keinem anderen gewähren. Wann die Wollpullis in Kleidersäcke gepackt in den Keller wandern oder ob meine Blusen sich nach Regenbogenfarben geordnet reihen, soll meine Sorge bleiben.

Dann dieses Geräusch, wenn der Sauger den Dreck (Staub, Krümel, vielleicht ein verirrtes Gummibärchen) aus den Teppichfasern befreit und in sich hineinzieht. Oder nach getaner Arbeit einen Blick durch schlierenfreie Scheiben auf den Innenhof werfen - diese Gewissheit, etwas geleistet zu haben, will ich für mich allein haben. Beim Saubermachen kann ich auch prima nachdenken. Mit dem Bügeleisen in der Hand lässt's sich hervorragend über die Ereignisse des Tages sinnieren. Und während ich die Wanne wiener' oder mit dem Schrubber in der Ecke hinterm Klo herumfuhrwerke, wandelt sich negative Stimmung in konstruktive Energie. Quasi nebenbei verarbeite ich beruflichen Stress und Streit mit Familienmitgliedern. Schließlich zählen auch die Kalorien, die man beim Fensterputzen verbrennt.

Klar, nie blinkt und blitzt es bei uns wie in einem von professioneller Hand gereinigten Haushalt. Es stimmt auch, dass eine Putzhilfe das Streitpotential in einer Beziehung erheblich verringern kann. Aber abgesehen von der persönlichen Genugtuung, die ich aus einem gründlichen Frühjahrsputz ziehe - eine Reinemachefrau können wir uns nicht leisten. (Foto: Imago) Corinna Nohn

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Totes Meer

Umweltschützer wollen bedrohte Fische vom Speiseplan tilgen

Auch wenn es noch so verlockend erscheint: Spaghetti mit Scampi kommen bei Karoline Schacht nicht mehr auf den Tisch. Schollenfilet in Weißweinsoße verschmäht sie ebenfalls, Dornhai-Schillerlocken und Rotbarsch sind ohnehin tabu. Die Fisch-Expertin der Umweltorganisation World Wild Fund of Nature (WWF) gönnt sich allenfalls einen teuren Wildlachs aus Alaska - nicht nur, weil er besser schmeckt als Zuchtlachs. Sondern vor allem deshalb, weil er mit dem blauen Logo des Marine Stewardship Council (MSC) ausgezeichnet worden ist, das für nachhaltige Fischerei steht. "Wir müssen Seefisch wieder wie eine Delikatesse behandeln", fordert Karoline Schacht.

Der WWF hofft, dass immer mehr Verbraucher dem Beispiel folgen. Deshalb präsentiert die Organisation an diesem Donnerstag eine neue Auflage ihres Einkaufsratgebers, in dem die gängigen Speisefische nach Herkunft und Gefährdung aufgeführt sind. Die Zusammenschau wirkt alles andere als appetitanregend: Ein Großteil der kommerziell genutzten Arten ist stark überfischt und sollte daher entweder ganz vom Speiseplan gestrichen oder wenigstens streng nach Fanggebiet ausgewählt werden. Das gilt mittlerweile selbst für Allerweltsarten wie Kabeljau und Thunfisch. Obwohl sie vom Aussterben bedroht sind, werden beispielsweise lebend gefangene Blauflossen-Thunfische im Mittelmeer in Aquafarmen gemästet und schließlich vor allem in Japan zu Sushi verarbeitet. Um ein einziges Kilo Thunfischfleisch herzustellen, benötigen die Züchter allerdings etwa 20 Kilo Futterfische.

Ähnlich schlecht sieht die Umweltbilanz der Garnelenzucht aus: Auf ein Kilo Shrimps kommen hier 2,5 bis fünf Kilo Wildfische; für die Zuchtteiche werden überdies Mangrovenwälder entlang der tropischen Küsten abgeholzt. Aber auch der Fang wildlebender Garnelen, Schollen und Seezungen hat für Ökosysteme verheerende Folgen: Große Schiffe pflügen den empfindlichen Meeresboden mit ihren Grundschleppnetzen regelrecht um. Darin verfangen sich alle möglichen Tiere - von Haien bis zu Walen und Meeresschildkröten. Sie gelten als unerwünschter Beifang und werden tot oder schwer verletzt über Bord geworfen. Nach Angaben des WWF wird allein in der Nordsee jedes Jahr eine Million Tonnen Fisch auf diese Weise vergeudet - bei einer angelandeten Fangmenge von insgesamt zwei Millionen Tonnen.

Mittlerweile hat auch die Europäische Union dieses Problem erkannt, zumal da Fischer für jeden verkauften Kabeljau einen über Bord schmeißen, nur weil er nicht die gewünschte Größe hat. Zumindest diese Praxis wurde nun verboten. Bis 2012 will die EU mit der Reform ihrer Fischereipolitik den Rückwurf sogar ganz untersagen und neue Fangmethoden vorschreiben.

Immerhin, ein paar Fischarten können noch bedenkenlos konsumiert werden: Hierzu zählt der Pangasius aus Vietnam, der im Mekongdelta lebt und schonend gezüchtet werden kann, weil er ein Allesfresser ist. Auch Seelachs und Heringe sind unproblematisch, wobei es aber auch hier auf das Fanggebiet ankommt. Von Heringen aus der westlichen Ostsee rät der WWF ab, weil diese Bestände überfischt sind. Auf den Packungen in den Tiefkühltruhen sind die Fanggebiete oft noch unzureichend ausgewiesen. So bleiben für diejenigen, die ganz sichergehen wollen, nur die zertifizierte MSC-Ware oder heimische Fluss- und Seefische. Denn im Geschmackstest kann ein Zander in Weißwein locker mit einer Scholle mithalten. Sebastian Beck

WWF Deutschland Fische Bedrohte Tierarten Fischereiwesen in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Der Teufel schläft nicht"

Der ehemalige Ski-Weltstar Toni Sailer über Reiz und Risiken der Kitzbüheler Hahnenkamm-Abfahrt

Toni Sailer, 78, genannt "der Blitz von Kitz", ist einer der bekanntesten Skirennfahrer der Sportgeschichte. Der Österreicher war dreimal Olympiasieger und dreimal Weltmeister, später unter anderem Renndirektor des Weltcup-Rennens in seinem Heimatort Kitzbühel. Ein Gespräch über das an diesem Wochenende zum 69. Mal stattfindende Hahnenkamm-Rennen, über Eigenverantwortung und vereiste Strohballen.

SZ: Herr Sailer, der Italiener Roland Thöni hat einmal über den Ski-Weltcup auf der Streif gesagt: "Du stehst am Start, schaust runter, und fühlst dich, als wärst du ein Turmspringer." Hatten Sie dieses Gefühl auch schon mal?

Sailer: Wenn man zum Starthaus geht, dann fühlt man sich noch gut. Aber sobald man oben steht, also da hat's schon einigen den Magen verdreht, sie sind umgekehrt und waren auf der Streif nie mehr wieder gesehen. Zu meiner Zeit waren 90 Leute auf der Rennliste, aber gefahren sind vielleicht 60.

SZ: Wie war es für Sie, da oben zu stehen?

Sailer: Man wusste: Da darf nichts passieren. Wenn etwas passiert, dann werde ich wahrscheinlich nicht einmal noch das Krankenhaus sehen. Früher gab's ja keine Netze, sondern höchstens Strohballen. Aber ich hab mir immer gedacht: Ein angeregneter, vereister Strohballen ist immer noch besser als die Rinde eines Baumes.

SZ: Haben Sie je erwägt, umzudrehen?

Sailer: Nein, nie. Aber wenn ich sagen würde, ich hätte nie Angst gehabt, würde ich lügen. Jeder, der behauptet, er hat auf der Streif keine Angst, lügt. Ich weiß noch, wie wir immer gesagt haben: Wenn die Eltern zu Hause wüssten, dass wir solche Angst haben, die würden uns da nie runterfahren lassen. Aber Angst ist ja keine Feigheit, sondern Klugheit, ein Warnsignal für die Gefahr.

SZ: Ist der Weltcup auf der Streif noch gefährlicher geworden in all den Jahren? Die Strecke wird vorher völlig vereist.

Sailer: Eine eisige Piste ist sicherer als eine, auf der man einbricht. Mein Vater hat in den vierziger und fünfziger Jahren mit zwei Lehrbuben und einem Gesellen die Piste nur mit einer Schaufel präpariert. Da können Sie sich vorstellen, wie die Strecke damals war. Allerdings: Die Sicherheitsnetze heute verführen. Mit ihnen ist die Eigenverantwortung immer weniger geworden. Wenn da ein Netz ist, sagen die Fahrer: Da kann ich ja dann einfach reinfahren. Eben nicht! Es kann einen auch trotz Netz zerreißen!

SZ: Wie man letztes Jahr bei Scott Macartney gesehen hat, der beim Zielsprung stürzte und bewusstlos liegen blieb.

Sailer: Mal ehrlich: Macartney war von der Geschwindigkeit sicher überfordert. Und er ist nicht der beste Springer, das hat man jetzt auch beim Weltcup in Wengen vergangene Woche gesehen (Macartney stürzte nach einem Sprung und verletzte sich am Knie, diesmal fehlt er ebenfalls wegen einer in Wengen erlittenen Knieverletzung, d. Red.). Ich kenne das: Wenn man einmal Probleme beim Sprung hat, dann kriegt man das nicht mehr raus. Was glauben Sie, was der beim nächsten Mal für einen Ballast im Kopf mitführt, wenn er auf die Kante zufährt?

SZ: Macartneys Sturz vergangenes Jahr hat zu einer Verschärfung der Sicherheitsdiskussion beigetragen. Manche sind der Meinung, man sollte Abfahrtsrennen wie Kitzbühel entschärfen.

Sailer: Ich finde, die Streif ist nach dem neuesten Stand perfekt mit A- und B-Netzen abgesichert. Als Vorsitzender des FIS-Alpinkomitees beschäftige ich mich sehr viel mit Sicherheit. Und ich sage: Wenn ich ein Seil 30 Meter über dem Flussbett spanne, ohne Netz, was glauben Sie, wie viele da drüber gehen - aber wenn ich ein Netz drunter mache, dann gehen alle drüber.

SZ: Aber kann man wirklich von einem Rennfahrer verlangen, gerade bei den prestigeträchtigsten Rennen nicht zu starten?

Sailer: Es gibt ja einige, die nicht fahren, bei denen auch der Trainer sagt: Junge, das bringt nichts. Diejenigen, die damals am Starthaus umgekehrt sind, verdienen jedenfalls Respekt.

SZ: Was macht denn den Reiz der Streif aus?

Sailer: Tradition. Begeisterung. Die Menschenmenge im Ziel, das Hallo auf der Strecke. Die ehemaligen Hahnenkammsieger kommen fast alle immer wieder, jeder hat ja eine eigene Gondel. Wenn du das Hahnenkammrennen gewinnst, hast du etwas ganz Großes gewonnen.

SZ: Trägt nicht auch gerade der Nervenkitzel zur Begeisterung bei? Etwa dann, wenn die Fahrer durch die berühmte "Mausefalle" schießen?

Sailer: Das auch. Der Ausdruck "Mausefalle" stammt übrigens von meinem Vater. Mausefalle deshalb: Wenn eine Maus in die Falle hineingeht, dann kommt sie nicht mehr heraus. Genau so ist das auf der Streif: Wenn du in die Mausefalle hineinschießt, da musst du durchschießen, da kannst du nicht drinnen herumfahren. Und wenn du 50 Meter springst - du musst es tun.

SZ: Wenn Sie nun am Wochenende zuschauen - spüren Sie da immer noch ein Kribbeln, so wie früher?

Sailer: Man hat immer dieses Kribbeln. Aber das hat auch mit einer gewissen Angst zu tun, dass etwas passieren könnte - trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Der Teufel schläft nicht.

Interview: Michael Neudecker

"Angst ist keine Feigheit, sondern ein Warnsignal": Toni Sailer Foto: dpa

Sailer, Toni: Interviews Alpiner Skisport SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Anfang einer Abwicklung

Beim Einstieg des Staates bei der Hypo Real Estate geht es nur noch um die Höhe der Beteiligung

Von Thomas Fromm und Claus Hulverscheidt

Berlin - Der schwer angeschlagene Münchner Konzern Hypo Real Estate (HRE) wird aller Voraussicht nach als erstes deutsches Finanzinstitut im Zuge der Weltwirtschaftskrise verstaatlicht. Wie aus Verhandlungskreisen verlautete, ist der Einstieg des Bundes praktisch beschlossene Sache. Offen sei nur noch die künftige strategische Ausrichtung der HRE und die Höhe des Staatsanteils. Alles spreche aber für eine Mehrheitsbeteiligung. Am Ende eines möglicherweise jahrelangen Prozesses könne die "geordnete Abwicklung" des Instituts stehen.

Die Hypo Real Estate hatte bereits im letzten Jahr zweimal mit Hilfe staatlicher Bürgschaften vor dem Zusammenbruch gerettet werden müssen. Am späten Dienstagabend hatte das Institut mitgeteilt, dass der Garantierahmen um weitere zwölf Milliarden auf 42 Milliarden Euro aufgestockt worden sei. Damit erhält die HRE inzwischen Hilfen von insgesamt 92 Milliarden Euro. In Schieflage geraten war die HRE unter anderem durch ihre irische Tochter Depfa, die langfristige Kredite vergibt und sich dies durch die Aufnahme kurzfristiger Darlehen finanziert. Das Konzept scheiterte, weil sich Banken im Zuge der Finanzkrise kaum noch Geld leihen. "Dreh- und Angelpunkt aller Erwägungen ist die Depfa", hieß es in Finanzkreisen. Sie sei der "Mühlstein am Hals der HRE".

Damit der Bund die Mehrheit an dem Konzern übernehmen kann, müssten dessen Grundkapital verdoppelt und das Finanzmarkt-Stabilisierungsgesetz geändert werden. Es beschränkt Kapitalbeteiligungen des staatlichen Bankenrettungsfonds Soffin bislang auf maximal 33 Prozent. Es ist deshalb denkbar, dass der Bund zunächst nur 25 Prozent plus eine Aktie und erst in einem zweiten Schritt die Mehrheit erwirbt.

Für einen solchen Schritt spricht nach Angaben aus den Kreisen, dass die HRE als Staatsunternehmen eine deutlich höhere Bonität genießen würde und damit zu erheblich günstigeren Konditionen Kredite aufnehmen könnte. Zudem wäre sichergestellt, dass ein ausländischer Konkurrent die Bank nicht einfach übernehmen könnte und damit womöglich Zugriff auf deutsche Steuergelder erhielte. Aus dem gleichen Grund hatte sich der Soffin eine gut 25-prozentige Sperrminorität bei der Commerzbank gesichert.

Offen ist noch, ob der bisherige HRE-Großaktionär, der Finanzinvestor Christopher Flowers, bei einer Kapitalerhöhung mitspielen würde. Sein Anteil von rund 25 Prozent würde bei einer Verdopplung des Grundkapitals auf die Hälfte zusammenschrumpfen. Aus Finanzkreisen verlautete, Flowers sei vor allem daran gelegen, einen Teil seines Einsatzes zu retten. Er hatte im Frühjahr 2008 mehr als eine Milliarde Euro für seinen Anteil ausgegeben und sich dabei kräftig verspekuliert: Heute ist der ganze Konzern an der Börse nur noch 400 Millionen Euro wert. "Sollte es zu einem Übernahmeangebot kommen, wäre alles eine Preisfrage", hieß es in den Kreisen.

Um Druck auf den Finanzinvestor auszuüben, wurde in den Verhandlungen zwischen dem Soffin, der Regierung und Flowers auch die Möglichkeit einer Gesetzesänderung erörtert. Danach wären Kapitalerhöhungen künftig auch ohne Zustimmung der Altaktionäre möglich, wenn ein Unternehmen plötzlich in eine existenzbedrohende Schieflage gerät. Angst vor einer Enteignungsdebatte hat man nach eigenem Bekunden in der Regierung nicht, da andere Länder wie etwa Großbritannien den gleichen Weg gegangen seien. Die Verhandlungen mit der HRE und Flowers werden sich dem Vernehmen nach allerdings womöglich noch Wochen hinziehen.

Vom bisherigen Bürgschaftsrahmen in Höhe von 80 Milliarden Euro hat die HRE noch keinen Cent gebraucht. Das gelte auch für alle anderen Banken, für die der Soffin Bürgschaften übernommen habe. "Es gibt bislang keinen einzigen Schadensfall", hieß es in Regierungskreisen. Die Gründung einer sogenannten Bad Bank, an die die deutschen Kreditinstitute faule Wertpapiere abtreten könnten, lehnt die Regierung weiter ab. Wirtschaftsminister Michael Glos sagte, mit einer solchen Bank würden die Probleme nur vordergründig gelöst. Der Anreiz für die Kreditwirtschaft, ihre Schwierigkeiten zu überwinden, sei größer, wenn sie die Wertpapiere in ihren Bilanzen behalten müsste. In dieser Frage seien er und Finanzminister Peer Steinbrück "wie Zwillingsbrüder". Nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau bereitet die Bundesbank allerdings die Gründung einer Bad Bank vor, um für den Fall eines Meinungswechsels gewappnet zu sein. (Kommentare)

HVB Real Estate Bank: Verstaatlichung Verstaatlichung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aktuelles Lexikon

Beast

Auf den ersten Meilen hielt es Barack Obama nicht in den Sitzen seines rollenden Bunkers, doch das lag sicher nicht am Wagen selbst: dem "Beast", wie die Amerikaner das neue First-Auto mit dem offiziellen Namen "2009 Cadillac Presidential Limousine" getauft haben. Obama stieg am Dienstag aus und ging ein Stück zu Fuß. Statt 15 Zentimeter dicker, schusssicherer Stahlkarosserie und Panzerglas umgab ihn nichts als Washingtoner Winterluft. Dabei hat der Secret Service zur präsidentialen Fortbewegung eigens das sicherste Vehikel der Welt erbauen lassen, das noch mit plattgeschossenen Reifen Angreifern davonfährt. Hinzu kommen Panzerglas und eine Innenkabine, die vor einem Anschlag mit chemischen Waffen schützen soll. Wie genau Obama in dem Gefährt mit der Nummer "USA-1" gegen Angriffe gewappnet ist, wird geheim gehalten. "Eines der technischen Details ist, dass wir nicht über technische Details reden", sagte David Caldwell, Sprecher von General Motors. Welcher Motor das Biest mit den großen Scheinwerfern und dem auffälligen Kühlergrill antreibt, ist unbekannt. Das Biest dürfte so viel wiegen wie ein Lkw und über mehr als 500 PS verfügen. Im Innern soll es mit feinsten Materialien ausgestattet sein, die von Hand gearbeitet sind. Das Biest ist ein Drilling: Zwei Lockvögel sollen Obamas Sicherheit zusätzlich erhöhen. Mehr Biester soll es aber nicht geben. kari

Auf den ersten Meilen hielt es Barack Obama nicht in den Sitzen seines rollenden Bunkers, doch das lag sicher nicht am Wagen selbst: dem "Beast", wie die Amerikaner das neue First-Auto mit dem offiziellen Namen "2009 Cadillac Presidential Limousine" getauft haben. Obama stieg am Dienstag aus und ging ein Stück zu Fuß. Statt 15 Zentimeter dicker, schusssicherer Stahlkarosserie und Panzerglas umgab ihn nichts als Washingtoner Winterluft. Dabei hat der Secret Service zur präsidentialen Fortbewegung eigens das sicherste Vehikel der Welt erbauen lassen, das noch mit plattgeschossenen Reifen Angreifern davonfährt. Hinzu kommen Panzerglas und eine Innenkabine, die vor einem Anschlag mit chemischen Waffen schützen soll. Wie genau Obama in dem Gefährt mit der Nummer "USA-1" gegen Angriffe gewappnet ist, wird geheim gehalten. "Eines der technischen Details ist, dass wir nicht über technische Details reden", sagte David Caldwell, Sprecher von General Motors. Welcher Motor das Biest mit den großen Scheinwerfern und dem auffälligen Kühlergrill antreibt, ist unbekannt. Das Biest dürfte so viel wiegen wie ein Lkw und über mehr als 500 PS verfügen. Im Innern soll es mit feinsten Materialien ausgestattet sein, die von Hand gearbeitet sind. Das Biest ist ein Drilling: Zwei Lockvögel sollen Obamas Sicherheit zusätzlich erhöhen. Mehr Biester soll es aber nicht geben.

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Kombinierer Ronny Ackermann

Der Puls ist zu hoch

Leipzig (sid) - Der viermalige Weltmeister Ronny Ackermann plagt sich einen Monat vor Beginn der Nordischen Ski-WM in Liberec (18. Februar bis 1. März) mit überhöhten Pulswerten herum. "Mein Ruhepuls ist um 20 bis 30 Schläge zu hoch. Dementsprechend komme ich bei harten Trainingseinheiten zu schnell an den Maximalpuls", sagte der nordische Kombinierer und bestätigte entsprechende Informationen der Bild-Zeitung.

Beim Thüringer vom WSV Dermbach war zuletzt ein Virus im Blut festgestellt worden, eingehende Untersuchungen hatten aber keine Infektionen wie Pfeiffersches Drüsenfieber ergeben, unter dem Ackermann früher schon einmal litt. "Die Blutwerte sind wieder in Ordnung. Ich bin zuversichtlich, dass sich der Puls auch normalisiert und ich noch rechtzeitig vor der WM in Form komme", sagte Ackermann. Trotz der Probleme ist Bundestrainer Hermann Weinbuch sicher, dass "die Zeit reicht, um Ronny in Form zu bringen". Ackermann bestritt von den letzten acht Weltcups nur drei und verzichtete auch auf die Reise zu den vorolympischen Wettbewerben nach Vancouver. Dafür hatte er in den zurückliegenden Tagen mit Eric Frenzel (Oberwiesenthal) und Olympiasieger Georg Hettich (Schonach) ein fünftägiges Spezialtraining in Predazzo absolviert.

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Kommentare

Da waren es nur noch sechs

Nicht alle Autokonzerne werden überleben - trotz Staatshilfen

Von Michael Kuntz

Nur sechs der heute zwei Dutzend bedeutenden Autokonzerne werden überleben. Es werden je ein japanischer, ein amerikanischer, ein deutscher, ein europäisch-japanischer, ein chinesischer und ein noch unbekannter sein. Dieses Bild von der Zukunft einer Schlüsselindustrie zeichnete Fiat-Chef Sergio Marchionne kurz vor Weihnachten. Das Bemerkenswerte war die Offenheit, mit der der vormals erfolgreiche Sanierer konstatierte: Sein Konzern allein ist nicht überlebensfähig. Fiat stellt nur zwei Millionen Autos pro Jahr her, und das ist zu wenig, um im Wettbewerb mit Toyota oder General Motors mithalten zu können, die in der Neun-Millionen-Liga spielen - was sie aber auch nicht davor bewahrt, gegenwärtig in Schwierigkeiten zu stecken.

Marchionne ging also auf Partnersuche. Gespräche mit BMW und PSA Citroën wurden bestätigt, waren aber offenkundig nicht sonderlich erfolgreich. Sonst hätte der Fiat-Mann wohl kaum nach dem Strohhalm Chrysler gegriffen, dessen amerikanische Händler nun angeblich nur darauf warten, möglichst viele Cinquecentos und andere italienische Kleinwagen zu verkaufen. Offensichtlich sind die Amerikaner ja ganz scharf auf kleine, sparsame und umweltfreundliche Autos, wie man in jüngster Vergangenheit daran sehen konnte, dass sich das BMW-Kultauto Mini und der Daimler-Kleinstwagen Smart in Nordamerika ausgesprochen gut verkauften.

Dabei wird übersehen, dass die Stückzahlen ähnlich klein sind wie diese Autos. Denn der Amerikaner an sich bewegt sich auf den achtspurigen Highways und von Ranch zu Ranch doch lieber im geräumigen Geländewagen oder mit der Pick-up-Pritsche. Beide vermitteln diese landesspezifische Mischung aus Größe und Geborgenheit.

Angesichts des binnen sechs Monaten halbierten Benzinpreises sind die gesellschaftlich vorübergehend geächteten Riesenteile für mehr Autofahrer wieder erschwinglich. Das anerkannte Prognoseinstitut Global Insight rechnet sogar damit, dass in den USA im Jahr 2016 wieder so viele Light Trucks, also Personenwagen im XXL-Format, verkauft werden wie vor der Krise.

Doch solche marktwirtschaftlichen Überlegungen sind derzeit nicht in Mode. Denn Staatshilfen hebeln das Gesetz von Angebot und Nachfrage aus. Amerikas Chrysler-Fahrer bezahlen ihre Karossen als Steuerzahler ein zweites Mal. Sie wenden damit eine politische Katastrophe ab, die droht, weil sehr viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Die Regierung in Washington verzögert damit das Ende von Konzernen, die außer ihren Arbeitnehmern niemand mehr braucht. Doch verhindern kann auch der neue Präsident Barack Obama die Neuordnung der globalen Autoindustrie nicht.

Langfristig wird die Nachfrage nach Autos wieder steigen, darin sind sich die Manager der Industrie einig. Sie unternehmen derzeit alles, um ihre ohnehin in den vergangenen Jahren ausgedünnten Belegschaften zu halten und so für die Zeit nach der Krise gerüstet zu sein. Gefragt sein werden die neuen kleinen Autos wie der Tata Nano in Indien. Also überdachte Plastikrikschas für Menschen, die Frau und Kinder bisher auf dem Motorrad durch tropische Regengüsse transportieren mussten. Sie werden sich nicht davon überzeugen lassen, dass ihre Rückkehr aufs Fahrrad der ökologisch sinnvollste Weg wäre.

Gute Chancen am anderen Ende des Angebotes werden die luxuriösen Autos haben, auf die sich große Teile der deutschen Industrie spezialisiert haben. Am stärksten unter Druck geraten die Produzenten belangloser Massenautos, die heute in vergleichbarer Qualität praktisch überall auf der Welt herzustellen sind. Da es sich dabei um weitgehend austauschbare Erzeugnisse mit ähnlichem Nutzen handelt, sind hier die Käufer beim Preis am sensibelsten.

Diese Zusammenhänge treten heute in den Hintergrund angesichts des Wettlaufes aller Staaten, ihren Autoherstellern helfen zu dürfen. Doch langfristig wird der Markt es richten. Es werden viele weitere Bündnisse kommen wie das von Fiat und Chrysler. Denn noch gibt es deutlich mehr als sechs Autohersteller. (Seite 18)

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Rudertrainerin Lau nach China

Frostiger Abschied

Potsdam/Düsseldorf (dpa) - Der Deutsche Ruderverband (DRV) steuert fünf Monate nach der Schlappe von Peking weiter in schwerem Fahrwasser. Aus Frust über ihren schwindenden Einfluss im Zuge der Neuausrichtung des Verbandes schlug Erfolgstrainerin Jutta Lau, 53, ein Angebot zu einer Vertragsverlängerung aus und entschloss sich zu einem Wechsel nach China. "Wir bedauern diesen Schritt. Sie war ohne Wenn und Aber unsere beste Trainerin", kommentierte der DRV-Vorsitzende Siegfried Kaidel die schmerzliche Trennung.

Das Ende der einstigen Musterehe verlief wenig harmonisch. Kurz vor der Scheidung äußerte die ehemalige Weltklasse-Ruderin, deren Athleten von 1988 bis 2004 jeweils mindestens einmal olympisches Gold und in Peking 2008 mit Silber und Bronze das einzige DRV-Edelmetall gewannen, ihren Unmut über den Kurswechsel. "Der Ruderverband hat mir nur Steine in den Weg gelegt. Kreativität ist dort nicht gefragt. Meine Erfolge zählen nicht mehr", klagte Lau in der Märkischen Allgemeinen Zeitung.

Nach der Berufung von Hartmut Buschbacher zum DRV-Cheftrainer war für Lau kein Platz mehr als verantwortliche Disziplin-Trainerin. Ihr Angebot, neben dem Skull- auch den Bereich Frauen-Riemen zu übernehmen, wurde mit Hinweis auf Buschbachers Führungsrolle abgelehnt. Auf den ehemaligen DDR-Nationaltrainer war Lau schlecht zu sprechen, weil der ihr Vorwürfe wegen der in Peking ausgebliebenen Goldmedaille gemacht haben soll. "Herr Buschbacher erklärte bei unserem ersten Aufeinandertreffen, er werde mir mal zeigen, wie man das macht", sagte Lau.

Für Laus Kritik an der Strukturreform, die der DRV als Reaktion auf die erste olympische Regatta seit 52 Jahren ohne Gold eingeleitet hatte, brachte Kaidel wenig Verständnis auf. "Ich habe ihr keine Steine in den Weg gelegt. Außerdem hätte sie sich als Cheftrainerin bewerben können." Wer Laus Nachfolge in Potsdam antreten soll, ließ der DRV-Vorsitzende offen. Die ehemalige Lau-Schülerin Kathrin Boron, die den Stützpunkt künftig leiten soll, wird in die Suche eingebunden. Im Februar beginnt für die 2001 vom Weltverband FISA als "Coach of the year" ausgezeichnete Lau eine neue Herausforderung. Nach kurzer Arbeit als Provinz-Trainerin wird sie von 2010 an für die chinesische Frauen-Nationalmannschaft zuständig sein.

Lau, Jutta SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Milliarden umsonst

Die Hypo Real Estate ist ein Fass ohne Boden

Von Thomas Fromm

Und noch ein Garantierahmen für die Hypo Real Estate - diesmal in Höhe von zwölf Milliarden Euro. Zusammen mit bereits bestehenden Garantien erhöht sich die Summe, mit der der Steuerzahler für die Rückzahlung von durch den Immobilienfinanzierer emittierte Wertpapiere geradesteht, auf 42 Milliarden Euro. Ach ja, und dann waren da noch die 50 Milliarden Euro, die im Herbst vergangenen Jahres dem Konzern über Nacht zugeschossen werden mussten. Eine Hilfe von Bund und Banken, ohne die der Konzern den darauffolgenden Morgen wohl nicht mehr erlebt hätte. Macht insgesamt 92 Milliarden Euro. 92 Milliarden Euro für einen Konzern, der an der Börse weniger als eine halbe Milliarde Euro wert ist. Und bei dem jetzt schon einigermaßen klar ist, wo die Reise vermutlich hinführt: ins Nichts.

Es ist mehr als fraglich, ob der Konzern das viele Geld jemals wieder einspielen wird. Die Wahrscheinlichkeit tendiert gegen null: Das Neugeschäft des Instituts soll brachliegen, gleichzeitig wird der Finanzkonzern unter seinem neuen Management zu einem kleinen Unternehmen zusammengeschrumpft, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Es geht bei der HRE nicht darum, einen notleidenden Konzern wieder auf Vordermann zu bringen - oder, wie im Fall von Commerzbank und Dresdner, eine wackelige Bankenfusion abzusichern. Bei der HRE geht es nur noch darum, ihren ungeordneten Zusammenbruch und dessen Folgen für die gesamte Finanzwirtschaft zu vermeiden. Tragisch ist, dass dies Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern wird. Und noch tragischer ist es, dass es am Ende wohl weit mehr als 92 Milliarden Euro kosten wird. (Seite 21)

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Billig: Regenwald retten durch Bierkonsum
Teuer: Regenwald retten mit Designer-Shirts

Es gab Zeiten, da erkannte man den ökologisch lebenden Gutmenschen auf den ersten Blick - an der Jutetasche, am selbstgestrickten Pullover und manchmal auch am Geruch (entweder wollten sie Wasser sparen oder sie hingen dem Irrglauben an, dass Duschgel dem Grundwasser schadet).

Heute ist alles anders. Nichts ist einfacher, als Konsum mit einem ökologisch reinen Gewissen zu verbinden. Und zwar mit Stil! Hollywood-Stars machen es vor: Cameron Diaz kauft ein Öko-Haus, Leonardo DiCaprio bewirbt eine Kreditkarte aus umweltfreundlichem Material und Brad Pitt fährt ein Hybrid-Auto. Und auch wir dürfen teilhaben an diesem Öko-Glamour: Für gut 125 Dollar können wir T-Shirts des brasilianischen Modedesigners Carlos Miele erstehen - dafür rettet der dann mit einem Teil des Geldes und der Rainforest Foundation von Sänger Sting den Regenwald. Das ist doch ein fairer Deal, so müssen wir das nicht selbst machen. Prominente haben die Shirts gestaltet, Model Caroline Trentini zum Beispiel, Stylistin Rachel Zoe und Schauspielerin Scarlett Johansson. Letztere hat liebevoll kleine Bäume auf das Shirt gemalt (Foto: oh). Auf Nimmerwiedersehen, Jutetasche! Hannah Wilhelm

Wirklich traurig, dass der Normalverbraucher so wenig Zeit hat, die Erde zu retten. Es ist schon verdammt schwer, auch mal dem Regenwald und den Weltmeeren etwas zurückzugeben. Wann denn, bitteschön? Der moderne Mensch hat ja schließlich genug zu tun. Wie gut, dass es die Brauerei Krombacher gibt, die den Bundesmoderator Günther Jauch dafür bezahlt, dem Verbraucher eine einfache Rechnung zu präsentieren: Wer einen Kasten Bier kauft, rettet einen Quadratmeter Regenwald. Das Bequeme daran ist, dass der Verbraucher seinen Lebensstil nicht ändern muss. Er trinkt einfach weiter wie bisher, nur eben mit dem guten Gefühl, seinem Alkoholkonsum Sinn zu geben.

Wenn also Biertrinken helfen kann, die Welt zu retten, warum nicht für jede Tüte Milch einen Quadratmeter Ozonloch schließen? Oder für jeden Kasten Mineralwasser ein Windrad bauen? Oder für jede Packung Reis einen Tibeter vor den Chinesen retten?

Ja, aus schlechtem Gewissen ist der Verbraucher zu so einigem bereit. Der Konsum eines Produkts muss nur als moralische Handlung, als politische Geste verkauft werden. Wirklich traurig.

(Foto: AP) Alexander Mühlauer

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Billig: Sonnenbrille beim Strandverkäufer
Teuer: Sonnenbrille beim Optiker

Die Sonne geht auf. Endlich. Auf die erste Freude folgt ein Niesreiz in der Nase, weil die wintermüden Augen die Helligkeit nicht mehr gewohnt sind. Die Sonnenbrille? Verloren auf der letzten Bergwandertour des vergangenen Jahres, irgendwo im Geröllfeld, kläglich verschüttet. Also auf zum Grabbeltisch auf dem Flohmarkt? Oder gar den ersten Urlaub abwarten und dann kurzentschlossen eine Plastikbrille am Strand kaufen? Niemals. Es bleibt einzig und allein der Gang zum Optiker. Denn: Nur teure Sonnenbrillen taugen.

Dass dem so ist, weiß jede Frau, die schon mal versucht hat, sich ein Billigmodell elegant in die Haare zu schieben. Es gibt nichts Anmutigeres, das eine Dame mit einer Sonnenbrille tun kann. Eigentlich. Doch eine Zehn-Euro-Brille leiert aus, zerbricht, verrutscht. Eleganzfreie Zone. Braucht es also ein 215-Euro-Gestell, um Haarsträhnen stilvoll zu bändigen? Eindeutig.

Auch wenn eine Frau die Sonnenbrille nicht im Haar, sondern auf ihrer Nase trägt, muss es eine teure sein - Prominente wie Victoria Beckham (Foto: dpa) machen es vor. Denn dann sucht eine Frau Schutz. Nicht nur vor den faltenbringenden UV-Strahlen, oft genug auch vor Blicken. Trennungsverweinte Maulwurfsaugen oder restalkoholisierte Müdigkeit lassen sich verbergen. Solche Situationen sind entwürdigend genug. Niemand, wirklich niemand möchte die Lage mit einer stillosen Billigbrille noch schlimmer machen.

Außerdem halten die Edelausführungen deutlich länger. Häufig sogar länger als gewünscht. Gefällt sie nicht mehr oder ist die Mode gnadenlos mit großen Schritten an ihr vorübergezogen, bleibt dann nur eines: eine Bergtour, am besten mit Geröllfeld. Hannah Wilhelm

Wer als Deutscher geboren wird, erfährt früh, dass das ein Problem ist. Im Urlaub, zum Beispiel, wenn man von Kindern, mit denen man am Strand Sandburgen baut, mit einem fröhlichen "Good Morning, Hitler!" begrüßt wird. Ja, der Strand ist so ein Ort, wo auch Menschen aus der Provinz merken, was der Zusammenprall der Kulturen (vielen Dank auch, Globalisierung!) alles anrichten kann. Nehmen wir die Crux mit der Sonnenbrille. Dreimal täglich kommt am Strand ein Mann mit einem großen Koffer vorbei und stört. Er stört, weil man lieber lesen, dösen oder einfach seine Ruhe haben will. Das lässt den Mann kalt, er stört immer wieder. Er grüßt, stellt seinen Koffer ab, gerne sehr nah neben dem Handtuch, auf dem man liegt, öffnet den Koffer und präsentiert: Sonnenbrillen mit grässlichen neonfarbenen Gläsern, die die zwei Engländer neben einem schon seit vier Tagen tragen und damit ziemlich dämlich aussehen. Seit Tagen versucht man vergeblich, den Mann mit dem Koffer zu überzeugen, dass man keine Sonnenbrille kaufen möchte, denn selbst fünf Euro sind für diesen Schrott zu viel.

Es ist schon komisch: Zu dem französischen Paar geht der Mann mit dem Koffer gar nicht erst hin. Und das, obwohl die beiden noch keine Sonnenbrillen mit neonfarbenen Gläsern tragen. Die Franzosen erklären das so: Den Deutschen werde einfach nicht zugetraut, dem Angebot zu widerstehen. Hmm. Guckt man sich am Strand um, so haben die Franzosen recht: karierte Socken, kombiniert mit Sandalen, in der Hand eine Flasche schlechtes hessisches Bier, dazu eine neongelb verspiegelte Sonnenbrille. Deutsche, das erfährt man am Strand, haben wirklich ein Problem.

(Foto: laif) Alexander Mühlauer

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Mutige Prognose

Die Bundesregierung sieht Deutschland am Ende der Rezession

Von Claus Hulverscheidt

Die interessanteste Information des Jahreswirtschaftsberichts findet sich erst auf Seite 68. Dort ist eine Grafik abgebildet, die darüber Auskunft gibt, wie sich nach Einschätzung der Bundesregierung das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vierteljahresrhythmus entwickeln wird. Die Botschaft ist eindeutig und für Laien sicher überraschend: Nach einem erneuten kräftigen Einbruch der Wirtschaftsleistung im laufenden ersten Quartal 2009 wird das BIP in den drei Folgequartalen wieder kontinuierlich wachsen - schwach zwar, aber immerhin.

Rein technisch betrachtet hieße das, dass Deutschland entgegen manch hysterischer Untergangsszenarien nicht am Beginn, sondern am Ende der Rezession steht. Dass die Regierung im Vergleich der Gesamtjahre 2008 und 2009 dennoch einen BIP-Rückgang um zweieinviertel Prozent und damit den stärksten Konjunktureinbruch seit Kriegsende erwartet, steht dazu nicht im Widerspruch. Vielmehr ist das BIP seit dem letzten Frühjahr bereits so stark geschrumpft, dass selbst bei einer Trendwende in diesem Mai oder Juni das Niveau des Vorjahres unerreichbar bleiben wird.

Die Prognose der Regierung ist damit optimistischer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Das ist mutig, aber nicht gänzlich unrealistisch, denn die in aller Welt beschlossenen Konjunkturprogramme werden schon aufgrund ihrer schieren Größe im Laufe des Jahres Wirkung zeigen. Das heißt mitnichten, dass die Politik die Hände in den Schoß legen könnte, denn eine einzige neue Horrormeldung vor allem aus der Finanzbranche könnte das fragile Gebilde Aufschwung sofort wieder zum Einsturz bringen. Es bedeutet aber auch nicht, dass es Grund zur Resignation gibt. (Seite 17)

Rezession in Deutschland Konjunkturprognosen für Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Auf Bewährung

Der Fall Zumwinkel macht deutlich, dass die Manager heute kritischer gesehen werden als je zuvor

Von Karl-Heinz Büschemann

In Bochum beginnt soeben ein seltenes Schauspiel: Der Chef eines Dax-Konzerns steht vor Gericht. Klaus Zumwinkel, 65, der frühere Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post, ist der Steuerhinterziehung angeklagt, er muss aber wahrscheinlich nicht ins Gefängnis. Er dürfte mit Bewährung und einer Geldstrafe davonkommen.

