SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

EU hilft Firefox und Co.

Die Hersteller alternativer Internetzugangs-Programme wollen in Brüssel erreichen, dass Microsoft mehrere Browser in Windows integrieren muss

Von Martin Kotynek

Brüssel - Es ist eine scheinbar unendliche Geschichte: Microsoft und die Europäische Union. Eben erst war der letzte Streit beendet, da knöpften sich die europäischen Wettbewerbshüter das Softwareunternehmen Mitte dieses Monats abermals vor. Seitdem fragen sich Brüsseler Spezialisten für europäisches Wettbewerbsrecht, was die EU-Kommission mit dem neuerlichen Verfahren eigentlich bezwecken will. "Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich von dem neuen EU-Verfahren gehört habe", sagt Denis Waelbroeck, Dozent für Wettbewerbsrecht an der Freien Universität Brüssel. "Ich verstehe die Kommission einfach nicht mehr."

Diesmal ist es der Internet Explorer (IE), welcher der EU-Kommission ein Dorn im Auge ist. Microsoft, das sich zu dem Verfahren nicht äußern will, bündelt seinen Browser - also ein Programm, mit dem man Zugang zum Netz erhält - mit seinem Betriebssystem Windows. Dadurch sei der IE auf 90 Prozent aller Rechner weltweit vorinstalliert. "Durch die Bündelung von Internet Explorer und Windows profitiert Microsoft von einem künstlich geschaffenen Vertriebsvorteil", sagt Jonathan Todd, Sprecher von EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes. "Dieser Vorteil scheint den Wettbewerb auszuhöhlen und so den Konsumenten zu schaden, weil die Auswahl für sie eingeschränkt wird." Damit verletze Microsoft EU-Recht, wirft die Kommission dem Unternehmen vor.

Bei Wettbewerbsexperten stößt das auf Unverständnis. "Erst im Dezember hat die EU-Kommission erklärt, dass die Bündelung von Produkten nur dann ein Problem ist, wenn dadurch der Markt für andere Hersteller abgeschottet wird", sagt Waelbroeck. "Der Marktanteil des Internet Explorers sinkt jedoch seit Jahren zugunsten alternativer Programme kontinuierlich."

Tatsächlich fiel der Marktanteil des IE in Europa dem französischen Xiti-Monitor zufolge im Jahr 2008 erstmals unter die 60-Prozent-Marke. Xiti überwacht, welchen Browser die Nutzer beim Surfen auf europäischen Webseiten benutzen. Konkurrenten des IE, wie Firefox (31 Prozent), Opera (5,1 Prozent) und der neue Google-Browser Chrome (1,1 Prozent) holten demnach in Europa auf. In Finnland, Polen und Slowenien nähere sich Firefox bereits der 50-Prozent-Marke. "Es ist bizarr", sagt Damien Geradin, Direktor des Zentrums für Wettbewerbsrecht am belgischen College of Europe. "Die Kommission behauptet, dass Microsoft den Browser-Markt abschottet, während Microsoft auf eben diesem Markt laufend Marktanteile verliert. Wie soll das möglich sein?" Geradin, der auch als Kartellrechts-Anwalt arbeitet, beurteilt das Verfahren daher als "eine Imagekampagne der Kommission, die sich als Konsumentenschützer profilieren" wolle.

Technisch Versierte

Bei der EU-Kommission arbeitet man jedoch mit anderen Zahlen. Angeblich habe man "Beweise, die über das öffentlich bekannte Maß hinausgehen", wie Kommissionssprecher Jonathan Todd der Süddeutschen Zeitung erklärt. "Sie zeigen, dass der Marktanteil des Internet Explorers um mindestens 50 Prozentpunkte höher ist als jener von Firefox." Zudem hätten bisher "großteils nur technisch versierte Konsumenten" den Browser gewechselt, sagt Todd.

Die Hersteller alternativer Browser stimmen dem zu und begrüßen das Verfahren. Es werde "der illegalen Bündelung von Internet Explorer und Windows ein Ende machen und dadurch das Untergraben offener Standards stoppen", sagt Thomas Vinje vom Europäischen Komitee für interoperable Systeme (ECIS), das unter anderem die Interessen von Opera in Brüssel vertritt. Die aktuelle Untersuchung der Kommission geht auf die Beschwerde dieses norwegischen Browser-Herstellers zurück.

Da der IE durch die Bündelung mit Windows beinahe überall verfügbar sei, würden die meisten Anbieter von Internet-Seiten ihre Angebote speziell für den IE programmieren, beschwert man sich bei ECIS. "Dadurch werden diese Webseiten auf Browsern alternativer Hersteller oft nicht korrekt dargestellt und die Konsumenten so dazu gezwungen, den Internet Explorer zu benutzen", sagt Vinje. Diese Praxis schotte das Programm vom Wettbewerb ab und verringere so die Wahlfreiheit für den Konsumenten.

Ein Jahr lang hat die EU-Kommission die Beschwerde geprüft und Beweise gegen Microsoft gesammelt. Nachdem die Wettbewerbshüter Mitte Januar ihre Beschwerdepunkte übermittelt hatten, bleiben dem Softwareunternehmen nun acht Wochen Zeit, um darauf zu antworten. Das Unternehmen muss erklären, wie die Konsumenten durch die Bündelung des Browsers mit Windows ein besseres, kostengünstigeres Produkt erhalten haben. Kann Microsoft diesen Vorteil für die Kunden nachweisen, könnte die Kommission das Verfahren fallen lassen. Sie verbietet marktbeherrschenden Firmen nämlich nicht, am Markt aggressiv zu agieren, solange das zum Wohle der Konsumenten geschieht.

"Microsoft ist jetzt in einer sehr schwierigen Situation", sagt der Kartellrechts-Spezialist Damien Geradin. "Die Bündelung von Programmen hat für das Unternehmen eine hohe strategische Bedeutung." Kann der Konzern die Kommission nicht überzeugen, so bliebe Microsoft nur übrig, einen Vergleich vorzuschlagen, sagt Geradin. "Microsoft könnte theoretisch eine Windows-Version ohne Internet Explorer anbieten." Das musste Microsoft schon beim Streit um das Multimedia-Programm "Windows Media Player" akzeptieren. Die Windows-Version ohne Multimedia-Funktionen war jedoch ein Flop, nur 1800 Exemplare der als "Windows XP N" bezeichneten abgespeckten Version wurden verkauft. "Diese Lösung ist unwahrscheinlich, denn welcher Kunde möchte schon ein Betriebssystem ohne Browser kaufen", sagt Geradin. Noch dazu, wo ohne Browser kein Internet-Zugang möglich sei, wodurch auch keine alternativen Browser aus dem Netz heruntergeladen werden könnten.

"Wir streben an, dass Microsoft auch die Browser alternativer Hersteller in Windows integrieren muss", sagt ECIS-Vertreter Thomas Vinje. Wenn auch die Kommission diese Position im Zuge des Verfahrens einnimmt, liefe es wohl auf einen Gerichtsprozess hinaus, sind sich Experten einig: Microsoft würde diese Lösung nicht akzeptieren und müsste vor dem EU-Gerichtshof in Luxemburg dagegen klagen.

Vorteil für Google

Unklar ist auch, ob die Konsumenten von dem Verfahren überhaupt profitieren. "Die Verbraucher haben schon heute jederzeit Zugang zu anderen Browsern", sagt der Brüsseler Anwalt Waelbroeck. "Mit ihrem Verfahren nützt die Kommission eher Google und den anderen als den Konsumenten." Der Suchmaschinen-Anbieter drängt seit kurzem mit dem eigenen Browser Chrome auf den Markt. Mit einer Entscheidung der EU-Kommission wird frühestens im Oktober dieses Jahres gerechnet.

Der Softwarekonzern Microsoft hat wieder einmal Ärger mit der Europäischen Kommission - diesmal geht es um den Internet Explorer. Foto: AFP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hoffnung für eine geprügelte Anlage

Zwangsverkäufe durch Hedgefonds führten bei Wandelanleihen zu hohen Verlusten. Nun bieten sich Investoren Chancen

Von Markus Zydra

Frankfurt - Die jüngste Geschichte lehrt, dass ein von Hedgefonds kontrollierter Markt wenig Vertrauen verdient. So sind die Preise für Wandelanleihen im vergangenen Jahr völlig eingebrochen, weil Hedgefonds rund 75 Prozent der auch Convertibles genannten Wertpapiere handelten. Denn im Zuge der Finanzkrise mussten viele Fonds die meist auf Pump finanzierten Anleihen zwangsweise verkaufen, weil die Banken den Kredithahn zugedreht hatten. Die Folge waren rapide Kursverluste. Selbst die besten Publikumsfonds büßten ihre Profite der letzten Jahre vollständig ein (siehe Tabelle). "Zeitweise waren die Anleihenpreise stärker gefallen als die Aktien desselben Unternehmens, was eigentlich nicht passieren darf", sagt Bert Flossbach, Partner der Kölner Vermögensverwaltung Flossbach & von Storch. Schließlich seien bei Finanzproblemen eines Konzerns zunächst die Aktionäre betroffen, dann nachrangige Gläubiger und schließlich erst die Zeichner von Wandelanleihen.

Investoren wie Flossbach sammeln nun die besten dieser Wertpapiere für ihre Fonds wieder ein. Die Renditechancen sind bemerkenswert. "Ein Beispiel ist die Wandelanleihe von Heideldruck. Das Papier wirft rund 32 Prozent Rendite auf ein Jahr ab", sagt Flossbach. Der Grund für den schnellen Euro: Wandelanleihen müssen selten bis zur Endfälligkeit gehalten werden - Investoren haben meist eine Verkaufsoption. Bei Heideldruck kann diese Option im Februar 2010 ausgeübt werden. "Wir können die Anleihe fällig stellen, und Heideldruck muss uns dann auszahlen", sagt Flossbach.

Was jedoch bleibt, ist das gerade in dieser Wirtschaftslage nicht zu unterschätzende Ausfallrisiko der einzelnen Anleihe, das auch Grund für die hohe Rendite ist. Deshalb werden in den Fonds viele Wandelanleihen verschiedener Emittenten gemischt. Investments in Wandelanleihen sind generell nur über Fonds sinnvoll, da die minimale Stückelung der Einzelpapiere oft zwischen 50 000 Euro und 100 000 Euro liegt.

Wandelanleihen sind eine Kombination aus einer Unternehmensanleihe und dem Recht, die Obligation während der Laufzeit in Aktien zu umwandeln. Anleger wandeln nur dann um, wenn der Aktienkurs innerhalb der Wandlungsfrist entsprechend hoch ist. Das Unternehmen hat dann den Vorteil, die Anleihe in Aktien statt in Bargeld begleichen zu können. Diese Kombination aus Anleihe und Aktie ändert ständig ihren Charakter, je nach Zinsniveau, Aktienkurs, Schuldnerbonität und den Kursschwankungen (Volatilität). "Wenn der Aktienkurs fällt, verliert auch die Wandelanleihe an Wert", sagt Ulf Becker, Partner der unabhängigen Vermögensverwaltung Lupus Alpha. "Denn damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Investor das Wandlungsrecht in der Frist ausübt und damit der potenzielle Mehrwert gegenüber dem Anleihezins." Preisbestimmend für die Wandelanleihe ist auch die Bonität des Emittenten. Je schlechter die ausfällt, desto niedriger notiert das Wertpapier. Viele Investoren isolieren deshalb beide Risiken, indem sie eine Kreditausfallversicherung (CDS) zeichnen und die Aktie auf Termin verkaufen.

Diese verhältnismäßig hohe Komplexität der Produkte macht Wandelanleihen zu einem Spezialmarkt, der - gerade jetzt - wenig liquide ist. Das Emissionsvolumen von Wandelanleihen erreichte 2007 laut der Londoner Fondsgesellschaft F&C Management mit rund 200 Milliarden Dollar ein Rekordhoch. Emittiert wurden Wandelanleihen vor allem in den USA von Banken und Immobilienunternehmen, Sparten also, die im Zentrum der Finanzkrise stehen.

In den letzten Jahren sind viele Neuemissionen auch an Hedgefonds verkauft worden, die zum Beispiel im Rahmen von Arbitrage-Strategien Preisungleichgewichte zwischen Wandelanleihen und Aktien genutzt haben. "Arbitragegeschäfte wurden gemacht, weil die Wandelanleihe nach Isolierung der Einzelrisiken zu günstig war", sagt Becker. Doch das sei nur am Anfang gelungen. "Als immer mehr Akteure in den Markt kamen, wurden diese Ineffizienzen immer kleiner. Also musste man entweder mehr auf Kredit spekulieren, dass es sich lohnt, oder die Aktien und Kreditrisiken offen lassen", so Becker. Diese erhöhte Risikobereitschaft der Hedgefonds brachte den Markt schließlich in diese Turbulenzen, die zu Verlusten von 30 Prozent und mehr führten.

Nun herrscht Optimismus für eine gebeutelte Anlageklasse mitten in der Krise. "Die Durchschnittsrendite unserer Anleihen beträgt rund 13 Prozent", so Flossbach. "Selbst wenn fünf Prozent der Anleihen ausfallen, ergibt sich immer noch eine ordentliche Rendite."

Quelle: Morningstar

Die besten Wandelanleihe-Fonds (in Euro)
NameISINFondsgesellschaftRendite auf 5 Jahre (in %)
LODH Invest Convertible BondLU0159201655Lombard Odier Darier Hentsch & Cie1,01
MAT Euro Plus IncDE0008484098Maintrust KAG0,91
H.A.M. Global Convertible Bd FdLI0010404585IFM Independent Fund Management AG0,87
Nordinvest Nordcumula AccDE0008484957Pioneer Investments KAG mbh0,47
Deka-Wandelanleihen CF IncLU0158528447Deka International S.A.0,37
LiLux Convert AccLU0069514817LRI Invest S.A.0,31
Jefferies Europe Convertible BondsLU0114352973Jefferies Umbrella Fund-0,02
cominvest Wandelanleihenfonds IncDE0006372527cominvest-0,09
Warburg Oswa-Fonds AccDE0008488834Warburg Invest-0,28
CAAM Funds European ConvertibleLU0119108826Crédit Agricole-0,35
E. Rothschild Europ Conv Bds A AccLU0112675722Edmond de Rothschild Asset Managem.-0,35
CS BF (Lux) Convert Europe B AccLU0125128057Credit Suisse-0,40
RMF Convertibles Europe AccLU0114314536RMF Investment Management-1,47
Bayern LB Convertible Bond AL IncLU0153288435BayernInvest Luxembourg S.A.-1,48
JPM Global Convertibles (EUR) A EURLU0129412341JPMorgan Asset Mgt (Europe) S.à r.l.-1,59
FvS Wandelanleihen Global F AccLU0097335235Wallberg Invest S.A.-1,64
Parvest European Convertible Bond LU0086913042BNP Paribas-1,81

Wandelanleihe

Eine Wandelanleihe ist zunächst eine ganz normale Unternehmensanleihe: Der Anleger erhält für sein Geld einen festen Zinssatz (Kupon) und hat den Anspruch auf Rückzahlung des eingesetzten Kapitals bei Fälligkeit.

Zusätzlich beinhaltet die Wandelanleihe (im Englischen Convertible Bond genannt) das Recht, die Anleihe in die zugrundeliegenden Aktien zu genau definierten Bedingungen zu tauschen, also zu "wandeln". Das lohnt sich allerdings nur dann, wenn der Aktienkurs entsprechend hoch notiert und mehr abwirft als die Anleihe plus Kupon. Als Ausgleich für dieses Recht ist der feste Zins während der Laufzeit geringer als bei konventionellen Anleihen. zyd

Mitarbeiter in einem Werk von Heidelberger Druckmaschinen: Die Wandelanleihe des Unternehmens wirft auf ein Jahr rund 32 Prozent Rendite ab. Foto: dpa

Hedge-Fonds in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Preis der Putenbrust

Wenn wie in Ostwestfalen ein Landwirt erwischt wird, der die Regeln ökologischer Tierzucht verletzt ("Zweifelhafte Haltung", 23. Januar), ist das ärgerlich - auch weil damit sofort und mit Freude eine ganze Branche in Verruf gerät. Doch die konventionelle und die ökologische Tierhaltung unterscheidet weit mehr als nur das Futter.

Bei konventioneller Tierzucht werden die Puten, um das begehrte Brustfleisch zu erhalten, derart "brustbetont" gezüchtet, dass sie allen ethischen Bedenken zum Trotz so eng stehen müssen, dass sie gar nicht umfallen, also nach vorne kippen, können. Ferner werden sie der schnelleren Schlachtreife wegen mit allerlei Medikamenten traktiert, was in der ökologischen Tierzucht verboten ist. Diese schreibt artgerechte Haltung vor, was bedeutet, dass die Tiere genügend Platz haben und nicht dem Dauerstress ausgesetzt sind, gegen den wieder mit Medikamenten vorgegangen wird.

Natürlich zahlt man auf der Wiesn nicht 15 Euro für ein halbes Hendl nur wegen anderen Futters (besagter Landwirt beliefert auch das Oktoberfest mit Bio-Hendl). Es ist vielmehr ein Prinzip des Öko-Landbaus, nur so viel Tiere zu halten, wie man aus eigenem Anbau oder mit biologisch angebautem Futter ernähren kann. Das soll sicherstellen, dass die Tiere keine minderwertige oder verfälschte Nahrung erhalten. Denn was ein Schlachttier im Laufe seines Lebens zu fressen oder gespritzt bekommt, verleibt sich der Mensch dadurch auch ein.

Annette Knote

München

Nur wenn diese Puten eng aneinander gepfercht im Stall stehen, fallen sie mit ihren Turbobrüsten nicht um. Artgerechte Tierhaltung ist das nicht. Foto: Ingo Wandmacher

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

KORREKTUREN

Auf der Literaturseite vom 23. Januar erhielt eine Dichterin einen falschen Vornamen: Die Verfasserin des Gedichtbands "Worte - Parole" heißt nicht Laura, sondern Antonia Pozzi.

Im Profil von Uli Edel (23. Januar, Seite 4) stand, dass der Film "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" 1989 in die Kinos kam. Tatsächlich geschah das bereits 1981. 1989 erfolgte der Start von Uli Edels Film "Last Exit to Brooklyn".

Im Kommentar "Washingtoner Realsozialismus" (26. Januar, Seite 4) wurde in der Reihe der Banken, sich "in Pleitezeiten die Verluste vom Steuerzahler bezahlen lassen", auch die Deutsche Bank genannt. Das ist falsch. Die Deutsche Bank hat die Rettungsmittel des Staates bisher nicht in Anspruch genommen und will dies erklärtermaßen auch nicht tun. Für eine entsprechende interne Äußerung ("Ich würde mich schämen, wenn ....") war Ackermann sogar heftig kritisiert worden.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Mein Kampf"

auf den Lehrplan

Die Haltung des Freistaats fügt sich ohne fühlbare Kanten in eine verschämte Tradition des Begrabens und Verdrängens ("Tanz der Teufel", 26. Januar). Dabei könnte man gerade in München den gesellschaftlichen Nährboden der ersten virulenten Phase des Nationalsozialismus mit großem Gewinn studieren - etwa an der Rolle des kultivierten Ernst Franz Sedgwick Hanfstaengl. Der jetzt erregt diskutierte Presse-Nachdruck vermittelt eine viel greifbarere Atmosphäre als Lehrbücher und Wissenschaftler es könnten. Und der Nachdruck kann viele junge Menschen lebhaft gegen die schiefen Töne wappnen, zu denen bisweilen selbst eine Staatsregierung fähig ist: In einer bayrisch-amtlichen Dokumentation zum Obersalzberg las ich vor vielen Jahren eine höchst irritierende Interpretation zu den Ursachen des Holocaust: Lagerkommandanten hätten wegen unhaltbarer Zustände vom Reichssicherheitshauptamt aktiv eine radikale Lösung gefordert - der Massenmord quasi ein logistisch-technokratischer Betriebsunfall.

Gesetzlichkeiten eines mutwillig eskalierten Krieges mögen bei vielen massiven Inhumanitäten eine mitursächliche Rolle gespielt haben, bei den Millionen Hungertoten Russlands, bei den Flächenbombardements und auch beim Einsatz der Atombomben. Aber nur wer die Schriften der nationalsozialistischen Akteure und ihrer Helfer gelesen hat, weiß wirklich, dass die damaligen Eliten wollten, planten und wussten, was geschieht. Mit einem Wort: Er weiß, wer die mörderische Verantwortung trug. Dafür könnte und sollte der Freistaat "Mein Kampf" ganz unbesorgt auch auf den Lehrplan weiterführender Schulen setzen.

Dr. Karl Ulrich Voss

Burscheid

Die Halbleiterindustrie

braucht Hilfe

Deutschlands Halbleiterindustrie ist - anders als im Kommentar "Tragödie Quimonda" (24. Januar) ausgeführt - der asiatischen Konkurrenz technologisch durchaus ebenbürtig. Kernproblem ist, dass der Wettbewerb zwischen den fernöstlichen Staaten und Europa/USA nicht nach den Regeln westlicher Vorstellungen von Marktwirtschaft abläuft. Auch bei den Speicherchips haben asiatische Unternehmen, die von ihren Regierungen mit strategischer Zielsetzung massiv unterstützt werden, die Aufgabe, sich gegen die überwiegend privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen im europäisch-amerikanischen Umfeld durchzusetzen: Im Kern konkurrieren Staaten gegen Privatunternehmen. Diesen Wettstreit können Firmen auch bei bestem Management nicht gewinnen, erst recht nicht, wenn Managementfehler hinzukommen.

Leider nimmt das Bundeswirtschaftsministerium bei der Technologieförderung eine überwiegend bremsende Position ein. Es versteht sich als Hüter ordoliberaler Marktwirtschaft und hat trotz der bitteren Erfahrungen in den siebziger Jahren noch nicht begriffen, dass wir uns in einem weltweiten Wirtschaftskrieg zwischen Fernost und dem Westen befinden. Damals wurde durch eine vom japanischen Ministry for International Trade and Industry (MITI) entwickelte und umgesetzte Strategie die seinerzeit weltweit führende deutsche Fotoindustrie aus dem Markt gedrängt mit der Folge, dass bis heute die führenden Hersteller von Digitalkameras japanische Unternehmen sind.

Es kann also nicht richtig sein, auf der einen Seite den Bankensektor wegen "systemischer Risiken" mit Milliardensummen zu stützen, während man auf der anderen Seite ebenfalls systemische Entwicklungen trotz vergleichsweise geringen finanziellen Fehlbedarfs untergehen lässt. Der Westen und das bedeutet hier konkret Bundesregierung und EU-Kommission sollte sich daher endlich darüber klar werden, auf welchen Technologiegebieten vollständige Abhängigkeit von fernöstlichen Herstellern tolerierbar ist und auf welchen nicht. Das gilt besonders angesichts der Finanzkrise, in der privatwirtschaftliches Überleben ohnehin schwierig geworden ist.

Dr.-Ing. Eike Schwarz

Bonn

Eine Sprachstudie

mit Tücken

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Autoren der Heidelberger EVAS-Studie ihre Ergebnisse veröffentlichen ("Deutschkurse ohne Nutzen", 19. Januar) und dabei verschweigen, dass sie Testverfahren eingesetzt haben, die nicht für den Zweitspracherwerb konzipiert sind, sondern für die Diagnose von Spracherwerbsstörungen bei Kindern mit deutscher Muttersprache. Schließlich ist der Zweitspracherwerb keine Sprachstörung, er folgt eigenen Mustern und ist nicht nach ein bis zwei Jahren abgeschlossen. In der Langzeitstudie steckt demnach ein Denkfehler, wenn davon ausgegangen wird, dass spezifische Förderung innerhalb so kurzer Zeit die Kinder auf einen sprachlichen Gleichstand mit Kindern deutscher Muttersprache bringen kann. Man hätte allenfalls evaluieren können, wie der Sprachstand der Kinder zu Beginn und am Ende der jeweiligen Projekte war, um zunächst die individuellen Entwicklungszuwächse festzustellen und dann die Ergebnisse der verschiedenen Projekte miteinander zu vergleichen und zwar im Hinblick auf Vergleichbares: Konjugation, Artikel, Zeiten und Fälle, immer berücksichtigend, was denn innerhalb eines bestimmten Zeitablaufs überhaupt möglich ist.

Emma Welch-Sing

Denkendorf

Deutsch auch für

Migrantenkinder

Der Artikel über die Heidelberger Studie ist eine Missachtung gegenüber Kindern und Erzieherinnen. Unser Kindergarten nimmt seit Beginn an den Sprachfördermaßnahmen der Landesstiftung Baden-Württemberg teil. Zwischen 70 und 80 Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund, fast alle kommen ohne Deutschkenntnisse zu uns. Durch die Sprachfördermittel konnten nicht nur Erzieherinnen geschult, sondern viel Material zur gezielten Sprachförderung wie Spiele und Bilderbücher angeschafft und ein Sprachzimmer ausgestattet werden. Die Kinder, die an der Sprachförderung teilnehmen, bekommen 120 Sprachförderstunden im Jahr,  alle anderen dürfen auch mit ins Sprachzimmer. Täglich gibt es hier Ruhe und Zeit für kleine Kindergruppen. Eine pädagogisch gut vorbereitete Erzieherin kann auf die Kinder und deren Sprachkenntnisse eingehen und mit ihnen Neues erlernen. Unsere Arbeit lohnt sich, die Kinder besitzen schon ein Jahr vor der Einschulung einen guten deutschen Wortschatz.

Gudrun Pfau-Schulten

Singen

Die Regeln

der Tiefseeschürfung

Von Wildwest-Methoden der Industriestaaten ist in "Goldrausch in der Tiefsee" (23. Januar) die Rede. Das ist schlichtweg falsch. Ebenso irreführend ist es, dass Deutschland Schürfrechte für Manganknollen besitzt. Korrekt wäre es, von Erkundung zu sprechen. Alle Lizenznehmer führen Erkundungsarbeiten durch (die sich übrigens nicht von klassischer Tiefseeforschung unterscheiden); auch Indien, China oder Korea, die wohl kaum zu den klassischen Industriestaaten zählen. Die Erkundungsarbeiten dienen überhaupt erst dazu, ein Urteil zu erstellen, ob, wo und wie ein Abbau in der Zukunft verantwortbar durchgeführt werden könnte. Da die Lizenzen von einer Einrichtung der Vereinten Nationen vergeben werden, sind Regeln zu beachten. Als erstes die Seerechtkonvention, dazu ein Regelwerk speziell für den Rohstofftyp Manganknollen mit umfangreichen Umweltauflagen. Was die Ölexploration an Kontinenträndern angeht, so liegen diese Gebiete in den exklusiven Wirtschaftszonen der Anrainerländer, die Regeln und Gesetze erstellen. So sind etwa Explorationsarbeiten in der deutschen Nordsee von vielerlei gesetzlichen Auflagen und Kontrollen betroffen - es handelt sich um alles andere als einen regelfreien Raum.

Dr. Michael Wiedicke

Hannover

Fisch ja,

Pangasius nein

Vermeintlich einfache Lösungen sind nur selten richtig - das trifft auch für den WWF-Einkaufsführer über Fisch zu ("Totes Meer", 22. Januar). Frau Schacht von WWF lebt von der Katastrophe, die Fischer dagegen leben von ihrem Fang oder ihrer Produktion und wollen das auch in Zukunft tun, so dass sie sehr an der Bewältigung der durchaus bestehenden Probleme interessiert sind. Gerade der weitere Ausbau der Aquakultur ist nach Ansicht der Mehrheit der Fachleute ein aussichtsreicher Weg zur nachhaltigen Versorgung der Bevölkerung mit Fisch. Ausgerechnet der von WWF gelobte Pangasius aus Vietnam ist jedoch - auch nach Meinung des Verbands der Deutschen Binnenfischerei - bedenklich. In Vietnam werden schon mehr als eine Million Tonnen des asiatischen Welses unter höchst fragwürdigen haltungstechnischen und hygienischen Bedingungen produziert. Nicht umsonst haben die USA und neuerdings sogar Russland ihre Grenzen für dieses Produkt geschlossen.

Dr. Christian Proske

Brandenburg

Die Menschheit

kann nicht mit Holz heizen

Bundesumweltminister Sigmar Gabriel behauptet in "Atomenergie ist eine Sackgasse" (24. Januar), erneuerbare Energien wie Wind, Sonne, Biomasse, Erdwärme und Wasserkraft könnten den wachsenden Energiebedarf einer auf über neun Milliarden Menschen angewachsenen Weltbevölkerung decken. Der Mann behauptet auch, "in erneuerbaren Brennstoffen wie Holzpellets liegt die Zukunft". Ob er wohl auch schon realisiert hat, dass für eine solche Zukunft sämtliche Wälder der Welt abgeholzt werden müssten?

Es ist keine Frage, dass es geographische Besonderheiten gibt, bei denen erneuerbare Energien nicht nur wirtschaftlich sind, sondern auch großenteils den Energiebedarf der Region decken können. Bekanntestes Beispiel dafür ist der Inselstaat Island, der Strom und Wärme fast ausschließlich mit Hilfe von Erdwärme produziert. Doch global gesehen bleibt gar kein anderer realistischer Weg zur langfristigen Deckung des wachsenden Energiebedarfs der Menschheit als durch konventionelle Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas, sowie eben auch der Kernenergie, jeweils unter Einsatz fortschrittlicher Technologien.

Claus Kolankowski

Mondsee, Österreich

Auf ins

Spielcasino

Wenn Frau Schaeffler jetzt tatsächlich Staatshilfe für ihr Hasard-Spiel mit Conti bekommt ("Auch Schaeffler will Staatshilfen", 26. Januar), fahre ich am nächsten Tag ins Casino von Bad Wiessee und setze mein Jahreseinkommen auf Rot. Wenn Schwarz kommt, beantrage ich Staatshilfe.

Jürgen Bardens

München

Bei richtiger Förderung lernen Migrantenkinder schnell Deutsch. Herzau/laif

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

ANTWORTEN AUF DIE FRAGE DER WOCHE

"Soll Deutschland die nachweislich unschuldigen Häftlinge aus dem US-Lager Guantanamo aufnehmen?", lautete die

Frage der Woche. So gespalten wie die Bundesregierung in dieser Angelegenheit ist, sind es auch unsere Leser. Hier einige Antworten:

PRO

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat wohl nicht umsonst seine Bereitschaft erklärt, freigelassenen Guantanamo-Häftlingen Asyl zu gewähren. Er war es schließlich auch, der den unschuldigen Murat Kurnatz in Guantanamo fünf lange Jahre hat schmoren lassen, obwohl von amerikanischer Seite schon kurz nach seiner Festnahme die Bitte kam, Herrn Kurnatz hier aufzunehmen. Es ist beschämend für unser Land, die Aufnahme überhaupt in Frage zu stellen. Mir fällt das christliche Gleichnis ein, dass es besser ist, 100 Schuldige freizulassen, als einen Unschuldigen einzusperren. Michael Mohr, Köln

Bush ist endlich weg, und der neue

Präsident will mit der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten - dann sollte man dies auch tun. Die Auflösung von Guantanamo wäre eine erste solche Aktion, die man gemeinsam betreiben könnte, ein Zeichen für Kooperation. Was hat der neue Präsident von all den Sympathiekundgebungen, wenn man nicht einmal bereit ist, ihn bei

diesem unbestreitbar positiven Vorhaben zu unterstützen? Dr. Ulla Schacht, Bremen

Wo bleibt die Humanität, das hohe "C" unserer christlichen Politiker? Jahrelang wurden hier zu Lande verbale Empörungen über die unmenschlichen Verhältnisse in Guantanamo abgesondert. Jetzt werden wir wieder einmal von einer immer mehr um sich greifenden Kleingeisterei eingeholt. Gestern noch euphorisch bei der Einführung des Präsidenten und voller Erwartungshaltungen an den schwarzen Messias, wollen wir uns heute in unser Wolkenkuckucksheim zurückziehen. Amerika soll zwar wieder - auch moralisch - führen und uns alle dabei mitnehmen. Mitwirken? Fehlanzeige!

Hans-Jürgen Schulz, Fürstenfeldbruck

CONTRA

Wer von den Häftlingen nach allen Erkenntnissen unschuldig ist, sollte auch in den USA bleiben können, denn schließlich haben ihn die Amerikaner dorthin verfrachtet. Wer aber nach gründlichen Recherchen nach wie vor als Sicherheitsrisiko gilt, der hat auch in Deutschland nichts zu suchen. Wir sollten nicht nach dem abgewandelten Motto verfahren: Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Terroristen selber.

Bruno Mellinger, Prien am Chiemsee

Worin liegt das  Problem für ein Einwanderungsland USA , nachweislich unschuldig Inhaftierte im eigenen Lande anzusiedeln? Der Rest der Welt hat die nächsten Jahre genug damit zu tun, die USA  unfreiwillig bei der Entsorgung ihrer faulen Immobilienkredite zu unterstützen. Die  Folgen der Rüpelpolitik Bushs zu beseitigen ist Sache der Amerikaner, für uns Europäer gibt es bessere Gelegenheiten, Solidarität mit den USA zu zeigen.

Heinz Bittl, Feldkirchen-Westerham

Manche dieser Häftlinge sind durch die langjährige Haft unter unmenschlichen Bedingungen möglicherweise gefährlich geworden. Wenn Unschuldige so lange in einem Gefängnis festgehalten worden sind, das man nur als "Hölle auf Erden" bezeichnen kann, wäre es doch verständlich, dass sie diejenigen hassen, die ihnen diese Qualen verursacht haben. Wir sind weder rechtlich noch moralisch verpflichtet, den Amerikanern zu helfen, dieses Problem loszuwerden. Zumal durch die Aufnahme dieser Häftlinge wahrscheinlich unser Verhältnis zu ihren Heimatländern, in denen ihnen Strafverfolgung droht, erheblich belastet würde - etwa mit China bei einer Aufnahme der Uiguren.

Wolfgang Pfeifer, Waldfeucht

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Auf die Palme gebracht

Im Münchner Bürogebäude Aviva gelten die Prinzipien des Feng Shui

Palmen, Wassergeplätscher und ein großer Park begrüßen den Besucher im Foyer von BSH Bosch Siemens Hausgeräte in der Carl-Wery-Straße in München-Neuperlach. In der weiten Halle beeindruckt zunächst das großzügige Raumkonzept. Eine überdachte Landschaft dient als Klimapuffer zwischen dem Außenbereich und den angrenzenden Büros. Vier Aufzüge transportieren die Mitarbeiter in die oberen Etagen. Casino, Cafeteria sowie Konferenzräume befinden sich im Erdgeschoss. Das 2003 fertiggestellte Gebäude "Aviva Munich" wurde vom Münchner Architekten Axel Altenberend, DMP-Architekten, geplant. Im Laufe der Konzeptentwicklung hatte sich der Bauherr Accumulata dazu entschlossen, die Prinzipien des Feng Shui zu integrieren.

Gemeinsam mit dem chinesischen Feng-Shui-Berater Professor Jes T.Y. Lim erarbeitete Altenberend ein Konzept. "Die Wasserläufe im Haus haben wir als Sicherheitsschranken funktionalisiert, ohne dabei der Feng-Shui-Lehre zu widersprechen. Niemand kommt unerlaubterweise trockenen Fußes ins Gebäude", sagt Altenberend. Die drei Gebäude verfügen über eine Bürogesamtfläche von etwa 56 000 Quadratmetern; zusammen mit BSH zog die sd&m AG als weiterer Großmieter ein.

Nach der Lehre des Feng Shui sollten Bauwerke harmonisch angelegt sein, damit sich die dort arbeitenden Menschen so wohl wie möglich fühlen. Spitze Winkel sind tabu, alle Außenkanten an den Gebäuden abgerundet, damit die Lebensenergie "Chi" frei zirkulieren kann, so die Theorie. So lassen sich beispielsweise die Carl-Wery-Straße sowie die daneben verlaufenden S-und U-Bahntrassen im übertragenen Sinn als Energiequelle nutzen. In der Feng-Shui-Theorie stellen sie symbolisch einen gewaltigen Fluss dar; dessen Energie wird demnach ins Aviva-Areal gelenkt, die negative elektrische Strahlung dagegen abgeschirmt. Die Pflastersteine der Zugangswege wurden im Fischgrätmuster auf die Gebäudeeingänge zulaufend verlegt. Über die großen Eingangshallen soll sich diese eingefangene Energie im Gebäude verteilen.

Mit dem Aviva Gebäude hat sich Accumulata erstmals mit der fernöstlichen Bauphilosophie beschäftigt. Inzwischen setzt das Unternehmen in allen seinen Folgeprojekten auf diese Lehre. Mit einem ausgeklügelten Farbkonzept in Gelb, Orange und Blau sowie unterschiedlich gestrichenen Flur- und Bürowänden setzt sich das Konzept im Gebäudeinneren fort. Selbst die Tische im Casino sind an den Kanten abgerundet. Schwarze und rote Arne-Jacobsen-Stühle, Modell 3107, die als Stilelement schon über abgerundete Ecken verfügen, ergänzen das Mobiliar. Mit 320 Sitzplätzen und etwa 1400 verkauften Essen pro Tag scheint das Raumkonzept zusammen mit dem guten Catering-Service zu funktionieren.

Angepasstes Konzept

In den Büros wurde bisher weitgehend auf Wireless-Lan-Anschlüsse verzichtet. Doch in den Konferenzräumen führt kein Weg daran vorbei. "Das ist eine vom Geschäft getriebene Anforderung, der wir uns nicht verschließen können", meint Günther Knöckel, verantwortlich für die Betriebsleitung der BSH am Standort München - auch, wenn das nach den fernöstlichen Lehren ungünstig für die dort Arbeitenden sein mag.

Feng-Shui-Berater Wasili Pantazoglou, der Accumulata bei neuen Bauprojekt berät, weiß, dass das fernöstliche Konzept an die jeweiligen Anforderungen von Bauherrn und Mietern angepasst werden muss. Er würde sich nach den Idealmaßen des Feng Shui zugeschnittene Schreibtische und Mobiliar für die Büros wünschen. BSH-Mann Knöckel räumt ein, dass in dieser Frage der Pragmatismus siege, denn man könne keine maßgefertigten Büromöbel für mehr als 1530 Mitarbeiter anschaffen.

Dagegen sind die Theorien in den Büros und den dort geplanten Arbeitsplätzen soweit wie möglich umgesetzt. Fenster sollten nicht direkt gegenüber einer Zimmertür liegen. Lässt sich dieser Grundriss nicht vermeiden, schirmt beispielsweise ein Sideboard vor den Schreibtischen den direkten Weg zum Fenster ab. Doch selbst das beste Konzept kann schon durch eine zwei Meter hohe Yuccapalme empfindlich gestört werden. Die spitzen Blätter der Pflanze zielen in Richtung eines Schreibtischs. Und auch ein Rollcontainer stört den positiven Energiefluss. "Dieser Mitarbeiter sitzt gefährlich; die Yucca-Palme direkt neben sich, die Fensterfront auf der anderen Seite, das ist nicht gut", meint Pantazoglou besorgt. Ingrid Weidner

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Eine Frage der Haftung

Wer streicht, muss Wände vor allem gut vorbereiten

Die Farbe ist hochwertig, das Malwerkzeug professionell - und manchmal ist die frisch gestrichene Wand trotzdem alles andere als ein Meisterwerk geworden. Wer die eigenen vier Wände selbst streichen will, muss einiges beachten. Vorarbeiten müssen sein, auch wenn viele Heimwerker sie als lästiges Beiwerk betrachten. Selbst die teuren, neu entwickelten Farben verlangen nach einer guten Vorbereitung.

Viel Zeit für die Pflicht

"Damit die Farbe optimal haftet und der Anstrich sauber und fachgerecht wirkt, muss der Untergrund plan, sauber und haftfähig sein", sagt Ludger Küper, Direktor des Paint Quality Institute in Frankfurt. Heimwerker sollten für das Abwaschen, Abschleifen, Grundieren und Ausbessern daher reichlich Zeit einplanen. "Das Streichen der Wände ist dann meist nur noch die Kür." Bevor Innenwände einen Neuanstrich erhalten, muss zunächst geprüft werden, ob der Altanstrich noch ausreichend Haftung bietet. "Einen ersten Eindruck vermittelt die Sichtprüfung", sagt Friedhelm Müller, Kursleiter an der DIY-Academy in Köln. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass zunächst die alte Farbe entfernt werden müsse, seien Stellen, an denen sich der Anstrich bereits löse oder Blasen werfe. Aufschluss über die Haftungseigenschaften alter Farbe ergibt auch die sogenannte Abreißprüfung: Hier wird mit einem Klebeband durch ruckartiges Abziehen festgestellt, ob die Farbe noch fest auf dem Untergrund sitzt.

"Bleiben Teile der Farbe am Klebeband hängen, muss der Altanstrich komplett entfernt werden", erläutert Küper. Abschleifen, möglichst mit einer Maschine, sei hier die beste Lösung. "Abschließend ist eine Vorbehandlung der Putzoberfläche mit Tiefengrund zu empfehlen, damit der Untergrund nicht zu sehr saugt und dadurch ein wolkiger Anstrich entsteht." Ein problematischer Untergrund sind laut der Stiftung Warentest auch alte Kalkanstriche - zumindest, wenn die Wand mit Dispersionsfarbe gestrichen werden soll. Erkennen lasse sich Kalkfarbe durch festes Reiben mit dem Daumen auf der Oberfläche. Wird der Daumen weiß, sollte die vorhandene Farbe mit Wasser und Wurzelbürste gründlich abgebürstet werden. Anschließend sei eine Vorbehandlung der Putzoberfläche mit Tiefengrund zu empfehlen. Erst dann sei auch ein Dispersionsanstrich auf einem Kalkuntergrund möglich.

"Ein intakter Altanstrich muss auf Verschmutzungen, Nikotin, Wasserflecken, Ruß und Fett untersucht werden", erläutert Küper. Heimwerker sollten hier besonders auf Fettrückstände auf der Wand achten. Denn diese müssten gründlich entfernt werden, weil sonst die Farbe nicht halte. Am besten helfe hier das Reinigen mit einem einfachen Geschirrspülmittel. "Schäden durch Wasser und Nikotin dürfen nicht einfach übergestrichen werden", erklärt Müller. Solche Schadstellen müssten zuerst immer mit speziellen Isoliersperrgründen gestrichen werden. Nur nach einer solchen Vorbehandlung lassen sich die Wände wie gewohnt malen.

Wenn Farbe direkt auf Putz kommen soll, darf dieser nicht mürbe sein. Guten Aufschluss über die Haftfähigkeit bietet eine Kratzprobe mit einer Messerspitze oder einer Schraubenzieherklinge. Ist der Putz noch gut, zeigt der Kratztest nur oberflächliche Kratzer. Ein mürber Putz lässt sich dagegen tief einkerben, wobei sich Kalk- und Sandbestandteile lösen. Ein Klopftest mit dem Fingerknöchel gibt laut der Stiftung Warentest Aufschluss darüber, ob sich Teile des Putzes vom Untergrund gelöst haben. Lose Partien müssen abgeschlagen und erneuert werden. Intakte Putze sollten vor dem Streichen möglichst grundiert werden. So sei gewährleistet, dass die Farbe gut haften kann.

Ist die Wand gut vorbereitet, hängt das weitere Ergebnis nicht nur von den Fähigkeiten der Maler, sondern vor allem von der Qualität der Farbe ab. Produkte mit der Deckkraftklasse eins haben die größte Deckkraft - in vielen Fällen reicht dann einmal Streichen aus. Die Nassabriebbeständigkeit gibt Hinweise darauf, wie sehr sich die Farbe abwischen und säubern lässt. Hier sorgt die Klasse eins für eine vergleichsweise pflegeleichte Wand. Stephanie Hoenig/dpa

Die zwei Maler in der Installation des Künstlers Nedko Solakov streichen den Raum rundherum in Weiß und Schwarz. Das Motiv soll eine moderne Interpretation des Sisyphos-Mythos sein. Damit Heimwerkern eine lange Arbeit erspart bleibt, müssen sie vor dem Malern eventuell erst den Altanstrich abschleifen. Foto: ddp

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Einstein rät zum Gattenmord

Irene Dische schreibt einen Roman, der ratlos macht

Benedikt Waller führt eine ziemlich selbstbezogene Existenz. Als brillanter theoretischer Physiker jagt er den Solitronen nach, die bei Zusammenstößen keinerlei Reaktion erkennen lassen; das sind seine Lieblinge im Teilchenzoo. Andere Menschen braucht er nicht, nur seine Schwester Dolly hat ein Auge auf ihn, besucht ihn zweimal im Jahr und versucht ihn zu menschlicher Normalität zu bekehren, indem sie ihm zu Weihnachten einen Christbaum mitbringt und als Gefährten einen Wellensittich schenkt; dass er diesen dreimal pro Tag füttern muss, kann er sich noch gerade so merken. Eines Tages jedoch wird bei ihm eine tödliche Krankheit diagnostiziert (man erfährt nicht genau, welche), und da entschließt er sich, folgende Anzeige aufzugeben: "Unverheirateter Mann mit unheilbarer Krankheit sucht Kind, bevorzugt Kleinkind, zwecks Adoption." Denn Benedikt entstammt, was bisher so gut wie keine Rolle spielte, dem Geschlecht der Grafen von Wallerstein; nun erwacht in ihm der Familiensinn. "Ich brauche einen Erben."

Die Anzeige hat Erfolg, sozusagen; es taucht bei ihm die Russin Marja mit ihrem siebenjährigen Sohn Valerij auf und quartiert sich, ohne Zeit mit dummen Fragen zu verlieren, in seiner Wohnung ein. Sie machen sich zusammen aus Berlin zum Familienstammsitz in Süddeutschland auf, wo Benedikts ebenso steinalte wie dominante Großmutter mehr haust als lebt; bei ihr sind er und seine Schwester nach dem Unfalltod der Eltern aufgewachsen. Sie lebt ganz allein, wenn man von Köchin, Chauffeur, Gärtner, Hundeführer u.s.w. absieht. Die Großmutter entschläft, Benedikt beschließt, standesgemäß seine Hochzeit zu feiern, die zu einer ziemlichen Farce gerät, wird aber seiner neuen Gattin, die für ihn ja eigentlich bloß einen Umweg zum Kind darstellt, überdrüssig, wendet sich um Rat an Einstein im Jenseits (eine völlig unnötige Absurdität), und dieser empfiehlt ihm, die störende Person doch aus dem Weg zu räumen. Benedikt plant daraufhin, Marja aus einer alpinen Seilbahn zu stoßen, doch lassen ihn Mutter und Sohn bei der Anreise plötzlich im Stich und sind verschwunden. Da merkt er, wie sehr sie ihm fehlen. Aber zum Schluss kommen sie doch zurück, Valerij, der bislang mit ihm kein Wort gesprochen hatte, wird langsam handzahm, Marja holt ihren etwas in Vergessenheit geratenen russischen Ehemann herbei, und es wird alles, alles gut.

Es ist eine Geschichte, die einigermaßen ratlos macht. Die großen Umschwünge in Benedikts Leben - er entschließt sich zur Adoption, er will seine Frau ermorden, er besinnt sich eines Besseren - fallen unvermittelt vom Himmel, und die Zustände der gräflichen Haushaltung sind eine Groteske aus dem 19. Jahrhundert. Dabei spielt die Handlung zur Zeit der Währungsunion im Jahr 1990. (Das Buch ist vor fünfzehn Jahren schon einmal erschienen und kommt jetzt in etwas veränderter Gestalt neu heraus).

Hilft Beethoven?

Die Autorin hat versucht, der mangelnden Stringenz durch musikalische Unterfütterung nachzuhelfen, sie benennt die Kapitel des Buchs nach Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli, also "Forteilend", "Presto", "Stürmisches Auf und Ab" u.s.w., was schon deswegen nicht recht überzeugt, weil der Ton doch so ziemlich immer derselbe bleibt. Teilweise entschädigt einen das Nebenpersonal für die völlige Geruch- und Geschmacklosigkeit des Protagonisten. Auch finden sich einige schöne Einzelbemerkungen, etwa wie Marja sich in ihrer neuen Umgebung verhält: "Die Landschaft betrachtete sie mit Vorsicht, wie eine Nonne einen Mann in Badehose." Oder zum Wesen der Stille: "Stille ist eine äußerst zerbrechliche Substanz. Wer sie beschreibt, tut ihr schon Gewalt an. Es gibt keine musikalische oder literarische Notation für absolute Stille, denn die Stille zwischen zwei Tönen ist eine Pause, und in einer Pause fühlt man immer noch den Rhythmus. Eine wirkliche Stille ist ohne Puls. Und wie jeder Arzt weiß, bringt alles, was ohne Puls ist, Probleme mit sich." Solche Details jedoch summieren sich nicht zu einem Ganzen. Das "fremde Gefühl", das sich behauptetermaßen zum Schluss Geltung verschafft: fremd bleibt es vor allem dem Leser. Diesem Buch mit seinem geistes- und herzensabwesenden Helden fehlt es in hohem Grad an innerer Notwendigkeit. BURKHARD MÜLLER

IRENE DISCHE: Veränderungen über einen Deutschen oder Ein fremdes Gefühl. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 438 Seiten, 23 Euro.

Eine Autorin, die manches vom Himmel fallen lässt: Irene Dische. Foto: ddp

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tyrannei der Muttermilch

Unglaublich lebendig und dokumentarisch genau: Alan Moores und Eddie Campbells Jack-The-Ripper-Comic "From Hell" ist wieder da

Fünf Mal schlägt er im Herbst 1888 zu. Sein Revier ist das Whitechapel-Viertel im bitterarmen Osten Londons. Stets sind seine Opfer Frauen, und stets werden sie erst erwürgt, dann auf grausamste Weise verstümmelt. Die Polizei ermittelt auf Hochtouren. Falsche Selbstbezichtigungsschreiben gehen stapelweise ein. Die Medien überschlagen sich. Gerüchte gehen um: Hohen, sogar höchsten gesellschaftlichen Kreisen soll der Täter angehören. Gefasst wird er nie. Noch heute aber kennt jeder den klangvoll-schauerlichen Namen, den man ihm damals verlieh: Jack the Ripper.

Wer war dieser Mann? Zahlreiche Sachbücher geben vor, die Antwort zu kennen. Aufsehen erregte zuletzt die amerikanische Kriminalautorin Patricia Cornwell, die vor sieben Jahren, auf vage Indizien gestützt, verkündete, der für seine morbiden Sujets berüchtigte Maler Walter Sickert stecke hinter den Morden. Der erste Beitrag der populären Kultur zum Fall war 1913 der Roman "The Lodger" von Marie Belloc Lowndes, mit dessen Verfilmung der junge Alfred Hitchcock 1927 seinen ersten Erfolg als Thriller-Regisseur feiern konnte. Durch den Ripper-Rummel des Jahres 1988 wurde der englische Comic-Autor Alan Moore, bekannt durch seine revisionistische Superhelden-Saga "Watchmen", auf das Thema aufmerksam. In Zusammenarbeit mit dem Zeichner Eddie Campbell entstand "From Hell"; die schrittweise Veröffentlichung dauerte von 1991 bis 1998. Auf deutsch war das 600 Seiten starke Werk einige Zeit vergriffen. Jetzt liegt es in einem brockhausschweren Band wieder vor - und begeistert wie am ersten Tag.

Waghalsige Thesen

"From Hell" beginnt mit einer Mesalliance. Durch Vermittlung Walter Sickerts lernt 1884 Prinz Eddy, der lebenslustige Enkel der Queen, die Süßigkeitenverkäuferin Annie Crook kennen. Sie verlieben sich ineinander, bekommen eine Tochter, heiraten sogar heimlich. Als Victoria davon erfährt, lässt sie das Paar gewaltsam trennen. Annie verschwindet im Irrenhaus. Die Prostituierte Marie Kelly und vier ihrer Kolleginnen wissen aber von der Affäre. Als sie, von einer Schutzgeldbande drangsaliert, dringend Geld benötigen, drohen sie Sickert, an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Maler wendet sich an das Königshaus, und Victoria beschließt, die Sache gründlich zu bereinigen. Sir William Gull, ihr Leibarzt, erhält den Auftrag, mit Unterstützung des Kutschers John Netley die Frauen, die den Thron ins Wanken bringen können, aufzuspüren und zu töten.

Dass Gull sich dazu sofort bereit erklärt, liegt einerseits an seiner Treue zur Königin. Andererseits hat er Überzeugungen und Absichten, die darüber weit hinausgehen. Auf einer langen Fahrt klärt er Netley über die Fundamente Londons in Mythos und Geschichte auf. Mit dem Sieg der römischen Besatzer über die sagenhafte englische Königin Boadicea war der Sieg des Patriarchats über das Matriarchat verbunden. Überall in der Stadt erblickt Gull Monumente, die dieses Machtverhältnis widerspiegeln. Auf einer Karte verbindet er sie mit Strichen - und siehe da: ein Pentagramm entsteht, dessen Aufgabe es ist, die Mächte des Weiblichen zu bannen. Gull aber fürchtet, dass dies nicht mehr lange gelingen werde: "Unsere Suffragetten fordern Frauenwahlrecht, wollen Gleichheit! Sie werfen uns zurück ins Kinderzimmer, unter die Regierung des Instinkts, die Tyrannei der Muttermilch. Das können wir nicht dulden." Um die geheimen "Linien von Kraft und Bedeutung" zu verstärken, müssen also Opfer gebracht werden, und Gull weiß kein Besseres als die

Nachfahren der Tempeldirnen antiker

Göttinnen.

Soweit Moore als Lösung des Whitechapel-Rätsels eine Verschwörung, die von den Royals ausging, vorschlägt, orientiert er sich vor allem an einem 1976 erschienenen Buch des britischen Journalisten Stephen Knight, das den zumindest für deutsche Leser etwas merkwürdigen Titel "Jack the Ripper - The Final Solution" trägt. Dennoch ist "From Hell" mehr als eine Illustration der dort vorgetragenen waghalsigen Thesen. Moore hat die gesamte Ripper-Literatur gesichtet und für den Comic zudem aus zahlreichen Quellen zur Geschichte Englands und seiner Hauptstadt geschöpft. Von der mehr oder minder obskuren Sachbuch-Literatur zu seinem Thema unterscheidet er sich dadurch, dass er keineswegs behauptet, die Wahrheit zu erzählen - allenfalls eine vielleicht mögliche Wahrheit. Deutlich wird dies im umfangreichen, außerordentlich faszinierenden Anhang, den man unbedingt parallel zum Comic lesen sollte. Hier weist Moore mehrfach darauf hin, lediglich mit "spekulativen Antworten" aufwarten zu können oder eine Szene "gewissen Annehmlichkeiten der Fiktion" gemäß gestaltet zu haben.

Ein sehr hoher Berg aus Papier hat für diesen Comic gekreißt, und man könnte fürchten, ihn bei der Lektüre immer noch rascheln zu hören. Dies ist aber keineswegs der Fall, denn Moore ist mehr als ein begabter Szenarist: Er ist ein Demiurg, ein Art Balzac des Comics. Mindestens ebenso wichtig wie der Ripper sind ihm dessen Opfer. Ihnen gilt in erkennbarer Weise seine Sympathie. Das lässt sich schon in der den realen Vorbildern treuen Art, in der sie gezeichnet sind, erkennen: "Die Frauen", erläutert Moore, "waren weder die zügellosen, liederlichen Schönheiten, als die sie in den eher reißerischen Ripper-Filmen dargestellt werden, noch die entstellten, zahnlosen Hexen, als die einige Autoren sie dargestellt haben."

Marie, Kate, Liz, Annie und Polly sind ganz gewöhnliche Unterschichtsfrauen ihrer Zeit. Sie haben Männer, Kinder, Liebhaber und verdienen sich ihr Geld auch bei der Hopfenernte oder mit der Pflege eines kranken Nachbarn. Auf den Strich gehen sie mitunter nur, um sich für die Nacht eine elende Schlafstätte leisten zu können. Unglaublich lebendig ist das alles geschildert, aber auch mit einer bis in Details dokumentarischen Genauigkeit. Moore wäre allerdings nicht Moore, wenn es dabei bleiben würde. Zum schwungvollen Schauerstück und zum sozialen Realismus kommen noch die metaphysische Spekulation und die Kulturkritik. Mehrfach wird auf die Schrift "Was ist die vierte Dimension?" rekurriert, in der Howard Hinton, der Sohn eines Freundes von William Gull, 1884 die Idee vertrat, dass die Zeit nicht verläuft, sondern "im gewaltigen Ganzen der Ewigkeit koexistiert". Dazu passt, dass für Moore die an Entdeckungen, Erfindungen und politischen Turbulenzen reichen 1880er "die Essenz des 20. Jahrhunderts verkörpern". Daher wird in einer Szene die Zeugung Hitlers gezeigt; daher wird Gull immer wieder von Visionen heimgesucht, die ihm das aktuelle London zeigen: Hochhäuser, Menschen in Großraumbüros und vor dem Fernseher. Die Whitechapel-Morde erscheinen in "From Hell" als der wahre Auftakt der Moderne. Das kann man als etwas überzogen empfinden, als Ausfluss einer allzu extensiven Beschäftigung mit einem Thema. In einem Punkt hat Moore aber zweifellos recht: Die heillose Mischung von Wahn und Rationalität, die er seiner Gull-Figur zuschreibt, lässt sich, ins Politische gewendet, auch hinter den Genoziden des "Zeitalters der Extreme" ausmachen.

Und die Zeichnungen? Blättert man von "From Hell" durch, entsteht der Eindruck, dass Eddie Campbell seine Aufgabe primär darin gesehen hat, den Leser nicht vom Verständnis des komplizierten Szenarios abzulenken. Bei genauerem Hinschauen wird aber deutlich, dass er auf subtile Weise eigene Akzente setzt. Wenn Sickert die Frau von Prinz Eddy um Hilfe anfleht, ist die melodramatische Szene in sehr kleinen, randlosen Panels festgehalten, die den Vignetten gleichen, mit denen die Unterhaltungsromane der damaligen Zeit illustriert waren. An anderen Stellen führt Campbell vor, welche Möglichkeiten in der graphischen Reduktion stecken: Wenn Gull beauftragt wird, Annie aus dem Weg zu schaffen, zeigen sieben Panels hintereinander dasselbe Bild der wie versteinert dasitzenden Victoria. Im achten Panel dann wendet sie plötzlich ihren Blick dem Betrachter zu - und der spürt mit ungeheurer Wucht den mühsam unterdrückten königlichen Zorn. Die dichten Schraffuren, mit denen Campbell gerne arbeitet, erinnern mitunter an Paul Flora; auf naheliegende Gothic Horror-Effekte verzichtet er fast völlig.

In seiner "Princeton-Rede" hat Thomas Mann unbescheiden, aber zu Recht gefordert, man möge den "Zauberberg" bitte zwei Mal lesen, um sich ein Urteil erlauben zu können. Im Falle von "From Hell" dürfen es gerne drei Durchgänge sein: zwei, um die immense inhaltliche Vielfalt zu erschließen; eine dritte, um die herrlichen Bilder genauer wahrzunehmen. Wenn es den Begriff der Graphic Novel nicht schon gäbe, für dieses gewaltige Werk verdiente er erfunden zu

werden. CHRISTOPH HAAS

ALAN MOORE (Text), EDDIE CAMPBELL (Zeichnungen): From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen. Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Cross Cult Verlag, Asperg 2008. 604 Seiten, 49,80 Euro.

Graphisch subtil reduziert: Eddie Campbells London um 1880 in "From Hell" Abbildung aus dem besprochenen Band

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Leipziger Auktion

Buchmesse kooperiert mit eBay

Die Leipziger Buchmesse, die von 12. bis 15. März stattfindet, wird mit dem Internet-Auktionshaus eBay zusammenarbeiten, um Prominenten-Devotionalien für einen wohltätigen Zweck zu versteigern. Die Auktion soll unterschriebene Fotos und Plakate von Hape Kerkeling, Original-Requisiten aus den Kinofilmen "Krabat", "Die Welle" und "Die wilden Hühner" oder signierte Hörbücher von Ken Follett, Oliver Rohrbeck und Heike Makatsch umfassen, teilte die Buchmesse mit. Mit dem Erlös sollen Hörstationen und Hörbücher für eine Leipziger Kinderklinik gekauft werden. Überhaupt soll der Hörbuch-Schwerpunkt der Messe weiter ausgebaut werden, in diesem Jahr mit der erstmals ausgetragenen "Deutschen Hörbuchnacht". dpa/SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Graveyard

Kinderbuchpreis für Neil Gaiman

Dem britischen Fantasy-Schriftsteller Neil Gaiman ist der angesehenste Kinderbuchpreis der USA zugesprochen worden, die "Newbery medal". Bestsellerautor Gaiman, von dem mehrere Bücher auch ins Deutsche übersetzt wurden, erhält die Auszeichnung für den Roman "Das Graveyard-Buch", das kürzlich im Arena-Verlag in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die "Newbery medal" wird seit 1922 vergeben und ist nach dem britischen Buchhändler des 18. Jahrhundets John Newbery benannt. SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Interesse an First Lady

Michelle-Obama-Biographie läuft

Die Biographie der neuen US-First Lady Michelle Obama, geschrieben von der Journalistin Liza Mundy (Washington Post), ist gleich nach ihrem Erscheinen von Null auf Platz 23 der Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen. Die im Kölner Fackelträger Verlag publizierte Übersetzung ist bisher das einzige Buch über Michelle Obama in deutscher Sprache. SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bloß keine Gebrauchsmusik aus der Nähmaschine

Hollywood und die Fließbandarbeit: Die Schriften Hanns Eislers und seine Filmkompositionen werden minutiös erschlossen

Vermutlich hatte Igor Strawinsky erspürt, wie schnell, wie simpel und wie eingängig seine neoklassizistische Harmonik und seine expressiven Rhythmen von den Komponisten Hollywoods abgepaust wurden. Denn nicht von ungefähr äußerte er, Filmmusik sei nichts anderes als "wallpaper", ihre Funktion sei die einer Tapete. Das war in Los Angeles im Jahre 1946. Dieselbe Zeit und derselbe Ort, wo Hanns Eisler und Theodor W. Adorno ihr einschlägiges Traktat über das "Komponieren für den Film" geschrieben hatten. Und wo sie die musikalische Dutzendware des dortigen Tonfilms als "akustische Möbelstücke" geißelten (SZ vom 19. September 2006).

Ein gutes Jahrzehnt zuvor war Hanns Eisler, der spätere Komponist der DDR-Nationalhymne, schon einmal in Hollywood. Seine Emigration aus Deutschland hatte ihn zwar vorerst nach Frankreich, Dänemark und England geführt. Aber für eine Vortrags- und Konzerttournee war er 1935 zwei Monate in den USA. Über das Amerika der Großen Depression berichtete er für einen Rundfunksender in Straßburg und für die in Prag verlegte Rote Fahne. Voller Aufmerksamkeit für sein Metier, um nicht zu sagen: voller Ironie, schien er die "musterhafte Organisation" der Herstellung von Filmmusik in Übersee zu bewundern.

Jede Film-Gesellschaft habe dort, schrieb Eisler, "fünf bis sechs Musikspezialisten fix angestellt, die pünktlich ihre Bürostunden einhalten müssen. Nr. 1 ist Spezialist für Militärmärsche; Nr. 2 für sentimentale Liebeslieder, Nr. 3 ist ein mehr gründlich geschulter Komponist für die Symphonie, für Vor- und Zwischenspiele, Nr. 4 ist Spezialist für die Wiener Operette, Nr. 5 für Jazzmusik. Wird jetzt Musik für einen Film gebraucht, dann bekommt jeder Komponist eine bestimmte Stelle, die seiner Spezialität entspricht, zur Bearbeitung zugewiesen. Die Komponisten wissen gar nicht, was in dem Film sonst vorgeht oder was der Nebenmann komponiert." Das Verfahren ist vertraut: Auf die Filmproduktion wurden die idiomatischen Wendungen projiziert, mit denen seit der Kritischen Ökonomie und später der Kritik am Taylorismus die Entfremdung von Fabrik- und Manufakturarbeitern analysiert worden war.

Eislers Schilderung entstammt einem in der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrten Typoskript, dessen Text einst nur fragmentarisch zur Ausstrahlung kam. Denn als der Komponist im Radio nach seinen Impressionen aus Hollywood die Eindrücke aus Detroit vorzulesen begann - sein erster Satz lautete: "Den Ford-Arbeitern geht es miserabel" -, verfügte die Rundfunkleitung eine Unterbrechung der Sendung: Nicht unweit von Straßburg hatte die amerikanische Ford Motor Company gerade eine defizitäre elsässische Automobil-Fabrikation übernommen.

Nun ist der Beitrag erstmals vollständig zu lesen, zusammen mit über hundert Texten und Notizbuchauszügen der Jahre 1921 bis 1935, die den ersten Band einer umfangreichen, minutiös edierten historisch-kritischen Ausgabe Gesammelter Schriften Hanns Eislers ausmachen. Man erfährt dort zunächst von früh gehegten Zweifeln an dem Lehrer Schönberg ("Heiliger Arnold!") wie auch von intimistischen Kalauern und ein wenig selbstgefällig hingeworfenen Sentenzen ("Der Romantiker, der problemvolle, flüchtet sich heute ins Kino, der Naive liest Strindberg und Sigmund Freud"). Zugleich stehen recht harsche, aber berechtigte Invektiven gegen die Profession der Zeitungskritiker (Eislers Musik hatte einst manch bornierten Kommentar auszustehen) neben allzu euphorischen, jedoch seinerzeit verbreiteten Erwartungen an das Radio: "Rundfunkmusik", so der Autor, sei ein gesamtgesellschaftliches Instrument ohne bildungsbürgerliche Schranken und Privilegien.

Eislers früheste publizistische Stellungnahme zum Medium der Filmmusik erschien 1931. Der Komponist verwahrte sich im Berliner Börsen-Courier gegen die Veränderungen, die seine Musik für Victor Trivas' Film "Niemandsland" im Schneideraum erfuhr: "Aus einem geschlossenen, konstruktiven Musikstück wird durch die Schere eine zusammenhanglose Illustration." Dieser Satz birgt ein ganzes musikdramaturgisches Konzept. Nicht nur erinnert er an Kurt Weills wenig zuvor erarbeitete Definition des epischen Musiktheaters; zugleich nimmt er ein Prinzip der visuell-akustischen Montage voraus, das in den vierziger Jahren dem Filmmusikbuch von Adorno und Eisler zum Leitbegriff und zum Programm einer anti-illusionären Interaktion von Musik und Kamerabild erhoben wird. Vermutlich liegt er dem filmmusikalischen Gesamtwerk von Eisler zugrunde, das sich derzeit in einem Stadium langsamer Entdeckung befindet.