Aber Zumwinkel hat spätestens bei seiner Verhaftung im Februar 2008, die vor Fernsehkameras öffentlich zelebriert wurde, zu spüren bekommen, dass sich in diesem Land etwas geändert hat. Manager werden heute kritischer gesehen als je zuvor, sie gelten nicht mehr als Teil einer Elite, für die angeblich andere Gesetze gelten als für Normalsterbliche. Der Steuerhinterzieher Zumwinkel steht nicht nur als Zumwinkel vor Gericht, sondern auch als Prototyp des heute übel beleumundeten Managerwesens.

Mit der spektakulären Festnahme eines prominenten Wirtschaftsführers vor laufenden Fernsehkameras wollten Justizbehörden und Finanzministerium offenbar demonstrieren, dass Gesetz und Rechte auch für Manager Geltung haben. Für die Kaste in den Vorstandsetagen war damit ein Katastrophenjahr eingeleitet. Als im weiteren Verlauf von 2008 die Finanzkrise ihre zerstörerische Wucht zeigte, als die Gewinne schrumpften und die Aktienkurse abstürzten, wurden die Führungskräfte unsanft daran erinnert, dass sie nichts Besonderes sind und sie keineswegs eine neue Zauberwirtschaft mit Wunderrenditen erfunden hatten, in der die alten ökonomische Regeln nicht mehr gelten. Sie mussten einsehen, dass hohe Gewinne nur mit großem Risiko zu haben sind. Sie wurden an die schlichte Wahrheit erinnert, dass in einer auf Pump gegründeten Wirtschaft eines Tages der Kredit zurückbezahlt werden muss. Das Kurzfristdenken mit einem Horizont von drei Monaten wurde entzaubert wie der Glaube an den Garten Eden der Finanzmärkte. Ernüchternder konnte ein Jahr für die Manager kaum sein als das Jahr 2008.

Heerscharen von Managern glaubten zuletzt, in den modernen Zeiten seien dauerhafte Kapitalrenditen von 25 Prozent möglich, wer sie nicht schaffe, sei ein Versager. Diese Vorstellung ist vom angelsächsischen Investment-Banker-Denken geprägt und wurde in Deutschland vom Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, verbreitet. Der aber backt inzwischen viel kleinere Brötchen, die Deutsche Bank ist von der Finanzkrise eingeholt worden und in die Verlustzone gerutscht. Sie steht auch nicht so krisensicher da, wie ihr Chef behauptet. Wenn aber nicht einmal die Deutsche Bank ein Hort der Sicherheit ist, darf man sich nicht wundern, wenn das Wort von Managern bei den Bürgern nur noch wenig gilt.

Wo sich die Finanzelite durch eine Mischung aus Leichtsinn, Skrupellosigkeit und Gier ins gesellschaftliche Abseits manövriert, schlägt die Stunde der Politiker, die den Staat als letzten Hort des Vertrauens empfehlen. Man kann es den Politikern nicht einmal übelnehmen, dass sie sich selbst zu feiern beginnen, nur weil die einst großen Chefs von Banken und Konzernen inzwischen um Hilfe vom Staat betteln, um Folgen abzufedern, die sie selbst heraufbeschworen haben. Die Politiker sollten aber nicht vergessen, dass auch sie den Beleg dafür schuldig blieben, dass sie die besseren Unternehmer sind. Ausgerechnet die Banken, die in der Hand des Staates liegen, stehen in dieser Finanzkrise am schlechtesten da.

Die Chefs von Konzernen und Banken müssen einen Neuanfang wagen, wenn sie wieder zu Ansehen kommen wollen. Sie müssen Vertrauen und Anstand, die alten Werte, wieder zu ihren neuen Werten machen. Vor allem aber muss ihnen klar sein, dass sie in die nächste Katastrophe rennen, wenn sie glauben, dass ihnen die Regeln und Gesetze egal sein können, weil sie diese selber machen können. Zumwinkel wird Bewährung erhalten. Nicht nur er muss sich bewähren.

Zumwinkel, Klaus: Rechtliches Zumwinkel, Klaus: Steueraffäre Führungskräfte in Deutschland Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ostdeutschland verarmt

Wohlstand für wenige

Studie: Die Mehrheit der Deutschen konnte vom vergangenen Aufschwung nicht profitieren. Risiko von Altersarmut steigt

Von Thomas Öchsner

Berlin- Seit 2002 sind die Reichen in Deutschland reicher geworden und die weniger Wohlhabenden und Armen ärmer geworden. Das ist das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Danach wird die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung immer größer - und Ostdeutschland verarmt zunehmend.

2002 befand sich Deutschland am Rand einer Rezession. 2007 ging es dagegen mit der Wirtschaft noch aufwärts, das Bruttoinlandsprodukt wuchs um 2,5 Prozent. Die große Mehrheit der Bevölkerung konnte davon aber nicht profitieren, rechnen die Wissenschaftler des DIW vor: Das Vermögen (Geldbesitz, Immobilien, Versicherungen, nach Abzug von Verbindlichkeiten) konzentriert sich immer mehr bei den reicheren Gruppen der Bevölkerung.

So verfügte das wohlhabendste Zehntel der erwachsenen Bevölkerung 2007 über 61,1 Prozent des privaten Vermögens. 2002 waren es noch 57,9 Prozent. Allein das reichste Hundertstel hielt 2007 knapp 23 Prozent des Nettovermögens. Dagegen besaßen die weniger wohlhabenden 70 Prozent der Erwachsenen nur knapp neun Prozent des gesamten Nettovermögens. Auch dieser Anteil ist in dem Vergleichszeitraum von fünf Jahren leicht geschrumpft.

Die Berliner Forscher stützen ihre Untersuchung auf die jüngsten verfügbaren Daten aus dem sozioökonomischen Panel (SOEP), einer repräsentativen Befragung von etwa 23 000 Personen in Privathaushalten ab 17 Jahren. Die Studie, die das DIW an diesem Mittwoch vorstellte, wurde von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Das DIW hatte bereits im November 2007 eine ähnliche Untersuchung vorgelegt.

Mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich folgt die Entwicklung einem weltweiten Trend. Seit den frühen neunziger Jahren steigen die Einkommen der Spitzenverdiener auf allen Kontinenten erheblich schneller als die Gehälter von Geringverdienern. Die deutschen Zahlen sind deshalb im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich. Deutschland stehe hier mit seinen Zahlen "noch moderat" da, sagte Markus Grabka, einer der Autoren der Studie.

Hohe Freibeträge für Reiche

Die Berliner Wissenschaftler rechnen damit, dass sich die Schere bei der Vermögensverteilung in den nächsten Jahren weiter öffnet. Auf der einen Seite profitierten Wohlhabende von hohen Freibeträgen bei der reformierten Erbschaftsteuer und von der neuen Abgeltungsteuer in Höhe von 25 Prozent auf Kapitalerträge, sagte der DIW-Experte Grabka. Auf der anderen Seite gehe - sofern überhaupt vorhanden - das Vermögen von Arbeitslosen zurück, da die Einführung von Hartz IV dazu beigetragen habe, dass diese ihre Ersparnisse auflösen. Schließlich müssten Erwerbslose erst eigenes Vermögen weitgehend aufzehren, bevor diese staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen könnten. Nach Ansicht der Forscher wächst deshalb in Deutschland das Risiko von Altersarmut, besonders in den neuen Bundesländern.

Insgesamt belief sich das private Bruttovermögen (ohne Autos und Hausrat) in Deutschland auf etwa 8,055 Billionen Euro. Den größten Anteil daran hatten Grund- und Immobilienbesitz mit 5,3 Billionen Euro. Dem standen Schulden der Privathaushalte von gut 1,4 Billionen Euro gegenüber. Im Durchschnitt verfügte damit jeder Erwachsene über ein individuelles Vermögen von gut 88 000 Euro - knapp 8000 Euro mehr als 2002.

Wie wenig die Zahlen über die reale Verteilung des Wohlstandes aussagen, zeigt ein Blick auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen. Nach den Berechnungen des DIW wuchs das durchschnittliche Nettovermögen im wohlhabendsten Zehntel der Bevölkerung von gut 208 000 auf mehr als 222 000 Euro. Die Angehörigen des reichsten Prozents besaßen sogar mehr als 817 000 Euro. Zum Vergleich: Facharbeiter oder Angestellte mit einfacher Tätigkeit kommen auf knapp 46 000 Euro, Beamte des einfachen und mittleren Dienstes auf 63 000 Euro und Rentner und Pensionäre auf gut 113 000 Euro. Menschen ohne Vermögen und mit mehr Schulden als Besitz sind bei Angelernten und Arbeitslosen mit Abstand am häufigsten.

Auffällig ist die Entwicklung in Ostdeutschland: Während im Westen die Nettovermögen zwischen 2002 und 2007 von durchschnittlich knapp 91 000 auf gut 101 000 Euro stiegen, sank der Mittelwert im Osten von 34 000 auf 31 000 Euro. Die Forscher des DIW nannten dafür zwei Gründe: Die Preise für Immobilien sind in vielen ostdeutschen Regionen eingebrochen. Außerdem hat die hohe Arbeitslosigkeit dazu beigetragen, dass in den Altersgruppen zwischen 35 und 65 Jahren die durchschnittlichen Vermögen in den fünf Jahren um mehr als zehn Prozent gesunken sind. Dieser Schwund, heißt es in der Untersuchung, sei "sozialpolitisch besorgniserregend".

Private Vermögensbildung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Billig: Musik aus dem Netz herunterladen
Teuer: Platten und CDs kaufen

Diese Woche hat die Geiz-Gesellschaft mal wieder bekommen, wonach sie lechzt: Beim Online-Portal Qtrax soll man künftig kostenlos Musik herunterladen können, wenn man sich dafür mit dämlichen Werbesprüchen zumüllen lässt. Dieser digitale Ramsch ist noch schlimmer als Steve Jobs' iTunes; Qtrax ist der Sieg der Kostet-Nix-Attitüde, das Ende der Hörkultur, eine Beleidigung für die Sinne und dann ist da noch dieser Name, der wie ein Milzbranderreger klingt: Anthrax, äh Qtrax.

Spätestens seit Berlin-Mitte-Hipster mit ihren weißen iPod-Kopfhörern Anfang der Nullerjahre die CD beerdigten, ist der Musikkonsum um drei Dinge ärmer geworden. Erstens: Der Plattenladen, eine Oase entspannten Stöberns, stirbt aus. Nach einer CD oder Schallplatte zu suchen ist wie in der Zeitung zu blättern und mit dem Papier zu rascheln: Genuss für die Sinne. Und erst das Probehören: Die Erotik des Knisterns, des Rauschens, wenn man eine Schallplatte auf den Plattenteller legt und die Nadel vorsichtig aufsetzt, ist Hörgeschichte.

Zweitens: Das MP3- oder AAC-Format von digitalen Musikdateien verschluckt ganze Frequenzbereiche. Das Ergebnis ist Fadheit: Bässe klingen hohl, die Höhen aufdringlich, oberflächlich, kurz gesagt: verdammt schlecht. Allein deshalb lohnt es sich, mehr Geld für eine CD oder Platte auszugeben als für virtuelle Dateien zu bezahlen.

Drittens: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis unsere Sprache vor diesem Kulturverfall kapituliert. Das schöne Wort Bandsalat, den Kassetten produzieren konnten, steht nicht mal mehr im Duden. Über die Goldene Schallplatte und das CD-Regal spricht man noch. Wer mag schon eine Goldene Musikdatei? Ein Regal braucht man ja nicht mehr, eher eine zusätzliche Festplatte. Diese sollte man sich sowieso zulegen, denn wer kann sich schon vor einem Computerabsturz schützen? Alles ist dann weg - einfach so. (Foto: ddp) Alexander Mühlauer

Wenn ich Musik kaufe, dann sitze ich gemütlich zu Hause. Ich muss nicht hinter sanft nach Schweiß riechenden Heavy-Metal-Fans anstehen, die voller Genuss die zahlreichen Neuerscheinungen mit unterschiedlich blutigem Cover durchprobieren, bevor ich endlich in das Album reinhören kann, das mich interessiert. Nein, ich bekomme Musik aus dem Internet. Das ist praktisch - und günstig. Im Laden kostet ein Album oft über 15 Euro, vor allem, wenn es eine Neuerscheinung ist. Weil dann alle wie die Lemminge in die Geschäfte rennen. Diese Logik gibt es im Internet nicht. iTunes, das Angebot von Apple zum Musik-Herunterladen, war meine Einstiegsdroge. Hier hat Musik eine klare Währung: 99 Cent pro Lied, 9,99 Euro für ein Album. Das ist fair. Argumente wie "Das ist mir technisch zu aufwendig" zählen nicht. Das sagen nur Menschen, die es noch nie ausprobiert haben. Bei Qtrax.com soll es 25 Millionen Lieder gratis geben, wenn sich das Portal mit den Musikfirmen einigen kann. Gut, man muss sich Werbespots anhören, die Datei wird nach 30 Tagen unbrauchbar und man kann sie nicht auf CD brennen. Aber ehrlich - manche Lieder möchte ich gar nicht langfristig besitzen. Lieder, die ich wirklich nur in einem Club nachts um vier Uhr toll finde, oder noch schlimmer: Lieder, die gerade in den Charts sind und einem zum eigenen Bestürzen irgendwie gefallen. Solche Musik ziehe ich mir ab sofort gratis, sie tut ihren Dienst und beschützt mich eine Zeit lang vor den Gesprächen übellauniger U-Bahn-Gäste. Nach 30 Tagen mag ich sie eh nicht mehr hören. Weg damit. Wirklich gute Alben kaufe ich weiter bei iTunes. Das ist im Übrigen platzsparend. Wer nun klagt, dass er sich doch das CD-Booklet so gerne ansieht, den bitte ich um Ehrlichkeit: Wie oft sitzt man abends vor dem staubigen Ikea-Billy-CD-Regal und blättert erfreut die kleinen Heftchen durch, die eh bei dem Versuch verknicken, sie erneut in die Hülle einzufädeln? Eben! Hannah Wilhelm

Downloads aus dem Internet Musik im Internet Musikindustrie in Deutschland SZ-Serie Billig Teuer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Trainerberuf in der Krise

Prämien für die Busfahrer

Berlin - "Eins muss klar sein", sagte Jürgen Mallow am Ende seiner Ausführungen vor dem Bundestags-Sportausschuss: "Mangel kann man nicht mit Mangel beseitigen." Damit hatte der Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) die Ausschuss-Debatte zum "Stellenwert der deutschen Trainer im Spitzensport" auf eine griffige Formel gebracht: die Forderung nach mehr Geld. Ganz im Sinne der ersten repräsentativen Studie über den Trainerberuf in Deutschland, die vergangenen Herbst von Wissenschaftlern der Universität Tübingen vorgestellt wurde.

Deren Ergebnisse sind alarmierend: "Manche Honorartrainer verdienen gerade mal 400 Euro im Monat, sollen aber eine wesentliche Rolle beim Produzieren von Olympiasiegern spielen", sagte der Tübinger Professor Ansgar Thiel am Mittwoch in Berlin. Wegen "großen Drucks, Unsicherheit und oft problematischer Anstellungsverhältnisse" sei der Trainerberuf frustrierend und wenig attraktiv. Außerdem bleibe kaum Zeit, sich fortzubilden. Claudia Bokel, Athletenvertreterin in DOSB und IOC, erläuterte, welcher Spagat von Trainern erwartet werde: fachliche Spezialisierung auf ihre jeweilige Disziplin, aber auch Kenntnisse in Feldern wie Biomechanik, Medizin, Psychologie usw. "Aber oft ist der Trainer auch Busfahrer", sagte die Fechterin, "und er muss das Hotel aussuchen."

Das Trainerproblem hat längst Negativ-Auswirkungen auf den Erfolg bei Olympischen Spielen, heißt es in der Studie. Doch in Berlin wurden am Mittwoch keine große Lösung, nur viele kleine Stellschrauben aufgezeigt. Bokel schlug "eine Art Trainee-Programm" vor, um schon aktive Sportler an den Trainerberuf heranzuführen. Joachim Meester (Sporthochschule Köln) mahnte eine Weiterbildungs-Offensive an. Und DOSB-Generaldirektor Michael Vesper brachte - unter anderem - ein umstrittenes Instrument wieder ins Gespräch: Erfolgsprämien für Trainer von Olympiasiegern. 50 000 Euro könnte es für eine Goldmedaille geben, "aufgeteilt unter all jenen, die an der Karriere beteiligt waren". Was Dagmar Freitag (SPD) zu der Frage brachte, wo überall diese "Beteiligten" gefunden werden sollten: "Ist da auch die Lehrerin dabei, die früher mal gesagt hat: ,Du hast Talent, geh' in einen Verein?'" ("Ja, und die Hebamme", witzelten Vertreter der Bundesregierung.) Doch solche Leistungsanreize sind umstritten, weil sie Trainer zu übertriebenem Ehrgeiz verleiten könnten. Oder zu unerlaubten Methoden. Ansgar Thiel mahnte deshalb, "nicht nur kurzfristigen Erfolg, sondern auch Bemühungen bei der Weiterbildung zu prämieren".

Im Bundeshaushalt 2008 hatte es letztmals mehr Geld für den Spitzensport gegeben, prompt war die Zahl der hauptamtlichen Bundestrainer um 40 gestiegen. Ihr Gehalt konnte zudem um sieben Prozent angehoben werden - erstmals seit 1997. "Wir haben das Parlament gebeten, da 2010 nochmal nachzulegen", sagte Vesper nun. Doch auch der DOSB-Mann dürfte ahnen, wofür die Politik derzeit Geld auszugeben bereit ist - und wofür nicht. Claudio Catuogno

Claudia Bokel Foto: dpa

Jürgen Mallow Foto: dpa

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Kuriose Krise bei Feyenoord

Beenhakker, hilf!

Roy Makaay hatte das getan, was er am besten kann. Er hatte sich nicht übermäßig viel bewegt, er hatte darauf vertraut, dass der Ball irgendwann mal bei ihm vorbeischauen würde, und als der Ball kam, traf Makaay ihn derart mächtig, dass das Tornetz schwere Beulen davontrug. Es war das 1:1 für Feyenoord Rotterdam, und Makaay schlug den einzigen Laufweg ein, auf den man sich bei ihm verlassen kann: Er rannte zu den Fans, um sich feiern zu lassen. Auf die Fans aber war diesmal kein Verlass: Sie schwiegen. Und als das Spiel in Heerenveen zu Ende und 1:3 verloren war, schwiegen sie immer noch.

Es ist gerade nicht leicht, Spieler bei Feyenoord Rotterdam zu sein. Als sich Feyenoord und Heerenveen am Dienstag im Pokal-Achtelfinale erneut begegneten, diesmal in Rotterdam, war auch auf Makaay kein Verlass mehr. Das Spiel endete 0:3.

In der Tabelle der Eredivisie belegt Feyenoord zurzeit nur den 12. Platz, mit vier Punkten Vorsprung auf die Abstiegsränge und 25 Punkten Rückstand auf Tabellenführer Alkmaar. Es ist mehr als eine handelsübliche Krise, denn ein paar nicht sehr handelsübliche Begleiterscheinungen haben aus der Krise ein kurioses Spektakel gemacht. So entließ die Klubführung vorigen Mittwoch Trainer Gertjan Verbeek, obwohl sie ihn gar nicht entlassen wollte; aber die Spieler hatten sich in einer Abstimmung mit großer Mehrheit gegen den Coach ausgesprochen und das Ergebnis der Abstimmung sicherheitshalber auch den Medien mitgeteilt. Kurz darauf trat Verbeek vor die Kameras und legte "wegen mangelnden Vertrauens" die Arbeit nieder - ein von den Profis erzwungener Rücktritt, den die Anhänger mit dem schweigenden Liebesentzug konterten. Verbeek steht im Ruf, eine Art Holland-Magath zu sein, und während die Fans des Arbeiterklubs den disziplin- und fitnessfanatischen Coach als einen der Ihren verehren, lehnten weitgereiste Profis wie Makaay oder Giovanni van Bronckhorst die Härten des Trainings ebenso ab wie ständige Lebenswandel-Predigten - zumal sie in der Vorsaison die lässige Führung des ehemaligen Dortmunder Coaches Bert van Marwijk genießen durften, der Fitness für überschätzt hält.

Bei Feyenoord wissen sie, dass niemand den Klub besser versöhnen kann als Leo Beenhakker, der alte Rotterdamer. Er soll am besten sofort übernehmen, als Übergangstrainer, und im Sommer soll er dann Sportdirektor werden. Zurzeit ist er allerdings noch als Nationaltrainer und Volksheld in Polen beschäftigt, aber es sieht so aus, als würde es den polnischen Fans demnächst ähnlich ergehen wie den Fans von Feyenoord: Wahrscheinlich verlieren sie bald ihren Lieblingstrainer. Christof Kneer

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Zeit ist Geld

Am Tag der Amtseinführung brachen die Kurse an der Wall Street ein - ein Zeichen dafür, dass der neue Präsident die Wirtschaft schnell stabilisieren muss

Von Nikolaus Piper

Es war ein scharfer Kontrast zu den schönen Bildern aus Washington. Während zwischen Kapitol und Lincoln Memorial mehr als eine Million Amerikaner den neuen Präsidenten feierten, brachen an der Wall Street die Aktienkurse ein. Der Dow-Jones-Index verlor 332 Punkte oder 4 Prozent, womit der 20. Januar 2009 börsenmäßig der schlechteste Amtseinführungstag der Geschichte wurde. (Als Franklin Roosevelt im März 1933 seinen Eid ablegte, war die Börse geschlossen). Eine neue Vertrauenskrise bei den großen Banken hatte den Kursrutsch ausgelöst. Die Bank of America zum Beispiel, die größte Bank der Vereinigten Staaten, geriet unter Druck, weil die Fusion mit der schwer angeschlagenen Investmentbank Merrill Lynch offenbar viel teurer wird als erwartet.

Klar ist, dass Barack Obama schnell handeln muss, um die Lage zu stabilisieren. Und nach allem, was aus seinem Team zu hören ist, wird er das auch tun, möglicherweise noch in dieser Woche. Die Modelle, die im Gespräch sind, reichen von der faktischen Verstaatlichung einiger Banken bis zur Schaffung einer staatlich gestützten "Bad Bank", also einem Institut, bei dem die anderen ihre faulen Kredite abladen können. Die Regierung könnte auch in großem Umfang sogenannte Wandelanleihen der Banken erwerben; das sind Schuldverschreibungen, die notfalls in Aktien umgewandelt werden können. Der Staat würde auf diese Weise die Institute mit Geld versorgen und sich gleichzeitig die Möglichkeit einer Verstaatlichung offenhalten. Würde Obama zu diesem letzten Mittel greifen, würden die Aktien wertlos. Bei den Aktionären nähren sich daher die Furcht vor neuen Verlusten und die Angst vor dem Eingreifen des Staates gegenseitig.

Relativ schnell dürfte der neue Präsident sich an die Neuregulierung der Finanzmärkte machen. Und was immer er da beschließen sollte, wird Auswirkungen über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus haben. Ohne Amerika wird es keine globale Reform geben, wenn Amerika Standards setzt, kommen die anderen an diesen kaum vorbei. Für diese Neuregulierung gibt es bereits ein Modell. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit legte vorige Woche die "Gruppe der 30" in New York einen "Rahmenplan zur Finanzstabilität" vor. Die Gruppe ist eigentlich ein exklusiver Zirkel vorwiegend pensionierter Geld- und Währungsexperten; er wird vom früheren Präsidenten der israelischen Zentralbank, Jacob Frenkel, geleitet und äußert sich gelegentlich auf sehr akademischer Ebene zu Fragen der internationalen Wirtschaftspolitik. Was den neuen Plan der Gruppe interessant macht, ist sein Autor: Paul Volcker, 81, früherer Präsident der Notenbank Federal Reserve, und einer der engsten Berater von Präsident Obama. Mit Volcker hat Obama in den zweieinhalb Monaten des Amtsübergangs seine Äußerungen zur Finanzkrise abgestimmt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass vieles aus dem 70-seitigen Bericht demnächst Gesetz wird.

Das Risiko des Scheiterns

Der Plan sieht einige sehr weitgehende Vorschriften vor; sie werden das Geschäft mit dem Geld weniger riskant, aber auch weniger profitabel machen. Im Prinzip teilt Volcker die Finanzinstitute - Banken, Hedgefonds, Versicherungen und andere - in zwei Gruppen ein: In solche, die wegen ihrer Größe und Struktur die Stabilität des Finanzsystems gefährden können und solche bei denen das nicht der Fall ist. Letztere können im Wesentlichen tun und lassen was sie wollen; das Risiko des Scheiterns tragen Eigentümer, Kreditgeber und Kunden. Alle anderen jedoch werden umfassend und wesentlich systematischer als bisher reguliert. Am weitesten reicht vermutlich diese Vorschrift: Große Banken sollen nur noch in sehr begrenztem Umfang Risiken im Eigenhandel eingehen dürfen. Dieser Handel, also Finanzgeschäfte, die nicht im Auftrag von Kunden abgewickelt werden, haben in Boom-Jahren bei Instituten wie Goldman Sachs, Merrill Lynch und der Deutschen Bank für außerordentliche Gewinne gesorgt - aus denen in der Krise dramatische und systemgefährdende Verluste wurden. Hochriskante Hedgefonds sollen große Banken überhaupt nicht mehr betreiben dürfen.

Mit Blick auf die Risiken will Volcker auch den Marktanteil von Banken beschränken. Das dürfte für die USA und Deutschland mit ihren vielen regionalen Banken und Sparkassen irrelevant sein, nicht aber in vielen kleineren europäischen Ländern. Auch das Geschäft der Hedgefonds wird nach dem Volcker-Plan stark eingeschränkt. Wenn Fonds eine bestimmte Größe überschreiten, müssen sich deren Manager registrieren lassen. Die Behörden sollen erstmals Mindestvorschriften für Kapital und Liquidität der Fonds erlassen in den Ländern, in denen diese arbeiten, nicht dort, wo sie den Firmensitz haben. Damit wird die Flucht der Fonds in regulierungsfreie Oasen wie die Cayman-Inseln gestoppt.

Die USA sollen die beiden staatlich unterstützten Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac grundlegend umbauen. Die beiden Banken hatten, mit einer impliziten Staatsgarantie im Rücken, durch fahrlässige Kredite den Immobilienboom angeheizt und so zur Finanzkrise beigetragen. Staatliche Wohnungsbauförderung und privates Finanzgeschäft müssen streng getrennt werden, heißt es im Volcker-Bericht. Paul Volcker hat die Chance, seine Ideen unmittelbar umzusetzen. Er amtiert seit Dienstag als Vorsitzender eines "Beraterstabs für die wirtschaftliche Erholung", der dem Präsidenten Expertisen unterbreitet.

Den Banken wird immer weniger Vertrauen entgegengebracht, das ließ die Kurse an den Börsen abrutschen. Paul Volcker (u.), der frühere Chef der US-Notenbank, soll nun im Auftrag von Obama neue Regeln für die Finanzwelt finden. AP/AFP

Regierung Obama 2009 Wirtschaftspolitik in den USA Folgen der Finanzkrise in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alles für die Tonne

Die Preise für Altpapier sind um 90 Prozent eingebrochen. Viele Recyclingfirmen bringt das in finanzielle Nöte, am Ende müssen auch die Verbraucher draufzahlen

Von Silvia Liebrich

München - Noch vor einem halben Jahr haben sich Kommunen und private Abfallentsorger einen erbitterten Kampf um alte Zeitungen und andere Papierabfälle geliefert. Irritierte Bürger ärgerten sich über blaue Mülltonnen, die ohne ihr Zutun vor dem Haus aufgestellt wurden und die Wege blockierten. In einigen Gemeinden und Städten kochten die Emotionen so hoch, dass Gerichte einschreiten mussten, um die Müll-Streitereien zu schlichten. Inzwischen haben sich die Vorzeichen geändert. Seit vergangenem Sommer sind die Altpapierpreise dramatisch gefallen. Aus dem lukrativen Handel mit Papierabfall wurde in kürzester Zeit ein Verlustgeschäft. Einige Entsorger, die noch vor kurzem nicht genug von dem Rohstoff an sich raffen konnten, dürften ihr Engagement heute bedauern.

Seit Oktober 2008 brachen die Preise für gemischtes Altpapier nach Angaben des Statistischen Bundesamtes um knapp 90 Prozent ein. Bekamen die Entsorger noch vor einigen Monaten bis zu 100 Euro für eine Tonne, so werden derzeit von den Abnehmern fünf Euro und weniger gezahlt. In einigen Städten wie im baden-württembergischen Tuttlingen wurde der kostenlose Abholdienst für Altpapier bereits teilweise eingestellt. Einzelhändler und Gewerbetreibende müssen seit Jahresanfang für den Containerdienst eine Gebühr entrichten oder den Papiermüll selbst wegbringen.

Schuld an der Misere ist wie in anderen Branchen die Finanzkrise und der damit verbundene Konjunktureinbruch. Es wird weniger produziert und damit auch weniger verpackt. Viele Verarbeiter bringt das in Schwierigkeiten. "Sehr viele Betriebe haben das vierte Quartal 2008 mit roten Zahlen abgeschlossen", sagte am Mittwoch Werner Templin, Geschäftsführer der Interessengemeinschaft Papierrohstoffe (IG Paro). Seit Oktober seien die Auftragseingänge drastisch zurückgegangen. Die Lager quellen über. "Vor allem der Export ist beinahe vollständig weggebrochen", ergänzte Templin. Der größte Abnehmer von Altpapier, China, habe von heute auf morgen die Annahme neuer Ware verweigert, so dass einige volle Containerschiffe aus Europa unverrichteter Dinge wieder die Heimreise antreten mussten. Auch China leidet unter dem weltweiten Konjunktureinbruch und hat seine Produktion von Industrie-und Konsumgütern deutlich zurückgefahren. Damit sinkt auch der Bedarf an Verpackungsmaterial. Zudem hat die Volksrepublik in den vergangenen Jahren riesige Lagerbestände angehäuft, die nun sukzessive abgebaut werden können, ohne dass Nachschub geordert werden muss. "Die überschüssige Ware drängt nun zurück auf den europäischen Markt, so dass wir jetzt ein Überangebot haben, das die Preis drückt", sagte Templin weiter. Hinzu kommt auch ein heftige Einbruch im Inlandsgeschäft.

Etwa 15 Millionen Tonnen Altpapier werden nach Branchenangaben jährlich in Deutschland wiederverwertet. Die Recyclingquote liegt bei 70 Prozent und ist so hoch wie kaum in einem anderen Land. In den Ausbau der Maschinenkapazitäten wurde in den vergangenen Jahren stark investiert, so dass Deutschland zuletzt mehr Altpapier importierte als exportierte, um die Kapazitäten auch nur annähernd auszulasten. Zu schaffen machen vielen Recyclingunternehmen auch die langfristigen Verträge mit Kommunen, in denen meist für fünf bis sechs Jahre eine fester Abnahmepreise garantiert wird, der deutlich über dem aktuellen Marktwert liegt. Einen Gewinn erwirtschaften die meisten erst bei einem Preis von 25 bis 35 Euro je Tonne Altpapier.

Auch bei Melosch in Hamburg, einem mittelst ndischen Recyclingunternehmen mit 250 Beschäftigten, verfolgt man die Entwicklung mit Sorge. Gut 70 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet die Firma nach eigenen Angaben pro Jahr. "Der Preisverfall bringt uns in Not", sagt ein Firmensprecher. Nicht nur Altpapier habe deutlich an Wert verloren, sondern auch andere Recyclingrohstoffe wie Schrott. Preisschwankungen habe es zwar schon immer gegeben, "dass ein Preisverfall aber so schnell kommt, ist ungewöhnlich", ergänzt er. Eine erste Konsequenz aus dem Niedergang am Rohstoffmarkt hat Melosch bereits gezogen: 20 Mitarbeiter verloren ihre Stelle.

Deutsche Privathaushalte bekommen von der Krise der Altpapierindustrie bislang kaum etwas zu spüren, auch dank langfristiger Abnahmeverträge, die die meisten Kommunen mit ihren Abnehmern geschlossen haben. Erholen sich die Preise jedoch mittelfristig nicht, werden nach Einschätzung der Interessengemeinschaft Papierrohstoffe am Ende auch die Verbraucher draufzahlen müssen, wenn sie ihren Papiermüll los werden wollen.

Noch vor kurzem galt Altpapier als wertvoller Rohstoff. Doch ein drastischer Preisverfall hat dem Recyclingboom vorerst ein Ende gesetzt. Wie auf diesem Abfallwirtschaftshof in Kiel wachsen inzwischen auch anderenorts die Papierstapel in den Himmel. Foto: AP

Recyclingindustrie in Deutschland Papierrecycling in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erst mal nur ein Sechser

Nach dem Wechsel de Jongs haushaltet der HSV mit dem Erlös

Hamburg - Am Mittwochmorgen bestieg Nigel de Jong, 24, ein Flugzeug nach England, Gesundheitscheck und Vertragsunterzeichnung des niederländischen Fußball-Nationalspielers bei Manchester City standen auf dem Programm. Damit war der seit Tagen angekündigte, bisher größte Transfer des Hamburger SV perfekt. Rund 20 Millionen Euro wird der Wechsel dem HSV bringen, der vor drei Jahren noch 1,5 Millionen Euro an Ajax Amsterdam bezahlt hatte. Es ist der dritte große Zahltag der Hamburger in dieser Saison. Im August 2008 war erst Rafael van der Vaart für 15 Millionen Euro zu Real Madrid abgewandert und dann Vincent Kompany für neun Millionen Euro zu Manchester City, wo nun eine kleine HSV-Fraktion entsteht.

4,5 Millionen Euro Gehalt

De Jong unterschrieb einen Vertrag bis Juni 2013 und kassiert angeblich 4,5 Millionen Euro Gehalt pro Jahr. So ein Entgeld kann der kleinere Klub in Manchester nur finanzieren, weil die Ölquellen des neuen City-Besitzers Scheich Mansour bin Zayed al Nayan aus Abu Dhabi nicht zu sprudeln aufhören, nur weil ansonsten weltweit das Kapital knapp ist. Gerade erst wurde das Angebot für den Spielmacher des AC Mailand, Kakà, über 120 Millionen Euro aus Italien zurückgewiesen. Dennoch wird der derzeitige Tabellenelfte der englischen Premier League weiter nach namhaften Profis fahnden - um alsbald mit dem großen Lokalrivalen Manchester United auf Augenhöhe zu spielen.

Der HSV wiederum wird auch wegen des Finanzdilemmas anders als im August, als er selbst für 28 Millionen Euro die vier Spieler Mladen Petric, Marcell Jansen, Alex Silva und Thiago Neves verpflichtete, nicht alles sofort wieder ausgeben. Womöglich kommt erst einmal nur ein Sechser - einer, der die Position von de Jong vor der Abwehr spielen kann. Jemand wie Demy de Zeeuw (AZ Alkmaar), Steven Defour (Standard Lüttich) oder Stephane Mbia (Stade Rennes).

Den Rest will Vorstandschef Bernd Hoffmann wohl erst im Sommer ausgeben. Weil dann, wie er vermutet, die globale Krise wohl auch bei manchem Fußballklub angekommen ist - und diese dann verkaufen müssen. Als sicher gilt freilich, dass der 27-jährige Stürmer Milan Jovanovic, ebenfalls in Lüttich beschäftigt, als Nachfolger für den zum FC Bayern München wechselnden Ivica Olic auf dem HSV-Zettel steht. Landsmann Olic selber hat dem serbischen Kollegen seinen aktuellen Arbeitgeber angeblich empfohlen.

Beim Hamburger SV ist von einer Krise noch keine Spur. Gerade hat man den Vertrag mit einer in Dubai beheimateten Fluggesellschaft bis 2012 verlängert; künftig soll es statt fünf nun 7,5 Millionen Euro pro Jahr geben. Wie die Finanzmittel für de Jong kommt also auch dieses Geld aus der Wüste. Derzeit gibt es wohl für einen Fußballklubs keine bessere Kapitalquelle. jöma

Die teuersten Transfers der Bundesliga

Jahr Spieler alter/neuer Verein Summe*

2007 Owen Hargreaves FC Bayern München/Manch.United 25 Mio.

2009 Nigel de Jong Hamburger SV/Manchester City 20 Mio.

2000 Emerson Bayer 04 Leverkusen/AS Rom 20 Mio.

2001 Evanilson Borussia Dortmund/AC Parma 17 Mio.

2006 Dimitar Berbatow B. Leverkusen/Tottenham Hotspur 16 Mio.

2008 Rafael van der Vaart Hamburger SV/Real Madrid 15 Mio.

2005 Alexander Hleb VfB Stuttgart/Arsenal London 15 Mio.

2007 Miroslav Klose Werder Bremen/Bayern München 12-15 Mio.

2006 Khalid Boulahrouz Hamburger SV/FC Chelsea 13 Mio.

1998 Jörg Heinrich Borussia Dortmund/AC Florenz 12,5 Mio.

2004 Lúcio Bayer 04 Leverkusen/Bayern München 12 Mio.

2007 Marcell Jansen B. M'gladbach/Bayern München 11-12 Mio.

(* Summen zumeist Schätzungen)

Nigel de Jong Foto: Getty

Hamburger SV: Personal Hamburger Sportverein: Finanzen Transfers von Fußballspielern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Die USA haben Recht gebrochen"

Der Präsident und Guantanamo

Der Völkerrechts-Professor Andreas Paulus von der Universität Göttingen beschäftigt sich seit Jahren mit den Gefangenen von Guantanamo. Er hofft, dass die USA nun wieder zu gerechten Prozessen finden.

SZ: Der neue US-Präsident Barack Obama hat die Tribunale im Gefangenenlager Guantanamo suspendiert. Darf er das?

Andreas Paulus: Ja. Denn das sind keine Gerichte im eigentlichen Sinn, sondern spezielle Militärtribunale, die der Präsident einrichten und wieder auflösen kann.

SZ: Kommt es da nicht zu einer Vermengung zwischen Justiz und Regierung?

Paulus: Das ist richtig, aber die Militärtribunale unterstehen der Befehlsgewalt des Präsidenten. Dafür besteht das Gericht ausschließlich aus Soldaten.

SZ: Warum?

Paulus: Weil sich das oft militärfreundlich auswirkt. Denken Sie an die Verfahren wegen Ü;bergriffen von US-Soldaten im Irak. Die endeten oft wie das Hornberger Schießen.

SZ: Die Guantanamo-Häftlinge wurden dagegen alles andere als privilegiert behandelt. Was wird jetzt aus ihnen?

Paulus: Es ist noch nicht klar, wie die Regierung Obama vorgehen wird. Manche fordern ein neues Sonder-Verfahren mit einem besseren rechtsstaatlichen Schutz. Das wäre "Guantanamo light" - und würde das Ansehen Amerikas kaum heben. Andere verlangen, die Häftlinge entweder vor ordentliche Gerichte zu stellen oder freizulassen. Mir scheint, die Diskussion läuft in diese Richtung - aber vielleicht bin ich da zu optimistisch.

SZ: Was macht den Umgang mit den Guantanamo-Häftlingen so schwierig?

Paulus: Da gibt es solche Gefangenen, die die Amerikaner vor Gericht stellen wollen, weil sie zum Beispiel an Anschlägen beteiligt waren. Falls diese Häftlinge jedoch gefoltert wurden, wären ihre Aussagen vor einem normalen Gericht unverwertbar. Dann gibt es diejenigen, denen man mangels Beweisen nicht den Prozess machen kann. Man möchte sie aber auch nicht in ihre Heimat zurückschicken. Sei es, weil sie dort misshandelt würden, oder, weil sie sich wieder Terrorgruppen anschließen könnten.

SZ: Wie sollten die USA mit solchen Menschen umgehen?

Paulus: Es ist mit rechtsstaatlichen Gründen kaum vereinbar, solche Leute einfach wegzusperren. Deswegen sollte man sie in ihre Heimat zurückschicken und dafür sorgen, dass sie dort überwacht werden.

SZ: Haben die Vereinigten Staaten auf Guantanamo Völkerrecht gebrochen?

Paulus: Ohne Frage. Das gilt insbesondere für die Vernehmungs-Methoden und das Festhalten ohne Prozess. Außerdem waren die Sondergerichte nicht wirklich unabhängig.

SZ: Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele fordert,George W. Bush wegen Folter in Amerika den Prozess zu machen.

Paulus: Dies wäre grundsätzlich möglich. Zu erwarten ist es nicht.

Interview: Stefan Ulrich

Völkerrechtler Andreas Paulus ddp

Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Anklage gegen Schumacher

Der ehemalige Infineon-Chef Ulrich Schumacher muss sich nun doch wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit und Untreue vor Gericht verantworten. Wie die Staatsanwaltschaft in München mitteilte, hat sie bereits am 19. Dezember Anklage gegen den 50-Jährigen erhoben, der derzeit in Schanghai arbeitet. AP

Schumacher, Ulrich: Straftat SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Blickpunkt

Der Großaktionär greift durch

Der Immobilienkonzern IVG wechselt den Finanzvorstand aus

Der Mann übernimmt einen schwierigen Job: Wenn Wolfgang Schäfers Anfang Februar beim Immobilienkonzern IVG als Finanzvorstand einsteigt, dann muss er sich schnell in die Finanzierung der Bauobjekte einarbeiten. Das Thema Refinanzierung beschäftigt die ganze Branche. Seit dem Platzen der Immobilienblase sind Finanzierungen bei Banken schwieriger und teurer geworden. Die Immobilienbranche spürt die Kreditklemme.

Spätestens bei der nächsten Aufsichtsratssitzung am 28. Januar soll nach Informationen der Süddeutschen Zeitung die Entscheidung für Schäfers fallen. Der Platz des Finanzvorstands wird bei der IVG frei, weil Bernd Kottmann das Handtuch wirft. Kottmann ist schon seit dem Jahr 2001 im Vorstand des auf europäische Büroimmobilien spezialisierten Unternehmens, seit 2007 zuständig für Finanzen. Schäfers leitet bislang bei der Luxemburger Privatbank Sal. Oppenheim das Investmentbanking für Immobilienkunden und hat an der Universität Regensburg den Lehrstuhl für Immobilienmanagement inne. Er gilt als versierter Kenner der Immobilienmärkte. Ein Sprecher der IVG wollte die Information nicht kommentieren.

Mit Schäfers schickt das Bankhaus Oppenheim nun einen ihrer eigenen Männer zur IVG, an deren Gedeihen sie angesichts eines Aktienpakets von 20 Prozent plus einer Aktie höchst interessiert sein muss. Die Finanzkrise hat bei der IVG tiefe Spuren hinterlassen: Deswegen musste der Vorstand seine Jahresziele drastisch kappen und erwartet für das abgelaufene Jahr 2008 nur noch einen Gewinn von 50 bis 60 Millionen Euro nach einem Rekordgewinn von 301 Millionen im Jahr zuvor. Der Aktienkurs hat binnen eines Jahres mehr als 80 Prozent verloren.

Die ehemals staatliche Industrieverwaltungsgesellschaft wurde im Jahre 1993 privatisiert und an die Börse gebracht, seit 1997 konzentriert sie sich auf Gewerbeimmobilien in Europa. In den vergangenen Jahren waren die Preise in vielen europäischen Immobilienmärkten wie England oder Spanien stark geklettert.

Erst im November hatte die IVG mit dem ehemaligen Telekom-Manager Gerhard Niesslein einen neuen Vorstandschef bekommen. Vorgänger Wolfhard Leichnitz hatte im September überraschend das Handtuch geworfen, knapp drei Jahre vor Ablauf seines Vertrages. Analysten hatten dem Management vorgeworfen, Immobilien zu teuer eingekauft zu haben. Entsprechend schmerzhaft waren die Abwertungen, welche die IVG vornehmen musste. Damals galt Oppenheim als treibende Kraft hinter dem Wechsel bei dem Bonner Konzern. Die Bank ist gleich doppelt im Aufsichtsrat vertreten, mit Bankchef Matthias Graf von Krockow und Detlef Bierbaum, der das Kontrollgremium leitet.

Kottmann hatte dem Vernehmen nach selbst Ambitionen auf den Chefposten, ging dann allerdings zum zweiten Mal bei der IVG leer aus. Deswegen habe er sich selbst für einen Rücktritt entschieden. Noch bis Ende Mai soll Kottmann an Bord bleiben. Caspar Dohmen

Erste Wahl: Wolfgang Schäfers. F: Universität Regensburg

IVG Holding AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nummer 35 aus dem Füllhorn

Der VfL Wolfsburg kauft weiter ein und glaubt, dass diese Politik langfristig auch beim Autoverkauf hilft

Wolfsburg - Die Nachricht des Dienstages war in Wolfsburg mal wieder keine gute. 61 000 Mitarbeiter der Volkswagen AG werden demnächst in Kurzarbeit gehen, 16 000 davon allein in der niedersächsischen VW-Stadt. Natürlich versucht der Konzern, die Autokrise für das Personal so gut abzufedern wie möglich. Das ist Tradition. Doch am Tag danach wurde auch deutlich, dass man an einem anderen Ende auf keinen Fall sparen will. Die VW-Tochter VfL Wolfsburg, der vielleicht inzwischen beste Werbeträger neben dem Klassiker Golf, machte so weiter wie seit dem Dienstantritt des Trainermanagers Felix Magath im Sommer 2007. Er verpflichtete in dem slowakischen Nationalspieler Peter Pekarik, 22, den 35. Profi in anderthalb Jahren.

Und natürlich hat der vom MSK Zilina für 1,5 Millionen Euro Ablöse geholte Rechtsverteidiger auch etwas gesagt, was in der Autobranche derzeit nur wenige sagen können. Es sei "ein Traum und ein großer Karriereschritt", nach Wolfsburg zu kommen. In diese "Stadt, in der alles auf einem sehr hohen Niveau ist". Das wird wohl trotz aller Wirtschaftskrisen zumindest für Fußballprofis vorerst so bleiben. "Das Füllhorn wird nicht versiegen", sagte Klaus Fuchs, Leiter der Sportkommunikation von VW. Es werde "kein ,No go' oder Stopp geben". Magaths Aktivitäten würden im Unternehmen "außerordentlich hoch eingestuft", sagte er noch. Ein loyales Urteil, denn Fuchs selbst wurde ja als VfL-Manager von Magath abgelöst, was nicht ohne Schrammen ablief.

Auch künftig werde es kein begrenztes Budget für den VfL geben. Im Prinzip müsse Magath, der Vertraute von VW-Boss Martin Winterkorn, nur mit Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch reden, um neues Geld für Transfers zu bekommen. Allein in dieser Saison hat der VfL fast 34 Millionen Euro für 15 Profis ausgegeben. Mehr als in der vergangenen Spielzeit, als Wolfsburgs wichtigster Fußballangestellter mit 29 Millionen Euro begann, das komplette Team auszutauschen, wobei damals immerhin über 14 Millionen aus Verkäufen zurückflossen.

Zwei Dinge haben neben dem guten Verhältnis zu Winterkorn dazu geführt, dass Magaths Ansehen sogar noch gestiegen ist. Unter seinen Einkäufen gab es kaum Flops, sondern fast nur Spieler, die dem Wolfsburger Anspruch einen Schub geben, künftig dauerhaft international mitzuspielen. Ob das nun Torhüter Diego Benaglio, Abwehrchef Andrea Barzagli, Neu-Nationalspieler Marcel Schäfer, die Mittelfeldspezialisten Josuè und Zvezdan Misimovic oder die Angreifer Grafite oder Edin Dzeko sind.

Zudem spielt Magath durchaus Doppelpass mit dem Konzern. Das nächste Wintertrainingslager will er kurz vor der WM 2010 in Südafrika abhalten. Eine prima Marketing-Idee. Im VW-Werk Uitenhagen arbeiten 5000 Mitarbeiter, zudem ist man Sponsor der beiden Erstligaklubs Moroka Swallows und Bay United. Zudem ist der VfL neben dem FC Bayern München der einzige Bundesligaklub, der inzwischen zwei Italiener unter Vertrag hat. Auch das kommt gut an im Unternehmen, immerhin leben in Wolfsburg 6000 Italiener, die meisten arbeiten natürlich bei VW. Und auch mit dem zweiten japanischen Profi nach Makoto Hasebe will Magath sowohl dem Konzern als auch seiner Fußballmannschaft helfen, die in Japan gegen die dortige Autokonkurrenz antritt.

Es ist der Stürmer Yoshito Okubo, 26, der kurz vor dem Trainingslager im spanischen Jerez de la Frontera als 34. Spieler der Magath-Ära für zwei Millionen Euro verpflichtet wurde. Auch da ist der Trainer ziemlich sicher, dass dieser Profi der Mannschaft weiterhelfen kann - nicht nur, weil ihn die neuen Kollegen schon "Yoshi" rufen und er in den Testspielen gegen Mainz und Greuther Fürth bereits die ersten Tore erzielte. "Man merkt gar nicht, dass er ein Neuer ist", sagte Magath nach der Vorbereitung. Dieser Kämpfertyp sei auch "fußballerisch eine Bereicherung".

Okubo selbst hat vielleicht schon den schwierigsten Teil der Umschulung hinter sich. Er weiß jetzt, warum Felix Magath in Deutschland den Spitznamen "Quälix" trägt. In sein Fitnessprogramm hat der Coach natürlich auch wieder die hügelige spanischen Landschaft eingebaut, indem er die Profis die kleinen Erhebungen hinaufächzen ließ. Es war, sagte Okubo, die härteste Vorbereitung, die er in seiner Karriere mitgemacht habe.

Nun fehlt nur noch, dass der inzwischen als Spitzenteam wahrgenommene VfL Wolfsburg auch so viele Punkte erkämpft wie ein Spitzenteam. Vorerst fehlen dem Tabellenneunten sechs Zähler bis zum Fünften, dem Uefa-Cup-Anwärter Bayer Leverkusen. Holt man die nicht auf, gäbe es erstmals in der Magath-Zeit auch im Fußball wieder schlechte Nachrichten aus Wolfsburg. Jörg Marwedel

Soll in Japan für Fußball, Wolfsburg und Volkswagen werben: Yoshito Okubo, die 34. Verpflichtung der jungen Ära des Teammanagers Felix Magath, in einem Testspiel gegen Pascal Matthias (rechts) vom 1. FC Magdeburg. Foto: Fishing4

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Ein Tod gibt Rätsel auf

Die Finanzkrise fordert offenbar ein weiteres Opfer: Der irische Immobilieninvestor Patrick Rocca hat sich das Leben genommen

Patrick Rocca hatte es geschafft. Der hundertfache Millionär, Spross einer italienischen Einwandererfamilie, war fester Bestandteil der irischen Gesellschaft: Mit Tony Blair parlierte er bei Gala-Dinners und mit Bill Clinton spielte er Golf. Auch seine Schwester Michelle sorgte für Schlagzeilen: Die ehemalige Miss Irland ist mit Musikerlegende Van Morrison liiert.

Doch am Montagmorgen ist die schöne Welt des Immobilienspekulanten endgültig zu Bruch gegangen. Da sahen ihn Nachbarn in Dublin im Schlafanzug herumlaufen - kurze Zeit später war er tot. Alles deute auf Selbstmord hin, teilte die irische Polizei mit. Rocca sei einer Schusswunde im Kopf erlegen.

Die Zahl der Selbstmorde, die in Zusammenhang mit der Finanzkrise gebracht werden können, steigt damit fast schon im Wochenrythmus: Nach dem neuseeländisch-britischen Finanzinvestor Kirk Stephenson, dem französischen Fondsmanager René-Thierry Magon de la Villehuchet und dem schwäbischen Milliardär Adolf Merckle hielt nun offenbar auch Rocca dem Druck nicht mehr stand.

Welche Gründe Rocca in den Suizid getrieben haben könnten, ist zunächst aber unklar. Die Familie äußerte sich nicht. Dem Vater dreier Kinder habe der finanzielle Ruin gedroht, vertraute ein namentlich nicht genannter Freund irischen Zeitungen an. Offenbar habe sich Rocca mit einem Engagement bei der Großbank Anglo Irish verhoben, hieß es in der irischen Presse weiter. Das Institut war am Freitag durch Verstaatlichung vor dem Kollaps gerettet worden.

Mit dem Freitod des 42-Jährigen bekommt die Geschichte der Familie Rocca erstmals dunkle Schattierungen; bislang galt sie als extrem erfolgreich. Patricks Großvater war in den 1920er Jahren als Steinmetz nach Irland gekommen, der Vater gründete 30 Jahre später den Baustoffhändler Rocca Tiles, Irlands mittlerweile führenden Importeur für Marmor- und Ziegelsteine. 1995 übernahm Patrick Rocca die operative Führung. Fünf Jahre später wurde das Unternehmen mehrheitlich an eine Investorengruppe verkauft und Patrick stieg ins Immobiliengeschäft ein. Die Geschäfte liefen gut, Folge auch des rasanten Wirtschaftsaufschwungs in Irland: Im Jahr 2007 wurde Roccas Vermögen auf 500 Millionen Euro geschätzt, seine Firma war an zahlreichen Grundstücks- und Immobiliengeschäften beteiligt. Darunter waren namhafte Aufträge: die Lloyds Chambers in Londons Finanzdistrikt, der Crystal Court am Londoner Flughafen und das Norwich Union House in Sheffield sowie zwei Bürokomplexe an Londons Flughafen Gatwick. Im vergangenen Jahr wechselte der Unternehmer schließlich auch ins Mediengeschäft und erwarb einen 12,5-Prozent-Anteil am irischen Magazin-Verlag Progressive News & Media, zu dessen Titeln auch das Klatschmagazin RSVP zählt. Paul Katzenberger

Patrick Rocca, hier mit seiner Frau Annette. Foto: oh

Selbstmorde von Prominenten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Weiter geht die Abwehrlotterie

Mönchengladbachs vier Neue für die Defensive signalisieren Hilfsbereitschaft - mehr noch nicht

Mönchengladbach - Mit einer bunten Revue aus den spektakulärsten Nummern der misslungenen Hinrunde sind in diesem Winter die tapsigen Fußballartisten von Borussia Mönchengladbach auf Tournee. Nach unterhaltsamen Pannenshows in Israel und Spanien sind sie nun erstmals im neuen Jahr auch im heimischen Varieté namens Borussia-Park aufgetreten und erhielten nach dem 2:4 gegen Borussia Dortmund jene akustische Resonanz, die sie gut kennen. Mit Pfiffen bewerteten 6000 Gladbacher Fans nach einer trüben Vorführung jene Niederlage, die sich trotz der Hoffnung stiftenden Zugänge in Tor (Logan Bailly), Abwehr (Paul Stalteri) und Mittelfeld (Tomas Galasek) als Reprise einer unfrohen Halbserie entpuppte. "Eigentlich war heute alles wie in der Hinrunde", sagte der Sportdirektor Max Eberl über das fehleranfällige Spiel und kreierte mühsam neue Hoffnung: "Wenn Dante erst mitspielt, wird es sicher besser!" Der Innenverteidiger und vierte Neue ist verletzt.

Es bleibt viel Platz für Projektion. Fünf Millionen Euro haben die Gladbacher in der Winterpause für vier neue Spieler ausgegeben, aber von einer guten Investition kann bislang keine Rede sein. Sie verloren 1:2 gegen den Regionalligisten Paderborn, 0:3 gegen den ukrainischen Champions-League-Teilnehmer Donezk und 2:4 gegen den Ligakonkurrenten Dortmund. Gegen Grasshopper Zürich gab es zwar ein 4:2, aber wieder zwei Gegentore, und es ist nun mal die fragile Torverhinderung, die Gladbach bei 35 Gegentreffern in 17 Bundesligaspielen zur schwächsten Abwehr der Liga degradierte und die Klubleitung überzeugte, dass Geld für vier defensive Facharbeiter zu investieren sei. Mit Mittelfeldmann Galasek, 36, und Außenverteidiger Stalteri, 31, schlugen sie auf der Jagd nach Abwehrspezialisten UND Routiniers zwei Fliegen mit einer Klappe, allerdings mühten sich gegen Dortmund beide noch um Akklimatisierung und ihrem ab Februar unter ultimativem Erfolgsdruck stehenden Trainer Hans Meyer allenfalls grundsätzliche Komplimente ab: "Wir wissen, was wir an ihnen haben!"

Je sechs Rechtsverteidiger, Innenverteidiger und zentral-defensive Mittelfeldspieler sowie drei Torhüter waren in Gladbachs Abwehrlotterie in der Hinrunde zum Einsatz gekommen, aber statt zu einer Entscheidung im wochenlangen Selektionsprozess gerieten Trainer und Klubleitung zu der kostspieligen Erkenntnis, dass es auf diesen Stellen gänzlich neuen Personals bedarf. Folglich erwarb man aus Belgien vom RC Genk den Torwart Logan Bailly und von Standard Lüttich den brasilianischen Innenverteidiger Dante sowie aus Tschechien von Banik Ostrava den früheren Nürnberger Tomas Galasek und vom Londoner Vorortklub Tottenham Hotspur den früheren Bremer Paul Stalteri. Vier von sieben zur Torverhinderung prädestinierte Positionen sind so zur Rückrunde neu besetzt.

Bislang haben die vier Neuen aber bloß Hilfsbereitschaft signalisieren können, so dass der Trainer Meyer sie bereits mit einem Lächeln unter Druck setzen muss. "Sie dürfen sich sicher nicht ein Jahr Zeit lassen wie zum Beispiel der Ailton damals in Bremen", sagte Meyer über die Dringlichkeit einer zügigen Integration. Zugleich beteuerte er die Richtigkeit seiner Akquisitionen, als er nach dem 2:4 gegen Dortmund befand: "Ich liege nicht so falsch!" Am kommenden Samstag besteht daheim gegen den tschechischen Erstliga-Zweiten FK Mlada Boleslav die letzte Chance zur Formfindung, bevor eine Woche später mit dem Gastspiel beim VfB Stuttgart jene Rückrunde beginnt, die für die Gladbacher mit Hoffenheim und Bremen dann gleich zwei weitere starke Kontrahenten bereit hält.

Kommende Woche könnte es noch zu Ausmusterungen kommen, denn nach den Akquisitionen soll der Kader entrümpelt werden. Drei Spieler sind bereits in die zweite Liga gewechselt: Alexander Voigt zur SpVgg Greuther Fürth, Sascha Rösler zu 1860 München und Sebastian Svärd zu Hansa Rostock. Sharbel Touma und Soumaila Coulibaly haben noch keinen Verein gefunden, Uwe Gospodarek ist bei Bayer Leverkusen im Gespräch, Marcel Ndjeng beim Hamburger SV.

Auch der robuste Verteidiger Steve Gohouri wähnt sich von der Borussia ausgemustert, das dementiert Sportchef Max Eberl allerdings. "Wenn Steve sich nicht mit Borussia identifizieren und auf den Abstiegskampf konzentrieren kann, dann muss er einen Verein bringen, der für ihn eine adäquate Ablöse bezahlt." Es soll Interessenten aus England geben, und weil auf der Insel noch nicht jeder Penny zweimal herumgedreht wird, erhoffen sich die Gladbacher für Gohouri offenbar eine Ablöse, die die investierten fünf Millionen Euro zumindest teilweise wieder ausgleicht. Ulrich Hartmann

Neuer Ordner: Der belgische Torhüter Logan Bailly soll nun Mönchengladbachs fragile Abwehr zusammenhalten. Foto: Getty

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Befreit von allen Skrupeln

Zwangsabtreibung, Schutzgeld-Erpressung, Verstümmelungen und Mord: Offiziell kämpft die verbotene PKK immer noch für die Unabhängigkeit Kurdistans, ihr deutscher Ableger aber fällt vor allem durch sein brutales Vorgehen gegen Abweichler auf

Von Hans Leyendecker

Karlsruhe - Es war Liebe, und die war streng verboten. Als die Kurdin Özlem Akan und der Kurde Tayfur Örüm, genannt "Ahmet", ein Paar geworden waren, durfte das niemand erfahren. Die Eltern nicht und vor allem nicht die Freunde von der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Intime Kontakte unter professionellen Aktivisten sind nicht erlaubt, sie könnten nur vom Kampf für ein freies Kurdistan ablenken.

Im Mai 2006 hatten sich die beiden auf einer Trauerfeier für einen Kader in Freiburg kennengelernt: "Hallo Özlem", hatte er ihr zugerufen, und danach hatte es ziemlich schnell zwischen ihnen gefunkt. Sie wurde schon bald schwanger und teilte ihm dies voller Freude mit. Er aber bat sie, sich das mit dem Kind noch einmal zu überlegen. "Was gibt es da zu überlegen?", soll sie gefragt haben. Sie wollte das Kind und er doch auch. Oder? Eine Woche blieb Tayfur Örüm daraufhin bei Özlem Akan in ihrer kleinen Wohnung in Weil am Rhein, und er flehte sie jeden Tag an, endlich "vernünftig" zu werden. Ansonsten werde er in den Irak abhauen und zuvor allen Freunden sagen, dass das Kind nicht von ihm sei.

Doch Özlem Akan wollte nicht auf ihr Kind verzichten, und Tayfur Örüm ging auch nicht sofort in den Irak. Deshalb muss sich nun das Oberlandesgericht in Düsseldorf mit den Folgen dieser kurzen Liebesbeziehung beschäftigen. Und nicht nur dieses Verfahren, auch andere Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit werfen ein Schlaglicht auf die PKK in Deutschland. Sie geriert sich als Organisation für den Freiheitskampf in Kurdistan, doch ebenso aktiv ist sie offensichtlich, wenn es darum geht, Gegner, Abweichler und Kritiker brutal zu bestrafen und Schutzgelder zu erpressen.

Özlem Akan weigerte sich, ihr Kind abzutreiben, deshalb wurde sie von Tayfur Örüm weiterhin bedrängt. Mit seinen Eltern könne er darüber nicht sprechen, sagte er, er werde noch ganz verrückt. Seit 17 Jahren arbeite er für die Partei und könne doch jetzt nicht alles aufgeben. Örüm, damals immerhin einer der Gebietsverantwortlichen der PKK in Deutschland, hat dann bei einer weiteren Aussprache in Karlsruhe in aller Öffentlichkeit geweint, was Özlem Akan ziemlich peinlich fand. Und am Ende kam sogar der Mann angereist, den der Verfassungsschutz und die Polizei damals für den höchstrangigen PKK-Kader in der Bundesrepublik hielten. Sein Name ist Hüseyin Acar. In Polizeiakten wird er als "türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit" geführt und als "Deutschlandverantwortlicher". Der mutmaßliche Chef der illegal operierenden Organisation, die in Deutschland rund 10000 Mitglieder haben soll, machte sich augenscheinlich wegen der kleinen Liebesgeschichte gewaltige Sorgen.

Das Pärchen und der Obere haben sich dann am 5. oder 6. August 2007, genau ist das Datum nicht mehr zu ermitteln, in einem Café getroffen, und Acar soll unbarmherzig gewesen sein. Özlem Akan hat von der Begegnung später so berichtet: "Er hat gesagt, entweder machst du das, oder wir machen das." Sie wollte Mutter werden, aber die Angst nach dieser Drohung war dann doch zu groß. Sie ging in eine Klinik und ließ den vier Monate alten Fötus abtreiben.

Der erzwungene Abbruch ist einer der Punkte in der Anklage, die die Karlsruher Bundesanwaltschaft Ende Dezember gegen Hüseyin Acar erhoben hat. Dem bereits im Juli vergangenen Jahres festgenommenen 48-jährigen Kurden wird außerdem für die Zeit von Februar 2007 bis April 2008 Rädelsführerschaft "im gesamten Gebiet der Bundesrepublik" vorgeworfen. Der Prozess soll vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf stattfinden.

Es gibt noch andere blutige Geschichten von verbotenen Liebesbeziehungen innerhalb der PKK. Besonders grauenhaft war der sogenannte "Bunkermord" in Bremen im August 1999. Das kurdische Liebespaar wurde dabei auf so bestialische Weise hingerichtet, dass es selbst gestandene Polizisten grauste. PKK-Aktivisten wurde zwar der Prozess gemacht, aber der Doppelmord war so barbarisch, dass sich selbst die Organisation offiziell davon distanzierte.

Das Beziehungsverbot von Frauen und Männern steht nicht in den Statuten der PKK, ist aber Doktrin. Die Begründung dafür klingt ziemlich absurd. In einem 2007 in Deutschland erschienenen und von einer Autorin namens Anja Flach verfassten Buch mit dem Titel "Frauen in der kurdischen Guerilla" findet sich dazu folgende Passage: "Um die Rekonstruktion der klassischen Frauenrolle" in Kurdistan zu verhindern "und den Frauen einen Entwicklungsraum zu verschaffen", habe die PKK "keine andere Möglichkeit" gesehen, "als die Liebesbeziehungen zunächst ganz zu verbieten".

Die Deutsche Andrea Wolf, die erst mit der RAF sympathisierte und dann 1993 in die Berge Kurdistans zog, um mit der Waffe zu kämpfen, schrieb in ihrem Tagebuch: "Ich persönlich empfinde die Trennung und auch das klare Beziehungsverbot als sehr angenehm. Ich konnte mich noch nie so frei bewegen im Verhältnis zu Männern, weil es einfach klar ist: Es gibt eine Grenze." Andrea Wolf, Codename "Ronahi", starb 1998. Angeblich wurde sie vom türkischen Militär getötet. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft ermittelte gegen unbekannte türkische Armeeangehörige wegen Mordverdachts.

Seit fast fünfzehn Jahren beschäftigen sich Hundertschaften deutscher Polizisten, Verfassungsschützer, Bundesanwälte, Richter von Staatsschutzsenaten und auch die Geheimen des Bundesnachrichtendienstes mit solchen Geschichten, und je länger das Räuber-und-Gendarm-Spiel dauert, desto unwirklicher erscheint die Mimikry.

Serienweise werden noch immer Kader der seit 1993 in Deutschland verbotenen Partei, die in den vergangenen Jahren häufig umbenannt wurde, wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu Freiheitsstrafen verurteilt. An die Stelle der Inhaftierten treten andere, die auch wieder belauscht, festgenommen und inhaftiert werden. Dabei ist die Zeit der großen Gewalt in den neunziger Jahren, in der sich Aktivisten in Deutschland selbst verbrannten, Autobahnen blockierten oder Konsulate besetzten, längst vorbei. Seit dem 11. September 2001 kennt die Welt andere Beunruhigungen als die Sorge um das Treiben der PKK, deren Chef Abdullah Öcalan seit 1999 in türkischer Haft sitzt und die in der Heimat inzwischen ziemlich zerstritten ist.

Aber als ginge es immer noch um alles oder nichts, arbeitet der Geheimbund in Deutschland im Untergrund weiter. Kader werden mit gefälschten Pässen versorgt, verletzte Aktivisten werden nach Europa geschleust. Eine der Hauptaufgaben aber scheint es zu sein, viele der in Deutschland lebenden rund 450 000 Kurden unter Druck zu setzen. Sie müssen "Steuern" an die PKK zahlen. Wer sich weigert, muss damit rechnen, zumindest zusammengeschlagen zu werden. "Bei den Sammlungsarbeiten sollte man hartnäckig und beharrlich sein und die festgelegten Beträge auf jeden Fall annehmen", heißt es zynisch in einer Handlungsanweisung aus dem Jahr 2005. Eine andere Order lautete: "Lege dein Ziel fest, und nimm dir das Festgelegte."

Der mutige Kurde Mülsüm Y., der von der Bundesanwaltschaft als Zeuge für einen Prozess gegen Acar benannt wurde, warf 2006 der Organisation in einem Brief vor, ihre Aktivitäten hätten sich "in das gegenseitige Ruinieren, in List, in Komplott, Intrigen und Lügen umgewandelt". Am Telefon verglich er die Organisation mit einer "Bande", die nur noch hinter Geld her sei. Dass der Verräter Todesdrohungen erhielt, überrascht nicht.

Als Spezialisten der Polizei im Dezember 2007 im Auto eines Berliner PKK-Kaders eine Wanze platzierten, bekamen sie mit, wie der Belauschte die Prügelstrafe für einen zahlungsunfähigen kurdischen Ladeninhaber verlangte. Das wäre auch eine "Botschaft für die übrigen Kreise". Einem vergleichsweise reichen Bremer Drogenhändler wurde ein Arm mit einem Metzgermesser abgeschnitten, weil er partout nicht spenden wollte. "Armloser Held" wurde er danach im Milieu genannt.

Der festgenommene mutmaßliche Deutschland-Chef der PKK, Hüseyin Acar, hat in der Szene den Spitznamen "Colak", was für einarmig, einhändig oder verkrüppelt steht. In einem Interview mit einer kurdischen Zeitung hat er erzählt, dass bei Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden im Jahr 1978 eine Bombe in seinen Händen explodiert sei - da war er knapp 18 Jahre alt. Seine Biographie erinnert an eine Karteikarte aus dem Zettelkasten des sogenannten Befreiungskampfes. Er wurde Anfang der achtziger Jahre von einem türkischen Militärgericht zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde 1991 in 40 Jahre Haft verwandelt. Im Januar 2001 kam er frei; kurz darauf wurde er erneut festgenommen und zu knapp vier Jahren Haft verurteilt. Er wurde vorzeitig entlassen, reiste nach Deutschland, wurde 2003 als Asylberechtigter anerkannt und arbeitete angeblich als Bauhelfer in Ostwestfalen.

In Wirklichkeit aber war er im ewigen Krieg, machte in der deutschen PKK-Filiale Karriere, bezog Arbeitslosengeld II, und seine Miete zahlten die Sozialbehörden in seinem Wohnort Detmold. Ein im vergangenen Jahr aufgenommener Film zeigt Hüseyin Acar in Militärkluft zusammen mit kurdischen Guerilla-Kämpfern im Nordirak. Er ist ein eher unauffälliger Typ, das Auffälligste ist seine fehlende Hand.

Auch die im Juni 1986 geborene Özlem Akan, eine kleine, schmale Person, war mit der Bewegung eng verbunden. Ihr Vater und eine ihrer Schwestern waren in der Türkei wegen Zugehörigkeit zur PKK inhaftiert worden und sollen sich in Deutschland am Eintreiben von Zwangsspenden beteiligt haben. Zwei ihrer Brüder starben an den Fronten in der Türkei und im Irak. Der Tod des jüngeren Bruders 2005 löste bei Özlem Akan massive psychische Probleme aus. Sie wollte sich das Leben nehmen. Ein weiterer Bruder, Mehmet, ist Kader der PKK. Die junge Frau, die erst 2000 nach Deutschland gekommen ist, war nicht fest in die Strukturen der Partei integriert, aber sie half, wo sie konnte. Noch Anfang 2007 schaffte sie mit ihrem Freund Tayfur Örüm 500 000 Euro Spenden zur Europaführung nach Brüssel. Sie kannte selbst dort viele der professionellen Kader und spürte die Widersprüche zwischen der Theorie und dem wahren Leben.

Einst wollte die Kurdenpartei eine Welt ohne Hierarchien, ohne Patriarchat schaffen, in der Praxis aber funktioniert sie wie eine Sekte mit strengstem Patriarchat und mit ausgeprägten Hierarchien. Özlem Akans einstiger Liebhaber Tayfur Örüm wurde nach einem Treffen in Stuttgart von zwei Männern nach Brüssel gebracht und soll dann in den Irak geschickt worden sein. Özlem Akan hat später mal ein Mitglied der Europaführung gefragt, warum Örüm in den Irak gebracht worden sei. "Der muss bestraft werden", soll der gesagt haben. Es wäre für die Organisation zu gefährlich gewesen, ihn gleich in Europa zu liquidieren. Ihrer Schilderung zufolge hat sie dann nur noch geschrien: "Bringt mich doch auch um." Daraufhin habe sie die kühle Antwort erhalten: "Das kommt noch, das können wir aber in Deutschland nicht machen."

Sie hat dann bei der Polizei ausgepackt und viele Geschichten aus dem Untergrund erzählt. Selbst über ihren Bruder Mehmet hat sie geredet. Der habe gemeinsam mit einem anderen PKK-Mann aus dem Stuttgarter Raum Jugendliche in den Irak bringen lassen. Wenn sich ein junger Mensch dazu entschlossen habe, im Zweistromland zu kämpfen, hätten ihr Bruder und der andere alles Notwendige getan. Im Düsseldorfer Prozess gegen den mutmaßlichen PKK-Deutschlandchef Acar soll auch sie als Zeugin aussagen. Als Zeugenanschrift kursiert eine Adresse des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. Sie ist im Zeugenschutzprogramm.

Hüseyin Acar hat sich zur Sache noch nicht geäußert. Als ihm am 17. Juli der Haftbefehl vorgelesen wurde, sagte er nur, der ihm zugeschriebene Alias-Name "Hüseyin Colak" sei ihm unbekannt. Das Hauptverfahren könnte seine Anhänger enttäuschen, denn auch dem mutmaßlichen Deutschlandchef der PKK sind Gefühle nicht fremd. Aus abgehörten Gesprächen geht hervor, dass er eine Liebesbeziehung zu einer Genossin unterhielt. Wenn die ihn anrief, wurden sie meist von Fahndern abgehört. Diese bekamen mit, dass er in einem Gespräch mit ihr plötzlich ganz wichtig tat, weil ein hochrangiger PKK-Führer aus Brüssel neben ihm saß. Er rief später seine Freundin an und erklärte die Situation. Der ranghohe Gast sei trotzdem misstrauisch geworden. Der habe ihm fast das Telefon aus der Hand gerissen, um mitzubekommen, mit wem Acar redete. Er habe sich verwundert gezeigt, dass Acar so weich gesprochen habe. Mit nachgeordneten Kadern gehe er sonst doch viel härter um, habe der Gast gesagt. Acar habe sich wohl zu einem "light man" verändert.

Fünf Tage nach der Festnahme Hüseyin Acars wurden in kurzen Abständen zwei Telefonate einer seiner Schwägerinnen mit seiner heimlichen Geliebten aufgezeichnet. Die Schwägerin wusste nichts von diesem Verhältnis, und die beiden Frauen schimpften ber Özlem Akan, sie sei eine "Hure" und "Hündin", sie habe den Tod verdient. Die Organisation werde sie nicht so einfach davonkommen lassen.

Sie wollte das Kind, aber die Angst war größer

Er war knapp 18, als die Bombe in seiner Hand explodierte

Liebe ist streng verboten, doch der Chef hat ein Verhältnis

"Lege dein Ziel fest, und nimm dir das Festgelegte": Bei PKK-Demonstrationen wie hier in Düsseldorf geht es um Politik und Parolen, im Alltag geht es oft um Geld und Gewalt. Foto: ddp

Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) PKK in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gärtner und Bankier

Böse Zungen meinten, der britische Bankier Edmund de Rothschild sei eher Hobbygärtner als Banker gewesen. Er selbst nahm so etwas mit Humor. Tatsächlich liebte "Eddy" seinen Garten über alles. Für seine Azaleen- und Rhododendron-Pflanzungen erhielt er Auszeichnungen der königlichen Gartenbaugesellschaft. Nun ist Rothschild im Alter von 93 Jahren gestorben, wie seine Familie mitteilte. Er kämpfte im Zweiten Weltkrieg in einer neu gegründeten jüdischen Infanterie-Brigade. Nach dem Krieg folgte er der Familientradition und wurde Bankier. Er leitete schließlich die Investmentbank NM Rothschild & Sons. Dabei machte er sich einen Namen als Investor, der schon frühzeitig Umweltstandards setzte. Edmund de Rothschild war der älteste Sohn von Lionel de Rothschild und Nachfahre von Nathan Mayer Rothschild, der den englischen Zweig der Familie gründete. old

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Die Trümmer von Gaza

Von Rudolph Chimelli

Der Waffenlärm in Gaza ist verstummt, die Schreckensbilder verblassen. Obwohl kein Problem gelöst wurde, scheinen einige Resultate des Dreiwochenkrieges schon jetzt gewiss. Mehr denn je ist Israel in der arabisch-islamischen Welt zum Paria geworden, und nie war die Bereitschaft in der Region so gering, den jüdischen Staat auf Dauer als Nachbarn und Partner zu akzeptieren. Dabei hatten Hoffnungen auf einen haltbaren Frieden, Sicherheit und Normalität gerade darauf beruht, Israel werde sich eines Tages als verträgliches Gemeinwesen in ein arabisches Umfeld integrieren lassen.

Diese Utopie liegt nun in den Trümmern von Gaza begraben, für Jahre, wenn nicht für die Frist einer Generation. Bis dahin freilich werden sich die demographischen und politischen Gegebenheiten wandeln - und nicht unbedingt zum Vorteil Israels.

Aus ihrer blamablen Schwäche angesichts des Krieges werden die arabischen Staaten kaum den Schluss ziehen, nun sei Einigkeit geboten: Vielmehr werden sie aufrüsten, um gegen Handlungsunfähigkeit, Druck durch rivalisierende Bruderstaaten und Bedrohung durch israelische Übermacht oder ihre eigenen Islamisten besser gewappnet zu sein. Speziell im Libanon, der vor zwei Jahren eine israelische Invasion im Gaza-Stil erlebte, wird niemand mehr wagen, auf einer Entwaffnung der islamistischen Hisbollah-Bewegung zu bestehen. Die Chancen der Hisbollah und ihrer Verbündeten bei den Wahlen im Frühling dürften sich durch Gaza stark verbessert haben.

Zu den Opfern des Krieges gehören der berüchtigt-endlose Friedensprozess und das Zwei-Staaten-Projekt zur Beilegung des Jahrhundert-Konflikts um Palästina/Israel. Die Pläne litten schon bisher daran, dass Israel einem Palästinenser-Staat mit begrenzter Souveränität neben Gaza nur Puzzle-Teilstücke des besetzten Westjordanlandes zugestehen wollte, während israelische Siedlungen ausgebaut wurden. Der Status des arabischen Ostteils von Jerusalem und die Grenzziehung werden nun noch schwerer zu regeln sein.

Im gleichen Schwebezustand befindet sich der von Saudi-Arabien initiierte Friedensplan, der die Anerkennung Israels durch sämtliche arabischen Staaten gegen Räumung aller besetzten Gebiete vorsieht. Jetzt droht Riad mit der Annullierung der Offerte.

Durch den Krieg hat die Hamas einige hundert Mann, aber nicht die Kontrolle über Gaza verloren. Das Gros ihrer Kämpfer und die wichtigsten Führer haben überlebt. Die Vorstellung, sie könnten unter dem Bombenhagel ihre Waffen niederlegen und sich den zehntausend Genossen anschließen, die sich bereits in israelischen Gefängnissen befinden, war von vornherein unrealistisch. Noch absurder wäre die Erwartung, durch gute Worte und Hilfsversprechen sei Gaza zu bewegen, sich wieder der Autorität der Palästinenser-Verwaltung von Präsident Mahmud Abbas unterzuordnen.

Abbas ist belastet, weil seine jahrelangen Friedensverhandlungen mit Israel und Amerika selbst für das Westjordanland absolut nichts gebracht haben. Kehrten er und sein von der Hamas vertriebener Sicherheitschef Mohammed Dahlan im Gepäck der Israeli nach Gaza zurück, so würden sie zu Figuren wie einst der libanesische General Labad, der im damals besetzten Südlibanon für die Israeli die Hisbollah bekämpfte.

Die Europäer machten keine gute Figur, ihr Prestige unter Arabern litt entsprechend. Keiner der vielen Reisenden in Sachen Waffenruhe äußerte den Wunsch, nach Gaza zu gehen. Niemand in der EU ließ von der Haltung ab, man müsse überall die "Gemäßigten" gegen die "Extremisten" unterstützen, auch wenn die Extremisten, in diesem Fall die Hamas, vor zwei Jahren die freiesten Wahlen gewonnen hatten, die es je im Nahen Osten gab. Nun fanden sich die Europäer in der Zwangslage, dass sie doch mit der anderen Seite reden mussten, wenn sie in Gaza eine Katastrophe abwenden wollten - und so mussten sie ihre Kontakte zu Hamas über den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak suchen.

Der türkische Regierungschef Erdogan wurde gleichfalls als Mittelsmann bemüht. Sein Land wandelte sich in der Krise vom strategischen Verbündeten Israels zu einem der schärfsten Kritiker. Noch im letzten Jahr war die Türkei das Scharnier für Kontakte zwischen Syrien und Israel mit dem Ziel, die besetzten Golan-Höhen gegen Frieden zu tauschen. Auch dieses Vorhaben liegt im Koma. Gestärkt wurde hingegen die Allianz zwischen Damaskus, Teheran, Hisbollah und Hamas, die zunehmend den flankierenden Schutz Ankaras genießt.

Vor langer, langer Zeit suchte ein sozialdemokratischer israelischer Ministerpräsident Mosche Scharett den Ausgleich mit der "Vereinigten Arabischen Republik" des Ägypters Gamal Abdel Nasser. Britische Labour Politiker und deutsche Sozialdemokraten vermittelten. Die Aussichten standen nicht schlecht. Durch einen ersten Überfall auf Gaza vermasselte damals Israels Rechte Scharett den Erfolg. Die historische Chance des Ausgleichs mit dem laizistischen arabischen Nationalismus war vertan. Heute steht auf der anderen Seite der radikale Islam.