Zeugnis dafür ist ein Sammelband musik- und filmhistorischer Aufsätze, die einer exemplarischen Auswahl aus Eislers mehr als vierzig Kompositionen für Film und Fernsehen gewidmet sind. Noch in der Partitur für "Esther", einer nur sieben "Nummern" umfassenden Arbeit für einen Fernsehfilm, der bislang nur ein einziges Mal, zu Zeiten der DDR, ausgestrahlt wurde, scheint es um eine strukturelle Eigenlogik der Musik und der Instrumentation als Montagematerial zu gehen. Und bei allem Bemühen um "Anempathie", wie es in einem Beitrag zu Eislers Musik für Alain Resnais' Dokumentarfilm "Nuit et brouillard" heißt: Die Durchdringung von Musik und bewegtem Bild, die (frei nach Walter Benjamins Definition des Trauerspiels) einen Übergang von dramatischer zu musikalischer Zeit repräsentiert, ist ein Objekt kompositorischer Konstruktion, die der Versuchung widerstehen soll, Gebrauchsmusik aus bloßer "Spielfreudigkeit" "salonfähig" zu machen. Mit diesen Worten polemisierte Eisler einmal gegen Strawinsky, für diesen sei eine Musik am besten, "wenn sie läuft wie eine Nähmaschine". HENDRIK FEINDT

HANNS EISLER: Gesammelte Schriften 1921-1935. Herausgegeben von Tobias Faßhauer und Günter Mayer. Hanns Eisler Gesamtausgabe, Serie IX, Bd. 1.1. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2007. 760 Seiten, 48 Euro.

PETER SCHWEINHARDT (Hrsg.): Kompositionen für den Film. Zu Theorie und Praxis von Hanns Eislers Filmmusik. Eisler-Studien, Bd. 3. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2008. 280 Seiten, 29 Euro.

Plakat des deutschen Antikriegsfilms "Niemandsland" von Viktor Trivas aus dem Jahr 1931, für den Hanns Eisler die Filmmusik lieferte Foto: Cinetext

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

ARD blendet Köhler aus

Sendezeit zu überziehen, war früher unstatthaft. Mit der Zeit, vor allem bei Sportübertragungen oder Live-Shows, wurde das Unstatthafte die Regel. Heute führen Fußballspiele auch zu Verschiebungen: So nehmen TV-Manager eigenproduzierte Filme aus dem Programm und suchen andere Termine, weil ein kurzfristig eingekauftes Fußballspiel der Konkurrenz als übermächtiges Gegenprogramm verstanden wird.

Die ARD hat an diesem Dienstag die live aus dem Bundestag gezeigte Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Schlag 12 Uhr ausgeblendet. Zwei Minuten später war Köhler fertig, nach circa weiteren sechs Minuten die Veranstaltung beendet. Begründung aus dem ARD-Hauptstadtstudio: Man habe sich dem gemeinsamen Vormittagsprogramm von ARD und ZDF anschließen müssen. In eine laufende Sendung zuzuschalten, sei nicht üblich. Außerdem seien vereinbarte Redezeiten nicht eingehalten worden. Eine Qualitätsentscheidung war das nicht. Warum nicht zuschalten, wenn man abschalten kann? SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Spiegel" schließt Büros

Der Spiegel beabsichtigt zwei Auslandsbüros abzuschaffen. Betroffen sind die Standorte Wien und Singapur. Wie das Nachrichtenmagazin an diesem Dienstag auf Anfrage mitteilte, handele es sich um eine lange vor der Finanzkrise 2008 getroffene redaktionelle Entscheidung. An Einsparungen sei dabei nicht gedacht worden. Österreich soll offenbar aus dem Münchner Büro mitbetreut, Singapur erst in zweieinhalb Jahren geschlossen werden.

Weil unlängst in Bangkok eine neue Redaktionsvertretung geschaffen wurde, sei der südostasiatische Raum gut bestückt, heißt es. Außerdem werde die Online-Redaktion demnächst in Indien und London Büros einrichten. Von einem Abbau könne keine Rede sein. SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Constantin: Kogel bleibt

Fred Kogel, 48, bis Ende 2008 Vorstandschef der Constantin Film, wurde an diesem Montag zum Aufsichtsratsvorsitzenden der AG gewählt. In dieser Funktion war er für die Constantin schon zwischen 2001 und 2003 aktiv. Der bisherige Aufsichtsratschef, Bernhard Burgener, übernahm am 1. Januar den Vorstandsvorsitz von Kogel. SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hoher "Standard"

Der russische Milliardär und Politiker Alexander Lebedew, 49, neuer Besitzer des Evening Standard, plant in den nächsten drei Jahren rund 25 Millionen britische Pfund in das Blatt zu investieren. Dies bestätigte ein Sprecher der SZ. Lebedews Sohn Evgeny, 28, der in der vergangenen Woche von seinem Vater zum Geschäftsführer des Standard ernannt worden war, kündigte eine intensivere Berichterstattung über kulturelle und wirtschaftliche Themen an. So will er die sinkende Auflage des Standard wiederbeleben und ihn von den vielen Gratiszeitungen in London abgrenzen. Nicht verändern soll sich unter dem neuen Eigentümer die labour-kritische politische Linie des Blattes. kro

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Zeitungszeugen"

Verleger McGee legt Beschwerde gegen Beschlagnahmung ein

Der britische Verleger Peter McGee legt Beschwerde ein gegen die Beschlagnahmung von Nachdrucken des NS-Blattes Völkischer Beobachter, die der zweiten Ausgabe seiner Publikation Zeitungszeugen beiliegen. Das sagte er am Dienstag im Gespräch mit der SZ. Der Schriftsatz soll diesen Mittwoch beim Münchner Amtsgericht eingehen, das die bundesweite Aktion vergangene Woche angeordnet hatte. Zuvor hatte die bayerische Staatsregierung, welche die Verlagsrechte am Völkischen Beobachter und anderen NS-Blättern hält, den Verkauf der Faksimiles verboten. Die am Donnerstag erscheinende dritte Zeitungszeugen-Nummer werde "völlig im Einklang sein mit den Forderungen des Freistaats", sagte McGee, also keinen NS-Nachdruck enthalten. Dies bedeute aber keineswegs eine Aufgabe des Projektes: "Wir wollen nun Rechtssicherheit, und wir hoffen auf einen raschen Gerichtsbeschluss." flex

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Echt ist nur der Tod

Die ARD zeigt Stefan Ruzowitzkys oscargekröntes KZ-Drama über den Meisterfälscher Salomon Sorowitsch

Für den jüdischen Witz gibt es berühmte Beispiele. Dieses hier ist so gut wie andere: Ein deutscher Jude besucht einen alten Freund in New York, der im KZ war. Als er das Büro des Freundes betritt, erblickt er hinter dem Schreibtisch ein Hitler-Porträt. Fassungslos fragt er: Was ist das? "Das", entgegnet der Freund. "Das ist gegen das Heimweh."

Wie absurd widersprüchlich auch eine historisch verbürgte Situation werden kann, bis sie selbst wie ein obszöner Witz anmutet, belegt der österreichisch-deutsche Spielfilm Die Fälscher (Regie und Drehbuch: Stefan Ruzowitzky), der 2008 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Er geht auf eine wahre Episode während des Zweiten Weltkriegs zurück, als Juden unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft in einem KZ zusammengezogen wurden. Ihre Aufgabe: Wertpapiere der Kriegsgegner im großen Stil zu fälschen. Aus dem Plan, so die Wirtschaft des Feindes zu schwächen, wurde, bedingt durch den Niedergang des NS-Regimes, notgedrungen die Aufgabe, gefälschte Pfund- und Dollarnoten zur Kriegsfinanzierung herzustellen. Ausgerechnet entrechtete, gequälte und ihrer Ermordung entgegengehende Juden halfen demnach ihren Folterknechten, den Krieg weiterzuführen. Ihr Lohn bestand in sauberen Betten, anständiger Kleidung und guter Ernährung, ja, mitunter sogar in Respekt und Zigaretten, die bei Erfolg unter den Männern der "Operation Bernhard" verteilt wurden.

Der Held in diesem aberwitzigen Spiel um ein angenehmes Leben in der SS-Hölle ist der Fälscher Salomon Sorowitsch. Im Berlin der 30er macht er mit falschem Geld und falschen Pässen seinen Reibach. Dann wird er geschnappt und ins KZ gesteckt.

Dollars aus Sachsenhausen

Sorowitsch stammt aus Russland. Aber dort erging es ihm so schlecht, dass er noch im KZ lieber die Sprache seiner Folterer spricht als seine Muttersprache. Sorowitsch ist ein Künstler, der sich aufs Zeichnen von Geldnoten genauso wie aufs Überleben versteht. Bald porträtiert er SS-Offiziere. Und landet schließlich im KZ Sachsenhausen, um Banker, Zeichner und Kommunisten anzuführen - und mit seiner Begabung immer wieder vor dem Tod zu bewahren.

Knochentrocken ist das inszeniert, ein kleines Fernsehspiel fürs Kino, sperrig, fern von jeder Überdrehtheit, die das Groteske betonen könnte. Diese formale Schlichtheit wurde ihm von einzelnen Kritikern sogar vorgeworfen. Aber die glänzend kurzatmigen Dialoge und das minimalistische Schauspiel retten das Furchtbare, das an diesem Ort immer im Hintergrund mitschwingt, vor Relativierung und Belanglosigkeit. Selten war ein bisschen Humor so hart erarbeitet wie hier, wie gemeiner Feinstaub, der vom Barackenboden aufgewirbelt wird, liegt er in der Luft und dringt einem beim ungläubigen Lachen ätzend in die Lunge. Zum Beispiel wenn der verantwortliche SS-Offizier die Neuen jovial begrüßt und nach der Konfektionsgröße fragt. "52", antwortet da eines der gemarterten Menschlein. Worauf der Offizier in aufgeräumter Stimmung ausruft: Na, der wird inzwischen 46 oder 48 haben!

Gar nicht böse meint er das, sondern er spricht mit dem Wissen des KZ-Experten: So ist das in Sachsenhausen. Machen wir das Beste draus - "Liebe Juden" pflegt dieser kultivierte Herrenmensch zu sagen. Oder: Zigarette gefällig, meine Herren? Diese absurde Idylle stört nur einer. Adolf Burger (August Diehl) sabotiert das Werk seiner Mithäftlinge, um den Nazis zu schaden. Wer ist hier der Verräter? Der Jude, der diesen Juden nicht hilft. Oder diese Juden, die den Nazis helfen, um sich selbst zu helfen?

Der Unterschied zwischen einem guten und einem dem Tod geweihten Leben im KZ macht bei Ruzowitzky nur ein halbaufgegessener Apfel auf einem sonst leeren Teller aus. Kleine Zeichen haben in dieser abgeschlossenen Welt große Wirkung. Wie ein KZ-Häftling nach Jahren wieder an einem sauberen Betttuch riecht. Wie man nach langer Abstinenz einen Schluck guten Cognac trinkt. Wie zum Losbrüllen blöd eine ahnungslose Offiziersgattin daherschwatzen kann, als der Meisterfälscher in die Villa eingeladen wird. Immer entfaltet Ruzowitzky Spannung mit eher zu wenig als zu vielen Mitteln, auch weil er sich auf Schauspieler wie Karl Markovics als Sorowitsch verlassen kann, die mit ganz wenig ganz viel erreichen. Und weil dort, wo sich Ungeheuerliches abspielt, selbst die kleinsten Geschehnisse selbst zur Ungeheuerlichkeit werden. HARALD HORDYCH

Die Fälscher, ZDF, 20.15 Uhr.

Nächstes Jahr in Monte Carlo: Salomon Sorowitsch (Karl Markovics) ist dem Lager entkommen. Er hat überlebt, weil er Pfund- und Dollarnoten nachmachen kann. Der Krieg ist aus, Pech im Spiel ist nicht mehr tödlich und Glück in der Liebe (Dolores Chaplin) vielleicht auch kein Drama. Ruzowitzkys Film erzählt eine aberwitzige und wahre Geschichte. Foto: ZDF

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Sendeschluss

Hans Meisers Produktionsfirma creatv ist pleite

Der 14. September 1992 war die Geburtsstunde der deutschen Talkshow als Daily Soap. An jenem Montag um 16 Uhr ging bei RTL ein Format auf Sendung, das die deutsche Fernsehlandschaft nachhaltig verändern sollte: Hans Meiser, die erste Talkshow am Nachmittag; der ideale Programmplatz für Menschen, die sich am Nachmittag mangels besserer Alternativen vor dem Fernseher versammeln konnten. Es waren nicht wenige; und Meiser war der Star des Nachmittags.

Das Format hatte damals Marktanteile von über 40 Prozent, wurde mit Bambi und Goldener Kamera geehrt und über seine Firma creatv, die Hans Meiser produzierte, verdiente Hans Meiser gut. Die Sucht nach der Trivialität des Alltags, personifiziert durch Gäste, die allzu oft den Blick auf die Gepflogenheiten der Gosse erlaubten, war riesengroß. Hans Meiser bleib nicht allein, es folgten Bärbel Schäfer, Birke Karakus oder Oliver Geißen. Alle produziert von creatv.

Doch der Boom ging zu Ende, Meiser selbst stellte die Fragerei mit Fleischbeschau nach neun Jahren und mehr als 1700 Folgen ein. Er selbst soll genervt gewesen sein vom stetig sinkenden Niveau der täglichen Quasselei. Und aus creatv, der Talkshow-Schmiede mit einst mehr als 150 Mitarbeitern wurde eine kleinere Firma, die etwa auf Ratgebersendungen wie Ein Fall für Escher (MDR) setzte. Nun ist creatv ein Fall für den Insolvenzrichter. Am 21. Januar stellte die Produktionsfirma durch ihre Geschäftsführer Hans Meiser und Erich Wagner beim Kölner Amtsgericht einen Insolvenzantrag. Unter dem Aktenzeichen 71 IN 31/09 wird jetzt eine der erfolgreichsten deutschen Produktionsfirmen womöglich zu Grabe getragen. Erst einmal ist Sendeschluss.

Die Firma sei "Opfer der Wirtschaftskrise" geworden, erklärte die Kanzlei des bestellten Insolvenzverwalters. "Zwei bereits als sicher verbuchte Projekte" hätten am Jahresanfang wegen "des überraschenden Ausstiegs der Investoren nicht umgesetzt werden" können, teilte der vorläufige Insolvenzverwalter Christoph Niering mit. So sei es zur derzeitigen Zahlungsunfähigkeit gekommen. Innerhalb eines Monats wird von der Kölner Kanzlei ein Gutachten erstellt und geprüft, ob die Fortführung der Geschäfte möglich ist. Für eine Beurteilung, so die Anwälte, sei es aber "noch viel zu früh".

Von Hans Meiser wird so oder so etwas bleiben: 1999 hatte der heute 62-Jährige eine Sendung unter dem Titel Hans macht dich zum VIVA-Star produziert und machte damit einen neuen TV-Star. Sein Name: Oliver Pocher. DIRK GRAALMANN

In den neunziger Jahren war Hans Meiser der Star des TV-Talks. Nun ist seine Firma ein Fall für den Insolvenzverwalter. Foto: picture-alliance

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Manche mögen's heiß

Das ist Klimakrieg: Eine BBC-Reihe (Vox) reagiert auf Skeptiker der Erderwärmung

Die Gentlemen der BBC schlagen zurück. Sie geben ihren Gegnern zwar nicht die Ehre, deren Argumente durch eine direkte Antwort aufzuwerten. Aber sie schöpfen im Dienst der Sache ihre ganze Macht und Erfahrung aus - und sind sich für ein paar Tricks nicht zu schade.

Die Rede ist von einer dreiteiligen Dokumentation, die nun in deutscher Fassung bei Vox anläuft. Der Klimakrieg beschreibt die Geschichte der Klimaforschung seit den frühen siebziger Jahren. Damals kamen Wissenschaftler von der Sorge über eine neue Eiszeit zur Warnung vor der globalen Erwärmung und mussten sich in hitzigen Debatten gegen die sogenannten Klimaskeptiker durchsetzen.

Auf diese Weise eine oft verwirrende Debatte aufzuschlüsseln, ist an sich ist schon Motivation genug. Zugleich schießt die BBC mit dem Dreiteiler - ohne das so auszusprechen - gegen den Rabauken-Sender Channel 4. Der Privatkanal hatte im März 2007 im Film The Great Global Warming Swindle Klimaskeptikern ein Forum geboten. Sie konnten unter Verdrehung von Tatsachen behaupten, die These vom menschengemachten Klimawandel sei großer Schwindel. RTL hatte einige Monate später eine deutsche Fassung ausgestrahlt, darin einige der gröbsten Fehler ausgemerzt, dafür aber neue eingebaut. So korrigiert nun Vox den Schwestersender RTL ebenso wie es die BBC mit Channel 4 getan hat.

Das Zusehen lohnt sich. Die drei Teile sind beeindruckend kurzweilig und gut aufgebaut. Das BBC-Team hat in Las Vegas den verschwenderischen Lebensstil des Westens gefilmt und in Grönland den bereits eingetretenen Klimawandel. Es hat in Labors verblüffend einfache Experimente eingefangen und mit prominenten Klimaforschern gesprochen. Die weiterhin skeptischen Kritiker der These von der globalen Erwärmung kommen hingegen nur in einzelnen Sätzen aus irgendwelchen Aufzeichnungen zu Wort, sozusagen aus der Konserve. Und dann fährt die Kamera noch in extremer Nahaufnahme auf ihre Münder zu - wohl um den Eindruck zu unterstreichen, dass da nur Sprechblasen heraus kommen. Journalistische Fairness, so die unterschwellige Botschaft, können Faktenverdreher von der aufrechten BBC nicht erwarten!

Ein wichtiger Aspekt des Films geht in der deutschen Fassung allerdings verloren: die Stimme der Erzählers. Das Original spricht Iain Stewart, ein in England bekannter Geologie-Professor mit schottischem Akzent. Der Ton seiner Stimme verankert die Geschichte im Alltag. Kaum denkbar, wie Vox diesen Aspekt hätte nachstellen können - mit kölschem Singsang oder Berliner Schnauze? Die Zuschauer müssen daher beim hochdeutschen Kommentar auf den Effekt verzichten. CHRISTOPHER SCHRADER

Der Klimakrieg, Vox, drei Folgen, mittwochs, 23.45 Uhr.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Verantwortlich: Christopher Keil

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Fernwärme

Heute ausgestoßene Treibhausgase wirken noch im Jahr 3000

In das Jahr 3000 versetzen sich für gewöhnlich nur Science-Fiction-Autoren. Jetzt haben sich auch vier Klimaforscher damit beschäftigt. Sie zeigen, dass der gegenwärtige Klimawandel noch in 1000 Jahren spürbare, und damit faktisch irreversible Folgen haben könnte (PNAS, online). Das Quartett um Susan Solomon von der US-Wetterbehörde Noaa, die eine leitende Funktion im Weltklimarat IPCC hat, berechnet zunächst die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre. Die Forscher betrachten den Fall, dass die Menschheit plötzlich nichts mehr von dem Treibhausgas ausstößt, nachdem dieses einen Spitzenwert erreicht hat. Anhand dieser Fiktion zeigen die Forscher, wie reversibel Veränderungen im Klimasystem im besten Fall sein könnten. Weil die Atmosphäre das CO2 zwar abbaut, aber der Ozean das zuvor aufgenommene Treibhausgas langsam wieder abgibt, schweben auf Dauer große Mengen davon in der Atmosphäre. Darum blieben Temperaturen und Meeresspiegel dauerhaft erhöht und die Muster der Niederschläge ändern sich irreversibel. Eine Verdopplung des CO2-Wertes von 280 ppm (Teile pro einer Million) in vorindustrieller Zeit auf etwa 600 ppm in diesem Jahrhundert löse daher noch im Jahr 3000 um 1,5 Grad Celsius erhöhte Temperaturen aus. Die Niederschläge in Südeuropa wären dann dauerhaft um mindestens 13 Prozent reduziert. Zurzeit steht der CO2-Wert bei 385 ppm.cris

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hegen und schießen

Naturschützer und Forstwissenschaftler kritisieren die Jagd - Tierbestände würden sich auch auf natürliche Weise regulieren

Ursprünglich gab es für Menschen zwei gute Gründe, Tiere zu jagen: Sie brauchten etwas zu essen und verarbeiteten die Reste zu Kleidung und Gebrauchsgegenständen. Heute stellen immer mehr Menschen den Sinn der Jagd in Frage. Zwar wird das Fleisch der erlegten Tiere immer noch gegessen und Jäger führen an, dass sie die Zahl der Tiere regulieren müssen, um ökologische und wirtschaftliche Schäden zu verhindern. Doch Jagdkritiker wie Ragnar Kinzelbach, Zoologe an der Universität Rostock, lassen solche Argumente nicht gelten: "Letztlich dient die Jagd nur dem Spaß und der Befriedigung der Mordlust der Jäger", sagt er. "Die Jagd ist überflüssig. Wenn man sie einstellt, regulieren sich die Bestände von allein."

Nach Ansicht von Naturschützern ist der Mensch zumeist selbst schuld, wenn sich Tiere irgendwo so stark vermehren, dass sie zur Belastung werden. Er zerstöre die Natur, pflanze Monokulturen und wundere sich dann, wenn sich Tiere an bestimmten Stellen konzentrieren. Dass etwa riesige Raps- oder Maisfelder für Wildgänse, die am Polarkreis brüten und in Deutschland Rast machen, ein gedeckter Tisch sind, sei nicht die Schuld der Vögel, sondern die der Landwirtschaft und der Agrarpolitik. Dies gilt auch für Wildschweine, für die endlose Maisfelder regelrechtes Mastfutter sind.

"Durch Überdüngung und Nährstoffeinträge aus der Luft steigt das Pflanzenwachstum, die Tiere haben mehr zu fressen, überstehen Phasen schlechten Wetters besser, und vermehren sich entsprechend stark", sagt der Münchner Wildtierexperte Josef Reichholf. Zudem hat der Mensch die meisten Raubtiere ausgerottet, so dass das Wild keine natürlichen Feinde mehr hat. Andernorts hat er Tiere in Gegenden ausgesetzt, wo sie nicht hingehören und reagiert verärgert, wenn sie es wagen, dort etwas zu fressen. Das gilt etwa für die Nilgänse, die seit kurzem auch in einigen Bundesländern gejagt werden dürfen.

Eine weitere Absurdität ist nach Ansicht von Jagdkritikern die Winterfütterung. "Die Jäger mästen sich in unseren Wäldern gigantische Rot- und Rehwildbestände heran, nur um sie anschließend abschießen zu können", sagt Kinzelbach. Dem hält Stephan Bröhl vom Deutschen Jagdschutzverband (DJV) entgegen, dass die Fütterung nur in Ausnahmefällen bei extremen Wetterlagen praktiziert werde, "um zu verhindern, dass Tiere verhungern, und um zu vermeiden, dass sie die Bäume im Wald annagen".

Tatsächlich sind die Schäden durch Wildverbiss riesig, muss auch Kinzelbach zugeben. In mehr als 80 Prozent der Reviere leiden Laubbäume wie die Eiche unter teils starkem Verbiss. Drei Viertel der Tannen sind geschädigt, wie die baden-württembergische Landesforstverwaltung in ihrem "Forstlichen Gutachten 2007" feststellte. Doch auch das ist nach Ansicht von Kinzelbach letztlich die Schuld des Menschen. Rehe, früher tagaktive Tiere, seien nur durch die Jagd zu scheuen, nachtaktiven Waldbewohnern geworden. "Wenn man die Rehe nicht jagen würde, würden sie sich auch nicht so sehr im Wald aufhalten und dort alles anknabbern", argumentiert der Rostocker Zoologe.

"Es kann nicht sein, dass die 0,3 Prozent der Bevölkerung, die einen Jagdschein haben, für fast 80 Millionen Menschen bestimmen, wie unsere Wälder in Zukunft aussehen werden", sagt Rainer Wagelaar, Forstwissenschaftler an der Fachhochschule Rottenburg und Vorsitzender des Ökologischen Jagdverbandes (ÖJV).

Doch die Lobby der Jäger in Deutschland ist mächtig - auch weil viele Politiker passionierte Jäger sind: Der Präsident des Landesjagdverbandes Bayern, Jürgen Vocke, saß zum Beispiel zehn Jahre lang für die CSU im Landtag. Der frühere Bundesminister und heutige Bundestagsabgeordnete Jürgen Borchert ist Präsident des Deutschen Jagdschutzverbandes und des Landesjagdverbandes Nordrhein-Westfalen. Sein Vorgänger war Constantin Freiherr von Heereman, sieben Jahre Bundestagsabgeordneter der CDU und Bauernpräsident. Der Präsident der Landesjägerschaft Niedersachsen ist der CDU-Landtagsabgeordnete Helmut Dammann-Tamke. In etlichen Kreistagen und Stadtparlamenten sitzen viele, die sich von gemeinsamen Jagden gut kennen. Dasselbe gilt für einflussreiche Stellen in der Wirtschaft.

Der Mensch müsse heute das bestandsregulierende Raubtier ersetzen, da die natürlichen Feinde des Wildes ausgerottet wurden, rechtfertigt sich die Jäger-Lobby. "Wir leben in einer reinen Kulturlandschaft, die vom Menschen geprägt ist. Die wenigen großen Raubtiere wie Wolf oder Luchs, die es erfreulicherweise noch oder wieder gibt, können den Jäger gar nicht ersetzen", sagt etwa DJV-Sprecher Stephan Bröhl. Die nachhaltige Nutzung der Wildtierbestände sei deswegen notwendig. "Die Idealvorstellung, dass sich Räuber und Beute selbst regulieren, mag in einem Nationalpark funktionieren, aber nicht in der normalen Landschaft."

Dem widerspricht das Ergebnis einer Studie des Münchner Zoologen Josef Reichholf. Der Wissenschaftler untersuchte die Bestandsentwicklung der Bisamratte am Inn - einmal auf deutscher Seite, wo diese Tiere gejagt werden, und einmal im österreichischen Flussabschnitt, wo sie von der Jagd verschont bleiben. Die Untersuchung zeigte, dass es im Jagdgebiet deutlich mehr Bisamratten gibt. Die kritischste Zeit für die Bisamratte ist der Winter.

"Tiere die gestärkt überleben, pflanzen sich im Frühjahr zeitiger und zahlenmäßig stärker fort", sagt Reichholf. Werden in einem Gebiet viele Tiere getötet, haben die Verbliebenen ein besseres Futterangebot, und statt erst im Mai zwei Junge zu gebären, bekommt ein Bisamrattenweibchen dann schon im März vier bis fünf und wirft dann noch bis zu zweimal im selben Jahr. Dieses Prinzip gelte auch für Rothirsch, Reh und Wildschwein. Durch die Jagd vermehrt sich das Wild stärker als unter natürlichen Umständen. "Die Konkurrenz im Winter ist geringer, die Chancen sind im Frühjahr besser", sagt Reichholf. Durch die Jagd würden Tierarten, die bereits selten sind, noch seltener, und jene, die häufig sind, noch häufiger.

Kritiker sagen, dass sich die Jagd in Deutschland seit 1934 nicht weiterentwickelt habe, als Hermann Göring das Deutsche Jagdsystem im Reichsjagdgesetz neu ordnete. Noch immer sei die Trophäe das wichtigste Ziel; Abschusspläne und Schonzeiten würden auch heute noch danach ausgerichtet, möglichst große Trophäen zu bekommen. Rehböcke beispielsweise seien für Jäger nur im Sommer interessant, wenn sie ein Gehörn tragen, sagt Wagelaar, der Chef des ÖJV. Die konservativen Jagdverbände bestreiten das. Der Naturschutz sei mittlerweile ein wichtiger Bestandteil des Waidhandwerks.

Um die Jagd zu modernisieren, will der ÖJV die Jagdmethoden unter anderem effizienter machen. "Statt stundenlangem Ansitzen morgens und abends, und dies oft über längere Zeiträume, sollte man die Jagd an einigen wenigen Tagen intensivieren - beispielsweise mit Hunden Drückjagden durchführen. Dann hat das Wild mehr Ruhephasen und muss nicht länger nachtaktiv und überaus scheu sein", sagt Wagelaar. Dass die Forderungen des ÖJV nicht umgesetzt werden, hat nach Wagelaars Einschätzung einen einfachen Grund: Die klassischen Jagdverbände seien oft "total überaltert, sehr konservativ und kaum reformbereit".

Eine Folge des hohen Jagddrucks in Deutschland wird nach Ansicht der Deutschen Wildtier-Stiftung, die einst von einem Jäger gegründet wurde, viel zu wenig beachtet: die große Scheu der Tiere. Wer jemals einen Nationalpark in Afrika besucht hat, in dem nicht gejagt wird, weiß, dass die meisten Tiere eigentlich keinerlei Scheu vor Menschen haben. Sie lassen sich dort aus wenigen Metern Entfernung beobachten. In Deutschland nehmen Hasen, Rehe und Wildschweine Reißaus, wenn sie einen Menschen in großer Entfernung sehen oder wittern. Die Tiere wissen: Mensch gleich Jäger gleich Feind.

Doch auch in Deutschland gibt es Ausnahmen. Im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft an der Ostsee zum Beispiel beobachtet man seit Jahren, wie der eigentlich nachtaktive und scheue Marderhund immer zutraulicher wird - die Jagd ist im Nationalpark untersagt. ROBERT LÜCKE

In vielen Parlamenten sitzen Jäger

Moderne Jäger sehen sich auch als Naturschützer

Das Geweih des Rothirschs ist unter Jägern eine begehrte Trophäe. Foto: Bluemagenta

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Finger weg

Apple erhält Patentrechte für Funktionen des iPhone

Die Bemühungen von Handyherstellern, die Bedienung ihrer Geräte ähnlich zu gestalten wie beim iPhone von Apple, könnten erheblich erschwert werden. Der Computerhersteller erhielt vom amerikanischen Patentamt ein 358 Seiten umfassendes Patent zugesprochen. Es schließt unter anderem die Fähigkeit von Handys ein, durch Zusammenziehen oder Spreizen der Finger auf dem Bildschirm dargestellte Internetseiten kleiner und größer zu zoomen. Auch auf das Merkmal, dass der Inhalt des Bildschirms vertikal oder horizontal dargestellt wird, je nachdem wie man das Gerät hält, erhielt Apple ein Patent. In der Schutzschrift werden zudem ausführlich die Funktionen zur Steuerung des Musikplayers, der Texteingabe sowie andere Funktionen des berührungsempfindlichen Bildschirms beschrieben.

Bereits bei der Vorstellung des iPhones hatte Apple-Chef Steve Jobs angekündigt, man werde sich die in dem Gerät verwendeten Innovationen schützen lassen. Zuletzt hatte Geschäftsführer Tim Cook bei der Vorstellung der Quartalszahlen gesagt, Apple wolle sich mit Hilfe von Patenten gegen eine "Ausplünderung geistigen Eigentums" wehren. Die meisten Beobachter hatten das als Kampfansage gegen den Konkurrenten Palm gewertet. Die Firma hatte auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas ein Handy namens Pre vorgestellt, das Fachleute als bedienungsfreundlichsten Konkurrenten des iPhone ansahen.

Der Apple-Konzern hat nun zumindestens in den USA juristische Handhabe gegen Hersteller, die eine der vielen Funktionen verwenden, die in Apples Patentschrift aufgeführt sind. Dass die Patente auch in Europa gewährt werden, ist keineswegs sicher. Aus Sorge vor Patentstreitigkeiten haben einige Hersteller offenbar vorsorglich darauf verzichtet, ihre Geräte mit den entsprechenden Funktionen auszustatten. So enthält das am Montag auf den deutschen Markt kommende T-Mobile-Handy G 1 mit Google-Betriebssystem zwar einen Bewegungssensor. Der wird allerdings nicht dafür benutzt, den Bildschirminhalt automatisch zu kippen, wenn das Gerät von der Horizontale in die Vertikale gebracht wird.HELMUT MARTIN-JUNG

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Frühestens 2010 auf vollen Touren

Schäden am Teilchenbeschleuniger des Cern größer als gedacht

Die Reparaturarbeiten an dem beschädigten Teilchenbeschleuniger LHC des europäischen Forschungszentrums Cern bei Genf gestalten sich offenbar schwieriger als zunächst gehofft. Der seit dem 1. Januar amtierende neue Generaldirektor des weltgrößten zivilen Forschungslabors, Rolf Heuer, hat bestätigt, dass externe Gutachter hinzugezogen werden, um Ursache und Umfang der Schäden an dem unterirdischen Protonenbeschleuniger zu bestimmen. Nur wenige Tage nach der Inbetriebnahme der Anlage im September des vergangenen Jahres waren in dem Ringtunnel tonnenweise flüssiges Helium ausgelaufen. Die minus 271 Grad Celsius kalte Flüssigkeit kühlt die supraleitenden Magnete des Beschleunigers. Dabei wurden nach Angaben von Cern-Mitarbeitern mindestens 30 der insgesamt mehr als 1200 lastwagengroßen Magnete des Beschleunigers zerstört.

Die Teilchenforscher am Cern rechnen inzwischen mit Reparaturkosten von mindestens 30 Millionen Euro. Manche Schätzungen liegen noch deutlich darüber. Weil auch an einer anderen Stelle des 27 Kilometer langen Ringtunnels einige Magnete Unregelmäßigkeiten aufweisen, ist geplant, die Protonenkanone in diesem Jahr noch nicht mit voller Energie laufen zu lassen. Frühestens im Sommer 2009 soll die Anlage auf rund 70 Prozent ihrer maximalen Leistung hochgefahren werden. Das würde den Physikern immerhin Energiebereiche zugänglich machen, die mit dem derzeit größten Teilchenbeschleuniger am Fermilab in Chicago nicht erreichbar sind. Im kommenden Jahr, so hoffen die Forscher, wird der LHC dann Protonen aufeinander schießen können, deren Energie so hoch ist, als hätten die Teilchen ein Spannungsfeld von 7000 Milliarden Volt durchlaufen.

Nachdem die Cern-Physiker vor der Einweihung ihres neuen Teilchenbeschleunigers im vergangenen Jahr gegen das Gerücht ankämpfen mussten, ihre Protonenkanone könnte gefährliche Schwarze Löcher produzieren, sprechen die Wissenschaftler am Zentrum bei Genf nun scherzhaft von roten Löchern, die sich aufgrund des Unfalls in ihrem Budget breit macht. pai

Techniker montieren bereits Ersatzmagneten im LHC. Foto: Cern

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Überfüllte Züge, aufgebrachte Fahrgäste, tägliche Verspätungen

"Uns wurmt es ja selbst"

Alles wird gut, verspricht Bayerns Bahnchef. Und wenn schon nicht gut, dann wenigstens besser.

In den vergangenen Tagen haben Hunderte von Bahnkunden der Süddeutschen Zeitung von ihren Erlebnissen im täglichen Nahverkehr berichtet. Es sind Geschichten von zerfetzten Nerven, mitgenommenen Zugbegleitern und Chaos auf dem Bahnsteig. Die SZ hat mit dem Mann gesprochen, der das alles ändern soll: Klaus-Dieter Josel. Er ist der Bevollmächtige der Bahn für Bayern.

SZ: Aufgebrachte Menschen versuchen, überfüllte Züge zu entern. Schüler kommen zu spät zur Schule. Züge enden plötzlich, ohne dass den Fahrgästen jemand Bescheid gibt. Sind das alles nur die Klagen von Querulanten?

Josel: Wir nehmen diese Klagen sehr ernst. Derzeit haben wir drei große Probleme: den Fernverkehr, wo uns die Achs-Probleme des ICE zu schaffen machen und wir deswegen mit Ersatzfahrzeugen fahren müssen, die fehlenden neuen Fahrzeuge für den Fugger-Express, die uns nicht geliefert wurden. Und die Kapazitätsprobleme bei der Mittelfrankenbahn. Wir sind an allen drei Themen dran, es wird in absehbarer Zeit besser.

SZ: Noch ist davon nichts zu spüren. Vor allem in Augsburg drängeln sich die Menschen in den Zügen. Die Züge sind voll, obwohl noch 100 Leute auf dem Bahnsteig warten. Und niemand sagt den Leuten, dass der nächste Zug mehr Platz bietet.

Josel: Sie laufen bei mir offene Türen ein. Da muss jemand sein, der sich der Reisenden auf dem Bahnsteig annimmt. Eine Art Kümmerer. Im Nahverkehr gibt es seit vergangenen Donnerstag schon zwei dieser Kümmerer, einer auf dem Bahnsteig und einer in der Leitzentrale. Seit Donnerstag funktionieren auch die Anschlüsse im Nahverkehr besser.

SZ: In Franken fehlen Züge, beim Fuggerexpress gibt es Engpässe. Wie lange wollen Sie die Fahrgäste noch so unkomfortabel zusammenpferchen?

Josel: Wir hatten vor der Fahrplanumstellung 50 Züge zwischen Nürnberg, Augsburg und München. Heute sind es 77. Das Netz ist an den Grenzen seiner Belastung angekommen. Wir haben den auch von der Politik gewollten Halb-Stundentakt zwischen den großen Städten eingeführt. Und wir haben erst im Oktober erfahren, dass der Hersteller die versprochenen neuen Züge nicht fristgerecht liefern kann. Da mussten wir die Reißleine ziehen. Allmählich rollen die Züge jetzt ein: Derzeit haben wir vier neue Wagen testweise im Einsatz, bald werden es mehr sein. Uns wurmt es ja selbst, dass die neuen Fahrzeuge nicht da sind. Aber allmählich wird es besser.

SZ: Mit einer präzisen und rechtzeitigen Information ließen sich doch die Kundenströme besser lenken. Etwa eine Durchsage: "Fahren Sie eine halbe Stunde später, da ist der Zug nur halb voll." Wie soll man das sonst vorher wissen?

Josel: Wir haben alle Abo-Kunden angeschrieben, Faltblätter in den Zügen ausgelegt, dass wir neue Zugverbindungen einsetzen. Es gab also schon Informationen im Vorfeld. Ich denke, dass wir jetzt auf gutem Weg sind, was die Auslastung der Züge angeht.

SZ: Viele Ihrer Kunden verzweifeln an der Informationspolitik der Bahn. Bahnfahrer werden mit ihren Problemen allein gelassen. Warum funktioniert das nicht?

Josel: Damit bin ich auch nicht zufrieden, hier müssen wir besser werden. Das Thema Informationsqualität werde ich intern vorantreiben. Eigentlich erhalten die Zugbegleiter und Ansager auf den Bahnhöfen gute Informationen aus der Zentrale. Diese Informationen müssen noch zu den Fahrgästen gelangen. Die Zugbegleiter haben eigens Handys bekommen mit einer Vielzahl von Daten und Informationen. Und natürlich muss eine Ansage auch so gemacht werden, dass der Fahrgast sie versteht. Wenn gerade ein Güterzug durchfährt, dann muss man sie halt noch mal machen.

SZ: Was ist denn so schwierig daran, die Reisenden schnell zu informieren? Oder sind Bahnbedienstete einfach maulfaul?

Josel: Nehmen wir den Fall Augsburg. Dort ist augenblicklich aufgrund des Ersatzfahrplans die Fülle der Durchsagen einfach zu hoch. Denn ein Zug hat mal drei, mal vier Wagen weniger oder er kommt auf einem anderen Gleis an. Das müssen wir unseren Mitarbeitern noch einmal vernünftig auf ihren Monitoren aufbereiten, damit sie die Ansagen zuverlässig machen können. Da sind wir noch nicht so gut, wie wir sein müssen.

SZ: Und wenn man sich dann beschweren will, hängt man in den langen Warteschlangen vor den Schaltern fest. Viele haben nicht die Zeit, sich für eine Rückerstattung eine halbe Stunde anzustellen.

Josel: Die Kunden müssen nicht Schlange stehen. Es reicht, uns einen Brief zu schreiben mit Datum und Abfahrtszeit des Zuges, 20mal kam nur der IC statt des ICE. Oder, es gab keine Erste Klasse, obwohl der Kunde dafür gezahlt hat.Das Einreichen der Fahrkarte, vom Zugbegleiter bestätigt, reicht aus. Ohne weitere Stempel gibt es dann eine Erstattung. Wenn der Kunde nicht die Qualität bekommt, für die er bezahlt hat, erstatten wir die Differenz zurück.

SZ: Hauptkritikpunkt sind immer wieder die Verspätungen. Zehn bis 15 Minuten sind im Regionalverkehr inzwischen die Regel, Anschlusszüge werden nicht erreicht und häufig fährt der vollbesetzte Zug erst mit großer Verspätung ab. Warum?

Josel: Auch wenn Sie das nicht glauben, wir fahren im Fern- und Nahverkehr im Durchschnitt mit über 90 Prozent der 6000 Züge in Bayern pünktlich, das ist eine gute Quote. Im dichten Berufsverkehr treten aber schnell Schneeballeffekte auf. Eine Verspätung an der einen Stelle führt in einem eng vertakteten System zu Folgeverspätungen an mehreren anderen Stellen. Bis zu fünf Minuten Verspätung gilt ein Zug auch als pünktlich.

Interview: Andreas Roß, Annette Ramelsberger, Manfred Hummel

Auf Streik vorbereitet

Wir haben Klaus-Dieter Josel nach den Auswirkungen des Warnstreiks am Donnerstag befragt. Er wollte sich dazu nicht äußern und verwies auf die DB-Zentrale in Berlin. Dort hieß es, die Bahn sei vorbereitet und informiere die Fahrgäste rechtzeitig.

Bayerns Bahnchef Klaus-Dieter Josel Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

150 Millionen Jahre Geduld

Der besterhaltene fleischfressende Dinosaurier in Europa, der Juravenator in Eichstätt, ist das Fossil des Jahres 2009. Die etwa 150 Millionen Jahre alte Versteinerung erhielt wegen ihrer hohen wissenschaftlichen Bedeutung diese Auszeichnung der deutschen Paläontologischen Gesellschaft. Im Juramuseum Eichstätt wirft der Nachbau eines Juravenators einen Schatten auf das echte Fossil. Bereits 1998 wurde die Gesteinsplatte im Altmühltal ausgegraben. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Startschuss für Ausbau der A 8

München - Der dringend notwendige Ausbau der Autobahn A 8 zwischen Augsburg und Ulm nach dem so genannten Betreibermodell kann beginnen. Die Autobahndirektion Südbayern ist nach Informationen der Süddeutschen Zeitung damit beauftragt worden, das Vergabeverfahren einzuleiten. Privatinvestoren sollen den 58 Kilometer langen Abschnitt von vier auf sechs Spuren ausbauen und dann 30 Jahre lang unterhalten. Im Gegenzug erhalten die Betreiber die Einnahmen aus der Lkw-Maut. Nach diesem Modell wird derzeit bereits der Abschnitt München-Augsburg ausgebaut.

Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) sagte: "Wir können den sechsstreifigen Ausbau mit einem privaten Partner schneller umsetzen." Die Region wartet seit Jahren auf den Ausbau der Autobahn, die streckenweise noch Vorkriegsstandard aufweist. Bisher fehlte dafür das Geld. Nun soll die Privatwirtschaft aushelfen. Das Investitionsvolumen liegt bei 280 Millionen Euro. Nach Angaben von Tiefensee könnten bereits 2011 die Baufahrzeuge anrollen und beginnen. miba/msz

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

BayernLB gehört Staat bald alleine

Durch Rettungspaket steigt Anteil auf 94 Prozent

München - Aufgrund seines Zehn-Milliarden-Rettungspaketes für die Bayerische Landesbank ist der Freistaat Bayern inzwischen faktisch zu deren Alleineigentümer geworden. Ihm gehöre die BayernLB derzeit zu etwa 94 Prozent, sagte Finanzminister Georg Fahrenschon (CSU). Den bayerischen Sparkassen, die bis Dezember die Hälfte der Anteile hielten, sich an der Rettungsaktion aber nicht beteiligen, bleiben somit nur sechs Prozent. Die Staatsregierung hatte noch 2008 in einer ersten Tranche drei Milliarden Euro an die Bank als Eigenkapital überwiesen, um sie im Zuge der Finanzkrise zu retten.

Da für die Bank zu diesem Zeitpunkt in einer vorläufigen Schätzung ein Wert von gut 900 Millionen Euro festgestellt worden sei, sei der Anteil des Freistaats damit auf 88 Prozent angestiegen, sagte Fahrenschon. Im Laufe des ersten Quartals 2009 würden weitere sieben Milliarden überwiesen, die den Anteil dann auf 94 Prozent ansteigen lassen. Im Verwaltungsrat, dem Aufsichtsgremium der Bank, sitzen derzeit zwar noch fünf Vertreter der Sparkassen und ebenso viele des Freistaats. Faktisch haben letztere allein das Sagen. Das Gremium kann erst mit der Neufassung des Landesbankgesetzes neu besetzt werden; ein Gesetzentwurf wird wohl im März vorgelegt. Die Staatsregierung hat bereits festgelegt, dass in das Gremium nur noch ein Sparkassenvertreter einziehen soll, dafür aber auch externe Experten. Bis es so weit ist, wollen die fünf Sparkassenvertreter sich bei Abstimmungen nach den Interessen der Staatsregierung richten.

Im Landtag sagte Minister Fahrenschon, dass die Sparkassen wegen der Krise der Landesbank in diesem Jahr erstmals auf die Verzinsung ihrer stillen Einlage von 1,5 Milliarden Euro verzichten müssten. Laut dem Grünen-Finanzexperten Eike Hallitzky verlieren Bayerns Sparkassen dadurch jährlich 150 Millionen Euro. Der Finanzminister teilte dem Landtag außerdem mit, dass der Vizechef der Landesbank, Rudolf Hanisch, Ende April freiwillig ausscheiden wird. Es handle sich nicht um einen "goldenen Handschlag, sondern um die ordnungsgemäße Abwicklung" seines Vertrages, so Fahrenschon. Bankvorstand Hanisch, 62, mache den Weg frei für eine Verjüngung des Vorstands und eine Neuausrichtung der Bank. Ob Hanisch eine Abfindung erhalte, wollte er öffentlich nicht sagen. Katja Auer/ Kassian Stroh

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Studiengebühren nur noch für ein Kind

München - Familien sollen künftig nur noch für ein Kind Studiengebühren bezahlen, gleichgültig wie viele Kinder studieren. Eine entsprechende Gesetzesänderung hat das Kabinett gestern beschlossen. Bereits im Dezember hatte es die Verwaltungsgebühr von 50 Euro abgeschafft, die Studenten für die Nutzung von Dienstleistungen der Hochschule zahlen mussten. Diese Gebühr war besonders umstritten, da die Erlöse ausschließlich zur Konsolidierung des Staatshaushalts und nicht zur Verbesserung der Lehre genutzt wurden. Nun sollen Familien erneut entlastet werden und für zwei studierende Kinder nur mehr 500 Euro pro Semester zahlen müssen. Vom dritten Kind an sind sie generell von Studienbeiträgen befreit. burt

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Mission Apollo 11

München - Es ist ein kleiner Schritt für ihn, aber ein großer Moment für die Autogrammjäger. Buzz Aldrin hebt am Montagabend seinen rechten Fuß vorsichtig aus dem Auto auf den roten Teppich der Forum-Kinos. Als der 79-jährige Amerikaner, der als zweiter Mensch nach Neil Armstrong 1969 den Mond betrat, mit beiden Beinen auf dem Teppich steht, strecken ihm hundert Fans Stifte und Fotos zum Signieren entgegen, Aldrin beugt sich nach vorne, doch schon keift eine PR-Frau: "Keine Autogramme!"

Sprechen darf Aldrin dann bei der Premiere des von Ron Howard produzierten Dokumentarfilms "Im Schatten des Mondes", der die Geschichte der Apollo-11-Mission 40 Jahre später noch einmal erzählt. Einfach nur stolz sei er gewesen, als er den ersten Schritt tat, sagt Aldrin. Und heute sei er vor allem neugierig, wie die Münchner auf seine verfilmte Geschichte reagieren. Der vitale Raumfahrt-Veteran wirft ein nahezu akzentfrei bayerisches "Grias God" in den Kinosaal, ein warmes "Servus" kommt zurück. Fröhlich erzählt Aldrin von früheren Deutschland-Erfahrungen: "Immer dann, wenn einfache Dinge kompliziert gemacht waren, wusste ich, dass da ,Made in Germany' draufsteht." Die Gäste lachen, doch mit dem Start des Films zieht Ernst ein in den Saal. Die Apollo-11-Geschichte von ersten Holzmodellen über explodierende Testraketen und eine verbrannte Crew bis zu den ersten Mondschritten am 20. Juli 1969 zeigt mit exklusiven Bildern noch einmal den verzweifelten Kampf der Amerikaner gegen das "russische Integral" (Tom Wolfe) um die Vorherrschaft im All. Ein wahres Himmelfahrtskommando. Was Wunder, dass die Zuschauer Aldrin danach wie einen Außerirdischen anschauen. Ein wenig ist er das ja auch. Philipp Crone

Buzz Aldrin bei der Premiere des Films "Im Schatten des Mondes". Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Letzte Runde im U-Bahnhof

Die Münchner Verkehrsbetriebe wollen ab Februar Alkohol im Untergrund verbieten

Von Dominik Hutter

München - Letzte Runde im Untergrund: Trotz Kritik im Stadtrat hält die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) an dem geplanten Alkoholverbot in U-Bahnhöfen fest. Anfang Februar soll es losgehen - ein paar Tage später als angekündigt. Mit der noch nicht abgeschlossenen Meinungsbildung im Rathaus, so die MVG, habe die Verzögerung nichts zu tun. Die SPD erwartet jedoch von dem Unternehmen, keine vollendeten Tatsachen zu schaffen.

Es könnte also Ärger geben zwischen der Stadt und ihrem Kommunalunternehmen. Denn die MVG stuft das Konsumverbot, das zunächst nur in den Sperrengeschossen und auf Bahnsteigen, später auch in den Zügen gelten soll, als Entscheidung des laufenden Tagesgeschäfts ein. Eine Befassung des Stadtrats sei daher nicht notwendig. "Wir gehen eigentlich schon davon aus, dass das Verbot erst vollzogen wird, wenn auch der Stadtrat zugestimmt hat", betont hingegen SPD-Fraktionschef Alexander Reissl. Eine vorzeitige Einführung empfände man zumindest als "eigenartig".

Welche Meinung die SPD letztlich vertreten wird, ist Reissl zufolge noch offen. Bei der jüngsten Sitzung der Fraktion am vergangenen Montag wurde diese Entscheidung um eine Woche vertagt - damit MVG-Chef Herbert König persönlich Rede und Antwort stehen kann. Wann das Thema abschließend auf der Tagesordnung des Stadtrats auftaucht, steht bislang nicht fest. Frühestmöglicher Termin wäre der 10. Februar.

Bei der MVG, so erklärt das Unternehmen auf Anfrage der SZ, spielt dieses Datum jedoch keine Rolle. Das Verbot, das eigentlich pünktlich zum 1. Februar kommen sollte, sei lediglich aus organisatorischen Gründen um ein paar Tage verschoben worden - weil man mit dem Austausch der Hausordnungen nicht nachkomme. Diese Aushänge, die normalerweise kein Fahrgast liest, sollen übrigens von MVG-Seite die einzigen Hinweise auf das Bier-Tabu sein. Piktogramme à la Rauchverbot sind ebenso wenig geplant wie eine Plakatkampagne. Man werde, wie Sprecherin Bettina Hess betont, "mit Augenmaß" vorgehen. Es werde keine Alkoholpolizei geben und auch keine rigorosen Kontrollen unter Fußballfans oder Wiesnbesuchern. Aber: U-Bahnanlagen seien "Verkehrsbauwerke und keine Kneipen". Die Fahrgäste hätten ein Recht darauf, diese "unbelästigt und unbeeinträchtigt zu nutzen".

Egal, ob die MVG tatsächlich vorprescht oder doch noch einknickt - der Stadtrat wird sich auf jeden Fall mit dem Alkoholverbot befassen. Denn die Grünen haben bereits offiziell beantragt, auf den nicht nachvollziehbaren Eingriff ins öffentliche Leben zu verzichten. Die Begründung von MVG-Chef Herbert König, zahlreiche Fahrgäste fühlten sich durch Betrunkene bedroht, reicht nach Meinung von Grünen-Fraktionschefin Lydia Dietrich nicht aus. Schließlich hätten sich die wenigsten ihren Rausch in der U-Bahn selbst angetrunken. Zudem beziehe sich König auf eine Umfrage, derzufolge lediglich 7,2 Prozent der Fahrgäste die U-Bahn als unsicher empfinden. Das, so Dietrich, sei eine "Erfolgsbilanz", aus der man keinen Handlungsbedarf für weitere Verbote ableiten könne.

Unterstützung bekommt die MVG hingegen von der CSU. Deren Fraktionschef Josef Schmid hält ein Alkoholverbot wegen des Sicherheitsbedürfnisses und -empfindens der Fahrgäste für richtig. Ein wichtiges Kriterium sei auch die Ästhetik und Sauberkeit öffentlicher Plätze. Es wird also von der SPD abhängen, welches Signal der Stadtrat aussendet. Dass die MVG ein Nein dauerhaft ignoriert, gilt als unwahrscheinlich.

Einen Kaffee im Stehen dürfen die Münchner auch künftig genießen. Wer aber ein Bier bestellt, muss zum Trinken nach draußen gehen. Foto: Robert Haas

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ein Feindbild weniger

Die Pressekonferenz war fast zu Ende, und noch hatte niemand jenen Politiker erwähnt, der den linken Demonstranten, die alljährlich in einem Protestzug gegen die Münchner Sicherheitskonferenz durch die Innenstadt marschieren, als oberster Bösewicht gilt. Aber der amerikanische Präsident heißt in diesem Jahr nicht mehr George W. Bush, sondern Barack Obama - und der taugt auch im linken Lager nicht so recht als Feindbild. Erst auf Nachfrage sagte Claus Schreer, auch diesmal Cheforganisator der gegen die Konferenz im Bayerischen Hof gerichteten Proteste, dass er "nicht sehr optimistisch" sei und auch unter dem Präsidenten Obama "eine Fortsetzung der Kriegspolitik seiner Vorgängerregierungen" erwarte.

Eines müssen Schreer und seine Mitstreiter aus der linken Szene wohl nicht fürchten: dass der frisch vereidigte Präsident nach München kommt, und ihre rund 5000 Anhänger, die sie am ersten Februarwochenende in der Innenstadt erwarten, in einer von Obamanie überwältigten Masse Neugieriger untergehen könnten. Als US-Spitzenmann erwarten die Tagungsmacher Robert Gates, der Verteidigungsminister unter Bush war und unter Obama bleibt.

Damit ändert sich wohl auch diesmal nichts am Ritual, das sich rund um die Sicherheitskonferenz eingespielt hat. Drinnen im weiträumig abgesperrten Hotel Bayerischer Hof tagen die Staats- und Regierungschefs (unter ihnen diesmal Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy), die Minister, Militärs und Lobbyisten. Draußen ziehen die Demonstranten am Samstag vom Marienplatz im Uhrzeigersinn rund um die Altstadt zum Odeonsplatz und protestieren gegen die "Nato-Kriegskonferenz" (Schreer). Hunderte Polizisten werden sie begleiten, obwohl es, beteuert Mitorganisator Hagen Pfaff, "bei uns noch nie größere Probleme gegeben hat".

Neu ist, dass diesmal der Münchner Vorstand der Gewerkschaft Verdi in einem offenen Brief die eigenen Mitglieder dazu aufruft, mit einem "Gewerkschaftsblock" an der Gegendemonstration teilzunehmen. Vor allem stören sich Verdi-Chef Harald Pürzel und sein Geschäftsführer Heinrich Birner daran, dass der neue Cheforganisator der Konferenz, der frühere Spitzendiplomat Wolfgang Ischinger, als Lobbyist für den Versicherungskonzern Allianz arbeitet. Sie wenden sich auch dagegen, dass Soldaten der Bundeswehr die finanziell vor allem vom Bundesverteidigungsministerium getragene Konferenz im Bayerischen Hof bewachen.

An der Demonstration, zu der neben Verdi die Linke, zahlreiche Friedensinitiativen, aber auch linksextremistische Parteien und Organisationen aufrufen, werden in diesem Jahr auch palästinensische Gruppen teilnehmen. Sie wollten gegen "die israelischen Massaker in Gaza" protestieren und daran erinnern, dass auch "Deutschland Waffen für diesen blutigen Krieg geliefert" habe, erklärte Schreer. Jan Bielicki

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Im Blickpunkt

Ein streitbarer Wirtschaftsweiser

RWI-Präsident Christoph Schmidt rückt in den Sachverständigenrat

Für einen Wirtschaftswissenschaftler dürfte es kaum einen schwierigeren Zeitpunkt geben, um Mitglied des Sachverständigenrates und damit Berater der Bundesregierung zu werden. Viele Menschen zweifeln derzeit am Sachverstand der Ökonomen, der einflussreiche SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck forderte sogar, das Gremium abzuschaffen, das "viel heiße Luft produziere". Dazu kam es bekanntlich nicht. Und deswegen soll auf Wunsch der Bundesregierung jetzt Christoph Schmidt einer der fünf Wirtschaftsweisen werden - und damit Nachfolger von Bert Rürup, der das Gremium Ende Februar verlassen wird und als "Chefökonom" zum Finanzdienstleister AWD wechselt.

Der 46-jährige Schmidt weicht Debatten mit Kritikern nicht aus. Vor wenigen Tagen etwa diskutierte er in der Essener Zentralbibliothek mit dem Kulturwissenschaftler Claus Leggewie über den Neoliberalismus, der bestimmenden wirtschaftspolitischen Ideologie der vergangenen Jahrzehnte. Vorangegangen war dem ein Schlagabtausch beider Wissenschaftler in einer Regionalzeitung. "Natürlich haben wir auf die Risiken der Entwicklung in Amerika hingewiesen, in der seriösen Art und Weise, die handwerklich solide Prognosen auszeichnet. Wahrsager können wir nicht sein", schrieb Schmidt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Gleichzeitig sagte er, die Wirtschaftswissenschaften müssten aus der Krise lernen. Schmidt lieferte den Maßstab gleich mit, an dem er sich selbst wird messen lassen müssen: Ökonomen sollten all die Fälle aufdecken, bei denen Gruppen zwar im Sinne des Allgemeinwohls etwas fordern, letztlich aber nur für sich selbst etwas herausholen wollen.

Schmidt hat das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsinstitut reformiert, seitdem er dort vor sieben Jahren als Präsident das Ruder übernommen hat. Er löste starre Strukturen auf. Heute arbeiten die Wissenschaftler häufig in mehreren Teams mit, ganz wie es die Aufgabenstellung verlangt. Unter Schmidt hat sich das wissenschaftliche Renommee des Instituts mit seinen 90 Mitarbeitern verbessert, insbesondere die Qualität der Konjunkturprognosen wird geschätzt. Daneben lehrt Schmidt an der Universität Bochum Wirtschaftswissenschaften. Wichtig sind ihm die Anreizmechanismen. Deswegen wunderte er sich nicht, als sich Nokia aus dem Ruhrgebiet verabschiedete und die Produktion nach Rumänien verlagerte. "Wenn man jemanden herlocken kann, indem man sagt, hier gibt es schöne Fördermittel, dann ist klar, dass spätestens nach Auslaufen der Förderung neu kalkuliert wird. Das würde jeder nüchterne Kaufmann so machen müssen", sagte Schmidt, als die Wut über Nokia auf ihrem Höhepunkt war.

Anders als sein Vorgänger beim Sachverständigenrat, Rürup, ist Schmidt kein ausgewiesener Sozial-, sondern ein Arbeitsmarktexperte. Doch er scheut sich nicht, auch querzudenken, und manchmal wagt sich Schmidt sogar auf fachfremdes Gebiet vor. So prophezeite er, für die deutschen Fußballer sei bei der WM im eigenen Lande im Viertelfinale Schluss - bekanntlich kamen sie dann ins Halbfinale. Caspar Dohmen

Christoph Schmidt F.: imago

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Trübe Aussichten

Europas größter Softwarekonzern SAP legt an diesem Mittwoch seine Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr 2008 vor. Vorstandschef Henning Kagermann hat bereits angekündigt, dass der Walldorfer Dax-Konzern seine Jahresziele vor dem Hintergrund der Finanzkrise voraussichtlich nicht gehalten hat. Nach Einschätzung von Branchenexperten wird der Weltmarktführer für Unternehmenssoftware wegen der unsicheren Wirtschaftslage zudem auf eine konkrete Umsatzprognose für 2009 verzichten. Im dritten Quartal 2008 hatte SAP einen deutlichen Gewinnrückgang und einen Verlust von Marktanteilen verzeichnet. Daraufhin ordnete das Management ein Sparprogramm an, auch betriebsbedingte Kündigungen wurden nicht mehr ausgeschlossen. dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Treuhänder gesucht

Die Suche nach einem Treuhänder für das Vermögen des verstorbenen Unternehmers Adolf Merckle gestaltet sich offenbar schwierig. In Finanzkreisen heißt es, man sei einer Lösung zuletzt nahe gewesen, habe sich aber doch nicht einigen können. Als ein Kandidat gilt Karl-Herbert Gädicke, der frühere Vize-Chef der damaligen DG Bank (heute DZ Bank). Ob der 77-Jährige noch im Rennen ist, ist unklar. Für ihn spräche, dass er sowohl in der Zement- als auch in der Pharmabranche Erfahrung hat. Die drei Kerngesellschaften des Merckle-Imperiums sind Heidelberg-Cement, der Pharmagroßhändler Phoenix und der Generikahersteller Ratiopharm. Nach monatelangen Verhandlungen hatten sich die Banken kurz vor Merckles Selbstmord Anfang Januar weitgehenden Zugriff auf die Firmen als Sicherheiten für ihre Kredite verschafft. Ein Treuhänder soll nun deren Verkauf organisieren. Offenbar streiten aber die mehr als 30 Banken und die Familie um den Treuhänder ähnlich heftig wie zuvor um die Sanierungskredite. Noch sei nicht einmal klar, ob es für Phoenix, Ratiopharm und Heidelberg-Cement einen oder mehrere Treuhänder geben werde, heißt es. mhs

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

US-Finanzminister tritt an

Nach längerer Verzögerung hat der US-Senat mit 60 zu 34 Stimmen Timothy Geithner als neuen Finanzminister bestätigt. Der 47-Jährige war in die Kritik geraten war, weil er zu wenig Steuern gezahlt hatte. Er kündigte bei seiner Vereidigung an, im Kampf gegen die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten rasch in die Offensive zu gehen. "In dieser Zeit der Herausforderung und Krise muss Tims Arbeit und die des gesamten Finanzministeriums sofort beginnen", sagte Präsident Barack Obama. "Wir dürfen keinen einzigen Tag verlieren, denn jeden Tag wird das ökonomische Bild düsterer - hier und auf der ganzen Welt." Geithners Nachfolger als Chef der New Yorker Notenbank sollte noch am Dienstag bekanntgegeben werden. Als Favorit gilt William Dudley, der unter anderem Chefvolkswirt von Goldman Sachs war. Reuters

Timothy Geithner Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Anzeige gegen Pecik

Die Schweizer Finanzmarktaufsicht wirft den beiden österreichischen Investoren Ronny Pecik und Georg Stumpf vor, beim Einstieg bei dem Schweizer Maschinenbauer Sulzer börsenrechtliche Meldepflichten verletzt zu haben. Sie will Strafanzeige erstatten. Die Investoren haben ihre Anteile inzwischen wieder verkauft. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Berg spricht für SPD

Die Abgeordnete Ute Berg, 55, ist die neue wirtschaftspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Berg setzte sich am Dienstag in einer Kampfabstimmung in der SPD-Fraktion gegen den Landesvorsitzenden von Niedersachsen, Garrelt Duin, durch. Wie eine Sprecherin der Partei der Süddeutschen Zeitung mitteilte, entfielen auf Berg, die bereits stellvertretende wirtschaftspolitische Sprecherin war, 101 Stimmen. Duin, den die Arbeitsgruppe Wirtschaft nominiert hatte, erhielt 72 Stimmen. Der Posten war frei geworden, weil der bisherige Sprecher Rainer Wend zum 1. April als Cheflobbyist zur Deutschen Post wechselt. Berg, die früher als Lehrerin arbeitete, ist wie Wend aus Nordrhein-Westfalen und Mitglied des SPD-Bundesvorstands. Die Fraktionsspitze wollte eine Kampfabstimmung verhindern. Die Fraktionsmehrheit favorisierte aber offenbar eine Frau in der Sprecherrolle. tö

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Diskrete Geschäfte

Die Familie von Finck mischt wieder im Bankgeschäft mit - viel mehr lässt sie sich dazu nicht entlocken

In Sachen Geheimniskrämerei übertrifft François sogar noch seinen Vater. François, mit vollem Namen August François von Finck, ist Urenkel des Gründers von Allianz und Münchener Rückversicherung und ältester Sohn der Münchner Milliardärs-Legende August Baron von Finck. Der 78-Jährige mit dem lebenslangen Beinamen "junior" hat zumindest noch einen Telefonbuch-Eintrag in seiner Wahlheimat Schweiz. Im Geschäftsbericht des Genfer 50000- Mitarbeiter-Konzerns Société Générale de Surveillance (SGS) stellt der sich auf immerhin neun Zeilen vor. Sohn François, der gleichfalls im SGS-Aufsichtsrat sitzt, sind an gleicher Stelle drei Zeilen genug: Respekt vor den Mit-Aktionären gehört nicht zu den Traditionen des Hauses von Finck.

Bei der Custodia Holding und der Finck'schen Hauptverwaltung in München will man kein Wort zum Lebenslauf von François sagen: "Schauen Sie in das Internet, da finden Sie genug", heißt lapidar die Antwort. Tatsächlich aber sieht bei François von Finck selbst Google blass aus. Auch der Blick in die Handelsregister der Schweiz, wo die Fincks mittlerweile den Schwerpunkt ihrer Interessen haben, bleibt unergiebig bis verwirrend: Die Familie bildet Anteilseigner-Gemeinschaften, in denen mal der eine, mal der andere fehlt, und anscheinend schieben sie untereinander Aktienpakete hin und her, wie es gerade passt.