Hamas Reaktionen auf den Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Image und Selbstverständnis der Israelis Friedensprozess im Nahost-Konflikt Beziehungen der EU zum Nahen Osten Beziehungen Israels zu den arabischen Nachbarstaaten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Geist ist willig, doch das Geld ist knapp

An der Privatuni Witten/Herdecke sammeln die Studenten derzeit nicht nur Wissen an, sondern suchen auch mit den Professoren nach Wegen, um der Pleite zu entgehen

Von Tanjev Schultz

Witten - Im Keller der Universität Witten/Herdecke steht eine große silberne Truhe, in der die Leichen liegen. Eine Medizinstudentin arbeitet gerade an einem rechten Bein, sie präpariert den Nervenknoten im Beckenbereich. Die Nerven sehen aus wie Kabel, Anatomie-Professor Gebhard Reiss sagt, solche Nerven würden viel aushalten. Er ist ein lebenslustiger Typ, ein Wissenschaftler, über den viele Studenten in den höchsten Tönen sprechen. Früher lehrte er in Hannover, da gab es Massenvorlesungen mit Hunderten Studenten. In Witten beginnen jedes Semester nur 42 Medizin-Studenten, Vorlesungen gibt es hier nicht. Jeder kennt jeden, die Professoren nennen ihre Kurse "Sprechstunden".

Wie lange sie ihre Sprechstunden noch abhalten können, weiß zurzeit niemand. Die private Universität ist in akuter Finanznot, an diesem Donnerstag wollen sich mögliche Geldgeber mit dem nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) treffen. Witten/Herdecke steht nicht zum ersten Mal vor der Pleite, gute Nerven musste man hier schon immer haben. Aber diesmal ist es so ernst wie nie zuvor.

Vor Weihnachten strich Pinkwart die Subventionen des Landes in Höhe von 4,5 Millionen Euro und forderte drei Millionen Euro aus dem Vorjahr zurück. Seine Beamten vermissten einen soliden Finanzplan, Uni-Präsident Birger Priddat trat zurück, obwohl er die Vorwürfe nicht nachvollziehen konnte. Eine kurzfristige Rettungsaktion trug die Uni nur über den Jahreswechsel. Seit Jahren gelingt es zwar immer wieder, private Förderer zu gewinnen, doch das große Geld und eine sichere Einnahmequelle für den 30-Millionen-Etat fehlte.

Die Studenten haben Solidaritätskampagnen gestartet, ein Verein von Ehemaligen sammelte innerhalb von 72 Stunden 750 000 Euro an Spenden. Daneben läuft der normale Betrieb weiter, eine Studentin zählt unter dem Mikroskop weiße Blutkörperchen, in einem Seminar diskutieren vier Studenten mit dem Professor über die private und die gesetzliche Krankenversicherung.

Von Agonie ist hier nichts zu spüren, auch wenn der Uni-Chor am Sonntagabend ausgerechnet, ganz in Schwarz gehüllt, das Verdi-Requiem vortrug. "Tag der Tränen, Tag der Wehen." Der Abend war seit langem geplant, und so schallt es nun durch die große Halle: "Weh! Was werd ich Armer sagen, welchen Anwalt mir erfragen, wenn Gerechte selbst verzagen?" Nur eine Treppe tiefer steht die Truhe mit den Leichen im Keller. Requiem aeternam dona eis, Domine. Schenke ihnen ewige Ruhe, Herr.

Als Metapher für die Morbidität der Hochschule taugt der Abend aber doch nicht. Er wird eher zum Zeichen unbändiger Energie und Schaffenskraft. Musikdirektor Ingo Ernst Reihl springt beim Dirigieren auf und ab, er ballt die Faust, er schwebt mit ausgebreiteten Armen beinahe in der Luft. Am Ende hebt der Chor an zum großen Libera me. Befreie mich.

Witten ist keine Musikhochschule, die meisten studieren Medizin oder Wirtschaftswissenschaft, sie sollen aber über die Grenzen ihres Fachs hinausblicken. Zum berühmten Geist von Witten gehört das Studium fundamentale, jeden Donnerstag ist "Stufu-Tag", es wird dann philosophiert und reflektiert, gemalt und gesungen. Niemand soll die Hochschule als Fachidiot verlassen, und so laufen hier angehende Manager herum, die Adorno lesen, und Philosophen, die wissen, wie ein Gehirn aufgebaut ist.

"Das Studium in Witten ist eigentlich eine Zumutung", sagt Konrad Siller. Er sagt es verschmitzt, denn der 24-jährige Student meint es als Lob. Es gibt wenig Vorgaben, die Studenten können vieles ausprobieren - in einer Zeit, in der die Bachelor-Studiengänge anderswo sehr verschult sind. Die Studenten werden in einem mehrtägigen Seminar ausgewählt, am Ende kommen meist sehr diskussionsfreudige junge Menschen nach Witten, leistungsorientiert, aber nicht blind streberhaft. Die Klassensprecher-Uni, so ist das Image. Und so ist die Wirklichkeit: Man sitzt in einer Runde von acht Studenten, fragt nach - sechs waren früher Klassensprecher.

Die Studenten sind eine Macht in Witten, sie bestimmen mit, welche Professoren berufen werden, sie organisieren Kongresse und sind sogar Teilhaber der Hochschule. Die "Studierendengesellschaft" (SG) hält Anteile von 8,3 Prozent. Besonders stolz sind die Studenten auf ihren "umgekehrten Generationenvertrag", der es allen erlauben soll, trotz Studiengebühren nach Witten zu kommen. Wer kein Geld hat, zahlt später, wenn er gut verdient. Als die Uni 1983 startete, gab es keine Gebühren, mittlerweile müssen Medizin-Studenten 3000 Euro im Semester, Wirtschaftsstudenten fast 4000 Euro zahlen. Viele befürchten, neue Investoren könnten die Macht der Studenten brechen, den umgekehrten Generationenvertrag kippen und die Gebühren weiter in die Höhe treiben.

Diese Universität wollte nie eine stromlinienförmige Ausbildungsanstalt sein. Sie war stets eine Provokation: Ärzte fühlten sich herausgefordert von der sanften Medizin, die hier und im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke propagiert wird. Manche sehen in Witten eine sektenhafte Anthroposophen-Schmiede, andere eine neoliberale Elite-Uni. Es ist weder das eine noch das andere.

Uni-Gründer Konrad Schily war Waldorfschüler, manche Studenten waren es auch, aber viele haben mit Anthroposophie überhaupt nichts am Hut. Und manch ein Student, der aussieht wie ein Jungmanager, sagt, er würde die Uni sofort verlassen, wenn nur noch die Kinder der Reichen hierherkämen oder man der Uni Renditeziele vorgäbe. Snobs machen um die Ruhrgebietsstadt wahrscheinlich ohnehin einen Bogen. Es gibt auffallend viele Spielhöllen in Witten, und der Asia-Imbiss verkauft das Hähnchen süß-sauer mit Pommes (!) für 2,20 Euro.

Konrad Schily hat in Witten sein Wahlkreisbüro. Der jüngere Bruder von Otto Schily sitzt für die FDP im Bundestag, aber nur noch bis zur Wahl im September. Er hätte noch länger gewollt, Schily ist zwar 71, wirkt aber noch immer jungenhaft und schelmisch. Und nun hat ausgerechnet ein Parteifreund, Landesminister Pinkwart, seiner Uni das Geld entzogen! Schily war jahrzehntelang Präsident der Uni, er hat sie geprägt wie kein Zweiter, jetzt schreibt er Briefe an den Ministerpräsidenten und an die Bundeskanzlerin.

Der Traum von einer freien Uni lässt ihn nicht los. Eine entstaatlichte Hochschule schwebte ihm vor, aber auch eine Hochschule, die sich nicht von privaten Finanziers kontrollieren lässt. Der Arzt und Psychiater Schily sagt: "Was die Bürokratie im Staat ist, ist das Controlling in der Wirtschaft." Doch nun braucht die Universität Witten/Herdecke erst einmal Geld, dringend. Vom Staat und von privaten Sponsoren. Schily hofft, dass das Geld kommt. Und er hofft, dass die Spender so weise sein werden, den Geist von Witten zu erhalten.

"Studium fundamentale": Niemand soll die Uni in Witten als Fachidiot verlassen. Hier lesen angehende Manager Adorno, und Philosophen lernen, wie ein Gehirn aufgebaut ist. Von einer Sitzung im NRW-Wissenschaftsministerium an diesem Donnerstag könnte abhängen, ob das so bleibt. Foto: laif

Private Universität Witten/Herdecke GmbH SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Plötzlich im Rampenlicht

Nach internen Querelen wurden die Vertreter der Anklage im Fall Zumwinkel kurzfristig ausgewechselt - die neuen bleiben diskret

Von Hans Leyendecker

Es gibt ein Foto von der Heimsuchung Klaus Zumwinkels durch die Bochumer Staatsanwaltschaft, das sich eingebrannt hat. Es zeigt die Gruppe beim Verlassen des Hauses - im Vordergrund der Anwalt Hanns Feigen, dahinter der frühere Postchef und die Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen; hinten an der Haustür steht eine junge Frau im Trenchcoat. Sie könnte die Tochter des Hauses sein, aber ihr Name ist Daniela Wolters. Sie ist 34 Jahre alt und von Beruf Staatsanwältin.

Fast ein Jahr nach der Aktion in Köln hat die Strafverfolgerin an diesem Donnerstag vor der Zwölften Großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Bochum ihren bislang größten Auftritt. Gemeinsam mit dem Bochumer Oberstaatsanwalt Gerrit Gabriel, 39, vertritt sie die Anklage im Prozess gegen den früheren Chef der Deutschen Post. Dem 65 Jahre alten Zumwinkel wird vorgeworfen, von 2002 bis 2007 mit Hilfe der Stiftung "Devotion Family Foundation" bei der Liechtensteiner LGT-Bank Steuern in Höhe von knapp einer Million Euro hinterzogen zu haben.

Dass die junge Strafverfolgerin und der neue Leiter der Wirtschaftsabteilung 35 der Bochumer Staatsanwaltschaft gemeinsam die Anklage vertreten werden, war noch vor zwei Monaten nicht abzusehen. Damals schien sicher, dass die Staatsanwältin Lichtinghagen anklagen würde, und die Öffentlichkeit hätte sich vermutlich kaum dafür interessiert, wer neben ihr sitzen würde. Der Prozess sollte, wie Lichtinghagen Journalisten erzählt haben soll, ihre "Krönungsmesse" sein. Daraus ist wegen der Querelen im Haus und der Aufregungen um die in eine Affäre verstrickte Staatsanwältin Lichtinghagen nichts geworden. Sie ist als Richterin zum Amtsgericht Essen gewechselt, aber derzeit krankgeschrieben.

Anrufe beim Vater

Daniela Wolters, die seit November 2004 Staatsanwältin ist, hat in den vergangenen zwölf Monaten quasi ihr drittes Staatsexamen absolviert. Erst im Januar 2008 war sie von der Staatsanwaltschaft Köln zur Bochumer Behörde abgeordnet worden, um die Strafverfolger aus dem Revier bei den Steuerermittlungen in der Causa LGT zu unterstützen. Rund 780 ungelöste Fälle sollten erledigt werden. Alles war neu und aufregend. So wurde Zumwinkel in einer Akte mit den Listen der Namen vieler Verdächtiger unter Pseudonym eingetragen, damit niemand von der bevorstehenden Aktion in Köln Wind bekommen konnte.

Dann kam alles anders. Als Daniela Wolters frühmorgens gemeinsam mit Staatsanwältin Lichtinghagen zum Haus von Zumwinkel in Köln-Marienburg marschierte, wartete schon das ZDF auf die Ermittler. Die junge Staatsanwältin, die so etwas noch nicht erlebt hatte, dachte zunächst, ein Fotoreporter wolle sein Bildchen machen. Im Verlauf der Durchsuchung wurde aus der Presse die Meute, und Daniela Wolters staunte immer mehr. Dass sie bei der Durchsuchung zugegen war, hing auch damit zusammen, dass sie in Köln wohnt.

Seit den Februartagen des vergangenen Jahres hat sie das große Einmaleins der Steuerstrafverfahren gepaukt. Da waren die gemeinsamen Sitzungen mit der Steuerfahndung Wuppertal, die auf der Seite des Fiskus die Aktionen koordiniert. Geleitet wurden die Treffen von einem alten Steuerfuchs, der schon viele Großverfahren hinter sich hat. Er kaut gewöhnlich die Worte, ist sehr spröde, was für Frischlinge irritierend sein kann, gilt aber als absoluter Profi. Daniela Wolters hat von ihm eine Menge gelernt.

Aus Duisburg war Anfang 2008 noch ein weiterer junger Kollege zur Schwerpunktabteilung in Bochum abgeordnet worden. Er ist erst seit drei Jahren Staatsanwalt und hat in seiner Heimatbehörde zumeist kleinere Wirtschaftsstrafsachen bearbeitet. Im ersten Bochumer Liechtenstein-Prozess im Juli vergangenen Jahres trug er den Anklagesatz vor. Er war dennoch nur Statist an der Seite der Star-Staatsanwältin. Die Anklage hatte er vorher nicht mal gelesen. Er möchte seinen Namen derzeit nicht in der Zeitung lesen. Auch Daniela Wolters tut sich mit einigen Journalisten mittlerweile schwer. Eine Reporterin eines Magazins rief in diesen Tagen ihren Vater, einen Arzt, in der Praxis an, um sich zu erkundigen, was die Tochter so treibt. Es kann nicht ganz einfach gewesen sein, den Internisten ausfindig zu machen. Ihr Geburtsname ist nicht Wolters.

Der Vorfall ließ in Bochum die Alarmglocken schrillen. In der Staatsanwaltschaft liegen ohnehin seit Beginn der Lichtinghagen-Affäre die Nerven blank. Dass das Düsseldorfer Justizministerium zeitweise erwog, die im Clinch mit der Behördenleitung liegende Margrit Lichtinghagen nach Köln zu versetzen und ihr gleichzeitig alle verbliebenen Liechtenstein-Verfahren mitzugeben, hat für Verbitterung gesorgt. Daniela Wolters und der aus Duisburg abgeordnete Kollege wurden gefragt, ob sie unter diesen Umständen in Bochum bleiben wollten - sie sind geblieben.

Abteilungsleiter Gerrit Gabriel, der seit 1998 Staatsanwalt ist, hat nicht nur eine glänzende, sehr fixe Karriere hingelegt, sondern ist erfahren in Wirtschaftsstrafsachen. Der Beamte, der ein Jahr Beisitzer einer Schwurgerichtskammer in Hagen war, hat als Staatsanwalt im Bereich der organisierten Kriminalität und im Rotlichtmilieu ermittelt. Tankkarten-Fälschungen in großem Stil hat er aufgeklärt, und er war auch in einigen LGT-Fällen im Einsatz. Ein Foto, das ihn bei seiner Berufsausübung zeigt, gibt es dennoch nicht. Das wird sich am Donnerstag ändern.

Der Prozess

Im Saal 240 C des Bochumer Landgerichts beginnt am Donnerstag gegen 11.30 Uhr der Prozess gegen Klaus Zumwinkel. Dem 65-Jährigen wird vorgeworfen, knapp eine Million Euro Steuern hinterzogen zu haben. Voraussichtlich wird bereits kommenden Montag das Urteil verkündet. Obwohl die Prozessbeteiligten keinen Deal vereinbart haben, gilt es als sehr wahrscheinlich, dass Zumwinkel nicht in Haft muss. Mit einer Bewährungsstrafe zwischen einem Jahr und sechs Monaten und zwei Jahren ist zu rechnen. Dass das Gericht wegen Verjährung einen Teil der Anklage nicht zugelassen hat, spielt bei der Strafzumessung keine Rolle. Strafmildernd wird vermutlich berücksichtigt, dass Zumwinkel als Steuersünder öffentlich vorverurteilt wurde. ley

Im Hintergrund: Daniela Wolters (hinten links) bei der Durchsuchung im Hause Zumwinkel. Foto: dpa

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Von der Dresdner zu Bain

Der ehemalige HVB- und Dresdner-Bank-Vorstand Franz Herrlein wird künftig als Unternehmensberater andere Banken bei Fusionen und Umstrukturierungen begleiten. Der 41-Jährige wird zum 1. März Mitglied der Geschäftsführung der Beratungsgesellschaft Bain & Company, wie diese mitteilte. Herrlein ist - wie alle seine Vorstandskollegen - der Übernahme der Dresdner Bank durch die Commerzbank zum Opfer gefallen. Reuters

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Wechsel bei Hannover Rück

Die Hannover Rückversicherung hat zum 1. Juli Ulrich Wallin zum neuen Vorstandschef bestellt. Wallin trete die Nachfolge von Wilhelm Zeller an, der nach Vollendung seines 65. Lebensjahres in den Ruhestand trete, teilte das Unternehmen mit. Wallin wird gleichzeitig Chef der E+S Rückversicherung. Der Jurist gehört den Vorständen der Hannover Rück und E+S Rück seit 2001 an. Zudem löst Roland Vogel Elke König als Finanzvorstand der Hannover R ck und E+S Rück ab. Frau König scheide im besten Einvernehmen aus den Vorständen der beiden Unternehmen aus, um sich neuen beruflichen Herausforderungen zu stellen, hieß es. dpa-AFX

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Hilfe beim Sterben

Ein Gesetz zu Patientenverfügungen ist notwendig, aber es muss so unbürokratisch wie möglich sein

Von Nina von Hardenberg

Wenn ein Kind zur Welt kommt, stehen Geburtshelfer bereit, die Schmerzen der Mutter zu lindern und das Neugeborene zu umsorgen. Am Ende des Lebens gibt es solche Hilfen nur selten. Zwar leisten Palliativmediziner genau diese Art der Sterbehilfe, indem sie Menschen beim Sterben begleiten. Doch ihre Arbeit ist noch zu wenig verbreitet. Klassische Ärzte sehen sich eher als Lebensretter denn als Sterbebegleiter. In vielen Kliniken ist es noch an der Tagesordnung, todkranke Patienten mit medizinisch nicht gerechtfertigten Wiederbelebungsversuchen und künstlicher Ernährung zu traktieren. Die Mischung aus Übertherapie und fehlender Fürsorge am Lebensende macht den Menschen zu Recht Angst. Um sie geht es, wenn der Bundestag über ein Patientenverfügungsgesetz berät.

Patientenverfügungen können die Furcht vor Fremdbestimmung am Lebensende mildern. Menschen legen in ihnen fest, wie sie behandelt werden wollen, wenn sie sich nicht mehr äußern können - und wie nicht. Solche Verfügungen sind nach den Richtlinien der Bundesärztekammer bindend, doch viele Mediziner wissen das nicht. Widersprüchliche Urteile des Bundesgerichtshofs haben die Unsicherheit zusätzlich erhöht. Immer wieder entscheiden sich Ärzte deshalb für eine Lebensverlängerung, auch wenn diese nur das Leiden verlängert und den Wünschen des Patienten widerspricht.

Ein Gesetz, das den rechtlichen Status von Patientenverfügungen klärt, ist darum dringend nötig. Es sollte dies in möglichst unbürokratischer Weise tun und anerkennen, dass das Sterben nicht "normierbar" ist, wie es Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe ausdrückt. Der Versuch des CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Patienten vor sich selbst und vor den Risiken einer achtlos ausgefüllten Verfügung zu schützen, ist deshalb ungeeignet. Bosbach will nur solche Dokumente uneingeschränkt anerkennen, die mit Hilfe von Ärzten und Notaren erstellt wurden. Dies trifft für die wenigsten der vorhandenen sieben Millionen Verfügungen zu. Statt ein Beschäftigungsprogramm für Notare einzuführen, sollte ein Gesetz die Hürden niedrig halten und die Wünsche des Patienten in den Mittelpunkt stellen. In beiden Entwürfen der anderen Abgeordnetengruppen finden sich richtige Ansätze hierfür.

Eine Patientenverfügung ist aber kein Allheilmittel. Sie kann nie die konkreten Umstände des Sterbens voraussehen und hilft auch nur jenen 14 Prozent der Deutschen, die ein solches Dokument verfasst haben. Ein Gesetz wird den Ärzten ihre Verantwortung deshalb nicht abnehmen. Sie müssen künftig kritischer hinterfragen, wo ihre Kunst endet und wo die Sterbebegleitung beginnen muss. Auch für Patienten reicht es nicht, wenn sie ihre Vorstellungen im stillen Kämmerlein niederschreiben. Denn mit unklaren Formulierungen können sie sogar Schaden anrichten. Wer möchte, dass seine Wünsche verstanden und befolgt werden, sollte auch künftig das Gespräch mit Angehörigen und Ärzten suchen.

Patientenverfügung in Deutschland Gesetzgebung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Amtspflichten der angenehmen Art

Als Beyoncé den Jazz-Klassiker "At Last" schmetterte und das Paar des Abends das Parkett betrat, da sah es fast so aus, als schaute man zwei Frischvermählten beim Hochzeitstanz zu: der soeben vereidigte Präsident mit Smoking und weißer Fliege, die First Lady in einer blendend weißen Chiffon-Robe des Designers Jason Wu, ein einzelner Träger schräg über den nackten Schultern. "Wie gut sieht meine Frau aus?", hatte Barack Obama vor diesem ersten Tanz beim ersten Ball des Abends gefragt, und die Antwort musste selbstverständlich lauten: Sie sah super aus. Obama trat dann sehr viele Male auf den glitzernden Rocksaum seiner Michelle, und Beobachter scherzten, auf dem Basketball-Court mache der Mann eine deutlich bessere Figur.

Um neun Uhr abends hatte das Paar bereits einen Tag hinter sich, der die meisten Menschen locker niederstrecken würde. Nicht weniger als zehn offizielle Bälle, verteilt über ganz Washington, standen da noch aus, und die Obamas mit Vize Joe Biden und dessen Frau Jill besuchten sie alle. Es begann mit dem Neighborhood Ball, einem Fest für die einfachen Leute; 25 Dollar kostete der Eintritt. Auf Beyoncé folgte Stevie Wonder mit der Wahl-Hymne "Signed, Sealed, Delivered", Obama hielt eine kurze Rede auf die gute Nachbarschaft, 2000 Zuhörer jubelten - und nach ein paar Minuten waren die Ehrengäste schon wieder enteilt, zum Obama Home States Ball der Einwohner von Illinois und Hawaii. "Aloha!", rief der nimmermüde Präsident dort ins Mikrofon, "what's going on?" Die Sicherheitsvorkehrungen waren auch am späten Abend noch gewaltig und hatten unter anderem zur Folge, dass geladene Gäste wie Leonardo DiCaprio und Demi Moore in der Kälte warten mussten, bevor die Türen für sie aufgingen.

Erst am frühen Morgen traf das Präsidentenpaar im Weißen Haus ein. Die Töchter Malia und Sasha lagen da schon längst im Bett. Schließlich müssen sie am Donnerstag wieder in die Schule. tar

Von Ball zu Ball zog das Präsidentenpaar, und Barack Obama trapste seiner Gattin das ein oder andere Mal beim Tanz aufs Kleid. Die Gäste des Neighborhood Ball waren dennoch begeistert (oben). Im kalifonischen Carlsbad hat man den historischen Moment mit Lego-Steinen festgehalten(rechts). Die Reaktionen in der arabischen Welt auf den neuen US-Präsidenten fielen verhalten aus. Reuters, action press, AP

Ein letzter Blick zurück auf das Kapitol: Ex-Präsident George W. Bush flog direkt nach der Amtseinführung seines Nachfolgers zur Andrews Airforce Base und dann weiter in seine Heimat Texas. Foto: Reuters

Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Barack Obama SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Blut und Spiele

Auf der indonesischen Insel Sumba profitiert die archaisch lebende Bevölkerung von sanftem Tourismus

Blut, überall Blut. Es färbt den Sand des sonst staubtrockenen Bodens zu rotem Schlamm. Barfuß waten die Männer darin. Viel mehr ist nicht mehr zu sehen von dem Gemetzel. Heute war Schlachttag in Waihola. Die zwei Büffel haben sie inzwischen längst zerlegt direkt auf dem Dorfplatz, dem Zentrum des Ortes, der Festplatz, Versammlungsort und Begräbnisstätte zugleich ist. Dort befinden sich auch einige der für Sumba typischen Megalithgräber, die aussehen wie große Steintische; mal mehr, mal weniger reich mit Ornamenten verziert, je nach Status des Verstorbenen. Auch in Waihola steht demnächst eine Beerdigung an, und die Gäste wollen verköstigt werden. Das Fleisch hängt bereits in kleine Bröckchen portioniert und zum Trocknen aufgefädelt auf einer Schnur, die wie eine Wäscheleine über den Dorfplatz gespannt ist. Auf den Grabsteinen liegen noch die beiden abgetrennten Köpfe der Büffel. "Die werden erst morgen gekocht", sagt einer der Männer.

Früher stellten sie hier auch die Köpfe ihrer Feinde zur Schau. Erst seit 1962 ist auf Sumba die Kopfjagd offiziell verboten. Manche Dörfer liegen jedoch so abgelegen, dass verfeindete Clans ihre oft blutig endenden Stammesfehden noch immer lieber unter sich austragen. Die Ahnen werden schon wissen, von wem sie ihren Blutzoll fordern, heißt es. Ein Hund nagt indes die restlichen Fleischbrocken von einem Knochen, und ein Mann präsentiert zusammen mit seinen beiden Kindern stolz die Hörner der Büffel, die sie ebenfalls zum Trocknen in die Sonne gelegt haben. Später werden sie als Trophäen die Wände einer Bambushütte zieren oder als Sprossen einer Leiter enden.

Sumba liegt gerade mal eine Flugstunde von Indonesiens Touristenzentrum Bali entfernt, dennoch ist das Leben hier noch so archaisch wie in der Steinzeit, als auch bei uns die Koteletts noch nicht von Bofrost und die Fischstäbchen noch nicht von Käpt'n Iglo angeliefert wurden. Genau nach so einem Ort hatten Claude und Petra Graves lange vergeblich gesucht. Geht nicht, gibt's nicht, hatten sie sich irgendwann auf ihrer langen Reise gesagt. Wochenlang waren sie bereits unterwegs gewesen, um den Platz zu finden, an dem sie leben wollten und der sich zudem dafür eignen sollte, dort ein kleines umwelt- und sozialverträgliches Resort zu bauen.

Claude, gebürtiger Amerikaner, hatte lange für einen international tätigen Baukonzern gearbeitet und war mit seiner Frau, die aus Frankfurt stammt, schon viel in der Welt herumgekommen. Doch der Wunschort war nicht leicht zu finden, denn er musste bestimmte Bedingungen erfüllen, und wie so oft bei Paaren sahen die Vorstellungen vom idealen Ort zum Leben recht unterschiedlich aus. Als begeisterter Surfer hielt er immer Ausschau nach perfekten Wellen, während ihr ein zauberhafter Strand wesentlich lieber war. Ein gemeinsames Ziel aber hatten beide. Sie suchten nach unverbrauchter Natur und einer archaischen Kultur mit Menschen, die ihre Hilfe brauchen konnten. Als die Graves 1988 nach Sumba kamen und dort Nihiwatu entdeckten, hatten sie noch nicht alle Antworten parat, aber sie wussten, das ist der richtige Platz. "Hier fanden wir die richtigen Leute, um ein Projekt zu etablieren, das mehr gibt, als es nimmt", sagt Claude.

Sumba also - eine Insel, die nur halb so groß ist wie Hessen und auf der etwas mehr als 600000 Menschen leben. Berge teilen das Land in zwei klimatisch völlig unterschiedliche Gebiete. Im kargen Osten mit seinen zerklüfteten Hügeln und flachen Grassavannen werden vorwiegend Pferde gezüchtet. Im Westen fällt mehr Regen, weshalb sich die grüne, hügelige Region gut zum Reisanbau eignet. Dank seiner abgeschiedenen Lage haben auf Sumba viele archaische Traditionen überlebt. Schon im 19. Jahrhundert war die Insel für die niederländischen Kolonialherren weitgehend uninteressant geworden. Sie trieben auf Sumba zwar Handel mit Sklaven, Pferden, Büffeln und Sandelholz, doch gelang es ihnen nicht, die Macht der vielen Clans und ihrer lokalen Könige zu brechen. Noch heute wundert es hier niemanden, dass die inzwischen demokratisch gewählte Regionalregierung hauptsächlich von Mitgliedern der königlichen Familien geleitet wird und die früheren Sklaven heute einfach nur Hausangestellte genannt werden. Selbst das Interesse der indonesischen Regierung in Jakarta hält sich im Fall Sumbas stark in Grenzen. Bodenschätze gibt es hier keine zu holen, danach lässt man lieber in Irian Jaya graben. Und touristisch orientiert man sich lieber an Bali, denn die gerade mal 1000 ausländischen Besucher, die pro Jahr nach Sumba reisen, fallen wirtschaftlich betrachtet kaum ins Gewicht.

Die Graves waren die ersten Weißen, die sich in Nihiwatu niederließen und dort vier Jahre lang wie die Einheimischen ohne fließendes Wasser und ohne Strom in einer einfachen Hütte am Strand lebten. Sie waren notgedrungen zu Selbstversorgern geworden, denn viele Sumbanesen litten an Malaria und waren oft zu geschwächt, ihre Felder zu bestellen. Darüberhinaus gab es enorme Verständigungsprobleme. Bis heute können sich nicht einmal alle Clans problemlos unterhalten, denn auf der Insel gibt es um die 18 Dialekte. Schnell waren sich die Graves bewusst, was es bedeutete, in diese Kultur einzudringen. Sie hatten sich deshalb viel Zeit genommen, um mit den Dorfältesten die Vor- und Nachteile des Projektes und wie es ihr Leben beeinflussen würde zu diskutieren. Ohne deren Einverständnis wäre auch heute noch jedes Projekt zum Scheitern verurteilt.

Als die Stammesführer schließlich bereit waren, ihnen das Land abzutreten, wollten sie kein Geld haben. Nicht dass sie das Grundstück nun plötzlich gleich verschenken wollten. Geld war für sie nur nichts weiter als bedrucktes Papier, das sie nicht essen konnten. Büffel dagegen schon. Und so mussten die Graves erstmal losziehen und eine Herde Büffel besorgen, um sie gegen Nihiwatu einzutauschen.

Bereits die Bauarbeiten an den sieben Bungalows und drei Villen brachten den Dorfbewohnern Arbeitsplätze. Bis heute gehört es zur Firmenpolitik, dass 95 Prozent der Angestellten Einheimische sind. Alle Gebäude wurden ausschließlich mit lokalen Materialien aus Holz, Bambus und Stein errichtet. Den Energiebedarf deckt eine Biodieselanlage, die mit Kokosnussöl betrieben wird. 270 Liter Biodiesel werden pro Tag aus dem getrockneten Kernfleisch der Nüsse gewonnen. Mangels Alternativen hatte man anfangs konventionelle, fossile Brennstoffe verwendet und war damit von hohen Ölpreisen abhängig. "Mit Biodiesel konnten wir 75 Prozent der Emissionen reduzieren. Und Kokosnüsse sind noch dazu ein preiswerter, nachwachsender Rohstoff, an dessen Verkauf ausschließlich die Einheimischen verdienen", schwärmt Claude.

In den Anfangsjahren auf Nihiwatu sollte sich jedoch bald herausstellen, dass die Einnahmen, die das Resort abwarf, nicht ausreichten, um die Lebensbedingungen in den unmittelbaren Nachbardörfern entscheidend zu verbessern. "Armut bedeutet hier weit mehr, als einfach nur zu wenig Geld zu haben", sagt Claude. Die Idee, eine Stiftung zu gründen, war aus reinem Frust darüber entstanden, dass hier die Menschen nicht einmal das hatten, was für uns selbstverständlich ist: genügend Wasser, eine Krankenstation, eine Schule und einen Job.

Als manche Resortgäste direkt für konkrete Hilfsprojekte spenden wollten, wurde ein Konzept ausgearbeitet, das man künftigen Interessenten zeigen konnte. 2001 las einer der Surf-Gäste, der amerikanische Geschäftsmann Sean Downs, den zehnseitigen Projektplan und bot Hilfe an. Dies war der Beginn der Sumba Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung, die seither unabhängig vom Nihiwatu Resort Hilfsprojekte auf den Weg bringen kann. Inzwischen kamen mehr als drei Millionen US-Dollar an Spenden zusammen, mehr als eine Million von den Resortgästen, der Rest von Wohltätigkeitsveranstaltungen und von Stiftungen verschiedener internationaler Konzerne.

Schon des gehobenen Standards wegen logieren in Nihiwatu allerdings weniger Rucksackreisende, als vorwiegend Gäste, die sich sonst die teuersten Hotels der Welt völlig schmerzfrei leisten können. Menschen, die alles haben und nichts vermissen. Fast nichts. Zum Stammpublikum gehören nach Auskunft des Resortbesitzers Designer und Eigentümer von Firmen wie Louis Vuitton, Sisley, und Hermès. Wenn diese Klientel reist, ist sie vor allem auf der Suche nach perfekten Momenten und nach jemandem, der einem die Zeit dafür frei hält. Dabei gibt es einen wunden Punkt, an dem für Claude Graves Schluss ist mit dem Gutmenschentum. Zum Surfen duldet er keine externen Besucher auf den Wellen, die er zu den besten der Welt zählt. Diese besonderen Momente sollen für seine Gäste exklusiv bleiben.

Mittlerweile machen sich viele Geldgeber auf den Weg nach Nihiwatu, um die Projekte zu sehen, für die sie gespendet haben. "Einige von ihnen kommen sogar jedes Jahr, um die Projekte in ihrer Entwicklung zu verfolgen", sagt Claus Bogh, Tropenmediziner in einer von fünf Kliniken, die mit Hilfe der Sumba Foundation finanziert wurden. Nach seinen Basisstudien waren noch vor zehn Jahren 62 Prozent der getesteten Kinder im Alter von unter fünf Jahren mit Malaria infiziert. "Dabei ist es heute mit Medikamenten und der Verwendung von Moskitonetzen recht einfach, die Krankheit in den Griff zu bekommen. Inzwischen konnten wir die Infektionsrate um 85 Prozent reduzieren", sagt Bogh. Zudem hat die Stiftung 40 Quellen erschlossen, 94 Wasserstationen und acht Grundschulen im Umkreis von mehr als 100 Kilometern errichtet.

Man hat inzwischen auch aus Fehlern der Anfangszeit gelernt. Mit Büffeln erwirbt man heute kein Land mehr. Damit die Familien von der Pacht ein regelmäßiges Einkommen haben, hat man nun zusätzlichen Grund gemietet. "Unsere Büffelherde war damals schnell in den hungrigen Bäuchen des Clans verschwunden, denn wann immer sie ein Fest veranstalteten, wurden jede Menge Büffel geschlachtet, um die Ahnen zu besänftigen", sagt Claude.

Magische Kräfte haben auf Sumba seit jeher einen größeren Einfluss auf das Leben als die sichtbaren. Marapu heißt der weit verbreitete Glaube an Götter, Geister und Ahnen, der sich sogar in der Architektur niederschlägt. Die mit Gras gedeckten Bambushütten mit ihren typischen hutähnlich aussehenden Dächern sind ein verkleinertes Abbild des Kosmos. Ganz unten zwischen den Stelzen leben die Tiere, im Mitteltrakt die Menschen und in den Dächern wohnen die Marapu. Hier oben werden demnach auch wertvolle Gegenstände wie Schmuck und Ikats aufbewahrt. Für diese Webarbeiten bedarf es oft monatelanger Handarbeit. Wenn ein Familienmitglied stirbt, erhalten die Tücher rituelle Bedeutung und werden zum Einhüllen des Toten verwendet, der als Zeichen der Wiedergeburt in der Haltung eines Embryos mit angewinkelten Armen und Beinen begraben werden muss. Doch bis das soweit ist, kann es dauern. Schließlich müssen erst aufwendig verzierte Grabsteine gemeißelt und alle Verwandten verständigt werden. Je höher das gesellschaftliche Ansehen des Toten war, desto länger lässt das Begräbnis auf sich warten - bei manchem König bis zu einem Jahr. In Ikats eingewickelt, bleibt der Verstorbene so lange als Familienmitglied im Haus und wird symbolisch sogar noch mit Speisen versorgt.

In der Trockenzeit, wenn die Felder brachliegen, kann man in einigen Dörfern auch Zeuge archaischer Fruchtbarkeitsrituale werden. Das bekannteste Fest ist Pasola, eine martialisch anmutende Reiterveranstaltung, die jedes Jahr im Februar und März abgehalten wird. Hunderte Reiter liefern sich rituelle Schaukämpfe, in denen die Tradition der Stammeskriege fortgesetzt wird. Frauen und Kinder feuern die Männer mit schrillen vibrierenden Schreien an, einem Brauch, der noch an alte Kopfjägerzeiten erinnert, als so lautstark die heimkehrenden Jäger begrüßt wurden.

Beim Wettkampf der Reiter versuchen zwei Teams, sich mit Holzspeeren und Stöcken gegenseitig vom Pferd zu stoßen. Dabei kommt es häufig zu schweren, manchmal auch tödlichen Verletzungen. Im vergangenen Jahr ging der Wettstreit für einen Reiter im wahrsten Sinne ins Auge, als einer der Speere seine Augenhöhle durchbohrte und ihn dabei tötete. Für den Angreifer hatte der Zwischenfall kein Nachspiel. Schließlich glauben die Sumbanesen, dass die Marapu bestimmen, wann es Zeit ist zu sterben. Der Blutzoll tränkt noch dazu die Erde und macht sie fruchtbar für die kommende Ernte.

Je mehr Blut also fließt, desto besser. MARGIT KOHL

Eine Biodieselanlage, die mit Kokosnussöl betrieben wird, sorgt für Energie

Informationen

Reisearrangement: Kuoni Reisen organisiert einen siebentägigen Aufenthalt im Nihiwatu Resort (www.nihiwatu.com und

www.sumbafoundation.org) auf Sumba in einem Luxusbungalow einschließlich

Vollpension ab 4600 Euro pro Person.

Im Preis sind auch die Hin- und Rückflüge

in der Economy mit Singapore Airlines über Singapur nach Denpasar (Bali) und der Weiterflug mit Merpati Airlines von Denpasar nach Tambolaka (Sumba) eingeschlossen, sowie sämtliche Transfers. Weitere Infos unter:

Tel.: 0041/44/277 45 45, www.ananea.ch,

ananea@kuoni.ch

Weitere Auskünfte: www.sumbabaratkab.go.id, www.sumbatimurkab.go.id

Bei Reiterfesten wie auch beim Bau der Hütten spielt der animistische Glaube auf Sumba eine wichtige Rolle. Wasser gibt es nicht in jedem Dorf, weshalb das Nihiwatu Resort verschiedene Hilfsprojekte initiiert hat. Fotos: Getty, mako (3), Nancy Opitz

Noch bis 1962 war die Kopfjagd auf Sumba eine gängige Methode der Einheimischen, ihre Konflikte auszutragen. Steinerne Stelen, die zum Präsentieren der Schädel dienten, zeugen noch heute davon. Foto: mako

Tourismus in Indonesien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kassenjustiz, Klassenjustiz

Früher wurde der Justiz vorgeworfen, sie sei eine Klassenjustiz. Diese Kritik ist verstummt, seitdem sich Zumwinkels und Ackermänner vor dem Strafgericht verantworten müssen. Die Justiz ist heute weniger Klassenjustiz denn Kassenjustiz: Bei Gericht wird gefeilscht und gehandelt. Bisher geschah das ohne gesetzliche Basis; jetzt wird der Deal legalisiert. Das Kabinett hat den Gesetzentwurf "zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren" verabschiedet.

Verteidiger, Staatsanwalt und Gericht treffen Absprachen, in denen Geständnisse vereinbart und dafür bestimmte Strafen zugesichert werden. Das Geständnis wird zur Ware, der Prozess wird kommerzialisiert, aber dafür wird er auch kürzer. Der Staat spart Geld. Das alles ist, wie gesagt, nicht neu. Neu ist, dass das alles jetzt vom Gesetz anerkannt und gefördert wird. Das neue Gesetz befördert immerhin den Deal aus der Heimlichkeit in die Öffentlichkeit; er muss in öffentlicher Verhandlung protokolliert werden. Aber auch der protokollierte Deal bleibt ein Deal. Das Gesetz macht ihn leider zur Norm und zum Normalfall. Das ist falsch, und das bleibt falsch, auch wenn es so in einem neuen Paragraph 257 c der Strafprozessordnung stehen wird. Dieser Paragraph wird der Akzeptanz des Rechts schaden. Weil das Dealen eine Kunst ist, für die es besonders gute und teure Anwälte gibt, werden die Angeklagten dabei besser wegkommen, die sich diese Anwälte leisten können. Daher ist die Kassenjustiz auch eine Klassenjustiz.

In der Gesetzesbegründung steht, dass das Gesetz keine finanziellen Auswirkungen habe. Das stimmt nicht. Der Deal spart dem Staat Richter und Staatsanwälte. Der Preis ist der Abschied von den Prinzipien des Strafprozesses. pra

Strafprozessrechtsreform Gesetzgebung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Machtwechsel im Internet

Auf WhiteHouse.gov können Bürger Vorschläge machen

München - In der Sekunde, in der Barack Obama das Amt als 44. US-Präsident übernahm, hat sich der Machtwechsel auch im Internet vollzogen. Seit Dienstag exakt 12 Uhr hat die offizielle Präsidentenseite www.WhiteHouse.gov ein neues Gesicht - und neue Inhalte. Fette Buchstaben verkünden: "Change has come to WhiteHouse.gov." Die Webpräsenz des neuen Präsidenten soll an Transparenz und Bürgerbeteiligung alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, versprechen die Programmierer. "Das Weiße Haus wird ein sehr aufregender Ort", prophezeit gar Obamas Direktor für Neue Medien, Macon Phillips.

Es sind vor allem die neuen interaktiven Features, die Bürgernähe von höchster Stelle demonstrieren sollen. Im sogenannten Briefing Room haben die Bürger das Wort: Sie können politische Vorschläge einreichen und die Anregungen anderer Mitbürger bewerten. Ideen, die auf besonders viel Beifall stoßen, sollten bis an die Regierungsspitze herangetragen werden, heißt es. Außerdem will die Regierung Mitschriften von Beratungen mit Interessengruppen und Lobbyisten auf der Seite veröffentlichen.

Zudem hat die neue Seite auch ein eigenes Blog - das aber zumindest bislang der Präsident nicht persönlich schreibt. Die ersten Einträge hat Macon Phillips verfasst. Anders als üblich bei diesem Format gibt es hier jedoch keinerlei Kommentarfunktion für die Leser. Offenbar fürchtet das Weiße Haus unerwünschte Werbenachrichtenoder gar beleidigende Kommentare. Der neue Präsident wird sich künftig in einer wöchentlichen Videoansprache an die US-Bürger wenden. Mirjam Hauck

Abschied und Neuanfang: die Internetseite des US-Präsidenten. Foto: oH

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Mischen impossible

Wie man als Anfänger im Spielkasino von Wiesbaden Killerinstinkt entwickelt und hinterher die Niederlage im Heilwasser ausbadet

Die Aufforderung am Eingang zum Kasino ist knallhart: "Kill everyone!" Töte jeden. Töte jeden? Die potentiellen Killer müssen allerdings erst fein säuberlich eine Anmeldung ausfüllen, ordentlich Namen, Wohnort und Passnummer angeben und nachweisen, dass sie nicht polizeilich gesucht sind. In der Hausordnung wird höflich, aber bestimmt um "gepflegte Kleidung" gebeten, "Herren im Jackett, Hemd und wünschenswert dazu Krawatte oder Fliege". Anscheinend geht es in der Spielbank Wiesbaden zu wie bei James Bond: Wenn schon jeder umgenietet werden soll, dann bitte mit Stil - und anschließend einen gerührten Martini an der Bar.

"Kill everyone" ist nur der Titel eines Handbuches, das knallharte Pokerturnier-Strategien für Fortgeschrittene erklärt. Es ist an der Kasse des Wiesbadener Kasinos erhältlich für 24,90 Euro, auf dem Titelbild ist ein Fadenkreuz zu sehen, das auf einen ordentlichen Haufen Geld ausgerichtet ist. Wer will, kann ein druckfrisches Kartenspiel ("kein Plastik!") für 2,50 Euro erwerben und schnell noch ein bisschen üben, wie man zu einem Full House kommt. Nützt aber wahrscheinlich sowieso nichts. Selbst geben und dabei tricksen geht garantiert nicht. Denn die Karten teilen im Kasino die offiziellen Kartengeber aus - Mischen impossible.

Die Atmosphäre in der Spielbank Wiesbaden, einem der ältesten, größten und schönsten Kasinos in Deutschland, ist absolut nicht vergleichbar mit der Stimmung in einer verrauchten Spielhölle. Die Gäste sind der Hausordnung entsprechend gekleidet, die Damen tragen elegante Kleider, die Herren Anzug oder zumindest Sakko, Hemd und Krawatte. Für Neulinge gibt es ab 20 Uhr jeweils zur vollen Stunde Einführungskurse im Roulette und im Blackjack, bei denen man sich fast nicht blamieren kann und garantiert nicht bankrott geht - gespielt wird mit alten D-Mark-Chips, die nicht in Euro eintauschbar sind.

Wer echtes Geld einsetzt und dabei eine persönliche Finanzkrise erleidet, kann sich in der Kurstadt anschließend hervorragend vom wirtschaftlichen Schock erholen - beim therapeutischen Plantschen im Thermalwasser, beim Wandeln im Kurpark oder beim sehr tröstlichen Speisen in ziemlich angenehmen Restaurants. Ein Aufenthalt in Wiesbaden hat mit "Kill everyone" glücklicherweise sehr wenig zu tun, eher das Gegenteil ist das Ziel: "Heal everyone" - heile jeden.

Die Kurstadt ist bestens dafür geeignet, Menschen von allerlei Wehwehchen zu befreien. Dass es sich in Wiesbaden ganz gut aushalten lässt, wussten schon die alten Römer. Plinius der Ältere, der sich als Naturforscher einen Namen machte, erwähnte die heißen Quellen erstmals 77 nach Christus. Seit dieser Zeit kommen Touristen zu Badekuren in die Stadt. Die Römer, die man getrost als Erfinder der Wellnesskultur bezeichnen kann, haben den Ruf Wiesbadens also weit mehr geprägt als Roland Koch und Andrea Ypsilanti zusammen. Auch wenn SPD-Sympathisanten angesichts des hessischen Polit-Theaters und des aktuellen Wahldebakels Hautausschläge bekommen, hat das Wiesbadener Klima insgesamt fast immer nur Gutes bewirkt, egal, ob römische Hauptmänner, deutsche Kurfürsten oder Ministerpräsidenten das Sagen hatten.

Allein im Innenstadtgebiet gibt es 27 Quellen, die täglich etwa zwei Millionen Liter Wasser mit Temperaturen zwischen 46 und 66 Grad spenden. Das Wasser des Kochbrunnens gegenüber der Staatskanzlei, in der der neue alte Ministerpräsident Roland Koch (CDU) residiert, stammt aus einer Tiefe von rund 2000 Metern. Das heiße Wasser schmeckt so ähnlich wie Blut, stinkt schwefelig und soll sehr gesund sein. Der Kochbrunnen ist übrigens nicht nach dem Regierungschef benannt, er heißt so, weil der Brunnen ständig brodelt und dampft.

Im Mittelalter waren die heißen Quellen Wiesbadens nicht mehr das, was man unter Wellness versteht. Die Bäder waren verlottert, man konnte sich im Wasser mehr Krankheiten holen als loswerden. Davon ist heute zum Glück keine Rede mehr, die Stadt ist reich, das Wasser ist sauber. Schon 1880 lebten in Wiesbaden mehr Millionäre als sonstwo

Das Wasser schmeckt wie Blut und riecht nach Schwefel - soll gesund sein

Das Kurhaus von Wiesbaden ist schon rein äußerlich ein Gesundheitstempel. Im Kasino ist gepflegte Kleidung im James-Bond-Stil erwünscht. Für Anfänger gibt es Trainingsrunden mit wertlosen D-Mark-Chips, so kann man sich gefahrlos verspielen. Fotos: Horst Goebel, Archiv Spielbank, Sony Pictures/Cinetext, dpa

Spielcasinos in Deutschland Wiesbaden SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rückschritt für Berlin

Die Berliner Initiative "Pro Reli" hat geschafft, was ihr vor einem Monat kaum einer zugetraut hat. Sie hat sich einen Volksentscheid darüber erkämpft, ob Religion zum Wahlpflichtfach an Berliner Schulen werden soll. Dafür kann man ihr Respekt zollen, vor allem wenn man bedenkt, wie klein die Minderheit ist, die sich da so lautstark Gehör verschafft. "Pro Reli" hat seine Bastionen weit im Westen der Stadt, in den Vierteln der Besserverdiener, und im Prenzlauer Berg, wo heute Akademikerkinder aus Schwaben oder Bayern dominieren.

20 Jahre nach der Wende ist Berlin dem bürgerlichen Normalzustand der alten Bundesrepublik ein Stückchen nähergekommen, auch das zeigt der Erfolg der Initiative. Das ändert aber nichts daran, dass mehr als 40 Prozent der Stadtbewohner nach wie vor religiös nicht gebunden sind. Gerade im Osten der Stadt sehen viele die Kampagne der Kirchen skeptisch, und dass sie hilft, die rund 250 000 Berliner Muslime gesellschaftlich besser zu integrieren, ist zu bezweifeln.

Wenn es um Moral und Glauben geht, um Kopftücher, Geschlechterrollen oder Ehre, gehen die Überzeugungen in der Stadt himmelweit auseinander, gerade unter Jugendlichen. Für sie ist der Ethikunterricht, den ab der 7. Klasse alle besuchen müssen, das einzige Forum, das sie zwingt, mit Andersgläubigen über Werte zu streiten. Schafft man diese Pflichtübung ab und lässt jeden seinen eigenen Weltanschauungsunterricht wählen, ist das für die Schüler bequem. Sie bleiben dann wie üblich unter ihresgleichen. Für die Stadt aber und ihre Fähigkeit zum inneren Dialog wäre es ein kapitaler Rückschritt. Deshalb ist es gut, dass "Pro Reli" nach diesem Achtungserfolg bald am Ende des Weges sein dürfte. lion

Pro Reli Unterrichtsfach: Religion Unterrichtsfach: Ethik Volksabstimmungen in Berlin Kirche und Religion in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mischen impossible (Forts.)

in Deutschland. Im Schwarzen Bock, einem der ältesten Hotels Deutschlands, gab es sogar ein Thermalbad für Pferde. Die Tiere durften nach der anstrengenden Reise in ihrer eigenen Wellness-Abteilung entspannen. Nur eine Hufiküre fehlte.

Der Nassauer Hof, ein klassisches Grandhotel mit Blick auf den Kurpark und die Spielbank, besitzt Wasserrechte für eine der Thermalquellen. Im 1500 Quadratmeter großen Wellnessbereich trifft man zum Glück keine Pferde, dafür aber manchmal Leute wie den Dalai Lama, der schon viermal zu Gast war in dem wilhelminischen Prachtbau. Das Wasser im Hotelpool hoch über den Dächern der Stadt ist 32 Grad warm, enthält viel Natriumchlorid und wenig Schwefel, wirkt entspannend, entschlackend und hautreinigend. Könige, Fürsten und Herzöge wählten das Grandhotel zu ihrem Domizil in Wiesbaden, später folgten Kurgäste und Politiker wie Angela Merkel und Wladimir Putin. Arabische und russische Familien residieren gerne in den geräumigen Suiten des Hotels, oft für einen kombinierten Shopping- und Gesundheitsurlaub. Wobei es sich beim Nassauer Hof nicht um ein Sanatorium handele, wie Geschäftsführer Karl Nüser betont: "Es geht eher darum, Gesunde noch gesünder zu machen." Dabei helfen möglicherweise auch 1200 erlesene Weinsorten und die aufbauende Kost im Gourmetrestaurant Ente.

Früher waren einzelne Suiten im Nassauer Hof mit eigenen Thermalbädern ausgestattet, aber das mineralhaltige Wasser griff die Leitungen so stark an, dass sie nach zehn Jahren ruiniert waren. Ebenfalls ruiniert war ein berühmter Gast des Nassauer Hofs innerhalb noch kürzerer Zeit: Fjodor Dostojewski. Von 1863 bis 1871 spielte der russische Schriftsteller im Wiesbadener Kasino. Spielpausen nutzte er dazu, in Bad Homburg und Baden-Baden weiterzuspielen. Angeblich recherchierte er für seinen Roman "Der Spieler", in Wirklichkeit aber war er spielsüchtig und verplemperte seine Tantiemen im großen Stil. Der Roman spielt in einem fiktiven Kurort namens "Roulettenburg", es geht um eine unglückliche Liebe und um einen bankrotten Russen, der an Spielsucht leidet. Der Roulette-Kessel, an dem Dostojewski unter großer persönlicher Aufopferung recherchierte, steht immer noch im Kasino. Die wenigsten Gäste lassen sich allerdings davon abschrecken.

An einem gut besuchten Samstagabend kommen 800 bis 1000 Besucher in die Spielbank, das Publikum ist gemischt: 18-jährige Schüler, die sich zum ersten Mal eine Krawatte umgebunden haben, Stammgäste mit Kennermiene, Theaterbesucher, die nach der Vorstellung noch ihr Glück versuchen, chinesische und indische Touristen. Die Stimmung ist festlich, die vornehm gewandeten Gäste zocken ziemlich gediegen vor sich hin und werden beim Geldverschwenden feierlich umrahmt von den goldenen Friesen, den edlen Hölzern, den kunstvoll verzierten Säulen und den neo-klassizistischen Möbeln im Saal.

Anfänger benehmen sich in der Spielbank entweder übervorsichtig oder übermütig. Die Übermütigen gehen an den nächstbesten Spieltisch, hauen den Grundeinsatz auf die grüne Filzmatte, wundern sich, dass der Mindesteinsatz an manchen Tischen bei 20 Euro liegt, verlieren nach sieben Sekunden, wiederholen das Ganze ein paar Mal und sind binnen Minuten pleite. Die Übervorsichtigen gehen unentschlossen zum Wechselschalter, zögern, fummeln an einem 20-Euro-Schein herum, bis der Kassier mit halbspöttischem Blick zehn Zwei-Euro-Chips hinwirft. Zwei Euro! Peanuts! Stammspieler setzen nicht solche Pipi-Beträge, sondern stapelweise Zehner, Fünfziger oder gleich Hunderter.

100 Croupiers achten darauf, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Sie sind nicht angestellt, weil in Deutschland niemand außer dem Staat am Glücksspiel verdienen darf; sie leben vom Trinkgeld der Spieler. Bei jedem größeren Gewinn geht ein Anteil an die Bank, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Croupiers sind darauf geschult, spielbegeisterte Menschen von spielsüchtigen Menschen zu unterscheiden. "Verdächtige Gäste sind oft fahrig, stehen wie gebannt am Spieltisch und schauen stundenlang nur zu", sagt Friedrich Becker, Erster Saalchef der Spielbank.

Unter Paragraph sechs ("Spielverbote") heißt es, dass "Personen, deren wirtschaftliche Verhältnisse einer Beteiligung am Spiel erkennbar nicht angemessen scheinen" vom Spiel auszuschließen seien. Fjodor Dostojewski hätte unter diesem Gesichtspunkt keine Chance gehabt. Es ist paradox: Einerseits soll die Spielsucht nicht gefördert werden, andererseits profitieren Wiesbaden und das Land Hessen ganz gut vom Spieltrieb der Besucher. Im vergangenen Jahr erzielte das Casino einen Brutto-Erlös von 40 Millionen Euro, 27,8 Millionen davon gingen an das Land Hessen. "Da man weiß, dass der Mensch spielen will, aber das Glücksspiel verboten ist, gibt man uns die Lizenz zum Glücksspiel", erklärt Saalchef Becker, und dem Zuhörer wird schwindlig. Ist es diese Logik, sind es die rotierenden Roulettekugeln, sind es Folgen des heißen Thermalwassers?

Vielleicht ist es langsam an der Zeit, sich in die Gemächer des Nassauer Hofs zurückzuziehen, wo der Dalai Lama so gerne meditiert und im Bad eine Dampfsauna installiert ist. Andererseits: Sollte man nicht doch noch sein Glück versuchen und alles auf die 18 setzen? Neulich hat wieder ein Gelegenheitsspieler den Jackpot geknackt und um exakt 2.53 Uhr genau 676 690 Euro gewonnen, wie die Nachrichtenagentur dpa meldete. In so einem Fall wird die Stimmung im gediegenen Saal der Wiesbadener Spielbank wohl fast explodiert sein. Kontrolliertes Ausrasten ist übrigens offiziell erlaubt. "Sie dürfen gerne während des Spiels das Sakko ausziehen und über den Stuhl hängen", steht auf einem Messingschild am Pokertisch. So viel Spaß muss sein. TITUS ARNU

Dostojewski verspielte hier seine Tantiemen und holte sich gleichzeitig Inspiration

Informationen

Unterkunft: Hotel Nassauer Hof, Kaiser-

Friedrich-Platz 3-4, 65183 Wiesbaden,

Tel.: 06 11 / 13 30, Fax: 06 11 / 13 36 32,

www.nassauer-hof.de;

Doppelzimmer ab 270 Euro in Einzel-,

ab 320 Euro in Doppelbelegung,

Wochenendraten sind günstiger.

Weitere Auskünfte: Tourist Information Wiesbaden, Marktplatz 1, 65183 Wiesbaden,

Tel.: 0611/172 97 80, Fax: 0611/172 97 97

E-Mail: tourist-service@wiesbaden.de,

www.wiesbaden.de

Der Kochbrunnen führt 15 heiße Quellen zusammen. Das natriumchloridhaltige Wasser gilt als heilbringend, aber nicht besonders wohlschmeckend. Wer lieber darin badet, kann das etwa in der Kaiser-Friedrich-Therme tun. Fotos: Wiesbaden Marketing, Xenia Drebes

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Präsident Nummer 43 oder 44?

München - "44 Amerikaner haben nun den Eid des Präsidenten abgelegt", so sagte es Barack Obama in seiner Rede zur Amtseinführung. Das ist richtig, zugleich aber auch falsch. Nach der offiziellen Zählweise des Weißen Hauses ist er in der Tat der 44. Amtsinhaber. Diese Rechnung birgt jedoch eine Besonderheit: Präsident Grover Cleveland wird zweimal gezählt. Er amtierte von 1885 bis 1889 und von 1893 bis 1897 und ist damit der einzige US-Präsident, der nach einer Unterbrechung von vier Jahren ins Weiße Haus zurückkehrte. Alle anderen Präsidenten, die mehrere Amtszeiten ausübten, taten dies direkt nacheinander. Somit wäre Barack Obama erst der 43. Präsident. Eingefleischte Südstaatler könnten jedoch Jefferson Davis hinzuzählen, der von 1861 bis 1865 Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika war und damit Führer der Südstaaten im Sezessionskrieg gegen den Norden. Dann wäre Obama wieder Nummer 44. ws

Obama, Barack: Kuriosa Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Barack Obama SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alles verpulvert

Am Körbersee in Vorarlberg fallen jährlich elf Meter Schnee - so viel wie sonst nirgends in den Alpen

Dort, wo sich der Winter auf einmal beziffern lässt und sich von einem vagen Begriff in eine greifbare Zahl verwandelt, geht Fritz Schlierenzauer jeden Wintermorgen seit mehr als 30 Jahren den gleichen Weg. Er verlässt um halb sieben sein 60-Betten-Hotel am Körbersee, marschiert 100 Meter hinter das Haus zu einem etwa 50 Quadratmeter großen, mit Absperrband eingegrenzten Areal und leistet seinen Beitrag zum aktuellen Lawinenlagebericht in Vorarlberg. Er beobachtet Wind und Wetter, bestimmt die Schneetemperatur und misst bei Bedarf die Menge des frisch gefallen Schnees. Im vergangenen Winter waren das insgesamt 13,31 Meter.

Im Moment liegt dort auf 1675 Metern Seehöhe nur etwas mehr als ein Meter, zu dem sich die insgesamt dreieinhalb Meter gefallener Schnee verfestigt haben, Tendenz steigend. "Generell haben wir den meisten Schnee erst im März oder gar April", sagt Schlierenzauer. Selbst im Winter 2006/07, dem miserabelsten seit Bestehen der Skiindustrie, fielen immerhin 5,50 Meter. Schlierenzauer erinnert sich an einen Rekord aus dem Jahr 1967, als insgesamt 24 Meter Neuschnee eine fast 5,20 Meter dicke weiße Auflage bildeten. Bis zum 17. Juni sei damals der unweit gelegene Skilift am Salober in Betrieb gewesen, erst am 4. Juli war der See eisfrei. Eine geschlossene Schneedecke von sieben Monaten gilt am Körbersee ohnehin als normal, im Schnitt beläuft sich die gefallene Schneemenge pro Saison auf etwa elf Meter. Das Skigebiet der kleinen Ortschaften Warth und Schröcken, zu dem der Körbersee zählt, hat es deshalb trotz der bescheidenen Größe von 66 Pistenkilometern kürzlich sogar in die englische Daily Mail geschafft, als Nummer eins unter den schneereichsten europäischen Skiresorts der Alpen, dicht gefolgt vom bekannten Zürs (10,40 Meter), Braunwald (neun Meter), Obertauern und Avoriaz. Als unerreicht gelten weltweit die Skiresorts im Westen der USA.

Dass auch der Zweitplatzierte der Alpen nur eine Bergkette weiter südlich vom Körbersee liegt, ist kein Zufall. Niederschlag ist eine Folge von Kondensation und Luftbewegungen, und die Erhebungen des Vorarlbergsbilden für zumeist vom Nordwesten heranziehende Tiefs die erste nennenswerte Hürde, an der die Wolken ihren Ballast loswerden. Manche Teile der Region erhalten übers gesamte Jahr verteilt fast vier Mal so viel Niederschlag wie Hamburg. "Diese Nordwest-Staulage ist manchmal ein Nachteil, aber eigentlich sind wir doch froh, wenn wir Schnee abbekommen", sagt Schlierenzauer - und untertreibt.

Denn in der Wintersport-Gemeinde Warth etwas weiter unten gelten die Rekordwerte als Segen. Schlierenzauers Messungen sind inzwischen sogar zur Grundlage einer PR-Parole geworden. Die üblichen wie abgenutzten Schlagwörter "schneereich" und "schneesicher" wären ja Tiefstapelei. Während der 63-jährige Dokumentar hingebungsvoll mit Vokabeln wie "Schwimmschnee", "Becherkristalle" und "Rammprofil" hantiert, haben die Vermarktungsprofis aus seiner wissenschaftlichen Schneeflockenpoesie und den langjährigen Zahlenreihen ein Mantra destilliert: "Elf Meter Schnee." Das ist jedem eingängig, der mal im Schwimmbad am Zehn-Meter-Turm stand oder sich beim Hochsprung über die 1,60 Meter quälte. Karl Wiener, Geschäftsführer der Steffisalp, hat die Schneemassen-Botschaft schon vorbildlich in seinen Wortschatz aufgenommen. Wenn er beispielsweise die fehlenden Balkone seines modernen Hotels erklärt, sagt er: "Ja, die elf Meter müssten da auch erst einmal wieder runtergeschaufelt werden." Auch besitzen die Dorfbewohner - wie der Olympiasieger Hubert Strolz oder der immer wieder gerne porträtierte, bergführende Bürgermeister Gebhard Fritz - als Kollektiv mittlerweile ein enzyklopädisches Wissen über Schnee. Und längst hat die Freerideszene die häufig mit Neuschnee gepuderten Hänge im Skigebiet etwas westlich des Körbersees als Spielplatz entdeckt.

Dabei hat Schlierenzauers tägliche Handarbeit, für die der Hotelier einst zwei Wochen lang geschult wurde und für die er eine "kleine Entschädigung" erhält, einen sehr ernsten Hintergrund. "Wir machen das im Grunde zur Sicherheit der Menschen", sagt er. Die Messstelle ist eine von sechs Beobachterstationen der Lawinenwarnzentrale in Bregenz. Am 1. und 15. jeden Monats dauert sein kurzer Spaziergang hinter das Haus ein wenig länger. Dann fertigt er ein Schneeprofil über den Schneedeckenaufbau an, dokumentiert Kornform, Korngröße, Härte und Feuchtigkeit des Schnees, und wer Schlierenzauers Datensatz folgt, landet bald bei Andreas Pecl, dem Leiter der Lawinenwarnzentrale Vorarlberg, das bereits im Jahr 1953 als erstes Bundesland Österreichs eine Organisation dieser Art einrichtete.

Bei Pecl fließen alle Informationen zusammen, nicht nur jene von den Beobachterstellen, sondern auch die Werte der

20 automatischen Messstationen sowie weitere Daten der Wetterdienste, benachbarter Lawinenwarndienste oder der Skigebiete. Bereits um sechs Uhr morgens sichtet ein Mitarbeiter die Angaben, ehe sie über Telefon und Internet abrufbar sind oder auch per SMS, Fax und E-Mail verschickt werden.

Abgesehen davon, dass sich Schlierenzauer als Mann von der Basis einfach per Sonde und Schaufel über die Lawinengefahr informieren kann, braucht er den Lagebericht trotz der Schneemassen hinterm Haus nur selten. "Ich bin 30 Jahre lang Ski gefahren. Jetzt muss ich betteln, um überhaupt mal eine Stunde frei zu bekommen." DOMINIK PRANTL

Bis zur Hüfte im Schnee: Im Skigebiet Warth-Schröcken, einem beliebten Freeride-Revier, betreut Fritz Schlierenzauer die Messstelle Körbersee. Fotos: Warth-Schröcken, Prantl

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Die ewigen Urlauber

Neue Untersuchungen zeigen, dass die Deutschen 2009 weniger reisen werden - aber verzichten wollen sie nicht

Die CMT-Urlaubsmesse mit erwarteten 200 000 Besuchern ist in Stuttgart in vollem Gang, der "Reisepavillion" für nachhaltige und umweltschonende Reisen wird im Februar in München abgehalten, und im März geht wieder die größte Touristikmesse der Welt, die Internationale Tourismusbörse (ITB), in Berlin über die Bühne. Zeit für die Marktforscher, erste Ergebnisse ihrer Studien zum Reiseverhalten der Deutschen zu präsentieren. "Wie war 2008?" ist dabei naturgemäß einfacher zu beantworten als: "Wie wird 2009?"

"2008 war ein zufriedenstellendes Tourismusjahr", schreibt die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), die regelmäßig 20 000 deutsche Haushalte zu ihrem Reiseverhalten befragt. 126 Millionen Urlaubsreisen mit mindestens einer Übernachtung hätten die Deutschen 2008 unternommen, das sind 300 000 mehr als im Vorjahr. Das ist zwar keine große Steigerung, allerdings habe sich, was die Reisearten betrifft, einiges verschoben. Zwei Drittel aller Urlaubsreisen fanden in der Sommersaison statt, die Hälfte der Sommerurlaube wurde in Deutschland verbracht. Das sind zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Urlaubsreisen mit der Bahn haben in der Sommersaison um rund fünf Prozent zugenommen, während aufs ganze Jahr gesehen Städtereisen um 7,4 und kurze Flugreisen sogar um 9,4 Prozent abgenommen haben. Offenbar wirkten sich hier die Klimawandel-Diskussion und die Kerosinzuschläge aus. Zudem zogen es nicht wenige Urlauber 2008 vor, in Privatunterkünften zu übernachten. Deren Anteil stieg um zehn Prozent, während die Ein- bis Drei-Sterne-Hotels Verluste zu verzeichnen hatten. "Die hohen Preissteigerungen zwischen April und August und der teure Sprit könnten ein Grund dafür gewesen sein", sagt Roland Gaßner, Projektleiter der GfK-Studie.

Was die Urlaubsplanungen für das laufende Jahr betrifft, so ist gemäß GfK auch hier Deutschland als Reiseziel im Aufwind. Insgesamt sind zurzeit 2,5 Prozent mehr Inlandsreisen geplant, bei den Reisen mit mehr als zehn Tagen Dauer sind es sogar plus sieben Prozent. Marktforscher Gaßner geht davon aus, dass durch die Rezession die Nachfrage nach Urlaub im eigenen Land noch weiter steigen könnte.

Die Sommer-Haupturlaubsreise für 2009 hatten zum Zeitpunkt der GfK-Befragung im November sogar zwei Prozent mehr Urlauber vorausgebucht als im vergangenen Jahr. Das heißt, bei langfristigen Reiseplanungen ließen sich die Deutschen zu jenem Zeitpunkt noch nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Jedoch ist dieser Wert nicht besonders aussagekräftig, da die Sommerurlaubsreise großteils erst zwischen Januar und März gebucht wird. Für die laufende Wintersaison liegen die Buchungen 4,4 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Familien mit Kindern sind bei den Reiseplanungen für 2009 zurückhaltend, sie haben 6,4 Prozent weniger Reisen vor als noch vor einem Jahr. Viele Familien, die mit jedem Euro rechnen müssten, warteten wohl erst einmal ab, wie sich ihre persönliche Wirtschaftslage entwickelt, meint Gaßner. Nach der nächsten Konsumenten-Befragung Anfang Februar werde man genauer wissen, ob sich diese Zögerlichkeit auch tatsächlich in weniger Urlaubsbuchungen niederschlägt.

Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR), die jedes Jahr zur ITB eine umfangreiche Studie zum Reiseverhalten veröffentlicht, geht zunächst einmal von einer Stagnation auf hohem Niveau aus. Drei Viertel aller Deutschen wollten 2009 eine Urlaubsreise unternehmen, doch jeder achte Befragte gab an, sich bei seinen Reiseplanungen von der Finanzkrise beeinflussen zu lassen. Noch hielten sich aber jene, die mehr Geld für Reisen ausgeben wollen, mit jenen, die sparen wollen, die Waage.

Die Volkswirte der Dresdner Bank hingegen prognostizieren bereits jetzt einen Rückgang der Reiseausgaben um eine Milliarde Euro, das wären fast zwei Prozentpunkte weniger als im vergangenen Jahr. Die FUR rechnet mit einer gleichbleibenden Zahl der Reisenden, aber mit einem Rückgang der Reisen: "Wenn es zu Rückgängen kommt, dann eher bei zusätzlichen Urlaubsreisen und Kurzreisen", sagt Martin Lohmann, wissenschaftlicher Berater der FUR.

Was die künftigen Reiseziele betrifft, so wird es auch 2009 keine großen Überraschungen geben. Deutschland wird mit fast einem Drittel aller Urlaubsreisen vor den gefragtesten, klassischen Auslandszielen wie Spanien, Italien, Türkei und Österreich liegen. Überdurchschnittliches Interesse besteht laut FUR an Norwegen, Bulgarien, Rumänien, Polen sowie Ländern in Südostasien.

haag/dpa/rtr/AP

Der Wind in den Urlaubs-Segeln bleibt für die meisten Deutschen trotz Rezession kein Traum. Foto: Ellen Rueger

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Versöhnliche Botschaft mit hartem Kern

In seiner Antrittsrede skizziert US-Präsident Barack Obama eine Wende in der Außenpolitik hin zu mehr Diplomatie

Von Christian Wernicke

Washington - Es ließ sich sehr genau beobachten, wie der Amtsvorgänger auf die Rede von Amerikas neuem Oberbefehlshaber reagierte: Betont wohlwollend, mit mildem Lächeln im Mundwinkel und einem durch dicke schwarze Handschuhe gedämpften Applaus würdigte George W. Bush das politische Antritts-Oratorium des Barack Obama. Eine Passage in der Rede des 44. Präsidenten jedoch löste regelrecht Begeisterung aus bei No. 43. Das war, als Obama sich an jene finsteren Mächte wandte: "Allen, die ihre Ziele mit Terror verfolgen und Unschuldige umbringen, sagen wir: Unser Wille ist stärker und kann nicht gebrochen werden!", rief der neue Präsident.

Da strahlte George W. Bush. Denn das klang so martialisch, als solle sich nicht viel ändern an Amerikas Außen- und Sicherheitspolitik. Und vermutlich wollte Obama genau diesen Eindruck auch erzeugen: Seit mindestens vier Jahrzehnten leidet jeder Demokrat im Weißen Haus unter dem Vorurteil, er sei eher ein Weichei denn ein hartgesottener Krieger. Härte als Hüter nationaler Sicherheit kommt an beim Volk. Auch die zwei Millionen Menschen auf der Mall bejubelten lauthals Obamas Willen zum Besiegen.

Nur ließ ebenso aufhorchen, was Obama nicht sagte: Der zerschundene Begriff vom "Krieg gegen Terror" tauchte nirgendwo mehr auf, auch die Scheidung der Welt in Gut und Böse - die zentralen Kategorien für Denken und Handeln des George W. Bush - sie scheinen passé zu sein. Zumindest will dieses Weiße Haus nicht mehr frivol damit kokettieren, die Wirklichkeit ließe sich derartig simpel über einen Leisten schlagen.

Zugleich erneuerte Obama aber auch Amerikas Anspruch auf globale Führung. Trotz Finanz- und Wirtschaftskrise, trotz Rekordverschuldung und Massenkonkurs: Unbeirrt sieht Obama seine Nation - wie einst im Kampf gegen Faschismus und Kommunismus - ausdrücklich dazu berufen, bis in die kleinste afrikanische Hütte Hoffnung zu verbreiten: "Amerika ist ein Freund jeder Nation, jedes Mannes, jeder Frau, jedes Kindes, die nach einer Zukunft in Frieden und Würde suchen. Wir sind bereit, die Führung einmal mehr zu übernehmen."

Solche Töne stehen in der Tradition eines liberalen Internationalismus, wie ihn auch Obamas Vorvorgänger im Amt, Bill Clinton, pflegte. Die Kluft zur Bush-Ära - jedenfalls zu den militärischen Abenteuern des Präsidenten, den Alleingängen und Koalitionen der Willigen in den ersten vier Jahren - tut sich auf, wenn Obama von Macht und Gewalt spricht. Nicht einfach mit Raketen und Panzern, sondern "mit starken Allianzen und festen Überzeugungen" habe Amerika frühere Konflikte gewonnen: "Unsere Macht allein kann uns nicht beschützen, noch erlaubt sie uns, zu tun was wir wollen." Nur der "kluge Gebrauch" aller Macht rechtfertige letztlich Amerikas Führungsrolle in der Welt. Politikwissenschaftler haben dafür den Begriff der "smart power" erfunden, der intelligenten Machtausübung, die sich mit allen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit, der Diplomatie und - nur notfalls - des Militärs Respekt verschafft. Und Obamas Außenministerin Hillary Clinton ihn gleich mehrmals zum Schlüsselwort erhoben in ihrer Anhörung im Senat.

Obamas internationale Prosa vom Dienstag blieb meist vage. Sehr konkret war nur sein Versprechen, nun "verantwortungsvoll den Irak verlassen" zu wollen. Im selben Satz sprach der neue Präsident davon, er wolle "einen hart verdienten Frieden in Afghanistan schmieden". Er weiß, dass er den dafür nötigen Willen bei seinen europäischen Alliierten erst durch harte Überzeugungsarbeit neu wecken muss.

Ein klares Zeichen setzte Obama, da er der muslimischen Welt Amerikas Respekt versicherte. Ja, er wolle "einen neuen Weg vorwärts" suchen. Der Präsident nannte keine Namen. Aber alle Botschafter auf den Klappstühlen der Mall dachten an die Mullahs in Teheran, da er fast poetisch seinen Willen zu Verhandlungen auch mit Gegnern versicherte: "Wir werden unsere Hand ausstrecken, wenn Ihr bereit seid, Eure Faust zu lösen." Die Demonstrationen in Teheran bedeuten Obama, dass in dieser Region länger und noch vieler Worte brauchen wird, das Erbe seines Vorgängers hinter sich zu lassen.

Radikale Studenten in Teheran zerreißen Obama-Bilder. Foto: dpa

Obama, Barack: Zitate Regierung Obama 2009 Außenpolitik der USA: Grundsätzliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Dr. Verfolgungswahn

Siem Reap ist die Stadt zum Tempel: In der Nähe dieses kambodschanischen Touristenzentrums liegt der spirituelle Mittelpunkt des Angkor-Reichs. Für 2010 wird dort mit einer Million Besucher gerechnet. So ist Siem Reap ein Ort, der nichts mit der Realität des Dritte-Welt-Landes zu tun hat.

Stattdessen gibt es Pizzerien, Cocktailbars und Kneipen, deren gewagte Innenarchitektur an Tempel erinnert. Die Raumtemperatur ist auf 18 Grad Celsius heruntergekühlt, draußen hat es fast 40 Grad. Wer deswegen einen Schnupfen bekommt, geht in die Apotheke gegenüber. Dort ist alles wohlsortiert: Erkältung vorne, Darm und Magen hinten. Aber die Verkäuferin versteht nicht, was man will. Plötzlich greift mir von hinten eine Hand ins Gesicht und knetet meine Wangen. "Sinus infection. Don't worry, I am a doctor", sagt ein Mann in der Warteschlange.

Am nächsten Tag sitzte ich in der Tempelkneipe und trinke einen Angelina-Jolie-Cocktail. Ihr Film "Tomb Raider" wurde zum Teil in Angkor Wat gedreht, und das ist mindestens so aufregend wie die restlichen 900 Jahre Vergangenheit der Anlage, die König Suryavarman II. zu Beginn des 12. Jahrhunderts erbauen ließ. Plötzlich dröhnt es vom Nebentisch: "Wie geht es Ihrer Nebenhöhle?" Es ist der Arzt - mit seiner Frau. Man unterhält sich und erfährt: Der Mann kommt aus Australien und ist ein Aborigine. Ich stamme aus München. "Oktoberfest, wundervoll", brummt der Arzt mit tiefer Barry-White-Stimme. Aber der Chinese Tower gefalle ihm noch besser, der Biergarten am Chinesischen Turm also. Der HNO-Spezialist war früher Austauschstudent in Deutschland. Eine nette Zufallsbekanntschaft, denkt man.

Doch schon am nächsten Tag beginnt die kambodschanische Paranoia. An einer Raststätte irgendwo am Ende der Welt nahe der thailändischen Grenze. Die Autobahn ist eine Sandpiste. Pick-ups mit Vermummten auf der Ladefläche rasen vorbei: Die Reisenden schützen sich mit Tüchern gegen den aufgewirbelten Staub. Auf einen Laster ist eine Buddhastatue geschnallt, vorne weg fährt eine kleine Kolonne mit Lautsprechern, die für die angemessene musikalische Untermalung sorgt. Überall stehen verlassene Bulldozer, die eigentlich die Straße asphaltieren sollen. Daneben sitzen die Arbeiter und rauchen und sehen nicht so aus, als ob sie an die Asphaltierung noch glauben würden. Die Erbauung Angkor Wats hat damals schließlich auch 37 Jahre lang gedauert, warum sollte dann ausgerechnet eine Straße schneller fertig werden?

In der Raststätte gibt es gebratene Taranteln, alle Sorten Chips, ein verstopftes Klo und eine Autowaschanlage: Der Sohn des Ladenbesitzers spritzt die Autos mit dem Gartenschlauch ab. Plötzlich brummt es von hinten: "How is your sinus?", und ich habe nun langsam Angst, für den Rest seines Lebens von dieser Frage verfolgt zu werden.

Der Arzt raucht neben einem luxuriösen Reisebus. Sie fahren nach Bangkok, erzählt er. Man wird sich also dort wohl wiedersehen. Seine Ehefrau, eine große Blonde, kommt dazu und schaut streng. Sie traut dieser seltsamen Nebenhöhlen-Geschichte nicht. Der Arzt verabschiedet sich und klettert in seinen Bus. Und ich gehe einfach los: weg von der verfallenen Raststätte, hinaus in die wüstenähnliche Weite Kambodschas. Irgendwo muss es doch einen Ort geben, wo man keine Bekannten trifft. VERENA KREBS

Neulich in Siem Reap

Städte und Gemeinden in Kambodscha SZ-Serie Neulich in SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Projekt Eichhörnchen"

Die Bahn soll Mitarbeiter und Ehepartner ausspioniert haben

Was den Kampf gegen Korruption angeht, hat Wolfgang Schaupensteiner einen großen Namen. Der "Chief Compliance Officer" der Bahn soll dafür sorgen, dass der Konzern nicht von eigenen Leuten hintergangen wird. Etwa, indem sie Scheinfirmen gründen, die dann seltsamerweise an lukrative Aufträge kommen. Auf der Suche nach schwarzen Schafen griff die Bahn in der Vergangenheit allerdings auch zu unkonventionellen Mitteln: Sie beauftragte Detektive, möglichen "Nebentätigkeiten" nachzugehen, und das auch beim Führungspersonal. Beauftragt war pikanterweise die Detektei Network Deutschland - also jene Firma, die auch im Auftrag der Deutschen Telekom Journalisten und Aufsichtsräte bespitzelte. Im vergangenen Juni hatte die Bahn diese Verbindung eingestanden. Zwischen 1998 und 2007 hatte sie rund 800 000 Euro an Network gezahlt, für "Recherchen" in 43 Fällen.

Interne Dokumente, die der Stern am Mittwoch vorgelegt hat, zeigen nun das Ausmaß der Nachforschungen. So hatten die Ermittler beim "Projekt Eichhörnchen" die Aufgabe, die "Top-Tausend-Führungskräfte" der Bahn zu untersuchen. 774 Mitarbeiter und 500 Ehepartner seien unter die Lupe genommen worden. "Ziel der Überprüfung war es, das wirtschaftliche Engagement dieses Personenkreises außerhalb der Bahn zu überprüfen", zitiert die Zeitschrift. Auch die Datenschützer sind nun auf dem Plan. "Wir haben schon erhebliche Anhaltspunkte für datenschutzrechtliche Verstöße", sagt Thomas Petri, stellvertretender Datenschutzbeauftragter in Berlin.