Offiziell bekannt ist nur, dass François einen Schweizer Pass hat und im "Steueroasli" Pfäffikon, eine halbe Stunde von Zürich entfernt, gemeldet ist. Vermutlich ist er 40 Jahre alt, vielleicht auch schon 41. Er hat ein Wirtschaftsdiplom von der Jesuiten-Universität Georgetown in der Tasche. Dort hatten schon Bill Clinton, aber auch die umstrittene philippinische Staatschefin Gloria Macapagal-Arroyo studiert.

Bei François, so lassen etliche Umstände vermuten, laufen mittlerweile die Fäden des Finck'schen Imperiums zusammen. Das Schweizer Magazin Bilanz taxiert dessen Wert auf immerhin 3,5 bis vier Milliarden Euro. Damit spielt die Münchner Familie in der gleichen Liga wie Athina Onassis, der Peugeot-Clan oder die Liechtensteiner Fürstenfamilie. Zum Finck'schen Reich gehören neben Immobilien die Hotel- und Restaurantkette Mövenpick, der Isoliermaterialhersteller Von Roll, Beteiligungen am Prüfkonzern SGS, am australischen Baukonzern Leighton Holdings und an dem finnischen Energieunternehmen Fortum. In Deutschland hat die oberbayerische Familie sich 2007 mit einem Gewinn von 570 Millionen Euro als Hochtief-Aktionär verabschiedet und tritt jetzt beinahe nur noch als Anteilseigner der Staatlichen Mineralbrunnen AG, Bad Brückenau, in Erscheinung.

Seit dieser Woche gehört nun wieder - wie bis 1990 - ein Geldinstitut zum Finck'schen Reich. Es heißt Bank von Roll und soll sich auf die Vermögensverwaltung "nach Väter Sitte, ohne Chemie und Produkte" konzentrieren, sagt deren Chef Cyrill Escher. Derzeit betitelt sich François als "Bankkaufmann"; vielleicht mag er sich eines Tages, wie seine Vorfahren auch, doch lieber wieder Bankier nennen lassen. Gerd Zitzelsberger

Patriarch August von Finck (Foto) hat die Geschäfte an Sohn François übergeben. F.: Schneider-Press/W.Breiteneicher

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Tempomacher

Als künftiger Alleinchef rückt Léo Apotheker bei SAP schon jetzt in den Vordergrund - und kündigt eine Kulturrevolution an

Von Dagmar Deckstein

Die Urteile in der Presse fielen bislang immer recht gefällig aus. Von einem "Charmeur mit Härte" sprachen die einen, von einem "Grandseigneur" andere. Doch an diesem Mittwoch dürfte SAP-Chef Léo Apotheker keinen ganz leichten Stand haben. Wenn er - noch gemeinsam mit Co-Chef Henning Kagermann - die Geschäftszahlen von Europas größtem Softwarekonzern vorlegt, werden die auch mit Charme und Grandseigneurtum verkündet nicht viel besser ausfallen. Schließlich ist das Neugeschäft mit Softwarelizenzen seit vergangenem September nahezu zum Erliegen gekommen, und SAP wird sich vermutlich jeglicher Prognose für das Geschäftsjahr 2009 enthalten. Vom angepeilten Ziel, die operative Marge von 28 auf 35 Prozent zu erhöhen, ist bis auf Weiteres auch nicht mehr die Rede. Das mögen Börsianer gar nicht. Aber warum soll es SAP besser gehen als vielen anderen Konzernen, die angesichts der Wirtschaftskrise keinen Fernblick mehr wagen wollen und flächendeckend "nur noch auf Sicht" fahren? Für die erfolgsverwöhnten SAP-Getreuen ist es dennoch ein Novum.

Zuckerbrot und Peitsche

Eine Zäsur ist die diesjährige Bilanzpressekonferenz aber auch aus einem anderen Grund. Seit Frühjahr vergangenen Jahres führen der langjährige SAP-Alleinchef Henning Kagermann und Léo Apotheker den Konzern in einer Doppelspitze. Kagermann wird nach der Hauptversammlung im Mai abtreten und Apotheker das Feld allein überlassen. Damit der Wechsel nicht allzu abrupt geschieht, soll Apotheker schon jetzt die operative Leitung übernehmen. Ausgerechnet jetzt, da die bisher schwierigste Zeit für die 36 Jahre alte deutsche Kultfirma aus Walldorf angebrochen ist.

Durch den jahrzehntelangen Erfolg ist SAP mit seinen heute 55 000 Mitarbeitern behäbig geworden. Unvorbereitet hat in Walldorf die Krise eingeschlagen und das Management Anfang Oktober zu einem schon panikhaft dekretierten Sparprogramm veranlasst: Dienstreisen wurden gestrichen, Neueinstellungen storniert, befristete Verträge nicht mehr verlängert. 200 Millionen Euro will SAP einsparen, aber das ist nur der Anfang einer rigorosen Generalüberholung des gesamten Konzerns. Der soll schneller, kostengünstiger und innovativer werden, und Léo Apotheker hat schon Ende vergangenen Jahres die Parole ausgegeben, wie die Mitarbeiter weltweit sich das vorzustellen haben: "Viel mehr Tempo, wir brauchen deutlich mehr Tempo."

Mit der Ruhe der Softwaretüftler ist es allerdings schon dahin, seit sie wissen, dass Apotheker künftig die erste Geige im Konzern spielen wird, einer, der von sich sagt, er sei "etwas emotionaler und vielleicht auch ein bisschen ungeduldiger als der Henning."

Ein Novum an der Konzernspitze ist Apotheker ohnehin. Mit ihm sitzt erstmals in der Unternehmensgeschichte ein Vertriebsmann auf dem Chefsessel und kein Softwareentwickler. Viele dieser Entwickler, "Techies" genannt, sehen der Ägide von Apotheker denn auch mit gemischten Gefühlen entgegen. In der Belegschaft gilt er als fordernd und um deutliche Worte nicht verlegen, als einer, der Zuckerbrot und Peitsche gleichermaßen einzusetzen weiß. Aber viele Mitarbeiter sind auch einsichtig, dass es so wie bisher bei SAP nicht mehr weitergehen kann, dass sich der Konzern wohl zu lange auf seiner angestammten Marktführerposition ausgeruht hat.

Da wäre zum Beispiel die Schlappe mit der wichtigsten Neuerfindung der vergangenen Jahre. Die Markteinführung von Business By Design, einer Online-Software zum Mieten für den kleinen Mittelstand, wurde trotz vollmundiger Ankündigungen 2008 wieder gestoppt und kommt nun erst in diesem Jahr reichlich verspätet zu den Kunden. Wieder eine Wachstumschance weniger. Peinlich für SAP war auch die regelrechte Revolte namhafter Mittelstandskunden wie Tognum, Bitburger, Krones oder Miele, die gegen die saftige Erhöhung der Wartungsgebühren um 30 Prozent mitten in der Finanzkrise öffentlich zu Felde zogen und gegen die "Arroganz aus Walldorf" wetterten. SAP musste schließlich klein beigeben und die Kündigung der Wartungsverträge zurücknehmen. Aber ein Imageschaden bleibt erst mal haften.

Zweitbüro in Paris

Da wird auch die Eloquenz des 55-jährigen Léo Apotheker gefragt sein, der neben Deutsch vier weitere Sprachen fließend beherrscht: Französisch, Englisch, Hebräisch und Niederländisch. Der Sohn jüdischer Flüchtlinge wurde 1953 in Aachen geboren, wuchs in Antwerpen auf, studierte in Israel internationale Beziehungen und Volkswirtschaft. 1988 kam er zu SAP, wo er für das Geschäft in Europa, Nahost und Afrika verantwortlich war. In den Vorstand rückte er 2002 auf, schließlich in die Co-Chefposition, nachdem der einstige Kronprinz Shai Agassi SAP überraschend verließ. Seit 25 Jahren lebt der Kosmopolit Léo Apotheker in Paris, wo er den Konzern auch zum Teil von seinem Zweitbüro in der Seinestadt aus leitet. Ob aus Paris oder Walldorf - Apotheker lässt keinen Zweifel, wohin er mit SAP will: Mehr Rendite, weniger Hierarchien, noch globaler werden, die Leistung erhöhen. Kurz: "Wir müssen uns neu erfinden", verkündete er vor Weihnachten. "Nur so können wir dauerhaft überleben."

"Ein bisschen ungeduldiger" als sein Vorgänger Henning Kagermann - so beschreibt sich Léo Apotheker selbst. Foto: Cooper Photos/Visum

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Sorgen der Manager

Nur jeder zehnte Firmenchef weltweit rechnet mit einer Umsatzsteigerung in diesem Jahr, zeigt eine Umfrage

Von Gerd Zitzelsberger

Davos - Die weltweite Wirtschaftskrise wird Jahre dauern, und die Erholung wird nur schwach ausfallen. Das ist die überwiegende Einschätzung von 1100 Vorstandschefs aus 50 Ländern, die die Wirtschaftsprüfungs- und -beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC) im Vorfeld des Weltwirtschaftstreffens in Davos befragt hat. Dennoch wollen - zumindest auf dem Papier - erstaunlich wenige Firmenchefs ihre Belegschaften verringern. Vergleichsweise positiv fallen die Prognosen deutscher Wirtschaftskapitäne aus.

Lediglich jeder Dritte der Vorstandsvorsitzenden sagte, er rechne auf Sicht von drei Jahren mit einem Wachstum. Vor einem Jahr lag der Vergleichswert noch bei 42 Prozent. Eine noch deutlich stärkere Stimmungsverschlechterung, so heißt es bei PwC, hätte sich gezeigt, wenn die Umfrage, die im vierten Quartal 2008 durchgeführt wurde, noch später stattgefunden hätte. Schon im Verlauf der drei Umfrage-Monate habe sich die Stimmung noch weiter eingetrübt.

Die kurzfristigen Wachstumserwartungen haben den tiefsten Wert seit der erstmaligen Befragung im Jahr 2003 erreicht. Ende November rechnete nur jeder zehnte Firmenchef mit einer Umsatzsteigerung für das laufende Jahr, heißt es in der Studie. Berücksichtige man auch die in den Wochen zuvor eingegangenen Antworten, dann zeigten sich noch 21 Prozent der Manager "sehr zuversichtlich", ihren Umsatz im Jahr 2009 steigern zu können.

Als besorgniserregend stufen die Berater den radikalen Stimmungswandel in den Schwellenländern ein. So ist in China der Anteil der Optimisten innerhalb eines Jahres von 73 auf 29 Prozent geschrumpft, in Russland von 73 auf 30 und in Mexiko sogar von 77 auf nur noch 13 Prozent. "Es ist ein Beleg dafür, dass sich die gegenwärtige Rezession anders als frühere Krisen nicht auf einige Wirtschaftsregionen beschränkt", sondern ein globales Problem sei, sagte Hans Wagner, der Sprecher des Vorstandes von PwC Deutschland.

In den Industrieländern sehen die Manager die Zukunft nicht rosiger. Dabei sind die Einschätzungen in Frankreich sogar noch düsterer als in den USA oder Großbritannien: Nur fünf Prozent der dortigen Spitzenmanager rechnen für 2009 mit einem Umsatzwachstum. In Deutschland dagegen beträgt der Anteil der "Optimisten" immerhin 17 Prozent - vor einem Jahr allerdings lag auch hier die Quote noch bei 57 Prozent.

Vergleichsweise zuversichtlich sind die deutschen Vorstandsvorsitzenden auch bei den Finanzierungsmöglichkeiten: Trotz des massiven Kursrutsches der Aktiennotierungen halten 38 Prozent der Befragten die Kapitalbeschaffung über die Börse weiterhin für eine Option. Weltweit dagegen haben 83 Prozent der Spitzenmanager das Thema Börsengang oder Kapitalerhöhung über die Börse erst einmal abgehakt. Selbst auf Kredite mag angesichts der Bankenkrise nur noch jeder vierte vertrauen. Die anderen wollen ihre Investitionen aus dem laufenden Umsatz finanzieren. Trotz der weltweiten Zinssenkungen der Notenbanken fürchten beinahe 80 Prozent der Spitzenmanager höhere Finanzierungskosten und erschwerten Zugang zu Kapitalquellen. Auch bei diesem Thema zeigen sich allerdings deutsche Vorstandsvorsitzende einen Hauch optimistischer als ihre Kollegen im Ausland.

Vor diesem Hintergrund denkt derzeit auch kaum mehr ein Vorstandsvorsitzender an Übernahmen und Fusionen. Statt dessen kommen der Not gehorchend jetzt wieder Allianzen und Gemeinschaftsunternehmen in Mode. Einen erstaunlichen Kontrast zu den Nachrichten der vergangenen Wochen liefert die Umfrage beim Thema Personalabbau: Während sich die Meldungen über Stellenstreichungen häufen, gaben in der PwC-Umfrage lediglich 26 Prozent der Vorstandsvorsitzenden - in Deutschland sogar nur 17 Prozent - an, dass sie mit einer Verringerung der Belegschaft rechnen. Mehr als ein Drittel der Spitzenmanager, sowohl weltweit wie in Deutschland, gaben sogar zu Protokoll, dass sie von einer wachsenden Belegschaft ausgehen. PwC-Deutschlandchef Wagner vermutet, dass sich die Firmen angesichts eines latenten Fachkräftemangels trotz der gegenwärtigen Umsatzausfälle nicht gerne von erfahrenem Personal trennen.

Schlechte Aussichten für Studenten in Peking: Vor allem in China habe sich die Stimmung dramatisch verschlechtert, stellten die Wirtschaftsprüfer in ihrer Umfrage fest. Foto: ecopix/Wong

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Wir jedenfalls haben uns nichts vorzuwerfen"

Gazprom-Vize Alexander Medwedjew über den Gas-Streit zwischen Moskau und Kiew, neue Leitungen und langfristig steigende Energiepreise

Alexander Medwedjew ist Vizechef des russischen Gazprom-Konzerns. Er verantwortet die Exporte, etwa durch die Ukraine.

SZ: Herr Medwedjew, seit voriger Wochen ist der Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine beigelegt. Wer hat gewonnen?

Medwedjew: Beide haben gewonnen. Wenn alle unsere neuen Abkommen respektieren, dann ist es für alle ein Gewinn, vor allem für unsere Kunden.

SZ: Man könnte es auch anders sehen: Mindestens die Ukraine und Gazprom haben verloren, nämlich an Ansehen.

Medwedjew: Unser Ruf ist uns sehr wichtig. Wir brauchen aber keine schönen Worte über Gazprom, sondern ein angemessenes, funktionierendes System. Das haben wir erreicht. Jeder, der objektiv auf den Konflikt schaut, kann sich selbst ein Urteil bilden, wer hier im Unrecht war.

SZ: Nach Ihrer Auffassung die Ukraine.

Medwedjew: Wir jedenfalls haben uns nichts vorzuwerfen. Das Verhalten der ukrainischen Seite ist immer irrationaler geworden. Es gab einen politischen Kampf zwischen dem ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko und der Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Das war der Hauptgrund dafür, dass die Krise letztlich eskaliert ist. Da wurden Verträge ausgehandelt, aber nicht unterschrieben.

SZ: Immerhin haben Sie jetzt einen Vertrag, und das Gas fließt wieder.

Medwedjew: Ja, aber es gibt immer noch Attacken gegen das Übereinkommen. Erst am Montag hat eine Berater von Juschtschenko eine Untersuchung angekündigt. Die soll herausbringen, ob das Abkommen rechtsgültig ist, weil es Anzeichen gebe, dass es unter Druck zustande gekommen sei. De facto stand jeder von uns unter Druck, Zeitdruck zum Beispiel. Ich verstehe das nicht.

SZ: Also ein neuer Konflikt?

Medwedjew: Das Problem ist, dass sich die Ukrainer gegenseitig nicht trauen. Zehn Leute sind nötig, um ein Abkommen zu paraphieren. Ich hoffe, dass es keine Versuche mehr gibt, etwas zu zerstören, das unter solchen Schwierigkeiten zustande gekommen ist. Jeder sollte wissen, dass uns zwei Milliarden Dollar Einnahmen entgangen sind. Wir rechnen gerade nach, welche finanziellen Folgen der Streit im Einzelnen für uns hatte.

SZ: Und wer kommt dafür auf?

Medwedjew: Wir werden alle rechtlichen Möglichkeiten ausnutzen, das zu klären.

SZ: Was lernen Sie denn nun aus dem Konflikt?

Medwedjew: Erstens, dass es im Transport immer Risiken gibt. Das müssen keine politischen Gefahren wie diese sein, es geht auch um Naturkatastrophen, Erdbeben, Überflutungen. Wir leben in einer sehr gefährlichen Welt. Pipeline-Systeme sind Hightech, sie zu betreiben ist ein schwieriger Job. Um diese Risiken zu vermindern, brauchen wir ein stärker diversifiziertes Transportsystem mit mehr unterschiedlichen Leitungen, aber auch mit mehr unterirdischen Speichern. Wir arbeiten daran, die Speicher auszubauen. Und parallel müssen wir mehr in die Infrastruktur investieren, etwa in Leitungen wie die Ostsee-Pipeline Nord Stream oder South Stream. Je schneller wir die Projekte verwirklichen, desto verlässlicher ist der Gas-Transit.

SZ: Das sieht die EU offenbar genauso. Sie will die Nabucco-Pipeline ausbauen, die mit Ihren Röhren konkurriert.

Medwedjew: Wir denken nicht, dass Nabucco eine echte Konkurrenz ist. Europa braucht mehr Gas, keine Frage. Man muss sich aber auch die Bedingungen für eine erfolgreiche Pipeline anschauen: Man braucht dafür Gasreserven, die für die ganze Lebensdauer des Projekts ausreichen, einen Markt, und schließlich das technische Know-how. Wir haben für Southstream starke Partner in den Regierungen, und wir wollen 2013 oder 2014 damit fertig werden. Das ist ein realistischer Zeitplan. Aber bei Nabucco muss man sich fragen: Wo ist das Gas? Wer soll das managen? Die Türkei gibt vor, die führende Rolle zu spielen. Ein Land, das kein Erdgas produziert. Aber wir sind da nicht eifersüchtig.

SZ: Die Westeuropäer haben eben einfach Angst vor zu großer Abhängigkeit von Russland.

Medwedjew: Aber diese Abhängigkeit ist gegenseitig: Wir hängen doch auch von den Exporteinnahmen ab.

SZ: Die Öl- und Gaspreise fallen. Brechen Gazprom die Einnahmen weg?

Medwedjew: Nein. Wir sind bei unseren Investitionen nicht von Ölpreisen von 150 oder 100 Dollar ausgegangen, da sind wir konservativ. Aber die Zeit günstiger Energievorkommen ist vorüber. Die Entfernungen zu den Vorkommen wachsen, es wird immer schwieriger, sie zu fördern. Und die Nachfrage wird wieder wachsen, sobald die Wirtschaft sich wieder erholt. Ein Ölpreis von 100 Dollar wird sicher bald wieder kommen.

Interview: Michael Bauchmüller

"Im Transport gibt es immer Risiken": der stellvertretende Gazprom-Chef Alexander Medwedjew. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

100 Milliarden für den Klimaschutz

EU fordert hohe Zahlungen an Entwicklungsländer

Brüssel - Die Europäische Kommission stellt an diesem Mittwoch ihre Ziele für die Verhandlungen um das neue internationale Klimaschutzabkommen vor, das im Dezember in Kopenhagen geschlossen werden soll und das Kyoto-Protokoll ablöst. Umweltkommissar Stavros Dimas fordert in seinem Positionspapier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, eine Vorreiterrolle der reichen Länder im Kampf gegen den Klimawandel ein. Um die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, sollte die Gruppe der Industriestaaten ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 um bis zu 40 Prozent reduzieren, bis 2050 sogar um bis zu 95 Prozent. Dazu will Dimas den in der EU bereits eingeführten Handel mit Emissionsrechten weltweit ausdehnen. Bereits 2015 sollen diese Regeln in allen OECD-Staaten gelten. Neben Industrie- und Gewerbebetrieben sollen auch der Luft- und der Schiffsverkehr künftig für den Ausstoß von Treibhausgasen bezahlen. Auch die Entwicklungsländer sollen ihre Klimagasemissionen begrenzen. Bis 2020 müsse deren Anstieg um 15 bis 30 Prozent begrenzt werden, schlägt Dimas vor.

In Brüssel heftig umstritten sind allerdings die Transferzahlungen, mit denen die reichen Länder den ärmeren Staaten beim Klimaschutz helfen wollen. Dimas geht davon aus, dass weltweit immer mehr Geld in klimafreundliche Technologien, Aufforstung oder nachhaltige Bodennutzung investiert werden muss. Bis 2020 werde diese Summe auf mindestens 175 Milliarden Euro pro Jahr steigen. Mehr als die Hälfte des Geldes müsse in ärmeren Ländern investiert werden. Dimas' Papier zufolge werden sich diese Staaten in Kopenhagen nur dann zum Klimaschutz verpflichten, wenn ihnen die reichen Länder eine "signifikant höhere finanzielle Unterstützung als bisher" zusichern. Dies gelte sowohl für Investitionen in neue Klimaschutzprojekte als auch für Anpassungsmaßnahmen zum Schutz gegen die Folgen des Klimawandels. Wie groß dieses Geldversprechen sein könnte, bleibt in Dimas' Positionspapier allerdings noch offen.

Europäische Diplomaten gehen davon aus, dass die EU bis 2020 jährlich bis zu 15 Milliarden Euro überweisen könnte. Auch Wirtschaftskommissar Joaquin Almunia hatte bei einem Mittagessen der europäischen Finanzminister in der vergangenen Woche in Brüssel erstmals über mögliche Transferleistungen gesprochen. Laut Teilnehmern könnten sich die Zahlungen der EU bis 2020 auf 100 Milliarden Euro summieren. Die Kommission wollte dazu keine Stellung nehmen. Umstritten sind zudem die Quellen, aus denen die Milliarden fließen sollen. Ein großer Teil des Geldes könnte laut Dimas aus der Versteigerung der Emissionsrechte kommen. Möglich sei auch, dass alle reichen Länder pauschal eine Summe in einen internationalen Fonds zahlen. Die genaue Höhe solle sich an der Emissionsmenge und der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes bemessen.

Anfang März sollen sich die europäischen Finanzminister auf mögliche Milliardentransfers einigen. Wenige Tage später müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs eine grundsätzliche Verhandlungsstrategie verabschieden. Bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober bleibt ihnen dann noch Zeit, Verhandlungsdetails festzulegen.Cerstin Gammelin

Die Treibhausgas-Emissionen sollen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent sinken.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Brückenschlag zu neuen Reserven

Viele Länder dringen stärker als je zuvor auf die Nabucco-Pipeline - sie soll Europa mit Gas vom Kaspischen Meer oder gar aus Iran versorgen

Von Klaus Brill

Prag - Unter dem Druck der jüngsten Gas-Krise drängen mehrere Länder Mitteleuropas die EU, das Projekt einer neuen Pipeline in den Kaukasus möglichst rasch in Angriff zu nehmen und damit eine Alternative zu den Lieferungen aus Russland zu schaffen. Auf einer von ihm organisierten Konferenz in Budapest erklärte der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany am Dienstag, für die Union sei eine solche Diversifikation das wichtigste strategische Ziel. Im selben Sinne äußerten sich auch der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek, der derzeit die Ratspräsidentschaft der EU innehat, sowie der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso.

Bei dem Treffen in Budapest, das schon lange vor dem jüngsten Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine einberufen worden war, geht es um das Projekt Nabucco. Es ist nach einer Oper des Italieners Giuseppe Verdi benannt, die die Befreiung des jüdischen Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft thematisiert. Das Vorhaben wird von einem internationalen Konsortium aus Energiekonzernen, unter ihnen die deutsche RWE, betrieben und hat den Bau einer 3300 Kilometer langen Erdgas-Leitung von der Ostgrenze der Türkei bis kurz vor Wien zum Ziel. Die Kosten werden auf acht Milliarden Euro geschätzt.

Als Lieferanten des Rohstoffes kommen Aserbeidschan, Turkmenistan und Kasachstan, aber auch Iran und Irak infrage. Zudem hat Ägypten seine Mitwirkung angekündigt, in anderen Fällen ist die Entscheidung noch offen. Nach bisherigen Plänen soll die Leitung quer durch die Türkei und Bulgarien nach Rumänien, Ungarn und Österreich führen und für weitere Interessenten wie etwa Tschechien zugänglich sein. Als Konkurrenz-Projekt dazu plant der russische Energiekonzern Gazprom zusammen mit der italienischen Gesellschaft Eni eine neue Gas-Pipeline mit Namen South Stream, die von Russland durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und weiter nach Serbien, Ungarn und Österreich sowie nach Griechenland und Italien verlaufen soll. Sie würde die deutsch-russische Verbindung North Stream durch die Ostsee ergänzen und dient wie alle anderen Planungen dazu, die Abhängigkeit von den jüngst gesperrten Leitungen durch die Ukraine zu beenden.

Der Tscheche Topolanek erklärte in Budapest als EU-Ratspräsident: "Nabucco ist kein antirussisches Projekt. Wir wollen Nabucco nicht gegen irgendjemanden, sondern für uns." Allerdings seien die russischen Konkurrenzvorhaben, mit denen die hohe Abhängigkeit der EU von russischen Gaslieferungen aufrechterhalten werden solle, eine "direkte Bedrohung" für Nabucco , sagte Topolanek. Der Ungar Gyurcsany erklärte, der "Eiserne Vorhang der Energieversorgung zwischen Ost- und Westeuropa" müsse fallen. Er forderte die EU auf, sich finanziell mit mehreren hundert Millionen Euro an der Vorfinanzierung zu beteiligen, damit das Projekt Nabucco bald starten könne. Die Entscheidung soll noch in den nächsten zwei Monaten fallen, der Bau könnte dann 2010 beginnen und 2013 fertig sein.

An der Konferenz in Budapest nahmen auch Vertreter anderer interessierter Länder teil, unter ihnen der bulgarische Premierminister Sergej Stanischew und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew. Alijew drängte die EU-Staaten zu einer baldigen Entscheidung und wies darauf hin, dass auch Gazprom von seinem Land Erdgas kaufen wolle. Die Sache sollte aber entpolitisiert werden, sagte er in Budapest. Aserbaidschan werde mit einer Förderung erst beginnen, wenn der Verkauf des Gases geregelt sei. Am Montagabend hatte Alijew mit dem Bulgaren Stanischew schon eine Sondervereinbarung über die Lieferung von Erdgas getroffen, das Bulgarien bisher fast nur aus Russland erhält.

Probleme könnte auch die Türkei aufwerfen, die als Transitland am Bosporus eine Schlüsselstellung einnimmt. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hatte jüngst zwar erklärt, seine Regierung wolle diesen Umstand "niemals als Waffe benutzen", zugleich aber mit einer Abkehr von Nabucco gedroht, falls bei den Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU nicht auch die Energiepolitik bald behandelt werde.

Offene Fragen gibt es schließlich auch zur Finanzierung. Aus diesem Grund waren in Budapest am Dienstag auch die Chefs der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung anwesend. Außerdem nahm Reinhard Mitschek, der Vorstandschef des Nabucco-Konsortiums, zugegen. Die RWE hat nach den Worten ihres Vertreters Stefan Judisch "keine Zweifel daran, dass Nabucco kommen wird". Die Planungen seien auf einem guten Weg, "es gibt auch keine Finanzierungsprobleme", sagte der Manager der RWE-Tochter Supply & Trading.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Ärmere Kinder bleiben zurück"

Eine Soziologin zur Bildungsfrage

Die Gießener Familiensoziologin Uta Meier-Gräwe sagt, dass Deutschland mehr in Bildung investieren muss, wenn der Staat die Armut erfolgreich bekämpfen will.

SZ: Sie sagen, Sie werden beim Thema Armut immer unruhiger. Warum?

Meier-Gräwe: Weil wir längst wissen, wie Armut entsteht und deshalb auch wissen, dass frühkindliche Bildung für stark benachteiligte Kinder sehr hilfreich sein kann. Doch wenn ich mir die Bundesrepublik anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass man die nötigen Konsequenzen zieht.

SZ: Arme Kinder bleiben abgehängt?

Meier-Gräwe: Nur ein Beispiel: Ich war kürzlich bei einer Einschulungs-Feier in einer Berliner Privatschule. Die Zweitklässler führten für die Neuen ein Theaterstück auf, in dem es auch ums Schachspielen ging. Danach hat man den Neulingen gesagt, dass sie Schach an der Schule lernen könnten. Drei Viertel der Sechsjährigen antworteten: "Das können wir schon!" Ein paar Tage vorher habe ich ein Theaterprojekt von 11- bis 13-Jährigen aus schwierigen Familien gesehen. Was die gezeigt haben, war respektabel. Aber die Aufführung der Zweitklässler war viel eindrucksvoller. Wenn ich das nebeneinanderstelle, werde ich unruhig - weil es zeigt, wie früh die Chancen bereits ungleich verteilt sind.

SZ: Eltern aus der Mittelschicht wollen eben das Beste für ihre Kinder.

Meier-Gräwe: Das ist auch ein Effekt der Pisa-Studien, der mir paradox erscheint: Seit Pisa tun wohlhabende Eltern noch mehr als früher, um ihre Kinder zu fördern - daher der Trend zu Privatschulen, der Trend zur Nachhilfe. Gerade dies öffnet die Schere aber weiter: Die ärmeren Kinder bleiben zurück.

SZ: Was könnte der Staat tun?

Meier-Gräwe: In den Kommunen kennen wir die Viertel, in denen besonders viele Kinder mit Schwierigkeiten leben. Hier muss massiv in die frühe Förderung der Kinder investiert werden. Gleichzeitig sollte man für Privatschulen Regeln einführen: Sie sollen ihre oft sehr gute Arbeit unbedingt weiterführen - aber bitte mit einem Anteil von dreißig Prozent Kindern aus schwierigen Verhältnissen.

Interview: Felix Berth

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hartz IV: Warum das Gesetz nicht funktioniert

Nicht nur die Eltern, die vor dem Bundessozialgericht mehr Unterstützung für ihre Kinder einforderten, haben gewonnen - fast jede zweite Klage von Hartz IV-Empfängern wird im Sinne der Betroffenen entschieden. Und die Zahl der Verfahren steigt weiter an. Die Sozialgerichte sind längst überfordert mit den vielen Klagen gegen ein Gesetz, das sich nicht bewährt hat und daher am besten geändert würde. Auf jeden Fall wäre es sinnvoller, wenn das Geld, das die Prozesse kosten, für Bedürftige ausgegeben werden könnte.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Außenansicht

Jetzt geht's los, aber womit?

Den Amerikanern ist Afghanistan am wichtigsten, den Europäern aber der Klimaschutz

Von Julianne Smith

Ursprünglich war die Formel von der "Dringlichkeit des Augenblicks" ein Wahlkampf-Slogan des Kandidaten Barack Obama. Er wollte damit deutlich machen, wie notwendig es ist, dass die USA einen neuen Kurs einschlagen. Als Präsident dürfte sich Obama jetzt an Europa wenden, um Unterstützung bei vielen internationalen Herausforderungen zu erhalten. Allerdings: Zwar wollen sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa das Kapitel der Bush-Ära zuklappen und ihr Augenmerk auf eine neue gemeinsame Agenda richten. Aber leider sind sich beide Seiten nicht einig, mit welchem Thema sie beginnen sollen. Für die Vereinigten Staaten hat die Nato-Mission in Afghanistan oberste Priorität. Für Europa ist der Kampf gegen den Klimawandel höchstes Gebot.

Diese Differenzen sind alles andere als bedeutungslos; sie müssen aber Europa und die USA nicht zwangsläufig auf Kollisionskurs bringen. Vielmehr haben Präsident Obama und die europäischen Regierungschefs die Chance, Fortschritt zu erzielen, indem sie einander deutlich mehr abverlangen. Während seines Wahlkampfs ging Obama von der Prämisse aus, dass der Krieg in Afghanistan zu Recht gekämpft werde. Er versprach, mehr Truppen zu schicken und die Bemühungen um den Wiederaufbau zu beschleunigen. Außerdem warnte er die Europäer, dass er sie um einen größeren Beitrag ersuchen werde. Obamas erste Möglichkeit dazu wird das Nato-Gipfeltreffen im April sein. Ganz gleich, wie sehr die Europäer den Erfolg dieses Gipfels herbeisehnen, ganz gleich, wie sehr die Europäer sich freuen, Obama als Präsidenten zu erleben - ihre Antwort wird sehr wahrscheinlich ein höfliches "Nein" sein. Die politischen Eliten Europas sehen keine Möglichkeit, mehr Truppen zu schicken. Sie fühlen sich militärisch bereits überlastet, und in ihrer Heimat gibt es eine wachsende Skepsis über den Sinn der Mission.

Selbstverständlich wird die Obama-Regierung die europäische Antwort als frustrierend empfinden. Genauso werden die Europäer enttäuscht sein, wenn sie Obamas Antwort auf ihren Appell hören, mehr gegen den Klimawandel zu unternehmen. Ja, Obama hat gelobt, die globale Erwärmung zu bekämpfen. Er hat eine verbindliche Klimapolitik versprochen, zum Beispiel durch die Etablierung eines Emissionshandels, der die gesamte Wirtschaft umfasst. Im besten Falle würde das bedeuten, den Climate Security Act der Senatoren Lieberman und Warner umzusetzen, der bis zum Jahr 2020 eine Reduktion der Emissionen auf den Stand von 1990 vorsieht.

Die Europäer hingegen arbeiten an Gesetzen, die die Emissionen um weitere 20 Prozent reduzieren sollen. Nach den Plänen der EU-Kommission würden manche Länder des Kontinents bis zum Jahr 2020 ihre Emissionen um mehr als 30 Prozent, andere sogar um mehr als 40 Prozent (immer gemessen am Jahr 1990) reduzieren. Im Vergleich zu diesen Staaten erscheint das Lieberman-Warner-Ziel von lediglich null Prozent unzureichend.

Umweltschützer werden erbost sein und Wirtschaftsführer werden sich über mangelnde Wettbewerbsfähigkeit beklagen. Europäische Politiker werden wissen wollen, was Amerikas neue Selbstverpflichtung zum Multilateralismus wert ist, wenn die Vereinigten Staaten es nicht schaffen, schnell die Erwartungen in jener Angelegenheit zu erfüllen, die die Europäer als größte globale Herausforderung aller Zeiten ansehen.

Abgesehen davon, was manche erwarten mögen: Präsident Obama ist nicht der Messias, der all die transatlantischen Wunden durch einfaches Handauflegen heilen wird. Er ist ein Politiker, der sich mit seinen eigenen innenpolitischen Beschränkungen konfrontiert sieht und auch lernen muss, mit den innenpolitischen Beschränkungen seiner internationalen Partner zu leben. Der transatlantische Graben ist seit Jahren tiefer geworden. Er wird sich nicht über Nacht schließen. In der Zwischenzeit müssen Erwartungen korrigiert werden.

Es ergibt keinen Sinn, Dinge voneinander zu verlangen, die keine der beiden Seiten erfüllen kann. Von Deutschland beispielsweise zu fordern, keine Vorbehalte gegenüber Truppen-Einsätzen mehr zu hegen und von dem Land die Entsendung zusätzlicher Kampftruppen für den Süden Afghanistans zu fordern - das führt zu nichts, außer zu wachsenden Spannungen. Statt dessen sollte Obama die Deutschen bitten, mehr Ausbilder für Polizisten, zivile Fachkräfte sowie Entwicklungshelfer aufzubieten.

Beim Klimaschutz müssen die Europäer akzeptieren, dass Präsident Obama kurzfristig nicht in der Lage sein wird, es mit den europäischen Selbstverpflichtungen aufzunehmen oder diese gar zu übertreffen. Zunächst sollten komplementäre, aber nicht identische Ziele den Anfang machen. Indem man dem Bemühen mehr Beachtung beimisst als den tatsächlichen CO2-Reduktionen, würde man den Amerikanern die Möglichkeit bieten, ins Spiel zu finden. Eine Möglichkeit dazu wäre, das Jahr 1990 als Bezugspunkt aufzugeben. Würde man die Uhr erst von 2005 an laufen lassen, könnten die Amerikaner den Lieberman-Warner-Act als ebenso ambitioniert darstellen wie das Europäische Klimapaket. Die Europäer sträuben sich dagegen. Aber warum? Das Bezugsjahr zu ändern, bedeutet nicht, an den mittelfristigen Klimazielen zu rütteln. Europa sollte Amerikas neues Engagement lieber wertschätzen, als auf Rahmenbedingungen zu pochen, die Amerika nur glanzlos aussehen lassen.

Erwartungen müssen aber auch bei anderen Themen gezügelt werden, zum Beispiel beim Arabisch-israelischen-Konflikt. Hier erwarten die Europäer (und auch viele Amerikaner), dass Präsident Obama die US-Anstrengungen zur Lösung dieses Konflikts verdoppelt. Allerdings bleiben Amerikas mangelnde Beziehungen zu zwei Schlüsselstaaten der Region - Iran und Syrien - ein entscheidendes Hindernis. Zugleich hofft Amerika, dass Europas Pendel-Diplomatie in die Region ein Zeichen für ein größeres europäisches Engagement ist; aber wie sehr sich die Europäer auch bemühen mögen, sie werden nicht in der Lage sein, den Einfluss geltend zu machen, über den die USA verfügen. In Wahrheit erfordert jede Lösung nachhaltige Bemühungen von beiden Seiten des Atlantiks. Aber Gott sei dank ist die größte Gefahr für die transatlantischen Beziehungen nicht länger ein zu geringes Bemühen - sondern der Wunsch nach sofortiger Belohnung. Angesichts der vergangenen acht Jahre kann man das einen Fortschritt nennen.

Julianne Smith ist Direktorin des Europa-Programms am Center for Strategic and International Studies in Washington. Übersetzung: Katja Riedel. Foto: oh

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Aktuelles Lexikon

Al-Arabija

"Die Amerikaner sind nicht eure Feinde", sagte Barack Obama im ersten Interview seiner Präsidentschaft. Nicht nur was er sagte war richtungweisend, sondern auch die Wahl des Fernsehkanals, dem er die Ehre des ersten Gesprächs zuteil werden ließ: al-Arabija, einem der beiden großen Nachrichtensender der arabischen Welt und Hauptkonkurrent von al-Dschasira. Seit dem 3. März 2003 geht al-Arabija von Dubai aus auf Sendung. Eigner ist der saudisch finanzierte Konzern Middle East Broadcasting Center. Al-Arabija scheut wie andere arabische Sender nicht vor einer drastischen Sprache zurück. Dennoch gibt sich al-Arabija weit gemäßigter als der Marktführer al-Dschasira, dem Scharfmacherei nicht nur aufgrund der regelmäßig ausgestrahlten Al-Qaida-Botschaften vorgeworfen wird. Geriet al-Arabija im Irak anfänglich noch mit der von den USA eingesetzten Übergangsregierung in Konflikt, änderte der Sender seine Politik 2004 deutlich. Als er in jenem Jahr den Posten des Generaldirektors des Senders übernahm, sagte Abdel Rahman al-Raschid, Terroristen hätten den Islam "beschmutzt und sein Image befleckt". In der arabischen Welt galt al-Arabija vielen bald als zu amerikafreundlich. Vor Obama sprach übrigens schon ein anderer Präsident der USA auf al-Arabija: George W. Bush, dessen Botschaften weniger freundlich aufgenommen wurden. kari

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Absolut beklagenswert

Die Hartz-IV-Regelungen bestehen vor den Gerichten nicht - sie werden wohl schon bald neu geschrieben werden müssen

Von Heribert Prantl

Hartz-IV-Empfänger haben zwar keine Arbeit, aber trotzdem Erfolg - wenn auch nur bei den Sozialgerichten. Fast die Hälfte ihrer Klagen sind erfolgreich: Klagen gegen Leistungskürzungen, Klagen gegen unverständliche Bewilligungsbescheide, Klagen auf mehr Geld, Klagen gegen die Behörden wegen Untätigkeit, Klagen auf schnelle Hilfe, weil die Heizung abgestellt wurde, weil die Leute im Kalten sitzen und einen Vorschuss, ein Darlehen brauchen.

Die Gerichte prüfen, sie prüfen sehr penibel, weil bei den Sozialgerichten das Amtsermittlungsprinzip gilt; sie müssen also aufklären, warum beim Arbeitslosen Huber kein Öl mehr im Tank ist; sie müssen aufklären, ob die Wohnung des Hartz-IV-Empfängers Maier wirklich zu groß ist, wie das die Behörde bei der Berechnung der Unterkunftskosten behauptet hat. Die Gerichte müssen schließlich auch prüfen, ob der Gast in der Wohnung der Frau Schmidt ihr Lebenspartner ist oder nicht, weil das wichtig ist für die Höhe ihrer staatlichen Leistungen.

Und nun wird das Bundesverfassungsgericht ganz grundsätzlich untersuchen, ob nicht die Kinder prinzipiell zu wenig Geld erhalten. Das Bundessozialgericht hat nämlich soeben die Beträge, die nach Hartz IV für die Kinder von Arbeitslosen bezahlt werden, für so niedrig gehalten, dass das mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht in Einklang zu bringen sei. Kinder von Arbeitslosen würden vom Staat verfassungswidrig kurz gehalten, meinte das Bundessozialgericht. Und das Landessozialgericht Darmstadt hat nicht nur dieses Detail, sondern die Gesamtkonstruktion der Bedarfsbemessung nach Hartz IV für verfassungswidrig erklärt. Das ganze Gesetzespaket liegt daher nun auf dem Tisch des Bundesverfassungsgerichts.

Man braucht keine prophetische Kraft um zu prognostizieren, dass das Hartz-IV-Gesetz die Prüfung in Karlsruhe nicht unbeschadet überstehen wird. Der Gesetzgeber wird das Gesetz völlig neu durchdenken, neu konstruieren und neu schreiben müssen - im Geist des sozialen Rechtsstaats, also ohne die Kleinlichkeiten, ohne die bürokratischen Schikanen und ohne die Verwaltungsexzesse, die das Gesetz heute verlangt. Ein Beispiel gefällig? Die Angemessenheit der Kosten der Wohnung eines Arbeitslosen ist nach Gesetzeslage für jede "Bedarfsgemeinschaft" immer wieder individuell zu berechnen; jede Heizkostenabrechnung hat also eine Neuberechnung zur Folge. Wo sind die Anhaltspunkte dafür, was angemessener Wohnraum, angemessene Miete und angemessene Heizkosten sind, auf dass sie der Arbeitslose vom Staat erhalten kann? Heizkosten hängen nicht allein davon ab, wie warm es jemand in seiner Wohnung haben will; sie hängen auch ab vom baulichen Zustand des Hauses und der Art der Heizung. Wenn mit dieser Heizung Warmwasser produziert wird, werden die Kosten dafür, so will es das Gesetz, herausgerechnet und nicht bezahlt, weil Strom und Warmwasser pauschal in den 311 Euro für den Lebensunterhalt des Arbeitslosen enthalten sind. Das Gesetz macht die Sozialrichter auf diese Weise zu Rechnungsbeamten.

Wie gesagt: Schon jetzt hat die Hälfte aller Klagen Erfolg; so eine Quote gibt es in keinem anderen Rechtsgebiet. Das liegt nicht an der Großzügigkeit der Richter, sondern an den einschlägigen Paragraphen und den überforderten Behörden: Das "Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitssuchende", so der amtliche Titel des Hartz-IV-Gesetzes, ist eine gesetzgeberische Katastrophe; seit seinem Inkrafttreten 2005 wurde es fast zwei Dutzend Mal geändert. Das hat die Gesetzeslage nicht einfacher gemacht.

Die Hartz-IV-Bescheide sind kompliziert, noch komplizierter als Steuerbescheide. Der Adressat schaut hinein wie in eine arabische Gebrauchsanweisung für einen iPod. Er geht dann zum Anwalt (den bei Bedürftigen via Prozesskostenhilfe der Staat zahlen muss), der Anwalt versteht aber den Bescheid womöglich auch nicht und reicht daher Klage beim Sozialgericht ein, in der er behauptet: "Der Bescheid ist falsch berechnet. Die Leistungen sind zu niedrig." Die Wahrscheinlichkeit, dass er recht hat, ist hoch. Der Anwalt braucht gar nicht in die Details zu gehen, weil die Sozialgerichte - die in der Flut der Klagen schier ertrinken - gehalten sind, die Sache von Amts wegen aufzuklären: Die Richter vernehmen also Zeugen, sie prüfen die Causa Schritt für Schritt und sie stellen dann eben sehr häufig fest: Die Leistungen sind wirklich zu niedrig. Und so nährt Hartz IV nicht nur den Arbeitslosen, sondern auch dessen Anwalt. Die Verfahren laufen zu neunzig Prozent über Prozesskostenhilfe. Der Staat zahlt auf diese Weise für die Folgen seiner gesetzgeberischen Defizite: 500 Euro für den klagenden Anwalt sind es allemal. Dieses Geld wäre bei den Kindern der Arbeitslosen besser aufgehoben.

Jahr für Jahr steigt die Zahl der Klagen gegen Hartz IV. Die Politik beschwichtigt: Bei neuen Gesetzen komme es am Anfang immer zu mehr Verfahren bei den Gerichten; nach der gerichtlichen Klärung der Streitfragen pendle sich das dann aber bald wieder ein. Diese Prognose ist falsch, die Klagezahlen steigen weiter an. Erstens weil das Hartz-IV-Gesetz so kompliziert ist. Zweitens weil sich die Behörden um Urteile der Sozialgerichte wenig scheren. Wenn also je ein Gesetz ein gordischer Knoten war: Das Hartz-IV-Gesetz ist einer. Und seit der Antike weiß man, was zu tun ist.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Was kostet die Welt mit dreizehn?

Das Bundessozialgericht bemängelt, der Staat habe zu pauschal festgelegt, wieviel Kinder und Jugendliche in Deutschland zum Leben brauchen

Von Daniela Kuhr

Nach dem Beschluss des Bundessozialgerichts heißt es erst einmal abwarten. So lange das Bundesverfassungsgericht nicht entschieden hat, bleibt für Kinder von Hartz-IV-Beziehern alles beim Alten. Vorerst werden daher die unter 14-Jährigen weiter 211 Euro (60 Prozent des Regelsatzes für Erwachsene) monatlich erhalten und die 14- bis 18-Jährigen 281 Euro (80 Prozent).

Ab 1. Juli aber gibt es eine Neuerung - und zwar völlig unabhängig von der Entscheidung aus Kassel. Das Kabinett beschloss am Dienstag, bei den Empfängern von Arbeitslosengeld II eine dritte Stufe für Minderjährige einzuführen: Danach bekommen die Sechs- bis 13-Jährigen künftig 70 Prozent des Regelsatzes für Erwachsene - und damit 246 Euro statt derzeit 211 Euro. "Das hatten wir unabhängig von der Entscheidung des Bundessozialgerichts beschlossen, nachdem das Bundesarbeitsministerium im vergangenen Jahr die Regelsätze für Kinder überprüft hatte", sagte eine Sprecherin des Ministeriums am Dienstag. Bei der Überprüfung habe man festgestellt, dass der Bedarf eines Babys sich doch von dem eines zwölfjährigen Kindes unterscheide. "Die neuen Stufen gelten ab 1. Juli", sagte die Sprecherin. Es sei damit zu rechnen, dass sich die Regelsätze dann auch insgesamt ein wenig erhöhen, da sie an die Entwicklung der Renten gekoppelt seien.

Dass bislang Kinder unter 14 Jahren gleich behandelt wurden, egal ob sie neugeboren oder ein Teenager waren, war einer der Punkte, den das Bundessozialgericht am Dienstag kritisierte. Es sei ein Verstoß gegen das Grundgesetz, dass die Vorschrift im Sozialgesetzbuch "die Höhe der Regelleistung für alle Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich mit 60 Prozent festsetzt, ohne dabei weitere Altersstufen vorzusehen". Im Bundesarbeitsministerium geht man davon aus, dass dieser Kritikpunkt mit dem Kabinettsbeschluss vom Dienstag ausgeräumt ist.

Doch die Richter äußerten noch weitere Bedenken. So sehen sie das Gleichbehandlungsgebot, den Schutz der Familie und das Sozialstaatsgebot verletzt, weil der Gesetzgeber für Kinder einfach pauschal 40 Prozent von der Leistung für Erwachsene abgezogen hat, "ohne dass der für Kinder notwendige Bedarf ermittelt und definiert wurde". Der Senat ist der Ansicht, dass der Gesetzgeber stattdessen "auf der Basis einer detaillierten normativen Wertung des Kinder- und Jugendlichenbedarfs" den Regelsatz hätte bestimmen müssen. Nur dann seien Gerichte in der Lage, darüber zu entscheiden, ob der Regelsatz für Kinder "noch im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers lag". Die Richter betonten, dass nach wie vor offen sei, ob der Betrag von 207 Euro (früher) oder 211 Euro (heute) für Kinder ausreiche. Sie kritisierten also nicht die Höhe an sich, sondern nur das Verfahren, in dem das Sozialgeld festgelegt worden war.

Bei Erwachsenen dagegen hatte das Bundessozialgericht im November 2006 keine Bedenken gegen das Verfahren. Im Gegensatz zu den Kindern hatte der Gesetzgeber den Bedarf von Erwachsenen umfassend ermittelt, indem er die Ausgaben von Ein-Personen-Haushalten aus dem unteren Einkommensbereich statistisch auswertete. Die Richter bekräftigten am Dienstag, dass sie den Regelsatz für Erwachsene, der derzeit bei 351 Euro monatlich liegt, weiterhin für verfassungsgemäß halten.

Wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ist offen. Hat es anders als das Bundessozialgericht keine verfassungsrechtlichen Zweifel, bleibt alles wie bisher. Teilen die Karlsruher Richter dagegen die Bedenken der Kollegen aus Kassel, könnten sie dem Gesetzgeber aufgeben, bis zu einem bestimmten Stichtag die Sache neu zu regeln. Als unwahrscheinlich gilt, dass sie selbst einen Betrag festlegen, der angemessen wäre.

Kinder brauchen Eltern; und Eltern brauchen Geld, um ihre Kinder aufziehen zu können. In mancher Hinsicht benötigen Kinder sogar mehr Geld als Erwachsene, denn sie wechseln schneller ihre Schuhe, zerreißen eher mal eine Jacke oder eine Hose. Deshalb hat das Bundessozialgericht Zweifel, ob Kinder mit weniger Unterstützung als Erwachsene auskommen können. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Verfolgt von einem Verdacht

Ein Ehepaar äthiopischer Herkunft lebt gut integriert in einer badischen Kleinstadt - bis plötzlich das Jugendamt und ein Gericht der Familie pauschal unterstellen, sie wolle die Tochter beschneiden lassen. Wie sollen die Eltern je beweisen, dass sie diese Absicht nie hatten?

Von Bernd Dörries

Schopfheim - Manchmal fragt sich Yacob H., wo denn eigentlich die Grenze ist. Er überlegt, wie lange dieser Zustand noch andauern wird, was die Familie noch ertragen kann und vor allem, wo Deutschland denn genau zu Ende ist. Das ist wichtig in diesen Tagen. Im südbadischen Schopfheim ist es gar nicht so leicht zu sagen, wo das eine Land anfängt und das andere aufhört. Es sind ein paar Kilometer in die Schweiz und ein paar mehr nach Frankreich. Normalerweise ist das eine schöne Sache, man kann schnell einen Ausflug machen. In diesen Tagen fragt sich Yacob H. aber bereits, ob er mit seiner Tochter überhaupt noch den Zug nach Freiburg nehmen kann. Der Weg führt über Basel, vom deutschen Bahnhof Schopfheim fährt eine Schweizer S-Bahn. Da fängt das Problem schon an für Yacob H. und seine Familie, der ein Gericht verboten hat, ihre Tochter ins Ausland reisen zu lassen, obwohl sie Deutsche ist. Und das Ausland beginnt hier im Dreiländereck bereits fast vor der Haustür der Familie H.

Yacob H., 40, und seine Frau Anna M., 47, sind ein schönes Paar, das gerne lacht, und so haben sie auch erst einmal gelacht, als sie im Juli vergangenen Jahres vom Jugendamt hörten. Die Behörde in Lörrach teilte mit, sie wisse, dass die Familie eine Reise zu den Verwandten nach Äthiopien plane, und nun sehe das Landratsamt Lörrach, Abteilung V/Jugend, die große Gefahr, dass die zehnjährige Tochter Dinah dort beschnitten werden könnte. Dass ihr also in einem blutigen Ritual die Schamlippen oder Teile der Klitoris abgeschnitten werden könnten. Ein immer noch weit verbreitetes Ritual, das Millionen Frauen in afrikanischen und arabischen Staaten durchleiden müssen.

Yacob H. und seine Frau sind äthiopischer Abstammung, leben seit Jahrzehnten in Deutschland - sie hat einen italienischen Pass, er einen Deutschen. Sie hatten nie mit dem Jugendamt zu tun, plötzlich meldet es sich fast jeden Tag. Sie legen der Behörde Dokumente vor, die beweisen sollen, dass die Großeltern in Äthiopien gegen die Beschneidung sind, dass deren sieben Töchter, die Schwestern von Yacob H., nicht beschnitten sind. Ja, dass die ganze Familie die Beschneidung für eine schlimme Sache hält. Anna M. hat eine Tochter aus erster Ehe, die heute 26 Jahre alt ist und versichert, nicht beschnitten zu sein. Über Generationen hätten sie nicht beschnitten, warum sollten sie nun damit anfangen?

Die Großeltern sprechen bei der deutschen Botschaft in Addis Abeba vor. Er pensionierter Oberst, sie Lehrerin, "Bildungsbürgertum", notiert der Botschaftsmitarbeiter, keine Hinweise auf Genitalverstümmelung. "Die Beschneidung ist schrecklich und in Äthiopien sicher noch ein großes Problem. Wie kann man aber uns hier deshalb unterstellen, dass wir unserer Tochter Leid antun wollen?", fragt der Vater immer wieder. Er möchte nicht, dass sein Nachname in der Zeitung steht, er bekomme zu viele Anrufe von Leuten, die wegen seiner Tochter auf ihn einreden.

Zwei Monate nach dem ersten Kontakt des Jugendamtes gibt es einen Beschluss des Amtsgerichts Bad Säckingen, der den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht teilweise entzieht: "Der Schaden, der hier droht, besteht darin, dass ein zehn Jahre altes Mädchen im Falle seiner Ausreise nach Äthiopien der in diesem Land nicht unüblichen Zeremonie einer Beschneidung der Geschlechtsteile unterzogen werden könnte." Das Gericht geht zwar von einem "untadeligen" Ruf der Familie aus, bezieht sich in seiner schriftlichen Begründung aber auf Informationen des Onlinelexikons Wikipedia, wonach Äthiopien eine sehr hohe Quote von beschnittenen Frauen habe.

Ein Gericht urteilt nach Wikipedia.

"Ob es Gesichtspunkte gibt, die in diesem konkreten Fall das allgemein in Äthiopien bestehende Risiko vermindern oder gar ausschließen, kann von hier aus nicht beurteilt werden", schreibt das Gericht. Das sei letztlich nichts weniger als die Umkehr der Beweispflicht, sagt der Anwalt der Familie, Claus Huber. Das Jugendamt schickt der Familie ein Formblatt, in dem sie sich verpflichten sollte, einmal im Jahr mit der Tochter einen Arzt aufzusuchen, um die Unversehrtheit des Mädchens bestätigen zu lassen. Yacob H. verweigert die Unterschrift, fühlt sich in seinen Rechten verletzt. "Fehlende Mitwirkung", notiert das Jugendamt. Alle Behörden betonen natürlich, nur das Beste zu wollen für Dinah. Man könne nur eben nichts ausschließen.

Die Mutter hat wegen der Belastungen ihre Arbeit gekündigt. Die zehnjährige Tochter hat nachts Angst, das Jugendamt könnte sie abholen. Yacob H. wird in der Stadt immer mal wieder gefragt, warum er denn seine Tochter beschneiden lassen wolle. Yacob H. ist ein höflicher Mann, er erklärt dann jedes Mal, dass er gegen Beschneidung ist. Weil sein Fall mittlerweile einige Aufmerksamkeit bekommen hat, sagt er auch: "Viele Menschen in Schopfheim sind sehr traurig über das, was passiert, und darüber, dass ausgerechnet Schopfheim mit dieser Sache in Verbindung gebracht wird. Das tut mir auch weh. Ich bin auch Schopfheimer."

Draußen schneit es ziemlich stark, in diesem Moment ist Schopfheim das genaue Gegenteil des Ortes, von dem aus sich Yacob H. und seine Frau auf den Weg gemacht haben. Yacob H. ist in Addis Abeba geboren als Sohn einer gut situierten Familie. Er geht zum Studieren nach Odessa, und mit dem Mauerfall kommt er erst nach Berlin und dann in die Nähe von Mühlhausen. 1993 lernt er in Freiburg seine heutige Frau kennen. Auch sie ist in Äthiopien geboren, hat viele Jahre in Italien und Frankreich gelebt. Aber erst in Schopfheim hat es wirklich gepasst, sagen sie. Yacob H. arbeitet als Betonbauer, seine Frau auf der Dialysestation eines Krankenhauses. Sie leben in einem Wohnblock und machen mit einem Opel Kombi Ausflüge in die Umgebung. Ein sehr deutsches Leben.

Im Sommer sollen die Kinder zu den Großeltern nach Äthiopien fahren, der Sohn war bereits dort, für die Tochter wäre es das erste Mal. Weil die Flüge ziemlich teuer sind, sollen die Kinder ohne die Eltern fliegen, in der Maschine wäre aber der Vater des Patensohns von Yacob H. gewesen, ein enger Freund. Am Flughafen in Addis Abeba hätten die Großeltern gewartet. Im Krankenhaus erzählt Anna M. den Kolleginnen von der Reise und darüber, wie sehr sie sich für die Kinder freue. Eine Kollegin, so hat es Anna M. im Nachhinein erfahren, hat über Wochen den anderen Schwestern erzählt, sie glaube, die Tochter Dinah solle im Urlaub beschnitten werden, obwohl es überhaupt keine Anzeichen dafür gab. Schließlich landete der Fall bei der "Task Force für effektive Prävention von Genitalverstümmelung", die das Jugendamt in Lörrach einschaltete.

Die Task Force ist eine kleine Initiative, die 2007 von Ines Laufer, 35, in Hamburg gegründet wurde und in Politik und Gesellschaft gegen Beschneidung kämpfen will. Die Arbeit ist ehrenamtlich, was sie sonst macht, möchte Laufer nicht sagen, außer dass sie freiberuflich tätig ist. Früher einmal war sie bei der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Deren Ansatz sei ihr aber nicht "zielführend genug", sagt sie.

"In Äthiopien gibt es kollektive Gewalt in einem Ausmaß, das wir gar nicht kennen", sagt Laufer. Und die Gewalt mache auch nicht an der Grenze halt oder deshalb, weil jemand Deutscher werde. Ihr Ziel ist es, dass alle hier lebenden Kinder aus Risikogruppen registriert und bis zum 18. Lebensjahr mit einem generellen Ausreiseverbot belegt werden sollten. Zur "Risikogruppe" gehört jeder, bei dem zumindest ein Elternteil in Ländern wie Gambia, Äthiopien oder dem Irak geboren wurde, insgesamt 26 Staaten stehen auf ihrer Liste, was ihr zufolge eine Gesamtzahl von etwa 50000 Kindern ergibt, deren Eltern das Sorgerecht teilweise entzogen werden müsste. Ein solches Programm wäre ein "erheblicher Eingriff in verschiedene Grundrechte (. . .), dessen Verhältnismäßigkeit zweifelhaft ist", schreiben drei Bundesministerien als Antwort auf die Vorschläge von Laufer. Der Plan wäre "mit einer massiven gesellschaftlichen Stigmatisierung verbunden". Es wäre nichts weniger als ein Generalverdacht. Ines Laufer nennt es einfach einen "Generalschutz".

Sie telefoniert mit dem Jugendamt in Lörrach, von dort geht die Sache vor Gericht. Im August, im ersten Verfahren, sehen weder das Amtsgericht noch das Jugendamt eine Gefahr für das Kind und glauben den Eltern. Wenige Wochen später sind derselbe Richter und dasselbe Amt plötzlich genau gegenteiliger Meinung und entziehen der Familie H. teilweise das Sorgerecht. Das Einzige, was sich zwischen den beiden Terminen geändert hat, ist, dass dem Jugendamt aufgefallen ist, dass es in Addis Abeba keinen Internationalen Sozialdienst gibt, der sich notfalls um Dinah kümmern könne. Und im Laufe des Verfahrens hat sich Ines Laufer auch an die Vorgesetzte der Jugendamts-Mitarbeiter gewandt.

In einem knappen Dutzend Fälle haben Gerichte bereits die Ausreise von Kindern verboten, weil ihnen im Heimatland eine Genitalverstümmelung drohe. Dazu müsse, urteilt der Bundesgerichtshof im Jahr 2004, aber mit "ziemlicher Sicherheit" vorausgesagt werden können, dass einem Kind eine Gefährdung drohe. Wenn man Ines Laufer von der Task Force fragt, woher sie wisse, dass die Familie H. ihre Tochter beschneiden lassen wolle, sagt sie: "Die Aussagen der Eltern sind nicht überprüfbar. Und damit irrelevant."

Ob sie mit ihnen gesprochen habe? "Wenn jemand eine Straftat vorhat, kann man nicht davon ausgehen, dass er sie vorher ankündigt", sagt Laufer.

Sie selbst war noch nie in Äthiopien. "Man muss auch kein KZ von Innen gesehen haben, um zu begreifen, was da passiert ist. Das ist absolut irrelevant."

Sie sitzt hinter einem Schreibtisch in Hamburg, von dem aus sie auf die Welt schaut. Die Welt aus Sicht der Task Force ist nicht schwarz und weiß. Sie ist einfach nur schwarz. Es ist egal, was Yacob H. und seine Familie sagen. Ihre Geschichte, ihr Leben. Sie spielen keine Rolle. Ines Laufer plant schon die nächsten Ausreiseverbote, schreibt Rundmails an Gerichte.

Die Aktionen von Laufer seien "vollkommener Nonsens, der keinem Menschen hilft", sagt Fadumo Korn. Sie ist 45 Jahre alt, wurde in Somalia geboren, als Mädchen beschnitten und kam im Alter von 16 Jahren nach Deutschland. Sie hat ein Buch geschrieben über ihr Leben, mit einem Vorwort von Karlheinz Böhm, und viele Preise bekommen für ihren Kampf gegen die Beschneidung. Sie fährt nach Afrika und hält dort Vorträge vor Hunderten Männern. Ines Laufer sitzt in Hamburg vor dem Computer und schreibt an Korn: "Es ist meine Pflicht, von Ihnen zu fordern, dass Sie, wenn Sie sich an die deutsche Öffentlichkeit wenden, um über Genitalverstümmelung zu informieren, den richtigen Begriff verwenden." Es geht nicht um den gemeinsamen Kampf gegen ein Unrecht.

"Diese Frau möchte mich zwingen, dass ich mich als Verstümmelte bezeichne", sagt Korn. Sie verwendet aber weiter den Begriff Beschneidung. "Europäer wollen Frauen, die gebrochen sind", sagt Korn. Hilflose Opfer, denen dann geholfen werden kann. "Wie aber kann man den Afrikanerinnen verweigern, ihre eigenen Themen selbst so zu behandeln, wie sie sie behandeln wollen." Wenn sie von einer Familie in Deutschland hört, die vielleicht ihr Kind beschneiden will, dann fährt sie immer hin und macht sich persönlich ein Bild. Sie redet mit den Leuten und droht ihnen auch, wenn es denn sein muss.

Mittlerweile hat auch die Deutsche Welle, die ein Programm in Amharisch ausstrahlt, über den Fall berichtet, der dann von einigen Zeitungen in Äthiopien aufgegriffen wurde. "Jetzt bekomme ich Anrufe von dort, und die Leute fragen mich, was denn in Deutschland los sei", sagt Yacob H. Die Menschen in Äthiopien würden sich fragen, wie es sein könne, dass Deutschland keine Kinder mehr nach Äthiopien ausreisen lässt. Yacob H. versucht dann zu erklären, dass es sich um einen Einzelfall handele, der nun leider einmal ihn getroffen habe. "Ich muss den Äthiopiern erklären, wie Deutschland wirklich ist, und dann muss ich den Deutschen erklären, wie Äthiopien wirklich ist", sagte Yacob H. Er ist jetzt ein Vermittler, der im verschneiten Schopfheim sitzt.

Es ist eine Schlacht der Zahlen und Studien. Während Ines Laufer von der Task Force sagt, bis zu 90 Prozent der Frauen in Äthiopien würden beschnitten, verweisen Yacob H. und seine Unterstützer darauf, dass sich doch auch etwas verändert habe im Land. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit befürworteten im Jahr 2000 noch 52 Prozent aller äthiopischen Mütter die Beschneidung, 2005 seien es nur noch 38 Prozent gewesen.

Wahrscheinlich im Februar wird das Oberlandesgericht Karlsruhe darüber entscheiden, ob Dinah H. wieder ins Ausland fahren darf, ohne dafür eine Behörde fragen zu müssen. Sie wird in psychologische Behandlung kommen. Dinah frage sich oft, sagt die Mutter, warum sie als Mädchen hier in Deutschland benachteiligt werde.

Die Verwandten bezeugen, dass sie das Ritual seit Generationen ablehnen

Eine selbsternannte Retterin zieht in ihren Kampf

In Addis Abeba will man wissen, was da eigentlich los ist in Deutschland

"Wie kann man glauben, dass wir unserer Tochter Leid antun wollen?" Yacob H. und Anna M. fühlen sich völlig zu Unrecht von deutschen Behörden stigmatisiert. Foto: Heiner Fabry

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Aufbruch in die Krise

Mehr als andere spüren die Letten schon, dass der neue Wohlstand nur gepumpt war. Doch die katastrophale Wirtschaftslage ist für sie noch kein Grund zur Depression

Von Cathrin Kahlweit

Riga - Aigars Bikse könnte schon längst ein reicher Mann sein. Der "Star der lettischen Kunstszene", wie ihn internationale Medien nennen, ein 40-jähriger Kauz mit langem Bart und Kasperlkleidung, hat eine aufblasbare Plastikskulptur für Politik-Verweigerer gestaltet: Auf einem blauen Sockel steht ein blauer Mann in Heldenpose, so wie einst Enver Hodscha oder Saddam Hussein auf ihren Sockeln standen. Aber während es für den Sturz dieser Diktatoren Seile, Kräne und Volkszorn brauchte, ist der Sturz des namenlosen Nationalhelden denkbar einfach. Denn die Skulptur von Bikse hängt an einem Schlauch mit Knopf. Wer draufdrückt, lässt Luft aus der Figur, und sie kippt ganz von selbst zur Seite. "Stürz' deinen Helden", sagt Bikse zu seinem politischen Luftballon. Bei den mehr als 10 000 Menschen, die sich unlängst voller Wut auf ihre Regierung rund um den Dom von Riga zusammengefunden hatten, hätte eine solche Figur als Massenprodukt für die Massenbewegung sicher Anklang gefunden. Denn 40 Prozent der Letten wollen mit den Politikern nichts mehr zu tun haben und würden sie am liebsten alle in die Wüste schicken.