Die Bahn selbst will von Verstößen nichts wissen. "Es wurden keine Telefone abgehört, keine Konten eingesehen, keine Journalisten abgehört", sagte Schaupensteiner bei einer Telefonkonferenz am Mittwoch. "Die Bahn hat dafür zu sorgen, dass das Unternehmensvermögen nicht beschädigt wird." Deshalb seien die Daten mit denen von Auftragnehmern "abgeglichen" worden, um Betrügereien aufzudecken. Rechtlich sehe die Bahn keine Probleme, sagt Schaupensteiner - Oberstaatsanwalt a.D. Michael Bauchmüller

Spitzelaffäre bei der Deutschen Bahn AG 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Personalie mit Symbolkraft

George Mitchell wird als Nahost-Gesandter gehandelt - ein Zeichen, dass sich die USA in den Konflikt einschalten

Von Christian Wernicke

Washington - Der Ex-Senator und international erfahrene Krisenexperte George J. Mitchell soll US-Präsident Barack Obama offenbar als Sondergesandter für den Nahen Osten dienen. Das meldeten mehrere US-Medien unter Berufung auf Quellen im Weißen Haus. Mitchells Berufung wäre ein Signal an Israelis wie Palästinenser, dass die Obama-Regierung sich deutlich mehr als zuletzt die Bush-Administration um eine auch von außen moderierte Friedenslösung im Nahen Osten bemühen will.

Mitchell, der von 1980 bis 1995 demokratischer US-Senator war, erwarb sich 1998 weltweit hohen Respekt als erfolgreicher Vermittler im nordirischen Friedensprozess. Der Sohn einer libanesischen Mutter und eines Vaters irischer Abstammung, der als Waisenkind in einer US-libanesischen Familie aufwuchs, zählt bis heute zu den prominentesten Politikern arabischer Herkunft.

Mit dem Nahost-Konflikt beschäftigte sich der inzwischen 75 Jahre alte Demokrat eingehend, als er im Frühjahr 2001 eine noch vom scheidenden US-Präsidenten Bill Clinton in Auftrag gegebene Studie über die Konfliktursachen im Nahen Osten verfasste. Der sogenannte Mitchell-Report verlangte von Israelis wie Palästinensern einen strikten Gewaltverzicht und forderte zudem, die Regierung in Jerusalem solle sofort den Bau neuer Siedlungen stoppen. Die Ergebnisse des Reports flossen auch ein in die bis heute offiziell fortdauernden Versuche der internationalen Gemeinschaft, mit Hilfe der sogenannten Roadmap, einem mehrstufigen Plan, einen Weg zum Frieden zu ebnen.

Washingtoner Nahostexperten werteten Mitchells wahrscheinliche Ernennung als Zeichen, dass Präsident Obama die künftige Nahostpolitik nicht allein seiner Außenministerin Hillary Clinton überlassen will. Mitchell soll als Sondergesandter auch direkten Zugang zum Oval Office haben. Aaron David Miller vom Woodrow Wilson Center in Washington deutete Mitchells Rolle zudem als klare politische Kurskorrektur: "Obama will sich befreien aus der exklusiven Beziehung, die wir bisher mit den Israelis hatten." In ersten, noch inoffiziellen Reaktionen äußerten sich vor allem arabische Diplomaten in Washington positiv zu einer Berufung von Mitchell.

Während der jüngsten Gewalteskalation im Gaza-Streifen hatte Obama sich strikt geweigert, zum Nahostkonflikt Stellung zu beziehen, immer mit dem Verweis, es gebe nur eine amtierende Regierung. In außenpolitischen Kreisen hatte jedoch ein Appell von Zbigniew Brzezinski, dem nationalen Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, Aufsehen erregt, die USA müssten "endlich zurückkehren in den Nahen Osten" und eine "aktive Vermittlerrolle" übernehmen. Die beiden Konfliktparteien selbst seien "unfähig, allein einen Frieden zu finden", sagte der Demokrat dem Kabelsender MSNBC. Brzezinski ist zwar nicht Mitglied des engsten Beraterstabs von Obama, gilt aber als eine sicherheitspolitische Autorität, auf die auch der neue US-Präsident hört.

Als Autor des nach ihm benannten Reports kennt sich George J. Mitchell im Nahen Osten bestens aus. Offenbar soll er dort künftig Obamas Politik vertreten. Foto: AFP

Mitchell, George J.: Karriere Regierung Obama 2009 Nahost-Konflikt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Beweislast beim Vermieter

Karlsruhe - Vermieter müssen sich künftig besser als bisher absichern, wenn sie die Abrechnung von Betriebskosten knapp vor Ablauf der Jahresfrist verschicken. Die Versendung auf dem Postweg reiche im Streitfall nicht aus, entschied der Bundesgerichtshof (BGH). Dies sei "kein Anscheinsbeweis für den Zugang der Sendung" bei den Mietern. Damit müssen Vermieter künftig Abrechnungen etwa mit Einschreiben per Rückschein zustellen. Im konkreten Fall hatten Mieter als einzige von 16 Parteien eines Hauses in Berlin bestritten, sie hätten eine am 21. Dezember 2005 abgeschickte Nebenkosten-Abrechnung für 2004 erhalten. Sie verweigerten deshalb die Nachzahlung von rund 270 Euro. Nach dem Gesetz muss die Abrechnung binnen Jahresfrist vorliegen. Damit sollten Mieter vor zu spät geltend gemachten Forderungen geschützt werden, erklärte der BGH. (Az: VIII ZR 107/08) ker.

Mietnebenkosten in Deutschland Fälle beim Bundesgerichtshof SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Wende in Sicht

Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung: Die Talfahrt endet im Frühsommer. Wirtschaftsminister Glos warnt vor einer "Politik des leichten Geldes"

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Die Bundesregierung rechnet nach dem stärksten Konjunktureinbruch der Nachkriegsgeschichte für den Frühsommer mit einem Ende des Abschwungs in Deutschland. Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sagte am Mittwoch bei der Vorstellung seines Jahreswirtschaftsberichts, er sehe für das zweite Halbjahr eine "Wende zum Besseren". Wegen der derzeit noch anhaltenden konjunkturellen Talfahrt werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr im Vergleich zu 2008 aber um zweieinviertel Prozent schrumpfen. Die Zahl der Arbeitslosen werde bis zum Jahresende voraussichtlich um rund 500 000 auf dann 3,5 Millionen steigen.

Glos begründete seinen vorsichtigen Optimismus mit den Konjunkturprogrammen, die die Regierungen in aller Welt beschlossen hätten und von denen Deutschland als Exportweltmeister profitieren könne. Er mahnte in diesem Zusammenhang, das von der großen Koalition verabschiedete zweite nationale Hilfspaket rasch und ohne nennenswerte Änderungen in Kraft zu setzen. Insgesamt stellten Bund, Länder und Gemeinden damit 80 Milliarden Euro zur Stützung der Konjunktur bereit. Dies könne im Zusammenspiel mit den kräftig gesunkenen Preisen etwa für Benzin und Diesel den privaten Konsum beleben. Allein der niedrigere Ölpreis entlaste die Bürger um rund 20 Milliarden Euro. Beim Export rechnet die Bundesregierung dagegen nach teils zweistelligen Zuwachsraten in den Vorjahren für 2009 mit einem Einbruch um 8,9 Prozent. Die Ausrüstungsinvestitionen dürften im Vergleich zum Vorjahr um 11,9 Prozent sinken.

Der Minister forderte die großen Zentralbanken der Welt zu einer vorsichtigeren Zinspolitik nach dem Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise auf. Ohne die US-Notenbank (Fed) namentlich zu nennen, sagte er, es dürfe nicht erneut zu einer "Politik des leichten Geldes" und damit zur Bildung von Spekulationsblasen kommen. Nach Meinung vieler Experten hat die Fed die jüngste Krise zumindest mitverschuldet: Im Bemühen, die Konjunktur in den Vereinigten Staaten am Laufen zu halten, hielt sie die Leitzinsen so niedrig, dass die Finanzbranche förmlich mit Geld überschwemmt wurde. Dies trug dazu bei, dass die Preise für Immobilien, kaum durchschaubare Wertpapiere und andere Anlagen jahrelang ungebremst in die Höhe schnellten.

Glos zufolge sind die Bankenturbulenzen in Deutschland und den anderen Industrieländern noch nicht ausgestanden - eine Einschätzung, die auch Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) teilt. Eine Kreditklemme für kleine und mittlere Betriebe sehe er aber nicht, betonte der Wirtschaftsminister. Große Unternehmen hätten dagegen zunehmend Schwierigkeiten, Darlehen zu bekommen oder Anleihen am Markt zu platzieren. Für Staatshilfen an deutsche Auto-Konzerne sieht Glos keinen Anlass. An einer möglichen Opel-Bürgschaft werde aber weiter gearbeitet. Der CSU-Politiker verwies zudem auf die bisherigen Maßnahmen der Regierung wie den Kfz-Steuerbonus, die "Verschrottungsprämie" für Altfahrzeuge sowie günstige Kredite zur Technologieentwicklung in Auto-Konzernen. "Wir brauchen uns nicht vor anderen Ländern zu verstecken", sagte er.

Die Oppositionsparteien im Bundestag werteten den Jahreswirtschaftsbericht dagegen als Beweis dafür, dass zusätzliche Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft nötig sind. FDP-Chef Guido Westerwelle sagte, der Bericht offenbare, dass die Bürger dringend Entlastungen bei Steuern, Abgaben und Bürokratie benötigten. Die Chance, dies schon bei den beiden Konjunkturpaketen der Regierung zu erreichen, sei aber leichtfertig verspielt worden. Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Kerstin Andreae, erklärte, die Koalition habe Strukturreformen in der vergangenen guten konjunkturellen Lage versäumt. Jetzt seien Investitionen in den Klimaschutz, in Bildung und für soziale Gerechtigkeit notwendig. Nur sie würden nachhaltige Wirkungen entfalten. Als "einzige Enttäuschung" und "Bankrotterklärung" bezeichnete der Chef der Linkspartei, Oskar Lafontaine, den Jahreswirtschaftsbericht. Die Regierung stelle damit amtlich fest, dass ihre Konjunkturpakete ihr Ziel verfehlten. Es seien viel höhere öffentliche Investitionen notwendig, um den drohenden Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bremsen.

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verlangte von der Regierung "mehr Mut bei öffentlichen Investitionen". Vorstandsmitglied Claus Matecki sagte, angesichts der Wirtschaftskrise sei es sehr optimistisch, mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit um lediglich 500 000 Menschen zu rechnen. Der Industrie- und der Arbeitgeberverband erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme, die Konjunkturpakete der Regierung wiesen in der Summe in die richtige Richtung. Dagegen sei es falsch, in dieser schwierigen Lage einen gesetzlichen Mindestlohn für Zeitarbeiter einzuführen. "Diese Maßnahme macht Deutschland nicht stärker, sondern belastet Wachstumspotenzial und Beschäftigung", so die Verbände. (Kommentare)

Allein der niedrigere

Ölpreis entlastet

die Bürger um

20 Milliarden Euro.

Gewerkschaft rechnet

mit einem stärkeren

Anstieg der

Arbeitslosenzahl.

Konjunkturprognosen für Deutschland Rezession in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ostseebäder

Belebende Geschichte

Die traditionellen Kurorte erstrahlen in neuem Glanz

Frühmorgens ist der Strand von Ahlbeck noch leer, goldgelb und fein der Sand, fast wie Puder. Rasch angezogen und raus aus dem Hotel. Vorbei an der gusseisernen Standuhr, Baujahr 1911, an den strahlend-weißen Villen, ans Meer. Die Luft schmeckt nach Salz, der Wind bläst kräftig. Mit einem Schlag ist man hellwach. Die Haut prickelt, Windkosmetik nennen das die Leute aus der Kurverwaltung. Später könnte man sich im Spa verwöhnen lassen; Tee trinken gehen; oder einfach nur flanieren - wie einst zu Kaiserzeiten. Es lässt sich wieder viel vom alten Glanz erspüren, der Ahlbeck, Bansin, Binz und die anderen Seebäder im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Magneten für die feine Gesellschaft gemacht hatte.

Die Geschichte der deutschen Ostseebäder beginnt mit einer Reise nach England. Georg Christoph Lichtenberg, Mathematiker und Schriftsteller aus Göttingen und wegen einer Wirbelsäulenverkrümmung zeitlebens leidend, besuchte auf einer Englandreise die Seebäder in Margate und Deal. Er ließ sich von einem von Pferden gezogenen Badekarren in die See transportieren und tauchte ein paar Mal hintereinander ins Wasser. Seither schwärmte er davon, dass er dem Aufenthalt dort die "gesündesten Tage" seines Lebens verdanke. Im Jahr 1793 veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem Titel "Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?"

Während man in Deutschland damals nur fernab vom Meeresstrand kurte, nutzte man in England längst die gesundheitsfördernde Wirkung von Meerwasser und Seeluft. Maßgeblichen Einfluss auf die britische Badekultur hatte der Mediziner Richard Russell, sozusagen der Urvater der Thalassotherapie. Er gründete das spätere Seebad Brighton in dem Fischerdorf Brightelmstone. Ein Treff der feinen Gesellschaft wurde der Ort, als 1782 der Prinz von Wales, der spätere englische König Georg IV., dort zur Kur weilte.

So etwas wie Brighton wünschte sich nicht nur Lichtenberg. Samuel Gottlieb Vogel, der Leibarzt Friedrich Franz I., Herzog von Mecklenburg-Schwerin, überzeugte den Landesherrn vom Bau eines Seebades: "Durch die (...) heilvolle Wirkung des Badens in Seewasser können sehr viele Schwachheiten und Kränklichkeiten des Körpers behoben werden." Der Herzog war einverstanden, ein Standort fand sich schnell: Doberan, ein kleines Dorf an der Ostsee, zwischen Rostock und Wismar gelegen. Das Badehaus sollte unweit von Doberan am Heiligen Damm stehen. Bauconducteur Johann Christoph Heinrich von Seydewitz wurde mit den ersten Bauten betraut, und 1793 startete in Doberan die erste Badesaison mit mehr als 300 Gästen aus ganz Europa.

Seydewitz' Nachfolger Karl Theodor Severin gab den Neubauten ein ganz anderes Gesicht: Er entwarf moderne klassizistische Bauten - ein prägendes Vorbild für die Architektur der Ostseebäder. Die vielzitierte weiße Stadt am Meer entstand. Jahr für Jahr reiste die mondäne Gesellschaft zur Sommerfrische nach Heiligendamm und bald auch in die neuen Seebäder nach Travemünde, Boltenhagen, Kiel, Sassnitz und Scharbeuz.

Die Sommerfrischler, die durch den Ausbau der Eisenbahntrasse relativ einfach anreisen konnten, verbrachten oft mehrere Wochen an der See. Zum Kuren, zum Baden - und auch, um sich die Zeit in Ballsälen, Teesalons, Spielbanken und auf Pferderennbahnen zu vertreiben. Auf Usedom entstanden die sogenannten Kaiserbäder Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin. Kaiser Wilhelm II. reiste am liebsten nach Heringsdorf. Viele Künstler und Prominente zog es an die Ostsee: Die Brüder Mann, Maxim Gorki, Leo Tolstoi, Kurt Tucholsky oder Johann Strauß.

In der Zeit zwischen den Weltkriegen öffneten sich die Seebäder auch für weniger gut betuchte Menschen. Großbetriebe, Gewerkschaften und Sozialversicherungen ließen für ihre Arbeiter und Angestellten Ferienheime bauen. Hitler trieb mit seinem Prora-Projekt die Idee des Sozialtourismus auf die Spitze. Auf Rügen, zwischen Saßnitz und Binz, plante er ein gigantisches Seebad für die NS-Organisation "Kraft durch Freude". Fertiggestellt wurde der Bau nie, bis heute sucht man nach geeigneten Nutzungskonzepten.

Die DDR-Regierung förderte den Tourismus in den Ostseebädern. Heiligendamm wurde zum Kurbad der Werktätigen. Das spiegelte sich auch in der Neubenennung der Villen wider. Das Haus "Perle" wurde zum "Maxim-Gorki-Haus", die Burg Hohenzollern bekam den Namen "Glück auf" - hier kurten Bergleute mit Lungenkrankheiten.

Nach der Wende standen viele alte Prachtbauten zum Glück noch, aber sie mussten dringend renoviert werden. Seebrücken entstanden neu, mit Geschäften und Restaurants. Die Orte putzten sich heraus, das Weiß der Häuser strahlt wieder wie früher. Und man besinnt sich auf Traditionen, nutzt die Heilkraft des Meeres, bietet Thalasso-Therapien an. Was früher Badekur hieß, nennt sich heute Medical Wellness. Christiane Bertelsmann

Nach der Wende standen viele Prachtbauten noch, sie mussten nur saniert werden

Sommerfrische an der Ostsee: Der Strand von Sellin auf der Insel Rügen und die wiederhergestellte historische Seebrücke. Foto: Doris Poklekowski/SZ

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Thalasso-Therapie

Die Heilkraft aus dem Meer

Eine Kur an der See lindert allerlei Leiden. Das wussten die Meeres-Anrainer schon in der Antike

Von Anja Keul

"Ah, Thalatta!" - diesen Jubelruf überlieferte Xenophon in vorchristlicher Zeit, als Zehntausende griechische Söldner nach einer verlorenen Schlacht am Euphrat endlich das Mittelmeer erreichten und den Weg in die Heimat antreten konnten. Später wurde der Freudenschrei angesichts des rettenden Wassers zum geflügelten Wort mit der Bedeutung: Wir sind am Ziel. Heutzutage kennt man den griechischen Ausdruck für "Meer" vor allem in Verbindung mit dem ebenfalls aus Hellas stammenden Begriff für Pflege, "therapeia": Thalasso-Therapien sollen Rückenschmerzen und Rheuma lindern, das Bindegewebe kräftigen, das Immunsystem stärken, die Durchblutung fördern und die Rauchentwöhnung unterstützen.

Ah, Thalasso: Ein Seufzer des Wohlgefühls. Algenpackungen, Massagen, Sprudelbäder und andere Anwendungen mit dem salzigen Nass helfen gegen Verspannungen aller Art. Zusätzliche Beauty-Programme mit mineralreichen Algen, Schlick oder Schlamm sorgen für zarte Haut - mit ein Grund für den Boom der Thalasso-Therapie, die ursprünglich gegen Rheuma- und Ischiasleiden entwickelt wurde. Schon Hippokrates (460 bis 377 v. Chr.) behandelte seine Patienten mit Meerwasser, auch Ägypter und Römer kannten Badekuren im heilsamen Küstenklima. Im 18. Jahrhundert legte der britische Arzt Richard Russel Hautkranken Algen auf, 1867 kreierte der französische Badedoktor Stéphan Bonnardière eine komplexe Therapie mit Meerwasser, Algen, Schlick und Meersalz und benannte sie nach dem griechischen Wort für Meer - die Thalasso-Therapie war erfunden. Verabreicht wurde die Kur wohlhabenden Rheuma- und Schmerzgeplagten allerdings von gestrengen Krankenschwestern mit gestärkten Häubchen.

Erst als der französische Radprofi Louison Bobet Mitte des vergangenen Jahrhunderts seine Gelenkschmerzen durch die Kraft des Meeres auskurierte, rückte das ganzheitliche Wohlgefühl in den Mittelpunkt. Bobet, dreifacher Tour-de-France-Sieger und Nationalheld, sprach gern über seine Heilerfolge und gründete an der französischen Atlantikküste das erste moderne Thalasso-Zentrum. Noch heute ist Frankreich führend auf dem Gebiet, ob an der milden Côte d'Azur mit teils sehr luxuriösen Anlagen oder im raueren, ursprünglicheren Reizklima der Bretagne. An die weltweit zweite Stelle hat sich Tunesien mit vielen neuen Thalasso-Hotels vorgeschoben, aber auch an Nord- und Ostsee oder auf Kreta lockt die Meeres-Medizin Wellnessurlauber an.

Zwar finden sich heutzutage auch in deutschen Großstädten sogenannte Thalasso-Angebote mit Schlamm-Maske und Aromabad - nach den Richtlinien des 2001 gegründeten Verbands Deutscher Thalasso-Zentren ist allerdings die direkte Lage am Meer ein entscheidendes Qualitätskriterium. Schließlich runden Spaziergänge in der frischen Meeresluft den Therapieerfolg ab. Auch deshalb konzentrieren etablierte Thalassozentren die üblichen vier Anwendungen pro Tag auf den Vor- oder Nachmittag, um genügend Zeit für andere Aktivitäten zu lassen. Eine effektive Thalasso-Therapie sollte mindestens eine Woche dauern.

Basis der meisten Anwendungen ist auf 28 bis 37 Grad erwärmtes Meerwasser, das aufgesprudelt wird und dadurch sogenannte Aerosole freigibt, winzige Schwebestoffe in der Luft, die in der Natur direkt in der Meeresbrandung vorkommen. Sie helfen, die Haut ordentlich zu durchfeuchten und bieten der Lunge eine Extraportion Sauerstoff. Jet-Duschen, bei denen die Therapeuten verspannte Körperpartien mit einem kräftigen Wasserstrahl "beschießen", lockern und entspannen, Unterwassermassagen lindern Muskelschmerzen und Cellulite, Algenpackungen zaubern zarte Haut, Sprudelbäder und Wassergymnastik regen die Durchblutung an. Ein besonderer Genuss sind Massagen, die unter einem Sprühnebel von Meerwasser verabreicht werden. Und weil die meisten Thalasso-Zentren auch Diätkost anbieten, purzeln in einer Woche die Pfunde ganz nebenbei.

Aber Achtung: Das feuchte Klima, in dem man sich während der Kur befindet, kann Infektionen befödern. Deshalb sollte man nach einer Anwendung stets in trockene Kleidung wechseln - denn durch die Verdunstungskälte verliert der Körper fast unmerklich Wärme, die Abwehrkräfte werden geschwächt. Andere hygienische Bedenken braucht man in den großen Thalasso-Zentren aber nicht zu haben: Sprudelbäder werden selbstverständlich für jeden Gast neu befüllt, die meist gekachelten Behandlungsräume können problemlos perfekt sauber gehalten werden. Badeschuhe zu tragen, ist eine Selbstverständlichkeit - die meisten Häuser halten sie für ihre Gäste bereit, ebenso wie warme Bademäntel.

Am ersten Tag einer Thalasso-Therapie kann es leicht passieren, dass der Kreislauf schlappmacht, man sich müde und schläfrig fühlt. Nach zwei oder drei Tagen hat sich der Organismus allerdings an die neuen Reize gewöhnt, am Ende einer einwöchigen Kur sorgt der Sauerstoff-Schub aus dem Ozean für allgemeines Wohlbefinden - und manch einer schläft im Kurhotel so gut wie noch nie im Leben.

Ah, Thalasso: Abends noch ein Spaziergang am Strand, während draußen über dem Meer die Sonne untergeht. Zu einer Zeit, als vom heutigen Luxus der Meereskuren noch nicht zu träumen war, die Menschen sich voll bekleidet den heilenden Kräften des Salzwassers hingaben, schrieb Heinrich Heine 1825 eine Hymne an das Meer, dessen Inbegriff für ihn die Nordsee war: "Thalatta! Thalatta! Sei mir gegrüßt Du ewiges Meer! Wie einst Dich begrüßten zehntausend Griechenherzen. . ." Heute tun dies Abertausende von Urlaubern, und einige wollen mehr vom Meer als nur Strand und Badespaß, und nutzen auch seine Heilkräfte.

Der Verband Deutscher Thalasso-Zentren hat folgende Qualitätskriterien festgelegt:

Das Therapiezentrum darf maximal 300 Meter vom Meer entfernt liegen.

Für alle Anwendungen muss frisches, unbehandeltes Meerwasser verwendet werden.

Mindestens ein Badearzt sowie qualifizierte Masseure, Therapeuten und Sportlehrer stehen zur Verfügung.

Hygiene und Sicherheit muss permanent kontrolliert werden.

Nicht angezeigt ist eine Thalasso-Therapie bei Schilddrüsenüberfunktion, Bluthochdruck, Kreislaufschwäche, Krebserkrankungen und in der Schwangerschaft.

Jetduschen, Sprudelbäder, und Algenpackungen

regen die Durchblutung an

Ungeahnte Kräfte: Das Meer ist eine Apotheke, unter anderem Allergiker und Rheumatiker profitieren von einer Thalasso-Kur. Fotos: Mauritius, ddp

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Ostseebäder

Warnemünde: Hotel Neptun (www.hotel-neptun.de), vom Verband deutscher Thalasso-Zentren prämiert.

Heringsdorf/Usedom: Maritim Hotel Kaiserhof (www.maritim-usedom.de) ausgezeichnetes Thalasso-Angebot.

Binz/Rügen: Designhotel Meersinn (www.meersinn.de), bietet Medical Wellness.

Putbus/Rügen: Badehaus Goor (www.hotel-badehaus-goor.de). Kreidepackungen, Baden in der Kaiserwanne und Wellness für Schwangere.

Ahlbeck/Usedom: Ahlbecker Hof (www.seetel-resorts.de) Traditionshotel mit umfangreichem Wellness-Angebot.

Heiligendamm: Kempinski Grand Hotel (www.kempinski-heiligendamm.com). In dem 3000 Quadratmeter großen Spa-Bereich fühlen sich nicht nur G8-Gipfel-Besucher wohl. chbe

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Ende einer vergnüglichen Tradition

Im "Lustreisen"-Prozess verteidigen sich die Lokalpolitiker mit der früher gängigen Praxis der Energiebranche - und zeigen Reue

Von Johannes Nitschmann

Gummersbach - Das katholische Pfarrheim St. Franziskus im oberbergischen Gummersbach ist seit Tagen zum Gerichtssaal umfunktioniert - von jeher ein klassischer Ort der Buße. Im benachbarten Amtsgericht hatte der Platz für die 14 Angeklagten samt ihrer 18 Strafverteidiger nicht ausgereicht. Nun sitzen Bürgermeister, Ratsmitglieder, Beigeordnete und Manager örtlicher Energieunternehmen in dem schlecht beheizten Pfarrsaal auf der Anklagebank. Die lokale Polit-Prominenz soll auf Kosten von Versorgern - zum Teil mit ihren Ehefrauen - teure Luxusreisen unternommen und sich damit nach Auffassung der Staatsanwaltschaft "dem Anschein der Käuflichkeit" ausgesetzt haben. Den Angeklagten wird Vorteilsannahme, Vorteilsgewährung und Untreue zur Last gelegt.

Bundesweit hat die Kölner Staatsanwaltschaft seit 2005 in 150 "Lustreise"-Verfahren gegen fast 1300 Beschuldigte ermittelt. Zu einem rechtskräftigen Urteil kam es bisher nur in einem einzigen Fall, fast 95 Prozent der Verfahren dagegen sind inzwischen gegen Zahlung von Bußgeld eingestellt worden. Doch die Gummersbacher Amtsrichter widersetzten sich dieser gängigen Praxis. "Man kann nicht alles unter den Teppich kehren", erklärte der stellvertretende Amtsgerichtsdirektor Albert Bartz. Das erweiterte Gummersbacher Schöffengericht inszenierte die Hauptverhandlung als öffentlichen Canossa-Gang für die örtlichen Spitzenpolitiker.

Erst nach Verlesung der in weiten Teilen einem Reisebericht gleichenden Anklageschrift und von Reue getragenen Einlassungen aller 14 Angeklagten lenkte der Vorsitzende Richter Ulrich Neef am dritten Verhandlungstag ein: "Wir können darüber reden, dieses Verfahren anders zu erledigen als durch Urteil." Der Anwalt Hans-Jörg Odenthal, der den Wiehler Bürgermeister Werner Becker-Blonigen (FDP) vertritt, beantragte die Einstellung wegen "geringer Schuld" und "fehlendem Interesse der Öffentlichkeit an weiterer Strafverfolgung". Die übrigen Anwälte schlossen sich an. Die Staatsanwaltschaft stimmte bei zehn der 14 Angeklagten einer Einstellung zu. Daraufhin setzte das Gericht Bußgelder in Höhe von 1500 bis 18 000 Euro fest. Die Kommunalpolitiker, darunter vier amtierende und zwei ehemalige Bürgermeister, gelten damit als nicht vorbestraft. Den formellen Einstellungsbeschluss will das Gericht an diesem Freitag verkünden.

Gegen zwei Geschäftsführer und zwei Aufsichtsratsvorsitzende oberbergischer Energiegesellschaften wird der Prozess jedoch fortgesetzt. In diesen Fällen lehnte es die Staatsanwaltschaft ab, die Verfahren einzustellen. Die Anklagebehörde wirft den Politikern vor, auf Einladung ihrer örtlichen Energiegesellschaften "ohne erkennbaren fachlichen Anlass" Luxusreisen nach Rom, Amsterdam, Danzig, zur Documenta nach Kassel, in das Elsass oder auf norwegische Bohrinseln unternommen zu haben. Alleine die von dem Reisebüro "Dream-Collection" im Juni 2000 organisierte Aufsichtsratstour "Rom de luxe - Dolce vita in der ewigen Stadt" schlug pro Teilnehmer mit 3325 Mark zu Buche. Für die elfminütige Aufsichtsratsitzung während der Rom-Reise kassierten die Aufsichtsräte sogar noch ein "Sitzungsgeld" in Höhe von jeweils 200 Mark. Die Gremienreisen wurden größtenteils von den Gaslieferanten Thyssengas und Ruhrgas gesponsert, die zum Teil sogar eigene Reisebüros für die Politiker-Events unterhielten.

Solche Aufsichtsratsreisen seien seinerzeit "branchenüblich" und "seit Jahrzehnten Tradition" gewesen, betonten die Verteidiger. Zu den Aufgaben eines Lokalpolitikers gehörten die Wahrnehmung "vergnüglicher und weniger vergnüglicher" Veranstaltungen, sagte der Kölner Strafverteidiger Odenthal und fuhr fort: "Die Rom-Reise gehörte zu den vergnüglichen. Es war eine Lustreise." Bis zur Einleitung der Strafermittlungen hätten sich die Angeklagten "nicht vorstellen können", dass sie sich mit ihrer Teilnahme "dem Anschein der Käuflichkeit" aussetzten, so Odenthal. Alle 14 Angeklagte versicherten, dass sie "aus heutiger Sicht" die Kosten für die Luxusreisen für "unangemessen" hielten und "nicht noch einmal teilnehmen" würden.

Nicht zuletzt durch das über dreijährige Ermittlungsverfahren seien sie dafür "sensibilisiert worden". Nach der Kölner Müllaffäre, dem Mannesmann-Prozess und dem Auffliegen der auf Firmenkosten finanzierten Bordellbesuche von VW-Betriebsräten haben die angeklagten Kommunalpolitiker laut ihrer Anwälte "ein ablehnendes gesellschaftliches Klima" gegenüber gesponserten Reisen verspürt. Von den Energiekonzernen seien Reisen zur politischen Landschaftspflege inzwischen eingestellt worden, so Odenthal. "Die Zeiten und die sozialen Wertvorstellungen ändern sich."

Eine Luxusreise führte die angeklagten Lokalpolitiker auch zu den Ausstellungen der Documenta in Kassel. Foto: dpa

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Gut vernetzt im Netz

Online-Gemeinschaften sind beliebt - trotz Datenschutzproblemen

Gut zwei Drittel der deutschen Internetnutzer sind Mitglied in einem Online-Netzwerk. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Kölner Marktforschungsinstituts Psychonomics. Die meisten Mitglieder hat StayFriends, ein Portal, über das man mit seinen alten Klassenkameraden in Kontakt bleiben kann - 6,6 Millionen Menschen haben hier ein virtuelles Profil eingerichtet. Die Anbieter StudiVZ und MySpace belegen bei deutschen Nutzern den zweiten und dritten Rang.

Als Motiv für ihre Mitgliedschaft bei einer Online-Gemeinschaft nannten die meisten Befragten den Wunsch, mit Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben. Einen Partner oder einen neuen Job zu finden, spielte für die Nutzer nur eine untergeordnete Rolle.

Die Sicherheit ihrer Daten bei den untersuchten Portalen schätzen die Befragten als nicht sehr hoch ein - trotzdem benutzt die Mehrheit in ihren Online-Profilen den richtigen eigenen Namen anstatt eines Pseudonyms. Einige geben auch sehr persönliche Daten wie Telefonnummern oder sexuelle Vorlieben an. Der Mangel an Datenschutz ist für immerhin ein Drittel der Internetnutzer ein Grund, Web-Gemeinschaften ganz fernzubleiben. sila

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Jetzt kommt Schröder

Der Altkanzler und Ministerpräsident Christian Wulff greifen in den Streit zwischen Continental und Schaeffler ein

Von Martin Hesse und Meite Thiede

Hamburg/Frankfurt - Die Auseinandersetzung zwischen Continental und Schaeffler gewinnt an Schärfe und kann offenbar nur noch mit Hilfe externer Vermittler geschlichtet werden. Sowohl Altbundeskanzler Gerhard Schröder als auch Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff stehen im Kontakt mit allen Beteiligten und drängen darauf, dass die Investorenvereinbarung, in der bestimmte Regeln für die Übernahme Contis durch Schaeffler festgelegt sind, eingehalten wird. Das bestätigten Sprecher der beiden Politiker am Mittwoch.

Am Samstag trifft sich der Conti-Aufsichtsrat kurzfristig zu einer Sondersitzung, um die jüngsten Vorwürfe Schaefflers zu diskutieren. Ein Sprecher des Herzogenauracher Familienkonzerns hatte Anfang der Woche den Conti-Aufsichtsratschef Hubertus von Grünberg heftig attackiert: Das Vertrauen ihn in sei zerstört, er sabotiere gemeinsame Lösungen und verfolge eigene Interessen. Bei Schaeffler ist die Verärgerung groß. "Wir sind als Großaktionär dauernd angegriffen worden. Bisher haben wir uns zurückgehalten, aber jetzt ist es genug. Jetzt müssen wir uns wehren", sagte ein Sprecher.

Schaeffler will möglichst schnell zehn Sitze im Aufsichtsrat besetzen, Conti bietet höchstens vier an und verweist auf die Investorenvereinbarung, die das vorschreibe. Die Amtszeit aller Mitglieder endet erst mit der Hauptversammlung am 23. April. In Bankenkreisen gilt es als wahrscheinlich, dass Vertreter der Privatbanken Sal. Oppenheim und Metzler in das Aufsichtsgremium einziehen, sollte Schaeffler zehn Plätze besetzen wollen. Bei Oppenheim und Metzler hat Schaeffler jeweils knapp 20 Prozent der Continental-Aktien geparkt - jene Anteile, die die Familie nicht annehmen konnte, ohne die vereinbarte Schwelle von 50 Prozent zu überschreiten.

Conti-Vorstandschef Karl-Thomas Neumann trifft der Groll Schaefflers nach wie vor nicht. "Neumann ist unsere Wahl", bestätigte der Sprecher. Neumann solle weiterhin Conti und auch eine angestrebte gemeinsame Autozulieferer-Gruppe führen. Schaeffler will nun abwarten, wie der Aufsichtsrat sich am Samstag verhält und ob Grünberg wie gefordert zurücktritt.

Die öffentlichen Attacken und "medialen Kampagnen" verärgern zunehmend nicht nur Aufsichtsratsmitglieder, sondern auch - so heißt es in Kreisen der Landesregierung - Ministerpräsident Wulff. Während sich die Arbeitnehmerseite am Mittwoch hinter von Grünberg stellte und auch die Conti-Führungskräfte Schaeffler kritisierten, sind die Töne auf der Kapitalseite abwartender. "Es gibt keinen Dissens, alle stehen geschlossen zusammen", sagte ein Vertreter der Kapitalseite der SZ. Von Grünberg kämpfe für die Investorenvereinbarung. Dieses im August zwischen Schaeffler und Conti geschlossene Vertrag müsse eingehalten werden. "Vertrag ist Vertrag. Wir leben doch nicht in einer Bananenrepublik", sagte der Aufseher. Allerdings räumte er ein, dass es angesichts des öffentlichen Schlagabtausches Informations- und Gesprächsbedarf gebe.

Immer lauter wird der Ruf nach einer aktiveren Rolle der Banken in dem verfahrenen Streit um die Macht bei Continental. Ohne die Banken könnte das Ziel, aus Conti und Schaeffler einen starken Zulieferkonzern zu bauen, gar nicht erreicht werden. Commerzbank und Dresdner Bank, Hypo-Vereinsbank, Landesbank Baden-Württemberg sowie Royal Bank of Scotland und Schweizer UBS hatten 16 Milliarden Euro an Krediten für die Übernahme zur Verfügung gestellt. Zwölf Milliarden davon soll Schaeffler in Anspruch genommen haben.

In Bankenkreisen heißt es, das Eigenkapital von Schaeffler sei weniger wert, sodass faktisch die Gläubigerbanken das Sagen hätten. Am stärksten ist nach der Übernahme der Dresdner Bank die Commerzbank im Risiko. "Deshalb wäre sie als Vermittler gut", heißt es aus Konsortialkreisen. Auch Conti ist mit etwa zwölf Milliarden Euro verschuldet, an diesem Mittwoch sollte eine Umschuldung mit den rund 50 Gläubigerbanken unterzeichnet werden, die dem Konzern etwas mehr Luft verschafft. Diese Vereinbarung könnten die Banken aber wieder aufschnüren, sollte Schaeffler Continental doch noch ganz übernehmen. Ein Abfindungsangebot an die zehn Prozent freien Aktionäre gilt aber in Bankenkreisen als unwahrscheinlich, zumal Schaeffler ja faktisch bereits 90 Prozent kontrolliert: "Das ist derzeit nicht machbar."

Außerdem ändere dies wenig an dem Grundproblem, dass beide Konzerne zu hohe Schulden beziehungsweise zu wenig Kapital hätten. Daran würde sich nach Angaben aus dem Kreise der Schaeffler-Gläubiger auch nichts ändern, wenn der Familienkonzern einen Teil seiner Schulden in ein Joint Venture für die Automotive-Sparte mit Conti einbrächte. "All das Verschieben bringt nichts." Man muss beide Konzerne möglichst rasch als einen betrachten. Dazu müssten die Streitigkeiten beigelegt werden, nur so ließen sich mittelfristig auch neue Kapitalgeber finden.

Ein Schild aus der Conti-Hauptverwaltung: Im Streit zwischen dem Reifenkonzern und dem neuen Großaktionär Schaeffler soll nun an diesem Samstag der Aufsichtsrat nach Lösungen suchen. Foto: dpa

Schröder, Gerhard Wulff, Christian Schaeffler Gruppe Finanzholding: Firmenübernahme Continental AG: Firmenübernahme SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Grüne wählen Kandidaten

Berlin - Der frühere Grünen-Chef Reinhard Bütikofer will für seine Partei ins Europaparlament einziehen. Zusammen mit der Europaabgeordneten Rebecca Harms bewirbt er sich beim am Freitag beginnenden Parteitag in Dortmund um die Spitzenkandidatur für die Europawahl im Juni. Um weitere Listenplätze bemühen sich unter anderen der Attac-Mitbegründer Sven Giegold und Barbara Lochbihler, die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Mit der Kandidatur der beiden prominenten Vertreter außerparlamentarischer Gruppen wollen die Grünen neue Wählergruppen ansprechen. "Ich gehe davon aus, dass sie auf den vorderen Listenplätzen nominiert werden", sagte Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke am Mittwoch. Bei der Europawahl 2004 hatten die deutschen Grünen 11,9 Prozent erreicht. dbr

Barbara Lochbihler will ins Europaparlament Foto: AP

Harms, Rebecca Bütikofer, Reinhard B90/Grüne: Spitzenkandidaten Europawahl 2009 in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Thomas Petri Aus Berlin abgeworbener neuer bayerischer Datenschützer

Der bayerische Datenschutzbeauftragte ist ein mächtiger Mann: nicht der Regierung unterstellt, keinen Weisungen unterworfen, unabhängig, nur dem Gesetz verpflichtet. Und die bisherigen Datenschutzbeauftragten haben diese Unabhängigkeit stets genutzt - ihre Ratschläge an die Regierung waren hin und wieder auch Schläge. So kritisierte der bisherige Datenschutzbeauftragte Michael Betzl mal Bayerns Vorpreschen bei der Online-Durchsuchung von Computern, mal die ausufernde Video-Überwachung in den Städten. Bis sich herausstellte, dass Betzl einen Teil seines Vermögens steuersparend in Liechtenstein angelegt hatte. Steuerfahnder durchsuchten seine Wohnung, daraufhin musste Betzl von seinem Amt zurücktreten.