Die Demonstration vor zwei Wochen endete mit Straßenschlachten, etwa 40 Verletzten und der kurzzeitigen Verhängung des Ausnahmezustandes - ein ungewohnter Gewaltausbruch in diesem kleinen Staat, dessen Volksaufstände so wenig kämpferische Namen wie "singende Revolution" oder "Regenschirm-Revolution" tragen. Singen ist lettischer Nationalsport, und singend marschierten die etwa zwei Millionen Letten 1990 in ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Regenschirme wiederum waren das Markenzeichen der Regierungskritiker, die im Herbst 2007 im Dauerregen auf die Straße gingen, weil sie grundlegende politische Reformen anmahnten. Auf die warten die Letten allerdings bis heute.

Der Massenaufmarsch in diesem Januar, die kaputten Fensterscheiben und die verbrannten Autos - das war eine neue Qualität. Dass die größte Demonstration seit den Tagen des Unabhängigkeitskampfes aus dem Ruder lief, wird offiziell betrunkenen Jugendlichen zugeschrieben; die Presse spekuliert über russische Aufwiegler, die das Chaos befördert hätten. Leise mehren sich aber die Stimmen, die einräumen, dass die Ausschreitungen erste Reaktionen auf den Niedergang des Landes waren, das mit seinen Wachstumsraten als "baltischer Tigerstaat" firmierte, das aber mittlerweile von der globalen Finanzkrise besonders gebeutelt wird. Die Nachricht, dass die guten Zeiten vorbei sind, wurde von den Bürgern lange verdrängt - und von der Regierung monatelang verschwiegen. Nun hoffen die Letten, dass die Umkehr nicht zu arg schmerzt. Unterkriegen lassen mag sich von den Vorboten einer Depression vorerst niemand.

Nicht Aigars Bikse, der findet, er könne auch mit der Gehaltskürzung zurechtkommen, die ihm in seinem Nebenjob als Professor an der Kunstakademie droht. Auch nicht Raita Karnite, Ökonomin an der Akademie der Wissenschaften, die Statistiken schwenkt, nach denen die Gehälter in manchen Berufen um 50 Prozent pro Jahr wuchsen. "Womit das finanziert wurde? Ausschließlich mit geliehenem Geld." Die Mittfünfzigerin will sich trotzdem selbständig machen. Angst vor der Zukunft? "Ich weiß, was ich kann." Zukunftsangst haben auch die zwei Studentinnen nicht, die in das winzige Büro von Alf Vanags an der Stockholm School of Economics stürmen. Während Vanags, der einen Think Tank leitet, gelassen analysiert, warum die Arbeitslosigkeit bald bei mindestens zehn Prozent liegen wird, beglückwünscht er eine der jungen Frauen zu ihrem Baby. Die andere hat gerade bei einem staatlichen Forschungsprojekt gekündigt, beide suchen Jobs. Krise? Welche Krise? "Bei mir steigt in solchen Zeiten der Adrenalinspiegel", ruft die junge Mutter.

Und auch Artis Pabriks hat erstmal andere Prioritäten als die Staatsfinanzen. Der Ex-Außenminister hatte mit seiner neuen Oppositionspartei "Bewegung für eine neue Politik" die Massendemonstration vom 13. Januar mitorganisiert. Der jungenhafte Politiker fordert vor allem Reformen am wackeligen demokratischen System. "Wir müssen das mangelnde Vertrauen in die politische Elite bekämpfen. Jetzt!" Die Chancen dafür stehen schlecht. Präsident Valdis Zatlers droht, das Parlament aufzulösen, wenn es keine brauchbaren Vorschläge zur Lösung der Krise macht. Hinter den Kulissen wird derzeit über eine Regierung der nationalen Einheit verhandelt - oder aber über Neuwahlen. Wieder einmal. In der 800 000-Einwohner-Metropole herrscht derweil heitere Gelassenheit - obwohl die ersten Läden zumachen, obwohl die Fabriken im Osten ihre Produktion herunterfahren. Dabei musste die Regierung unter Ivars Godmanis, die erst seit einem knappen Jahr im Amt ist, im Herbst erklären, das Land stehe vor dem Bankrott. Die zweitgrößte Bank wurde verstaatlicht, 7,5 Milliarden Euro Kredite wurden unter anderem beim Internationalen Währungsfonds aufgenommen.

Lettland lebt seit Jahren über seine Verhältnisse. Die Immobilienpreise in Riga haben sich seit dem EU-Beitritt 2004 verdoppelt, die Gehälter der Mittelklasse auch. Der Schein-Wohlstand hat sich über die Republik gelegt wie ein wärmender Nerz - und doch konnte schon lange sehen, wer sehen wollte, dass die Motten am Pelz nagten. Wo sich Familien schnell mal einen Kredit über das Zehnfache ihres Jahreseinkommens leisteten, wo man bei seiner Bank per SMS einen Kleinkredit über 2000 Euro beantragen konnte - da war vorauszusehen, findet Aigars Bikse, dass die Rechnung nicht aufgeht. Schon Anfang 2007, also vor zwei Jahren, berichtet die Baltic Times, habe ein Drittel der Immobilienkäufer die Kredite nicht mehr bedienen können, mit denen die Phantasiepreise auf dem lettischen Wohnungsmarkt finanziert wurden. Raita Karnite findet, "man musste blind sein, um nicht zu sehen, was kommen würde." Sie sucht die Gründe dafür in der Geschichte: "Die Leute hatten das Gefühl, sie hätten ihren Wohlstand verdient", analysiert die Ökonomin. Nach Jahren der Unterdrückung durch die Sowjets habe sich das schnelle Geld angefühlt "wie eine Wiedergutmachung".

Und das soll nun alles vorbei sein? Die Mehrwertsteuer: steigt um drei Prozent. Die Gehälter aller Staatsangestellten sinken: um 15 Prozent. Die Boni, die in den Ministerien ausgezahlt wurden: gestrichen. Die Budgets einiger Ministerien: drastisch zurückgefahren. Die Auswirkungen werden bald zu spüren sein - spätestens, wenn im Februar erstmals rückwirkend die gekappten Gehälter ausgezahlt werden.

Aigars Bikse findet, die Letten hätten ihre Krise und ihre Regierung verdient: "Wer so dumm ist wie wir, der muss zahlen." Seine Lösung: Letten kauften doch auch japanische Fernseher und italienische Autos, meint Bikse: "Da könnten wir doch auch bessere Politiker importieren. Schwedische vielleicht?" Trotz aller Scherze bekommt es selbst der fröhliche Künstler langsam mit der Angst zu tun. Die neue Mittelklasse habe bei der Randale vor zwei Wochen in stillem Einvernehmen zugeschaut, glaubt Bikse - "die Leute fühlen sich betrogen. Und lassen andere für sich randalieren. Noch."

"Die Leute fühlen sich betrogen": Mitte Januar kam es in Riga zu Krawallen. Manche sehen darin die Vorboten unruhiger Zeiten. Denn Lettland merkt nach Jahren des Wachstums, dass nun der wirtschaftliche Niedergang kommt. Foto: Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Statiker am Rande des Nervenzusammenbruchs

Gebauter Widerspruch: das neue Porsche-Museum des Wiener Büros Delugan Meissl in Stuttgart-Zuffenhausen

Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan haben schon viele Wettbewerbe gewonnen. Ihre Entwürfe sind kühn, experimentell, kompliziert. Allerdings werden sie häufig nicht realisiert - sie sind den Bauherren zu komplex, zu riskant. Auch ihrem Entwurf für das Porsche-Museum wurde von der Fachwelt diagnostiziert: nicht machbar, statisch nicht zu bewältigen. Nun hat im Hause Porsche der Nervenkitzel aber Tradition. Deshalb bekam das Wiener Büro Delugan Meissl 2005 den Zuschlag für das neue Porsche-Museum in Stuttgart-Zuffenhausen. Denn es favorisierte nicht - wie die Konkurrenz - den Kubus, sondern visualisiert, worum es Porsche geht: Potenz.

Heute wird das neue Museum eröffnet. Eine statische Leistung, durchaus. Der 160 Meter lange Korpus liegt auf nur drei Stützen auf. Die ersten, flüchtig skizzierten Entwürfe erinnern an eine Schale, die auf einer Nadel steht. Doch es geht keineswegs um Fragilität, nicht um das elegante Beherrschen der Materie, sondern der wuchtige Monolith, der nun den Porsche-Platz dominiert, scheint mit gewaltiger Anstrengung emporgepresst.

35 000 Tonnen wiegt der Baukörper, 10 000 Tonnen Stahl wurden verbaut, wie die Architekten nicht müde werden zu wiederholen. Um die Verteilung dieser gewaltigen Lasten errechnen zu können, musste ein neues Computerprogramm entwickelt werden. Der Bau hat nicht nur Statiker und Ingenieure an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht, sondern auch viel Zeit und Geld gekostet: Die Eröffnung wurde mehrfach verschoben, aus fünfzig wurden schließlich hundert Millionen Euro.

Fließende Räume

Fast zu mächtig ist das neue Wahrzeichen von Zuffenhausen für die knappe Fläche geraten. Die Fassade scheint der Tristesse der Umgebung angepasst: Der Mantel aus weiß beschichteten Metallpanelen wirkt bei schlechtem Wetter so stumpf und traurig wie die Werkshallen vis-à-vis. Die Unterseite wurde dagegen mit spiegelndem Edelstahl versehen, der einen Hauch Luxus ins Viertel bringt und den Vorplatz durch die Spiegelung aufregend vergrößert. Umso erstaunlicher, dass der Eingang in einer niedrigen Glasfront versteckt wird. So beiläufig hat selten jemand das Entree eines Museums zu gestalten gewagt.

Widersprüche zeichnen das Gebäude aus. Rolltreppen zerschneiden das nüchtern-funktionale Foyer und gleiten in die Ausstellung hinauf. Im Inneren vermitteln sich nicht annähernd die Ausmaße des Monoliths, er wird von Ebenen durchzogen und wirkt durch die niedrigen Decken intim. Die Flächen, Podeste, Stufen und Wandelemente sind monochrom in Weiß gehalten. Hier wird nichts inszeniert, dienstbeflissen will die Architektur Bühne für die Fahrzeuge sein, die wie in einer Werkshalle nebeneinander- und für sich selbst stehen.

Porsche lud 2004 ausschließlich junge Büros zum Wettbewerb ein. Inzwischen sind die Österreicherin Elke Delugan-Meissl und der in Meran geborene Roman Delugan längst etabliert. Ihr Schwerpunkt liegt im Wohnungsbau; im kommenden Jahr soll auch das von ihnen entworfene Filmmuseum Amsterdam eröffnet werden. Das Büro steht für eine "physiologische Ästhetik", die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, auf Gefühle und Sinne reagieren will. Den Museumsbesucher sehen die Architekten entsprechend als "mündigen Menschen", der sich den spiralförmig angeordneten Rundgang selbst erschließen soll - ohne explizites Leitsystem.

Die "fließenden Räume", wie sie es nennen, lassen sich kaum erfassen, sie werden verschränkt, verzichten auf Hierarchien, steigen an und fallen ab. Das Prinzip lautet Heterogenität, wobei manche dieser Brüche eher wirken, als sei die Planung nicht bis in die letzte Konsequenz durchdacht worden: Hier ragt die Fassade unmotiviert in eine Fensterfront hinein, dort ist ein Durchgang allzu schmal, aber auch zu breit, um als Fuge zu gelten. Oder die Rückseite des Gebäudes: Unter dem geschlossenen Baukörper klebt wie ein störender Appendix die Fluchttreppe.

Delugan Meissl wollen dem Mythos Porsche gerecht werden, dabei aber jede Geste der Macht vermeiden. Das Ergebnis ist der gebaute Widerspruch: ein monumentaler Auftritt, der sich permanent selbst negiert. Große Räume und Flächen, die fragmentiert werden. Kraftmeierei haben sie sich beim Stemmen der Massen erlaubt, der Geist dieses Gebäudes aber ist zutiefst liberal.

Das Museum inszeniert die Marke nicht in einer High-Tech-Erlebniswelt, es protzt nicht mit teuren Materialien und übertriebenen Dimensionen. In der spektakulär daherkommenden Hülle steckt das Understatement - und ein Haus, in dem man dem Automobil auf Augenhöhe begegnet.ADRIENNE BRAUN

Mächtig schwebt der unten verspiegelte Baukörper des Porsche-Museums mit seiner Schaufassade über dem Platz in Stuttgart-Zuffenhausen. Die Besucher betreten das Gebäude durch eine Glaswand im Sockel und lassen sich dann von Rolltreppen hinauf in die Ausstellungsgeschosse tragen. Foto: Bernd Weißbrod / dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tiefseetaucher

"Telepathe" borgen sich den Sub-Bass für den Indiepop

Es ist kein Geheimnis, dass Lautstärke in der Musik überhaupt, im Pop aber natürlich noch einmal auf ganz eigene, konstituierende Art, eine transformierende Kraft hat. Die blanke Wucht eines ohnehin im sonischen Vordergrund positionierten Gitarrenriffs ist dabei meistens nicht das Beeindruckendste. Es sind eher die Untiefen, die es nach oben spült, wenn sich die Regler dem roten Bereich nähern. Im schlechtesten Fall suppt es dann unerträglich, im besten Fall geht es erst richtig los. So ein Fall ist das Debüt-Album "Dance Mother" (V2/Universal, 2009) des aus Brooklyn stammenden Duos "Telepathe", das im weitesten Sinne erst einmal dem elektronisch inspirierten Indiepop zuzurechnen sein dürfte. Hört man es nur hinreichend laut über ausnahmsweise einmal nicht allzu schlechte Boxen oder Kopfhörer schiebt sich ein unüberhörbar beim Dub-Step geborgter Sub-Bass ins Klangbild, der so tieftrocken und präzise federnd nicht zur rhythmischen Grundaustattung des Indie gehört. Dass der zuletzt weithin als derzeit wichtigster Pop-Innovator gefeierte Dave Sitek von "TV On The Radio" die Platte produziert hat, erklärt manches. Von seiner Sammlung alter Synthesizer haben Melissa Livaudais und Busy Gangnes ausführlich Gebrauch gemacht. Ein guter Teil dieses kleinen Pop-Ereignisses dürfte jedoch auch auf das Konto ihrer so brüchig-nüchternen wie sphärischen Stimmen

gehen. JENS-CHRISTIAN RABE

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Giftspucker

Soul Jazz Records versammelt Pionierinnen des Rap

Dafür war das britische Label Soul Jazz schon immer berüchtigt: In den Besenkammern der Musikgeschichte zu stöbern und aus verstaubten Schätzen äußerst unterhaltsame Anthologien zu arrangieren. Auch mit "Fly Girls!" (Soul Jazz, 2009) gelingt ihnen wieder der Aha-Effekt: Wo haben die das nur gefunden? Wieso kenne ich diese unglaubliche Rapperin noch nicht? Und hat die weibliche Rap-Tradition schon 1969 angefangen? Tatsächlich datiert "Ego Tripping", ein Spoken-Word-Stück der afroamerikanischen Dichterin Nikki Giovanni aus einer Zeit, in der Rap noch die gesprochenen Einlagen von Soulstücken bezeichnete. Vor allem aber versammelt "Fly Girls" die weiblichen Pioniere der ersten Welle des Rap: Damals als der klassische Boom-Bap den Rhythmus vorgab und es darum ging, Konkurrentinnen verbal im Zaum zu halten, den Männern die eigene Stärke zu demonstrieren oder überschwenglich die letzte Block-Party zu rekapitulieren. Großartige Giftspucker: JJ Fad aus Los Angeles mit "You're Goin Down" oder Roxanne Shantés "Bite This". Auf "Simon Says", der ersten auf Vinyl gepressten Nummer einer rein weiblichen Crew machen dagegen Sequence und die damals noch unbekannte Angie Stone Tanzanimation im Stil der Sugar Hill Gang. Spätere Rapper-Aktivistinnen wie Bahamadia, MC Lyte oder Queen Latifah runden das Spektrum ab. Ein großer Spaß.JONATHAN FISCHER

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Einzelgänger

B. A. Zimmermann erschreckt mit einer "Ekklesiastischen Aktion"

Einer der unauffällig starken Väter der neuen Musik im Nachkriegsdeutsch-land, ein radikaler Einzelgänger der Mo-derne, der das Zeug hatte, mit seiner Kriegsoper "Die Soldaten" nach Jakob Michael Reinhold Lenz (1960) sogar den "Wozzeck" noch steigern zu können, das war der 1918 bei Köln geborene Bernd Alois Zimmermann. Das Nazi-Regime und der Weltkrieg prägten sein Leben, der böse Widerspruch von Verzweiflung und Hoffnung gehörte zu seinem Grundgefühl. 1970 schied er aus dem Leben. In der kurz vor seinem Tod abgeschlossenen "Ekklesiastischen Aktion" für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester führt Zimmermann sein pessimistisch tönendes Bekenntnis ins Extrem eines Angst, Schrecken und grausige Erkenntnis verbreitenden Oratoriums. Und Gerd Böckmann und Robert Hunger-Bühler gelingt es in der Aufnahme (ECM, 2008), die Texte aus dem Alten Testament und Dostojewskis Großinquisitor in so "flammender" Rezitation zu vergegenwärtigen, wie vom Komponisten verlangt. Das WDR-Sinfonieorchester Köln unter Heinz Holliger katapultiert die abrupten Klangkontraste und Stilmixturen fast erschreckend plastisch heraus. Entdeckung früherer Werke Zimmermanns: Thomas Zehetmair spielt das Violinkonzert und Thomas Demenga das Cellokonzert "Canto di speranza", in denen noch Strawinsky geistert, mit makelloser Musikalität. WOLFGANG SCHREIBER

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Dabeisein ist alles

Zürich und Luzern zeigen drei Kurzopern, die in einem Wettbewerb entstanden sind

"Wilde Welt" - so lautete die kühne, animierende thematische Vorgabe für einen Kurzopernwettbewerb in Zürich, in dessen Jury die renommierten Komponisten Beat Furrer, Manfred Trojahn und der Regisseur David Pountney saßen. Schon 2002 hatte das Opernhaus Zürich eine solche Konkurrenz ausgelobt unter dem Titel "Teatro Minimo", an dem damals auch die Bayerische Staatsoper beteiligt war. Damals siegten von sechs Teilnehmern der Italiener Arnaldo de Felice und der in Zürich lebende Brite Edward Rushton und erhielten dafür Aufträge für abendfüllende Opern, die dann in Zürich und München uraufgeführt wurden.

Endlich hat das Zürcher Opernhaus, nun im Alleingang, diese damals erfolgreiche Initiative wieder aufgegriffen und fortgesetzt. Drei Kurzopern hat die Jury jetzt ausgewählt, doch von "wilder Welt" war wenig am vergangenen Sonntag zu sehen. Die Stücke schwebten vielmehr in Zwischenreichen, irgendwo zwischen Traum und Realität, in einer Scheinwelt, durchaus bezeichnend für die hochartifizielle Kunstform Oper. Die Jury zeichnete alle drei Werke aus: Elena Langer erhielt einen "Publikumspreis" von 5000 Franken, dazu den Auftrag für ein Kammermusikwerk; Erin Gee soll ein 45-minütiges Orchesterwerk schreiben; und Gewinner Anno Schreier darf eine abendfüllende Oper schaffen, die in etwa anderhalb Jahren im Opernhaus Zürich uraufgeführt werden soll.

Eine Art Selbstbespiegelung

Die 35-jährige Kalifornierin Erin Gee, eine Schülerin des Jurymitglieds Furrer, behauptet in ihrem Kommentar zur Minioper "Sleep", dass es um die vier Schlafphasen gehe, wie sie in den indischen Upanischaden dargestellt werden. Aber das wird im Stück kaum sichtbar und verständlich. Vorn an der Rampe sitzt die Komponistin, die abwechselnd in zwei Mikrophone hinein pfeift und diverse andere Mundgeräusche hervorbringt. Im Mittelgrund bewegt sich ein Mann namens Johnson, der die phonetisch sehr kunstvoll gestalteten, inhaltlich geheimnisvoll bleibenden Texte des Librettisten Colin Gee singt. Diese Grundkonstellation wird über zwölf Szenen nicht verändert. Die Performance dreht sich in sich, es ist eine Art Selbstbespiegelung. Dazu spielt das zum Kammerorchester erweiterte Ensemble Opera Nova unter Zsolt Hamar eine differenzierte, doch etwas eintönige Musik. Es war der avancierteste, aber auch der am wenigsten theatralische Opernversuch des Abends.

Einen Text des Japaners Haruki Murakami hat der 30 Jahre junge Aachener Anno Schreier, einst Schüler des Jurymitglieds Trojahn, zu einem Libretto umgestaltet. "Hinter Masken" handelt von der rätselhaften Suche eines Mannes nach seiner ermordeten Frau. Schreier lässt der Handlung und dem Gesang Zeit, prägt jede der drei Szenen durch ein sehr deutliches Motiv, schafft Einheit, aber seine Musik vermag nicht abzuheben, Traumhaftes stellt sich nicht ein und Leidenschaft kommt nie auf. "Hinter Masken" war zwar handwerklich in Ordnung, zugleich aber von schwerer Langeweile.

Das dritte Stück "The Present" erzählt von einem Alzheimer-Patienten. Den Text schrieb Glyn Maxwell, die Musik komponierte die aus Russland stammende und in London bereits erfolgreiche Elena Langer. Sie haben sich dem Thema behutsam und ohne sensationsheischende Effekte genähert. Den Kranken spricht ein Schauspieler, alle anderen Personen singen. Auch ohne stringente Steigerung vermag sich das Drama auf intensive Weise zu entwickeln, entstehen Bilder, blühen Klänge auf. Dabei wird das Schumann-Lied "Ich will meine Seele tauchen in den Kelch der Lilie hinein" zweimal ganz selbstverständlich als Sehnsuchtsformel integriert. Manches mag allzu dicht verflochten sein, insgesamt klingt diese postmodern angehauchte Musik so lebendig, drängend, präzise gesetzt und vielgestaltig, dass man sich dem Stück kaum entziehen kann. Mit Abstand gelang diese "Teatro Minimo"-Oper am spannendsten.

Auch die Kammeroper "Die große Bäckereiattacke" der 1969 geborenen Japanerin Misato Mochizuki, die vergangenen Samstag am Luzerner Theater uraufgeführt wurde, ergab sich aus einem Wettbewerb. Gesucht wurde für die Komponistin ein Libretto, das zwei Kurzgeschichten von Murakami am besten zur Einheit verschmolz: Ein junges Paar, das nachts an plötzlichem Hunger leidet, überfällt ein McDonald's-Lokal, und "sühnt" damit die frühere Bäckereiattacke des Ehemanns - eine herrlich absurde Ausgangslage. Die Jury dieser Koproduktion mit Netzzeit Wien und Opera Genesis des Royal Opera House London, wählte aus 127 Bewerbungen die Version des in Israel lebenden Yohanan Kaldi.

Die große Bächereiattacke

Tatsächlich steckt in dem Text, von Reinhard Palm ins Deutsche übertragen, Tempo und Witz; die Absurditäten Murakamis werden drastisch zugespitzt und theatralisch in Form gebracht. Gerade richtig für die Erstlingsoper einer Komponistin, die mit den Stilen spielt: Sie persifliert Wagner, schiebt mühelos Rapgesang und Jazzschlagzeug ein und treibt so die Handlung an. Allerdings: So rassig vertont und gut montiert das alles ist, momentweise wirkt es auch überladen. Zwar wird der Sprachrhythmus auch in den gesungenen Partien nie opernhaft verschleppt, doch ab und zu geht im Durcheinander die Übersicht verloren, was man dem umsichtigen Dirigenten Johannes Kalitzke kaum vorwerfen kann. Das Durcheinander tut vor allem den "Sieben Weisen"nicht gut, einem vom Librettisten Kaldi eingeführten Minichor, der die Handlung ironisch begleitet. Die Kommentare hätten direkter getroffen, wenn ihnen Mochizuki mehr Zeit gelassen hätte, als das Raptempo erlaubt. Auch die hübschen Einfälle, die sich Regisseur Michael Scheidl mit Nora Scheidl (Kostüme/Bühnenbild) gerade für diese Gestalten ausgedacht hatte, huschten zu rasch vorbei. Es würde dem aparten Werk gut tun, wenn es die Komponistin nach diesen Erfahrungen noch einmal überarbeitete.THOMAS MEYER

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Titanenhaftes

Kent Nagano und sein heroischer Beethoven in München

Es gibt an der Bayerischen Staatsoper einen Generalmusikdirektor und es gibt einen Staatsintendanten. Beide agierten sie jetzt leibhaftig auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters, um gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsorchester und dem Staatsopernchor eine bislang kaum bekannte Komposition Ludwig van Beethovens aufzuführen, die den Titel trägt: "Der General". Die musikalische Fachwelt wundert sich, der Laie im Akademiekonzert staunt. Immerhin ist das Werk schon auf einer CD erschienen, die voriges Jahr von Kent Nagano und seinem Orchestre Symphonique im kanadischen Montreal produziert wurde. Die Texte, die hier Nikolaus Bachler vortrug, hatte dort Maximilian Schell gelesen.

Das fiktive Oratorium

Es handelt sich bei "Der General" - Entwarnung für die Musikwissenschaft - natürlich nicht um eine frisch aufgetauchte Originalkomposition Beethovens für Orchester, Sopran, Chor und Erzähler, sondern um die Fiktion eines Oratoriums, eine Collage aus neuen Texten und Beethoven-Musiknummern. Man will wenigstens den Versuch unternehmen, die politische Landschaft, in die der Komponist im linksrheinischen, später französischen Bonn hineingeboren wurde, als Landschaft seines politischen Bewusstseins zu verstehen. Es geht um das politische Potential, das der Republikaner Beethoven, für den die Französische Revolution fundamental blieb, als seinen Lebenshorizont erkennen konnte.

"Beethovens Aktualität" ist der Text dazu im Programmheft etwas forciert übertitelt, denn dass Beethoven ein Künstler war, der von der umstürzenden Parole Liberté, Égalité, Fraternité zutiefst durchdrungen war, ist bekannt: Die Sinfonia eroica, Fidelio, die Schauspielmusik zu Goethes "Egmont" sind kapitale Zeugnisse von Freiheitspathos und sozialer Empathie. So wird die "Egmont"-Ouvertüre zum Einstieg in die 15-teilige Abfolge der neuen "Komposition", deren Dramaturgie und Texte von dem Londoner Musikpublizisten Paul Griffith stammen. Nagano und das Orchester in Montreal gaben den Auftrag.

Die gern gespielte Ouvertüre, die den leidenschaftlichen Freiheitskampf eines Volks und seines Helden besingt, entstand 1810, um diese Jahre des 40-jährigen politischen Menschen Beethoven geht es in der knapp einstündigen Nummernfolge. Nagano dirigierte das fulminante Vorspiel mit einer fast atemlosen dramatischen Stringenz, die die Wucht einer Bühnensituation evozierte: Aufruhr, Kampf, Freiheitsjubel. Die zwei bekannten Klärchen-Lieder aus der Egmont-Musik sang Aga Mikolaj mit sanftem Nachdruck.

Doch die Abfolge von Interludien und Melodramen, unterbrochen von kurzen Prosatexten, ist nicht ohne Risiko, denn weder die Texte, noch die Beethoven-Einschübe ergeben ein Kunstganzes. Gewünscht ist die Konfrontation Beethovens mit der Barbarei des 20. Jahrhunderts, statt Goethe-Texte werden Ausschnitte aus dem Buch "Shake Hands with the Devil" des kanadischen Generals Roméo Dallaire, Kommandeur beim UN-Friedenseinsatz in Ruanda, herangezogen: Beobachtungen menschlicher Grausamkeit. Eher schwache Details aus Beethovens "König Stephan"-Musik und der unbekannten "Leonore Prohaska" wirken kürzelhaft, das finale Chor-Orchester-"Opferlied" ist seraphischer Abgesang, ohne große lyrische Kraft.

Knapper, schlagender als mit Beethovens Fünfter kann die Antwort auf das pathetisch versprengte Freiheitskompendium nicht erfolgen. Nagano bietet die berühmteste Symphonie der Geschichte wie aus einem Guss, in schneller Gangart, die an die wahnwitzigen Metronomtempi Beethovens gemahnt - er liefert sich dem symphonischen Existentialismus des Werks aus, macht dabei die Dichte der Stimmenverflechtung überdeutlich und betont das nervös Vorwärtstreibende in Beethoven. Klangbalance und Tonschönheit sind nicht Ziel der Darstellung, sondern die Unbedingtheit der Idee wie der Konstruktion. Aufregender kann das Stück nicht sein, das man nicht zu oft hören soll. WOLFGANG SCHREIBER

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tornado oder schwebende Wolke

Wie die deutsche Autoindustrie ihre Musealisierung betreibt

Als Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au vor ein paar Jahren dem Vorstand des Münchner Autoherstellers seinen Entwurf für die 2007 eröffnete BMW-Welt vorstellte, wollte jemand wissen, was denn dieser merkwürdige Doppelkegel bedeute. Mit dem eng taillierten Stahl-Doppelkegel, der die Zufahrt markiert, zeigt sich die BMW-Welt der Stadt auf zeichenhafte Weise. Die Geometrie, so Prix, deute einen Tornado an.

Nun kennt man solche Symbolik von den Wiener Wolkenbauern schon seit 1980. Damals forderten sie: "Architektur muss schluchtig, feurig . . . brutal . . . sein. Lebend oder tot." Ach du meine Güte, mögen sich die BMW-Manager gedacht haben. Ein Tornado! Ausgerechnet zu Zeiten des Klimawandels! Lass uns mal lieber eine Wolke daraus machen. Und so kam es, dass man die BMW-Welt nun nicht als heftigen Tornado begreifen soll, sondern als liebliche Wolke. Wer sich jedoch den unfassbaren Absturz der deutschen Autobranche in den letzten Monaten betrachtet, kann nicht umhin: Ein Tornado, der für Schäden in Milliarden-Höhe sorgen kann, ist das treffende Bild.

Das neue Stuttgarter Porsche-Museum bietet sich nicht für meteorologische Metaphern an. Aber auch dieses Museum, in dem die Historie einer Marke zum Marketinginstrument umgeschmiedet wird, beleuchtet einen denkwürdigen Zusammenhang. Denn niemals zuvor gab es in Deutschland im Premiumsegment so viele architektonisch hochambitionierte Automuseen, Abhollager oder Erlebniswelten - und niemals zuvor mussten derart kraftstrotzende, teure Bauten eine derart schwächelnde, ja taumelnde Industrie abbilden. Es ist, als wollte man einer Branche am Abgrund ein Denkmal setzen; als wollte man quasi den Niedergang auf seinem Höhepunkt einfrieren.

Das architektonisch geglückte Porsche-Museum markiert dabei den letzten Stand der "Carchitecture"-Bautypologie, die übrigens eine deutsche Erfindung ist - so wie das PS-wunderliche Premium-Segment fest in deutscher Hand und also Teil des Problems ist. Zuvor waren die BMW-Welt in München und das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, entworfen von Ben van Berkel, eröffnet worden. Audi hat derweil für alle seine Autohäuser eine weltweit gültige neue Corporate Architecture (Architekten: Allmann Sattler Wappner) initiiert. Leipzig punktet mit einem von Zaha Hadid gestalteten Werk. Am gleichen Ort gibt es auch ein Porsche-Kundenzentrum (von Gerkan, Marg und Partner) - und schon vor Jahren gönnte sich VW eine edle "gläserne Manufaktur" in Dresden (Henn Architekten).

Dass nun in Stuttgart kein neues Werk, kein Kundenzentrum und kein Abhollager, sondern ein Museum eröffnet wird, ist zeichenhaft. Wenn es den Ingenieuren nicht gelingt, aus dem maximalen Hub ihrer Motoren die maximale Energieeffizienz zu machen, betreibt die deutsche Automobilindustrie ihre eigene Musealisierung. Es käme jetzt aber weniger auf Historizität und Architektur als Marketinginstrumente an - sondern auf die Zukunftsfähigkeit der Technologie.

GERHARD MATZIG

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Weisheit der Wolken

ARD, 20.15 Uhr. Die Universitätsdozentin Marie (Ina Weisse) steht kurz vor ihrer Habilitation. Ihr Lebensgefüge gerät ins Wanken, als plötzlich der junge Tom (Tobias Schenke) ihre Nähe sucht. Die Geophysikerin ahnt plötzlich: Er ist das Kind, dass sie 20 Jahre zuvor zur Adoption freigeben musste. Foto: ARD

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Genügend Projekte

Städte wollen zusätzliches Geld rasch investieren

Berlin - Die Kommunen haben angekündigt, die Zuschüsse aus dem Konjunkturpaket rasch zu investieren. "Es gibt genügend fertige Projekte", sagte der Präsident des Deutschen Städtetages, Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD), am Dienstag in Berlin. Vor allem die Sanierung von Schulgebäuden und Kindergärten könne schnell angegangen werden. Voraussetzung sei aber, dass den Ausgaben nicht langwierige Antragsverfahren vorangehen müssten. Ude sprach sich für pauschale Zuweisungen an Städte und Gemeinden aus. Vor allem strukturschwache Kommunen profitierten vom Konjunkturpaket.

Insgesamt überweist der Bund 2009 und 2010 zehn Milliarden Euro zusätzlich an die Länder. 70 Prozent davon werden an die Kommunen weitergereicht. Die Länder stocken den Gesamtbetrag laut Städtetag noch einmal um 3,3 Milliarden Euro auf. Der Städtetag rechnet damit, dass damit 2009 etwa 6,7 Milliarden Euro zusätzlich etwa für die Modernisierung von Bildungseinrichtungen eingesetzt werden können. Mit Investitionen von knapp 21 Milliarden Euro waren Städte und Gemeinden 2008 größter Auftraggeber der öffentlichen Hand. In diesem Jahr wird der Betrag unter dem Strich aber nur leicht ansteigen.

Die Situation der Kommunen ist laut Städtetag sehr unterschiedlich. Allein in Nordrhein-Westfalen seien 100 Kommunen nicht mehr Herr ihrer Finanzen. Sie stünden unter Aufsicht, weil sie pleite seien. NRW erhält mit mehr als zwei Milliarden Euro auch den größten Teil aus dem Konjunkturpaket. Das reiche Baden-Württemberg muss sich dagegen mit gut 1,2 Milliarden Euro begnügen. Im Südwesten seien kommunale Finanzprobleme weitgehend unbekannt, im Osten dagegen die Regel, erläuterte Ude. "Nicht die geringste Sorge" hat Ude, dass die vorhandenen Mittel vollständig ausgeschöpft werden. Der öffentliche Druck und die Erwartungshaltung beim regionalen Bauhandwerk und bei den Bürgern seien sehr hoch.

2008 konnten sich die Städte und Gemeinden über wachsende Einnahmen freuen. Mit fast 176 Milliarden Euro lagen sie 3,8 Prozent über dem Vorjahreswert. Vor allem die Gewerbesteuer trug mit einem Plus von fast sechs Prozent auf 42 Milliarden Euro zu diesem Ergebnis bei. Im laufenden Jahr rechnen die Kommunen aufgrund des Konjunkturpakets mit einem weiteren Anstieg der Einnahmen auf 179 Milliarden Euro. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Wir haben keine Zeit zu verlieren"

Merkel: Konjunkturpaket rasch umsetzen / Koalition vertagt Mindestlohn für Leiharbeit

Berlin - Die Bundesregierung hat am Dienstag das zweite Konjunkturpaket beschlossen. Mit dem Mix aus Investitionen, Förderprogrammen sowie niedrigeren Steuern und Abgaben will sie sich gegen die tiefste Rezession der Nachkriegszeit stemmen. Dazu plant sie, in den Jahren 2009 und 2010 insgesamt 50 Milliarden Euro einzusetzen. Im Anschluss an die Kabinettssitzung rief Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Parlament und Länderkammer auf, das Vorhaben schnell und zügig umzusetzen. "Wir haben keine Zeit zu verlieren", betonte sie. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) verteidigte den sprunghaften Anstieg der Neuverschuldung des Bundes, die zur Finanzierung des Pakets notwendig ist. Zugleich wandte er sich entschieden gegen Spekulationen, wonach die Regierung die Hilfen noch einmal ausweiten will. "Ich für meinen Teil möchte nicht über ein weiteres Konjunkturpaket reden. Und ich hoffe, ich kann auch alle anderen bremsen."

Die Koalition konnte sich hingegen nicht auf die Einführung eines Mindestlohns für Zeitarbeiter verständigen. Die Union hatte Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) vorgeworfen, sich nicht an die getroffenen Absprachen gehalten zu haben. "Mit uns wird es eine Lohnuntergrenze bei der Zeitarbeit nur unter Wahrung der Tarifvertragsautonomie geben", sagte der Geschäftsführer der Unionsfraktion, Norbert Röttgen (CDU). Scholz ließ der Darstellung widersprechen. Alle Vorschläge des Arbeitsministers entsprächen den Vereinbarungen, die die Spitzenpolitiker der Koalition zuvor getroffen hätten. Der Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche ist zwar kein Teil des Konjunkturpakets und hängt auch inhaltlich nicht damit zusammen. Die Vereinbarung war jedoch durch Kompromisse zustande gekommen, welche die SPD in den Verhandlungen über die Wirtschaftshilfen eingegangen war. Beides sollte deshalb zusammen im Kabinett beschlossen und noch am Freitag in den Bundestag eingebracht werden. Kommende Woche will die Regierung nun erneut über die Zeitarbeit verhandeln. Hier eine Übersicht über zentrale Punkte des Konjunkturpakets:

Kosten: Der Bund will alleine 2009 rund 36,8 Milliarden Euro neue Schulden machen. Das sind 18,3 Milliarden Euro mehr als bisher geplant. Steinbrück bleibt damit formal unter dem Schuldenrekord von 40 Milliarden Euro, den sein Vorgänger Theo Waigel (CSU) hält. Dies gelingt ihm aber nur, weil die Regierung gleichzeitig einen vom Haushalt getrennten Fonds auflegt, in den nochmal 16,9 Milliarden Euro fließen, die der Bund ebenfalls noch im laufendem Jahr am Kapitalmarkt aufnimmt. Regelmäßige Tilgungen sind vorgesehen.

Steuersenkungen: Beschäftigte und mittelständische Unternehmer sollen weniger Steuern zahlen. In einem ersten Schritt will die Koalition daher rückwirkend zum 1. Januar den Freibetrag um 170 auf 7834 Euro anheben und den von dieser Grenze an geltenden Steuersatz von 15 auf 14 Prozent senken. Zugleich sollen die Steuersätze erst bei höheren Einkommen einsetzen. 2010 soll der Freibetrag dann um weitere 170 Euro steigen und der Tarifverlauf erneut zu Gunsten der Steuerzahler geändert werden.

Krankenkassenbeiträge: Mitte des Jahres sollen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung um 0,6 Punkte auf dann 14,9 Prozent sinken. Dazu schießt der Staat dem Gesundheitsfonds 2009 etwa 3,2 Milliarden Euro zu, im kommenden Jahr sollen es 6,3 Milliarden Euro sein. Ein Durchschnittsverdiener wird dadurch ebenso wie sein Arbeitgeber um etwa sieben Euro im Monat entlastet.

Kinderzuschuss: Jedes Kind erhält noch im laufenden Jahr 100 Euro. Gutverdiener profitieren nur kurzfristig, denn der Betrag wird 2010 im Rahmen der Einkommensteuererklärung vollständig mit dem Kinderfreibetrag verrechnet.

Abwrackprämie: Wer sich noch 2009 einen umweltfreundlichen Neu- oder Jahreswagen kauft und dafür sein mindestens neun Jahre altes Auto verschrottet, kann mit einem Zuschuss des Staats in Höhe von 2500 Euro rechnen. Dies stimuliert bereits jetzt die Nachfrage.

Bauinvestitionen: Insgesamt zehn Milliarden Euro will die Koalition den Ländern und Kommunen noch im laufenden Jahr zur Verfügung stellen. Etwa 65 Prozent stehen zur Verfügung, um zum Beispiel Schulen und Kindergärten zu sanieren. Mit den restlichen Bundesmitteln sollen Krankenhäuser modernisiert und Straßen ausgebaut werden. Die Länder sollen die Mittel eigentlich aufstocken. In einigen gibt es jedoch Widerstand gegen diese Beteiligung.

Straßen: Weitere zwei Milliarden Euro sollen pro Jahr in den Ausbau von Bundesstraßen oder Schienen und Wasserstraßen fließen. Damit die Investitionen schnell wirken können, will die Bundesregierung die Regeln deutlich vereinfachen, nach denen die Verwaltungen ihre Aufträge erteilen.

Kurzarbeit: Die Bundesagentur für Arbeit (BA) erstattet den Arbeitgebern in diesem und im nächsten Jahr bei Kurzarbeit die Sozialversicherungsbeiträge zur Hälfte. Dies war bislang nicht der Fall. In den Zeiten, in denen sich ein Kurzarbeiter weiterqualifiziert, kommt die BA auf Antrag sogar für die vollen Sozialversicherungsbeiträge auf. Zudem soll es für die Unternehmen einfacher werden, Kurzarbeit zu beantragen. Die Voraussetzungen werden gelockert.

Arbeitslosenversicherung: Diese wird vorerst auf 2,8 Prozent festgeschrieben, um Beitragserhöhungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Zukunft zu vermeiden. Sollte die BA mehr Mittel benötigen, springt der Bund ein, um einen Anstieg der Beiträge zu verhindern.

Sicherung von Beschäftigung: 2009 und 2010 sollen zusätzlich rund 1,2 Milliarden Euro in die Qualifizierung von Arbeitslosen gesteckt werden. Zudem will der Arbeitsminister zusätzlich 5000 feste Stellen in den Agenturen oder Jobcentern schaffen, um Arbeitslose besser vermitteln zu können. Umschulungen zu Alten- oder Krankenpflegern sollen im laufenden und im nächsten Jahr komplett von der Bundesagentur finanziert werden. (Seite 4) Guido Bohsem

"Ich für meinen Teil möchte nicht über ein weiteres Konjunkturpaket reden"

Finanzminister Peer Steinbrück

Kanzlerin Angela Merkel fordert, das Konjunkturpaket ohne Zeitverzug umzusetzen. Nur Zeitarbeiter müssen weiter auf Mindestlohn warten. Foto: Uwe Schmid

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Audi-Quattro-Kunststück

Die Kfz-Steuer wird für einige Autos billiger - aber für kaum eines teurer

Das Bundeskabinett hat am Dienstag der Neuregelung der Kfz-Steuer auch formal zugestimmt. Danach wird die Autosteuer vor allem für sparsame Autos künftig teils deutlich sinken. Richtete sich die Steuer bisher nach Schadstoffklassen und Hubraum der Fahrzeuge, ist die Schlüsselgröße künftig der Kohlendioxid-Ausstoß. Hinzu kommt ein sogenannter Sockelbetrag, der sich nach Hubraum und Motorisierung der Autos richtet.

Und so funktioniert die Steuer: Alle Autos bekommen zunächst einen "Freibetrag" von 120 Gramm CO2. Eine Steuer wird nur fällig für jedes Gramm, das darüber hinaus geht. Sie liegt bei zwei Euro. Beispiel BMW 3er mit Zweiliter-Benzinmotor: Der Wagen stößt je Kilometer 146 Gramm CO2 aus, die Steuer fällt aber nur für jene 26 Gramm an, die über die 120-Gramm-Grenze hinaus gehen. Der CO2-Anteil liegt damit bei jährlich 52 Euro. Hinzu kommt der Hubraum-Anteil. Für einen Benziner sind hier je angefangene 100 Kubikzentimeter ebenfalls zwei Euro zu zahlen, für einen Dieselmotor 9,50 Euro. Heißt im Beispielfall: 40 Euro kommen für die zwei Liter Hubraum hinzu. Macht insgesamt 92 Euro.

Quasi in letzter Minute hatte sich die Koalition am Montag auf diese Formel verständigt. Sie verhindert, dass - wie von der Union gewünscht - große Autos mit viel Kohlendioxid-Emissionen von der Steuer begünstigt werden. Stattdessen zahlt nun der Besitzer eines Audi Quattro Q 7 mit Sechs-Liter-Maschine exakt genauso viel Steuer wie vor der Reform. Allerdings werden die Regeln schrittweise verschärft. Der Freibetrag sinkt 2012 auf 110 Gramm, 2014 auf 95 Gramm. Entsprechend steigt die Steuer für Autos, die mehr emittieren. Umweltschützer kritisierten die Reform dennoch. Dem Klima helfe die Regelung nicht, beklagte der Verkehrsclub Deutschland.

Für Altautos ändert sich durch die Reform ohnehin nichts. Die neue Steuer gilt nur für Neuwagen, die nach dem 1. Juli zugelassen werden - und dann auch erst mit Verzögerung. Im ersten Konjunkturpaket hatte der Bund die Kfz-Steuer auf neue Autos schon für bis zu zwei Jahre erlassen. miba

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Notizen am laufenden Band

"Haben Sie eine Kundenkarte?" Die Französin Anna Sam hat einen Bestseller über ihre Arbeit an der Supermarktkasse geschrieben

Von Claudia Fromme

Ein paar Tage ist es her, da hat es sich wieder in ihren Traum geschlichen. Hat auf die Tiefschlafphase gewartet, um sich hinterlistig anzupirschen. Biep! Und wieder: Biep! Zwischen jedem Biep! ziehen im Traum an ihr vorbei: Toilettenpapier, Milchtüten, Bananen, Ziegenkäse, Eclairs. Anna Sam sagt, dass sie es damit vergleichsweise gut getroffen hat, Kolleginnen von ihr schlafwandelten mit den Händen, schöben Waren über die Bettdecke und riefen zuweilen laut in der Nacht: "Haben Sie eine Kundenkarte?"

Acht Jahre lang hat Anna Sam, 29, im französischen Rennes im Supermarkt an der Kasse gearbeitet, im vergangenen Januar hat sie ihren Polyesterkittel an den Nagel gehängt. Das alles wäre ja nun keine so spektakuläre Sache - hätte sie nicht aus ihrem Alltag am Warenband einige Dinge aufgeschrieben, die seit Wochen die Bestsellerlisten in Frankreich anführen. "Die Leiden einer jungen Kassiererin" hat sich dort mehr als 100 000 Mal verkauft, Übersetzungen erscheinen gerade in Deutschland, Italien, Brasilien, Israel und Taiwan. Es gibt Filmpläne, der Pariser Regisseur Jackie-George Canal will das Buch auf die Bühne bringen, und Anna Sam fragt belustigt: "Seit wann taugen eigentlich Kassiererinnen zu Stars?"

Lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne, Überwachungen durch die Zentrale, mit denen Kassierer zu kämpfen haben - um all das geht es nicht. Das Bändchen wird nie die Magna Charta der Gewerkschaften werden, Sozialpolitiker werden Anna Sam nie als menschliches Antlitz einer Misere anführen. "Natürlich hätte ich über all das schreiben können", sagt Anna Sam und seufzt, "aber glauben Sie mir, es gibt viel Schlimmeres - die Kunden."

Kostprobe gefällig? Anna Sam sagt zu Monsieur A: "65,78 Euro bitte. Haben Sie eine Kundenkarte?" A. antwortet mit einer Gegenfrage: "Möchten Sie mit mir ins Bett gehen?" Ein anderer Fall: Die Kasse ist geschlossen, doch Monsieur B will sein Bier zahlen, und zwar sofort, er verspricht einen Euro extra. Anna Sam sagt: "Tut mir leid, diese Kasse ist bereits geschlossen." B. blafft sie sofort an: "Ach, komm schon. Ihr Kassiererinnen seid doch sowieso alle Schlampen! Ihr sagt immer ja, wenn ihr ein Trinkgeld bekommt! Jetzt nimm schon unsere Flasche, du Nutte!" Und das Highlight zum Schluss: Madame C. zeigt mit dem Finger auf Anna Sam und sagt zu ihrem Kind: "Wenn du in der Schule nicht fleißig lernst, dann wirst du einmal Kassiererin wie diese Frau da."

Und Anna Sam, die Kassiererin mit Literaturdiplom auf erfolgloser Jobsuche? Lächelt. Wie das vorgesehen ist für die "Servicemitarbeiterinnen Kasse". Manchmal, wenn es ganz schlimm wird, sagt sie: "Du Arsch." In Gedanken. Eigentlich hätte sie es auch laut sagen können, meint Anna Sam, die meisten hätten sie eh nur als Verlängerung der Technik gesehen. "Man wird nie als Person wahrgenommen, nur als Objekt." Das Ding an der Kasse. Biep!

Ja, das mag ja alles sein, werden spätestens jetzt die Ersten sagen. Aber hat mir nicht erst gestern eine Kassiererin im Supermarkt den Preis entgegengebellt und sich über den Fünfziger beschwert, mit dem ich den Joghurt zahlen wollte? "Jeder hat mal einen schlechten Tag", verteidigt Anna Sam ihre Zunft, "es ist eine Sache der Verhältnismäßigkeit." Kunden sähen maximal eine Kassiererin im Supermarkt pro Tag. Sie hätte hingegen täglich bis zu 300 Kunden bedient. Anna Sam liebt Statistiken, und so hat sie errechnet, dass sie 800 Kilo Waren pro Stunde anhebt, 20 Artikel pro Minute einscannt und 30 Mal pro Tag sagt: "Die Toiletten sind dort drüben." 15 Mal fragen Kunden, die die Kasse meinen, Anna Sam: "Sind Sie offen?" Und in zehn von 15 Fällen lacht sie und sagt: "Ich nicht, aber Sie vielleicht?"

Anna Sam betreibt eine sehr amüsante Kundenkunde im Zoo Supermarkt, "einen magenbitteren Sozialreport liest ja eh keiner", sagt sie. Sie setze darauf, dass Leute sich erst amüsieren und dann über sich nachdenken. Und so lacht man viel bei der Lektüre und am meisten über sich selbst. In mindestens einem der vielen Archetypen, die Anna Sam im Supermarkt ausgemacht hat, findet der Leser sich garantiert wieder. Vielleicht ist er einer von denen, die Einkaufen als strategische Kriegsführung begreifen und sich in Guerillamanier unter dem Gitter durchrollen, in der Sekunde, in der der Markt öffnet. Oder er gehört zur Gruppe der Trickteiler, die an der 10-Teile-Kasse mit 40 Artikeln anrücken, und die in vier Packen aufteilen. Oder er versteht Supermärkte als Orte für sozialdarwinistische Übungen und stellt den leeren Wagen an die Kasse, um später alte Gebietsansprüche einzufordern. Vielleicht gehört er auch zur allergrößten Gruppe, an die Anna Sam eigentlich nur einen Wunsch hat: "Sagt doch wenigstens mal Hallo!"

Großes Theater im Supermarkt

Fast sei es wie im Theater. Als Kassiererin habe man den Logenplatz. Was wird gegeben? Drama? Tragödie? Komödie? "Etwas von allem", sagt Anna Sam. Damit ihr keine Szene entwischte, fing sie im April 2007 an, Zettel neben die Kasse zu legen, um am laufenden Band zu notieren. Ihre Chefs hätten das nie bemerkt. "Hauptsache, die Kasse stimmt." Im Internet schrieb sie auf caissierenofutur.over-blog.com unter dem Pseudonym Miss Pastouche ihre Kolumnen, und innerhalb kürzester Zeit wurde sie zum Star, ihr Blog hatte zuletzt 600 000 regelmäßige Leser.

Magazine bettelten die Unbekannte um Interviews an, und am Ende bekam die bekannteste Kassiererin Frankreichs in einer Talkshow ein Gesicht. Kurz drauf, im Januar 2008, kündigt sie in ihrem Supermarkt. "Das wär auf Dauer nicht gutgegangen", sagt sie. Ein halbes Jahr später erschien ihr Buch. Kolleginnen aus aller Welt schreiben Anna Sam, der Jeanne d'Arc der Kassiererinnen, von ihren abstrusesten Erlebnissen, ihre alten Chefs klopfen ihr auf die Schulter, wenn sie einmal die Woche in ihren alten Supermarkt kommt. Ja, auch nette Mails von Kunden gibt es, aber deutlich weniger.

Gerade schreibt Anna Sam am zweiten Buch. Auch darin geht es wieder um den Supermarkt, aber nicht um Kassen, mehr will sie noch nicht verraten. Zurück an die Kasse will sie nie mehr, sagt sie. In den nächsten Monaten wird sie ihr gleichwohl erhalten bleiben: In ihrer alten Supermarktkette schult sie nun Kassiererinnen - im Umgang mit schwierigen Kunden.

"Sagt doch einfach mal Hallo": Anna Sam (li.) berichtet über ihre Erlebnisse am laufenden Band. phototek/Marc Ollivier

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Blaue Flecken, wüste Worte

Der SPD-Politiker Markus Meckel und eine Nachbarin liefern sich ein Gefecht

Berlin - Markus Meckel ist ein Mensch, dessen Gestalt und Lebensweg mal fürs Lehrbuch des Bürgerrechtlertums zu taugen schienen. Er gehörte zu den mutigen Pfarrern der DDR, wurde letzter Außenminister dieses Landes und sitzt seither im Bundestag, wo man nicht mehr so viel von ihm hört. Für Aufmerksamkeit sorgt der bärtige SPD-Mann dafür mit privaten Händeln. 2007 verzettelte er sich in einem aberwitzigen Rechtsstreit mit einer Gräfin, die behauptete, er habe für sein Grundstück in der Uckermark eine ihrer Zaunlatten gestohlen. Meckel focht das an, die Sache eskalierte, man bekämpfte ihn mit einer Stinkbombe aus Petroleum, Fenchel und Knoblauch. Nun ist es wieder zu Tätlichkeiten gekommen.

Der Polizei Prenzlau liegen zwei Anzeigen vor: eine von Meckel, der seiner Nachbarin Silke Podschum Körperverletzung vorwirft. Die beiden kennen sich von einem früheren Rechtsstreit, Frau Podschun hat mal ein Transparent rausgehängt, auf dem garstige Dinge über Meckel standen. Am 15. Januar habe sie ihm vor seiner Tür mit einem Baseballschläger aufgelauert, sagte Meckel zu Bild. In letzter Sekunde habe er den Schläger gepackt und sie in ein Nachbarhaus gezerrt, dabei sei es zu "blauen Flecken" gekommen. Frau Podschum wiederum zeigte Meckel an, wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung, sagt ein Prenzlauer Polizeisprecher. Die Nachbarin will keinen Schläger, sondern eine Reitgerte in der Hand gehalten haben, als Meckel plötzlich vor ihr stand. Sie sei erschrocken und habe ihn angeblafft, da habe er sie an den Armen in ein Haus gezerrt. Um sich zu wehren, habe sie zugeschlagen. Eine Ärztin soll ihr Blutergüsse an Unterarm und Knie attestiert haben, die Polizei ermittelt nun gegen beide. Meckel wollte sich zu der Sache nicht mehr äußern. Constanze von Bullion

Zwei, die miteinander können: Markus Meckel und die Kanzlerin. Foto: ddp

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Manche glauben, dass wir blöd sind"

Sechs Kassiererinnen berichten über gute und schlechte Zeiten an ihrem Arbeitsplatz

Andrea Schulte, 43, Edeka-Center in Minden: "Als Kassiererin wird man schnell berühmt. Ich arbeite jetzt seit vier Jahren an der Kasse und werde im Viertel inzwischen oft auf der Straße oder beim Bäcker erkannt. ,Ach, Sie kaufen auch hier ein? Das ist ja nett', sagen die Leute dann. Leider gibt es auch Kunden, die einen von oben herab behandeln. Neulich wollte ich einem Herrn den Gebrauch eines Wasserkochers erklären, aber der schnauzte mich nur an: ,Das brauchen Sie mir nicht erklären, ich bin Ingenieur!' Ich versuche dann, so etwas nicht persönlich zu nehmen und mich aufs Kassieren zu konzentrieren. Wir haben intern nämlich einen kleinen Wettbewerb laufen. Wer ist die Schnellste? Die ganz Guten schaffen 30 Posten pro Minute. Das will ich auch mal können."

Balbina Plaschka, 77, Tengelmann in München: "Ich liebe die Kasse! Es ist der beste Ort im Markt, da ist das Meiste los. Manche Kunden stellen sich extra bei mir an, ich bin eine feste Bezugsperson in ihrem Leben. Kein Wunder, ich mache das auch schon seit mehr als 30 Jahren, jetzt bessere ich damit meine Rente auf. Manche Kunden maulen mich an, einfach so. Denen sage ich: ,Jetzt benehmen Sie sich mal!' Für meinen Chef ist das in Ordnung, er weiß, dass mich viele Kunden gerade für mein loses Mundwerk mögen. Über einen aber habe ich mich mal wahnsinnig geärgert. Irgendetwas gefiel ihm nicht an mir, und er hat sofort ein Fax an die Filialleitung geschickt. Ich bin zu dem hin, seine Adresse stand ja auf dem Fax und habe geklingelt. Als er die Tür öffnete, habe ich gefragt: ,Was passt Ihnen an mir nicht?' Er war total verdutzt, mit so etwas hat er nicht gerechnet. Wir haben Kaffee getrunken, und es kam raus, dass er viele Schicksalsschläge einstecken musste und einsam war. Heute fällt er mir immer fast um den Hals, wenn er mich sieht. Ein bisschen ist man schon Psychologin an der Kasse."

Barbara E., 50, bis vor einem Jahr Kassiererin bei Kaiser's in Berlin: "Ich bin 13 Jahre lang mit vollem Herzblut Kassiererin gewesen. Zwischen 250 und 450 Kunden kamen am Tag an meine Kasse, und ich glaube behaupten zu können, dass ich alle mit Namen kannte. Die meisten bezahlen ja mit Karte, da habe ich mir die Namen eingeprägt. Das ist ein super Gedächtnistraining! Wenn ich die Kunden dann mit Namen angesprochen oder so was wie ,Na, heute gar keine Milch?' gesagt habe, sind sie manchmal richtig erschrocken. Leider habe ich nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit meinen Job verloren, weil ich einen Pfandbon für 1,30 Euro unterschlagen haben soll. Ich glaube aber, man wollte mich loswerden, weil ich bei uns in der Filiale Streiks mitorganisiert habe. Gegen meine Entlassung habe ich geklagt. Ich will meinen Traumberuf unbedingt zurück!"

Werner Hammermeister, 56, LPG Biomarkt in Berlin, Prenzlauer Berg: "Hier sind wir alle per du, auch mit den Kunden. Ich habe 17 Jahre lang in einem normalen Supermarkt gearbeitet - das war Stress ohne Ende, und die Leute haben dauernd gemeckert. Man kam kaum zum Luftholen und musste die Kunden einfach so abfertigen. Hier meckert nie einer, auch wenn mal was nicht da ist oder zwei Leute vor ihnen an der Kasse stehen. Ein Bioeinkauf dauert einfach länger, die Leute nehmen sich mehr Zeit. Mit den vielen Kindern sind wir hier fast wie eine Familie, die Mütter können sogar im Laden stillen. Davor hab' ich in Charlottenburg gearbeitet. Aber inzwischen sind da alle alt, und genauso sind es die Kunden. Hier dagegen sind mindestens 50 Prozent der Frauen schwanger. Ich mag Kinder total gern. Nur wenn wieder eins verrückt spielt, die Mutter nichts sagt und das Kind dann eine Ladung Eier runterschmeißt, bin ich etwas genervt - das dauert aber nie lange."

Elena Tilkeridou, 48, Rossmann in München: "Ich sitze seit 16 Jahren an der Kasse und habe so meine Taktik entwickelt: Sind Kunden frech, bin ich noch netter als sonst. Meistens zieht das, denen wird dann bewusst, wie blöd das ist, eine Kassiererin anzumeckern. Aber es gibt auch Grenzen, und da steht meine Filialleiterin hinter mir und regelt die Sache. Einmal hat ein Mann eine Kollegin bespuckt, dem ging es nicht schnell genug, aber das ist die krasse Ausnahme, zumal Männer in der Regel freundlicher sind als Frauen. Unsere Arbeit wird oft nicht anerkannt, manche glauben, dass wir zu blöd sind, etwas anderes zu machen. Dabei ist das sehr anspruchsvoll, die Technik zu beherrschen, viele Dinge gleichzeitig zu machen und immer nett zu sein. Jeder Tag an der Kasse ist eine Herausforderung, aber genau das ist, was ich so toll an dem Job finde."

Ines Albrecht, 44, Lidl in Aschheim: "Bei uns ist es wie beim Friseur: Viele Leute kommen, um zu reden. Das ist zwar nett, führt aber auch zu Problemen, etwa wenn mittags die Angestellten aus den Büros kommen. Die wollen ihre Pause natürlich nicht im Supermarkt verbringen. Manchen Stammkunden ist das jedoch egal: Sie lassen sich nicht vom Schwätzchen abbringen. Einer meiner treusten Kunden ist ein Mann, mit dem ich mal aneinander geraten bin. Schon als er den Laden betrat, stritt er mit seiner Frau und ging dann getrennt von ihr einkaufen. An meiner Kasse trafen sie sich wieder. Er fing er an, die Waren aus ihren Wagen auf die Süßigkeitenablage zu schmeißen. Als ich ihn freundlich gebeten habe, das zu lassen, schimpfte er: ,Jetzt werden die Sachsen schon im Westen aufmüpfig!" Ich habe ihm erklärt, dass ich aus Thüringen bin. Zehn Minuten später wollte er sich mit einem riesigen Blumenstrauß bei mir entschuldigen. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn lieber seiner Frau schenken."

Protokolle: from, ake, lawe

Fotos: ddp, from, oh

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Heute bei

Freibild für alle!

Menschen hinterlassen oft rätselhafte Fotos im Netz. Man ahnt nicht, was darauf zu sehen ist. Deshalb bitten wir: Sagen Sie uns, wen und was die Bilder zeigen.

www.sueddeutsche.de/freibild

Ein Licht ist aufgegangen

Sie können mehr als moderieren, gut aussehen und kochen: Deutsche Promis haben für einen guten Zweck Energiesparlampen bemalt. Geben Sie ihnen Noten! www.sueddeutsche.de/licht

Foto: oh

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ein Wunder mal Acht

Mit sieben Babys hatten die Ärzte gerechnet - nun brachte eine Frau in Kalifornien gesunde Achtlinge zur Welt

Von Tanja Rest

Als Mandhir Gupta am Montagmittag vor die eilig aufgebauten Fernsehkameras trat, stand ihm das große Staunen noch ins Gesicht geschrieben. "Diese Geburt war eine faszinierende Erfahrung für mein Team, jeder Einzelne hat großartige Arbeit geleistet. Alle Babys sind zu diesem Zeitpunkt stabil, auch der Mutter geht es gut", sagte der Arzt und strahlte. Mandhir Gupta ist der Frühchen-Experte im Kaiser Permanente Hospital der Stadt Bellflower bei Los Angeles, er dürfte im Lauf seiner Karriere schon viele spektakuläre Geburten miterlebt haben, aber gewiss noch keine wie diese: Mit sieben Kindern hatten die Ärzte gerechnet, doch dann kamen per Kaiserschnitt innerhalb von fünf Minuten sechs Jungen und zwei Mädchen zur Welt. Achtlinge, alle am Leben. Das hat es weltweit erst ein einziges Mal gegeben, im Jahr 1998.

Ein Aufgebot von 46 Ärzten und Helfern war im Kreißsaal zugegen. Ihre Augen seinen "so groß wie Untertassen" geworden, als sie Nummer acht entdeckten, sagte die Geburtshelferin Karen Maples. Es war ein Junge, 680 Gramm leicht. Alter und Namen der Eltern gab das Krankenhaus nicht bekannt. Sie wollten zunächst anonym bleiben, hieß es. Auch die Frage von Reportern, ob die Mutter mit Hormonen behandelt worden war, um schwanger zu werden, blieb unbeantwortet. Allerdings: Die Wahrscheinlichkeit, auf natürliche Art Achtlinge zu bekommen, wird auf 1 zu 32 Billionen geschätzt.

Schon Wochen zuvor war die extrem riskante Geburt von den Ärzten generalstabsmäßig vorbereitet worden. Die Mutter befand sich von der 23. Schwangerschaftswoche an auf Station - sie litt unter Rückenschmerzen und verbrachte die Zeit bis zum geplanten Kaiserschnitt in Woche 30 überwiegend im Liegen. Am Ende waren die acht Babys in ihrem Bauch zusammen fast elf Kilo schwer. Die Ultraschallaufnahmen hatten allerdings nur auf sieben Kinder hingedeutet. "Es ist recht leicht, eines zu übersehen, wenn es schon sieben gibt", entschuldigte der Arzt Harold Henry den Untersuchungsfehler.

1470 Gramm wiegt das Schwerste

Um 10.43 Uhr Ortszeit - die Mutter war während der letztlich unkomplizierten Geburt bei vollem Bewusstsein - holte das Team das erste Kind, einen Jungen, ans Licht der Welt. "Er kam raus, schrie und strampelte sofort los. Das war ein gutes Zeichen - wir waren die schlimmste Sorge los", sagte der sichtlich erleichterte Gupta. Die restlichen sieben Babys kamen binnen weniger Minuten nach; das letzte war das leichteste, der schwerste Junge wiegt 1470 Gramm. Alle Lebenszeichen wie Blutdruck, Puls und die wichtigsten Reflexe sind Gupta zufolge normal. Nur zwei der Neugeborenen müssen noch künstlich beatmet werden. Nichtsdestotrotz sei die erste Woche "kritisch", sagte Gupta. Die untergewichtigen Kinder müssten voraussichtlich noch acht Wochen im Brutkasten bleiben.

Die Mutter wird das Krankenhaus wohl bereits in einer Woche verlassen können. Sie sei eine "sehr mutige und sehr starke Frau", schwärmte Karen Maples. "Sie ist ganz aus dem Häuschen, dass sie nun all diese Babys hat und es ihnen gut geht." Ob sie es schaffen werde, ihre Kinder zu stillen, wollte ein Reporter wissen, und Gupta versicherte: "Wir haben ihr zum Stillen geraten, und das wird sie ganz bestimmt auch tun. Das hat sie sich vorgenommen."

Sie haben sich insgesamt viel vorgenommen, die neuen Mehrlingseltern. Acht Babys, das bedeutet pro Tag etwa 60-mal wickeln, zwei- bis dremal mit prallen Windeltüten zur Mülltonne laufen, ungefähr 60-mal stillen und später um die 40-mal die Prozedur, bei der eine Breimahlzeit in einen offenen Mund zu löffeln ist - all dies bei sehr wenig Schlaf, ganz zu schweigen von den Kosten für Kleidung, Spielzeug, Wohnraum und schließlich die Ausbildung.

Guter Rat, wie man all das irgendwie hinbekommt, ist einige Bundesstaaten entfernt in Texas zu haben: Dort brachte vor zehn Jahren die aus Nigeria stammende Nkem Chukwu ebenfalls Achtlinge zur Welt. Anders als bei den kalifornischen Achtlingen waren die Babys aber nur zwischen 300 und 800 Gramm leicht, also extrem untergewichtig - das kleinste starb nach einer Woche. Die Mutter war mit Hormonen behandelt worden. Ab Vierlingen reden Ärzte eigentlich von einem Kunstfehler, Nkem Chukwu waren sieben trotzdem zu wenig: 2002 brachte sie noch eine weitere Tochter zur Welt.

Diese Babys wurden in einer Neugeborenen-Station in Prizren fotografiert. Von den kalifornischen Achtlingen gibt es noch keine offiziellen Bilder, doch ein vergleichbarer Anblick dürfte sich den Eltern bieten, wenn ihre Kinder den Brutkasten erst einmal verlassen haben. Fotos: Zeitenspiegel/Visum, AP

"Eine faszinierende Erfahrung": Arzt und Geburtshelfer Mandhir Gupta.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bedauern ohne Reue

Der Amokläufer von Dendermonde äußert sich über seinen Anwalt

Von Cornelia Bolesch

Brüssel - Drei Tage nach seinem blutigen Angriff auf die Kinderkrippe "Märchenland" hat der Amokläufer von Dendermonde erstmals wieder geredet. Kim De Gelder sitzt im Gefängnis von Brügge. Er wird schwer bewacht, um ihn vor der Wut der anderen Insassen zu schützen. Er nehme wieder Nahrung zu sich, heißt es, er wirke aufmerksam und ruhig, zeige aber keinerlei Gefühle. Was den 20-jährigen Flamen dazu trieb, auf die Babys einzustechen, bleibt weiter unklar. Sein Anwalt Jaak Haentjens sagt: "Ich glaube, er bedauert, was geschehen ist. So hat er sich jedenfalls ausgedrückt. Aber ich denke, man sollte das nicht für echte Reue halten."

Kim De Gelder hatte die Kinderkrippe der flämischen Kleinstadt am Freitagmorgen überfallen. Zwei Babys, neun und sechs Monate alt, und eine 54-jährige Betreuerin starben unter seinen Messerstichen. Zehn Kinder und zwei Erwachsene wurden verletzt. Der Täter flüchtete zunächst auf einem Fahrrad, zwei Stunden später konnte ihn die Polizei aber festnehmen. In seinem Rucksack fanden sie ein Messer, ein Beil und eine Pistolenattrappe. Zudem einen schwarzen Eye-Liner und eine Zeichnung von Dendermonde, auf der außer dem "Märchenland" noch zwei weitere Kinderkrippen eingetragen waren.

Stück für Stück kommen Einzelheiten aus dem Leben des Amokläufers ans Licht. Sie zeichnen das Bild eines mental offenbar tief gestörten und schon seit Jahren auffälligen jungen Mannes. De Gelders Anwalt berichtet, sein Mandant habe im Alter von 15 und 16 Jahren eine schwere Depression gehabt. Danach sei er seltsam geworden, habe Stimmen gehört. Die Eltern waren besorgt, wollten ihren Sohn in einer psychiatrischen Einrichtung unterbringen. Doch er ging zunächst nur in eine Therapie. Der behandelnde Psychiater habe eine feste Unterbringung nicht für nötig gehalten.

Kim De Gelder muss sich nicht nur für den Überfall auf die Kinderkrippe verantworten. Er wird außerdem beschuldigt, eine Woche zuvor in der 20 Kilometer von Dendermonde entfernten Stadt Beveren eine 73-jährige Rentnerin in ihrem Wohnhaus erstochen zu haben. Kim De Gelder leugnet bisher strikt, mit dem Mord etwas zu tun zu haben. Die Polizei spricht dagegen von "zahlreichen Verbindungen" zwischen beiden Verbrechen. Belgische Medien berichten, die DNS-Spuren des Amokläufers seien im Haus der Rentnerin entdeckt worden. Angeblich seien bei Kim De Gelder auch zahlreiche Zeitungsausschnitte mit Berichten über den Mord gefunden worden.

Vor der Kinderkrippe in Dendermonde türmt sich unterdessen ein Berg aus Blumen und Spielzeug. Tausende Bürger und Repräsentanten der Politik haben in der Stadt in den vergangenen Tagen in Schweigemärschen und Trauer-Zeremonien der Opfer gedacht. Für Belgien ist es innerhalb weniger Jahre die zweite schwere Amoktat. Vor drei Jahren hatte ein junger Mann aus Rassenhass auf offener Straße in Antwerpen ein Kind und ihre afrikanische Kinderfrau getötet und eine Türkin schwer verletzt. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Trauermarsch: Belgier gedenken am Montag der Opfer der Amoktat. AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Urteil: Anwalt muss keine Krawatte tragen

Mannheim - Seit Monaten sorgt ein "Krawattenstreit" für Diskussionsstoff in der Mannheimer Justiz. Am Dienstag hat das Landgericht Mannheim zugunsten des betroffenen Rechtsanwalts entschieden. Dieser war wegen eines fehlenden Binders von einem Richter bei einer Verhandlung am Amtsgericht Mannheim aus dem Gerichtssaal geworfen worden. Die 4. Strafkammer des Landgerichts rügte das Verhalten des Strafrichters nun per Beschluss als "rechtswidrig". Den betroffenen Anwalt Christoph Saeftel freut es: "Ich habe noch nie eine Krawatte getragen, und ich gedenke auch nicht, es in Zukunft zu tun", sagt der Jurist. ddp

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Der Stress für Eltern ist enorm"

Daten und Fakten zu Mehrlingsgeburten in Deutschland

Werden Mehrlingsgeburten häufiger?

2007 gab es in Deutschland 22 400 Mehrlingsgeburten, drei Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten dieser Kinder wurden als Zwillinge geboren, etwa 700 als Drillinge und 40 als Vierlinge, teilt das Statistische Bundesamt mit. Seit den achtziger Jahren sind die Chancen auf doppelten oder dreifachen Kindersegen deutlich gestiegen: Damals kam eine Zwillingsgeburt auf 85 normale Geburten, heute ist es eine auf 50.

Ist es überhaupt möglich, Achtlinge ohne hormonelle Behandlung zu bekommen?

Dass bei den Achtlingen aus Kalifornien keine Hormone im Spiel waren, sei nahezu auszuschließen, sagt Carlos Spickhoff, Chef der Frauenklinik am Klinikum Neuperlach in München. Nach einer normalen Befruchtung seien schon Drillingsgeburten die absolute Ausnahme. "Die steigende Zahl der Mehrlingsgeburten hängt direkt mit dem zunehmenden Einsatz der Fortpflanzungsmedizin zusammen."

Welche Risiken bestehen für die Kinder?

"Alles, was über drei Kinder hinaus geht, ist aus medizinischer Sicht eigentlich Wahnsinn", sagt Mediziner Spickhoff. Sogar bei Drillingsschwangerschaften werde manchmal erwogen, einen Embryo abzutreiben, um den verbleibenden beiden bessere Chancen einzuräumen. Das Risiko einer Frühgeburt sei groß. "Die Gebärmutter wird nun mal nicht größer, da geht irgendwann der Platz aus", so Spickhoff. Mit etwa 1000 Gramm Körpergewicht haben Babys heute sehr gute Chancen. Bei Kindern, die kleiner zur Welt kommen, besteht ein erhöhtes Komplikationsrisiko bei Herz-, Lungen- oder Hirnfunktion.

Wie werden Familien in Deutschland nach Mehrlingsgeburten unterstützt?

Bei Mehrlingsgeburten erhöht sich das Elterngeld monatlich um 300 Euro für das zweite und jedes weitere Kind. Viele Länder und Gemeinden bieten zusätzliche Unterstützung in unterschiedlicher Form an: vom Einkaufsgutschein bis zu Bonuszahlungen. Bei gesetzlichen Krankenkassen kann zudem ein Antrag auf Haushaltshilfe gestellt werden. Auch bei Unternehmen gibt es für Mehrfacheltern manches zu holen: Viele Hersteller von Kindernahrung, Windeln und anderen Babyprodukten stellen "Mehrlingspakete" kostenlos zur Verfügung.

Ist mit so vielen Kindern überhaupt ein normales Familienleben möglich?

"Der Stress für die Eltern nach einer Mehrlingsgeburt ist enorm", sagt Anna Götz-Spranger von der Familienberatungsstelle in Hof. Betroffene Eltern sollten alle Hilfsmöglichkeiten nutzen, die zur Verfügung stehen. Vor allem wenn es zusätzlich ältere Kinder gebe, verlange es von den Eltern "enorme Disziplin", sich auch um diese noch ausreichend zu kümmern. "Wenn dann auch noch ein Elternteil arbeiten soll, ist das ohne Haushaltshilfe nicht vernünftig zu schaffen", so Götz-Spranger.

Was kosten Achtlinge?

Ein Säugling verbraucht schon mal bis zu acht Windeln am Tag. Bei Achtlingen macht das mehr als 1900 Windeln im Monat. Selbst wer günstig einkauft, muss dafür etwa 250 Euro einkalkulieren - Schnuller, Fläschchen, Spielzeug und Brei nicht mitgerechnet. Angelika Slavik

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Mindestens drei Täter beim KaDeWe-Raubzug

Berlin - Der Einbruch in das Berliner Kaufhaus KaDeWe ist von mindestens drei maskierten Männern begangen worden. Das teilte die Polizei am Dienstag mit. Derzeit wertet die Polizei die von Überwachungskameras während des Einbruchs am Wochenende aufgezeichneten Bilder aus. Besonders von Interesse sei, so fragt die Polizei, "warum bei dem Einbruch kein Alarm ausgelöst wurde". Nach bisherigen Erkenntnissen der Polizei kletterten die Täter über eine Leiter auf das Vordach über dem Seiteneingang des KaDeWe. Sie brachen ein Fenster im ersten Stock auf. In der Schmuckabteilung im Erdgeschoss öffneten sie gewaltsam Schränke und Vitrinen der Juwelier-Kette Christ und stahlen Schmuck und Uhren im Wert von bis zu sechs Millionen Euro. Die Männer entkamen auf dem gleichen Weg. lion

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Lufthansa-Flugbegleiter wieder im Warnstreik

München - Im Tarifkonflikt mit der Lufthansa hat die Flugbegleitergewerkschaft Ufo für diesen Mittwoch den zweiten Warnstreik geplant. Betroffen seien von 6 bis 12 Uhr Lufthansa-Flüge an den Flughäfen Frankfurt und Berlin, sagte der Verhandlungsführer der Gewerkschaft, Joachim Müller. Reisende sollten damit rechnen, dass auch Fernflüge bestreikt würden. Am vorigen Freitag hatte ein dreistündiger Warnstreik lediglich zu Streichungen und Verspätungen von innerdeutschen und europäischen Flügen geführt. Die Gewerkschaft fordert für die Flugbegleiter der Lufthansa 15 Prozent mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Lufthansa bietet ein Paket von zehn Prozent an, das sich aus einer Lohnsteigerung, einer Ergebnisbeteiligung und verbesserten Arbeitsbedingungen zusammensetzt. shs.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

EIN ANRUF BEI . . .

Michael Hess, Erfinder einer Bonuskarte gegen Schulschwänzen

In Oer-Erkenschwick (Kreis Recklinghausen) sollen sozial problematische Familien künftig Prämien im Wert von bis zu 100 Euro erhalten - etwa wenn sie ihre Kinder stets pünktlich in die Schule schicken. Auch ein gesundes Frühstück könnte den Eltern Bonuspunkte einbringen. Jugendpfleger Michael Hess, 51, hatte die Idee zu der Aktion, die nur noch vom Landesjugendamt abgesegnet werden muss.

SZ: Herr Hess, Oer-Erkenschwick scheint ja ein ganz heißes Pflaster zu sein.

Hess: Nein, hier ist es nicht heißer als woanders.

SZ: Zuletzt war Ihre Stadt bundesweit in den Schlagzeilen, weil sich Feuerwehrmänner bei der Aufnahmeprüfung gegenseitig mit Schuhcreme die Genitalien beschmierten.

Hess: Gut, diesmal geht es um Probleme, die die zuständigen Pädagogen gemeinsam mit Eltern lösen wollen. Zum Beispiel das Schulschwänzen. Ein Problem, das natürlich nicht nur in Oer-Erkenschwick existiert.

SZ: Angenommen, ich gehöre zu den Vätern, die ihr Kind täglich pünktlich in die Schule bringen. Könnte ich Ihre 100-Euro-Prämie dann in jedem Fall einstecken?

Hess: Nein. Das Bonussystem ist vor allem für Eltern gedacht, die sich der Zusammenarbeit mit Jugendamt, Kindergarten oder Schule konsequent entziehen. Es gibt doch schon überall solche Bonuskarten. Wieso sollte man sie nicht auch in der Jugendhilfe etablieren?

SZ: Weil man ja einfach sagen könnte: "Kruzifix, um acht ist Schule, da gehst du hin, und jetzt ist Ruhe."

Hess: Leider machen das nicht alle Eltern. Unser Bonussystem soll eine Art Schraubenzieher für besonders schwierige Fälle sein. Ein Anreiz. Ein Versuch.

SZ: Sie denken an ein Payback-Punkte-System für Problemfamilien?

Hess: Unser Gedanke ist zum Beispiel: Der Lehrer soll durch das Stempeln der Bonuskarte das regelmäßige Erscheinen des Schülers bestätigen. Hat der Schüler eine gewisse Zahl an Stempelpunkten erreicht, so gibt es eine Belohnung . . .

SZ: . . . nämlich einen Einkaufsgutschein im Wert von 100 Euro, mit dem die Eltern anschließend eine Großpackung Jägermeister einkaufen gehen?

Hess: Nein. Gedacht ist an Sachprämien, die wir verteilen. Ein Grill, eine Kaffeemaschine, eine Kamera. Solche Dinge, wie man sie von einer Zeitung kriegt, wenn man neue Abonnenten wirbt.

SZ: Kundenpflege also. Und ganz Oer-Erkenschwick ist von dieser Idee begeistert?

Hess: Sie wurde von verschiedenen Schulen, Kindergärten und von Politikern zuerst kontrovers diskutiert. In der entscheidenden Ausschusssitzung hat man hier den einstimmigen Beschluss gefasst: Jetzt probieren wir das einfach mal aus. Schließlich gibt es im Jugendförderplan einen Topf, der heißt "Besondere Maßnahmen, innovative Projekte und Experimente". Aus dem bräuchten wir 23 000 Euro, um das zu verwirklichen.

SZ: Herr Hess, wenn ich meinem Kind Schokolade gebe, bloß weil es die Hausaufgaben gemacht hat, dann will es fortan immer Schokolade. Haben Sie nicht Angst, Eltern - die nichts anderes tun, als etwa der Schulpflicht nachzukommen - zu sehr zu verwöhnen? Beim nächsten Mal wollen die vielleicht ein Auto.

Hess: Es geht darum, dass man den Eltern eine positive Erfahrung nachhaltig mit auf dem Weg gibt. Ich bin da sehr optimistisch.

Interview: Martin Zips

Jugendpfleger Michael Hess. Foto: oh

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

DIE FRAGE

Wer kauft sich einen Nacktscanner?

Im Oktober stoppte die EU nach einem Sturm der Entrüstung den Einsatz von Nacktscannern an Flughäfen. Sechs von ihnen stehen seit Jahren nutzlos im Keller des EU-Parlaments herum.

Markus Ferber, Haushaltsexperte im EU-Parlament: "Da unsere Nacktscanner nicht zum Einsatz kommen werden, sollen sie jetzt verkauft werden. Neu haben sie 120 000 Euro pro Stück gekostet. Sie sind quasi ungebraucht - auch die Originalverpackung ist noch vorhanden. Vielleicht ist die Medienbranche interessiert, oder Bürohäuser, die damit ihre Besucher durchleuchten möchten. Ich könnte mir auch vorstellen, dass einige Flughäfen Interesse zeigen. Allerdings haben wir den Markt noch nicht genau analysiert. Wir wollen nur nicht, dass die neuen Geräte im Keller vergammeln und irgendwann verschrottet werden. Es ist doch schon peinlich genug, dass sie das Parlament angeschafft hat."

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

LEUTE

John Travolta, 54, Schauspieler, wurde nach dem Tod seines Sohnes angeblich von einem Notarzt erpresst. Der Sanitäter von den Bahamas soll laut der Anklage an der Erpressung des Schauspielers um 25 Millionen US-Dollar beteiligt gewesen sein, wie der Minister für nationale Sicherheit des Inselstaats, Tommy Turnquest, der Internetseite Usmagazine.com sagte. Der 47-jährige Tarino Lightbourn habe die Vorwürfe zurückgewiesen. Lightbourn war laut der Zeitschrift People der erste Notarzt, der Jett Travolta nach dessen Anfall am 2. Januar behandelt hatte. Der 16-Jährige war kurz darauf gestorben.

Eva Mendes, 34, Schauspielerin, hätte für die Comic-Verfilmung "The Spirit" fast das Schwimmen gelernt. "Es gibt eine lange Unterwasser-Sequenz und ich dachte: Oh Gott, ich muss Schwimmen lernen!", sagte die 34-Jährige der Nachrichtenagentur ddp. Sie habe zu Regisseur Frank Miller gesagt: "Frank, gib mir Zeit, aber ich bekomme das hin." Darauf habe Miller entgegnet, dass sie nicht mit Wasser in Berührung komme, weil in einem Greenscreen-Studio gedreht und die Umgebung nachträglich eingefügt werde. Sie habe dann vor einer Windmaschine gehangen und so tun müssen, als schwimme sie. Foto: AP

Axel Prahl, 48, Schauspieler, muss sich wegen einer unerlaubten Zigarette in einem Kino in Münster verantworten. Das städtische Ordnungsamt in Münster ermittelt gegen den "Tatort"-Kommissar wegen Verstoßes gegen das Nichtraucherschutzgesetz. Gegen ihn sei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet worden, sagte ein Sprecher der Stadt am Dienstag. Nun droht dem 48-Jährigen eine Geldbuße. Prahl soll sich am Freitag in einem Großkino bei der Premiere seines neuen Münster-"Tatorts" trotz Rauchverbots demonstrativ eine Zigarette angesteckt haben.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Herausgegeben vom Süddeutschen Verlag

vertreten durch die Gesellschafterversammlung

Chefredakteur: H. W. Kilz

Stellvertretende Chefredakteure: K. Kister, W. Krach

Außenpolitik: S. Kornelius, C. Schlötzer; Innenpolitik: Dr. H. Prantl, P. Fahrenholz; Seite Drei: Dr. P. Münch; Kultur: A. Kreye, Dr. T. Steinfeld; Wirtschaft: Dr. M.

Beise, U. Schäfer; München: Dr. J. Käppner, K. Forster; Region: M. Bernstein; Bayern: A. Ramelsberger; Sport:

L. Schulze, K. Hoeltzenbein; Wissen: Dr. P. Illinger;

Gesellschaft und Panorama: T. Rest; Wochenende:

A. Gorkow; Beilagen: W. Schmidt; Art Director: E. Wolf; Bild: J. Buschmann; Grafik: D. Braun

Chefkorrespondent: S. Klein

Geschäftsführende Redakteure:

Dr. H. Munsberg, R. Roßmann

Chef vom Dienst: C. Krügel, S. Simon

Leitende Redakteure: Prof. Dr. J. Kaiser,

H. Leyendecker, N. Piper, E. Roll

Die für das jeweilige Ressort an erster Stelle Genannten sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über die Presse vom 3. Oktober 1949.

Anschrift der Redaktion:

Hultschiner Straße 8 81677 München, Tel.(089) 21 83-0; Nachtruf: 21 83-7708; Nachrichtenaufnahme: 21 83-481; Fax 21 83-97 77; E-Mail: redaktion@sueddeutsche.de.

Berlin: N. Fried, C. Hulverscheidt (Wirtschaft), Französische Str. 47, 10117 Berlin, Tel. (030) 20386650 Dresden: C. Kohl, Wallotstr. 20, 01309 Dresden, Tel. (0351) 6 52 83 25; Düsseldorf: D. Graalmann, Bäckerstr. 2, 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 54 05 55-0; Frankfurt: H. Einecke, Kleiner Hirschgraben 8, 60311 Frankfurt, Tel. (069) 2 99 92 70; Hamburg: R. Wiegand, M. Thiede (Wirtschaft), Poststr. 25, 20354 Hamburg, Tel. (040) 46 88 31-0; Karlsruhe: Dr. H. Kerscher, Postfach 54 47, 76135 Karlsruhe, Tel. (0721) 84 41 28; Stuttgart: D. Deckstein, Rotebühlplatz 33, 70178 Stuttgart, Tel. (0711) 24 75 93/94

Geschäftsführer: Dr. R. Rebmann, Dr. K. Ulrich

Anzeigen: J. Maukner (verantwortlich). Zurzeit ist die Anzeigenpreisliste Nr. 72 vom 1. Oktober 2008 gültig.

Das Abonnement kostet in Bayern monatlich 36,40 Euro, außerhalb Bayerns 38,40 Euro; Studenten, Wehr- und

Zivildienstleistende zahlen, nach Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung, 19,50 Euro, jeweils inkl. Mehrwertsteuer (Auslandspreise auf Anfrage). Bank-

verbindung: Postbank München 5 54 18 03, BLZ: 700 100 80. Erscheint die Zeitung durch höhere Gewalt oder Streik nicht, besteht kein Anspruch auf Entschädigung. Abonnements können schriftlich mit einer Frist von vier Wochen zum Monatsende beziehungsweise zum Ende eines Vorauszahlungszeitraums gekündigt werden. www.sueddeutsche.de/abo

Anschrift des Verlages:

Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8,

81677 München; Großkundenadresse: Süddeutsche Zeitung GmbH, 80289 München. Telefon (0 89) 21 83-0,

Telegrammadresse: süddeutsche

Anzeigen: Telefax: (0 89) 21 83-7 95.

Telefonische Anzeigenaufnahme: Tel. 01805/155900* (Immobilien-/Mietmarkt), Tel. 01805/255900* (Motormarkt), Tel. 01805/355900* (Stellenmarkt, weitere Anzeigenmärkte). Vertrieb: Abonnenten-Service Tel. 01805/45 59 00*, Telefax 089/21 83-82 07. (*14 Ct/Min. dt. Festnetz, Mobilfunktarife können abweichen.) Pförtner: 0 89/21 83-4 11.

Druck:

SV-Druckzentrum Steinhausen GmbH & Co. KG,

Zamdorfer Straße 40, 81677 München

www.sv-druckzentrum.de

Jeder Freitagsausgabe liegt das "Süddeutsche Zeitung Magazin" bei. Bei Feiertagen abweichende Erscheinungstermine. Der Verlag übernimmt für unverlangt

zugesandte Unterlagen oder Gegenstände keine Haftung. Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Zeitungsbeiträge, Abbildungen, Anzeigen etc., auch der in elektronischer Form vertriebenen Zeitung, insbesondere durch Vervielfältigung, Verbreitung, Digitalisierung, Speicherung in Datenbanksystemen bzw. Inter- oder

Intranets, ist unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt. Die Rechte für vorstehende Nutzungen, auch für Wiederveröffentlichung (Syndication) bietet die Dokumentations- und Informations Zentrum München GmbH (DIZ), Tel. 089/2183-9323 / www.diz-muenchen.de, Rechte für elektronische Pressespiegel die PMG Presse-Monitor GmbH,

Tel. 030/28493-0, www.presse-monitor.de

Überregionales Pflichtblatt an allen deutschen Börsen.

Zur Herstellung der Süddeutschen Zeitung

wird Recycling-Papier verwendet.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Karikatur

Auf Pump in die Zukunft SZ-Zeichnung: Gottscheber

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Blick in die Presse

Auf dem Basar

Das Urteil gegen Ex-Postchef Klaus Zumwinkel wird heftig debattiert: Die einen loben den Rechtsstaat, die anderen beklagen Mauscheleien.

STUTTGARTER NACHRICHTEN:

"Zumwinkel hat zu Beginn des Prozesses ein Geständnis abgelegt. Das mildert seine Strafe - obwohl er nur gestand, was ohnehin nicht zu leugnen war. Auch die schnelle Rückzahlung der Steuern ist ein fragwürdiger Milderungsgrund. Nicht jeder reuige Steuersünder ist so begütert, dass er dazu in der Lage ist. Daher sind vor dem Steuerrecht nur diejenigen wirklich gleich, die sich das leisten können. Für einen Rechtsstaat ist das unerträglich."

FRANKFURTER ALLGEMEINE:

"Das Urteil gegen Klaus Zumwinkel wird die üblichen Proteste auf sich ziehen. ,Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen', dürfte es wieder heißen. Doch dass Zumwinkel weder in eine Gemeinschaftszelle mit Rauschgifthändlern gesperrt, noch zum Freigang in den ,offenen Vollzug' geschickt wird, liegt daran, dass auch nach einem neuen Grundsatzurteil, in dem der Bundesgerichtshof strengere Strafen für Steuerhinterzieher verlangte, die Gesamtumstände des Einzelfalls zu würdigen sind. Und dazu gehört, dass Zumwinkel, anders als andere Manager, vor Gericht klipp und klar sein Unrecht eingestanden hat."

ABENDZEITUNG (München):

"Das Urteil gegen Klaus Zumwinkel zeigt, dass Mauschelei im Gerichtssaal Alltag ist. Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer kritisiert ,die Geschäfte mit der Wahrheit'. Er stellt mit Abscheu fest, dass es mittlerweile Verteidiger gibt, die mit ihren Mauschel-Fähigkeiten werben. Und er warnt vor Richtern, die unkooperative Angeklagte mit hohen Freiheitsstrafen zu Aussagen erpressen - und dann mit milden Bewährungsstrafen belohnen. Der Fall Zumwinkel sollte eine Warnung an die Justiz sein: Ein Gerichtssaal ist kein Basar."

LEIPZIGER VOLKSZEITUNG:

"Übrig bleibt ein gebrandmarkter Steuerhinterzieher und ein neuerliches Beispiel für Wertezerfall bei denen, die von ganz oben Verzicht bei denen ganz unten verlangen. Wie selbstverständlich schien der Betrug an den braven Steuerzahlern Bestandteil dieser Aufstiegs-Biografie. Jetzt ist auch diese Blase geplatzt und der Rechtsstaat hat sich gerächt. Nicht besonders kräftig, nicht spektakulär, es lief geradezu routiniert ab. Manche mögen bedauern, dass dem Täter die Erfahrung einer regulären Haftpraxis erspart blieb. Doch Schauprozesse sind das Kennzeichen von Diktaturen."

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Reden und warten

Barack Obamas Gesten reichen der arabischen Welt noch nicht als Zeichen für einen Neuanfang

Von Rudolph Chimelli

Die arabisch-islamische Weltwartet auf Signale des neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Ein erstes Zeichen ist die sofortige Reise des neu ernannten Nahost-Beauftragten George Mitchell nach Ägypten und Israel, in das Westjordanland, nach Jordanien und Saudi-Arabien. Unter Arabern stößt der ehemalige Senator Mitchell auf ein positives Vorurteil, weil seine Mutter eine maronitisch-katholische Libanesin war. Eine weitere Geste ist die Tatsache, dass Obama sein erstes Interview mit einem ausländischen Medium dem arabischen Fernsehsender al-Arabija gab, der sich in saudischem Besitz befindet.

Es weckt im Nahen Osten vorsichtige Hoffnungen, aber nicht mehr, dass der neue Präsident dabei Töne anschlug wie sie bisher aus Washington nicht zu hören waren. "Wenn Länder wie Iran den Willen zeigen, ihre Faust zu öffnen, dann werden sie unsere ausgestreckte Hand finden", sagte Obama. Im Interesse eines Friedens müssten auch die Israelis einige "schwierige Entscheidungen" treffen, meinte er. Ferner hat Obama in seinen ersten Amtstagen mit den Chefs der wichtigsten Länder der Region telefoniert, auch mit dem Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas - nicht aber mit Vertretern der Hamas oder mit Teheran.

Diese Indizien sind indessen für die herrschende Meinung in den arabischen Ländern nicht ausreichend, um auf eine grundsätzliche Wende der amerikanischen Nahostpolitik zu schließen, die bisher auf der bedingungslosen Unterstützung Israels beruhte. Zwar gaben die meisten arabischen Regime für Obama freundliche Begrüßungserklärungen ab. Auch mit Kritik halten sie sich vorerst zurück, denn sie wollen nicht schon in der Anfangsphase der neuen Regierung unnötig Animositäten wecken. Doch die Grundhaltung bleibt skeptisch.

Harsche Worte fand allein Ali Laridschani, der Vorsitzende des iranischen Parlaments. Amerikas " Schweigen zu Israels grausamem Spiel im Gaza-Streifen" hätte der Vorstellung vom Wandel "einen heftigen Schlag versetzt", urteilte Laridschani vor den Abgeordneten. Dadurch falle ein Schatten auf Obamas Versicherung, er werde neue Wege zu den muslimischen Ländern finden, gegründet auf gemeinsame Interessen und gegenseitiger Achtung. So wie der Iraner Laridschani denken auch viele Araber - ohne es zu sagen, wenn sie in verantwortlichen Positionen sind.

Da die Beilegung des Streits zwischen Israel und den Palästinensern nach allgemeiner Überzeugung die Voraussetzung für einen umfassenden Frieden im Nahen Osten ist, muss nach dieser Logik jeder erfolgreiche Schritt die Hamas-Bewegung einschließen. Sie beherrscht Gaza und hat im Westjordanland durch ihr Überleben im dreiwöchigen israelischen Bombenhagel Ansehen gewonnen. Solange Obama mit der Hamas nicht reden will, hat sich nichts geändert.

Optimisten setzen deshalb ihre Hoffnungen darauf, dass die Haltung unabhängiger Fachleute in Washington mehr Einfluss gewinnen möge. Als einer von ihnen gilt Richard Murphy, ehemals Staatssekretär sowie US-Botschafter in Syrien und Saudi-Arabien. Murphy warnte bereits, genau so wie die USA für den Frieden mit Israel und den Palästinensern mehr erreicht hätten, wenn sie nicht 13 Jahre lang Gespräche mit der Palästinensischen Befreiung-Organisation ausgeschlossen hätten, so gingen sie jetzt das gleiche Risiko ein, indem sie nicht mit der Hamas verhandeln wollten. Politische Kontakte mit der Hamas seien auf die Dauer unvermeidlich.

Pessimisten verzeichnen auch negative Schritte Obamas. Er lässt den Raketenbeschuss auf pakistanische Stammesgebiete fortsetzen und will den Krieg in Afghanistan intensivieren. Die Reise in ein islamisches Land, die Obama in seinen ersten 100 Amtstagen machen will, soll keinen arabischen Staat, sondern Indonesien zum Ziel haben. Dort hat der Präsident als Kind gelebt.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Alte Schuld und neue Schulden

Mit dem Nachtragshaushalt werden die Kosten der Konjunkturpolitik offensichtlich

Von Claus Hulverscheidt

Es ist das eine, abstrakte Diskussionen über das Für und Wider von Konjunkturprogrammen zu führen. Etwas anderes ist es, ein solches Programm in Zahlen zu gießen und in den Haushalt einzubetten. Genau das hat das Kabinett mit der Verabschiedung eines Nachtragsetats am Dienstag getan und damit für jeden nachlesbar eine erste Rechnung präsentiert: Nimmt man Bund, Länder und Gemeinden zusammen, dann wird die staatliche Neuverschuldung in diesem Jahr von null auf 75 Milliarden Euro geradezu explodieren. Selbst unbekümmerte Seelen sollte da ein Frösteln überkommen.

Positiv ausgedrückt nimmt der Staat in der schwersten Wirtschaftskrise seit Kriegsende seine Verantwortung wahr und setzt mit gleich zwei riesigen Konjunkturpaketen ein machtvolles Zeichen gegen die Rezession. Bei realistischer Betrachtung jedoch sind die kaum noch vorstellbaren Summen, mit denen dort hantiert wird, weniger Beleg für die wiedergewonnene Handlungsfähigkeit der Politik, als vielmehr Ausdruck der Verzweiflung: Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück treiben nicht, sie werden getrieben. Sie handeln, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Immerhin hat die Koalition mit dem Nachtragsetat eine Konstruktion gefunden, die eine generelle Rückkehr zur Schuldenpolitik der letzten 40 Jahre zumindest erschwert. Statt die Zusatzinvestitionen aus dem Konjunkturpaket im Haushalt zu verbuchen, werden sie aus einem Fonds bezahlt, für den es ebenso klare wie strikte Tilgungsregeln gibt. Zwar mokiert sich die Opposition über derlei "Tricksereien", Steinbrück umgeht aber damit die Gefahr, dass die Wirtschafts-, Verkehrs- oder Umweltpolitiker der Parteien aus Einmalausgaben später Daueransprüche herleiten. Zudem hat er die Gunst der Stunde genutzt, um nach endlosem Streit endlich eine Schuldenbremse im Gesetz zu verankern. Und schließlich: Auch wenn es nicht hilft, mit dem Finger auf andere zu zeigen, verweist die Koalition auf eines doch zu Recht: Andere Industriestaaten müssen, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, drei- oder gar viermal so viele Kredite aufnehmen wie Deutschland, weil sie noch schlechter auf die Krise vorbereitet waren.

Steinbrück ist und bleibt anzukreiden, dass er im Boom die Chance vergab, als erster Finanzminister seit Franz Josef Strauß einen schuldenfreien Bundeshaushalt vorzulegen. Die aktuellen Zahlen wären dann kaum besser, er hätte aber einen Pflock für künftige Politikergenerationen eingerammt. Stattdessen wird er nun auf andere Art Geschichte schreiben, nämlich als Schuldenkönig. Auf der Habenseite verbleibt, dass er der nächsten Bundesregierung die Möglichkeit erhalten hat, einen neuen Anlauf in Richtung Etatausgleich zu nehmen. Je nach Wahlausgang erhält vielleicht sogar Steinbrück selbst eine zweite Chance. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er sich in die lange Riege jener Finanzminister wird einreihen müssen, welche die Arbeit ihren Nachfolgern hinterließen.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ende einer Irrfahrt

Es ist vollbracht. Nach jahrelanger Diskussion hat eine Regierung das hinbekommen, was angeblich alle Parteien wollten: eine Kraftfahrzeugsteuer, die sich auch am (theoretischen) Ausstoß von Kohlendioxid orientiert. Theoretisch deshalb, weil es in der Praxis darauf ankommt, welche Strecken ein Fahrer zurücklegt. Natürlich ist die Demokratie ein ständiger Kompromiss, das Leben sowieso. Aber wundern sollte man sich schon darüber, dass einer Nation die Entscheidung über eine vergleichsweise läppische Steuer dermaßen schwerfällt.

Ja, das Schlimmste ist gerade noch verhindert worden: die fiskalische Belohnung besonders umweltschädlicher Fahrzeuge. Ja, es ist der Einstieg in eine stärker dem Klimaschutz verpflichtete Lenkungssteuer. Das war's dann auch; starke Impulse sollte sich davon niemand erwarten - weder zur Senkung der Treibhausgase im Verkehr noch dafür, dass die deutschen Hersteller sich auf verbrauchsärmere Fahrzeuge fokussieren. Ein Grund liegt im Steuerrecht selbst, das nach wie vor eine Armada von Dienstwagen begünstigt. Für die Kunden aber, die rechnen müssen, sind die Reparaturrechnungen und die Ausgaben an der Tankstelle wesentlich bedeutsamer als die Abgabe an das Finanzamt.

Es heißt, das lange Gezerre um eine CO2-Steuer sei auch darauf zurückzuführen, dass dieses Geld bisher den Ländern zufließt. Wenn das ein Argument ist, ist es besonders blamabel. Erstens, weil es problemlos möglich wäre, die Vergünstigung für sparsame Autos komplett mit der Erhöhung für umweltschädlichere zu kompensieren. Zweitens, weil man kein Finanzgenie sein musste, um einen Weg zu finden, der den Ländern anderweitig Ausgleich verschafft.wor

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Was Kinder brauchen

Es kommt nicht oft vor, dass das Bundessozialgericht eine Vorschrift für verfassungswidrig hält. Doch jetzt war das ausnahmsweise der Fall: Deutschlands oberste Sozialrichter sind überzeugt, dass das Sozialgeld für Kinder von Hartz-IV-Empfängern verfassungswidrig ist. Die Richter sagen nicht, dass 207 (heute 211) Euro monatlich auf jeden Fall zu wenig sind. Sie sagen nur: Wir wissen nicht, wie viel ein Kind benötigt, denn der Gesetzgeber hat versäumt, den Bedarf zu ermitteln. Noch ist zwar offen, ob das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung bestätigt, eines steht aber fest: Es ist erschreckend, wie einfach es sich die Politiker damals gemacht haben.

Als für 2005 das Arbeitslosengeld II festgelegt wurde, ermittelten kluge Köpfe in komplizierten Berechnungen den monatlichen Bedarf eines Erwachsenen. Für Kinder verzichtete man auf den Aufwand und beschloss einfach, dass kleine Kinder 60 Prozent bekommen und große Kinder 80 Prozent. Warum? Sie benötigen eben weniger, hieß es. Doch das ist Unsinn. So kann ein Erwachsener seinen Wintermantel viele Jahre tragen. Ein Kind dagegen braucht fast jeden Winter einen neuen. Erstens, weil es wächst, und zweitens, weil es herumtollt. Außerdem: Spielzeug, Buntstifte, Zeichenblöcke, Nachhilfe - all das sind Kosten, die nur bei Kindern anfallen. Vielleicht können sie tatsächlich mit 207 (oder 211) Euro im Monat auskommen, auch wenn es kaum vorstellbar ist. Doch das können Politiker nicht Pi mal Daumen festlegen.

Kinder haben ein Recht darauf, dass ihr Bedarf genau so akribisch ermittelt wird wie der von Erwachsenen. Das hat das Bundessozialgericht klargestellt - und hoffentlich sieht es das Bundesverfassungsgericht genauso. dku

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kleinliche Einwände

Dem Zentralrat der Juden muss es ein Anliegen sein, die Routine des Erinnerns immer wieder aufzubrechen. Gedankenloses Gedenken trifft zu Recht auf den Widerspruch jener, die das Nazi-Regime überlebt haben oder Nachkommen derer sind, die in den Gaskammern ermordet wurden. Manche Kritik oder Sensibilität der Juden in Deutschland mag dabei verstörend wirken. Doch hilft bisweilen nur die Irritation, um Verantwortung in der Gegenwart für das Verbrechen in der Vergangenheit deutlich zu machen.

Dennoch sollte auch der Zentralrat die Wirkung bedenken, die sein Verhalten für das eigene Anliegen hat. Und in dieser Hinsicht hat sich die Organisation keinen Gefallen damit getan, der Feier zum Holocaust-Gedenktag fernzubleiben. Bedeutet nicht die Verneigung des Parlaments und aller Verfassungsorgane vor dem Leid der Opfer bei dieser Veranstaltung viel mehr als die Frage, ob die Repräsentanten des Zentralrats namentlich begrüßt werden? Der Bundestagspräsident hielt eine bewegende Rede, der Bundespräsident würdigte die vielen Formen des Erinnerns, die mittlerweile entstanden sind. Ein wenig kleinlich wirkten dagegen die protokollarischen Einwände des Zentralrates, die zudem noch völlig überraschend vorgetragen wurden.

Viele Jugendliche waren im Bundestag; junge Menschen, die die Erinnerung wachhalten wollen. Sie sind diejenigen, auf die alle, auch der Zentralrat, setzen müssen, wenn das Schicksal der Juden in Deutschland in der NS-Zeit vor dem Vergessen bewahrt werden soll. Diese Jugendlichen waren Zeugen einer würdevollen Gedenkfeier, die der Zentralrat bewusst entwertet hat - ohne dass ersichtlich wurde, wem das eigentlich genützt haben soll. nif

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der rätselhafte Papst

Von Stefan Ulrich

"Wir können nicht in den Kopf des Papstes sehen", sagen die italienischen Rabbiner. Den Katholiken geht es genauso. Selbst Geistliche, die loyal zu ihrem Pontifex stehen, sprechen von Ernüchterung, Verunsicherung und Enttäuschung. Sie rätseln, warum Benedikt XVI. vier reaktionäre, seit langem exkommunizierte Bischöfe wieder in die Kirchengemeinschaft aufnimmt, darunter einen Mann, der den Holocaust leugnet. Wie schon einmal, nach der Regensburger Rede im September 2006 mit ihrem islamfeindlichen Zitat, fragt sich die Welt: Was treibt diesen Papst? Wohin führt er seine Kirche?

Altgediente Ratzinger-Kritiker antworten, der Papst sei eben ein verknöcherter Mann, der den Vatikan in einen dogmatischen Elfenbeinturm verwandele und die Öffnung der Kirche zur Welt verweigere. Wer das verkannt habe, sei naiv gewesen. Tatsächlich müssen sich jetzt alle verunsichert fühlen, die Benedikt XVI. nach der Papstwahl vor vier Jahren freudig begrüßten - aller Bedenken zum Trotz. Viele glaubten, Joseph Ratzinger werde als Papst offener und großherziger agieren denn als "Panzer-Kardinal". Dieser Glaube wankt.

Vier Dinge sind es, die die Versöhnung mit den Lefebvre-Bischöfen so anstößig machen: Erstens kommt der Papst den Erzkonservativen entgegen, obwohl sie keine Vorleistungen erbringen. Normalerweise verlangt die Kirche von Schismatikern Unterwerfung. Davon kann bei den Lefebvre-Bischöfen keine Rede sein. Es ist ungewiss, ob sie je den Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils folgen werden, das die Kirche modernisiert und auf eine Verständigung mit den anderen Religionen eingeschworen hat. Warum also verhält sich Benedikt so großzügig zu den vier Bischöfen? Das passt nicht zu der Strenge, mit der er sonst Menschen behandeln lässt, die anderer Meinung sind. So verweigerte seine Kirche vor zwei Jahren einem Italiener die Bestattung, weil der unheilbar kranke Mann um Sterbehilfe gebeten hatte.

Zweitens ließ Benedikt seine Aussöhnung mit den Feinden des Konzils exakt an dem Wochenende veröffentlichen, an dem sich die Ankündigung des Konzils zum 50. Mal jährte. Das kann kein Zufall sein und weckt Zweifel an der Treue des Papstes zum Konzil. Drittens vergiftet der Beschluss so kurz vor dem Holocaust-Gedenken an diesem Dienstag das ohnehin schwierige Verhältnis der Kirche zum Judentum. Denn die Lefebvristen hintertreiben traditionell die Aussöhnung. Am Schlimmsten aber wirkt, viertens: Einer der Bischöfe ist seit Jahren ein Holocaust-Leugner. Der Papst und seine Berater mussten das wissen. Benedikt hob die Exkommunikation also auf, obwohl klar war, welch schlimmes Zeichen er damit setzte.

Zwei Erklärungen bieten sich dafür an: Entweder kam es wieder mal zu einem Betriebsunfall im Vatikan, wie offenbar damals, als Benedikt in seiner Regensburger Rede die Muslime erzürnte. Sollte dem so sein, wäre der Papst miserabel beraten, was nicht von seinem Personalgespür zeugte. Die andere Erklärung ist noch schlimmer. Danach wäre dem Papst die Eintracht mit einer erzkonservativen Splittergruppe wichtiger als das Verhältnis zum Judentum und zu den moderaten, der Moderne zugewandten Kräften in seiner eigenen Kirche.

Knapp vier Jahre nach dem Antritt Benedikts bietet sich so ein verwirrendes Bild seines Pontifikats: Da sind positive, versöhnliche Gesten wie seine Begegnung mit dem Kirchenkritiker Hans Küng, sein Gedenken in der Blauen Moschee zu Istanbul und die Pläne für eine Reise im Mai nach Israel. Und da sind rückwärtsgewandte Signale wie das Zitat in der Regensburger Rede, sein übertriebener Einsatz für die lateinische Messe und jetzt die Lefebvre-Versöhnungs-Aktion. Das Faible des Papstes für alte Hüte wie den Hermelin-besetzten Camauro, wirkt da programmatisch.

Joseph Ratzinger scheint sich immer noch schwerzutun, seine Rolle als Papst zu finden. Er war in seinem früheren Berufsleben zunächst ein Kirchenlehrer, dann, als Chef der Glaubenskongregation, ein Kirchenwächter. So wirkte er über Jahrzehnte vor allem nach Innen und versuchte, die katholische Kirche fest zusammenzuhalten und dogmatisch zu stärken. Darin sieht er bis heute seine Mission. Von einem Kirchenführer wird aber mehr verlangt als von einem Lehrer und Wächter. Ein Papst wirkt mit dem, was er tut, in die ganze Welt. Er spielt eine globalpolitische Rolle, zumal nach einem großen Vorgänger wie Johannes Paul II. Es reicht daher nicht, wenn Benedikt den eigenen Weinberg hinter den vatikanischen Mauern bestellt. Er ist der Pontifex, er muss die Brücken bauen, zu anderen Konfessionen, anderen Religionen und zu denen, die nicht glauben.

Ab und an schien der Papst dies zu akzeptieren, in den Monaten nach der Regensburger Rede etwa, als er den Dialog mit dem Islam vorantrieb. Dann wieder zog er sich in seine alte Lieblingsrolle zurück. Mag sein, dass nun wieder eine Phase der Öffnung folgt, gekrönt von einer Reise nach Jerusalem. Die spektakuläre Aufwertung der Erztraditionalisten aber kann Benedikt nicht mehr vergessen machen. Sie bestätigt die Kritiker, erschüttert viele Anhänger und legt sich als unheimlicher Schatten auf das Pontifikat.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Francisco Whitaker Kapitalismuskritiker und Initiator des Weltsozialforums

Der Mitgründer bemühte eine asiatische Weisheit, als er den Unterschied zwischen seinem Weltsozialforum in Belém und dem Weltwirtschaftsforum in Davos darstellen wollte. Bei den Chinesen habe das Wort Krise zwei Bedeutungen, erläuterte Francisco Whitaker: Risiko - und Chance. "In Davos ist das Gefühl des Risikos zu sehen, das System erschöpft sich. Hier in Belém sehen wir die Gelegenheiten, die Auswege, die Suche." Für den Brasilianer findet der Kapitalistengipfel "in einem Ambiente der Niederlage statt". Diejenigen, die sich dort versammelten, seien "schuld an der Finanzkrise", schimpft der katholische Aktivist aus Sao Paulo. "Wir hatten recht, als wir ihnen 2001 sagten, eine andere Welt sei möglich."

Dieser Satz ist seit seinen Anfängen das Motto des Weltsozialforums, für das der 77 Jahre alte Whitaker verantwortlich zeichnet. Das Treffen am Amazonas vereint auch beim neunten Mal Zehntausende Globalisierungskritiker, und es schließt sich ein Kreis: Nach Jahren der Wanderschaft tagt die Gegenveranstaltung zur Managerrunde von Davos wieder in ihrem Ursprungsland Brasilien.

Die ursprüngliche Euphorie der Globalisierungskritiker war zeitweilig etwas verflogen, doch derzeit geben die Stürme der Gegenwart dem Forum wieder immensen Rückenwind. Man werde eine andere Welt bauen, verkündete Whitaker nun euphorisch, weil diese Welt so nicht mehr funktioniere.

Zweifel an der Welt, wie sie ist, plagen Francisco, genannt Chico Whitaker seit mehr als einem halben Jahrhundert. Nach dem Architekturstudium beschäftigte sich der Freigeist mit Stadtplanung und unterstützte Befreiungstheologen wie Leonardo Boff. Während in Brasilien eine Militärdiktatur an der Macht war, verbrachte der Dissident 16 Jahre im Exil in Chile und Frankreich und war in Paris Projektleiter des Katholischen Komitees gegen Hunger und für Entwicklung. Nach seiner Rückkehr wurde Whitaker Generalsekretär der Kommission für Frieden und Gerechtigkeit in der brasilianischen Bischofskonferenz, er sammelte Unterschriften gegen Korruption und Stimmenkauf. Vor acht Jahren rief er das Weltsozialforum ins Leben und bündelte damit seine Erfahrungen: "Es gibt viel mehr Menschen, als wir uns vorstellen können, die die Dinge ändern wollen. Wir müssen die Wege und Möglichkeiten multiplizieren, um zusammenzufinden." 2006 bekam Whitaker den Right Livelihood Award, eine Art Nobelpreis für Querdenker.

Von 1986 bis 1996 saß der Vater von vier Kindern für die Arbeiterpartei PT im Stadtrat von Sao Paulo. 2006 erklärte er, wie zuvor schon andere enttäuschte Linke, seinen Austritt aus der PT. Der Rückzug war ein Protest gegen Bestechungsaffären und die marktfreundliche Politik von Staatschef Luiz Inacio Lula da Silva. In Whitakers Augen hat der frühere Gewerkschaftsführer Lula seine Wurzeln verraten; er unterwerfe, klagt der Sozialreformer, auch die Natur dem Kapital. Zwar besucht der sonst so umschwärmte Lula anstelle von Davos diesmal Belém, doch Whitaker warnt: Geladene Präsidenten seien willkommen, aber sie sollten sich nicht zu sehr einmischen. Peter Burghardt

Foto: xx

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Dax

Xetra 16:30 Uhr

4293 Punkte

- 0,78 %

Dow

N.Y. 16:30 Uhr

8112 Punkte

- 0,03 %

Euro

16:30 Uhr

1,3137 US-$

- 0,0035

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Heute in der SZ

Verfolgt von einem Verdacht

Das Jugendamt unterstellt einem Ehepaar äthiopischer Herkunft, es wolle die Tochter beschneiden lassen.

Von Bernd Dörries 3

Der rätselhafte Papst

Benedikt XVI. polarisiert und verwirrt die Kirche, statt ihr die Richtung zu weisen. Leitartikel von Stefan Ulrich 4

Wir sterben nun mal, ein Leben lang

David Finchers Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button". 11

Manche mögen's heiß

Wie eine BBC-Reihe auf Skeptiker des Klimawandels reagiert. 15

Hegen und schießen

Naturschützer und Forstwissenschaftler kritisieren die Jagd: Tierbestände regulieren sich auf natürliche Weise. 16

Sieger sehen anders aus

Ein Anleger wurde betrogen. Das Gericht gab ihm recht, doch sein Geld sah er nie wieder. Heute ist er pleite. 26

Tennis für Triathleten

Hitzerekord, Ärztemangel, Aufgabenflut: Die Australian Open werden zum Fitness-Test. Von René Hofmann 27

TV- und Radioprogramm 32

Forum, Rätsel 31, 8

München · Bayern 30

Familienanzeigen 29

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Streiflicht

(SZ) In den Goldenen Zwanzigerjahren gab es einen Schlagerdichter namens Fritz Rotter, der sich auf Nonsenstexte à la "Wieso ist der Walter so klug für sein Alter" oder "Heut war ich bei der Frieda, das tu ich morgen wieda" verstand. Sein bekanntestes Stück war der von Anton Profes vertonte Schlager "Was macht der Maier am Himalaya", in dem es um einen Professor Maier geht, der auf dem Dach der Welt verschollen ist. Kern der reizenden Albernheit ist der Refrain mit der stets wiederkehrenden Überlegung: "Rauf, ja das kunnt er, ich frag mich aber, wie kommt er runter?" Dazu gibt es seit dem Wochenende ein Gegenstück, nämlich den Fahrer, der seinen Wagen in das Dach der Stadtkirche von Limbach-Oberfrohna im Landkreis Zwickau setzte. Wie es da wieder herunterkam, weiß man: mit Hilfe der Feuerwehr. Doch wie hat er hinaufgekunnt?

Wenn Pfarrer Johannes Schubert in dem Zusammenhang von zwei Wundern spricht, meint er die weiß Gott erstaunliche Tatsache, dass der Fahrer überlebte und die Kirche nicht abbrannte. Die Kinder dieser Welt neigen indessen dazu, die Fahrt aufs Dach als solche für ein Wunder zu halten, möglicherweise weil sie einmal in Osimo waren und dort mit Giuseppe di Copertino Bekanntschaft machten. Dieser Heilige schwebte zeitlebens mehr in der Luft, als dass er auf der Erde gegangen wäre; einmal trug es ihn sogar sechzig Meter in die Höhe, wo er ein zehn Meter großes Kreuz in Empfang nahm, das er "wie einen Strohhalm" am Boden aufsetzte. In Fachkreisen nennt man dieses Talent "die Gabe der Levitation", doch gilt es aufgrund seiner Ambivalenz, seiner Nähe zur Zirkusnummer, als vergleichsweise schwacher Wunderbeweis. Dennoch ist es kaum zu fassen, wie der junge Mann sein Auto dermaßen hoch hinaufkatapultieren konnte - wem der Sinn danach steht, der mag das als eine Demonstration der göttlichen Allmacht werten. Solche Demonstrationen geschehen freilich nicht willkürlich oder gar zur Gaudi. Sie stehen vielmehr in einem, wie Johann Baptist Metz sagt, "universalen verheißungsgeschichtlichen Kontext", und so lange dieser Kontext für Limbach-Oberfrohna nicht erwiesen ist, lassen wir das Wunder dort, wo es sich am besten macht: im weiten Feld.

Der Legende nach gab es einmal einen Mönch, der so viele Wunder tat, dass sein Abt es ihm schließlich verbot. Eines Tages sah er einen Dachdecker abstürzen, und da er zwischen Gehorsam und Neigung schwankte, ließ er den Mann auf halber Höhe in der Luft stehen. Erst als ihm der Abt erlaubte, das Wunder zu Ende zu bringen, vollendete er die schön begonnene gute Tat. Was gäbe man nicht darum, wenn in Limbach-Oberfrohna so ein Wundermann gewesen wäre und das Auto im Flug angehalten hätte: Man wüsste mehr über dessen Route, und die Stadtkirche bräuchte kein neues Dach.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Milliarden für Exporteure

Bund will jetzt auch Firmen wie Airbus helfen

Berlin - Nach dem Rettungsschirm für die Banken arbeitet die Bundesregierung an einem neuen, milliardenschweren Hilfsprogramm zur Unterstützung der gesamten Exportwirtschaft. Ziel sei es, den Unternehmen "bei den aktuellen Problemen, die durch die weltweite Finanzkrise entstanden sind, mit zusätzlichen Instrumenten zu helfen", sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Peter Hintze, der Süddeutschen Zeitung. Das Paket soll einerseits eine Ausweitung bestehender Bürgschaftsprogramme umfassen, darüber hinaus sind aber erstmals auch direkte Finanzhilfen der staatlichen Förderbank KfW an die kreditgebenden Banken im Gespräch. Grund ist, dass manche Finanzhäuser aus Mangel an Liquidität derzeit selbst dann keine langfristigen Kredite geben, wenn diese zu 100 Prozent verbürgt sind. Unter anderem will die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Partnern in Paris und London verhindern, dass die Kunden des europäischen Flugzeugbauers Airbus in großem Umfang Aufträge stornieren. Alle drei Staaten wollen deshalb gemeinsam bürgen. Auch Frankreich kündigte Hilfen für Airbus an. (Wirtschaft)hul

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bahn-Vorstand kritisiert Warnstreiks

München - Die Bahn hält die für Donnerstag geplanten Warnstreiks der Gewerkschaften für "unangemessen". Bahn-Vorstand Norbert Hansen warnte die Verhandlungsführer der Gewerkschaften Transnet und GDBA am Dienstag vor einer "Konfliktsituation, die unnötig zu einer Verhärtung führt". Transnet-Chef Alexander Kirchner sagte der SZ, die Warnstreiks seien nur noch zu verhindern, wenn die Bahn ihr Angebot "entscheidend" verbessere. (Seite 6) de.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Flucht ins Elend

Erstmals sind von dem Flüchtlingsdrama, das sich kürzlich im Meer vor Thailand abspielte, Fotos publik geworden. Fischer konnten einige der tausend Birmanen retten. Viele waren so erschöpft, dass sie benommen liegen blieben. Die Flüchtlinge hatten in Thailand Schutz gesucht, aber die Marine hat sie nach Angaben der Hilfesuchenden misshandelt, die Motoren ihrer Boote abmontiert und sie ohne ausreichend Wasser und Nahrung ins Meer gestoßen. Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Zentralrat boykottiert Holocaust-Gedenkfeier

Berlin - Bundespräsident Horst Köhler hat am Holocaust-Gedenktag gemahnt, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten. Er rief zum Schutz der Juden in Deutschland auf. "Wer sie angreift, greift uns alle an", sagte Köhler im Bundestag. Vertreter des Zentralrats der Juden nahmen an der Gedenkstunde demonstrativ nicht teil, weil bei vergangenen Gedenkfeiern Holocaust-Überlebende nicht begrüßt worden seien. (Seiten 4 und 6)SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Wütende Hüter

Verfassungsrichter fühlen sich bei Grundgesetz-Feier missachtet

Wie auf eine misslungene Generalprobe oft eine tolle Aufführung folgt, kann auch bei einem Fest ein Streit über Programm und Gäste zum Gelingen beitragen. So gesehen sind die Aussichten für das deutsche Langzeitjubiläum "Freiheit und Einheit" in diesem Jahr großartig. Denn schon der Beginn der "Festkette" mit Feiern zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes im Mai hat für gehörigen Zoff gesorgt. SPD und Grüne kritisierten die Pläne von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) - Staatsakt mit Bundespräsident Horst Köhler, Bürgerfest in Berlin -, und verlangen eine Debatte des Parlaments zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes. Jetzt wurde bekannt, dass auch das Bundesverfassungsgericht mit dem vorgesehenen Programm nicht einverstanden ist. Die Gefühlsbeschreibungen bewegen sich in Karlsruhe zwischen milder "Verwunderung" und massiver "Verärgerung".

Das selbstbewusste Gericht fühlt sich als Zaungast einer Geburtstagsfeier, obwohl es das Geburtstagskind doch großgezogen habe und sich als Hüter der Verfassung sieht. Das Grundgesetz verdanke seine heutige wertsetzende und stabilisierende Rolle vor allem dem Bundesverfassungsgericht, heißt es in Karlsruhe. Gewiss seien Präsident Hans-Jürgen Papier und die übrigen 15 Gerichtsmitglieder zum Staatsakt am 22. Mai sowie zum Bürgerfest eingeladen. Und auch die Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit sowie zum 20. Jahrestag des Mauerfalls sollten in Anwesenheit des Gerichts stattfinden. Aber eine bloß passive Rolle werde der Bedeutung des einzigen nicht in Berlin ansässigen Verfassungsorgans nicht gerecht. Bisher seien alle Wortmeldungen des Gerichts im zuständigen Gremium missachtet worden. Man müsse sich nicht wundern, wenn nur wenige Richterinnen und Richter den Einladungen folgten, ist zu hören.

Ist das nun, wie ein früherer Richter meint, die Haltung "beleidigter Diven"? Oder sind das, wie vereinzelt gemunkelt wird, gar Ansätze einer kleinen Krise? Immerhin erinnere die Kritik von Innenminister Schäuble an Urteilen des Verfassungsgerichts an Konflikte zwischen Regierung und Gericht in den Anfangsjahren der Republik. Damals stellte Karlsruhe in einem Statusbericht klar, dass es als Verfassungsorgan den Respekt anderer Verfassungsorgane beanspruche. So hoch muss man den aktuellen Konflikt nicht hängen. Aber es ist schon was dran an der Behauptung, dass die Politik das fünfte Verfassungsorgan - außer Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung - ein wenig vernachlässige. So durfte letztmals im Jahr 1988 der amtierende Gerichtspräsident, Roman Herzog, zum Tag der Deutschen Einheit im Bundestag sprechen (seinerzeit der 17. Juni). Seit damals haben alle anderen Verfassungsorgane außer dem Gericht die vielen Festreden zum Nationalfeiertag am 3. Oktober bestritten. Auch in den Reden zu den aktuellen 60. Jahrestagen - Verfassungskonvent, Parlamentarischer Rat, soziale Marktwirtschaft - kommt der Gerichtspräsident nicht vor.

Es gibt dazu zwei Meinungsströme im Gericht. Die einen sorgen sich besonders um den Status im Gefüge der Verfassungsorgane, die anderen vermissen mehr eine ernsthafte Würdigung der vom Grundgesetz verkörperten Werte. Das Bürgerfest in Berlin mit Autoschau, Schlagerstars und Werbung sei doch nur eine "Jux-Veranstaltung", sagen sie. Es ist übrigens nicht das einzige Fest: Unter der Internet-Adresse "freiheit-und-einheit.de" finden sich Hinweise auf zahllose Festivitäten. Helmut Kerscher

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kabinett beschließt Konjunkturpaket

Berlin - Im Kampf gegen die Rezession hat die Bundesregierung ein zweites Konjunkturpaket beschlossen. Die am Dienstag gebilligten Gesetz stellen bis zum Jahr 2010 etwa 50 Milliarden Euro für Investitionen, Wirtschaftshilfen sowie Steuer- und Abgabensenkungen bereit. Enthalten sind auch die neue Kfz-Steuer, die Abwrackprämie von 2500 Euro für Altautos und der Kinderbonus von 100 Euro. Laut Ifo-Index hellt sich die Stimmung der Wirtschaft bereits wieder auf. Dank der beschlossenen Staatshilfen erwarten die 7000 befragten Manager das Ende der Rezession für Mitte des Jahres. (Seiten 4, 5 und Wirtschaft) SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Wetter

München - Im Süden und in weiten Teilen im Osten dichte Wolkenfelder, vereinzelt Schneefall. Sonst nach Auflösung von Morgen- oder zähen Hochnebelfeldern trocken und viel Sonne. Minus eins bis plus vier Grad. (Seite 31)

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Obama: Amerika reicht allen Muslimen die Hand

"Wir wollen künftig zuhören statt diktieren" / US-Sondergesandter Mitchell auf Friedensmission in Nahost

Von Thorsten Schmitz

Tel Aviv - Der neue US-Präsident Barack Obama hat in seinem ersten Fernsehinterview nach der Amtsübernahme der muslimischen Welt eine "neue Partnerschaft in gegenseitigem Respekt" angeboten. Dem arabischsprachigen Sender al-Arabija sagte er in der Nacht zu Dienstag, "dass die Amerikaner nicht Ihre Feinde sind". Er wolle allen Muslimen und auch Ländern wie Iran die Hand reichen, wenn sie bereit seien, ihre geballten Fäuste zu öffnen. Er werde aber Terroristen verfolgen, die Zerstörung suchten. Bewusst engagiere er sich frühzeitig für die Lösung des Nahost-Konflikts und habe deshalb den Sondergesandten George Mitchell zu einer achttägigen Reise in die Region gesandt.

Mitchell, der nach seinem Antrittsbesuch in Ägypten am Mittwoch in Jerusalem Premierminister Ehud Olmert und Verteidigungsminister Ehud Barak, sowie in Ramallah im Westjordanland Palästinenserpräsident Machmud Abbas treffen wird, solle zunächst mit allen Beteiligten sprechen. Erst danach werde seine Regierung einen Ansatz für eine neue Nahost-Politik entwickeln. "Was ich ihm gesagt habe, ist, dass er erst einmal zuhören soll, weil die Vereinigten Staaten viel zu oft damit angefangen haben, die Dinge zu diktieren", sagte Obama. "Wir können weder den Israelis noch den Palästinensern sagen, was am besten für sie ist", fügte Obama hinzu. Beide Seiten müssten aber erkennen, dass ihr gegenwärtiger Weg nicht zu Wohlstand und Sicherheit für ihre Völker führe.

Israels Staatspräsident Schimon Peres sagte, Israel brauche Mitchells Besuch nicht zu fürchten. Die Regierung wolle denUS-Gesandten willkommen heißen. Der frühere demokratische Senator Mitchell hatte im Auftrag des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton im Nordirland-Konflikt vermittelt und nach der zweiten Intifada 2001 mit drei Ko-Autoren einen Bericht zur Analyse der Gewalt im Nahen Osten angefertigt. Die Kommission, deren Bericht Israel als ungerecht empfunden hatte, verlangte einen Baustopp in den jüdischen Siedlungen im Westjordanland und ein entschlossenes Vorgehen der Palästinenser gegen Terrorismus. Der Report forderte auch ein Ende des "natürlichen Wachstums" für die Siedlungen, woran sich Israel bis heute nicht gehalten hat.

Mit Überraschung nahm Israel am Dienstag Äußerungen der neuen amerikanische UN-Botschafterin Susan Rice auf, die direkte Gespräche der USA mit Iran über dessen umstrittenes Atomprogramm angekündigt hat. George W. Bush hatte dies abgelehnt. Rice hatte in New York gesagt: "Wir wollen uns in einer lebhaften Diplomatie engagieren, die eine direkte Diplomatie mit Iran einschließt." Im israelischen Rundfunk hieß es am Dienstag, die Tatsache, dass israelische Regierungsmitglieder bislang Rices Aussagen nicht kommentiert hätten, zeuge "von großem Missfallen".