Nun kommt ein Neuer und der hat bei seiner Vorstellung gleich deutlich gemacht, dass es mit ihm nicht gemütlicher zugehen wird. Der neue Mann habe sofort die möglichen Interessenkollisionen angesprochen, die es zwischen dem Datenschutz und anderen Behörden gebe, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, dessen Polizei und Verfassungsschutz der Datenschutzbeauftragte vermutlich zu allererst gemeint hat. Von geringem Selbstbewusstsein, so Herrmann, sei der Neue nicht.

Das stimmt, sagt Thomas Petri, 41. Er werde sich sicher mit dem Innenminister auseinandersetzen - aber auch zusammensetzen. "Ich bin nicht rot, nicht schwarz, nicht grün, nicht lila. Ich bin ein Fachmann, kein Politiker." Und als Fachmann wurde er auch von der bayerischen FDP geholt. Petri ist bisher stellvertretender Datenschützer in Berlin und war zuvor beim Bundesverfassungsgericht und beim Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz in Schleswig-Holstein. Dessen Leiter Thilo Weichert sieht nun einen Modernisierungsschub auf Bayern zukommen. "Petri ist kein Hinterbänkler des Datenschutzes, keiner, der die sanfte Linie fährt." Das zeigt sich gerade mit dem Paukenschlag, den er zielgenau noch an seinem alten Arbeitsplatz in Berlin gesetzt hat: In seinem Haus wurden die Ermittlungen im Datenskandal der Deutschen Bahn geführt, die 1 000 Führungskräfte wegen Korruptionsverdachts überprüft haben soll, ohne es den Mitarbeitern mitzuteilen.

Allerdings gilt Petri nicht als jemand, der beim Datenschutz mit dem Kopf durch die Wand will. "Er setzt auf den Dialog und auf Überzeugungskraft", sagt Weichert. Pragmatisch sei Petri. Das zeigt er auch im Bahnskandal: Die Bahn habe durchaus ein berechtigtes Interesse, etwas zur Bekämpfung der Korruption zu tun. Die Frage sei nur, ob sie dabei auch das geltende Recht eingehalten und die Rechte der Mitarbeiter respektiert habe.

Demnächst wird sich Petri nicht mehr um private Firmen kümmern, sondern um den Datenschutz im Freistaat, und um die Bürger. Die gehen seiner Ansicht nach viel zu sorglos mit ihren Daten um. "Entblößt euch nicht selbst" würde er ihnen am liebsten zurufen, wenn sie im Internet wieder einmal privateste Daten preisgeben. Doch weil der Mensch nun einmal unvorsichtig sei, müsse der Staat Regeln schaffen, um Datenmissbrauch zu verhindern. Annette Ramelsberger

Foto: oh

Petri, Thomas Herrmann, Joachim (CSU): Zitate Datenschutz in Bayern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hoffnung auf die Liberalen

CDU-Wirtschaftsflügel will Mindestlöhne noch verhindern

Berlin - Trotz der Einigung der großen Koalition in Berlin bei den Mindestlöhnen könnte das Thema ein Fall für den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat werden. Vertreter des Wirtschaftsflügels der Union dringen darauf, die Mindestlohngesetze mit Hilfe der schwarz-gelben Länderregierungen im Bundesrat zu kippen. Gelingt dies, müsste sich der Vermittlungsausschuss auf einen neuen Kompromiss einigen.

Die Wirtschaftspolitiker der Union mussten wegen der Finanzkrise zuletzt viele Kröten schlucken. Sie nickten den Rettungsschirm für Unternehmen ab, stimmten möglichen Teilverstaatlichungen zu und befürworteten eine Rekordverschuldung des Staates. Nach dem Sieg der FDP bei der Hessen-Wahl ist der Wirtschaftsflügel erst recht besorgt um das Image der Union. So war es wohl kein Zufall, dass der Unmut, den einige Abgeordnete schon immer beim Thema Mindestlöhne bewegte, bei der jüngsten Fraktionssitzung offen ausbrach. Vor allem Laurenz Meyer, der wirtschaftspolitische Sprecher der Union, und der CDU-Mittelständler Michael Fuchs begehrten auf. "Ich habe 16 Jahre Tarifpolitik gemacht und halte es für grundfalsch, wenn sich die Politik in die Tarifautonomie einmischt", sagt Fuchs. Grund für den Aufstand ist das Mindestarbeitsbedingungen-Gesetz, über das an diesem Donnerstag im Bundestag abgestimmt wird. Es sieht vor, dass in Branchen, in denen weniger als 50 Prozent der Arbeitnehmer tarifgebunden beschäftigt sind, die Bundesregierung Mindestlöhne festsetzen kann. In Frage kommt dies etwa in der Fleischindustrie oder in der Gastronomie, wo teilweise Dumping-Löhne gezahlt werden. Zwar bleiben Tarifverträge, die bis 16. Juli 2008 abgeschlossen waren, weiter gültig. Setzt die Bundesregierung aber für bestimmte Branchen Lohnuntergrenzen fest, macht sie damit Vorgaben für künftige Tarifverträge. Das passt Wirtschaftspolitikern wie Laurenz Meyer überhaupt nicht. Er kritisiert, dass der Vorrang von tarifvertraglichen Lösungen im neu gefassten Gesetz nicht mehr vorhanden sei.

Die Länder hatten ebenfalls darauf gepocht, den Tarifvorrang nicht anzutasten. Der CDU-Wirtschaftsrat hofft deshalb, dass das Gesetz am 12. Februar im Bundesrat verhindert wird. Dies könnten aber die in Bremen und in Hamburg an den Regierungen beteiligten Grünen verhindern, wenn sie in der Länderkammer die Mindestlohngesetze befürworten. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Ludwig Stiegler gibt sich jedenfalls siegesgewiss: "Es werden genügend Länder zustimmen." Thomas Öchsner

Unterstützung für die Industrie in Sicht: Die Chancen des Konjunkturpakets, den Bundesrat zu passieren, sind weiter gestiegen. Inzwischen erwägt sogar das rot-rot regierte Berlin, den Plänen der großen Koalition zuzustimmen. Foto: AP

Gemeinsamer Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat Mindestlöhne in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kabinett schützt Kinder

Berlin - Die Bundesregierung will Kinder und Jugendliche besser schützen. Das Kabinett beschloss am Mittwoch, dass Ärzte künftig nicht mehr an ihre Schweigepflicht gebunden sein sollen, wenn sie Anzeichen für Misshandlungen oder Unterernährung sehen. Auf Vorschlag von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) soll es künftig zudem ein erweitertes Führungszeugnis geben, in dem bereits kleinere Verurteilungen wegen Sexualdelikten enthalten sind. "Also keine Verschonung mehr bei Exhibitionismus", sagte Zypries. Alle Arbeitgeber oder Vereine, die jemanden für die Arbeit mit Kindern einstellten, sollten sich dieses erweiterte Führungszeugnis vorlegen lassen, riet Zypries. Das normale Führungszeugnis dagegen enthält keine Delikte mit geringen Strafen. dku

Vernachlässigung von Kindern in Deutschland Gesundheit von Kindern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kritik an hohen Hürden

Schwarz-grüner Entwurf zur Patientenverfügung stößt im Bundestag auf Widerspruch

Von Laura Weißmüller

Berlin - Sich in der Parlamentsdebatte über die Patientenverfügung als letztes ans Rednerpult zu begeben, hat sich für den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Bosbach (CDU) ausgezahlt. So konnte er auf jede zuvor geäußerte Kritik an seinem Gesetzesentwurf, den er mit Katrin Göring-Eckardt (Grüne) ausgearbeitet hat, Stellungnehmen. Gerade bei seinem Entwurf fiel diese reichlich aus: Zu hoch seien hier die Hürden für Patientenverfügungen, hieß es mehrfach.

Auch Göring-Eckart hält bei den Verfügungen einen Gang zum Notar für "unentbehrlich", wenn der Kranke Aussicht auf Heilung hat. Sei die Krankheit dagegen unheilbar, so blieben bereits bestehende Patientenverfügungen auch ohne Notar gültig. Diese Unterscheidung sei wichtig: "Die komplexe Thematik rechtfertigt eine Lösung, die differenziert. Und wo es um Leben und Tod geht, ist die Selbstbestimmung zu achten, aber auch ein Gesetz zu formulieren, nach dem im Zweifel für das Leben entschieden wird. Das ist nicht falsch verstandener Paternalismus, das ist Verantwortung des Gesetzgebers", sagte sie.

Nach dem Entwurf von Hans Georg Faust (CDU) und Wolfgang Zöller (CSU) gilt bereits eine mündliche Erklärung. Der Entwurf räumt der Patientenverfügung eine hohe Verbindlichkeit ein, gleichzeitig sollen auch Angehörige und Ärzte in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Faust, der selbst Arzt ist, hält den Willen des Patienten dabei für das höchste Gebot. Das gelte nicht nur bei wachen, sondern auch bei entscheidungsunfähigen Patienten. Gleichwohl müssten die individuellen Umstände berücksichtigt werden: "Die Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens ist ein Prozess, kein Suchen in verschiedenen Schubladen eines Gesetzesschrankes, in dem man die Patientenverfügung je nach Form, Ausgestaltung und Krankheit gelegt hat." Vielmehr sollen auch die Angehörigen, der Betreuer, der Arzt und in Konfliktfällen das Vormundschaftgericht in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. Je genauer die Patientenverfügung sei, "desto mehr verdichtet sich in diesem Prozess die Gewissheit, was zu tun ist", sagte Faust.

Auch Wolfgang Zöller betont die Notwendigkeit von Fall zu Fall zu unterscheiden. Die Vielfalt der denkbaren Situationen am Lebensende entziehe sich einer pauschalen Betrachtung und lasse sich nicht bis ins Detail regeln. "Sterben ist nicht normierbar. Eine gesetzliche Regelung darf deshalb keinen Automatismus in Gang setzen, der auf ein bloßes buchstabengetreues Ausführen der Patientenverfügung gerichtet ist."

Obwohl der Entwurf des SPD-Rechtsexperten Joachim Stünker, der einen schriftlich festgelegten Patientenwillen absoluten Vorrang einräumte, mit 206 Unterschriften bislang die meisten Befürworter gefunden hat, wurde die Vorlage in der Parlamentsdebatte kaum diskutiert. Die bayerische Justizministerin Beat Merk (CSU) befürwortet den Gesetzesentwurf von Zöller, die deutsche Hospizstiftung sprach sich dagegen für den Entwurf von Wolfgang Bosbach und Katrin Göring-Eckardt aus.

Bosbach, Wolfgang Göring-Eckardt, Katrin Patientenverfügung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schlechte Zeiten für Übernahmen

Finanzkrise bremst einer Studie zufolge Fusionen in der Energiebranche

Düsseldorf - Die Finanzkrise hat den langjährigen Trend zu Übernahmen und Fusionen in der Strom- und Gasindustrie abrupt gebremst. Dies berichtet die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC). Weltweit gab es 2008 nach PwC-Erhebungen mehr Fusionen und Übernahmen in der internationalen Energiewirtschaft, doch brach das Volumen der Transaktionen um 41 Prozent auf 220 Milliarden Dollar ein. PwC registrierte nur drei Übernahmen im Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar gegenüber jeweils neun Geschäften mit diesem Volumen in den beiden Jahren davor.

"Bis sich die Kreditmärkte normalisiert haben, werden Versorger vor allem kleinere Übernahmeziele ins Visier nehmen", schätzt Michael Wiegand, der bei PwC für die Versorgungsbranche verantwortlich ist. Eine Belebung sei auch davon abhängig, wie schnell die Klimapolitik in den USA nach dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama an Konturen gewinnt und welche Marschrichtung sich für den UN-Klimagipfel im Dezember abzeichnet. Die erste große Transaktion seit längerer Zeit könnte die geplante Übernahme des niederländischen Versorgers Essent durch den RWE-Konzern werden, die ein Volumen von neun Milliarden Euro hätte. RWE hatte sich mit Übernahmen in der Vergangenheit zurückgehalten und den Schuldenberg abgetragen. Anders als nun bei RWE ist die Verschuldung in der Branche hoch und dämpft Expansionsgelüste. hwb

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Toyota überholt General Motors

Japaner verkaufen 620 000 Autos mehr als die Amerikaner

Von Michael Kuntz

München - Das Kopf-an-Kopf-Rennen ist entschieden: Der japanische Autohersteller Toyota hat im vergangenen Jahr 620 000 Autos mehr verkauft als sein amerikanischer Konkurrent General Motors (GM). Toyota löst damit GM nach 77 Jahren als größten Autohersteller der Welt ab. Beide Konzerne bekamen aber die weltweite Absatzkrise zu spüren und brachten 2008 weniger Fahrzeuge an die Kundschaft als ein Jahr zuvor.

Toyota verkaufte weltweit 8,972 Millionen Autos. Das waren vier Prozent weniger als im Jahr 2007, hatte das Unternehmen am Dienstag in Tokio bekannt gegeben. Einen Tag später teilte GM in Detroit mit, die Verkäufe seien um elf Prozent auf 8,35 Millionen Fahrzeuge zurückgefallen. Gegen Ende des Jahres beschleunigte sich die Talfahrt dramatisch: Im vierten Quartal brach der Absatz um 26 Prozent auf 1,7 Millionen Autos ein.

GM hat sich inzwischen stärker internationalisiert und ist nicht mehr so abhängig vom US-Markt wie früher. Fast zwei Drittel seiner Autos verkauft der größte amerikanische Hersteller außerhalb der Vereinigten Staaten. Ohne diese Entwicklung wäre der Einbruch noch heftiger gewesen. GM setzte in Europa vor allem über die Marken Opel und Vauxhall mit 2,04 Millionen Stück fast sieben Prozent weniger Autos ab. Im letzten Quartal 2008 fielen die Verkäufe um 21 Prozent auf 420 000 Fahrzeuge, also etwas langsamer als im weltweiten Schnitt.

GM-Vize Fritz Henderson spielte in Detroit die Bedeutung der Nachricht herunter, dass Toyota nun die Nummer eins der Autoindustrie ist: Er konzentriere sich auf die künftigen Geschäfte und die Anstrengungen, General Motors wieder erfolgreich zu machen. In der Tat ist zur Zeit die Größe von Autokonzernen kein Indiz für ihren Erfolg. Sowohl Toyota als auch General Motors schreiben rote Zahlen, und die Amerikaner könnten ohne Hilfen der Regierung nicht überleben.

Es war schon länger erwartet worden, dass Toyota General Motors als Branchenführer ablösen wird, die Frage war nur, wann dies geschehen würde. 2007 war der Wettlauf äußerst knapp ausgegangen. Damals stellten sowohl Toyota als auch GM jeweils 9,3 Millionen Fahrzeuge her. Nach wochenlangem Hin und Her stand schließlich fest: GM konnte mit einem Abstand von 3000 Autos seinen Rang als die Nummer eins noch einmal knapp verteidigen. (Kommentare)

Toyota Motor Corp: Absatz Autoindustrie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Umkehr in Guantanamo

Es ist ein erster Schritt, und er geht in Richtung Rechtsstaat. Barack Obama hat darum gebeten, die Militärprozesse gegen die Häftlinge auf Guantanamo auszusetzen. Nun sollte der neue US-Präsident weitere Schritte folgen lassen. Die Vereinigten Staaten müssen mutmaßliche Terroristen vor ordentliche Strafgerichte stellen, wie andere Schwerverbrecher auch. Wem nichts nachgewiesen werden kann, der ist freizulassen. Danach muss das Lager Guantanamo geschlossen werden. Nur so kann Amerika zu den Werten zurückfinden, die es unter George W. Bush in einer Mischung aus Hybris und Angst verraten hat. So kann es wieder das Land der Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit werden, als das es doch gelten möchte.

Das klingt einfach, aber so einfach ist es nicht. Unter den 250 Guantanamo-Häftlingen dürften etliche sein, denen nichts zu beweisen ist, die jedoch darauf lauern, sich wieder in den Terror-Krieg zu stürzen. Die Staatengemeinschaft muss Antworten finden, wie mit solchen Menschen umzugehen ist. Die Regeln des heutigen Völkerrechts über Kriegsgefangene passen nicht. Sie gelten für Kombattanten, die einem Staat zuzuordnen sind. Die Kämpfer al-Qaidas sind aber freie Radikale. Sie stellen nicht nur die Sicherheitskräfte, sondern auch Juristen und Menschenrechtler vor Probleme.

Solange keine Lösungen gefunden sind, gilt: Wer nicht schuldig ist, ist unschuldig und freizulassen, selbst wenn er noch gefährlich werden könnte. Das ist der Preis des Rechtsstaats. Wer ihn zu zahlen verweigert, leitet die Entwicklung zu einem Sicherheitsstaat ein, der Recht und Freiheit preisgibt. Amerika ist ein Stück dieses Weges gegangen. Gut, dass es jetzt umkehrt. ul

Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Viel Geschnatter, kein Gewinn

In 140 Zeichen informieren Twitter-Nutzer die Welt, aber die Webseite sucht ein Geschäftsmodell

Von Thorsten Riedl

München - "Ich gehe jetzt zu Whole Foods", schreibt Jack auf seiner Webseite. Eine Stunde später ist der Einkauf erledigt. "Die Stadthalle schaut phantastisch aus heute Abend", teilt er der Welt wenig später mit. Doch wen interessiert das? Immerhin mehr als 16 000 Leser. Es handelt sich nicht um irgendeinen Jack. Hier lässt Jack Dorsey an seinem Privatleben teilhaben. Der 30-Jährige hat den Internetdienst Twitter gegründet, eine Art SMS-Dienst im Netz, derzeit stark umjubelt. Am Dienstagabend erst war Twitter gefragt, als bei der Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama unzählige Twitter-Nutzer live von dem Moment berichteten. Doch auf die wichtigste Frage jedes Unternehmens hat das kalifornische Start-up noch keine Antwort: Wie wollen wir einmal Geld verdienen? Drei Jahre nach dem Start macht Twitter weder Umsatz noch Gewinn. Den Investoren war das bis dato egal.

Twitter wiederholt im Internet den Erfolg von SMS-Kurznachrichten in Mobilfunknetzen: Auf 140 Zeichen - also kaum kürzer als in einer SMS auf dem Handy - können Twitter-Nutzer mitteilen, was sie momentan machen. Genau diese Frage - Was unternehmen die Freunde gerade? - war für Dorsey der Anlass, die Internetseite Twitter ins Netz zu stellen. Innerhalb von zwei Wochen war im März 2006 ein Prototyp programmiert. Im August ging das Projekt Twitter für alle online. Gezwitscher oder Geschnatter heißt der Firmenname ins Deutsche übersetzt - und genau darum geht es auf der Seite. Alle plappern durcheinander, und doch ist Twitter mehr als ein Sammelsurium an Belanglosigkeiten.

Ob bei den Terroranschlägen in Indien, den Protesten in Griechenland oder zuletzt beim Flugzeugabsturz in den Hudson: Stets waren es Nutzer von Twitter, die als Erste vor Ort sind und die Weltöffentlichkeit informiert haben. "Da ist ein Flugzeug im Hudson. Ich bin auf einer Fähre, um die Leute aufzusammeln. Verrückt", schreibt Janis Krums am vergangenen Freitag um genau 12 Uhr 36 Ortszeit. Mit dieser Kurzmitteilung wurde er weltberühmt, denn Krums war der Erste, der ein Bild mit seinem iPhone-Handy geschossen und es in seinen Twitter-Nachrichten gespeichert hat, anzuschauen von jedermann.

Solche spektakulären Vorfälle sorgen für viel Zulauf bei dem Internetdienst. Schätzungen zufolge sollen weltweit bis zu fünf Millionen Menschen Twitter nutzen. Genaue Zahlen stellt das Unternehmen nicht zur Verfügung. Fünf Millionen sind eigentlich erschreckend wenig - etwa im Vergleich zu Handys, die mit ihrer SMS-Funktion ähnliche Möglichkeiten bieten. Drei Milliarden Geräte gibt es. Auch andere soziale Netze wie Facebook mit 150 Millionen Nutzern schlagen Twitter um Längen. Der Vorteil des neuen Dienstes liegt aber in seiner Einfachheit: Nirgendwo anders lassen sich so schnell die Massen in Kurzmitteilungen informieren - oder auch zum Beantworten von Fragen animieren. Unternehmen wie Jetblue, General Motors oder Dell nutzen Twitter, um Kundenanfragen zu beantworten oder ihre Marke zu pflegen. "Es hat das Zeug dazu, nützlich fürs Geschäft zu sein", sagt ein Analyst des IT-Marktforschungsinstituts Gartner.

Für Twitter hat sich die Euphorie noch nicht ausgezahlt. Es existiert kein tragfähiges Geschäftsmodell - folglich verdient die Firma nichts. Es gebe "viele reizvolle Möglichkeiten", Umsatz zu generieren, heißt es auf der Twitter-Webseite. Man zögere aber noch: "Wir wollen uns bei wichtigeren Dingen nicht aus dem Konzept bringen lassen." Es gehe jetzt erst einmal darum, den Dienst weiterzuentwickeln. Schön, wer sich solche Zurückhaltung leisten kann.

Bei der letzten Finanzierungsrunde im Frühjahr standen die Investoren dennoch Schlange. 15 Millionen Dollar soll es gegeben haben. Wenig später fanden Übernahmegespräche mit Facebook statt. Ein Angebot von 500 Millionen Dollar hat Twitter ausgeschlagen. "Wir haben das geprüft", sagte Evan Williams, Chef von Twitter, im Dezember: "Es war nicht die richtige Zeit." Die Einstellung hat sich schnell geändert. "Es ist Zeit fürs Geschäft", steht nun im Firmen-Blog von Twitter. Kevin Thau sei als erster Verantwortlicher für Geschäftsentwicklung und Partnerschaften eingestellt worden. Und, so heißt es weiter, es gebe noch offene Stellen in dem Bereich.

"Da ist ein Flugzeug im Hudson." Bei Twitter lief die Meldung über die Notwasserung zuerst. Foto: Reuters

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Religion zum Thema gemacht

Kirchen sind zufrieden mit Volksbegehren in Berlin

Berlin - Das Volksbegehren "Pro Reli", das Religion zum Wahlpflichtfach an Berliner Schulen machen will, ist aus Sicht der christlichen Kirchen schon jetzt ein politischer Erfolg. Es werde in der ganzen Stadt wieder intensiv über den Religionsunterricht gesprochen, erklärte der evangelische Landesbischof Wolfgang Huber gemeinsam mit dem katholischen Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky. Am Mittwoch endete die Unterschriftensammlung, bei der mindestens 170 000 Stimmen zusammenkommen mussten, um einen Volksentscheid durchzusetzen. Nach Angaben von "Pro Reli" haben sich weit mehr als 200 000 Berliner für die Initiative ausgesprochen.

"Pro Reli" setzt sich dafür ein, dass Berliner Schüler von der 1. Klasse an zwischen Religionsunterricht und Ethik wählen können. Bisher ist das anders. Vor einigen Jahren wurde in der Stadt ein obligatorischer Ethikunterricht ab der 7. Klasse eingeführt. Er muss von Schülern aller Religionsgruppen besucht werden und dient der gemeinsamen Diskussion von Weltreligionen und Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Initiative "Pro Reli" will das Pflichtfach Ethik abschaffen und die Schüler zwischen Religion und Ethik wählen lassen. Der Berliner Senat lehnt dies weiterhin ab. "Wir sind überzeugt von unserem Fach Ethik für alle", sagte Senatssprecher Richard Meng am Mittwoch. In Berlin gebe es nur eine Million christlich gebundene Bürger und 50 Prozent Migrantenkinder. "Ich sehe da keine Mehrheit für die Forderungen der Initiative."

Das Berliner Abgeordnetenhaus will womöglich schon nächste Woche über das Thema diskutieren. Lehnt es eine Gesetzesänderung ab, was zu erwarten ist, kommt es zum Volksentscheid. Mindestens 610 000 Wahlberechtigte müssten dann für die Bürgerinitiative stimmen, wenn sie Erfolg haben soll. Dies gilt als unwahrscheinlich. "Pro Reli" aber zeigt sich kämpferisch. "Es ist eine große Herausforderung, aber machbar ist es", sagte der Initiator des Volksbegehrens, Christoph Lehrmann. Er hofft auf einen Volksentscheid am 7. Juni, wenn die Europawahl stattfindet. (Seite 4) lion

Huber, Wolfgang: Zitate Unterrichtsfach: Religion Schulwesen in Berlin Volksabstimmungen in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Politiker und das Porzellan

Der Staat will dem angeschlagenen Hersteller Rosenthal helfen - doch das reicht nicht

Von Uwe Ritzer

Selb - Fast scheint es, als hätten bayerische Politiker in diesen Tagen eine neue Pilgerstätte für sich entdeckt. Seit die traditionsreiche Porzellanmanufaktur Rosenthal AG vor knapp zwei Wochen Insolvenz anmeldete, geben sich die Abgeordneten am Firmensitz im oberfränkischen Selb sprichwörtlich die Klinke in die Hand. Umgehend besichtigten Abordnungen von CSU und SPD das Rosenthal-Werk in Speichersdorf bei Bayreuth. Von SPD-Bundestagsfraktionschef Peter Struck bis zu Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) reicht die Front der unaufgeforderten Unterstützer. In der Firmenzentrale wundern sich die Mitarbeiter, "dass Hilfsangebote noch und nöcher einlaufen, obwohl wir noch gar nicht um Hilfe gebeten haben", wie es einer beschreibt. Im Wahljahr 2009 möchten offenbar viele gerne Rosenthal-Retter werden.

Dass Rosenthal zum Überleben zumindest vorläufig unter einen staatlichen Schutzschirm kriechen muss, wird aber tatsächlich immer wahrscheinlicher. "Wir werden noch in dieser Woche mit dem bayerischen Wirtschaftsministerium das persönliche Gespräch suchen", sagte der vorläufige Insolvenzverwalter Volker Böhm der Süddeutschen Zeitung. Bislang gab es lediglich informelle Kontakte. Nun gehe es darum, konkret "den Liquiditätsbedarf von Rosenthal abzusichern". In Frage käme eine entsprechende Bürgschaft, mehr aber noch ein staatlicher Überbrückungskredit. Der vorläufige Insolvenzverwalter ließ offen, wie viel Geld Rosenthal akut benötigt. "Wir ermitteln im Moment noch, wie groß unser Finanzbedarf ist", sagte Böhm. Berichte, wonach ein kurzfristiger Bedarf von 30 Millionen Euro im Raum steht, ließ er unkommentiert.

Dass Rosenthal bei Bayerns Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) auf offene Ohren stoßen dürfte, gilt als ausgemacht. Die Politik wird den Patienten jedoch allenfalls am Leben erhalten, nicht aber durchgreifend kurieren können. Ob Rosenthal, die eigentlich glamouröse, in den vergangenen Jahren aber arg gebeutelte Porzellanmarke, überhaupt eine Zukunft hat, steht noch in den Sternen. Bereits vor der Insolvenz hieß es, die Gespräche mit einem möglichen Käufer stünden kurz vor dem Abschluss. Nach außen ist davon allerdings immer noch nichts zu erkennen. Der vorläufige Insolvenzverwalter ließ auf Nachfrage am Mittwoch offen, ob und wann mit einem Abschluss gerechnet werden kann.

Als Favorit unter den angeblich 20 Interessenten gilt die italienische Sambonet-Gruppe, die mit Rosenthal ihre bisherige Produktpalette aus hochwertigem Besteck, Töpfen und Schüsseln aus Edelstahl um Porzellangeschirr erweitern würde. Vor endgültigen Übernahmegesprächen müssten jedoch erst bei Rosenthal "Strukturen für solche Gespräche geschaffen werden", sagte Böhm. Näher erläutern wollte der vorläufige Insolvenzverwalter dies nicht. Die Gefechtslage ist obendrein unübersichtlich. In Rosenthal-Kreisen wird gefürchtet, dass eine Übernahme auch am Veto des irisch-britischen Mutterkonzerns Waterford Wedgwood scheitern könnte. Er hält etwa 90 Prozent der Rosenthal-Anteile und ging fünf Tage vor Rosenthal finanziell in die Knie. Die US-Kapitalgesellschaft KPS Capital Partners zeigt Interesse an einer Übernahme von Waterford Wedgwood. Angeblich am liebsten inklusive Rosenthal.

In Selb fürchten nun manche, der Insolvenzverwalter von Waterford Wedgwood könnte sich deshalb gegen einen isolierten Verkauf von Rosenthal wehren. Durch den eigenständigen Insolvenzantrag der Franken ist das allerdings juristisch schwieriger geworden. Böhm sagt, bislang gebe es für ein Veto des Mutterkonzerns keine Anzeichen. "In erster Linie wird es darauf ankommen, mit der Bank of America zu einer Lösung für Rosenthal zu kommen", erklärt der vorläufige Insolvenzverwalter. Wer immer Rosenthal übernehmen will, muss nicht nur für den Kauf viel Geld haben. Auf mindestens 60 bis 70 Millionen Euro schätzt man in der Branche allein die Verbindlichkeiten des Porzellanherstellers. Böhm sagte dazu nichts.

Der äußere Anlass für die Rosenthal-Insolvenz mag die Pleite von Waterford Wedgwood gewesen sein. Rosenthal ist jedoch keineswegs ein Opfer der Finanzkrise. Tatsächlich krebst Rosenthal wirtschaftlich seit Jahren vor sich hin. Seit 2002 hat das Unternehmen 33 Millionen Euro Jahresumsatz verloren. Im abgelaufenen Geschäftsjahr, das am 31. März 2008 endete, lag der Umsatz bei 162,6 Millionen Euro. Der Verlust vor Ertragssteuern (EBT) summierte sich auf den traurigen Rekord von 22,7 Millionen Euro. Selbst wenn man diesen Wert um die Sondereffekte aus dem laufenden Firmenumbau bereinigt, liegt der Verlust noch bei 12,9 Millionen Euro.

Auch andere Kennzahlen zeigen, wie dünn bei den Finanzen das Eis ist, auf dem sich Rosenthal bewegt. Trotz einer Kapitalerhöhung im vergangenen Geschäftsjahr ist das Eigenkapital auf 7,9 Millionen Euro abgesackt. Die Eigenkapitalquote lag damit bei gerade noch 5,4 Prozent. Und auch im ersten Halbjahr des laufenden Geschäftsjahrs deutete nichts auf eine durchgreifende Besserung hin. Der Umsatz sackte um weitere 5,9 Prozent ab, und der EBT-Verlust betrug 10,2 Millionen Euro. Dem steht gegenüber, dass Rosenthal eine der weltweit bekanntesten und glamourösesten deutschen Marken überhaupt ist. Das, sagen Branchenexperten, sei das größte Kapital und damit das beste Verkaufsargument für das Unternehmen. Ein neuer Eigentümer müsste diesen glänzenden Ruf allerdings auch besser nutzen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

Der irisch-britische

Mutterkonzern könnte einen

Verkauf blockieren.

Firmenschild vor dem Rosenthal-Hauptgebäude in Selb: Das Unternehmen hat seit 2002 dramatisch an Umsatz verloren. Foto: AP

Rosenthal AG: Krise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ericsson wächst dank neuer Netze

Telekom-Ausrüster verdient gut - und streicht 5000 Stellen

Von Gunnar Herrmann

Stockholm - Der weltweit größte Telekom-Ausrüster Ericsson hat in Stockholm angesichts der Finanzkrise eine überraschend positive Bilanz für das letzte Quartal des Jahres 2008 vorgelegt. Das Unternehmen konnte seinen Umsatz stark steigern. "Wir haben 2008 eine solide Vorstellung geboten", sagte Konzernchef Carl-Henric Svanberg. Dennoch will Ericsson sparen: Konzernweit sollen 5000 Stellen gestrichen werden. Die größten Zuwächse verbuchten die Schweden in Asien.

Svanberg zufolge profitiert Ericsson insbesondere davon, dass große Länder wie China damit beginnen, in Breitband-Mobilfunk zu investieren. Svanberg sprach von einem "Durchbruchsjahr" für die neue Technik. In Indien stehe demnächst eine wichtige Entscheidung über den Aufbau eines neuen Netzwerks an, sagte er. Auch die anderen Märkte entwickelten sich positiv: Auf allen Kontinenten konnte Ericsson im Schlussquartal seinen Umsatz steigern. Ein Teil dieses Erfolges ist jedoch auf günstige Wechselkurse zurückzuführen. Ericsson rechnet in schwedischen Kronen, deren derzeitige Schwäche wirkt sich auch positiv auf die Bilanz aus. Dem Unternehmen zufolge wäre aber auch ohne Währungseffekt ein deutliches Plus zu verbuchen gewesen.

Minus bei Handys

Der Umsatz stieg im vierten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent auf umgerechnet 6,2 Milliarden Euro. Der Gewinn schrumpfte um 31 Prozent. Mit knapp 370 Millionen Euro war er dennoch höher, als von den meisten Anlegern erhofft. Ericssons Aktienkurs stieg am Mittwoch um mehr als zwölf Prozent an. Grund für den Gewinnrückgang ist ein Unternehmensumbau. Außerdem hatte die Tochterfirma Sony-Ericsson - sie produziert Mobiltelefone - das Quartal mit Verlust beendet.

Dem Unternehmen gehe es besser als der Konkurrenz, der Stellenabbau sei darum "sehr schwer zu verstehen", kritisierte ein Gewerkschafter in der Zeitung Dagens Industri. Svanberg sagte, Ericsson müsse konkurrenzfähig bleiben. Er erwartet, dass sich die Finanzkrise 2009 negativ auf das Geschäft auswirkt. "Aber ich glaube, dass unsere Branche weniger betroffen sein wird als andere", so Svanberg im schwedischen Rundfunk.

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Transparente Absprachen

Berlin - Die umstrittenen Absprachen in Strafprozessen sollen transparenter werden. Hierzu beschloss die Bundesregierung am Mittwoch einen Gesetzentwurf aus dem Haus von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD). Bei den sogenannten Deals verständigen sich Gericht und Staatsanwalt mit dem Angeklagten und seinem Verteidiger auf einen Strafrabatt als Belohnung für ein Geständnis. Deals sind sehr umstritten, zumal sie meist außerhalb der Hauptverhandlung vereinbart werden. "Wir wollen die Absprachen aus den Hinterzimmern holen", sagte Zypries. In Zukunft müssten alle Deal-Gespräche in der Hauptverhandlung mitgeteilt und protokolliert werden. Zudem dürfe es lediglich Absprachen über das Strafmaß geben, nicht über den Schuldspruch. (Seite 4) dku

Zypries, Brigitte: Zitate Rechtsprechung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lufthansa-Partner United verliert Milliarden

Frankfurt - Der Lufthansa-Partner United Airlines baut angesichts hoher Verluste im Jahr 2008 weitere Arbeitsplätze ab. Die drittgrößte amerikanische Fluggesellschaft will bis Jahresende 1000 Stellen zusätzlich streichen. In der Verwaltung und im Management muss fast jeder dritte Mitarbeiter gehen. United Airlines gab am Mittwoch für das Geschäftsjahr 2008 einen Verlust von 5,3 Milliarden Dollar bekannt, im Vorjahr hatte der Konzern noch einen Gewinn von 400 Millionen Dollar erwirtschaftet. Der große Verlust ist vor allem auf die im ersten Halbjahr hohen Treibstoffkosten zurückzuführen - United Airlines musste 2,7 Milliarden Dollar mehr für Kerosin ausgeben als 2007. Außerdem hat sich das Unternehmen bei seinen Treibstoffsicherungs-Geschäften böse verspekuliert - allein im vierten Quartal bedeutete dies eine Belastung von 936 Millionen Dollar. Immerhin blieb der Jahresumsatz bei 20,2 Milliarden Dollar nahezu stabil. Die amerikanische Billig-Airline Southwest berichtet an diesem Donnerstag. Analysten erwarten für den US-Airlinesektor einen Gesamtverlust von 1,5 Milliarden Dollar im vierten Quartal. jfl

Frankfurt

- Der Lufthansa-Partner United Airlines baut angesichts hoher Verluste im Jahr 2008 weitere Arbeitsplätze ab. Die drittgrößte amerikanische Fluggesellschaft will bis Jahresende 1000 Stellen zusätzlich streichen. In der Verwaltung und im Management muss fast jeder dritte Mitarbeiter gehen. United Airlines gab am Mittwoch für das Geschäftsjahr 2008 einen Verlust von 5,3 Milliarden Dollar bekannt, im Vorjahr hatte der Konzern noch einen Gewinn von 400 Millionen Dollar erwirtschaftet. Der große Verlust ist vor allem auf die im ersten Halbjahr hohen Treibstoffkosten zurückzuführen - United Airlines musste 2,7 Milliarden Dollar mehr für Kerosin ausgeben als 2007. Außerdem hat sich das Unternehmen bei seinen Treibstoffsicherungs-Geschäften böse verspekuliert - allein im vierten Quartal bedeutete dies eine Belastung von 936 Millionen Dollar. Immerhin blieb der Jahresumsatz bei 20,2 Milliarden Dollar nahezu stabil. Die amerikanische Billig-Airline Southwest berichtet an diesem Donnerstag. Analysten erwarten für den US-Airlinesektor einen Gesamtverlust von 1,5 Milliarden Dollar im vierten Quartal.

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IBM kennt vorerst keine Krise

Das vierte Quartal fällt bei dem IT-Konzern überraschend erfreulich aus. Vorstandschef Palmisano hat für schwere Zeiten vorgesorgt

Von Thorsten Riedl

München - Die harte Arbeit zahlt sich nun in schwieriger Zeit aus für Sam Palmisano. Der IBM-Chef hat in den vergangenen Jahren keinen Stein auf dem anderen gelassen: Die Computersparte von IBM hat er an die Chinesen verkauft, den Druckerbereich an die Japaner. Im Gegenzug hat er Softwarefirmen und Dienstleister übernommen. In diesen Bereichen sind die Gewinnmargen höher. Die Stellung als weltweit größter Konzern der Informationstechnologie (IT) hat IBM zwischenzeitlich an Hewlett-Packard abgeben. Doch an einer Position hält der 57-Jährige fest: Kein Unternehmen in der IT-Industrie verdient so gut wie IBM. Das Verblüffende: Auch in wirtschaftlich unsicheren Zeiten bildet der Konzern einen sicheren Hafen. Die Anleger zeigten sich am Mittwoch erfreut, nachdem der Konzern die Bilanz für das abgelaufene Quartal vorgelegt hat.

Chiphersteller Intel hatte erst vergangene Woche ernüchternde Zahlen präsentiert. Google, lange der Überflieger bei den IT-Firmen, stellt im Angesicht der Wirtschaftskrise viele Dienste ein und hat erstmals in der Firmengeschichte Entlassungen angekündigt. Selbst bei Quasi-Monopolist Microsoft halten sich hartnäckig die Gerüchte, der Softwarekonzern leide unter dem Wirtschaftsabschwung und werde bei Vorlage der Quartalszahlen an diesem Donnerstagabend Sparmaßnahmen verkünden. Unter diesen Vorzeichen hatte niemand mit der Überraschung von IBM gerechnet. "Ein Seufzer der Erleichterung", titelte deshalb auch Maynard Um, Analyst der UBS, seine jüngste Studie.

Im März 2002 nahm Palmisano die Arbeit als Chef des damals weltweit größten IT-Konzerns auf. Zu dieser Zeit litt das Unternehmen mit Hauptsitz in Armonk bei New York noch unter den Folgen der letzten Wirtschaftskrise nach dem Platzen der Dotcom-Blase. Eine seiner ersten Amtshandlungen war trotzdem ein Zukauf: Palmisano übernahm die Beratungssparte des Wirtschaftsprüfers Pricewaterhouse Coopers (PwC) für 3,5 Milliarden Dollar - die bis dato größte Akquisition des Unternehmens, dessen Wurzeln bis ins Ende des 19. Jahrhunderts reichen. Konsequent hat der IBM-Chef den IT-Konzern weiter in Richtung Dienstleistungen und Software getrimmt und beide Bereiche geschickt verwoben. Allein im vergangenen Jahr hat er dazu sechs Softwarefirmen gekauft.

Der Kurs macht sich nun bezahlt. Im abgelaufenen Quartal verdiente IBM zwölf Prozent mehr mit 4,4 Milliarden Dollar - und das bei sinkenden Umsätzen. Die Erlöse gingen von Oktober bis Dezember um sechs Prozent auf 27 Milliarden Dollar zurück. Das lag unter den Erwartungen der Investoren, doch die konnte Palmisano mit einem guten Ausblick für das laufende Jahr versöhnen. Die Aktie stieg am Mittwoch deutlich.