Die sechs deutschen Grenzexperten für die Unterbindung des Waffenschmuggels in den Gaza-Streifen sind inzwischen in Ägypten eingetroffen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte: "Wir arbeiten mit Hochdruck daran, um die seit nunmehr einer Woche andauernde Waffenruhe zu stabilisieren." Bei den Experten handelt es sich um Spezialisten für die Ortung von Bodenerschütterungen, um "Taktiker für modernes Grenzmanagement" und einen Diplomaten des Auswärtigen Amts. (Seiten 4 und 7)

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Juden sehen Dialog mit Papst gefährdet

Berlin - Jüdische Organisationen haben Papst Benedikt XVI. wegen der Rehabilitierung des Holocaust-Leugners Richard Williamson scharf kritisiert und sehen den Dialog mit der Katholischen Kirche in Gefahr. "Für mich als Überlebende ist momentan das Gespräch nicht fortzusetzen", sagte die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch. Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland kündigte an, den Dialog abzubrechen. (Seiten 4 und 7) SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Beschluss des Bundessozialgerichts:

"Hartz IV für Kinder ist verfassungswidrig"

Richter: Die Höhe wurde willkürlich festgelegt / Sozialverbände sprechen von Klatsche für die Politik

Von Thomas Öchsner

Berlin - Die Hartz-IV-Sätze für Kinder bis 14 Jahre sind nach Ansicht des Bundessozialgerichts verfassungswidrig. Es legte das Gesetz deshalb insoweit dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Die pauschale Kürzung auf 60 Prozent der Leistung für einen Erwachsenen verstoße gegen das Grundgesetz, meinten die Richter. Sozialverbände sprachen von einer "Klatsche für die Politik".

Derzeit bekommen Erwachsene, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, 351 Euro im Monat. Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs erhalten davon lediglich 60 Prozent, also 211 Euro. Dies verstoße mehrfach gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, urteilten am Dienstag das höchste deutsche Sozialgericht. Nach Ansicht der Richter hätte der Gesetzgeber die Leistungen nicht festlegen dürfen, ohne den Bedarf für die Kinder im Detail zu ermitteln. Weiter rügte der Senat, dass der Hartz-IV-Satz für alle Kinder bis 14 Jahre einheitlich bestimmt wurde, ohne zum Beispiel einen Unterschied zwischen einem Säugling und einem Jugendlichen zu machen. Außerdem beanstandet das Gericht, dass Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern keinen zusätzlichen Bedarf etwa für Babynahrung geltend machen können. Bei Kindern von solchen Sozialhilfe-Beziehern, die nicht mehr arbeiten können, ist das anders. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit erhielten bis September 1,8 Millionen Kinder bis 14 Jahre Hartz-IV-Leistungen nach der beanstandeten Berechnungsweise. Über die Verfassungsmäßigkeit von Hartz-IV muss nun das Verfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden. Nur dieses Gericht kann ein Gesetz als verfassungswidrig verwerfen.

Der Entscheidung zugrunde lagen Fälle aus den Anfängen von Hartz IV. Damals betrug der Satz für Kinder 207 Euro. Das Bundessozialgericht (BSG) befasste sich aber nicht mit der Höhe. Die Annahme, dass die Regelung verfassungswidrig sei, "lässt nicht den Schluss zu, dass der Betrag von 207 Euro in jedem Fall als nicht ausreichend anzusehen ist, um den Lebensunterhalt von Kindern unter 14 Jahren zu sichern", heißt es in dem Beschluss. Die Kläger sahen dies anders. Ihre Anwälte halten die 60 Prozent für nicht ausreichend, um das Existenzminimum zu sichern. "Für Essen sind 1,02 Euro am Tag vorgesehen. Ein Gläschen Babynahrung kostet schon 1,39 Euro. Für Windeln gibt es acht Euro, das reicht eine Woche, nicht für einen Monat", sagte einer der Anwälte. Geklagt hatten eine Familie aus Dortmund mit zwei Kindern und eine aus Lindau mit drei Kindern.

Trotz der Kasseler Entscheidung sieht die Bundesregierung keinen akuten Handlungsbedarf. Ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums wies darauf hin, dass mit dem Konjunkturpaket II die Hartz-IV-Sätze genau für diese Altersgruppe angehoben werden. Man sei deshalb "ganz guter Dinge", die wichtigsten Kritikpunkte des Gerichts bereits abgearbeitet zu haben. Eine grundsätzliche Reform der Regelsätze sei nicht geplant. In dem Paket ist vorgesehen, den Regelsatz für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren von 60 auf 70 Prozent zu erhöhen. Diese Altersgruppe würde damit statt 211 Euro vom 1. Juli 2009 an 246 Euro Sozialgeld erhalten. Die Maßnahme ist auf drei Jahre befristet.

Die Grünen, Linken und mehrere Sozialverbände lobten die Entscheidung des BSG. Caritas-Präsident Peter Neher sagte, Kinder hätten einen ganz anderen Bedarf als Erwachsene für Bildung, Spielzeug und Kleidung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach von einer "schallenden Ohrfeige für die Politik", der Kinderschutzbund von einer "Klatsche für die Politik". (Seiten 2 und 4)

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Geschlossenheit bei Guantanamo

Minister wollen Streit über Häftlinge entschärfen

Berlin - Der Kompetenzstreit von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) um die Aufnahme von Häftlingen aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo ist offenbar entschärft. Bei einem Treffen am Rande der Kabinettssitzung am Dienstag vereinbarten beide, sich in der Frage künftig eng abzustimmen. Grundsätzliche Einigung erzielten die Minister aber nicht. Sobald die Bundesregierung konkrete Anfragen aus den USA erreichten, sollten gemeinsam "verantwortungsvolle Entscheidungen getroffen werden", hieß es aus Regierungskreisen. Auch Fragen der "transatlantischen Zusammenarbeit sollten berücksichtigt werden", teilte das Auswärtige Amt mit. Im Fall einer Anfrage müsse klar sein, warum die Aufnahme nicht in den USA erfolgen könne, hieß es aber aus dem Innenministerium.

Steinmeier hatte die Aufnahme unschuldiger Häftlinge aus dem Lager in Aussicht gestellt, um die von US-Präsident Barack Obama verfügte Schließung des Lagers zu unterstützen. Auch wenn sich Europa nicht um die Aufnahme von Gefangenen reiße, so sei es doch eine Frage der Glaubwürdigkeit, "ob wir die Auflösung des Lagers in den USA unterstützen oder nicht", hatte Steinmeier am Rande eines EU-Außenministertreffens zu Wochenbeginn gesagt. Er strebe eine gesamteuropäische Lösung an.

Schäuble hatte Steinmeier vorgehalten, die Zuständigkeit der Innenminister von Bund und Ländern in der Frage zu missachten. Im Fernsehsender Phoenix wiederholte Schäuble seine grundsätzliche Kritik an der Diskussion. "Es ist schon eine amerikanische Entscheidung gewesen und zwar eine falsche. Die Amerikaner haben jetzt entschieden, sie wollen es beenden - und dann wollen wir mal sehen, was sie daraus machen", sagte er. Er verstehe, dass Gefangene unter Umständen nicht in ihre Heimatländer zurückgeführt werden könnten. "Aber dann haben die Amerikaner die Verantwortung, die haben Guantanamo eingerichtet", betonte Schäuble. "Wir tun ja im Moment so, als tragen wir die Verantwortung für Guantanamo, und das ärgert mich", kritisierte der Innenminister. Er räumte aber ein: "Wenn wir eine deutsche Verantwortung haben, dann müssen wir das genau anschauen." Bisher habe ihm aber niemand gesagt, "warum jemand nicht in Amerika bleiben kann, weil er dafür zu gefährlich ist und deswegen nach Deutschland kommen muss."

"Als nicht vermittelbar", bezeichnete der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Werner Langen, eine mögliche Aufnahme von Guantanamo-Häftlingen. Von ihnen könne ein Risiko ausgehen. Sie dürften nicht "grundsätzlich als unschuldige Opfer verharmlost werden". Daniel Brössler

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bahn will Warnstreiks noch abwenden

Personalvorstand Hansen: Lösung am Verhandlungstisch suchen / Ausstand soll am Donnerstag beginnen

Von Detlef Esslinger

München - Die Deutsche Bahn hält die Warnstreiks der Gewerkschaften Transnet und GDBA am Donnerstag für "unangemessen". Dies teilte Bahn-Personalvorstand Norbert Hansen am Dienstag den Verhandlungsführern der beiden Gewerkschaften, Alexander Kirchner und Heinz Fuhrmann, in einem Brief mit. Er biete weiterhin an, die Lösung am Verhandlungstisch zu finden. "So können wir gemeinsam schnellere und größere Erfolge erzielen als in einer Konfliktsituation, die unnötig zu einer Verhärtung der Verhandlungsposition führt", schrieb Hansen. Die Tarifverhandlungen werden am heutigen Mittwoch in Frankfurt am Main fortgesetzt.

Welchen Umfang die für Donnerstag geplanten Warnstreiks haben, wollen Transnet und GDBA erst am Mittwochnachmittag bekanntgeben. Damit wollen sie es der Bahn erschweren, sich auf die Streiks einzustellen. Formal protestieren beide Gewerkschaften dagegen, dass - nach ihren Angaben - die Verhandlungen über bessere Arbeitszeiten nicht vorankommen. Sie verhandeln zwar auch über Lohnerhöhungen; bei dem Thema befinden sie sich jedoch noch bis zum 31. Januar in der Friedenspflicht. Über Arbeitszeit und Löhne verhandelt die Bahn nicht nur mit diesen beiden Gewerkschaften, sondern auch noch separat mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Die GDL will jedoch in dieser Woche nicht zu Warnstreiks aufrufen.

In seinem Brief an Kirchner, den Vorsitzenden von Transnet, und Fuhrmann, den Vize der GDBA, sprach Bahn-Vorstand Hansen von "intensiven Beratungen" in der vergangenen Woche. Diese seien "Ausdruck unseres Einigungswillens". Es seien auch deutliche Fortschritte erzielt worden, und ihm sei klar, dass es bei "einigen" Arbeitszeit-Themen am heutigen Mittwoch zu Lösungen kommen müsse. Dies sehe er aber als realistisch an. Einen ähnlichen Brief schrieb Hansen auch an GDL-Chef Claus Weselsky, der die bisherigen Gespräche als "ergebnislos" bezeichnet hatte. Diese Einschätzung habe ihn "sehr erstaunt", schrieb Hansen.

Kirchner reagierte auf den Brief mit der Forderung an die Bahn, ihr Angebot "entscheidend" zu verbessern. Der Süddeutschen Zeitung sagte er, nur in diesem Fall seien Warnstreiks noch abzuwenden. Die Bahn sei den Gewerkschaften "in einigen Punkten entgegengekommen, die für uns nicht die höchste Priorität haben - aber in wesentlichen Punkten ist sie uns gerade nicht entgegengekommen".

Bei den Verhandlungen über die Arbeitszeiten geht es vor allem um bessere Dienstpläne. Viele Bahn-Mitarbeiter beklagen, dass sie manchmal erst nach Schichtende erführen, wann ihre nächste Schicht beginne, außerdem wollen sie mindestens zwölf freie Wochenenden im Jahr. Darüber hinaus fordern die Gewerkschaften Lohn-Erhöhungen von zehn Prozent.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Leuchtschrift für Brandt

Erfurt - Erfurt bekommt ein Willy-Brandt-Denkmal. Der Bauantrag für die Leuchtschrift "Willy Brandt am Fenster" auf dem Dach des ehemaligen Hotels Erfurter Hof sei genehmigt worden, bestätigte am Dienstag eine Sprecherin der Stadt . Die Buchstaben sollen in den kommenden drei Monaten hergestellt und montiert werden, sagte der Berliner Künstler David Mannstein. "Ich glaube jedoch nicht, dass wir eine Übergabe an dem historischen Termin 19. März schaffen." Mit dem Denkmal an dem Gebäude, das mittlerweile ein Geschäftshaus ist, will Erfurt an das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen von 1970 erinnern, als sich der damalige Bundeskanzler Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph traf. Begeisterte Menschen stürmten damals vor den Augen der Staatssicherheit den Bahnhofsvorplatz, um Brandt zu sehen, der sich daraufhin kurz am Fenster des Erfurter Hofs zeigte. ddp/dpa

Der damalige Kanzler Willy Brandt besuchte 1970 Erfurt. Archivfoto: Simon

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Europaweit Steuern sparen

Luxemburg - Auch Spenden an gemeinnützige Einrichtungen in EU-Staaten können von der Steuer in Deutschland abgesetzt werden. Der Europäische Gerichtshof urteilte am Dienstag, es verstoße gegen EU-Recht, die Absetzbarkeit auf deutsche Einrichtungen zu beschränken. Der Heimatstaat eines Spenders müsse überprüfen, ob der Empfänger in einem anderen Land nach seinen Regeln gemeinnützig wäre. Die Freiheit des Kapitalverkehrs dürfe nicht eingeschränkt werden. (Az.: Rs C-318/07) Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Schäfer-Gümbel gewählt

Frankfurt - Die neue SPD-Fraktion im hessischen Landtag hat Thorsten Schäfer-Gümbel einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat für die Landtagswahl vor eineinhalb Wochen erhielt in der Fraktionssitzung am Dienstag die Stimmen aller 28 anwesenden Abgeordneten; eine Abgeordnete war krank und fehlte. Schäfer-Gümbel tritt damit die Nachfolge Andrea Ypsilantis an. Sie war am Wahlabend als Landes- sowie Fraktionsvorsitzende zurückgetreten und hatte angekündigt, Schäfer-Gümbel den SPD-Gremien für beide Spitzenpositionen vorzuschlagen. Zum SPD-Landeschef soll Schäfer-Gümbel Ende Februar gewählt werden. Während die Hessen-CDU ihn als "Teil des Systems Ypsilanti" bezeichnete, gratulierte FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn zur Wahl und wünschte "insbesondere Kraft und Gesundheit". hick

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Eine Frage des Tiefgangs

Hamburg beklagt, dass Niedersachsen das Ausbaggern der Elbfahrrinne ausbremst

Von Jens Schneider

Hamburg - Wenn Axel Gedaschko seine Sorgen beschreibt, klingt das nach einem Spagat zwischen der großen weiten und der kleinen norddeutschen Welt, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Immer häufiger, sagt Hamburgs Wirtschaftssenator, bekomme die Stadt Anfragen etwa aus Fernost. Große asiatische Reedereien wollten wissen, wann es endlich so weit sei mit der Vertiefung der Fahrrinne der Elbe. Ohne den Ausbau könnten ihre großen Containerschiffe nicht voll beladen von der Mündung nach Hamburg fahren. "Erklären Sie mal einer chinesischen Staatsreederei die Lage in Niedersachsen", sagt der Christdemokrat und klingt, als ob er es lieber gar nicht versuchen möchte. Schon weil ihm selbst nicht einleuchtet, warum alles länger dauern soll.

Die Hamburger sind, milde gesagt, verstimmt über das Nachbarland, aber auch über das Bundesverkehrsministerium in Berlin. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und sein Wirtschaftssenator argwöhnen, dass das Projekt Elbvertiefung von Berlin nicht beherzt genug vorangetrieben und von Niedersachsen sogar ausgebremst wird. Es gibt handfesten Streit. Vergeblich bat Beust die Parteifreunde in Niedersachsen, sie sollten sich "mal einen Ruck geben". In Hamburg fragt man, ob Niedersachsens CDU-Chef David McAllister, ein Vertrauter von Regierungschef Christian Wulff, aus taktischen Gründen blockiert.

Die Elbvertiefung verzögert sich seit Jahren. Eigentlich sollten 2007 die ersten Bauarbeiten beginnen. Zuletzt hoffte Hamburg auf einen Start Ende dieses Jahres. "Langsam kommen uns aber Zweifel angesichts der Geschwindigkeit", klagt Gedaschko über fehlendes Engagement in Berlin und Hannover. "Wenn es so weiter geht, fangen wir frühestens Mitte 2010 an."

Bei der Vertiefung soll die Fahrrinne zwischen Hamburg und der Elbmündung um 1,50 Meter ausgebaggert werden, damit auch Schiffe mit einem Tiefgang von 14,50 Meter passieren können. Gegen das Projekt gibt es massiven Widerstand von Umweltverbänden und Bürgern, die an der Elbe wohnen. Rund 7200 Einwendungen zum Planfeststellungsverfahren muss das Projektbüro abarbeiten. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) steht zwar hinter dem Projekt. Doch in Hamburg ist der Eindruck entstanden, dass nicht mit dem nötigen Eifer gearbeitet wird. Der Bürgermeister hat Tiefensee sogar Personal angeboten, damit die Einwendungen abgearbeitet werden können. Aber das ist nicht alles. Gedaschko vermisst eine intensive Kommunikation auf der Chefebene zwischen Berlin und Hannover.

Das Misstrauen der Hamburger gegen die Niedersachsen ist groß. So wird der Verdacht gehegt, dass die guten Nachbarn aus Eigeninteresse bremsen - mit Blick auf den im Bau befindlichen Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven, den große Containerschiffe bald ansteuern könnten. Auch hat man bemerkt, dass CDU-Chef McAllister seinen Wahlkreis in einer Region hat, in der der Widerstand am größten ist.

Die schwarz-gelbe Regierung in Hannover kommentiert all das dagegen unaufgeregt. CDU-Chef McAllister verweist wie Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) auf das laufende Planfeststellungsverfahren. Erst danach könne Niedersachsen eine Stellungnahme abgeben. Es gehe schließlich um die Frage, so Sander, "ob die Sicherheit der Menschen hinter dem Deich gewährleistet ist". Vorher werde es kein Zeichen dafür oder dagegen geben. Überhaupt müssten erst einmal die Schäden behoben werden, die nach der letzten Elbvertiefung im Jahr 1999 an den Deichen entstanden seien. Nicht vor Ende dieses Jahres sei mit einem Entwurf für den Planfeststellnungsbeschluss zu rechnen, sagt ein Sprecher der Planungsgruppe. Danach hätten erst mal die Länder Zeit zu prüfen.

Damit große Containerschiffe Hamburg erreichen, soll die Fahrrinne ausgebaggert werden. Es wäre bereits die neunte Elbvertiefung. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

19 Tote bei Protesten auf Madagaskar

Antananarivo - Nach gewalttätigen Protesten auf der Afrika vorgelagerten Tropeninsel Madagaskar hat die Polizei am Dienstag fünf Plünderer in der Hauptstadt Antananarivo erschossen. Damit haben die Krawalle bisher mindestens 19 Menschen das Leben gekostet. Am Vortag waren laut Medienberichten drei Demonstranten erschossen und elf weitere zu Tode getrampelt worden. Die Ausschreitungen hatten nach einer Massendemonstration begonnen, bei der Zehntausende gegen die Schließung eines populären regierungskritischen TV-Senders protestiert hatten. dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Blackout im Weißen Haus

Ein Server-Absturz katapultiert das Team von Präsident Obama ins 20. Jahrhundert

Sie stehen im Ruf, die kommunikative Avantgarde Amerikas zu sein. Und sie sitzen, seit nun fast einer Woche, im Machtzentrum der Nation. Und doch fand sich das "Team Obama", die Schar allzeit vernetzter, Blackberry-bewaffneter Vertrauter des 44. amerikanischen Präsidenten, einen knappen Tag lang sehr fern von dieser Welt. Denn tief drinnen im Weißen Haus war passiert, was schlicht nicht passieren darf: Gleich vier Email-Server auf einmal stürzten ab und warfen die neue Regierung zurück ins 20. Jahrhundert.

Die Mail-Sperre, so versicherte das Weiße Haus am Dienstag, habe "zu keiner Zeit irgendeine Gefahr" bedeutet. Die meisten Mitarbeiter griffen schlicht altmodisch zum Telefon und erledigten ihre Absprachen mündlich. Zugleich stieg die Zahl der Kollegen, die im Westflügel mit dem Handy in der Hand beim Tippen knapper SMS-Nachrichten beobachtet wurden. Besonders arg betroffen war die Pressestelle des Weißen Hauses, die die goldenen Worte ihres Präsidenten zu Umwelt- und Klimaschutz nicht wie gewohnt elektronisch und zellulosefrei unters Volk bringen konnte. Stattdessen verteilten Mitarbeiter wie anno dazumal die Obama-Rede per Abschrift auf Papier. Schätzungen, wie viele Bäume wegen der Panne sterben mussten, mochte das Weiße Haus nicht riskieren.

Anonym gestand ein Obama-Helfer der Washington Post, der Techno-Absturz habe die Sozialkontakte im Hause durchaus positiv befördert. Viele Mitarbeiter kannten sich bisher nur per Email und sahen sich am Montag gezwungen, ihren Kollegen erstmals in die Augen zu schauen. Einige Begegnungen verzögerten sich jedoch, da manche Novizen sich auf den Gängen des alten Gebäudes schlicht verirrten.

Nicht bekannt ist, wie Präsident Barack Obama selbst den Email-Entzug verkraftete. Obama hatte nach langem Hader mit dem Secret Service durchgesetzt, dass er im Amt einen (mit allerlei Sicherheitsfiltern aufgerüsteten) Blackberry behalten durfte. Sein Pressesprecher Robert Gibbs versicherte nur, er habe dank des Blackouts "den stressfreiesten Tag seit fünf Jahren" genossen. cwe

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Dialog mit Juden 100 Jahre zurückgeworfen"

Empörung über Wiederaufnahme des Holocaust-Leugners Williamson in die Kirche

Von Julius Müller-Meiningen

Rom - Jüdische Organisationen haben am Dienstag eine klare Distanzierung des Vatikans vom traditionalistischen Bischof und Holocaust-Leugner Richard Williamson gefordert. Der Oberrabbiner von Triest, Ytzhak Margalit, sagte am Rande einer Feier anlässlich des Holocaust-Gedenktages in Triest, Papst Benedikt habe den Dialog mit dem Juden "um 100 Jahre zurück geworfen". Die Vorsitzende des Deutschen Zentralrats, Charlotte Knobloch, sagte, sie sehe den Dialog mit der katholischen Kirche in Gefahr: "Für mich als Überlebende ist momentan das Gespräch nicht fortzusetzen", sagte sie dem Fernsehsender N24. Der Vatikan müsse sich überlegen, inwieweit er die mühsam wieder errichteten Verbindungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum fortführen möchte. Knobloch sagte außerdem, sie hoffe, dass der Vatikan die Rehabilitierung Williamsons rückgängig mache.

Der britische Bischof Williamson hatte in einem vergangene Woche ausgestrahlten Fernseh-Interview die Opfer des Holocaust auf 200 000 bis 300 000 beziffert und die Existenz von Gaskammern geleugnet. Am Samstag veröffentliche der Vatikan ein Dekret, nach dem die Exkommunikation von Williamson und drei weiteren Bischöfen der traditionalistischen Pius-Bruderschaft aufgehoben sei. Wie am Dienstag bekannt wurde, will wegen des Dekrets auch die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland ihren Dialog mit dem Vatikan abbrechen. "Die Brücken, die in der Vergangenheit gebaut worden waren, sind jetzt zum Einstürzen gebracht worden", sagte der Düsseldorfer Rabbiner Julian-Chaim Soussan bei einer Tagung in Berlin.

Am Montag hatte sich die Deutsche Bischofskonferenz von Williamson distanziert. Auch mehrere Vertreter des Vatikan nannten die Äußerungen Williamsons "nicht akzeptabel". Jüdische Organisationen fordern deutlichere Gesten, auch von Papst Benedikt XVI. selber.

Der Römische Oberrabbiner Riccardo Di Segni nannte die Aufhebung der Exkommunikation für Williamson einen Grund für Beunruhigung in der gesamten jüdischen Welt. Di Segni sagte, er habe Benedikt XVI. zu einem Besuch in der römischen Synagoge eingeladen. Eine solche Visite wäre ein klares und unmissverständliches Zeichen.

In einem Interview mit der Zeitung La Repubblica bezeichnete der Schweizer Theologe Hans Küng das Gnadendekret für die traditionalistischen Bischöfe als Anzeichen für eine "zunehmende Verhärtung des Vatikans", der sich auf einem stetigen Weg zurück befinde. Am Dienstag wurde im Vatikan erstmals Kritik an dem Vorgehen der Kirche laut. Insider sprachen von einer "Kommunikationspanne" und von einem "Fehler". Die italienische Bischofskonferenz stellte sich hinter den Papst. Der Vorsitzende, Kardinal Angelo Bagnasco, begrüßte die Rücknahme der Exkommunikation als "Akt der Barmherzigkeit". Die Äußerungen Williamsons bezeichnete Bagnasco als "nicht fundiert und unmotiviert".

Unterdessen versucht der Vatikan mit Hilfe seiner Presse-Organe, die Debatte über Williamson zu begrenzen. Die Vatikan-Zeitung Osservatore Romano brachte in ihrer Dienstagsausgabe zwei Seiten zum Holocaust-Gedenktag. In einem Kommentar hieß es, die Medien erweckten den falschen Eindruck, dass der Papst das Gespräch mit dem Judentum oder die Ökumene in Frage stelle. Die Aufhebung der Exkommunikation sei allerdings "nach einem falschen Drehbuch abgelaufen".

Die Debatte um die Rehabilitierung der vier Bischöfe wirft auch einen Schatten auf eine für Mai geplante Israel-Reise des Papstes. Der deutsche Kardinal Walter Kasper sagte, die Reise sei nicht von der Diskussion über Williamson abhängig. Nur die Entwicklung in Gaza könnte die Reisepläne beeinträchtigen.

Papst Benedikt XVI. hat mit seinem Gnadendekret für vier Bischöfe einen Proteststurm ausgelöst. Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Brown verliert an Zuspruch

Britische Konservative legen in Umfragen deutlich zu

Von Wolfgang Koydl

London - Der Absturz in der Wählergunst kam ebenso rasch wie der Aufstieg vor wenigen Monaten: Die Briten haben kein Vertrauen mehr in ihren Premier Gordon Brown, den sie noch kurz vor der Jahreswende als vertrauenswürdigen und erfahrenen Retter aus wirtschaftlicher Krise und Not betrachtet hatten. Nach zwei soeben veröffentlichten Umfragen haben die oppositionellen Konservativen ihren Vorsprung gegenüber der regierenden Labour-Partei auf mehr als zehn Prozentpunkte ausgebaut.

Nach der vom Labour-freundlichen Guardian veröffentlichten Erhebung würden 44 Prozent der Wähler für die Torys stimmen, ein Zuwachs um sechs Prozentpunkte seit Dezember. Labour käme auf 32 Prozent und würde seine Mehrheit im Unterhaus verlieren. Die Liberaldemokraten würden abgeschlagen mit 16 Prozent auf dem dritten Platz landen. Nach dem britischen Mehrheitswahlrecht könnte Tory-Führer David Cameron 360 Sitze im Parlament erwarten; Labour würde nur mehr 240 Abgeordnete stellen. Noch deutlicher fällt eine Umfrage aus, die von der Tageszeitung The Independent in Auftrag gegeben wurde. Danach käme Labour nur auf 28 Prozent; die Mandatsmehrheit der Konservativen läge bei 120 Sitzen.

Besonders besorgniserregend für Brown muss es sein, dass er und Schatzkanzler Alistair Darling den Kompetenzvorsprung in Wirtschaftsfragen verspielt haben. Auf die Frage, wem sie eher zutrauen, die Nation aus der Krise zu führen, gaben die Wähler Cameron und seinem wirtschaftspolitischen Sprecher George Osborne mit 37 Prozent den Vorzug vor dem Regierungsteam mit 35 Prozent. Hinter dem kleinen Vorsprung verbirgt sich indes die Tatsache, dass Brown und Darling noch vor zwei Monaten bei 46 Prozent Zustimmung lagen.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Macht in Simbabwe soll geteilt werden

Kapstadt - Die südafrikanische Staatengemeinschaft SADC hat einen Zeitplan für die Bildung einer Koalitionsregierung im Krisenstaat Simbabwe vorgelegt. Demnach soll Oppositionschef Morgan Tsvangirai am 11. Februar als Premierminister vereidigt werden, hieß es bei einem Sondergipfel im südafrikanischen Pretoria in der Nacht zum Dienstag. Das Innenministerium soll von Präsident Robert Mugabes Partei Zanu-PF und Tsvangirais "Bewegung für Demokratischen Wandel" (MDC) gemeinsam geführt werden, wie der südafrikanische Rundfunk meldete. Der südafrikanische Präsident und SADC-Vorsitzende Kgalema Motlanthe sagte nach dem Gipfel, die Parteien hätten sich verpflichtet, den Zeitplan zu respektieren. Die MDC zeigte sich jedoch enttäuscht. Es sei möglich, dass die Verhandlungen weiter blockiert blieben, so die Opposition. epd

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neue Gewalt im Gaza-Streifen

Israelischer Soldat stirbt bei Bombenanschlag

Tel Aviv - Trotz der Waffenruhe zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas ist es am Dienstag zu einem tödlichen Anschlag auf eine israelische Militärpatrouille gekommen. Neun Tage nach dem Ende der Militär-Offensive wurden durch eine ferngezündete Bombe ein Soldat getötet und drei verletzt. Die Soldaten waren entlang der Grenze zum Gaza-Streifen nahe Kissufim unterwegs. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak sagte: "Wir werden darauf antworten." Außenministerin Tzipi Livni rief zu einem Vergeltungsschlag auf. Am Mittag durchbrach ein israelisches Kampfflugzeug über der Stadt Gaza die Schallmauer, was als Warnung gedeutet wurde. Israelische Medien berichteten, Hamas-Mitglieder hätten Regierungsgebäude aus Angst vor israelischen Vergeltungsschlägen geräumt. Außerdem drangen israelische Soldaten auf der Suche nach den Angreifern in den Gaza-Streifen vor. Nach israelischen Rundfunkangaben lieferten sich Soldaten und bewaffnete Palästinenser heftige Gefechte. Dabei wurden zwei Palästinenser getötet.

Als Reaktion auf den Angriff wurden die Grenzübergänge in den Gaza-Streifen für Transporte von Hilfsorganisationen gesperrt. Der Hamas-Funktionär Muschir al Masri sagte, seine Organisation habe nicht einen umfassenden Waffenstillstand, sondern nur eine Kampfpause zugesagt. "Die Zionisten sind verantwortlich für jede Aggression." Israel und die Hamas hatten am 18. Januar unabhängig voneinander eine Waffenruhe ausgerufen. Damit endete eine dreiwöchige israelische Militäroffensive mit dem Ziel, fortdauernde Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen sowie den Waffenschmuggel an der Grenze zu Ägypten zu stoppen. In dem Krieg wurden 1300 Palästinenser und 13 Israelis getötet. Der türkische Außenminister Ali Babacan hat die Hamas aufgefordert sich zu entscheiden, ob sie "eine bewaffnete Organisation oder eine politische Bewegung sein wollen." mitz

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Datendiebstahl in Großbritannien

London - Bisher waren es vorzugsweise Regierungsbehörden, die sich in Großbritannien eines schlampigen Umganges mit Bürgerdaten schuldig machten: Mal traf es Führerscheinanwärter, mal Armeeangehörige, oder, im bislang schwersten Fall, 25 Millionen Kindergeld-Empfänger im Vereinigten Königreich. Das Finanzamt hatte ihre auf CD gespeicherten, persönlichen Daten der Post anvertraut, wo sie spurlos verschwanden.

Nun aber wurde erstmals eine private Firma in Großbritannien Opfer eines gewaltigen Datendiebstahls. Monster.co.uk, der britische Ableger der amerikanischen Job-Internetseite Monster.com, musste eingestehen, dass sich Hacker illegal Zugang zu den Daten von bis zu 4,5 Millionen Nutzern verschafft hätten. Namen, Kenn- und Passwörter, Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Geburtsdaten und andere nicht näher spezifizierte "demographische Informationen" seien gestohlen worden.

Monster ist die größte Arbeitsvermittlungs-Website der Welt. Arbeitgeber haben dort die Möglichkeit, die Lebensläufe Tausender Bewerber anzusehen. Die Zahl der Nutzer hat sich angesichts der Wirtschaftskrisein den vergangenen Monaten deutlich erhöht. Nun hat der Betreiber der Seite alle Nutzer aufgefordert, vorsorglich ihre Passwörter zu ändern. Doch dafür könnte es nach Ansicht von Datenexperten bereits zu spät sein.

4,5 Millionen Internet-Nutzer

Spezialisten der Londoner Tageszeitung Times erklärten, die Datendiebe könnten die entwendeten Informationen dazu nutzen, Bankkonten zu eröffnen und Kredite im Namen argloser Monster-Nutzer zu beantragen. Auch Graham Cluley von der IT-Sicherheitsfirma "Sophos" nannte den Datenklau bei der Job-Seite eine "grauenerregende Sicherheitslücke". "Die Informationen, die sie sich erschlichen haben, können für alles mögliche Unheil missbraucht werden", sagte er. Hinzu käme, dass nach Erhebungen seiner Firma rund 40 Prozent aller Internet-Nutzer ein und dasselbe Passwort für den Zugang zu verschiedenen anderen Seiten verwenden. "Mit diesen Passwörtern könnten sich die Hacker nun Zugang zu E-Mail- oder Bankkonten verschaffen", sagte Cluley.

Monster.com ist nicht zum ersten Mal Opfer einer Hacker-Attacke geworden. Schon im August 2007 infizierte eine Gruppe russischer Krimineller namens "Phreak" die Datenbank der Jobvermittlung mit einem Virus, das die Daten von mehr als 1,6 Millionen Kunden in den USA abschöpfte. Diese Daten verkaufte die Bande dann für umgerechnet 350 Euro pro Satz.Wolfgang Koydl

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Umweltgesetz scheitert

Berlin - Das geplante Umweltgesetzbuch ist nach Auffassung von SPD-Fraktionschef Peter Struck so gut wie gescheitert. "CSU und CDU sind nicht bereit. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel kann sich nicht durchsetzen", sagte Struck am Dienstag in Berlin. Das Umweltgesetzbuch hatte breite Zustimmung auch in der Opposition gefunden. Es sollte Genehmigungsprozesse bundesweit vereinheitlichen und vereinfachen. Die CSU allerdings wollte es nicht mittragen. Am Montag war Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nach München gereist, um CSU-Chef Horst Seehofer umzustimmen. Sie gaben sich eine letzte Frist bis Ende der Woche.miba

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Wir werden die Erinnerung wachhalten"

Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus / Zentralrat der Juden boykottiert die Veranstaltung

Von Nico Fried

Berlin - Bundespräsident Horst Köhler hat für weitere Anstrengungen plädiert, um das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten. "Ich sehe hier eine gemeinsame Aufgabe für alle in Deutschland, denen die Zukunft der Erinnerung wichtig ist", sagte Köhler am Dienstag in einer Feierstunde des Bundestages zum Holocaust-Gedenktag. Köhler versprach: "Wir Deutsche werden die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer wachhalten. Wir sehen einen Auftrag darin."

Die Veranstaltung war überschattet vom demonstrativen Fernbleiben des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dessen Generalsekretär Stephan Kramer sagte zur Begründung, jene Vertreter des Zentralrates, die den Holocaust überlebt hätten, seien in der Vergangenheit noch nie im Rahmen der Gedenkveranstaltung begrüßt worden. Dies habe die früheren Präsidenten Ignatz Bubis und Paul Spiegel ebenso betroffen wie die amtierende Präsidentin Charlotte Knobloch. "Ich hätte Verständnis, wenn wir über Vertreter der zweiten oder dritten Generation reden würden. Es ist aber ein Unding, dass Überlebende wie Zaungäste behandelt werden", sagte Kramer.

Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte 1996 den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" erklärt. Seither begeht der Bundestag jedes Jahr eine Gedenkstunde in Anwesenheit der führenden Vertretern aller Verfassungsorgane. Traditionell wird vor allem an persönliche Schicksale von Opfern erinnert.

Nach Angaben Kramers war der Zentralrat schon vor Jahren mit der Bitte an den Bundestag herangetreten, Überlebende des NS-Regimes zu begrüßen. Dieser Wunsch sei mit der Antwort zurückgewiesen worden, dass das Protokoll einen solchen Programmpunkt nicht vorsehe. "Da frage ich mich: Wäre das nicht ein vernünftiges, ein gutes, ein sinnvolles Signal, wenn eben hier vom Protokoll Abstand genommen wird und die anwesenden Überlebenden, solange sie noch da sind, begrüßt werden?", sagte Kramer. Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte nach Angaben eines Sprechers, er habe von der Beschwerde des Zentralrats über die Presse erfahren und finde sie "unverständlich und bedauerlich".

Köhler sprach sich in seiner Rede insbesondere dafür aus, bei Jugendlichen in und außerhalb der Schule das Interesse für die Geschichte zu wecken. "Wir wollen erreichen, dass die Seele jedes Menschen berührt wird vom Leid der Opfer, vom Mut der Helfer und von der Niedertracht der Täter. Das ist unser gemeinsamer Auftrag", sagte der Bundespräsident. Er würdigte namentlich mehrere Projekte in Deutschland, die sich mit der Erinnerung an die NS-Zeit oder an jüdisches Leben befassen. "Ich wünsche mir, dass die vielen guten Erinnerungsprojekte, die es bereits gibt, immer neue Nachahmer und Nachfolger finden", sagte Köhler. Als Geschenk bezeichnete er es, "dass heute in Deutschland wieder jüdisches Leben erblüht". Dass die entsprechenden Orte aber von der Polizei vor Extremisten geschützt werden müssten, sei "eine Schande", sagte der Bundespräsident unter dem Applaus aller Fraktionen. Köhler rief zur Solidarität mit den jüdischen Landsleuten auf. "Wer sie angreift, greift uns alle an", sagte er.

Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte, der 27. Januar sei mehr als nur der Auftakt zu einer Reihe von Gedenkveranstaltungen im Jahr 2009. "Er verbindet die kommenden Gedenktage wie ein roter Faden, weil das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus jeden der Gedenktage begleiten wird", sagte Lammert unter anderem mit Blick auf den 60. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik. Lammert, der während seiner Rede kurzzeitig sichtlich berührt um Fassung rang, bezeichnete es als Aufgabe "der Nachgeborenen, dafür Sorge zu tragen, dass wir solche Zeiten nie wieder erleben".

"Stellen wir uns an die Seite unserer jüdischen Landsleute. Wer sie angreift, greift uns alle an"

Bundespräsident Horst Köhler

Der Zentralrat der Juden beklagt, seine Vertreter seien in den vergangenen Jahren nur "wie Zaungäste" behandelt worden. Dennoch besuchten auch in diesem Jahr Rabbiner die Gedenkstunde im Bundestag. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Größte Spenden an die CSU

Berlin - Die drei mit Abstand größten Einzelspenden an politische Parteien sind im vergangenen Jahr an die CSU geflossen. So erhielt die CSU im April 2008 vom Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie 540 000 Euro. Unmittelbar vor der Landtagswahl Ende September bekam sie noch einmal von zwei Spendern vergleichsweise hohe Summen, so von der Clair Immobilien GmbH in München 430 000 Euro und von der Mercator Verwaltungs GmbH, ebenfalls mit Sitz in München, 390 000 Euro. Das geht aus einem Bericht der Bundestagsverwaltung hervor. Nach dem Parteienfinanzierungsgesetz müssen alle Parteien dem Bundestagspräsidenten Spenden von mehr als 50 000 Euro melden, die zeitnah auch veröffentlicht werden.

Zu den Großspendern gehörten im vergangenen Jahr erneut die Banken, die Automobilindustrie und Versicherungen, die meisten allerdings verteilten ihre Spenden auf mehrere Parteien. So erhielten CDU und SPD von der Commerzbank je 100 000 Euro, die Deutsche Bank unterstützte FDP und CDU mit je 200 000 und die SPD mit 100 000 Euro. Der Daimler-Konzern überwies an CDU und SPD je 150 000 Euro, während BMW das Geld auf CDU (rund 71 000), SPD (rund 141 000), CSU (gut 134 000) und FDP (gut 61 000 Euro) verteilte. steb

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Sozialdemokraten sollen in Island regieren

Reykjavik - Nach dem Zusammenbruch der isländischen Regierung im Zuge der Wirtschaftskrise hat Staatspräsident Olafur Ragnar Grimsson die Sozialdemokraten mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt. Grimsson beauftragte am Dienstag die Vorsitzende der sozialdemokratischen Allianzpartei, Ingibjörg Gisladottir, mit der Links-Grünen-Bewegung bis zur Neuwahl im Mai eine Minderheitsregierung zu bilden. Gisladottir hat bereits angekündigt, voraussichtlich die bisherige Sozialministerin Johanna Sigurdardottir zur Ministerpräsidentin zu ernennen. AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Parlament Montenegros löst sich auf

Podgorica - Das Parlament der Balkanrepublik Montenegro hat seine Selbstauflösung beschlossen und damit eine vorgezogene Neuwahl im März ermöglicht. Dies ist das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen der Regierung von Ministerpräsident Milo Djukanovic und der Opposition. Staatspräsident Filip Vujanovic setzte die Wahlen für den 29. März an. Die Regierung will sich angesichts der globalen Wirtschaftskrise und düsterer Prognosen für die Volkswirtschaft des Landes mit einem neuen Mandat versehen. Die von Djukanovic geführte Koalition regiert seit mehr als zehn Jahren. Sie geht als Favorit in die Wahl. AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Orthodoxe Kirche wählt neuen Patriarchen

Mehr als 700 Delegierte aus der ganzen Welt in Moskau versammelt / Kirill, Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, ist klarer Favorit

Von Frank Nienhuysen

Moskau - Fast zwei Monate nach dem Tod von Patriarch Alexij II. hat die russisch-orthodoxe Kirche am Dienstagnachmittag mit der Wahl eines Nachfolgers begonnen. Mit dem Ergebnis wurde noch am Abend gerechnet. Spätestens jedoch an diesem Mittwoch soll der Name des 16. Patriarchen feststehen. Als aussichtsreichster Kandidat galt Kirill, der Metropolit von Smolensk und Kaliningrad. Der 62-Jährige, der eine eigene Fernsehsendung hat und zwei Jahrzehnte lang die Außenbeziehungen der Kirche geleitet hatte, führte bereits seit Dezember das Patriarchat übergangsweise. Weitere Kandidaten waren der Metropolit von Kaluga und Borowsk, Kliment, 59, und Filaret, 72, der Metropolit von Minsk.

Zur Wahl des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche in der Christi-Erlöser-Kathedrale waren 711 Delegierte aus der ganzen Welt nach Moskau gereist. Fast 200 der Bischöfe, Geistlichen und Laien reisten allein aus der Ukraine an. Auch aus Amerika, Japan und Europa kamen Gesandte zur Abstimmung, unter ihnen vier aus Deutschland. Nach der Oktoberrevolution 1917 hatten russische Orthodoxe im Ausland eine Exilkirche gegründet, die sogenannte Auslandskirche. Patriarch Alexij gelang es vor zwei Jahren jedoch, die Auslands- mit der Heimatkirche wieder zu vereinen.

Die russisch-orthodoxe Kirche hat weltweit 150 Millionen Gläubige, in Russland sind es nach eigenen Angaben etwa 100 Millionen, zwei Drittel der Bevölkerung. Seit dem Ende des atheistischen Sowjetregimes zu Beginn der neunziger Jahre erlebte die Orthodoxie eine Wiedergeburt. Desorientiert durch die Wirren der Wende und wirtschaftlich weitgehend verarmt, suchten viele Russen neuen Halt in der Kirche. Im ganzen Land entstanden mit Unterstützung des Staates neue Kirchen, Klöster und Kathedralen, alte wurden wiederaufgebaut. Symbol hierfür ist die Erlöser-Kathedrale in Moskau, das zentrale Gotteshaus der russischen Orthodoxie. Sie wurde während der Stalin-Zeit zerstört und vor wenigen Jahren unter dem Patriarchat von Alexij II. am Ufer der Moskwa originalgetreu errichtet.

Als Träger nationaler Werte ist die orthodoxe Kirche zu einem wichtigen Machtfaktor der russischen Gesellschaft geworden. Kein Präsident kann es sich leisten, zum Patriarchen auf Distanz zu gehen. Die Kirche wiederum sucht und braucht die Hilfe des Staates. So stellte sie sich in den Tschetschenienkriegen auf die Seite Moskaus. Erst vor drei Jahren wurde an Russlands Schulen wieder der Religionsunterricht eingeführt. Präsident Dmitrij Medwedjew zeigte sich am Wahltag überzeugt, "dass die Entscheidung des Landeskonzils fruchtbar sein wird für die Beziehungen zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und dem Staat". Der Vatikan ist gespannt, ob der neue Patriarch einen engeren Dialog mit der katholischen Kirche erlaubt. Alexij II. hat sich während seines 18-jährigen Patriarchats stets gegen einen Besuch des Papstes in Russland gesträubt.

Das Landeskonzil der russisch-orthodoxen Kirche trat am Dienstag in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau zusammen, um den neuen Patriarchen zu wählen. Dem bislang größten Gremium der russischen Kirchengeschichte gehörten 711 Bischöfe, Geistliche und Laien aus 60 Ländern an - deutlich mehr Mitglieder als je zuvor. Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Terror gegen Kosovo-Albaner

Ehemaliger serbischer Polizeigeneral vor UN-Tribunal

Von Enver Robelli

Zagreb - Die mutmaßlichen Verbrechen von Vlastimir Djordjevic liegen ein Jahrzehnt zurück. Doch erst jetzt wird dem serbischen Polizeigeneral vor dem UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag der Prozess gemacht. Die Ankläger werfen ihm vor, Ende der neunziger Jahre die Terrorkampagne gegen die kosovo-albanische Bevölkerung geplant und angeordnet zu haben. Dem Konflikt in der damals serbischen Provinz fielen 12 000 Menschen zum Opfer. Ziel des kriminellen Unterfangens sei es gewesen, die serbische Herrschaft im Kosovo dauerhaft zu sichern, sagte der Anklagevertreter Chester Stamp am Dienstag vor dem UN-Gericht in Den Haag.

Djordjevic gilt als Chefplaner der Vertreibung von 800 000 Menschen aus dem Kosovo während der Nato-Intervention gegen Serbien im Frühjahr 1999. Serbische Polizisten sollen laut der Anklage Frauen vergewaltigt und mehrere Dörfer, Städte und Moscheen zerstört haben. Djordjevic habe als Befehlshaber die Polizeieinheiten effektiv kontrolliert und Gräueltaten an Zivilisten nicht verhindert. In der Anklage wird das Massaker in der Kleinstadt Suva Reka hervorgehoben, wo serbische Polizisten 47 Mitglieder einer Großfamilie erschossen hatten. Unter den Opfern waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Die Hinrichtung überlebten nur zwei Frauen und ein Kind, die sich tot gestellt hatten. In Belgrad läuft derzeit ein Prozess gegen ehemalige Polizisten, die am Massaker von Suva Reka beteiligt gewesen sein sollen.

Der Prozess gegen den 1948 geborenen Djordjevic ist der letzte vor dem UN-Gericht in Den Haag, der sich mit Kriegsverbrechen im Kosovo befasst. Das Verfahren gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatschef Slobodan Milosevic konnte nicht abgeschlossen werden, weil der Angeklagte kurz vor dem Urteil in seiner Zelle starb. In einem anderen Prozess gegen den früheren serbischen Präsidenten Milan Milutinovic und mehrere ehemalige Funktionäre und Generäle des Regimes wird ein Urteil in den kommenden Monaten erwartet. Die Anklage gegen Djordjevic wurde im Oktober 2003 erhoben. Djordjevic wurde im Juni 2006 an der montenegrinischen Küste festgenommen, wo er unter einem anderen Namen lebte und als Bauarbeiter arbeitete. Nach der Verhaftung räumte er ein, dass er sich drei Jahre lang in Moskau dem Zugriff der UN-Justiz entzogen hatte.

Angeklagt: Der ehemalige Polizeigeneral Vlastimir Djordjevic Foto: AFP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

HEUTE

FEUILLETON

Glauben oder nicht

Welche jüdischen Gemeinden muss der Staat unterstützen? Seite 13

LITERATUR

Tyrannei der Muttermilch

Der unglaublich lebendige Jack-The-Ripper-Comic "From Hell" Seite 14

MEDIEN

Echt ist nur der Tod

Die ARD zeigt die Oscar-prämierte deutsche Produktion "Die Fälscher" Seite 15

WISSEN

Finger weg

Apple bekommt Patentrechte für Funktionen des iPhone Seite 16

www.sueddeutsche.de/kultur

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ist ja kolossal

Goya-Bild als Fälschung enttarnt: Ab ins Walhall der Fakes damit!

Natürlich kann einem in diesen harten Zeiten niemand so leid tun wie die notleidenden Banker. Knapp dahinter aber kommen schon die Museumskuratoren, ja man möchte manchmal amnesty international anrufen oder Ärzte ohne Grenzen, dass die mal ein Team bei den Ausstellungsmachern vorbeischicken um ihnen den Puls zu fühlen. Kaum hat man die Nachricht verdaut, dass ein Van-Gogh-Gemälde unecht sei, enthüllt das nächste Museum, dass es all seine bis dato Warhol zugeschriebenen Brillo-Boxen ins Altpapier gibt. Jetzt kommt aus Madrid die Nachricht, dass "Der Koloss", der bislang als eines der wichtigsten Goya-Gemälde galt und in der Fachliteratur exzessiv zitiert und analysiert wurde, nicht von Goya, sondern von einem seiner Assistenten gemalt worden sei.

Die Museen sitzen mittlerweile auf all diesen Fälschungen wie die Banken auf ihren toxischen Papieren. Leihen sie einander auch schon nichts mehr aus, weil sie ahnen, das eh die Hälfte Fake ist? Vielleicht sollten sie von den Bankern lernen und, parallel zur Bad Bank, von ihren Regierungen die Errichtung eines Bad Museums fordern, in das all die toxic paintings ausgelagert werden. Da gäbe es ein Stockwerk voller Warhol, einen Seitenflügel für all die Zahnarztpraxenfälschungen von Dalì und Miró und einen für das Gesamtwerk von Rembrandt, diesem angeblichen niederländischen Maler, von dem man mittlerweile annehmen darf, dass es ihn überhaupt nie gegeben hat: Rembrandts Gesamtwerk schmilzt seit Jahren wie der Schnee in der Sonne. Wurden ihm 1920 noch 750 Bilder zugeschrieben, so ging man 2000 davon aus, dass es 280 echte Rembrandts gibt. 470 Enthüllungen in 80 Jahren, geht das in dem Tempo weiter, wird 2047 der letzte falsche Rembrandt aus der Welt enthüllt.

Nun also Goya. Das Prado-Museum besitzt den "Koloss" seit 1913, aber erst jetzt wurde anscheinend in einer Ecke des Bildes ein Kürzel entdeckt, das die Experten als die Initialen "AJ" identifizierten. Da kommt man als Laie schon ins Grübeln, dass der große Maler nicht Ancisco Joya hieß, ist in Fachkreisen schließlich länger schon bekannt. Dafür hieß sein Gehilfe Asensio Julia.

Nun könnte man sagen, gut, der Stern hat bei Hitlers Tagebüchern ebenfalls keinen Verdacht geschöpft, obwohl auf den Büchern nicht AH sondern FH stand. Aber nicht mal Ernst Blochs Bonmot, eine Fälschung unterscheide sich vom Original dadurch, dass sie echter aussehe, trifft zu auf den "Koloss": Licht, Technik, Farbtöne - nichts passt laut Expertise zu Goya. Nur das, was darauf zu sehen ist, scheint noch dasselbe zu sein: Der Riese hinter den Bergen gilt als Allegorie des Krieges - insbesondere des Krieges, den Napoleon gegen Spanien führte.

Die bange Frage ist nun: Müsste der Staat nicht endlich eingreifen und, parallel zum Bail-out, echte Goyas und Rembrandts in den Kunstmarkt pumpen? Und kann ein Bad Museum die Situation retten? Es gab ja schon mal eines: Konrad Kujau, der Hitlerfälscher, eröffnete nach seiner Freilassung ein Museum, in dem auch "echte Kujau-Neuinterpretationen", vulgo Fälschungen, verkauft wurden. 2006 musste es schließen: Das Museum verkaufte falsche Fälschungen, die Museumschefin hatte Gemälde aus China bezogen und nur noch mit Kujaus Signet versehen. ALEX RÜHLE

Licht, Technik, Farbtöne - nicht von Goya: "Der Koloss", signiert von "AJ", wer immer das sein mag. Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Wer von Liebe erzählt, muss von Reue erzählen

"Benjamin Button"-Regisseur David Fincher über Verlust und Vergänglichkeit, New Orleans und Brad Pitt im Greisenkörper

SZ: Warum hat es mehr als 85 Jahre bis zur Verfilmung von "Benjamin Button" gedauert? Immerhin sicherte sich Paramount die Filmrechte schon, kurz nachdem F. Scott Fitzgerald seine Kurzgeschichte veröffentlicht hatte.

Fincher: Da gibt es viele Gründe. Die Rechte haben ein paar Mal den Besitzer gewechselt, und viele haben sich seit den späten achtziger Jahren an dem Stoff versucht. Steven Spielberg, Ron Howard und Spike Jonze zum Beispiel. Tom Cruise war ebenso im Gespräch für die Hauptrolle wie John Travolta. Irgendwie fehlte am Ende wohl ein gutes Drehbuch, wie Eric Roth es für mich geschrieben hat.

SZ: Oder fehlte doch eher die entsprechende Technik? Eine Zeitspanne von mehr als achtzig Jahren mit nur einem Schauspieler abzudecken, vom Baby bis zum Greis . . .

Fincher: Ja, natürlich. Vor fünf, sechs Jahren hätte ich den Film auch noch nicht machen können, da hätten wir uns blamiert, da waren die Computereffekte noch nicht so weit. Tatsächlich war es die größte Herausforderung, Brad Pitt digital zu verjüngen oder älter zu machen, was sehr teuer wurde. Allein 30 Millionen Dollar sind für die visuellen Effekte draufgegangen.

SZ: Es gab zuvor Ideen, Benjamin Button mit unterschiedlichen Schauspielern zu besetzen, je nach Alter im Skript.

Fincher: Ich glaube an das digitale Kino. Ich will direkt am Monitor sehen, was passiert - und nicht erst nach 24 Stunden herausfinden, ob die Aufnahmen gelungen sind. Beim Casting für den Part des greisen Kindes Benjamin Button habe ich mir den Kopf einfach weggedacht, weil wir in der Postproduktion sowieso den von Brad Pitt reingesetzt haben, der mit Make-up und Prothesen ins entsprechende Alter gebracht wurde. In allen anderen Szenen war Brad Pitt mit vollem Körpereinsatz dabei. Allein sein Make-up dauerte fünf Stunden, das Abnehmen nochmal zwei. Aus den üblichen 80 Drehtagen wurden 150, da steigen die Kosten natürlich rapide.

SZ: Haben Sie je gedacht, dass vom Lesen des Skripts bis zum fertigen Film acht Jahre vergehen würden?

Fincher: Ich wusste, dass es aufwendig sein würde. Aber bei "Panic Room" war es auch so, alles zusammen habe ich da zehn bis elf Jahre dran gearbeitet.

SZ: Fitzgerald erzählt seine Geschichte auf zwanzig Seiten, Sie brauchen zweidreiviertel Stunden.

Fincher: Ist der Film wirklich so lang? Ich weiß nicht, wie das wieder passiert ist. Aber diese Länge war die Schmerzgrenze, drunter wollte ich keinesfalls gehen. Da ist schon so viel herausgeflogen! Eine halbe Stunde habe ich noch rausgeschnitten, mehr ging nicht.

SZ: Von der Vorlage blieb dennoch praktisch nur die Grundidee.

Fincher: Ich kannte die Kurzgeschichte nicht, ich habe 2001 zuerst das Drehbuch gelesen. Und als ich die Geschichte danach gelesen habe, fand ich sie absurd, vielleicht zu absurd. Ein hässlicher Mensch, der mit einem langen weißen Bart zur Welt kommt und redet wie ein Erwachsener - das war mir zu viel.

SZ: In der Kurzgeschichte empfindet man zuweilen Abscheu vor Benjamin Button. Verhindert ein populärer Schauspieler wie Brad Pitt, dass man das auch im Film so erlebt?

Fincher: Ich glaube nicht. Es geht mir auch nicht um die Hässlichkeit, es geht um einen Menschen, der verflucht ist, dessen Zeit sich rückwärts dreht, während alle um ihn herum altern. Brad Pitt macht das meisterhaft - aber ich glaube, dass das trotzdem noch nicht seine definitive Rolle ist.

SZ: Die Rahmenhandlung spielt in New Orleans, während draußen der Hurrikan Katrina aufzieht. Warum?

Fincher: Wir hatten uns für New Orleans entschieden, weil die Stadt im Original für verschiedenste Zeitepochen stehen kann. Dann kam Katrina und hat alles verwüstet. Wir hatten die Chance, aus dem Vertrag auszusteigen. Brad war es, der sagte: Lass uns den Film nun erst recht hier machen. Da wir diesen Film dann in New Orleans angesiedelt haben, hätte sich jeder unweigerlich beim Sehen gefragt: Ist das nun vor oder nach Katrina? Daher kam die Idee, Katrina mit in die Geschichte aufzunehmen.

SZ: Sie sind nicht dafür bekannt, die Kinogänger zu schonen. Passt ein Märchen wie "Benjamin Button" in die Reihe Ihrer düsteren Thriller?

Fincher: Ich habe sechs Filme gemacht und alle waren ziemlich unterschiedlich, finde ich zumindest. "Benjamin Button" ist auch gar nicht so anders als die anderen Filme. Auch darin geht es um das wirkliche Leben, auch darin spielt der Tod eine Rolle.

SZ: Der ewige Kreislauf von Leben und Tod ist in der Tat ein Grundthema . . .

Fincher: Es geht um Liebe und Verlust. Du kannst keinen Film über das Leben machen, ohne Reue zu thematisieren. Du kannst keinen Film über das Leben machen - und den Tod ignorieren. Du kannst keinen Film über Liebe machen - ohne die begrenzte Zeit zu zeigen, die man zusammen hat. Alle großen Liebesgeschichten enden im Tod.

Interview: Claudia Fromme

Regisseur David Fincher Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bitte einpacken

Boston: Erstes Museum schließt wegen der Finanzkrise

Es ist ein kleines Juwel, das Rose Museum, welches zur privatfinanzierten Brandeis-Universität für freie Künste gehört: Es liegt malerisch am Charles River, am Rande Bostons, nur ein paar Meilen flussaufwärts von der ungleich berühmteren Havard University.

Ein kleines Juwel - aber auch ein verstecktes: Kaum jemand kennt und besucht die Kunstsammlung des Instituts, welches immerhin drei Pulitzer-Preisträger und einen Nobelpreis-Gewinner hervorgebracht hat: Der Bestand umfasst insgesamt etwa 8000 Werke, darunter amerikanische Nachkriegskunst von Willem de Kooning, Jasper Johns, Roy Lichtenstein, Morris Louis, James Rosenquist oder Andy Warhol. Dazu an jüngeren Erwerbungen noch Arbeiten von Matthew Barney, Nan Goldin, Donald Judd, Anri Sala, Richard Serra oder Cindy Sherman. Eine Sammlung, die auf internationalem Niveau durchaus mitspielen kann. Derzeit wird, mit erheblichem Aufwand, der wichtige abstrakte Maler Hans Hofmann ausgestellt.

Doch das fast ein halbes Jahrhundert alte Museum muss spätestens im Sommer geschlossen werden. Die Sammlung wird anschließend meistbietend verscherbelt. Durch die Finanzkrise ist in der Brandeis-Uni ein Budget-Loch von bis zu zehn Millionen Dollar entstanden, welches durch Kunst-Verkäufe, das sogenannte "Deaccessioning", gestopft werden soll, wie das Kuratorium der Universität jetzt bekanntgab. Derlei Praktiken sind so gefragt wie umstritten, wenn es darum geht, Kürzungen oder Verluste in den Kunsthäusern auszugleichen - das "Deaccessioning" gilt als Ultima Ratio, wenn es gar keinen anderen Ausweg mehr gibt. Jedenfalls in den USA, wo Museumssammlungen nicht ganz so festgemeißelt dastehen wie hierzulande.

Bisher wurden aber in solchen Fällen immer nur einige wenige Werke verkauft. Zuletzt war die ehrwürdige National Academy in New York scharf kritisiert worden, weil sie, entgegen ihren eigenen Statuten, zwei bedeutende Landschaftsgemälde von Frederic Edwin Church und Sanford Robinson Gifford veräußerte. Zwei, na gut. Aber achttausend? Die Empörung in Boston ist groß - und nicht nur dort. Man wolle Lehre und Forschung erhalten, habe keine andere Wahl gehabt, so Uni-Präsident Jehuda Reinharz. Das sei der Weg des geringsten Widerstandes, so David Robertson, Präsident des Verbandes von College- und Universitätsmuseen in Amerika: "Immer ist es die Kunst, die zuerst verschwindet".

Ein Fanal für die Zukunft

Die Entscheidung der Brandeis-Universität könnte, obgleich sie an einer privaten Institution getroffen wurde, tatsächlich eine Art Tabubruch, ein Fanal bedeuten, und zwar nicht nur für die Vereinigten Staaten. Dort fehlen die Lehman-Gelder praktisch überall, und die Finanzkrise schlägt im Museumsbereich voll durch: In Austin wurde eine Erweiterung des Kunstmuseums ebenso auf Eis gelegt wie in Cincinnati, das Denver Art Museum reduzierte sein Budget drastisch und im Milwaukee Art Museum wurden die Tickets erheblich teurer. Nach einer Umfrage des Art Newspaper bei 40 amerikanischen Museen rechnen diese mit Etatkürzungen von bis zu 20 Prozent. Der Getty Trust muss gar einen Verlust von 1,5 Milliarden Dollar auffangen - stattliche 25 Prozent des Etats.

Aber auch in Europa greifen die Folgen der Krise. Das schlingernde Wiener Schlachtschiff Albertina verzichtete auf eine Immendorff-Schau, der Düsseldorfer Kunst-Palast auf eine Mode-Ausstellung. Überall gehen die Sponsoren über die Bücher. Schon länger ist bekannt, dass die Deutsche Bank sich von der Kunstmesse Art Cologne und vom Deutschen Pavillon der Kunstbiennale Venedig zurückgezogen hat. Die Liste ließe sich verlängern. Freilich: Mit der Lage in den USA mit ihren Trustees und Privat-Mäzenen ist die hiesige Krise schon wegen der überwiegenden Finanzierung der Kunsthäuser durch die öffentliche Hand kaum zu vergleichen.

Noch im Oktober 2008 stellte die Deutsche Bank 600 Werke ihrer Unternehmenssammlung als "unbefristete Leihgaben" dem Frankfurter Städelmuseum zur Verfügung - ein symbolischer Akt in Zeiten der Finanzkrise, so hieß es damals. Und nun das: Hubertus Gaßner, Direktor der Hamburger Kunsthalle, annonciert, dass vor allem Banken begännen, angebliche Dauerleihgaben aus seinem Haus abzuziehen oder sich ganz zurückzuziehen. Das gehe manchmal von heute auf morgen - "da kommt dann ein Anruf: bitte einpacken", so Gaßner.

Geht's noch schlimmer? Um Gelder und damit Zuschauer zu generieren, müssen die Museen sich öffnen - aber sie brauchen verlässliche Partner, sonst sind sie gezwungen, sich in Zukunft abzuschotten, zu Trutzburgen ihrer eigenen Schätze zu werden und nur noch Stiftungen ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Doch wer keine finanziell unterfütterten Glanzpunkte mehr setzen kann, dem gehen auch die Besucher stiften.

So kommt dann am Ende womöglich eine veritable Abwärtsspirale in Gang, die die Kunsthäuser in echte Existenznöte bringt. Die Sponsoren - es gibt in Deutschland immer noch viele davon, die so uneigennützig wie ehrenhaft verfahren - sollten sich also überlegen, ob sie das kulturell im Museum zwischengelagerte Kapital wieder aktivieren wollen. Denn sonst ist am Ende kein kulturelles Gut mehr übrig, das man finanzieren könnte. HOLGER LIEBS

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Wir sterben nun mal, ein Leben lang

Ein phantastisches Labyrinth - David Finchers Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button"

Es gibt so etwas wie die Schönheit des Verfalls. Ein Phänomen, das Häuser, Menschen, Dinge erst durch die Verletzungen verzaubert, die die Zeit ihnen zufügt; das alles Unversehrte tot wirken und Lebendigkeit nur dort spüren lässt, wo Bewegung noch zu erkennen ist. "Der seltsame Fall des Benjamin Button" ist ein Südstaatenepos, angesiedelt zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Anfang jenes Heulens, aus dem Katrina, dem Wirbelsturm, werden soll. New Orleans zu erwählen als Ort für diese Geschichte, das war eine weise Entscheidung. Sie passt dazu, eine wunderschöne, alte Stadt, wie alles Lebendige dem Untergang geweiht.

Der Geburt des seltsamen Benjamin Button geht eine Geste der Trauer der voraus. Ein Mann hat, als sein Sohn nicht aus dem Krieg zurückkehrt, die Vergangenheit zurückgefordert und im Bahnhof von New Orleans eine Uhr aufgehängt, die rückwärts geht. Und dann kommt Benjamin (Brad Pitt) zur Welt, ein Greis, der immer jünger werden wird, bis er eines Tages endlich ein Kind ist. Ein ganz und gar fremdes Konzept steckt in dieser Figur, eine Unschuld des Alters.

Begegnung in der Lebensmitte

Benjamin wächst in einem Altersheim auf, verliert seine ersten Freunde schnell. Er lernt dort die Enkelin einer Heimbewohnerin kennen, seine große Liebe, die Daisy heißt wie die Liebe von Gatsby. Sie wird den altersanfälligsten Beruf von allen ergreifen - Ballerina. Beide sind Kinder zu Beginn. Er gefangen im alten Körper, sie ein altkluger Fratz; wie sie einander immer wieder begegnen, bis sie endlich ein paar Jahre lang im selben Alter sind und unbeschwert zusammen sein können - in den Sechzigern, ausgerechnet! - das ist der Kern der Geschichte. Wir erfahren sie aus Benjamin Buttons Tagebuch, das eine Frau von etwa vierzig Jahren (Julia Ormond) ihrer Mutter am Totenbett vorliest.

Der Film ist vollgepackt wie Jeunets "Amélie Poulain" - mit Stummfilmschnipseln eines alten Mannes, der sieben Mal vom Blitz getroffen wird; mit einer wilden filmischen Ereigniskette, die das Ende von Daisys Karriere zeigt; mit einer Episode, in der Tilda Swinton Benjamin früh die Bedeutung von Timing beibringt, und ihn später noch mal daran erinnert, wie man sich aus der Gefangenschaft seines Körpers befreit. "Benjamin Button" ist für dreizehn Oscars nominiert - und hätte jeden verdient.

Eine märchenhafte Geschichte, so poetisch und versponnen, dass man dem Kino kaum zutraut, dass es selbst auf die Idee gekommen ist. Ist es aber; von F. Scott Fitzgerald, dessen Kurzgeschichte der Titel und die Hauptfigur entstammen, ansonsten keine Spur. Von der Südstaatbetriebsamkeit über die schwarze Mama Queenie, die das Findelkind Benjamin aufzieht, bis hin zum optimistischen Glauben an das Gute - das ganze Drehbuch, der ganze Film ist gewissermaßen Anti-Fitzgerald.

Der Kerl in der Vorlage, der sein Leben verkehrt herum anfängt, ist ein egoistisches kleines Scheusal, das schließlich seine Frau verlässt, weil sie ihm zu alt geworden ist. Der Benjamin, den sich die Autoren Eric Roth, Robin Swicord und Regisseur David Fincher für die Leinwand ausgedacht haben, ist ein ungebrochener Held, reinen Herzens und von rührender Rechtschaffenheit - so eine Figur hätte Fitzgerald überhaupt nicht interessiert. Der Film träumt davon, dass es Liebe als einen Bund verwandter Seelen gibt, die alle Regeln der physischen Attraktion überwindet - an solch unverdorbene Emotionen hätte Fitzgerald nie geglaubt.

Auf dem Weg zum Film wurde aus der kleinen Etüde über die Merkwürdigkeiten der fortschreitenden Zeit eine große Geschichte vom Altwerden, davon, wie schmerzlich es sowieso schon ist und wie fürchterlicher es dadurch wird, dass wir das Verschwinden unserer Jugend immer schlechter akzeptieren können, uns der natürlichsten Sache der Welt verweigern: Wir sterben nun mal, ein Leben lang. Eine Fitzgerald-Verfilmung ist das höchstens in dem Sinn, dass Fincher dem melancholischen Satz treu bleibt, der wohl Fitzgeralds berühmtester ist, allerdings aus dem "Gatsby": So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom - und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu . . .

Grotesk glattgepixelte Gesichter

Mit dem Altern, mit Verlust und Tod spielt der Film auf jeder Ebene, in der Handlung, den Bildern, den Dekors. Brad Pitt verwandelt sich von Szene zu Szene mehr zurück in das, bis hin zu einem fremden wächsernen Kerl, dessen Züge Ähnlichkeit haben mit dem ganz jungen Brad Pitt; und dem bis ins Groteske glattgepixelten Gesicht von Cate Blanchett als junger Daisy setzt Fincher immer wieder Großaufnahmen der ungeschminkten Julia Ormond entgegen, als wolle er fragen, was wirklich von Leben erfüllt ist - die starre Maske oder die nackte Haut. Es gibt kaum noch Gesichter im Hollywood-Kino, die nicht nachbearbeitet sind, aber nur ganz selten fängt das Kino mit der Computertechnik etwas wirklich Neues an - hier wird damit Verwandlung betrieben, wie sie noch vor ein paar Jahren unmöglich war, und gleichzeitig entlarvt der Film ein Stückchen Hollywood, die tote, gespenstische Gleichförmigkeit konservierter Jugend.

Man kann nicht aufdröseln, wie sich die kindliche Naivität des alten Benjamin verhält zu all den Erinnerungen, die er als junger Mann haben wird. Aber "Benjamin Button" ist auch kein Lebensratgeber und keine logische Abhandlung, sondern ein phantastisches Labyrinth, dass tausend Arten anbietet, die Welt zu sehen. Was bedeutet Erfahrung? Wie viel von dem, was wir sind und was wir empfinden, wird vom Zustand unseres Körpers bestimmt? Fincher hat daraus einen Film gemacht, der Emotionen und Irritationen zu einer Geschichte zusammenspinnt, die von der Grausamkeit der verstreichenden Zeit erzählt, von Jugendwahn und Älterwerden und der Würde und Schönheit, die das Leben entfalten kann, wenn man es lässt.

Man hätte einen so schönen, rührenden, von allem Zynismus befreiten Film wohl weder von Fincher noch von Eric Roth erwartet - Finchers Filme waren von "Seven" an nicht gerade von Menschlichkeit geprägt, und Roths "Forrest Gump" tut im Kern so, als wären die Menschen Herr über ihr Schicksal und im Zweifelsfall an ihrem Scheitern selber schuld. Vielleicht sind die beiden selbst nicht nur älter geworden, sondern weiser - und sehr viel warmherziger.

SUSAN VAHABZADEH

THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON, USA 2008 - Regie: David Fincher. Drehbuch: Eric Roth und Robin Swicord, inspiriert von einer Kurzgeschichte von F. Scott Fitzgerald. Kamera: Claudio Miranda. Musik: Alexandre Desplat. Mit: Brad Pitt, Cate Blanchett, Taraji P. Henson, Julia Ormond, Tilda Swinton. Verleih: Warner, 167 Minuten.

Auf halbem Weg - Benjamin (Brad Pitt) und Daisy (Cate Blanchett), endlich ein Paar im gleichen Alter Foto: Warner

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Glauben oder nicht

Welche jüdischen Gemeinden muss der Staat unterstützen?

Das Bundesverfassungsgericht steht vor einer ebenso heiklen wie weitreichenden Entscheidung: Muss der Staat die finanzielle Unterstützung des Judentums neu regeln? Noch in diesem Jahr will der zweite Senat darüber befinden, inwieweit das Verhältnis von Bund und Ländern zur jüdischen Gemeinschaft auf der Fiktion beruht, mit der Unterstützung allein des Zentralrates erfülle der Staat seine Pflicht. Die Realität hat hier das Recht hinter sich gelassen. Seit den neunziger Jahren ist nicht nur die Zahl der Gemeinden rapide angestiegen. Auch die innere Vielfalt wuchs, liberale und streng orthodoxe Gemeinden entstanden neu, und nicht alle werden vom Zentralrat der Juden vertreten. Wie soll sich die Bundesrepublik angesichts einer solchen Rückkehr zur Pluralität verhalten? Welche Form von Judentum muss sie auf welche Weise fördern, ohne das Gebot der Gleichbehandlung zu verletzen? Und ergeben sich daraus Schlussfolgerungen für das Verhältnis zu den christlichen und muslimischen Gemeinschaften?

Bereits im April 2006 legte die "Gesetzestreue Jüdische Landesgemeinde Brandenburg" Verfassungsbeschwerde ein. Der Umstand, dass die Beschwerde angenommen wurde, zeugt von der grundlegenden Bedeutung des Falles. Die klagende Gemeinde wurde vor zehn Jahren in Potsdam gegründet. Sie begreift sich laut Satzung als "Nachfolgerin und Vertreterin jüdischer orthodoxer Traditionen". Den Staatsvertrag zum "Wiederaufbau eines jüdischen Gemeindelebens" schloss das Land Anfang 2005 aber ausschließlich mit der "Jüdischen Gemeinde Land Brandenburg". Diese umfasst insgesamt etwa 1300 Mitglieder in sieben Gemeinden, die im Gegensatz zu den "Gesetzestreuen" allesamt dem Zentralrat angehören. Durch eine solche, wie es in der Verfassungsbeschwerde heißt, "Exklusivität der Zuwendung" verstoße Brandenburg gegen das Neutralitätsprinzip. Eine Gruppe innerhalb des Judentums werde einseitig bevorzugt.

Noch deutlicher wird der Geschäftsführer der "Gesetzestreuen", Schimon Nebrat. Der Ingenieur, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus St. Petersburg nach Potsdam emigriert, wirft der Landesregierung eine "antisemitische Politik" vor. Das Kulturministerium werde seiner "politischen, organisatorischen und finanziellen Verantwortung" nicht gerecht. In einem offenen Brief an die Fraktionen im Landtag spricht Nebrat von der "langjährigen ausgeklügelten Vertreibungspolitik der Landesregierung", die dazu geführt habe, dass von den rund 7500 seit dem Jahr 1990 in Brandenburg aufgenommenen Juden inzwischen 5500 das Land wieder verlassen hätten. Es gebe "keine einzige jüdische Einrichtung" zwischen Havel und Elbe, keinen Kindergarten, keine Schule, kein Jugendzentrum, kein Seniorenwohnheim. In einer solchen Situation sei es falsch, wenn der Staat einen Vertrag mit einer "aus unserer Sicht atheistischen beziehungsweise reformorientierten jüdischen Gruppierung" schließe, welche "selbst die Grundsätze des Judentums ablehnt".

Fundamentaler Klärungsbedarf

Feliks Byelyenkov vom angegriffenen Landesverband gesteht zu, dass sein Kontrahent sich im Judentum sehr gut auskenne. Man dürfe aber nicht vergessen: "Die Juden, die aus den GUS-Staaten nach Deutschland auswanderten, kamen nicht hierher, um das Judentum zu suchen." Erst langsam erarbeite man sich nun die Grundlagen. Er halte es da mit David Ben Gurion, der bekanntlich kein besonders frommer Mann gewesen sei: Die Gottesdienste müssten orthodox sein, aber für alle Fragen der Lebensweise gebe es im Judentum ein breites Spektrum. Im Übrigen, so Byelyenkov, "ist das kein theologischer Streit. Es geht vor allem um Geld".

Der Staatsvertrag vom Januar 2005 bedenkt den Landesverband mit jährlich 200 000 Euro. Zuvor, von den frühen neunziger Jahren an, erhielten die sieben Ortsgemeinden der "Jüdischen Gemeinde Land Brandenburg" insgesamt 150 000 Euro pro Jahr. Der hochverschuldete Landesverband muss laut Staatsvertrag die Gelder an sämtliche "auf den jüdischen Religionsgesetzen beruhende Gemeinden" angemessen weiterleiten, auch wenn sie dem Landesverband nicht angehören. So habe man verfahren müssen, sagt Holger Drews vom Kulturministerium, "als Land können wir uns in Religionskonflikte nicht einmischen".

Das Verfassungsgericht wird jetzt entscheiden, ob das Land es sich mit diesem Standpunkt zu einfach macht. So argwöhnt Schimon Nebrat: "Es handelt sich hier um zwei absolut unterschiedliche Religionsgemeinschaften." Kein Protestant wäre schließlich begeistert, wenn die gesamte Kirchensteuer vom Papst verwaltet würde und dieser dann nach Gutdünken entschiede, welcher Anteil den übrigen Kirchen zukomme. Noch keinen Cent habe der liberale Landesverband den "Gesetzestreuen" überwiesen. Nur Karlsruhe könne für Gerechtigkeit sorgen - indem es den Staatsvertrag für verfassungswidrig erkläre. Danach, prophezeit Nebrat, werde es zu einem Exodus aus dem Zentralrat kommen. Viele Gemeinden, die mit dem Kurs des Zentralrats unzufrieden seien, liefen dann über zum momentan noch inaktiven "Bund gesetzestreuer Gemeinden".

Streit, wer denn Jude sei

Die Hoffnungen der strenggläubigen Potsdamer richten sich somit auf eine Neubelebung des "Halberstädter Bunds". Die Geburtsstunde dieser sogenannten Separatorthodoxie schlug 1920, als sich in Halberstadt der "Bund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden Deutschlands" konstituierte. Sie wollten ein Zeichen setzen gegen das vorherrschende liberale Judentum. Wahr ist aber auch: Die von Nebrat als unjüdisch abqualifizierten liberalen Gemeinden sind bereits im 19. Jahrhundert entstanden, ebenfalls in Deutschland, und deren eigentliche Heimat ist heute keineswegs der Zentralrat, sondern die "Union progressiver Juden". Auch von diesem anderen Ende der theologischen Skala gerät das überkommene Verhältnis zwischen Staat und Judentum gewaltig unter Druck.

Geradezu spiegelbildlich zu den Streitereien in Brandenburg erscheint nämlich der Dauerkonflikt in Sachsen-Anhalt. Auch dort ist es der dem Zentralrat angehörende Landesverband, der allein die staatlichen Mittel empfängt, und auch der Magdeburger Staatsvertrag von März 2006 sieht die Einbindung sämtlicher Gemeinden vor. Anders als in Brandenburg ist es in Sachsen-Anhalt aber die liberale Konkurrenz, die sich diskriminiert sieht von einem diesmal orthodox ausgerichteten Landesverband. Höchstrichterliche Urteile bis hin zum Bundesverwaltungsgericht haben zwar den Anspruch der liberalen "Synagogengemeinde Halle" auf Teilhabe bestätigt. Friede will dennoch nicht einkehren. Landesverband und Synagogengemeinde ringen seit zwölf Jahren miteinander. Die Streitsumme hat sich mittlerweile auf über zwei Millionen Euro addiert. Beide Seiten sind auf die Landesregierung, die ähnlich argumentiert wie in Potsdam, nicht gut zu sprechen. Auf lange Sicht dürfte auch dort nur ein zweiter oder zumindest ein präzisierter Staatsvertrag für Ruhe sorgen.

Reibungslos geregelt ist das komplizierte Ineinander von Politik, Religion und Tradition in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die dortigen Staatsverträge benennen klar jene Gemeinden, die nicht dem Vertragspartner, dem jeweiligen Landesverband also, angehören und schreiben für diese Gemeinden einen Betrag fest. Die Erfahrungen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt zeigen, dass nur so fruchtlose Debatten über das notwendige Maß an Orthodoxie oder Liberalität vermieden werden können.

Selbst der gesamtdeutsche Staatsvertrag zwischen Bundesregierung und Zentralrat vom Januar 2003 krankt an diesem Konstruktionsfehler. Gefördert werden soll mit aktuell fünf Millionen Euro pro Jahr das gesamte jüdische Leben in Deutschland, Zuwendungsempfänger ist aber einzig der Zentralrat. Eine Zeitlang beharkten sich darum Zentralrat und "Union progressiver Juden" heftig. Der Vorwurf einer staatlichen Diskriminierung des Reformjudentums schlug international Wellen. Heute unterstützt der Zentralrat Projekte der deutlich kleineren "Union".

Der Staat darf nicht Partei sein im innerjüdischen Streit, wer denn Jude sei. Er darf nicht entscheiden, ob, wie es die "Gesetzestreuen" postulieren, die verbindlichen Grundsätze des Judentums bereits im 12. Jahrhundert von Maimonides festgelegt wurden. Er muss sich auch aus der Frage heraushalten, ob das progressive Verständnis des Judentums der Weisheit letzter Schluss ist. Da aber, wo eine jüdische Konfession die andere bedrängt, endet die Enthaltsamkeit des Staates. Das Verfassungsgericht hat diesen fundamentalen Klärungsbedarf erkannt. Mit dem Urteil wird das deutsche Judentum wahrscheinlich in eine neue Epoche eintreten. Der deutsche Sonderweg, die Fiktion eines homogenen Judentums, wird vorbei sein.ALEXANDER KISSLER

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

Luk Perceval inszeniert in Hannover Ingmar Bergmans "Nach der Probe" als schmerzhafte Studie über den Theaterbetrieb

Das Theater ist ein Psycho-Biotop von ganz spezieller Qualität. Weil Schauspieler vermutlich die einzige Berufsgruppe darstellen, von der gefordert wird, ihre Gefühle zu zeigen, verwischt in der Arbeitsgemeinschaft eines Theaters so manches, bis hin zu Verwirrungen, die therapeutische Hilfe nötig machen. Die Grenzen zwischen gespieltem und empfundenem Ego, von Bühnen- und Privatdrama, von Angst und Vertrauen, Euphorie und Depression bleiben hier oft fließend, so- dass wenig robuste Seelen sich dabei verlieren können. Während Menschen in anderen Berufen ihre Gefühle eher durch Verbergen und Verstellen schützen, soll der Darsteller sein ganzes Inneres einbringen. So verlangen es Regisseur und Zuschauer von ihm und messen seinen Wert daran.

Dazu muss in der Probe die Krise als Material behandelt werden, und durch dieses schonungslose Offenbaren der eigenen Verletzlichkeit erhält der Regisseur eine Macht über den Schauspieler, die jene des Therapeuten noch übersteigt. Während vom Therapeuten verlangt wird, dass er die Behandlung abbricht, wenn er sich emotional mit dem Patienten verstrickt, entsteht aus der Vermischung von Privatem und Beruflichem im Theater oft erst der kreative Ausnahmezustand, den eine außergewöhnliche Inszenierung braucht.

Stücke über das Theater neigen häufig dazu, langweilige Selbstbetrachtungen von Bühnenklausnern zu sein, die ihren Kosmos zu wichtig nehmen; aber wenn es gelingt, das Besondere der seelischen Erfahrungen auf der Probe und danach hervorzuholen, dann kann das eindrückliche Vorstellungen über das zerbrechliche Gerüst des Selbstbewusstseins liefern. Ingmar Bergman unternahm 1984 in seinem Fernsehspiel "Nach der Probe" die emotionale Achterbahnfahrt, die bei der Verfleischlichung eines Theatertextes durchlebt wird. Die Schmerzen, die Kritik auslösen, die Anstrengungen der ständigen Selbstbehauptung, der Übertritt von professioneller Vertrautheit zu echter Zuneigung und die vielen Leichen im Keller, die im Prozess der schöpferischen Arbeit unfreiwillig erweckt werden, inszenierte Bergman in den Dialogen des Regisseurs Henrik Vogler mit zwei Schauspielerinnen: seiner ehemaligen Geliebten, die seinen besten Freund geheiratet hat, sowie deren gemeinsame Tochter, an der er seine Sehnsucht erneuert. Um ihr nahe zu sein, gibt Vogler ihr die Hauptrolle in Strindbergs "Traumspiel", obwohl er sie nicht für halb so talentiert hält wie ihre Mutter.

Ernstfall: Spiel

Luk Percevals Auseinandersetzung mit seiner eigenen Rolle als Regisseur und den gegenseitigen Manipulationen, die zwischen Schauspielern und Regisseuren vonstatten gehen, hat ihn den Stoff nun - nach 1992 in Antwerpen - zum zweiten Mal inszenieren lassen. In Hannover nimmt er sich dafür den Ausspruch Voglers zu Herzen, dass Theater eigentlich nur drei Dinge braucht: das Wort, die Schauspieler und den Zuschauer. Und im Gegensatz zu der Bühnenfigur, die hinzufügt: "Das war immer meine Überzeugung, ich bin ihr nur nie gefolgt", hält sich Perceval daran. Von einer Tribüne auf der Bühne aus verfolgt das Publikum ein hochkonzentriertes Schauspielertheater zwischen den Sesseln des leeren Zuschauerraums.

Wolf-Dietrich Sprenger pflegt als Alter Ego aller überlegenen Regisseure zunächst die Marotten der Theaterhierarchie. Er doziert und irritiert, deklamiert "Ist"-Sätze über Sinn und Wesen der darstellenden Kunst im Minutentakt und wechselt schnell zwischen Zynismus und Zuspruch, um die junge Schauspielerin Anna Eggerman zu führen, zu formen - oder doch nur, um ihr zu imponieren? Das Unfertige und Kokette, Steife und Reizende, das junge Schauspielerinnen auszeichnet, die viel Ambition und wenig Erfahrung mitbringen, spielt Picco von Groote erstaunlich souverän. Denn es ist vermutlich besonders schwer für eine talentierte Schauspielerin, eine kaum talentierte zu spielen. Mit wenig subtilem Hervordrücken ihrer großen Brust, kindischen Flirtangeboten und unvermittelten Wutausbrüchen gegen ihre tote Mutter umgarnt sie erfolgreich den in die Jahre gekommenen Theatermann, der ihr schließlich sogar seine Liebe gesteht.

Unterbrochen wird die Verwicklung der Beziehungsfäden zu einem filzigen Gefühlsknoten durch den Auftritt der toten Mutter Rakel. In der Rückblende auf einen Moment totaler Verzweiflung und Selbstentblößung Rakels einige Jahre zuvor stellt sich dem Regisseur die Frage, inwiefern er Verantwortung trägt für die Opfer dieses Berufs. Rakel empfindet ihr Leben nur noch als eine Anhäufung größter Demütigungen, lebt in der Psychiatrie und klagt mit hysterischen Vorwürfen, schamlosem Verhalten und sexuellen Attacken gegen Henrik über die Hölle fehlender Beachtung, in der sie sich wähnt. Auslöser ist seine Entscheidung, der einst gefeierten Großschauspielerin wegen ihrer psychischen Instabilität nur eine kleine Rolle mit zwei Sätzen zu geben. Oda Thormeyer spielt das zerstörte Selbstwertgefühl eines Menschen, der sich immer nur als Instrument gefühlt hat, dem andere große Töne entlocken, und der deswegen seine Identität verliert, wenn niemand mehr damit spielen will, voller Aggression bis an die Grenze des Zumutbaren.

Der präzise Realismus, den Perceval hier verfolgt, zeugt von seinem empfindlichen Interesse an Fragen des Theaterbetriebs. Fast zwei Stunden lang spürt er den labilen Grenzen nach, die zwischen Realität und Spiel im Theater gezogen sind. In dem egoistischen und absurd hierarchischen Betrieb, der sich dennoch stets zu einem Ort der Freiheit erklärt, führt diese Inszenierung an den Punkt, da die Manipulation von Menschen nicht mehr der Kunst dient, sondern nur noch dem Eigennutz und zeigt, wie gefährlich dieses Spiel tatsächlich für alle Beteiligten ist. TILL BRIEGLEB

Niedergestreckt im Stellungskrieg zwischen Sein und Schein: Szene mit Picco von Groote als Anna und Wolf-Dietrich Sprenger als Henrik. Foto: Matthias Horn

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

NACHRICHTEN

Siebzig während des Zweiten Weltkriegs aus dem Aachener Suermondt-Ludwig-Museum verschwundene Gemälde sind in einem Museum in der Ukraine eindeutig identifiziert worden. Der Direktor des Achener Museums, Peter van den Brink, hat nach Medienberichten aber nicht die Absicht, die Kunstwerke aus dem 17. bis 20. Jahrhundert zurückzufordern.

Momentan hängt die Guernica-Reproduktion, ein originalgetreues Duplikat von Picassos Anti-Kriegs-Bildnis, noch vor dem Sitzungssaal des UN-Hauptgebäudes. Weil das Gebäude jedoch saniert wird, muss der Wandteppich für längere Zeit abgenommen werden und geht im April als Leihgabe an die Whitechapel Art Gallery, die 1939 auch schon das Original-Werk Picassos als künstlerischen Protest gegen den Spanischen Bürgerkrieg ausstellte.

Christine von Kohl ist im Alter von 86 Jahren in Wien gestorben. Die in Berlin aufgewachsene Dänin war Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung in Belgrad und wurde vor allem durch ihre Bücher über den Balkan bekannt. Sie engagierte sich in der Helsinki-Föderation für Menschenrechte und gründete in Wien ein bosnisches Kulturzentrum.

Ein Schwerpunkt in den Filmen der 59. Berlinale sind Opfer und Täter von Globalisierung und Krieg. "Die Wirklichkeit hat die Fiktion in diesem Jahr wirklich eingeholt", sagte Berlinale-Direktor Dieter Kosslick am Dienstag. "Die Finanzkrise hat Auswirkungen auf das Berlinale-Programm".SZ

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Dinge des Lebens

Er blies die Pop Art riesenhaft auf: Zum 80. Geburtstag von Claes Oldenburg

Dass man besser Liebe macht als Krieg: Diese Einsicht dämmerte damals, Ende der sechziger Jahre, vielen in Amerika. Schließlich befand man sich, einerseits, mitten in einem hässlichen Krieg. Und andererseits sah die Liebe nie zuvor so heiter aus wie seit dem Summer of Love im Jahr 1967, als man daraus eine Hoffnung, das Ideal einer Epoche, eine Botschaft zu formen verstand. Er aber hat dieser Botschaft eine unübersehbare Gestalt gegeben, eine wirklich monumentale: Vor 40 Jahren ließ der amerikanische Pop-art-Künstler Claes Oldenburg auf den Campus der Yale University die Riesenskulptur eines Lippenstiftes setzen, mehr als zehn Meter lang und natürlich mit frivol entblößter Spitze in knalligem, signalfarbenem Rot. Dieser monumentalisierte Lipstick erinnerte nicht nur in seiner aerodynamischen Form an eine Langstreckenrakete - er war zudem auf einem bulligen Kettenfahrzeug als Sockel gesetzt.

Für die Umwertung aller Werte, die die amerikanische Popkultur damals vornahm, ließen sich kaum schönere Bilder denken als diese Lippenstift-Rakete von Claes Oldenburg. Er, der heute vor achtzig Jahren als Sohn eines schwedischen Diplomaten in Stockholm geboren wurde, ist ein Meister der Verwandlung. Wobei es immer Objekte sind, Alltagsgegenstände, die er in eine andere Erscheinungsweise transformiert. Als wäre er ein begnadeter Zauberkünstler aus dem Vergnügungspark oder eine jener Dämonenfiguren aus den Superhelden-Comics wie der Joker, mit deren Personae er gerne in frühen Selbstporträts spielte. Als ingeniöser Transformator bedient er sich vor allem der Methode des Softening, wo er die Dinge des Lebens - wie etwa bei dem "Soft Pay Telephone" - in weichen Materialien nachbildet, und ihre Formen dadurch in Fluss versetzt, ihre Funktion und ihren Geist fast magisch verändert.

Welt aus den Fugen

Und er bedient sich des gleichsam pharaonischen Stilmittels der Vergrößerung. Seit den mittleren siebziger Jahren hat er, meist zusammen mit der kürzlich verstorbenen Gefährtin Coosje van Bruggen, nahezu überall auf der Welt, auch in Deutschland, in Kassel zum Beispiel - mit der "Spitzhacke" am Ufer der Fulda - zahlreiche jener Monumente im öffentlichen Raum errichtet, die auf der gigantischen Überdimensionierung von Alltagsobjekten basieren, und die, wie jener "Lippenstift" für die Yale University, als ins Phantastische, Groteske geweitete Belanglosigkeiten aus dem Alltagsleben ein geheimnisvolles Leben zu besitzen scheinen.

Auf diesen rasch als sein Markenzeichen firmierenden Außenraum-Objekten gründet vor allem der Ruhm Oldenburgs, der in Amerika aufgewachsen ist und seit den fünfziger Jahren in New York lebt. Und wenn man ihm auch mit einer gewissen Berechtigung vorwerfen mag, dass er die Erfolgsnummer oft wiederholt hat, so hat er uns doch ein unvergessliches Spektakel geboten: von einer Welt, die aus den Fugen gerät, wenn man auch nur an einem Punkt eingreift, um die Maßstabsverhältnisse zu ändern. Von der Kraft, der viel zu wenig genutzten Gabe des Menschen, die Verhältnisse zu transformieren - so wie es Oldenburg schon in seinen frühen, seinen ganz großen Jahren getan hat, als er in seinen grandiosen Environments "The Street" und "The Store" die Brücke schlug von der Waren-Ästhetik der Pop-Art zur Art Brut des Jean Dubuffet und aus dem Straßenmüll ein Denkmal auf den Straßenmüll formte.

Er habe nie etwas anderes gewollt, als der Kunst ihre Macht zurückzugeben, hat Claes Oldenburg einmal bemerkt: Das ist ihm in wirklich denkwürdiger Weise gelungen.MANFRED SCHWARZ

Pop-Alltag: Claes Oldenburg mit Coosje van Bruggen vor seinem Frühwerk "Bedroom Ensemble" (1963) Lothar Wolleh

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neues Glück auf der anderen Seite

Immer mehr neokonservative Intellektuelle wechseln zu Obama

Wenn jemand die ideologische Seite wechselt, dann gibt es dafür meist zwei mögliche Ursachen: Entweder die Ideologie hat sich überlebt. Oder eine neue Ideologie ist aufgetaucht, die Besseres verspricht. Manchmal geschient etwas Drittes: eine Lichtgestalt erscheint, ein Charismatiker, der über alle Ideologien hinweg neues Glück und neue Wege verspricht - einer wie Barack Obama beispielsweise.

Jedenfalls scheint er etwas ausgelöst zu haben, ausgerechnet bei jenen, die den "linken Junior-Senator" lange Zeit geradezu verteufelten. Immer mehr so genannte Neokonservative scheinen vom rechten Glauben abzufallen - ausgerechnet sie, die die politische Ideologie der Regierung Bush maßgeblich beeinflussten und deswegen für deren sämtliche Fehler, Katastrophen und Fehlentscheidungen verantwortlich gemacht wurden. Doch nun heißt es: Die Republikaner sind von gestern, heute lautet die Antwort Obama.

Es begann mit Christopher Buckley, Sohn des kürzlich verstorbenen William Buckley. Der wiederum gilt als der wohl wichtigste konservative Intellektuelle Amerikas und bereitete mit seinen Essays und Büchern den Weg für die konservative Revolution eines Barry Goldwater und Ronald Reagan. Doch sein Sohn, ursprünglich ähnlich konservativ wie sein Vater, wenn auch nicht von gleichem intellektuellen Format, sprach sich im Sommer 2008 öffentlich für Obama aus - um daraufhin, freiwillig oder nicht, seine journalistische Tätigkeit bei der National Review einzustellen, jenem von seinem Vater gegründeten, altehrwürdigen Sprachrohr der neokonservativen Bewegung. Ihm folgten Kenneth Adelman, einst Reagans außenpolitischer Berater, und einflussreiche Kolumnisten wie Kathleen Parker.

Im Feindesland

Kurz vor seiner Amtseinführung wurde Obama selbst dann auf feindlichem Territorium gesichtet - bei einer Dinnerparty im Hause von George F. Will, dem konservativen Kommentator der Washington Post, zwischen seinem Erzkritiker Charles Krauthammer, David Brooks von der New York Times - und William Kristol. Und nun scheint es, als ob Letzterer, eine weitere Lichtgestalt der Neocons, die Seite wechselt - ausgerechnet William Kristol, dessen Vater Irving neben Buckley als Mitbegründer der neokonservativen Ideologie gilt.

Ist Obama der Katalysator für den Aufstand der neokonservativen Söhne? William Kristol jedenfalls beendet seinen Nebenjob als dezidiert konservativer Kolumnist der New York Times, indem er in seiner letzten Kolumne das Ende des Konservatismus ausruft. "Kann Obama den neuen Liberalismus (. . .) als kämpferischen Glauben neu erschaffen, kompromisslos patriotisch und stark in seiner Verteidigung der Freiheit? Das wäre ein Dienst an unserem Land", schreibt er, und das klingt, also ob sich der Neokonservatismus schlicht auf seine Wurzeln besinnen müsse, die ja tatsächlich im antikommunistischen Liberalismus liegen. Vielleicht ist das die Hoffnung vieler Neocons: Ihre Ideologie durch Obama zu läutern, auf das sie rein und unschuldig wiederauferstehe. PETRA STEINBERGER

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Aktuelles in Zahlen

Basketball

NBA

Washington Wizards - Phoenix Coyotes 87:103, Miami Heat - Atlanta Hawks 95:79, New York Knicks - Houston Rockets 104:98, Milwaukee Bucks - Minnesota Timberwolves 83:90, New Orleans Hornets - Philadelphia 76ers 101:86, Oklahoma City Thunder - New Jersey Nets 94:85, Los Angeles Clippers - Portland Trail Blazers 88:113

Eastern Conference, Atlantic Division 1. Boston (TV) 37 Siege/9 Niederlagen, 2. Philadelphia 21 22 48,8 3. New Jersey 20/25, 4. NY Knicks 19/25, 5. Toronto 18/28

Central Division: 1. Cleveland 34/8, 2. Detroit 24/19, 3. Milwaukee 22/26, 4. Chicago 18/27, 5. Indiana 17/27

Southeast Division: 1. Orlando 33/10, 2. Atlanta 26/18, 3. Miami 24/19, 4. Charlotte 18/26, 5. Washington 9/35

Western Conference, Northwest Division: 1. Denver 29/15, 2. Portland 27/17, 3. Utah 25/20, 4. Minnesota 16/27, 5. Oklahoma City 10/35

Pacific Division 1. LA Lakers 35/8, 2. Phoenix 25/18, 3. Golden State 14/31, 4. LA Clippers 10/34, 5. Sacramento 10/35

Southwest Division 1. San Antonio 29/14, 2. New Orleans 26/14, 3. Houston 28/18, 4. Dallas 25/19, 5. Memphis 11/32

Handball

Männer, Weltmeisterschaft in Kroatien

President's Cup (um die Plätze 13-24)

Gruppe I, in Pula

Australien - Kuwait 24:27 (10:14)

Argentinien - Kuba 30:23 (16:15)

Rumänien - Spanien 32:40 (16:19)

1. Spanien 5 5 0 0 205:98 10:0

2. Rumänien 5 4 0 1 175:141 8:2

3. Argentinien 5 3 0 2 137:125 6:4

4. Kuba 5 2 0 3 124:154 4:6

5. Kuwait 5 1 0 4 119:157 2:8

6. Australien 5 0 0 5 87:172 0:10

Gruppe II, in Porec

Algerien - Saudi-Arabien 30:27 (14:12)

Tunesien - Brasilien 34:33 (18:16)

Russland - Ägypten 27:31 (12:16)

1. Ägypten 5 4 0 1 135:125 8:2

2. Russland 5 4 0 1 151:127 8:2

3. Tunesien 5 3 0 2 159:146 6:4

4. Algerien 5 3 0 2 140:142 6:4

5. Brasilien 5 1 0 4 131:137 2:8

6. Saudi-Arabien 5 0 0 5 105:144 0:10

Platzierungsspiele am Dienstag, um Platz 13:

Spanien - Ägypten; um Platz 15: Rumänien - Russland; um Platz 17: Argentinien - Tunesien; um Platz 19: Kuba - Algerien; um Platz 21: Kuwait - Brasilien; um Platz 23: Australien - Saudi-Arabien.

Radsport

Sechstagerennen in Berlin

Stand nach der 5. Nacht: 1. Rasmussen/Mörköv (Dänemark) 230 Pkt.; 2. Zabel/Bartko (Unna/Potsdam) 206; 3. Kluge/de Ketele (Cottbus/Belgien) 202; 4. Risi/Marvulli (Schweiz) 200; 5. Stam/Schep (Niederlande) 127/+ 2 Rd.; 6. Bengsch/Kalz (Berlin) 196/+ 3

Tennis

Australian Open, Melbourne (12,02 Mio.$)

Männer, Viertelfinale: Roddick (USA/7) - Djokovic (Serbien/3) 6:7 (3), 6:4, 6:2, 2:1 Aufgabe, Federer (Schweiz/2) - Martin del Potro (Argentinien/8) 6:3, 6:0, 6:0

Frauen, Viertelfinale: Swonarewa (Russland/7) - Bartoli (Frankreich/16) 6:3, 6:0, Safina (Russland/3) - Dokic (Australien) 6:4, 4:6, 6:4

Volleyball

Männer, Bundesliga, 16. Spieltag

Netzh. Königs Wusterhausen - SG Eltmann 3:0. - Tabelle: 1. Friedrichshafen 24:4 Punkte, 2. SCC Berlin 24:4, 3. Moer 24:6, 4. Haching 22:8, 5. Wusterhausen 20:10, 6. Düren 16:14, 7. Bad Dürrenberg/Spergau 12:18, 8. Eltmann 12:18, 9. Rottenburg 12:18, 10. Leipzig 8:22, 11. Giesen/Hildesheim 6:22, 12. Wuppertal 6:24, 13. VCO Berlin 6:24.

Sport im Fernsehen

Mittwoch, 28. Januar

9.30 - 13.00 Uhr, Eurosport: Tennis - Australian Open in Melbourne, Viertelfinale Frauen und Männer

18.30 - 22.30 Uhr, Premiere: Fußball - DFB-Pokal, Achtelfinale - Konferenz

3.30 - 7.15 Uhr, Eurosport: Tennis - Australian Open in Melbourne, Halbfinale Frauen

Sportwetten

Fußballtoto, 5. Wettbewerb

Tendenz Tipp

1 Hannover 96 - FC Schalke 04 3 4 3 0

2 1. FC Köln - VfL Wolfsburg 3 3 4 2

3 Bor. Dortmund - B. Leverkusen 3 4 3 0

4 Hertha BSC - Eintr. Frankfurt 5 3 2 1

5 Hoffenheim - Energie Cottbus 6 3 1 1

6 VfB Stuttgart - Bor. M'gladbach 5 3 2 1

7 Werder Bremen - Arm. Bielefeld 5 3 2 1

8 VfL Bochum - Karlsruher SC 4 3 3 0

9 1860 München - SC Freiburg 3 3 4 2

10 W. Wiesbaden - Alem. Aachen 3 3 4 2

11 Greuther Fürth - Ingolstadt 04 5 3 2 1

12 Hansa Rostock - MSV Duisburg 3 4 3 0

13 FSV Frankfurt - RW Ahlen 3 3 4 0

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Trotz Entzündung der Lunge

Albrechts Zustand stabil

Innsbruck (sid) - Der Zustand des schwer gestürzten Schweizer Ski-Rennläufers Daniel Albrecht ist trotz einer Entzündung der Lunge weiterhin stabil. "Das Schädel-Hirn-Trauma verläuft weiterhin komplikationsfrei. Unter den derzeitigen Beatmungsbedingungen ist auch die Funktion der Lunge stabil", heißt es im Bulletin der Innsbrucker Uniklinik für Intensivmedizin am Dienstag. Allerdings stellten die Ärzte bei der letzten Kontrolluntersuchung fest, dass sich ein Teil der Lunge entzündet hat. "Diese Art der Entzündung tritt bei knapp 80 Prozent dieser Art von Verletzungen auf. Das Labor hat den verantwortlichen Keim bereits identifizieren können. Das versetzt die Ärzte in die Lage, ganz gezielt mit einem bestimmten Antibiotikum gegen die Entzündung vorzugehen", teilte die Klinik mit. Der künstliche Tiefschlaf müsse mindestens bis zur Besserung der Lungenverletzung beibehalten werden.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Verhandlungen mit dem AC Mailand

Beckham will bleiben

Mailand (sid) - Der AC Mailand will den Engländer David Beckham länger als drei Monate verpflichten und wird nach Angaben der Gazzetta dello Sport schon an diesem Mittwoch Verhandlungen mit einem Berater des Mittelfeldspielers aufnehmen. Berater und Klub wollen einen Weg suchen, um das ursprünglich bis zum 8. März befristete Gastspiel Beckhams fortzusetzen. Der Mittelfeldspieler, der vom US-Profiklub Los Angeles Galaxy ausgeliehen ist, scheint sich intensiv mit einem Wechsel nach Mailand zu beschäftigen. Galaxy-Coach Bruce Arena scheint aber nicht gewillt, Beckham abzugeben. "Wir haben eine Vereinbarung, und an dieser werden wir festhalten", sagte der ehemalige Nationaltrainer der USA. In der Serie A wird Beckham stärker gefordert als in der Major League Soccer (MLS) in Amerika. Der 33-Jährige hatte erklärt, dass er von einer WM-Teilnahme mit England 2010 träume. Dies erscheint leichter zu realisieren, wenn er bei Milan spielt.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Geldbuße und Teilausschluss der Fans

Strafe für Dresden

Dresden/Berlin (dpa) - Fußball-Drittligist Dynamo Dresden ist nach mehreren Ausschreitungen erneut vom Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) verurteilt wurden. Der Klub muss 4000 Euro Geldstrafe zahlen und zudem sein Heimspiel gegen Bayern München II unter teilweisem Ausschluss der Öffentlichkeit austragen. Bei diesem Spiel dürfen nur 4000 Karten an einheimische Anhänger und 500 Karten an Gästefans gegen Vorlage des Personalausweises und namentliche Registrierung verkauft werden. Die Anhänger aus Dresden müssen auf den Tribünenplätzen untergebracht werden, die des Gastvereins in räumlich davon getrennte Sektoren. Das Sportgericht ahndete damit die Vorkommnisse und Ausschreitungen bei den Meisterschaftsspielen zwischen Dynamo und Fortuna Düsseldorf in Dresden, dem Auswärtsspiel der Sachsen in Regensburg und bei der Partie zu Hause gegen Erfurt.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Streit um Olympia-Fernsehverträge

Bach kontra Herres

Hannover/Berlin (dpa) - Der Kampf um die Fernsehrechte für die Olympischen Spiele 2014 und 2016 wird nun öffentlich geführt. Die ARD erhöht den Druck auf das Internationale Olympische Komitee (IOC), indem sie mit weniger Übertragungen von Randsportarten droht. IOC-Vizepräsident Thomas Bach: "Das IOC ist für derartige Erpressungsversuche nicht empfänglich." Das IOC hatte ein Angebot der European Broadcasting Union (EBU), zu der auch ARD/ ZDF gehören, abgelehnt und will die TV-Rechte für Europa nicht mehr im Paket vergeben.

Bach reagierte auf Äußerungen von ARD-Programmdirektor Volker Herres. "Sollten wir die Fernsehrechte an den Spielen 2014 und 2016 verlieren, würden wir unser Engagement zwischen den Spielen für jede Einzelsportart überprüfen", hatte Herres dem Handelsblatt gesagt. "Das IOC übersieht, dass wir als ARD zusammen mit dem ZDF kontinuierlich - auch zwischen den Sommer- und Winterspielen - über olympische Sportarten berichten." Eine Verringerung der TV-Übertragungen würde vor allem kleinere Sportarten vor finanzielle Probleme stellen.

Das IOC verspricht sich durch eine Einzelvermarktung in den Mitgliedsländern der EBU deutlich höhere Einnahmen als bisher. Die EBU-Offerte für die Rechte an den Winterspielen 2014 im russischen Sotschi und den noch nicht vergebenen Sommerspielen 2016 soll nur geringfügig über der Summe gelegen haben, die für Vancouver 2010 und London 2012 gezahlt werden: 672 Millionen Euro. Nun strebt das IOC in Europa Einnahmen zwischen 850 und 900 Millionen Euro an, was die EBU für überzogen hält.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Druck mit dem Publikum

Von Thomas Kistner

Am Montagabend, beim Stuttgarter Sportgespräch zum Thema "Geld gewinnt - können wir uns Siege noch leisten?", beschrieb Hans Wilhelm Gäb ein sehr komplexes Wirksystem: "Sportarten wie Biathlon werden vom Fernsehen künstlich großgemacht. Das Fernsehen greift sich monokulturell einige Sportarten und bringt sie groß raus, alle anderen verlieren ihre öffentliche Präsenz - wer nicht mehr sichtbar ist, verliert die Sponsoren und damit das Geld."

Der Prozess, den der Aufsichtsratschef der Deutschen Sporthilfe als unauflöslich beschrieb, folgt der Logik des Quotenmarktes und bedarf einer markanten Ergänzung: Auf Dauer schaffen es nur solche Sportarten, die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen zelebriert werden. Dies mag ein deutsches Phänomen sein, in der Tat eignet sich just Biathlon, das ja nirgendwo sonst ein annähernd großer Publikumsrenner ist wie hierzulande, als Beispiel dafür. In die Reihe passen auch Skispringen, Formel 1, Preisboxen; alles Spielarten, die nicht im Breiten- oder Nachwuchssport verankert, sondern künstliche Spektakel und profitable Konsuminstrumente sind. Auch der Direktvergleich stützt diese These: Einst populäre Liga-Betriebe wie Eishockey oder Handball sind bei den Privaten (teils auch in Landesprogrammen) abgetaucht. Nur Einzelevents wie die Handball-WM erzielen noch gute Quoten, dies auch bei den Privaten.

Insofern übt die ARD nach der gescheiterten TV-Rechterunde Ernst zu nehmenden Druck aufs Internationale Olympische Komitee aus: Falls die Spiele bei den Privaten verschwinden, werde es künftig weniger Übertragungen der Fachsportarten geben, die Teil des Ringe-Spektakels sind. Das IOC gibt sich unbeeindruckt und hält nackte Ziffern dagegen: Wenn die Privaten mehr zahlen, fließt auch mehr an all die kleineren Verbände zurück, die ohnehin voll am Finanztropf des Ringe-Konzerns hingen. Rechnerisch mag die Kalkulation stimmen, tatsächlich geht sie nicht auf, auch nicht für das IOC und seine Spiele. Sportarten, die von der Bildfläche verschwunden sind, werden von den naturgemäß auf Höhepunkte geeichten Kommerzsendern nicht wiederbelebt werden. Den Spielen aber ginge mit ihrer Vielfalt ein typischer, mithin geldwerter Akzent verloren - diese neue Sehkultur sollte das IOC nicht heranzüchten.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kurz gemeldet

Robinho kommt seine Flucht aus dem Trainingslager von Manchester City teuer zu stehen. Trainer Mark Hughes kündigte eine Geldstrafe für den Brasilianer an, die laut Medienberichten bei rund 210 000 Euro liegen soll. Dies würde zwei Wochengehältern von Robinho entsprechen. Der 24-Jährige hatte ohne Erlaubnis das Trainingslager des Premier-League-Klubs auf Teneriffa verlassen und war nach Brasilien geflogen.

Hertha BSC Berlin bleibt das Verletzungspech weiter treu. Kurz vor Beginn der Rückrunde wurde bei Mittelfeldspieler Fabian Lustenberger ein Ermüdungsbruch im Fuß diagnostiziert. Der Schweizer fehlt dem Fußball-Bundesligisten voraussichtlich sechs bis acht Wochen.

Said Husejinovic von Bundesligist Werder Bremen verstärkt von sofort an den Fußball-Zweitligist 1. FC Kaiserslautern. Der 20-jährige Mittelfeldspieler aus Bosnien wird zunächst bis zum Saisonende ausgeliehen.

Hansa Rostock, Fußball-Zweitligist, hat Abwehrspieler Kevin Schöneberg vom Bundesligisten 1. FC Köln verpflichtet. Der 23-Jährige unterschrieb bei den Hanseaten einen Vertrag bis 2010. Schöneberg, der für Köln 20 Zweitliga-Spiele bestritt, ist der vierte Neuzugang der Rostocker in der Winterpause.

Marcel Eger, 25, hat seinen Vertrag beim Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli um zwei Jahre bis zum 30. Juni 2011 verlängert. Dies teilte der Verein am Dienstag mit. Der Abwehrspieler war 2004 nach Hamburg gekommen und bestritt bislang 65 Regionalliga- und 45 Zweitliga-Spiele für die Norddeutschen.

Nikolai Walujew, Box-Weltmeister im Schwergewicht, hat sich mit einem Titelkampf gegen Vitali oder Wladimir Klitschko einverstanden erklärt. Ein seriöses Angebot werde man nicht ausschlagen, erklärte Promoter Wilfried Sauerland. Dieser zeigte sich verwundert über Äußerungen der Klitschkos einen Tag zuvor. Die Ukrainer hatten sich beschwert, dass ihnen keine Chance gegeben werde, den vierten WM-Titel im Schwergewicht zu erobern. Bislang besitzen die Klitschkos die Gürtel von WBO und IBF (Wladimir) sowie WBC (Vitali). Walujew ist Champion der WBA.

Ryan Ready wird auch in der kommenden Spielzeit der Deutschen Eishockey Liga (DEL) für die Iserlohn Roosters auflaufen. Der kanadische Stürmer, der in der laufenden Saison bislang 16 Tore erzielte, unterzeichnete eine Verlängerung seines Vertrags bis 2010.

Ohne Huaiwen Xu, die Europameisterin, aber mit Marc Zwiebler, dem Olympia-Achtelfinalisten von Peking, finden von Donnerstag bis Sonntag die deutschen Badminton-Meisterschaften in Bielefeld statt. Die gebürtige Chinesin Xu vom 1. BC Bischmisheim, die zuletzt fünfmal in Serie gewonnen hatte, verzichtet aufgrund ihrer hohen Belastungen der vergangenen Monate.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

DFB-Talent Nsereko zu West Ham

Teurer als Podolski

Die Summe erregt Schwindel: Elf Millionen Euro soll West Ham United dem italienischen Zweitligisten Brescia Calcio bezahlen - für einen 19-jährigen Deutschen, geboren in Uganda, der bisher nur Insidern ein Begriff ist: Am Dienstag ist der U-20- Nationalspieler Savio Nsereko in London vorgestellt worden, am Mittwoch bereits soll er in der Premier League debütieren, gegen Hull City. Stimmt der Betrag, dann ist Nsereko kraft Ablöse der sechstteuerste deutsche Fußballer, sogar teurer als Lukas Podolski - und kaum billiger als der Rekordhalter der Statistik: Jörg Heinrich (damals Dortmund), der Florenz einst 12,6 Millionen Euro wert war: "Das ist eine große Verantwortung, aber ich weiß, was ich kann", sagt Nsereko selbstbewusst.

Größter Fürsprecher Nserekos in dessen alter Heimat ist DFB-Nachwuchstrainer Horst Hrubesch, der zusammen mit dem schmächtigen, quirlig-dribbelstarken Angreifer im Vorsommer die U-19-EM in Tschechien gewann. Nsereko wurde dort zum besten Turnierspieler gewählt. Hrubesch traut Nsereko zu, sich im kampfbetonten englischen Milieu durchzusetzen: "Ich kann ihm nur das beste Zeugnis ausstellen. Er ist wendig und schnell, aggressiv in der Vorwärts- und Rückwärtsbewegung, hat eine ausgezeichnete Technik und kann ein Team führen." West-Ham-Trainer Gianfranco Zola freut sich auf den jungen Unruhestifter, der den Walliser Craig Bellamy (zu Manchester City) ersetzen soll. West Hams Technischer Direktor, Gianluca Nani, arbeitet zuletzt in Brescia, er kennt Nsereko bestens.

2008 lehnte Nsereko eine Anfrage von Inter Mailand ab. Laut Brescias Präsident Gino Corioni sollen nun Großklubs von Juventus bis Liverpool angefragt haben, "auch Bayern München hat sich bei mir informiert". Nsereko wuchs in München auf, spielte als Kind in einer interkulturellen Straßenliga ("Bunt kickt gut") und wurde jahrelang beim Zweitligisten TSV 1860 ausgebildet, ehe er mit 16 den ungewöhnlichen Schritt nach Brescia ging. Sollte sich die Elf-Millionen-Ablöse bestätigen, würde 1860 rund 400 000 Euro Ausbildungsanteil erhalten. SZ/dpa/sid

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ausgeliehen bis Sommer 2009

Sanogo nach Hoffenheim

Bremen (dpa) - Boubacar Sanogo wird in der Rückrunde für 1899 Hoffenheim spielen. Der Angreifer wird vom Tabellenführer als Vertreter des kreuzbandverletzten Vedad Ibisevic bis 30. Juni 2009 ausgeliehen. Außerdem sicherten sich die Hoffenheimer eine Kaufoption für den 26-Jährigen, der in Bremen noch einen Vertrag bis 2011 besitzt. Werder-Manager Klaus Allofs kommentierte die Personalie so: "Es war zuletzt eine gewisse Unzufriedenheit sowohl beim Spieler als auch auf unserer Seite festzustellen. Nach langen Überlegungen haben wir uns entschlossen, dieser Vereinbarung zuzustimmen." Schon am Wochenende soll Sanogo für Hoffenheim spielberechtigt sein. "Ich habe mich bei Werder wohl gefühlt, aber in Hoffenheim vielleicht mehr Chancen zu spielen", sagte Sanogo.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Vergleich mit Förstina gescheitert

Sinkewitz erwartet Urteil

Fulda (dpa) - Die Justiz-Tour geht für Rad-Profi Patrik Sinkewitz auf die Schlussetappe. Das Ziel, sich außergerichtlich mit seinem ehemaligen Sponsor Förstina zu einigen, hat der Doping-Sünder nicht erreicht. Sinkewitz konnte sich mit dem Kläger nicht auf den angestrebten Vergleich verständigen, wie das Landgericht Fulda erklärte. "Die Bemühungen sind gescheitert. Das wurde uns kurzfristig mitgeteilt", sagte Richter Reinhard Hawran. Nun wird am 26. Februar ein Urteil verkündet.

Der Getränkehersteller hatte Sinkewitz wegen arglistiger Täuschung im Zuge seiner Doping-Vergangenheit verklagt und zunächst 308 000 Euro Schadensersatz gefordert. Der 28-Jährige steht mittlerweile beim zweitklassigen tschechischen Team PSK Whirlpool unter Vertrag. Die finanziellen Vorstellungen beider Parteien hätten zu weit auseinandergelegen, sagte Förstina-Anwalt Christian Schmitt: "Wir sind leider nicht auf einen Nenner gekommen." Im Verlauf des seit mehr als einem Jahr dauernden Rechtsstreits war Förstina bereits stark von seiner Forderung abgerückt. Einen Vergleich von 150 000 Euro hatte der ehemalige Fahrer des T-Mobile-Teams im April 2008 abgelehnt. In den vergangenen Monaten versuchten die Parteien, sich außergerichtlich zu einigen, der letzte Vergleichsvorschlag des Gerichts hatte bei 100 000 Euro gelegen.

Den im Januar 2004 abgeschlossenen Werbevertrag mit Sinkewitz hatte Förstina gekündigt, nachdem der Rad-Profi im Juli 2007 positiv auf Testosteron getestet worden war. Einige Zeit später hatte er sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt und eine einjährige Rennsperre verbüßt. Der Getränkehersteller will die Kosten für eine durch den Doping-Skandal unbrauchbare Werbekampagne erstattet bekommen. Zu dem Vergleichsvorschlag beim Gütetermin im April hatte Sinkewitz gesagt: "Ich kann das nicht bezahlen."

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der alte Schlitten steht in der Ecke

Deutschlands Skeletonfahrer sind auf dem besten Wege, auch noch die letzte Kufensparte zu beherrschen

München - Die deutschen Skeletonfahrer sind gerade auf Nordamerika-Tournee. In Vancouver üben sie in dieser Woche erst einmal auf der Olympiabahn für die Spiele 2010, dann fahren sie dort das erste Weltcup-Rennen, ehe sie über die Station Park City (USA) den Saisonhöhepunkt ansteuern, die Weltmeisterschaften vom 26. bis 28. Februar in Lake Placid (ebenfalls USA). Fünf Wochen werden die vier Männer und vier Frauen samt ihren Betreuern also unterwegs sein, und in diesen fünf Wochen wird sich zeigen, ob ihre außergewöhnlichen Erfolge der ersten Saisonhälfte nur eine Laune waren, oder ob sie tatsächlich dabei sind, auch den dritten Schlittensport neben Bob und Rodeln fest in deutsche Hand zu bekommen. "Das ist jedenfalls das Ziel für die nächsten Jahre", sagt Bundestrainer Jens Müller, "aber ob das schon bis Olympia 2010 klappt, muss man mal abwarten."

In den nordamerikanischen Eiskanälen waren die Ergebnisse der deutschen Skeletonis in der Vergangenheit "immer sehr durchwachsen", gibt Müller zu; deshalb sind die Resultate der nächsten Wochen ein guter Gradmesser, inwieweit seine Arbeit bereits Früchte trägt. Der Rodel-Olympiasieger von 1988 war schon einmal Skeleton-Bundestrainer, von 2002 bis 2006, danach wechselte er beim Bob- und Schlittenverband für Deutschland (BSD) auf die Position des Wissenschaftskoordinators; seit vorigem April ist er nun beides. Und hat seitdem schon mehr bewegt als in seiner ersten Amtszeit. "Früher waren zwar auch einzelne Erfolge da", sagt die Berchtesgadenerin Anja Huber, 25, "aber als Mannschaft waren wir nie so erfolgreich wie jetzt."

Bei den Männern haben die deutschen Fahrer in diesem Winter bislang alle Weltcup-Rennen gewonnen, Florian Grassl (Königssee) das erste, Frank Rommel (Zella-Mehlis) die übrigen vier, dazu die Europameisterschaft in St. Moritz. Dass in der Weltcup-Gesamtwertung dennoch der Russe Alexander Tretjakow knapp vor den BSD-Athleten führt, liegt daran, dass Rommel im ersten Rennen disqualifiziert wurde und ohne Punkte blieb, und Grassl zuletzt eine Ellbogenverletzung behinderte. Bei den Frauen ist die Situation ähnlich: In Huber und Marion Trott (Oberhof), der EM-Zweiten, liegen zwei Deutsche auf den Plätzen zwei und drei (hinter der Britin Shelley Rudman). Die Bilanz könnte noch besser aussehen, hätte die in diesem Winter bereits dreimal siegreiche Huber zuletzt in St. Moritz nicht die falschen Kufen gewählt und nur einen Platz im Mittelfeld belegt, und hätte sich Kerstin Szymkowiak (vormals Jürgens) nach drei zweiten Plätzen zu Saisonbeginn nicht einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zugezogen, der sie zum Aussetzen zwang.

Allen Blessuren zum Trotz - so massiv wie in diesem Winter sind die deutschen Skeleton-Piloten dennoch nie zuvor in die Weltspitze eingedrungen. Jens Müller führt das vor allem darauf zurück, dass es ihm gelungen ist, die Athleten zu einem Team zu formen: "Ich habe ihnen gesagt, wenn wir nach vorne wollen, müssen wir erst mal unseren Rückstand aufholen. Und das geht nur, wenn alle zusammenarbeiten." Wie beim Bob und Rodeln gibt es auch im Skeleton hierzulande etliche regionale Stützpunkte, "an denen es verschiedene Auffassungen gab, was gut und was schlecht ist", erzählt Müller. Und diese Auffassungen behielt außerdem jeder für sich.

Nun hat der Bundestrainer alle auf eine gemeinsame Linie gebracht. Die Athleten besprechen, was früher undenkbar war, an welchen Stellen sie welche Probleme haben, mit welchem Material sie zurechtkommen, mit welchem nicht. "Man kommt dadurch schneller zu einem besseren Ergebnis, bessert Fahrfehler effektiver aus", hat Florian Grassl erkannt: "Das Rennen fährt zwar weiter jeder für sich, aber bis zum Start arbeiten wir zusammen und geben uns noch Tipps."

Zudem hat Jens Müller auch das Material vereinheitlicht. Alle Schlitten werden nun vom Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Leipzig geliefert. Auch als Wissenschaftskoordinator hat der Bundestrainer da offenbar gute Arbeit geleistet. "Ich wollte den neuen Schlitten erst mal nur ausprobieren", berichtet Anja Huber, "aber dann bin ich gleich so gut damit zurechtgekommen, dass ich mein altes Gerät in die Ecke gestellt habe." Und mit dem ist sie im vorigen Februar immerhin Weltmeisterin geworden.

"Wenn die Athleten erst mal sehen, dass etwas funktioniert, ziehen sie auch mit", sagt Jens Müller, und Florian Grassl bestätigt: "Man hat gleich beim ersten Rennen in Winterberg gesehen, dass es läuft." Das, so glaubt Müller, habe seinen Skeletonis gleich die nötige Selbstsicherheit gegeben, auf denen die bisherigen Erfolge ebenfalls basieren. Der Nordamerika-Tournee sieht er jedenfalls "eigentlich optimistisch" entgegen: "Vom Grundsatz her sollten wir vorne mitkämpfen können." Und wenn es dieses Jahr noch nicht klappt mit den Medaillen, so hat seine junge Mannschaft zumindest wieder etwas Erfahrung fürs nächste gesammelt. Joachim Mölter

Florian Grassl Foto: AP

Tempo aufgenommen: Anja Huber, Weltmeisterin 2008, hat ihr Können in diesem Winter mit drei Weltcupsiegen bestätigt. Foto: ddp

Frank Rommel Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Trainer, die ausrasten

Kopfnuss und Granate

Es war ein skurriles Bild, das sich den Handballfans am vergangenen Samstag bot. Handball-Bundestrainer Heiner Brand, der mit seinem Schnurrbart und den traurigen Augen immer guckt wie ein Seelöwe, dem man das Bellen verboten hat - dieser Heiner Brand vergaß nach dem Schlusspfiff im WM-Spiel gegen Norwegen kurzzeitig, dass seine Hüfte eine künstliche ist und sein rechter Arm nicht zu einer Geraden taugt. Er stürmte mit erhobener Faust auf Schiedsrichter Peter Ljubic zu. Die Halsschlagader stand kurz vor dem Platzen, die Augen waren weit aufgerissen. Dieser Heiner Brand sah nun nicht mehr aus wie Heiner Brand, sondern zuerst wie ein Bulle im Testosteron-Rausch. Danach schlich er hinter den Unparteiischen her wie ein Panther auf Beutezug.

Brand muss sich nicht grämen, es gibt in der Geschichte des Sports noch andere Kandidaten, die mit verschiedensten Formen der Wut auf sich aufmerksam machten - und für weit mehr Ärger oder Gelächter sorgten als Brand. Im Fußball gibt es natürlich die Verbaltäter Rudi Völler, Giovanni Trappattoni und Thomas Doll, die es nicht während des Spiels zu Ausrastern schafften, dafür aber auf Pressekonferenzen und bei Interviews gegen alles zeterten, was da so rumsaß.

Vujovic tritt

Der Titel des dümmsten Fußballtrainer-Ausrasters geht an den Fußballtrainer Norbert Meier, der beim Spiel Duisburg gegen Köln dem gegnerischen Spieler Albert Streit zuerst eine Kopfnuss verpasste, sich dann aber fallen ließ, als hätte ihn Mike Tyson höchstselbst niedergestreckt. Die Fehltritte der Trainer in Deutschland sind jedoch laue Lüftchen gegen das, was sich Kollegen im Ausland geleistet haben. Brands mazedonischer Kollege Veselin Vujovic war verantwortlich für einen der gewalttätigsten Wutanfälle in der Geschichte des Sports. Während seiner Zeit beim europäischen Spitzenklub Ciudad Real schlug er beim Spiel gegen Flensburg zuerst den Linksaußen Lars Christiansen nieder, bevor er den am Boden liegenden Lars Krogh Jeppesen mit Tritten versorgte. Geläutert wurde Vujovic durch die einjährige Strafe nicht: Im Dezember attackierte er beim Europacup-Spiel zwischen Skopje und Schaffhausen einen Schiedsrichter.

Kinnear flucht

Die Völlers und Dolls sind niedliche Ansprachen gegen die Worte, die der britische Trainer Joe Kinnear von Newcastle United in einem Interview mit dem Daily Mirror unterbrachte. 52 Schimpfwörter verpackte er in weniger als fünf Minuten. Zwei Monate später beleidigte er den Schiedsrichter beim Spiel gegen Stoke City so sehr, dass er auf die Tribüne geschickt wurde - seitdem trägt er in England den Namen "Fucking" Kinnear.

Den spektakulärsten Wutausbruch eines Trainers gab es am 1. Juni 2007 in den USA. Phil Wellman, Chefcoach des Zweitliga-Baseballteams Mississippi Braves, war über eine Entscheidung des Schiedsrichters so erbost, dass er zuerst herumschrie und das Schlagmal einbuddelte. Danach schraubte er zwei Bases aus dem Boden und warf sie über das Spielfeld, garniert mit obszönen Rufen in Richtung der Unparteiischen. Anschließend schlich er wie ein Soldat über das Spielfeld, krabbelte in die Mitte und bewarf den Schiedsrichter mit einem Kreidesäckchen - wobei er simulierte, dass es eine Handgranate sei. Er beendete seine Vorstellung, indem er eine Kleine-Mädchen-Pantomime aufführte und die beiden herausgeschraubten Bases aus dem Stadion trug. Das Publikum war begeistert, Wellman ist immer noch Trainer der Mannschaft.

Verglichen damit war die Aktion von Heiner Brand ein kleines Wutanfällchen. Trainer in Deutschland rasten eben nicht so spektakulär aus wie die ausländischen Kollegen. Obwohl: Wann macht Oliver Kahn seinen Trainerschein? Jürgen Schmieder

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

DOSB antwortet Leichtathleten

Goldmann ging die Brücke nicht

München (sid/dpa/SZ) - Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat am Dienstag bekräftigt, dass es im Umgang mit Doping-Delikten von DDR-Trainern keine Amnestie geben werde. In einer Reaktion auf den Offenen Brief von 20 Athleten nach der Entlassung von Kugelstoß-Bundestrainer Werner Goldmann (Berlin) räumten Präsident Thomas Bach und Generaldirektor Michael Vesper beim Thema der Aufarbeitung der deutschen Sportgeschichte ein: "Mag sein, dass das früher hätte geschehen müssen", verbunden allerdings mit dem Hinweis, den DOSB als Nachfolge-Organisation von Sport-Bund und Nationalem Olympischem Komitee gebe es erst zweieinhalb Jahre. Bach und Vesper stellen fest, wenn Werner Goldmann den Mut gehabt hätte, seine Beteiligung am DDR-Dopingsystem einzugestehen und zu bedauern, wäre die vom DOSB eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission unter Vorsitz des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Steiner möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gekommen. Die Kommission habe "mehrere Brücken gebaut, über die Herr Goldmann aber leider nicht gehen wollte".

"Nicht gezwungen zu lügen"

Der DOSB bekräftigt, es werde keinen Schlussstrich oder allgemeine Amnestie geben, "weil wir diesen Teil der Geschichte des deutschen Sports nicht einfach ausblenden können". Andererseits solle niemand ein Leben lang für sein damaliges Fehlverhalten in Sachen Doping büßen. Wörtlich heißt es: "Jeder verdient eine zweite Chance, allerdings unter der dreifachen Bedingung, dass er seine Taten eingesteht, statt sie schönzureden, diese Taten aufrichtig bedauert, vor allem auch deswegen, weil sie bei den betroffenen Athletinnen und Athleten zu teilweise schweren Gesundheitsschädigungen geführt haben, und in den fast zwei Jahrzehnten, die seit der Wende vergangen sind, glaubwürdig einen anderen Weg eingeschlagen hat."

In der Antwort auf den Offenen Brief von Markus Bandekow, Ralf Bartels, Candy Bauer, Max Bedewitz, Oliver-Sven Buder, Franka Dietzsch, Andy Dittmar, Julia Fischer, Christoph Harting, Robert Harting, Sophie Kleeberg, Nadine Kleinert, Jessica Kolozei, Petra Lammert, Christina Obergföll, Gunnar Pfingsten, Marc Roos, Marco Schmidt, Peter Sack und David Storl schreibt der DOSB: "Wir können Ihre Haltung in Teilen durchaus verstehen, aber in den von Ihnen vorgeschlagenen Konsequenzen nicht nachvollziehen." Den Vorwurf, von Goldmann die Unterzeichnung einer "Ehrenerklärung" verlangt zu haben, "von der man weiß, dass sie nicht erfüllt werden kann", wies der DOSB zurück. "Uns in die Schuhe schieben zu wollen, dass jemand wahrheitswidrig eine Erklärung unterzeichnet, ist wirklich hanebüchen. Wir haben niemanden gezwungen zu lügen." Wer die vorgelegte Erklärung nicht guten Gewissens zu unterschreiben in der Lage gewesen sei, hätte sich an den DOSB wenden und dem Urteil der Kommission stellen können. "Im Fall von Stasi-Verstrickungen ist das übrigens vielfach geschehen. Auch da herrscht keine bornierte ,Kopf-ab-Mentalität', sondern die Bereitschaft, sich mit jedem Einzelfall ernsthaft und unter Abwägung aller Argumente auseinanderzusetzen."