Ganz ohne Schrammen kommt aber auch IBM nicht davon in der derzeitigen Wirtschaftslage, in der viele Geschäftskunden ihr IT-Budget kappen. Das Umfeld sei "extrem schwierig", hieß es zur Bekanntgabe der Zahlen auch von IBM. So fielen die Umsätze im verbleibenden Hardwaregeschäft bei IBM im vierten Quartal um 20 Prozent auf 5,4 Milliarden Dollar. Das Unternehmen ist aber lange nicht mehr so abhängig vom Geräteverkauf wie zu den Zeiten vor Sam Palmisano. Die Umsätze mit Software und Services konnten die Delle ausgleichen. Das Geschäft mit Computerprogrammen verbesserte sich um drei Prozent auf 6,4 Milliarden Dollar. Die Erlöse mit Dienstleistungen fielen zwar um vier Prozent auf 14,3 Milliarden Dollar. Zugleich berichtete IBM-Finanzchef Mark Loughridge aber von gut gefüllten Auftragsbüchern. "Bei den Services haben wir ein Gewinnwachstum von 30 Prozent erzielt und Neugeschäft in Höhe von mehr als 57 Milliarden Dollar gewonnen. Ich sage das nochmal: 57 Milliarden Dollar", erklärte er bei einer Telefonkonferenz. Der Auftragsrückstand betrug zum Jahresende 117 Milliarden Dollar. "Das sollte eine Hilfe für 2009 sein", sagte Analyst Um.

Von bis zu 10 000 Stellenstreichungen bei IBM war im Vorfeld der Quartalsbilanz gemunkelt worden. Diese Gerüchte sind verflogen. Jobabbau laute auch nicht die Strategie des Konzerns, schrieb Palmisano in einer E-Mail an seine Mitarbeiter. "Viele Firmen drosseln oder kürzen drastisch ihre Ausgaben und Investitionen, sogar in Gebieten, die wichtig sind für ihre Zukunft. Wir wählen einen anderen Ansatz, nicht nur weil wir die finanzielle Stärke dazu haben, sondern auch weil wir uns dafür entschieden haben, IBM auf langfristigen Erfolg auszurichten", schreibt der erste Mann des Konzerns in seiner Nachricht an die weltweit annähernd 370 000 Beschäftigten.

"Wir haben uns entschieden, den Betrieb auf langfristigen

Erfolg auszurichten."

Medizintechnik ist ein neues Feld für IBM - auf dem Bild die Präsentation eines Geräts bei einer Messe: Der amerikanische Konzern hat jetzt mit überraschend guten Zahlen aufgewartet. Foto: Reuters

International Business Machines Corp. (IBM): Ergebnis / Geschäftsberichte SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Transrapid-Technik soll offenbar an China gehen

Düsseldorf - Thyssen-Krupp will nach Medienberichten Teile der Transrapid-Technologie an China verkaufen. Auf diese Weise wolle der Industriekonzern dem Land die seit langem angestrebte Verlängerung der weltweit einzigen kommerziellen Magnetbahnstrecke in Shanghai schmackhaft machen, berichtet das Handelsblatt unter Berufung auf industrienahe Kreise. Eine entsprechende Vereinbarung solle kommende Woche beim Berlin-Besuch des chinesischen Premiers Wen Jiabao unterzeichnet werden. Eine Konzernsprecherin bestätigte, dass es Gespräche mit China gebe, betonte jedoch, dass nicht an einen Ausverkauf der Technologie gedacht sei: "Die Kerntechnologie behalten wir." Denkbar sei etwa die Vergabe von Lizenzen. Transrapid-Partner Siemens hat dagegen keine Verkaufsabsichten. Das Bundesverkehrsministerium teilte mit, dass der Bund als Förderer der Transrapid-Technik nicht nur ein Mitspracherecht bei der Veräußerung habe, sondern auch an Einnahmen eines Lizenzverkaufs beteiligt werden müsste. Eine Sprecherin erklärte, der Bund habe einen Anspruch auf bis zu 100 Millionen Euro Rückzahlung für seine aus Steuergeldern geleistete Hilfe. AP

Transrapid-Projekte Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und China SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vereint gegen Westerwelle

Bundesrats-Pläne der FDP bringen SPD und Grüne näher

Von Daniel Brössler, Nico Fried und Susanne Höll

Berlin - Das Gerangel um eine Zustimmung des Bundesrates zum Konjunkturpaket der Bundesregierung hat zu einer Wiederannäherung der früheren Koalitionspartner SPD und Grüne geführt. Die Sozialdemokraten äußerten sich am Mittwoch erfreut darüber, dass die Grünen über die Landesregierungen von Hamburg und Bremen, an denen sie beteiligt sind, dem Konjunkturprogramm zustimmen wollen. Derweil traf sich FDP-Chef Guido Westerwelle zu einem seit längerer Zeit vereinbarten Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Westerwelle bekräftigte dabei nach eigenen Angaben seine Forderung nach weiteren Entlastungen für die Bürger.

Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, zeigte sich zufrieden, dass nach der angekündigten Zustimmung von Hamburg und Bremen eine Mehrheit in der Länderkammer nicht mehr von der FDP abhängig sei, obwohl diese nach der bevorstehenden schwarz-gelben Regierungsbildung in Hessen in fünf großen Bundesländern mitregiert. "Da hat die FDP in der Euphorie des hessischen Wahlsieges die Kräfte wohl leicht überschätzt", sagte der SPD-Politiker. "Die gefühlte Kraft war stärker als die tatsächliche." Die von CDU und SPD allein oder gemeinsam regierten Länder kämen zusammen mit Hamburg und Bremen auf insgesamt 36 Stimmen. Die notwendige Mehrheit in der Länderkammer liegt bei 35 Stimmen.

Oppermann begrüßte auch die von der schwarz-grünen Landesregierung in Hamburg erhobene Bedingung, die Modalitäten der sogenannten Abwrackprämie zu verändern. Sie soll so gestaltet werden, dass sie einen größeren Effekt für den Umweltschutz erzielt. "Auch bei uns ist der Ehrgeiz vorhanden, die Abwrackprämie ökologisch zu gestalten", sagte Oppermann. Bei der Abwrackprämie sollen Käufer von Neuwagen für ihr altes Fahrzeug unter bestimmten Bedingungen 2500 Euro erhalten, und zwar rückwirkend zum 14. Januar. Oppermann sicherte für den Fall von Änderungen Vertrauensschutz für die Autokäufer zu, die bereits jetzt einen Neuwagen zu den ursprünglich geplanten Konditionen bestellt hätten.

Die SPD-Führung hatte sich bereits am Montag, dem Tag nach der Hessen-Wahl, für den Versuch entschieden, die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin, wo die SPD mit der Linken regiert, zur Zustimmung im Bundesrat zu bewegen. In der Vorbesprechung zur SPD-Präsidiumssitzung wurde nach Informationen der Süddeutschen Zeitung beschlossen, dies mit Hilfe des sozialdemokratischen Bremer Regierungschefs Jens Böhrnsen (SPD) zu bewerkstelligen. Der habe seinerseits mit dem Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU) Kontakt aufgenommen. Bei den Grünen soll Fraktions-Vize Jürgen Trittin ähnliche Überlegungen verfolgt haben.

In der Bundes-SPD sei man sich deshalb schon am Montag relativ sicher gewesen, dass das Konjunkturpaket auch im Bundesrat eine Mehrheit bekomme. Die Entscheidung der beiden Stadtstaaten führt man in der Bundes-SPD im Wesentlichen auf das Interesse an den geplanten Infrastrukturprogrammen für Kommunen in Milliardenhöhe zurück. Trittin selbst bestätigte, dass es den Grünen auch darum gegangen sei, die FDP in die Schranken zu verweisen.

FDP-Chef Guido Westerwelle wertete die Ankündigung Hamburgs und Bremens als "Umfallen" der an diesen Regierungen beteiligten Grünen. Ihnen sei Taktik wichtiger als Inhalt gewesen, sagte Westerwelle. Noch vor einer Woche hatten die Grünen im Bundestag vehement gegen das Konjunkturpaket der Bundesregierung argumentiert. Fraktionschef Fritz Kuhn, der in der Parlamentsdebatte für die Grünen gesprochen hatte, sieht darin jedoch keinen Widerspruch zum Verhalten der Grünen in Hamburg und Bremen. "Wir verhindern, dass aus Murks jetzt Murks im Quadrat wird", sagte Kuhn der SZ. Unverändert sei die Haltung der Grünen auf Bundesebene, dass das Paket falsch sei. Entscheidend sei nun aber, die von FDP-Chef Guido Westerwelle verlangten zusätzlichen Steuersenkungen zu verhindern. "Wir bestreiten, dass es konjunkturell gut wäre, jetzt die Steuern stärker zu senken", sagte Kuhn. "Gerecht wäre es auch nicht." Die Ablehnung im Bundestag und die Zustimmung im Bundesrat sei daher den Wählern erklärbar. "Diesen Zusammenhang können wir jederzeit vermitteln", sagte Kuhn.

Mittlerweile ist auch eine Zustimmung der Landesregierung in Berlin offenbar nicht mehr ausgeschlossen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), aber auch sein Koalitionspartner Linkspartei, lehnen das Konjunkturpaket nicht grundsätzlich ab, haben allerdings Bedenken bei einzelnen Regelungen. Der Sprecher der Bundesregierung, Ulrich Wilhelm, verwies am Mittwoch jedoch ausdrücklich auf "ermutigende Stellungnahmen von allen Parteien, die an Länderregierungen beteiligt sind".

Westerwelle, Guido Bundesrat Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Verhältnis der SPD zu B90/Grüne SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Vor 20 Jahren galt als korrupt, wer einen Mercedes besaß"

Der Verleger Rupert Hoogewerf über die neuen Reichen Chinas

Kaum jemand kennt Chinas Privatwirtschaft so gut wie der britische Unternehmer Rupert Hoogewerf aus Shanghai. Der 38-jährige Verleger veröffentlicht die Liste der erfolgreichsten und wohlhabendsten Unternehmer des Landes - und ist damit selbst zu einer Galionsfigur des Wirtschaftsaufschwungs geworden.

SZ: Herr Hoogewerf, wie lautet das Erfolgsmuster reicher Chinesen?

Hoogewerf: Die Reichsten haben alle gemeinsam, dass sie ihre Firma selbst gegründet haben. In England, Italien, Frankreich und Deutschland gibt es sehr traditionsreiche Familienunternehmen. In China ist alles neu. Vor 30 Jahren war es nicht einmal erlaubt, ein Konto zu eröffnen. Als die ersten Millionäre auftauchten, war der größte Geldschein die Zehn-Yuan-Noten, umgerechnet etwa 90 Cent. Viele haben ihr Vermögen in Tonkrügen zuhause aufbewahrt. Unter diesen Umständen war es ein kleines Wunder, ausreichend Startkapital zu sammeln. Der Zugang zu Kapital ist noch immer einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren in China, das ist genauso wichtig wie eine gute Geschäftsidee.

SZ: Welche Folgen hat die Krise für Chinas Privatwirtschaft?

Hoogewerf: Unsere jährliche Millionärsliste haben wir im Oktober veröffentlicht. Einen Monat später mussten wir die Liste aktualisieren. Die 20 reichsten Unternehmer hatten fast die Hälfte ihres Vermögens verloren. Seitdem dürfte der Verlust noch gestiegen sein. Natürlich haben viele chinesische Firmen heute weniger Geld. Aber man braucht hier auch nicht so viel, um eine gute Idee umzusetzen.

SZ: Wie hat sich das Umfeld für Firmengründer verändert?

Hoogewerf: Die Erfolgsregeln sind eigentlich immer und überall die gleichen. Doch heute müssen chinesische Firmen innovativer sein. Es stimmt nicht mehr, dass in China nur kopiert wird. Bisher gibt es zwar keine chinesische Marke, die auf dem Weltmarkt wirklich Erfolg hat. Aber ich wäre überrascht, wenn wir nicht bald ein paar sehr kreative Firmen kennenlernen würden. Mit großer Sicherheit werden es Dienstleister sein. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikashat eine riesige Mittelschicht hervorgebracht. Im Gefolge sind Tausende Firmen entstanden, die die Bedürfnisse der Mittelschicht bedienen. In China entsteht die Mittelschicht gerade erst und mit ihr viele, viele neue Firmen, die um diese Kunden kämpfen.

SZ: Im Ausland sind vor allem die Staatsbetriebe bekannt. Wie wichtig ist die Privatwirtschaft in China heute?

Hoogewerf: Vor drei Jahren hat das Nationale Amt für Statistik die Wirtschaftsleistung neu berechnet. Auf einen Schlag war das Bruttoinlandsprodukt fast ein Fünftel höher als zuvor. Der Großteil des Wachstums war damals der Dienstleistungsbranche zu verdanken, wo die meisten Transaktionen mit Bargeld abgewickelt werden und häufig keine Steuern gezahlt werden. Die ganze private Dienstleistungsbranche ist statistisch kaum zu erfassen. Man kann daher nur schätzen, wie groß der Beitrag der Privatwirtschaft zur Wirtschaftsleistung ist - ich gehe von 50 bis 75 Prozent aus.

SZ: Welchen Status haben Unternehmer in der chinesischen Gesellschaft?

Hoogewerf: In der chinesischen Geschichte war die soziale Stellung von Geschäftsleuten immer sehr niedrig. Der Kaiser besaß und verwaltete quasi das gesamte Vermögen des Landes. Auch Gelehrte und die kaiserlichen Mandarine genossen ein deutlich höheres Ansehen als Kaufleute. Vor 20 Jahren galt man noch als korrupt, wenn man einen Mercedes besaß. Man hatte sein Geld zwangsläufig durch Kontakte zu Armee, Partei oder Zoll verdient. Heute muss Reichtum nicht mehr versteckt werden, der Imagewandel ist enorm. Damit stieg auch das Selbstbewusstsein der Unternehmer.

SZ: Trotzdem gehören Unternehmer noch nicht zur Elite des Landes . . .

Hoogewerf: In den vergangenen Jahren ist der innere Führungszirkel der Regierung zur neuen Aristokratie geworden: die Familien, die ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis gestellt haben. Die meisten haben einen revolutionären Hintergrund und haben ihre Loyalität in den vergangenen drei oder vier Generationen unter Beweis gestellt. Dazu gehört zum Beispiel auch Xi Jinping, der wahrscheinlich der nächste Präsident wird. Das ist der wirklich innere Führungszirkel. So weit sind die privaten Unternehmer noch nicht. Aber sie haben sich mehr Respekt erarbeitet. Sie schaffen in einigen Provinzen neun von zehn neuen Arbeitsplätzen, sie zahlen über die Hälfte der Steuern. Viele sitzen inzwischen im Nationalen Volkskongress.

SZ: Hat die soziale Aufwertung der Unternehmer auch das Geschäftsklima verändert?

Hoogewerf: Viele Firmen planen heute langfristiger. Früher haben viele Unternehmer ihr Geld so schnell wie möglich aus dem Land geschafft. Es gab ein großes Misstrauen gegenüber dem politischen System und der Entwicklung der Volkswirtschaft. Damals haben sich die Regeln ständig geändert, man war der Willkür der Regierungsbeamten ausgeliefert. Heute planen die Unternehmer langfristig. Die meisten haben nicht mehr vor, das Land zu verlassen.

SZ: Muss man in China bestechen, um geschäftlichen Erfolg zu haben?

Hoogewerf: Es hat sich viel gebessert. Bauland wird seit einigen Jahren versteigert. Davor hat das durchschnittliche Stück Land neun Mal den Besitzer gewechselt, bevor die Bauarbeiten begannen. Dabei ist viel unter dem Tisch passiert. Die Reform war sehr positiv für die Entwicklung der Wirtschaft und furchtbar für die kleinen Regierungsbeamten, die in der Immobilienbranche "Mr. Zehn Prozent" genannt werden. Auch in der Gründerzeit Ende der neunziger Jahre waren nicht alle Geschäfte korrupt; als Unternehmer musste man Vertrauen gewinnen können. Heute schauen die lokalen Regierungen und Geschäftspartner auf den unternehmerischen Erfolg.

Die Langfassung im Internet

Interview: Janis Vougioukas

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Chinas nächste Mitte

In den Familienunternehmen des Landes steht der erste Generationswechsel an. Auf die in der Staatswirtschaft groß gewordenen Gründer folgen die Söhne und Töchter mit akademischer Ausbildung

Von Janis Vougioukas

Peking - Der Lan-Club liegt im vierten Stock eines Einkaufszentrums mitten in Peking. Es ist dunkel, schon am späten Vormittag weht Technomusik durch die Luft. "Wir wollen unseren Gästen nicht nur Essen servieren. Ein Besuch im Lan soll eine 360-Grad-Erfahrung sein", sagt Wang Xiaofei, der Chef. Vor zweieinhalb Jahren hat er den ersten Club eröffnet. Er hat ihn nach seiner Mutter Zhang Lan benannt, Chefin der Restaurantkette South Beauty. Lan heißt übersetzt Orchidee. Die Clubs sollen noch stärker als die Restaurants der Mutter neue Standards in der Pekinger Gastronomie setzen. Wenn Wang Besucher durch den Club führt, ist er noch genauso stolz wie am Tag der Eröffnung. Der 27-Jährige kleidet sich westlich: schwarzer Anzug, weißes Hemd, Manschettenknöpfe, dazu eine schwarze Krawatte.

Der Club nimmt die ganze vierte Etage des Einkaufszentrums ein, fast 6000 Quadratmeter. Der französische Stardesigner Philippe Starck hat die Inneneinrichtung entworfen. Wie ein Sternenhimmel schmücken Ölgemälde die Decke. Dazwischen schweben wuchtige Kronleuchter, die sich in den schwarz lackierten Tischplatten spiegeln. An den Wänden stehen breite Sofas, bespannt mit Kuhfell. Mehr Schnörkel kann der Raum kaum verkraften. Zwischen den Möbeln tänzeln bildhübsche Kellnerinnen in traditionellen chinesischen Kostümen.

Mit Bauchgefühl

200 Angestellte arbeiten im Lan. Während der Olympischen Spiele kamen an manchen Abenden mehr als 2000 Gäste: Politiker wie Tony Blair und Schimon Peres, Schauspieler Keanu Reeves, das Model Cindy Crawford und der Fußballer David Beckham. Bald will Wang einen Lan-Club in London eröffnen. Er führt die Clubs im Auftrag seiner Mutter Zhang Lan. Zu ihrer Gastronomiegruppe South Beauty gehören inzwischen im ganzen Land 50 Restaurants, ein Konzern mit 7000 Mitarbeitern. Bald will das Unternehmen an die Börse.

South Beauty ist eines der bekanntesten Familienunternehmen Chinas. Und Wangs Mutter gehört zu den einflussreichsten Unternehmerinnen des Landes mit einem geschätzten Vermögen von rund 180 Millionen Dollar. Kenner der Pekinger Restaurantszene gehen davon aus, dass Wang im Lan Erfahrung sammeln soll, um eines Tages die Nachfolge seiner Mutter anzutreten. Wang selbst äußert sich dazu nicht.

Im South Beauty hat der Generationswechsel schon begonnen, der in den kommenden Jahren in den meisten chinesischen Privatbetrieben ansteht. Es wird kein sanfter Übergang, sondern ein Bruch. Gründerin Zhang Lan hat ihre Karriere noch bei einem staatlichen Baukonzern begonnen, ihre unternehmerischen Entscheidungen traf und trifft sie vor allem aus dem Bauch heraus. Der Sohn hat das Gastgewerbe im Ausland gelernt. "Unser Führungsstil ist ganz anders", sagt er. "Meine Mutter ist stark und dominant. Ich arbeite gern im Team."

Vor neun Jahren hat sie das

erste South-Beauty-Restaurant eröffnet. Wang studierte damals in Frankreich. Eines Tages kam seine Mutter zu Besuch. Die Chinesen lieben Essen, und Wang wollte ihr eine neue kulinarische Welt zeigen. Er führte sie in die besten Restaurants des Landes. "Meine Mutter war sehr beeindruckt vom Essen und dem perfekt arrangierten Umfeld und fragte immer wieder, warum es in China keine schönen Restaurants gibt." Kurz nach ihrer Rückkehr nach Peking gründete sie das erste Restaurant mit gehobener chinesischer Küche, serviert wird in moderner Atmosphäre. Die Idee war neu.

"South Beauty ist eine Erfolgsgeschichte, auch weil Zhang Lans Sohn Wang Xiaofei so talentiert ist", sagt der Unternehmensberater Pan Yifan von Alliance PKU Management Consultants. Er verfolgt die Entwicklung chinesischer Familienunternehmer seit Jahren. "Es ist eine Zeit großer Veränderungen", sagt der Berater. In Chinas Privatwirtschaft steht der erste Generationswechsel an.

Ende 1978 begann der große Reformer Deng Xiaoping mit der vorsichtigen Öffnung der Wirtschaft. Und plötzlich schossen im ganzen Land private Unternehmen aus dem Boden: Restaurants, Geschäfte, Hinterhoffabriken und Schneidereien. 2005 kam eine Studie des Brokerhauses CLSA zu dem Ergebnis, dass der private Sektor bereits drei Viertel der chinesischen Waren produziert und drei von vier Arbeitnehmern beschäftigt. Auch der Arbeitgeberverband All-China Federation of Industry and Commerce bezeichnet die private Wirtschaft als wichtigsten Motor des Aufschwungs. Dennoch gibt es kaum Daten über die Unternehmer. Nicht einmal die genaue Zahl der privaten Firmen ist bekannt. Im oft unsicheren politischen und rechtlichen Umfeld der Volksrepublik ist Diskretion eines der goldenen Geschäftsprinzipien. "Zu Beginn der Öffnungspolitik in den achtziger Jahren war es leicht, mit einer Firmengründung Erfolg zu haben. Wer genug Mut und Antrieb hatte, wurde auch dafür belohnt", sagt Berater Pan. "Damals haben fast alle Unternehmer die Gesetze gebrochen, denn anders hatten sie gar keine Chance." Die Mehrheit der chinesischen Unternehmer hat ihre Firmen mit den eigenen Händen und einem gesunden Bauchgefühl aufgebaut, und viele von ihnen haben nicht einmal studiert. "Die Firmengründer von einst sind inzwischen 50, 60 Jahre alt geworden", sagt Pan.

Begrenzte Auswahl

Er erwartet, dass die meisten Unternehmer der ersten Stunde großen Wert darauf legen, dass die Führung der Firma auch nach dem Generationswechsel in den Händen der Familie bleibt - auch wenn das in vielen anderen Ländern als ein sicheres Rezept für den Niedergang des Unternehmens gilt. "Es gibt den Beruf des professionellen Managers in China noch nicht lange. Und es gibt nur wenige wirklich hochqualifizierte Führungskräfte auf dem Arbeitsmarkt. Die Gründer werden deshalb davon ausgehen, dass die Risiken für das Unternehmen kleiner sind, wenn die Führung an die Kinder übergeben wird", sagt Pan.

Der Kreis möglicher Nachfolger ist noch kleiner als bei vielen Familienunternehmen im Westen, wo die großen Familienunternehmen oft genug ganzen Clans gehören. In China haben viele Familienbetriebe nur ein oder zwei Eigentümer. Die Ein-Kind-Politik hat die Zahl potentieller Nachfolger zusätzlich begrenzt. Und ihren Töchtern trauen die chinesischen Unternehmer weniger zu als den Söhnen, ergab eine Umfrage der Tageszeitung Qianjiang Evening News. Berater Pan glaubt, dass der Generationswechsel Chinas private Betriebe weiter professionalisieren wird. "Aber es wird einige Jahre dauern, bis man abschließend sagen kann, ob die zweite Generation Erfolg hatte", sagt er.

Mittelstand & Familienunternehmen

Ganz genau kennt niemand ihre Zahl. Selbst Behörden geben zu Chinas Familienunternehmen nur ungern Auskunft. Zur Wirtschaftsleistung des Landes dürften sie 50 bis 75 Prozent beitragen, schätzt Rupert Hoogewerf. Der 38-jährige Verleger veröffentlicht jährlich den Hurun Report, die Rangliste der reichsten Chinesen. 2008 führte Huang Guangyu, Chef des Mischkonzerns Pengrun, mit einem Vermögen von 6,3 Milliarden Dollar die Liste an. Der 39-Jährige muss sich noch nicht um seine Nachfolge sorgen. In vielen anderen Familienunternehmen steht aber jetzt der erste Generationswechsel an.

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Ausschlafen - und dann loslegen

Unter Barack Obama beginnt der Tag im Weißen Haus zwar etwas später, das Tempo danach aber ist viel höher als früher

Von Reymer Klüver

Sasha und Malia durften ausschlafen. Jedenfalls mussten sie am Mittwochmorgen nicht zur Schule. Die Inauguration war ja auch aufregend genug. Und außerdem waren am Abend, als Mom und Dad auf gleich zehn Bällen tanzen mussten, ein paar Freunde aus Chicago zu einer gemeinsamen Sleepover-Party gekommen, damit die erste Nacht im Weißen Haus nicht so einsam ist.

Ohne Zweifel wird es nicht nur gewaltige politische, sondern auch einige kulturelle Unterschiede zwischen der Bush-Administration und dem Weißen Haus unter Obama geben. Zum Beispiel was den Arbeitsbeginn angeht. Zwar brannte an diesem Mittwochmorgen um acht Uhr schon längst Licht in einigen Büros im Westwing der Regierungszentrale, wo die wichtigsten Mitarbeiter des Präsidenten ihre Büros haben - und Barack Obama selbst saß angeblich auch schon am Schreibtisch, obwohl er erst am frühen Morgen ins Bett gekommen war. Aber vor neun wurde offiziell von keinem Mitarbeiter erwartet, dass er an seinem Schreibtisch sitzt und sich mit der Bedienungsanleitung für das Computernetzwerk des Weißen Hauses vertraut macht. Nur David Axelrod, Obamas engster Berater, wurde schon früher gesichtet mit einer Tasche unter dem Arm, aus der ein Bilderrahmen und die historische Inaugurationsnummer der Zeitung ragte.

Das war früher anders. Unter George W. Bush summte der Westwing bereits um sieben Uhr morgens wie ein Bienenhaus. Und der Präsident liebte es, um diese Zeit seine ersten Termine zu legen, nachdem er bereits ausführlich vom CIA über die aktuellen Ereignisse unterrichtet worden war. So früh wird es unter Barack Obama wohl nicht losgehen.

Das sollte allerdings nicht täuschen. Obama hat versprochen, ein fleißiger Präsident zu sein. Und das sollte er an seinem ersten Arbeitstag unter Beweis stellen. Im Grunde ging es bereits am Dienstag los, als Washington noch in Feierlaune war. Obama ernannte offiziell die sieben seiner neuen Minister, die der Senat nach der Inauguration bereits bestätigt hatte. Und sein Stabschef Rahm Emanuel unterschrieb nur Stunden nach der Vereidigung ein Dekret, mit dem einige Anordnungen Präsident Bushs aus seinen letzten Amtstagen bis auf weiteres widerrufen werden.

So hatte Bush ein Dekret unterzeichnet, dass Besucher fortan in einigen Nationalparks Waffen tragen dürfen. Ein anderes verordnete, dass künftig Krankenhäuser keine Bundesmittel erhalten sollen, die Ärzten die Einstellung verweigern, weil sie aus religiösen Gründen keine Abtreibung vornehmen wollen. Derlei Dekrete gehören zum Kleinklein der Amtsübergaben. Bei Bill Clinton zum Beispiel war es nicht anders gewesen, als er Bush die Amtsgeschäfte übergab. Bush hatte einige Dekrete Clintons ebenfalls r ckgängig zu machen versucht.

Politisch ungleich brisanter dürfte an Obamas erstem Arbeitstag Dreierlei sein. Zum einen hat er gleich nach einem morgendlichen Fürbittgottesdienst in der National Cathedral seinen engsten wirtschaftspolitischen Beraterkreis einberufen. Das ist natürlich eine symbolbefrachtete Handlung: Die Wirtschaftskrise des Landes ist die Nummer eins unter allen Themen. Sie hat für die neue Administration absolute Priorität. Darin steckt aber auch ein versteckter Hinweis in Richtung Kongress. Denn zweifelsohne wird im Zentrum der Beratungen im Weißen Haus sein, was zu tun ist, damit beide Kammern des Parlaments das geplante gigantische Konjunkturprogramm in den nächsten vier Wochen tatsächlich verabschieden - und zwar mehr oder minder so, wie der Präsident es wünscht.

Für den Nachmittag hat Obama die Stabschefs der Streitkräfte einbestellt. Und es besteht kein Zweifel, dass sie - im Ton verbindlich, aber in der Sache eindeutig - eine neue Marschorder bekommen: Der neue Oberbefehlshaber wünscht den Abzug aller Kampftruppen aus dem Irak innerhalb von 16 Monaten. Punkt. Einen Teil der Soldaten aber will er nach Afghanistan verlegen, weil er glaubt, dass der Kampf gegen al-Qaida dort von seinem Vorgänger sträflich vernachlässigt wurde.

Als Drittes wird Obama die Schließung des Internierungslagers in Guantanamo per Dekret anordnen. Allerdings war am Morgen noch nicht ganz klar, ob die Verordnung - juristisch wasserdicht - noch am Mittwoch unterschriftsreif auf seinem Schreibtisch im Oval Office landen würde. Auf den einen oder anderen Tag kommt es wohl aber auch gar nicht mehr an. Zu seinen ersten Amtshandlungen noch am Dienstag zählte nämlich, dass Obama - ebenfalls per Dekret - die Streitkräfte bat, die Verhandlungen der Militärtribunale gegen einige der in Guantanamo einsitzenden Häftlinge für 120 Tage auszusetzen.

Das Militär reagierte prompt: Ein für Mittwochmorgen geplanter Verhandlungstag gegen den Kanadier Omar Khadr wurde sofort abgesagt. Allerdings müssen die Militärrichter dem Dekret nicht unbedingt Folge leisten, das um einen Aufschub bis zum 20. Mai bat, "damit der neue Präsident und seine Administration den Prozess der Militärkommissionen im allgemeinen und die gegenwärtig vor den Militärkommissionen verhandelten Fälle im Besonderen begutachten können".

Im Verfahren gegen die mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 war ebenfalls für Mittwoch eine Anhörung angesetzt. Der zuständige Militärstaatsanwalt hatte indes dafür bereits am Dienstag die Aussetzung des Verfahrens beantragt. Menschenrechtsorganisation begrüßten den ersten Schritt Obamas. Das Dekret deute darauf hin, "dass er spürt, wie dringend der zerstörerische Kurs der bisherigen Regierung im Kampf gegen den Terror umgekehrt werden muss", hieß es in einer Erklärung von Human Rights Watch. Allerdings wies die renommierteste Bürgerrechtsorganisation Amerikas, die ACLU, darauf hin, dass Obama "das in Misskredit geratene System" der militärischen Sondertribunale noch keineswegs beseitigt hat - was er theoretisch ebenfalls mit einem Federstrich könnte. Doch besteht kein Zweifel daran, dass die Verfahren in ihrer jetzigen Form kaum fortgesetzt werden dürften.

Auch weitere Dekrete sollten zumindest in dieser Woche noch auf Obamas Schreibtisch landen - wenn sie nicht bereits am Mittwoch unterschriftsfertig sein sollten. So dürfte Obama in einem Erlass die sogenannten "verschärften Verhörmethoden" der CIA bei Vernehmungen mutmaßlicher Terroristen außer Kraft setzen. In den vergangenen Wochen hatten weder er noch der künftige Justizminister Eric Holder Zweifel daran gelassen, dass sie zumindest einige der Verhörtechniken für Folter halten. In einem weiteren Dekret wollte Obama die Verhaltensregeln für die Mitarbeiter des Weißen Hauses verschärfen. An ihrem ersten Tag jedenfalls mussten sie bereits am Morgen zu einem zweistündigen Vortrag. Einziges Thema: ihre neuen Pflichten.

Auf dem Weg zu schweren Aufgaben: US-Präsident Barack Obama, hier ein Bild aus dem Kapitol vom Dezember 2007, als er noch Senator von Illinois war. Foto: laif

Regierung Obama 2009 Militäreinsatz der USA in Afghanistan ab 2003 Wirtschaftslage in den USA Obama, Barack Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo Geplanter Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Barack Obamas erster Arbeitstag

Ernste Zeiten sind Zeiten der Bewährung. Und dass die Lage der Vereinigten Staaten so ernst ist wie selten zuvor, das ist dem neuen Präsidenten mehr als klar, daran hat seine Antrittsrede keinen Zweifel gelassen. Die desaströse wirtschaftliche Situation des Landes, die Lage im Irak und in Afghanistan, der Schandfleck Guantanamo - das sind nur drei Beispiele, die das schnelle und entschlossene Handeln Obamas erfordern. Und schon die ersten Stunden zeigen, dass er sich keine ruhige Eingewöhnungszeit im Weißen Haus gönnen will.

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Obama bricht mit dem System Guantanamo

Präsident fordert Militärrichter auf, Verfahren auszusetzen / Berlin streitet über Aufnahme von Häftlingen

Von Stefan Kornelius und Peter Blechschmidt

München/Berlin - US-Präsident Barack Obama hat in seiner ersten Amtshandlung Militär-Staatsanwälte angewiesen, eine Aussetzung der laufenden Guantanamo-Verfahren für die Dauer von 120 Tagen zu beantragen. Die neue Regierung will in dieser Zeit Klarheit über ihren Weg zur Schließung des Straflagers gewinnen. Obama vollzog damit einen symbolischen Bruch mit der Politik seines Vorgängers. In Deutschland wurde sogleich über eine mögliche Aufnahme ehemaliger Häftlinge gestritten.

Die Weisung der Obama-Regierung ging noch am Abend der Amtsübernahme am Militärgerichtshof in Guantanamo ein. Die Staatsanwälte wurden darin ersucht, bei den Vorsitzenden Richtern eine Verfahrenspause bis zum 20. Mai zu erwirken. In einem ersten Verfahren entsprach der Richter der Bitte und setzte die Verhandlung am Mittwoch aus. Ob weitere Richter Obamas Ansinnen nachkommen werden, ist unklar, da sie nicht weisungsgebunden sind. Außerdem können die Angeklagten selbst darauf bestehen, dass die Verfahren gegen sie fortgesetzt werden. Auch dann wäre Obamas Weisung wirkungslos.

Beobachter sprachen von einer symbolischen Entscheidung, mit der Obama klar macht, dass er das Gefangenenlager und die außerhalb der üblichen Rechtswege laufenden Verfahren mit höchster Priorität behandelt und eine Rückführung der Prozesse in das amerikanische Rechtssystem wünscht. Damit bricht er deutlich mit der Politik der Bush-Regierung. Diese hatte sich bemüht, ein System der Militärgerichtsbarkeit mit geheimen Verfahren zu installieren.

Obama hatte vor seinem Amtsantritt klar gemacht, dass er Guantanamo schließen wird. Allerdings ist unklar, was mit den verbliebenen etwa 250 Gefangenen geschieht. In der von Obama beantragten Frist könnte nun geprüft werden, ob ein Teil der Gefangenen vor ordentlichen Gerichten in regulären Verfahren angeklagt würden. Nachweislich unschuldig Inhaftierte könnten entlassen werden. Bei einer dritten Gruppe ist das Verfahren kompliziert: Diese Inhaftierten gelten als gefährlich, aber die Beweise gegen sie sind entweder rechtsstaatlich nicht verwertbar oder würden Geheimdienststrukturen enttarnen.

Die Aufnahme von unschuldigen Häftlingen aus Guantanamo bleibt in Deutschland umstritten. Es geht um 50 bis 60 Menschen, die seit Jahren in Guantanamo festgehalten werden, gegen die aber auch nach US- Angaben kein Terrorverdacht mehr besteht. Diese Personen können nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden, weil ihnen auch dort Verfolgung droht. Die USA wollen sie aber auch nicht behalten.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) beharrt darauf, die mögliche Schließung des Lagers nicht daran scheitern zu lassen, dass sich für solche Häftlinge kein Aufnahmeland finde, Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bekräftigte seine Ablehnung. Unterstützung erhielt er von FDP-Chef Guido Westerwelle, während die bayerische FDP-Landesvorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sich für die Prüfung im Einzelfall einsetzte. Grüne und Linke sind für die Aufnahme. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm sagte, Bundeskanzlerin Angela Merkel wolle die Pläne der neuen US-Regierung abwarten. (Seiten 2, 4, 5 und Feuilleton)

Rechtsprechung in den USA Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Bitte die Aktie meiden"

Hypo Real Estate in der Dauerkrise

Von Thomas Fromm

München - Es kam, wie es kommen musste. Am Morgen, nachdem der Bund seinen Garantierahmen für den taumelnden Hypothekenfinanzierer Hypo Real Estate (HRE) um weitere zwölf Milliarden Euro erhöht hatte, rauschte die Aktie erst einmal um fast zehn Prozent in die Tiefe. 1,82 Euro war die Aktie zwischendurch noch wert - Mitte 2007 mussten die Aktionäre noch 50 Euro für das HRE-Papier auf den Tisch legen. Doch inzwischen ist nicht nur klar, dass der Finanzkonzern ein Sanierungsfall ist, der zurzeit Hilfen von insgesamt 92 Milliarden Euro braucht, obwohl er nur noch knapp 400 Millionen Euro an der Börse wert ist. Klar ist auch, dass es schwer sein wird, diesen Zustand in absehbarer Zeit zu verändern. Die Immobilienbank dürfte ein Problemfall bleiben - und noch weitere Milliarden benötigen, bis dann irgendwann in den kommen Tagen oder Wochen der Bund einsteigen dürfte.

Für die Aktionäre eine harte Wahrheit. "Wir erneuern unsere pessimistische Sicht bezüglich der Aussichten für die Aktionäre des Konzerns", schrieben Analysten der Landesbank Baden-Württemberg daher am Mittwoch. Zu den bereits bekannten Problemen des Konzerns am Kapitalmarkt und mit der Pfandbrieftochter Depfa kämen nun auch noch neue Unsicherheiten auf die HRE zu: Zum einen würden Zinsen für die stillen Hilfen des Staates in den kommenden Jahren auf den Gewinn drücken; zusätzlich dürften auf den Konzern, der gerade 1000 seiner 1800 Arbeitsplätze streicht, hohe Umbaukosten zukommen. "Bitte die Aktie weiter meiden", lautet die Empfehlung der Analysten - ein schwerer Schlag für den ohnehin schwer gebeutelten Konzern. "Die Frage ist, ob der Konzern jemals wieder auf die Füße kommt", hieß es aus Finanzkreisen. Zwar arbeite der neue HRE-Chef Axel Wieandt an einer Sanierung des Konzerns, bei der unter anderem die Bilanzsumme um die Hälfte gekappt werden soll. Fraglich ist allerdings, ob am Ende eine neue erfolgreiche HRE steht oder ein Institut, dass lediglich geordnet abgewickelt und zerschlagen wird, ohne dabei das Finanzsystem in Mitleidenschaft zu ziehen. "Eigentlich läuft alles darauf hinaus, dass der Konzern geordnet zurückgestutzt wird", sagt ein Banker. Die Frage sei nur, wie lange dies am Ende dauere.

In Finanzkreisen gilt der neueste Garantierahmen von 12 Milliarden Euro daher nur als eine Überbrückung. So lange, bis in Berlin eine endgültige Entscheidung über eine Mehrheitsübernahme durch den Bund getroffen ist. Zurzeit, heißt es aus Bankenkreisen, werde auf allen Seiten verhandelt - vor allem über die Frage, wie mit der Pfandbrief- und Staatsfinanzierungstochter Depfa verfahren werden soll. Die Depfa hatte den Beinahe-Zusammenbruch des Konzerns im vergangenen Jahr ausgelöst und braucht dringend Geld, um langlaufende Kredite gegenzufinanzieren. In Bankenkreisen würde man es daher wohl gerne sehen, wenn die Staatsfinanzierungs- und Pfandbrieftochter Depfa einfach an den Bund weitergereicht werden würde. Gerade dies ist jedoch politisch äußerst umstritten, denn es käme de facto der Gründung einer sogenannten "Bad bank"zum Aufkauf fauler Kredite und riskanter Wertpapiere gleich. Eine weitere Option: Der Staat könnte die Finanzierung der Depfa-Kredite gleich selbst übernehmen. Dies wiederum wäre ohne einen Mehrheitseinstieg bei der HRE aber öffentlich kaum durchsetzbar.

Nur eines ist klar: Es wird weitere Hilfen geben. Finanz- und Parlamentskreisen zufolge wird der Staat mindestens zehn Milliarden Euro an Kapital zur Verfügung stellen und damit voraussichtlich Mehrheitseigentümer bei der HRE werden. Nur wann, in welcher Form und unter welchen Bedingungen das Geld fließt, muss noch geklärt werden. Über die Modalitäten einer Verstaatlichung hält man sich in München bedeckt. Die HRE teilte lediglich mit, die Gespräche über längerfristige Hilfen dauerten an.

HVB Real Estate Bank: Verstaatlichung Folgen der internationalen Finanzkrise SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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