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Ende der Indianer

Kleine lernen dazu, Mittelgroße finden Anschluss: Die Handballwelt rückt näher zusammen

Zadar - Es ist im Handball bekanntlich schwieriger, eine EM zu gewinnen als eine WM. Das liegt daran, dass beim Kontinentalturnier alle teilnehmenden Mannschaft wissen, wie man Handball spielt, was man bei den Weltturnieren nicht von allen Teams sagen kann. Australien zum Beispiel erfreut bei dieser WM in Kroatien die Zuschauer mit herrlich ineffektivem Spiel, mit Würfen, die teils gerade noch das gegnerische Tor erreichen, die teils, wenn sie wuchtiger sind, meterweit am Tor vorbeifliegen, und die manchmal, aber wirklich nur manchmal, den Weg am Torhüter vorbei ins Netz finden. Australien hat selbstverständlich noch kein Spiel gewonnen, die Vorrunde beendete das Team mit einer Tordifferenz von minus 130. In der Trostrunde, die den etwas hochtrabenden Namen President's Cup trägt, lief es etwas besser: Einen Punkt haben die tapferen Australier zwar nicht ergattert, aber immerhin eine Tordifferenz von nur noch minus 85 erspielt. Nun setzen sie ihre Hoffnung in das Spiel um Platz 23, in dem allerdings die ebenfalls punktlose Mannschaft aus Saudi-Arabien Favorit ist, was daran liegt, dass gegen Australien jeder Favorit ist.

Starke Brasilianer

Man kann also im Handball keineswegs behaupten, dass es keine Kleinen mehr gäbe, denn auch die Teams aus Kuwait oder Algerien waren in der Vorrunde chancenlos. Es ist jedoch zu beobachten, dass die Kleinen allmählich besser werden, und dass zudem die vormals mittelgroßen Handball-Nationen den Anschluss nach oben finden. Brasilien, das vormals stets aus der Halle geschossen wurde, hat sich in den vergangenen Jahren konstant weiterentwickelt und in der Vorrunde Serbien besiegt. Die Auswahl war ganz knapp davor, in die Hauptrunde einzuziehen - eine knappe Niederlage gegen die etablierten Ägypter verhinderte den Coup. Auch Argentinien spielt mittlerweile passablen Handball, und wenn nicht so viele Kubaner für andere Nationen anträten, wäre die kubanische Auswahl richtig ernst zu nehmen; so spielt sie immerhin gut mit. Was es zudem nicht mehr gibt, ist die Art von Taktik, die von den Europäern spöttisch "Indianerhandball" genannt wurde. Bei dieser Spielweise erwartet die verteidigende Mannschaft die Angreifer nicht am Kreis in einer 6-0- oder 5-1-Formation, sondern läuft munter zwischen den Gegnern hin und her und versucht, den Ball zu erhaschen. Erheiternd für das Publikum, aber für die Profi-Handballer aus den europäischen Ligen doch ein wenig enervierend, denn chancenlos waren die Indianerhandballer immer. Selbst Australien spielt zwar wenig effektiven, aber einigermaßen konventionellen Handball. Allerdings wirkte das Team vor sechs Jahren bei der WM in Portugal reifer als jetzt und ist somit die Ausnahme von der Regel. Alle anderen haben sich zum Teil beträchtlich weiterentwickelt, was die Etablierten nun spüren.

Den President's Cup haben die Deutschen bei ihrer Heim-WM 2007 eingeführt, damit die kleinen und mittelgroßen Nationen unter sich ein wenig spielen können, während die großen Teams den Titel auskämpfen. Nach der Vorrunde dieser WM fanden sich Mannschaften wie Spanien, immerhin Weltmeister 2005 und Olympiadritter 2008, Russland, Rumänien, Ägypten und Tunesien in der Trostrunde wieder. Es gibt mittlerweile mehr als zwölf sehr gute Nationalmannschaften in der Welt, diesmal haben die Südkoreaner, die Slowaken und die Mazedonier mit ihrem Hauptrundeneinzug überrascht - und natürlich mit dem Niveau ihres Spiels.

Der dänische Nationaltrainer Ulrik Wilbek sagt: "Die Möglichkeiten in der Welt des Handballs sind größer geworden, das ist bei dieser WM deutlich zu sehen." Mit einem feinen Lächeln fügt er an: "Man muss sich nur mal die Besetzung im President's Cup ansehen." Besonders beeindruckt den Dänen die Leistung der Mazedonier, die sich in der letzten Qualifikationsrunde zur WM gegen den Olympiazweiten Island durchsetzten. Von tausenden Fans wird die Mannschaft in Kroatien unterstützt, und getragen auf dieser Welle bietet sie bisweilen mitreißenden Handball.

Mazedoniens Anführer

Aus dem mazedonischen Kollektiv sticht ein Mann heraus: Der rechte Rückraumspieler Kiril Lazarov zeigt ein unfassliches Wurfrepertoire, er schleudert, legt, dreht, hämmert und hebt die Kugel ins Netz, er beherrscht das Brachiale ebenso wie das Feine, und manchmal, wenn er durch die Luft fliegt, wirkt es, als schaue er sich nun aus der Höhe in Ruhe an, in welche Ecke der Torwart sich bewegt, um den Ball dann in die andere zu werfen. Zehn Tore erzielt er bei dieser WM im Schnitt pro Spiel, deutlich mehr als jeder andere. Das klingt nach einem Egoisten, aber Lazarov hat auch die zweitmeisten direkten Torvorlagen des Turniers gegeben. Er spielt in Kroatien bei RK Zagreb, er hat allen Einbürgerungsangeboten der Kroaten widerstanden und ist nun Kopf einer mazedonischen Nationalmannschaft, die, wenn sie sich so weiterentwickelt, bald auch ganz oben mitspielen kann. Der brillante Lazarov ist jedenfalls erst 28 Jahre alt, er kann das Team noch durch einige Turniere führen. Christian Zaschke

Er schleudert, legt, dreht, hämmert, hebt die Kugel ins Tor: Kiril Lazarov, der Mazedonier mit dem unfasslichen Wurfrepertoire Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tennis für Triathleten

Hitzerekord, Ärztemangel, Aufgabenflut: Die Australian Open werden zum ultimativen Fitness-Test - Spieler fordern Regeländerungen

Melbourne - Novak Djokovic ging es gar nicht gut. Er war blass. Wackelig auf den Beinen. Unkonzentriert. Er ließ den Physiotherapeuten kommen. Der rieb ihn mit Eiswürfeln ab. Erst die Beine, dann die Arme, schließlich den Nacken. Es half alles nichts. Wenig später gab der Titelverteidiger auf. Im Viertelfinale gegen Andy Roddick. Beim Stand von 6:7, 6:4, 6:2 und 2:1. Und gut 30 Grad. Offizielle Begründung: "Krämpfe" und "Schmerzen im ganzen Körper". "Die Bedingungen waren heute extrem. Das hat mir mehr zu schaffen gemacht als ihm", gab Djokovic zu. Andy Roddick hat sich im Winter Larry Stefanki als neuen Trainer gesucht. Der schaute sich den 26-Jährigen an, der 1,88 Meter misst und 88 Kilogramm wog, und verfügte: "Du musst abnehmen!" Sechs Wochen lang hielt Roddick Diät. Dann war er sieben Kilogramm leichter. Seit er den Ballast los ist, ist er noch selbstbewusster. "Ich dachte, die Bedingungen würden heute noch schlimmer werden", sagte Roddick, als Djokovic von der Bühne gewankt war. Die Australian Open als ultimativer Fitness-Test. Das Thema wird in den nächsten Tagen noch häufiger aufkommen.

Premier lädt zum Wettergipfel

Der Januar war der trockenste, den Melbourne seit 70 Jahren erlebt hat. Kein Regen. Und jetzt zieht auch noch eine Hitzewelle auf. Für den Mittwoch sind 41 Grad vorhergesagt. Donnerstag, Freitag und Samstag soll es 40 Grad geben. So lange so heiß gewesen ist es zuletzt 1908. Im Spielerbereich steht eine Tafel, auf der angezeigt wird, wie hoch das Thermometer klettern wird. Von nun an wird er im leuchtend roten Bereich bleiben. Der Premierminister des Bundesstaates hat wegen des Wetters alle Hilfskräfte zu einem Krisengipfel gebeten. Die Elektrizitätswerke rüsten sich dafür, dass die Klimaanlagen in den nächsten Tagen viel mehr Strom ziehen werden.

Für derlei extreme Bedingungen gibt es beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres spezielle Regeln: Die Dächer der Arenen werden geschlossen, um die Sonne abzuhalten. Die Frauen dürfen vor dem dritten Satz eine Pause einlegen. So weit war es Dienstag noch nicht. Als sich die Französin Marion Bartoli und die Russin Wera Swonarewa um 13.15 Uhr zum Viertelfinale in der Rod Laver Arena einfanden, zeigte die Quecksilbersäule noch moderate 25 Grad. Die Arena war offen, es rührte sich kein Lüftchen. Je länger die Begegnung dauerte, desto wärmer wurde es - und desto eindeutiger hatte die offenbar fittere Spielerin Vorteile. Am Ende erzählte das Ergebnis alles, was es vom Spielverlauf zu berichten gab: Nachdem sie 1:3 zurückgelegen hatte, deklassierte Swonarewa Bartoli noch 6:3 und 6:0. "Es war wirklich heiß da draußen", jammerte Bartoli: "Ich finde es unfair, ein Viertelfinale um eins anzusetzen und das andere um halb acht."

Nach Sonnenuntergang war der Auftritt von Publikumsliebling Jelena Dokic anberaumt. Die Abendfrische half der Australierin, die bereits vier Drei-Satz-Kämpfe hinter sich hatte, auch die Partie gegen die Nummer drei der Weltrangliste ausgeglichen zu gestalten. Safina benötigte fast zweieinhalb Stunden, bis sie Dokic 6:4, 4:6 und 6:4 niedergerungen hatte. "Am Tag hätte es vielleicht ein wenig anders ausgesehen", gab die Schwester von Marat Safin zu, die sich in den vergangenen acht Monaten eine Figur wie eine Triathletin zugelegt hat: schlank, sehnig, kein Gramm zu viel. Sieben Kilogramm hat Safina seit Mai 2008 abgenommen. "Wenn ich einen schweren Ball in die Hand nehme und damit laufe, kann ich kaum glauben, dass ich das früher die ganze Zeit mit mir herumgeschleppt habe", sagt die 22-Jährige.

Die meisten Tennisspieler sind Sensibelchen. Über den Spielplan wird immer gerne gemeckert. So viele Beschwerden wie in den vergangenen Tagen hat es über die Ansetzung aber selten gegeben. Vorjahres-Sieger Djokovic setzte sich an die Spitze der Bewegung. Nach seinem Ausscheiden klagte er: "Ich habe die Veranstalter gebeten, mich am Abend spielen zu lassen. Keine Ahnung, was dagegen sprach." Sein Achtelfinale gegen Marcos Baghdatis war in der Nacht zum Montag erst um halb drei Uhr morgens zu Ende gegangen. Bis er die Pressekonferenz absolviert hatte, etwas gegessen hatte und sich hatte massieren lassen, war die Sonne schon wieder aufgegangen. "An Training war am nächsten Tag nicht zu denken", schimpfte Novak Djokovic. Kein Wunder, dass er Roddick unter der sengenden Sonne nicht mit breiter Brust entgegengetreten sei. Der Amerikaner, der keineswegs als Djokovics Freund gilt, hatte teilweise Verständnis. "Nach einer Nachtschicht so früh wieder antreten zu müssen, ist hart", sagt Roddick.

Federer bleibt locker

Schon werden Rufe nach Konsequenzen laut. "Die Organisatoren sollten mehr auf uns hören", fordert Djokovic: "Mir tun die Zuschauer leid. Niemand zahlt Eintritt, um zu sehen, wie ein Spieler aufgibt." Schon vor der Hitzewelle waren auffallend viele Matches nicht zu Ende gespielt worden. Die Weißrussin Viktoria Asarenka brach am Montag im Achtelfinale gegen Serena Williams zusammen, nachdem sie den ersten Satz gewonnen hatte. Die 19-Jährige hatte sich ein Magenvirus eingefangen. Zeitgleich konnte die Chinesin Zheng Jie ihr Achtelfinale gegen Swetlana Kusnetsowa nicht zu Ende spielen, weil sie auf ihr Handgelenk stürzte. Gaël Monfils' Duell mit Gilles Simon beendete ebenfalls eine Verletzung. Es sieht fast so aus, als würde am Ende derjenige die Trophäe bekommen, der sie überhaupt noch halten kann. Als Tomas Berdych in seinem Achtelfinale gegen Roger Federer einen Physiotherapeuten rufen lassen wollte, bekam der Tscheche vom Schiedsrichter zu hören: Einen Moment Geduld, bitte! Im Moment ist keiner verfügbar.

Die vielen Behandlungen bringen die Protagonisten ins Grübeln. Andy Roddick forderte nach dem Erlebnis gegen Djokovic Regeländerungen. "Als ich zu ihm geschaut habe, habe ich gesehen, wie er an der Wade massiert wurde, am Nacken und am Arm. Ich dachte immer, pro Auszeit darf nur eine Verletzung behandelt werden." Nach Djokovics Auszeit hatte Roddick Aufschlag. Ihm unterliefen in dem Spiel drei Doppelfehler. "Wenn man eine halbe Stunde Laufen war, sich zwölf Minuten aufs Sofa setzt und dann wieder sprinten soll, fühlt man sich furchtbar", beschrieb Roddick das Erlebnis. Um es künftig nicht mehr haben zu müssen, fordert er: "Auszeiten nur noch vor dem eigenen Aufschlag!"

Taktische Spielchen mit Verletzungen sind keine Seltenheit. Und Djokovic gilt als heißer Kandidat dafür. "Er hat nicht zum ersten Mal aufgegeben", ist Roger Federer aufgefallen, der meint: "Die Regeln werden missbraucht. Darüber sollten wir reden." Der dreimalige Australian-Open-Champion besiegte am Dienstag im letzten Spiel des Tages den sieben Jahre jüngeren Argentinier Juan Martin Del Potro locker 6:3, 6:0, 6:0. Die Bedingungen spielten dabei keine Rolle. Es hatte angenehme 25 Grad. Federer hatte zuvor gesagt, Tag oder Nacht, Sonne oder Schatten - das sei ihm egal. "Wir Tennisspieler sollten für all das gebaut sein", findet der Schweizer.René Hofmann

Es ist heiß in Melbourne: Titelverteidiger Novak Djokovic (links) leidet darunter und gibt im Viertelfinale gegen Andy Roddick auf. Der Serbe hat Silvester in Europa verbracht und kurz vor dem Turnier den Schläger gewechselt. Mit dem frühen Aus bezahlt er für die mäßige Vorbereitung. Dinara Safina (oben) liefert das Gegenbeispiel: Die Russin hat in den vergangenen acht Monaten extrem hart an ihrer Fitness gearbeitet und sieben Kilogramm abgenommen. Das half der 22-Jährigen, auf dem Weg ins Halbfinale drei Drei-Satz-Matches zu gewinnen. Die Fans feiern das gute Wetter auf ihre Weise - manche mit Beifall in der Badehose. Fotos: Reuters (2), dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Altmodischer Quotenkönig

Alexander Frei passt nicht ins Konzept von BVB-Trainer Klopp - aber seine Torgefahr wird noch gebraucht

Dortmund - Wenn Alex Frei sauer ist, was im letzten halben Jahr besonders oft der Fall war, dann gehen ihm selbst die Wände im Kabinentrakt des Dortmunder Stadions am besten aus dem Weg. Meist schafft Frei es an solchen Tagen, mit knappem oder auch gar keinem Gruß an einem vorbeizuschleichen - manchmal schafft er es aber auch nicht. Dann zischt er düstere Sätze wie, dass er nie so schnell werde wie Stürmer-Konkurrent Jakub "Kuba" Blasczykowski und nie so viel rennen könne wie sein Stürmer-Konkurrent Nelson Valdez. Aber jeder kenne doch seine eigenen Stärken. Und irgendwie klingt an solchen Tagen jeder Silbe wie "Lasst mich bloß in Ruhe".

Alexander, genannt Alex Frei, ist Dortmunds Spieler mit dem vermeintlich höchsten Marktwert (geschätzte neun Millionen Euro), er hat unter allen europäischen Nationalspielern die zweitbeste Trefferquote (35 Tore für die Schweiz; nur übertroffen vom Franzosen Thierry Henry, aber weit vor dem Portugiesen Cristiano Ronaldo) und hat in 57 Spielen für den BVB bisher bemerkenswerte 26 Tore erzielt. Aber in letzter Zeit ist alles anders und Frei meist so sauer, dass Unterhaltungen oft unerfreulich sind.

Das Ungemach begann im vergangenen Sommer, als sich der Torjäger und Kapitän der Schweizer Nati gleich im ersten Spiel der EM eine so schwere Knieverletzung einhandelte, dass er anschließend zweimal operiert werden musste und sich die Reha länger hinzog, als der ungeduldige Frei ertragen konnte. Während der Schweizer noch am Stock ging, musste er mit ansehen, wie unter dem neuen Dortmunder Trainer Jürgen Klopp auf einmal nichts mehr so sein sollte, wie es vorher war. Klopp gab das Schlagwort vom "jagenden Stürmer" aus. Typen wie Valdez, Kuba oder der spezielle Klopp-Schützling Mohamed Zidan passen in dieses Anforderungsprofil weit besser als selbst ein gesunder Frei. Geschweige denn einer, der noch um seine Fitness und seine Form und sein Selbstwertgefühl ringt.

An diesem Mittwoch, an dem der BVB mit dem Pokal-Prolog gegen Werder Bremen in die Rückrunde startet, kann Frei wohl davon ausgehen, dass er auflaufen darf (vermutlich neben Zidan). Das lindert den latenten Zwist mit dem Trainer Klopp. Aber wenn die angeschlagenen Valdez und Kuba wieder gesund sind, muss Frei wieder mit einem offenen Konkurrenzkampf rechnen, der ihm schwer auf die Stimmung schlägt, sobald er nicht das bessere Ende für sich hat.

"Das System von Jürgen Klopp ist für mich neu", gibt Frei zu, "es bedeutet für mich eine Umstellung. Aber das ist kein Problem." Das System von Klopp spiegelt schließlich nur die Idee von modernem Spiel wider: Stürmer pressen unverzüglich gegen den in Ballbesitz gekommenen Gegner und versuchen, den Ball zu erobern. Die Zeiten, in denen Stürmer ihre Energien einzig und allein für den entscheidenden Moment des Torschusses reservieren durften, sind in dieser Spielidee nicht mehr vorgesehen. Einer wie Frei, der zwar ein fleißiger Spieler ist, aber nie an die Laufwerte von Team-Kollegen wie Tamas Hajnal oder Florian Kringe heranreichen wird, wäre in so einem System zum Scheitern verurteilt.

Aber will Klopp das? Publikumsliebling Frei hat zwar in der Hinrunde auch nur vier Tore erzielt und war offenkundig körperlich noch nicht fit - aber seine drei Stürmerkollegen gelten als mehr oder weniger schlimme Chancen-Killer. Valdez brachte es auf zwei Tore, Zidan immerhin auf vier und Kuba auf ein einziges. In der internen BVB-Torschützenliste führt Innenverteidiger Neven Subotic mit fünf Treffern. Selbst der selten eingesetzte Innenverteidiger-Ersatz Felipe Santana (drei Tore) trifft öfter als die Konkurrenten von Frei. Auf nichts weist Frei deshalb so gerne hin wie auf seine Torquote, die ihn vor ein paar Jahren zum Torjäger-König der französischen Liga machte. Kein Wunder, dass die Schweizer Boulevardzeitung Blick den Nationalhelden Frei auffordert: "Wann stopft er Klopp endlich das Maul!"

BVB-Boss Hans-Joachim Watzke hat Frei damals persönlich in Frankreich losgeeist und sieht ihn als "Mann mit eingebauter Torgarantie". Aber die Mannschaft stellt Klopp auf. "Es ist normal, dass man als Trainer bei einem Profi mal höher und mal schlechter in Kurs steht", sagt der Trainer, "aber es gab für mich in meiner Trainer-Laufbahn noch nie eine persönlich gefärbte Entscheidung." Jetzt, da Frei fit sei, hätten sich seine Einsatzchancen erheblich verbessert.

Kann sein, dass Klopp damit auch sein eigenes, systemimmanentes Dilemma beschreibt: Zumindest zwei seiner "jagenden Stürmer" sind so torungefährlich, dass selbst der Masseur auf der Bank kaum weniger bedrohlich für den Gegner wirkt. Frei dagegen versteht sich als altmodischer Stürmer: Seine Schusstechnik bei ruhendem Ball gehört zu den besten in Europa, er lauert und trifft und ist ein Egoist - wie alle Torjäger. Klopp weiß das alles. Fragt sich nur, was ihm wichtiger ist: Freis Tore aus dem Nichts oder die disziplinierte Abwehrarbeit seiner Sturm-Kontrahenten. "Wir jedenfalls", sagt Vorstandschef Watzke, "haben keinerlei Absichten, Alex abzugeben." Aber wie lange Frei sich noch auf die Bank setzen würde, das weiß auch Watzke nicht. Freddie Röckenhaus

DFB-Pokal, Achtelfinale

Dienstag

Carl Zeiss Jena - Schalke 04

Hamburger SV - 1860 München

SC Freiburg - FSV Mainz 05

VfB Stuttgart - Bayern München

Mittwoch

Borussia Dortmund - Werder Bremen 19.00 Uhr

Bayer Leverkusen - Energie Cottbus 19.00 Uhr

VfL Wolfsburg - Hansa Rostock 20.30 Uhr

Karlsruher SC - SV Wehen Wiesbaden 20.30 Uhr

Der Nachteil an einem klassischen Stürmer ist, dass er kein modernes Pressing spielt. Der Vorteil: Er schießt viele Tore - wie Dortmunds Alex Frei. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kölsch im Altbier-Paradies

Zum Pokal zieht Leverkusen erstmals nach Düsseldorf um

Der Weg zum Erfolg führt von der Anschlussstelle Opladen über die Autobahnen 3 und 44 bis zur Ausfahrt Düsseldorf-Messe/Arena. Die Distanz beträgt 49 Kilometer. Die Fahrt dauert 40 Minuten. So weit haben es die Fußballer von Bayer Leverkusen ab sofort zu ihren Heimspielen. Am Ziel steht eine überdach- und klimatisierbare Arena, die für WM-Spiele, Olympia-Events und Bundesliga-Fußball gebaut worden war. Doch nur Letzteres geht jetzt in Erfüllung, vier Jahre nach der Fertigstellung und auch nur für vier Monate. Während Fortuna Düsseldorf schon das fünfte Jahr nacheinander in der dritten Liga spielt, zieht Erstligist Bayer Leverkusen für seine Rückrundenpartien nach Düsseldorf um. Die Arena daheim in Leverkusen wird aufwändig renoviert und die Kapazität von 22 500 auf 30 000 Plätze erweitert. Die Generalprobe für die acht Bundesliga-Heimspiele in Düsseldorf absolvieren die Leverkusener an diesem Mittwochabend im DFB-Pokal-Achtelfinale gegen den Ligakonkurrenten Energie Cottbus.

Leverkusen will nach einem Jahr der internationalen Absenz wieder in den Europapokal, entweder über die Bundesliga oder über den Pokal. Aber von Heimvorteil kann dabei nicht direkt die Rede sein. Nach mehr als sechs Jahren und 14 Pokalspielen nacheinander auf auswärtigen Plätzen hat der Verein ausgerechnet jetzt einen Heimauftritt zugelost bekommen - jetzt, da "Heim" Düsseldorf bedeutet. Seit dem 3. Dezember 2002 (2:1 gegen den SV Waldhof) hat die Leverkusener Arena kein Pokalspiel mehr gesehen, und das wird mindestens bis zum Beginn der neuen Wettbewerbsrunde und zur Fertigstellung des Stadionumbaus im August so bleiben.

Fotos in der Kabine

Ob die ungewohnten Katakomben, das fremde Stadion und das angereiste Heimpublikum den Leverkusenern in Düsseldorf zum Nachteil gereichen, ist die Frage. Am Dienstag wurde die Spielerkabine in den Leverkusener Farben Schwarz und Rot koloriert und mit Fotos ausgeschmückt. Dem Publikum wird ein paar Etagen höher in den äußeren Wandelgängen während des Spiels sogar Kölsch verkauft. Was im Altbier-Paradies Düsseldorf sonst verpönt ist, soll bei der Leverkusener Kundschaft Heimatgefühle wecken. Die Fans sollen weder Kosten noch Mühen scheuen und ihren Fußballern treu bleiben. "Bei einem Schnitt von 23 000 Zuschauern pro Spiel wären die Kosten für den Umzug gedeckt", sagt Bayer Leverkusens Marketingchef Meinolf Sprink. 15 000 Karten wurden schon im Vorfeld für das Pokalspiel gegen Cottbus verkauft. Für das erste Bundesliga-Heimspiel gegen den VfB Stuttgart am übernächsten Samstag rechnen die Leverkusener sogar mit 30 000 Besuchern.

Ein Euro an die Fortuna

Die Arena in Düsseldorf ist mit 51 000 Plätzen mehr als doppelt so groß wie das Leverkusener Stadion vor dem Umbau. Ein Euro von jeder verkauften Tageskarte in den nächsten vier Monaten geht als Solidaritätsbeitrag an den klammen Drittligisten Fortuna. Doch die Funktionäre des versunkenen Düsseldorfer Traditionsklubs sehen noch mehr Chancen durch das Gastspiel des Bundesligisten. "Ich hoffe, dass Bayer Leverkusen der Düsseldorfer Wirtschaft Lust auf Erstliga-Fußball macht", sagt Fortunas Manager Wolf Werner.

Für Bayer ist der Umzug in die erweiterte Nachbarschaft "ein Abenteuer", wie Sportdirektor Rudi Völler zugibt. Als Wettbewerbsnachteil mag er die Gastspiele nicht betrachten. "Auswärts haben wir in der Hinrunde sogar häufiger gewonnen als zu Hause", sagt er. Fünfmal daheim sowie siebenmal auswärts hat Bayer in der Bundesliga und im Pokal in dieser Saison gewonnen. Sorgen macht sich Leverkusens Trainer Bruno Labbadia allenfalls um die in der hoch gebauten Düsseldorfer Arena von Sonne und Wind vernachlässigten Grashalme. "Wir spielen einen Fußball, für den der Zustand des Rasens sehr wichtig ist", sagt der Bayer-Trainer. Ob das flotte Kombinationsspiel auch auf lädiertem Untergrund funktioniert, darüber wird das Pokalspiel gegen Cottbus erste Aufschlüsse geben.

Die Lausitzer sehen dagegen nicht zuletzt durch den neutralen Austragungsort gute Chancen auf einen Überraschungserfolg. Trainer Bojan Prasnikar hat im Training bereits intensiv Elfmeter üben lassen. Das erste Pflichtspiel-Duell zweier Fußball-Bundesligisten in Düsseldorf seit Mai 1997 könnte also ein Krimi mit Überlänge werden. Ulrich Hartmann

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Geld für alle

Die japanische Regierung will die Konjunktur mit einem Hilfspaket von 40 Milliarden Euro ankurbeln. Die Verbraucher sollen Einmalzahlungen erhalten

Von Christoph Neidhart

Tokio - Japans Unterhaus hat am Dienstag dem zweiten Konjunkturpaket der Regierung von Premier Taro Aso zugestimmt. Mit 4,8 Billionen Yen will Aso Japans Wirtschaft ankurbeln, etwa 40 Milliarden Euro. Sein Paket umfasst Hilfskredite für kleine und mittlere Betriebe, eine Reduzierung der Autobahnmaut, Steuererleichterungen, unter anderem für Hauskäufer, Stützbeträge für wackelnde Finanzinstitute und 250 Milliarden Yen (2,1 Milliarden Euro) für Beschäftigungsprogramme. Dazu kommt noch die selbst im Kabinett umstrittene geplante Einmalzahlung an die Haushalte: Kinder unter acht Jahren und Rentner sollen je etwa 160 Euro in bar erhalten, Erwachsene im erwerbsfähigen Alter 100 Euro.

Das von der oppositionellen demokratischen Partei DPJ dominierte Oberhaus lehnte das Konjunkturpaket am Montag ab. Doch Japans Verfassung ermächtigt das Unterhaus, die kleine Kammer mit einer Zweidrittelmehrheit zu überstimmen. Gleichwohl wird Aso sein Paket vorerst nicht umsetzen können. Angesichts der enormen Verschuldung des japanischen Staates (mehr als das Anderthalbfache des Bruttoinlandsprodukts) müsste die Finanzierung des Hilfspakets mit neuen Gesetzen geregelt werden. Dazu müsste das Parlament frühere Sparentscheide aussetzen. Die Opposition machte bereits klar, dass sie sich hier querstellen wird. Sie wirft Aso vor, er wolle mit den Einmalzahlungen Stimmen kaufen für die spätestens im September fälligen Unterhauswahlen. Nach jüngsten Umfragen unterstützen nur noch 19 Prozent der Japaner seine Regierung.

Der letzte Schub

Selbst Abgeordnete von Asos eigener liberaldemokratischer Partei LDP bezeichnen die Einmalzahlung als Geldverschwendung. Jüngere LDP-Parlamentarier haben Anti-Aso-Gruppen gebildet. Ex-Minister Yoshimi Watanabe ist aus Protest gegen die Einmalzahlung aus der Partei ausgetreten. Statt die Wirtschaft zu stimulieren, könnte das Konjunkturpaket Asos Regierung zu Fall bringen.

Die Erfahrung von 1998 gibt Asos Kritikern recht. Damals wollte die Regierung von Premier Keizo Obuchi die stagnierende Wirtschaft mit einem Konjunkturpaket von 24 Billionen Yen (200 Milliarden Euro) stimulieren. 5,9 Milliarden Euro wurden direkt an 35 Millionen Haushalte bezahlt. Ein Jahr später musste Obuchi ein nächstes Paket schnüren. Das nannte man damals den "letzten Schub". Auch diesmal hat der verschuldete Staat kaum weitere Hebel, die Wirtschaft anzukurbeln. Japans Leitzinsen bewegen sich seit Jahren unter einem halben Prozent. Gleichwohl machte der Nikkei in Erwartung des Konjunkturpakets am Dienstag einen Sprung von 4,9 Prozent. Tokios Börse wird freilich stark von ausländischen Investoren beeinflusst, die sich nur per Überschriften informieren.

Japan steckt nach sieben Jahren bescheidenen Wachstums wieder in einer Rezession. Allerdings hat sich das Land von der Stagnation der neunziger Jahre nie erholt, die Inlandsnachfrage nie richtig angezogen. Das Wachstum verdankte man dem Export, nicht zuletzt nach China, und der zunehmenden wirtschaftlichen Integration mit dem Nachbarn.

Zur Stagnation der Inlandsnachfrage trägt auch die Demographie bei: Die Bevölkerung überaltert rasch, von den Jüngeren hat über ein Drittel nur schlechtbezahlte Zeitarbeiter-Jobs. Der größte Teil der enormen privaten Ersparnisse Japans wird von Rentnern kontrolliert. Die könnten zwar mehr konsumieren, neigen aber zum Sparen. Daran wird die Einmalzahlung nichts ändern, so die Gegner.

Japans Exportgrößen leiden nicht nur unter dem Einbruch der US-Nachfrage, sondern auch unter dem starken Yen. Seit dem Sommer hat er gegenüber dem Dollar um 20 Prozent zugelegt, der Euro hat mehr als 40 Prozent zum Yen verloren. Die Unterstützung des Unterhauses für das Konjunkturpaket ist nur ein politischer Sieg des Premiers. Obwohl Aso auf die Dringlichkeit seiner Maßnahmen pocht, wird bis März kaum Geld fließen - die Einmalzahlungen sicherlich nicht.

Auch die Rentner sollen vom Hilfspaket profitieren. Doch diese Bevölkerungsgruppe wird das Geld eher sparen als ausgeben, vermuten Skeptiker. Foto: AFP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Reiselust sinkt

Madrid - Die Wirtschaftskrise hat nun auch den Tourismus getroffen. Wie die Welttourismusorganisation (UNWTO) in Madrid mitteilte, erhöhte sich die Zahl der Urlauber 2008 im Vergleich zum Vorjahr zwar um zwei Prozent auf 924 Millionen, im zweiten Halbjahr gab es aber einen Rückgang um ein Prozent. Für 2009 sei bestenfalls eine Stagnation zu erwarten und schlimmstenfalls ein Minus von zwei Prozent, sagte der designierte UNWTO-Generalsekretär Taleb Rifai. Dies wäre der erste Rückgang seit 2003. Von 2004 bis 2007 hatte sich der internationale Tourismus mit jährlichen Zuwächsen der Urlauberzahl von durchschnittlich sieben Prozent noch auf Rekordniveau bewegt. Anfangs habe der Tourismus der Krise besser standgehalten als etwa die Bau- oder die Autoindustrie. Inzwischen mache sich aber auch diese Branche Sorgen. dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hochtief gibt in London auf

London - Der Baukonzern Hochtief hat sich Kreisen zufolge bereits nach der ersten Runde aus dem Bieterwettstreit um den Londoner Flughafen Gatwick wieder zurückgezogen. Nun verblieben noch fünf Bieter für die zweite Runde, hieß es. Hochtief war erst vor einer Woche in den Bieterkampf eingestiegen und hatte einer Sprecherin zufolge eine Offerte für Gatwick eingereicht. Hochtief kommentierte die Informationen nicht. Auch die Gatwick-Eigentümer, der britischen Flughafenbetreiber BAA, wollte sich nicht dazu äußern.

BAA betreibt insgesamt sieben Flughäfen, muss sich aber aus kartellrechtlichen Gründen von einigen trennen. Gatwick ist mit gut 34 Millionen Passagieren hinter Heathrow der zweitgrößte der drei Londoner BAA-Flughäfen und soll nun als erster verkauft werden. Der Baukonzern Hochtief verfügt bereits über eine Reihe von Flughafen-Beteiligungen, darunter in Düsseldorf und in Hamburg, aber auch in Athen, Budapest, Tirana und Sydney. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Billige Tarife, hoher Gewinn

E-Plus jagt den Konkurrenten mit Discountstrategie Kunden ab

Düsseldorf - Seit vier Jahren konzentriert sich E-Plus auf den Verkauf billiger Mobilfunktarife und gewinnt damit stetig Marktanteile von Konkurrenten wie T-Mobile, Vodafone oder O2. Vergangenes Jahr sei die Zahl der Kunden um ein Fünftel auf 17,8 Millionen in Deutschland angestiegen, sagte der Chef der KPN-Tochter Thorsten Dirk am Dienstag.

Der Mobilfunker steigerte seinen Gewinn auch, weil er fast ein Drittel weniger Geld für einen neuen Kunden ausgegeben hat. Möglich war dies, weil E-Plus die Zahl seiner eigenen Verkaufsshops um 200 auf 700 ausbaute. Anders als beim Verkauf über freie Händler muss das Unternehmen hier keine hohen Verkaufsprovisionen zahlen. Der operative Gewinn stieg im abgelaufenen Quartal um 14 Prozent auf 317 Millionen Euro. Allerdings sank der Gewinn je Kunde von 17 auf 15 Euro. Dies lag daran, dass Verbraucher für das mobile Telefonieren im vergangenen Jahr in Deutschland generell weniger zahlten. Die Tarife für Anrufe, SMS oder Datendienste sanken durchschnittlich um etwa zwei Prozent.

Mehr Kunden bedeutet eine höhere Auslastung für das Mobilfunknetz von E-Plus, diese stieg um ein Fünftel an. Gleichwohl will Dirks mit einem dreistelligen Millionenbetrag nur ebenso viel in den Netzausbau investieren wie im Vorjahr. Aus Kostengründen baut E-Plus sein Netz langsamer aus als andere Wettbewerber. Heute koste eine UMTS-Basisstation nur noch ein Drittel so viel wie 2004, sagte Dirks. Für Kunden von E-Plus bedeutet dies, dass beispielsweise der Datentransport in bestimmten Regionen langsamer ist als bei der Konkurrenz.

E-Plus bleibt Umsatz- und Gewinntreiber der Mutter KPN, die als Erste der großen europäischen Telekomgesellschaften Zahlen für das Schlussquartal vorlegte. Sie steigerte ihren operativen Gewinn um 5,3 Prozent auf 1,28 Milliarden Euro und traf die Erwartungen von Analysten. Die Aktie legte am Mittag um knapp drei Prozent auf 10,60 Euro zu. Bislang hat das Unternehmen kaum etwas von dem wirtschaftlichen Abschwung gespürt. Deshalb hält KPN an seiner Prognose für 2010 fest. dom

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Aktionärstreffen bei Siemens: Kritische Anteilseigner und ein neuer Partner in Russland

Die Löscher-Cromme-Show

Der Vorstandsvorsitzende und der Chef des Aufsichtsrats sind um gute Laune bemüht. Doch die Aktionäre kritisieren lieber die Gehaltserhöhungen

Von Karl-Heinz Büschemann

München - Wolfgang Niemann ist früh dran. Schon kurz nach acht Uhr steht der 67-Jährige an diesem nebeligen Morgen vor der Münchner Olympiahalle und spricht ins Mikrophon des ZDF. Ja, sagt der Vertreter des Vereins von Belegschaftsaktionären in der Siemens AG, er wolle auf der Hauptversammlung von Siemens Kritik üben an den viel zu hohen Gehältern von Vorstand und Aufsichtsrat. Die seien "in einem in keiner Weise vertretbaren Ausmaß angehoben worden", klagt der Mann, dessen Verein etwa 6000 Siemens-Belegschaftsaktionäre vertritt. Das sei zum Teil trickreich geschehen und verrate ein "erstaunliches Maß von Unsensibilität und Maßlosigkeit".

Dann strebt er in die Halle, um als einer der Ersten seine Karte für eine Wortmeldung abzugeben. Schüchtern steht der hagere Mann dann in der noch leeren Halle. Von 1970 bis 2006 sei er Mitarbeiter von Siemens gewesen, erzählt er, zwei Jahrzehnte davon als Betriebsrat. Stets sei ihm aufgefallen, dass auf den Hauptversammlungen die Interessen der Mitarbeiter zu kurz kommen: "Wir geben den Betriebsangehörigen eine Stimme." Es wird an diesem Dienstag lange dauern, bis Niemann an ein Mikrophon vorne im Saal treten kann. Denn die strenge Regie des Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Cromme hat Niemanns Wortmeldung weit in den Nachmittag geschoben.

Cromme, 65, der seit zwei Jahren Chef des Siemens-Aufsichtsrates ist und der den jetzigen Konzernchef Peter Löscher, 51, auf seinen Posten hob, haben anderes im Sinn. Sie wollen an diesem Vormittag das Signal aussenden, dass der Technologiekonzern die leidige Korruptionsaffäre hinter sich gelassen hat und dass der Konzern trotz der drohenden großen Wirtschaftskrise baumfest steht - kurz, dass Siemens wieder ein normales Unternehmen ist. "Nach zwei schwierigen Jahren steht Siemens wieder auf einem festen Fundament der Integrität", sagt der Aufsichtsratsvorsitzende, vor den knapp 10 000 Aktionären.

Unternehmenschef Löscher hat an diesem Tag die Rolle des Berufsoptimisten übernommen. Das Thema Korruption, sagt er am Rande der Versammlung, spiele in seinem Tagesablauf keine Rolle mehr. Gleichzeitig vermittelt er in der Olympiahalle auch den Eindruck, die allgemeine Finanz- und Wirtschaftskrise laufe an Siemens vorbei. Ein solches Maß an Optimismus ist schon überraschend, vor allem für den gebürtigen Österreicher, der stets so ernst dreinschaut. "Wir sind robust aufgestellt", sagt er. Er sehe "keinen Grund, in den Chor derer einzustimmen, die mit düsteren Äußerungen die Stimmung weiter in den Keller ziehen". Er sehe keinen Grund, die Gewinnziele für 2009 nach unten zu korrigieren, meint er trotzig.

In kleiner Runde erklärt er, dass er auch höherer Weisung folge, wenn er sich als einer der wenigen Optimisten zeige. Bundespräsident Horst Köhler habe ihm vor wenigen Tagen bei einem Abendessen ins Gewissen geredet und darum gebeten, nicht in das allgemeine Schwarzmalen mit einzustimmen. "Natürlich werden auch wir die Krise spüren", räumt Löscher ein. Siemens sei besser vorbereitet als andere, sagt er und strebt dann seinem Platz auf dem Podium zu.

Regisseur Cromme hat auch Theo Waigel zu dem Aktionärstreffen bestellt, den ehemaligen Bundesfinanzminister, der seit dem 1. Januar die neue Rolle des Chief Compliance Officer übernimmt. Der Politiker soll dafür sorgen, dass es bei Siemens nie wieder zu Korruption kommen kann. Bestens gelaunt gibt sich Waigel im Gespräch mit den heute versammelten Siemens-Honoratioren. Er gehe gerne an den Wittelsbacherplatz, schwärmt er.

Das sei doch der schönste Arbeitsplatz in München: "Die Arbeit macht Spaß." Er freue sich darauf, bei seinem nächsten Besuch bei den Justiz- und Börsenbehörden in Washington auf "ein paar alte Kumpels" zu treffen, die er noch aus seiner Ministerzeit kenne. Mancher bedauerte, dass Waigel auf der Hauptversammlung nicht redet. Vielleicht hätte Cromme seinen neuen Oberpolizisten auf die Rednerliste setzen sollen, denn so ganz geht seine Planung für diesen Tag nicht auf. Schon der erste Redner haut dem Aufsichtsratsvorsitzenden das Gehaltsthema um die Ohren. "Ich hätte mir in der Frage der Gehälter etwas mehr Bescheidenheit gewünscht", beklagt eine Aktionärsvertreterin. Ein Redner meint, für den Aufsichtsrat hätte angesichts der Klärung der Korruptionsaffäre auch eine einmalige Sonderzahlung gereicht.

Cromme ist sauer: Er fühlt sich missverstanden und wohl auch ungerecht behandelt. Die von den Belegschaftsaktionären verbreiteten Zahlen seien "falsch". Er müsse doch gute Leute für die Arbeit im Aufsichtsrat gewinnen. Solche Leute hätten ihren Preis. Bei Siemens gebe es zudem 1000 Leute, die mehr verdienten als er. "Ich könnte woanders mehr verdienen", mault Cromme noch, bevor er auf das Podium steigt, um die Hauptversammlung zu eröffnen.

Konzern-Chef Peter Löscher (links) und der Vorsitzende des Aufsichtsrats, Gerhard Cromme, auf dem Podium: "Siemens ist immer wieder gestärkt aus Krisen hervorgegangen", sagte Löscher. F.: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Treck nach Osten

Der Münchner Technologiekonzern arbeitet im Kernkraft-Geschäft nun mit Russen zusammen - die Firma Atomenergoprom wurde per Dekret des Staates geschaffen

Von Frank Nienhuysen

Moskau - Die Ostdrift von Siemens in der Atomwirtschaft wäre so radikal wie naheliegend. Russland setzt trotz seines Reservoirs an Öl und Gas auf die Kernenergie, und es gibt dort keine Grünen oder Sozialisten, die den Kurs der Regierung bremsen oder ändern könnten. Bis 2020 will Moskau die Zahl der heimischen Kernreaktoren von derzeit 31 auf 59 erhöhen, um so den Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung in den nächsten zehn Jahren auf knapp 25 Prozent zu erhöhen. Im Gegenzug wird der Gaskonzern Gazprom seinen Beitrag deutlich drosseln.

Erdgas teuer an den Westen zu verkaufen ist für den Konzern erheblich rentabler, als es für die heimische Stromgewinnung zu opfern. Profiteur dieser neuen Strategie ist auch Atomenergoprom, mit dem der deutsche Siemens-Konzern nun offenbar Geschäfte machen will. Eine Anfrage zur möglichen Zusammenarbeit ließ das russische Unternehmen am Dienstag zunächst unbeantwortet. Atomenergoprom ist erst vor zwei Jahren durch ein Dekret des damaligen Präsidenten Wladimir Putin gegründet worden. Putin wollte Ordnung in die unübersichtliche russische Atomindustrie bringen und straffte so die wilden Strukturen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ergeben hatten.

Atomenergoprom ist eine Holding vollständig in der Hand des russischen Staates und Teil des gewaltigen Apparates von Rosatom, das für den gesamten russischen Nuklearkomplex zuständig ist. Der Rosatom-Vorsitzende Sergej Kirijenko, unter Boris Jelzin einst russischer Ministerpräsident, ist zugleich Chef des Direktorenrats bei Atomenergoprom.

Der Wunschpartner vom Siemens konzentriert sich allein auf den zivilen Bereich, aber auch das ist eine umfangreiche Aufgabe. Atomenergoprom ist ein Konglomerat aus 89 verschiedenen Nuklear-Unternehmen, umfasst unter anderem den Betreiber der Kernkraftwerke, Energoatom, deren Hersteller Atomenergomasch, den Uran-Händler Tenex sowie den Konzern Atomstrojexport. Dessen Auftragsbücher sind besonders gut gefüllt, denn er verantwortet den Export und den Bau russischer Kernkraftwerke im Ausland, und davon gibt es in der Welt derzeit reichlich.

Atomstrojexport wirbt damit, dass er gerade in vier Ländern gleichzeitig Atommeiler baut und damit bereits 20 Prozent des Weltmarktes ausmache. Der umstrittene Reaktor im iranischen Buscher gehört dazu, Indien, China und Bulgarien sind weitere Abnehmer russischer Atomtechnik. Beim Bau des Kernkraftwerks im nordbulgarischen Belene ist Siemens ohnehin bereits Partner der Russen in einem Konsortium, dem auch Areva angehört. Und erst vor wenigen Tagen erhielt Atomstrojexport auch noch den Auftrag zum Bau des ersten Kernkraftwerks in Weißrussland, das 2016 ans Netz gehen soll.

Pikanterweise setzte sich das russische Unternehmen dabei gegen den französischen Konkurrenten Areva durch. Siemens trennt sich gerade von seiner Beteiligung an Areva. Atomenergoprom wäre also ein gewinnbringender Partner - in Russland, wo die Kernenergie auch dank der staatlich gelenkten Medien in keiner Weise in Frage gestellt wird, wie auch beim Export in energiehungrige Länder wie China und Indien. Mehr als sieben Milliarden Euro haben die Unternehmen der Holding nach eigenen Angaben allein von Januar bis September vergangenen Jahres erwirtschaftet. Dann kam die Finanz- und Wirtschaftskrise. Aber dies dürfte die Manager von Atomenergoprom nur bedingt umtreiben. Die Nachfrage nach Kernenergie ist offensichtlich sogar belebt worden. Unklar ist nur, inwieweit die russische Regierung ihre Investitionen aufrechterhalten kann, die in Milliardenhöhe in Nukleartechnik fließen sollen. Dem Land droht für 2009 die Rezession. (Kommentare)

Regenbogen über einem russischen Atomkraftwerk. Foto: Energoatom

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Büro sündteuer renoviert

John Thain, Ex-Chef von Merrill, zahlt 1,2 Millionen Dollar zurück

New York - Der zurückgetretene frühere Merrill-Lynch-Chef John Thain zeigt Reue wegen der millionenschweren Luxus-Renovierung seiner Büroräume. Er werde die Kosten persönlich erstatten, kündigte der 53-Jährige in einem US-Fernsehinterview an. Die Neuausstattung hatte rund 1,2 Millionen Dollar gekostet. Die Investmentbank Merrill Lynch wurde von der Bank of America übernommen. Nach einem überraschend hohen Milliardenverlust zum Jahresende 2008 trat Thain auf Druck der Bank of America letzte Woche zurück. Die Renovierung seines Büros sowie zweier Konferenzräume und eines Empfangsbereichs seien vor mehr als einem Jahr in einem wirtschaftlich "noch sehr anderen Umfeld" erfolgt, sagte Thain. "Dennoch waren sie aus heutiger Sicht ein Fehler", räumte er zuvor auch in einer E-Mail an seine früheren Kollegen ein.

Der Manager hatte die Übernahme seines wankenden Instituts im September 2008 eingefädelt. Der zunächst als Überraschungscoup gefeierte Zukauf wurde für die Bank of America zum Debakel. Merrill Lynchs jüngster Quartalsverlust von mehr als 15 Milliarden Dollar zwang die Bank of America, noch mehr staatliche Hilfen anzufordern. Auch Konzernchef Kenneth Lewis steht nun selbst massiv in der Kritik. dpa/AFX

Zeigt Reue: John Thain. Foto: AFP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der nächste Schneeball: 380 Millionen Dollar weg

New York - In New York ist ein weiterer mutmaßlicher Anlagebetrüger verhaftet worden. Der Chef der Investmentfirma Agape World, Nicholas Cosmo, soll die Anleger mit einem Schneeball-System um insgesamt 380 Millionen Dollar gebracht haben, berichteten US-Medien am Dienstag. Der 37-Jährige stellte sich am Montagabend selbst der Polizei, nachdem die Büroräume seiner Firma auf Long Island durchsucht worden waren.

Betroffene Anleger sagten, sie verdächtigten Cosmo, dass er ihr Geld gar nicht angelegt, sondern es ausgegeben oder verspielt habe. Agape World bot Anlegern laut Medien eine Rendite von 14 Prozent in knapp zweieinhalb Monaten. Cosmo bestritt gegenüber einer Zeitung, er habe wie der mutmaßliche Milliarden-Betrüger Bernard Madoff die Anleger mit einem riesigen Schneeball-System getäuscht, also mit Hilfe immer neuer Anlagen die Rendite für bereits bestehende Anlagen bezahlt.

Er hatte Agape 2000 gegründet, nachdem er wegen Betrugs aus dem Gefängnis entlassen worden war - mit der Auflage, seine Spielsucht behandeln zu lassen.

Madoff war Mitte Dezember verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, Investoren als Chef seiner Vermögensberatung mit einem riesigen Schneeball-System um 50 Milliarden Dollar geprellt zu haben. AFP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Sieger sehen anders aus

Ein Anleger wurde betrogen. Das Gericht gab ihm recht, doch sein Geld sah er nie wieder. Heute ist er pleite. Eine Geschichte über die Suche nach Gerechtigkeit

Von Hannah Wilhelm

Dortmund - Frank Planeck war mal ein Sieger. Ein Gewinner war er, einer der auf der richtigen Seite stand. Er hat vor dem Bundesgerichtshof gewonnen, hat das wichtigste Urteil errungen, das ein Kleinanleger jemals erreicht hat. Das war am 19. Juli 2004. An das Glücksgefühl dieses Sommertages erinnert er sich noch heute. Alle waren sie da, die Reporter aus der ganzen Republik, angereist nach Karlsruhe, um ihm beim Siegen zuzusehen. Er war ihr Held. Am Abend fuhr er nach Hause nach Dortmund, ging schick essen und dachte darüber nach, dass jetzt ein neues Auto drin sein könnte. Endlich.

Heute lebt Frank Planeck alleine, auf 35 karg möblierten Quadratmetern. Schmal ist er geworden, und wenn er an die vergangenen vier Jahre denkt, dann zieht der 48-Jährige seinen Mund zu einem schiefen Lächeln, das verzweifelt und hilflos aussieht. Die Falten um den Mund verraten, wie oft er sich zu diesem Lächeln und zum Durchhalten gezwungen hat. Sieger sehen anders aus.

Planecks Leiden beginnt 2000, als der Neue Markt mit all seinen hippen Internetunternehmen mit einem lauten Krach in sich zusammenbricht. Er hinterlässt zahlreiche verzweifelte Kleinanleger, deren Geld in nahezu wertlosen Aktien steckt. Viele Deutsche haben sich das erste Mal in ihrem Leben an die Börse gewagt und verloren, so auch der Fleischermeister Frank Planeck.

Aber am 19. Juli 2004 vor dem Bundesgerichtshof ist er der Vorkämpfer all dieser Kleinanleger: Er hat die beiden Vorstände des Unternehmens Infomatec, Gerhard Harlos und Alexander Häfele, verklagt, dessen Aktien er gekauft hat. Gut 90 000 Mark investierte er, weil ihn die Zahlen des Unternehmens so überzeugten. Doch die Vorstände haben gelogen, die angekündigten Aufträge gibt es nicht. Die Aktien stürzten ab und Planeck verlor alles. Der BGH spricht ein "Machtwort", wie die Presse damals jubelnd schreibt. Planeck soll alles wiederbekommen, 90 000 Mark plus Zinsen. Er ist glücklich, am 19. Juli 2004.

Doch er hat das Geld bis jetzt nicht bekommen. Keinen Cent. Heute lebt Planeck von 638 Euro im Monat, seine Schulden sind so hoch, dass er vielleicht Privatinsolvenz anmelden muss. Aus dem neuen Auto wurde nichts, für 300 Euro kaufte er einen 17 Jahre alten Opel Corsa. Aus seinem Haus musste er ausziehen - nun müssen 35 Quadratmeter reichen.

Auf dem Sims vor dem Balkon stapeln sich Bücher aus der Stadtbibliothek, Fachbücher über Börse und Medizin. "Ich lese viel", sagt er, was soll er auch sonst tun mit seiner ganzen Zeit? Planeck ist krank. Es gibt sogar Tage, an denen er zu schwach zum Laufen ist. Die Reporter, die über ihn und seinen Erfolg vor Gericht berichtet haben, sind weitergezogen und Planeck ist alleine sitzengeblieben in seinem Leben, in seinem Albtraum, den auch er gerne verlassen würde. Oft denkt er darüber nach, ab welchem Punkt alles in die verkehrte Richtung lief. "Solche Gedanken kommen, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat."

Früher, in seinem ersten Leben, hat er überhaupt keine Zeit. 70, 80 Stunden Arbeit pro Woche sind normal und es geht ihm gut damit. Er macht seine Ausbildung zum Fleischermeister in der Metzgerei seiner Eltern in Dortmund, ist einer der jüngsten Meister Deutschlands. Er steigt ins Geschäft der Eltern ein, hat 20 Mitarbeiter, ein eigenes Haus, eine Frau und einen kleinen Sohn. Es läuft gut für Frank Planeck. Finanzen sind sein Ding, schon immer. Hätten die Eltern nicht so sehr darauf gedrängt, dass er den Betrieb übernimmt, wäre er vielleicht lieber Banker geworden. Nun macht er es eben als Hobby: Er beobachtet die Börse und als 1996 die Telekom und viele Deutsche an die Börse gehen, geht er mit. "Das war der größte Fehler meines Leben", sagt er heute und nippt an seinem Wasser, "hätte ich das nicht gemacht, dann wäre es später nicht so gekommen."

1999 hat der damals 38 Jahre alte Fleischermeister endgültig Feuer gefangen und mit ihm brennt die ganze Börse. Alle jubeln, alle feiern, Erfolgsmeldungen werden veröffentlicht, mit der Wahrheit nimmt man es nicht immer ganz genau. So klettert die Aktie des kleinen Internetunternehmens Infomatec aus Augsburg auf zwischenzeitlich 318 Euro. Alles ist möglich im Neuen Markt. Planeck glaubt die Meldungen und kauft - für 90 000 Mark, dafür nimmt er einen Kredit auf seine Lebensversicherung auf. "Es sah alles so gut aus und ist ja von allen Seiten geprüft und testiert worden." Spekulieren auf Kredit, wie riskant das ist, erkennt er damals nicht.

Ein Jahr später bricht Planecks Leben zusammen. Seine Lunge macht nicht mehr mit, die Ärzte sagen, er müsse sich ausruhen, sie schicken ihn sechs Wochen zur Kur auf die Insel Norderney. Der zuvor sportliche Mann kommt kaum die 20 Stufen zu seinem Zimmer hoch, im Schwimmbad schafft er nicht mal mehr eine Bahn. Mittags sitzt er an der Strandpromenade, "die Sonne schien und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch leben wollte".

Einmal läuft er bei Ebbe alleine weit raus ins Watt. Er weiß, dass das lebensgefährlich ist. Er sammelt Muscheln, findet den Weg zurück. Die Muscheln liegen heute in einer Glasschale in seinem kargen Zimmer.

Als er im Herbst 2000 nach Dortmund zurückkehrt, sind seine Aktien fast wertlos. Die Erfolgsmeldungen des Unternehmens stimmten nicht, die Vorstände haben gelogen. Planeck zieht vor Gericht, er braucht das Geld, er muss seine Kreditraten zahlen. Geld verdienen kann er nicht, er ist berufsunfähig, seine Lunge erholt sich nicht mehr. Drei Jahre dauert der Weg durch die Instanzen - bis zu jenem 19. Juli 2004. Da ist es dann endlich geschafft. Gleichzeitig werden die beiden Vorstände wegen verbotener Insidergeschäfte und Kursbetrugs zu Gefängnis verurteilt. Der Freistaat Bayern pfändet das Vermögen der beiden. Das Geld ist in Sicherheit, denkt Planeck, und dass er das Geld später dann bekommen wird. Doch damit liegt er falsch.

Der Freistaat hat ihm das Geld nie ausgezahlt, die Millionen sind stattdessen im bayerischen Haushalt verschwunden. Auf die Anfrage des Grünen-Abgeodneten Martin Runge erklärt Bayerns Justizministerin Beate Merk 2006: "Nach Haushaltsrecht besteht keine Möglichkeit, auf Vermögenswerte zu verzichten, die dem Justizhaushalt infolge einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung zugeflossen sind." Mit anderen Worten: Einmal Haushalt, immer Haushalt. Planeck ist fassungslos, das Glück hat ihn verlassen. Er zieht vors Verfassungsgericht, die Klage wird abgewiesen: Sein Anwalt habe nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Also verklagt er seinen Anwalt. "Ich dachte, er hätte einen Fehler gemacht", sagt Planeck, "ich brauche das Geld so dringend - und bei einem Anwaltsfehler zahlt doch dessen Haftpflichtversicherung." Plötzlich sind da wieder die tiefen Falten um seinen Mund. Eigentlich war da sowas wie Freundschaft zwischen ihm und dem Anwalt, sagt er, doch Planeck hat den Prozess verloren und mit ihm auch die Freundschaft.

Es ist nicht die einzige Freundschaft, die der Dortmunder verloren hat, auf seiner Suche nach der Gerechtigkeit und den Schuldigen. Drei Freunde seien ihm geblieben, seine Frau zog 2002 aus. "Wenn man oben ist, lieben sie einen. Wenn man unten ist, nicht", folgert der Schwerkranke. Und er versteht sie ja, die die gegangen sind: "Ich kann nicht mit Essen oder ins Kino gehen. Ich habe einfach kein Geld für sowas." Vorher sei er ehrgeizig gewesen und kühl, jetzt sei er anders, viel weicher, erklärt er. Doch während er das sagt, ist sein Gesicht ganz und gar nicht weich.

Wütend ist er schon, nicht so sehr auf die beiden Vorstände, die ihn belogen haben. "Die kann ich irgendwie verstehen, sie waren clever und haben gut Geld damit verdient." Wütend ist er auf die Politik, den Staat. Schützen hätte der ihn müssen, statt dessen hat er versagt, ihn im Stich gelassen. "Die fehlende Aufsicht des Staates hat das Ganze erst möglich gemacht." Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, sein Leben dreht sich um diese Wut. Einen Beruf hat er ja nicht mehr, nur seine Krankheit, allergische Schocks, Atemnot, immer wieder - und diese Wut. Wenn er so redet, ist sein Gesicht endgültig hart.

Vor kurzem habe die Staatsanwaltschaft ihm einen Brief geschrieben: Die von den Vorständen beschlagnahmten Aktien sollen verkauft werden und Planeck solle sie doch bitte freigeben, sonst werde sie gerichtlich gegen ihn vorgehen. Da lacht Planeck wieder. "Das kann ich nicht machen! Das ist doch mein Geld, ich habe doch vor Gericht gewonnen." Er unterschreibt nicht, warum auch, er hat ja nichts zu verlieren. 638 Euro Berufsunfähigkeitsrente bekommt er, davon braucht er 270 Euro für die Miete, mit 100 Euro zahlt er noch seinen Kredit ab, ein Tropfen auf den heißen Stein, seine Schulden belaufen sich mittlerweile auf 60 000 Euro.

Dass der Fall Infomatec sein Leben zerstört hat, findet Planeck nicht. "Verändert hat es mich", sagt er nachdenklich, "es hat meinem Leben eine andere Richtung gegeben." Klar wäre es besser, wenn er nicht diese finanziellen Sorgen hätte. Früher, da schaute er aus seinem Haus auf seinen 800 Quadratmeter großen Garten mit den duftenden Rosenbeeten. Jetzt hat er nur einen Balkon, klein wie ein Bett, mit hässlichen grauen Betonplatten auf dem Boden. Da steht er nun, blickt auf die Garagen der Nachbarn und sagt: "Aber sehen Sie doch, die Bäume im Abendlicht und ab und zu fliegt ein Graureiher vorbei. Da kann man doch nicht von einem zerstörten Leben sprechen."

"Die Sonne schien, und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch leben wollte."

Er bekommt 638 Euro

im Monat, mittlerweile hat er

60 000 Euro Schulden.

Frank Planeck in einem Waschsalon: Er erstritt vor mehr als vier Jahren das wichtigste Anlegerurteil vor dem Bundesgerichtshof. Gebracht hat ihm das nichts: Heute ist er so gut wie pleite. Foto: Volker Wiciok/Lichtblick

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Schwellenländer in Not

Zürich - Der Fluss von privatem Kapital in Entwicklungsregionen und Schwellenländer dürfte angesichts der Finanzkrise markant abnehmen. Das in Washington ansässige Institute of International Finance (IIF) schätzt, dass 2009 nur noch 165 Milliarden Dollar aus Industrieländern in kapitalschwache Volkswirtschaften fließen werden. 2008 waren es schätzungsweise 466 Milliarden Dollar. Im Aufschwung hatte der Kapitalfluss 2007 mit 929 Milliarden Dollar einen Rekordwert erreicht. Wenn die von der Finanzkrise und Kapitalknappheit geplagten Geldhäuser der Industriestaaten keine Mittel mehr zur Verfügung stellen könnten, drohten gravierende Auswirkungen, warnte der IIF-Vizevorsitzende und Citibank-Chef William Rhodes bei einer Medienkonferenz in Zürich. Entwicklungsregionen könnten in große Finanzprobleme geraten, sagte Rhodes. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

IG BAU gibt sich kampfeslustig

Von Sibylle Haas

Frankfurt - Die Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) hat ihre Lohnforderung für 2009 bekräftigt. "Die Streikbereitschaft ist groß. Die IG BAU kommt trotz der Wirtschaftskrise nicht auf Samtpfoten daher", sagte der Bundesvorsitzende der IG BAU, Klaus Wiesehügel, vor Journalisten in Frankfurt. Die Gewerkschaft fordert für die etwa 700 000 Beschäftigten des Bauhauptgewerbes sechs Prozent mehr Lohn. Die Tarifverhandlungen beginnen am 5. März in Wiesbaden. Wiesehügel verteidigte die Forderung: Ein Bauarbeiter verdiene im Jahr durchschnittlich 33 000 Euro brutto. Dies seien 9000 Euro weniger, als Beschäftigte in anderen Gewerbeberufen bekämen. Auch die Angleichung der Gehälter in Ost- und Westdeutschland stehe auf der Agenda dieser Tarifrunde, kündigte der IG-BAU-Chef an. "Es gibt nach 20 Jahren Wiedervereinigung noch immer eine Lohndifferenz von 19 Prozent. In den nächsten 20 Jahren muss eine Angleichung geschafft sein", so Wiesehügel.

Die Wirtschaftskrise habe die Bauwirtschaft noch nicht ganz erreicht. Nach Wiesehügels Angaben sieht die Bundesregierung als stützende Maßnahmen für die Bauwirtschaft 18 Milliarden Euro vor. "Angesichts der massiven kommunalen Infrastrukturdefizite für Bildung, Umwelt und Verkehr sowie dem gewaltigen Potential im Bereich der energetischen Gebäudesanierung wird die Bautätigkeit gewiss nicht am fehlenden Bedarf scheitern", betonte Wiesehügel.

Wiesehügel beklagte den Wohnungsmangel vor allem in den westdeutschen Ballungszentren. Niedrigverdiener könnten sich dort kaum mehr eine Wohnung leisten. Die IG BAU fordere deshalb die steuerliche Förderung von Wohnungen zur Belebung des Neubaus. Der Wohnungsneubau sei im vorigen Jahr um etwa zehn Prozent zurückgegangen, rechnete Wiesehügel vor. In den ersten 15 Jahren sollte nach Vorschlägen der Gewerkschaft der jährliche Abschreibungssatz von derzeit zwei auf vier Prozent erhöht werden. In den folgenden zehn Jahren solle die Abschreibung zwei und danach ein Prozent betragen. Darüber hinaus schlagen die Fachleute vor, Immobilienfonds steuerlich zu bevorzugen und Investitionszulagen nicht nur für Ost-, sondern auch für Westdeutschland zu erteilen.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Schaeffler muss warten

Staatliche Hilfen sind in Bayerns Regierung umstritten

Von Martin Hesse, Uwe Ritzer und Kassian Stroh

München/Frankfurt - Die bayerische Staatsregierung ist in der Frage einer Staatshilfe für das Familienunternehmen Schaeffler offenbar uneins. In der Sitzung des Kabinetts am Dienstag warben nach Teilnehmerangaben einige Minister für staatliche Hilfen, andere jedoch kritisierten das Vorgehen der Schaeffler-Gruppe, forderten mehr Engagement der Besitzerfamilie oder warnten vor Staatshilfen aus grundsätzlichen ordnungspolitischen Erwägungen heraus. Beschlüsse fasste die Regierung keine. Schaeffler ist durch die Übernahme des Dax-Konzerns Continental in eine Schieflage geraten.

Staatshilfen könne es "nur unter der Federführung des Bundes" geben, sagte Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP). Mehrere Kabinettsmitglieder berichteten, die von Schaeffler benötigten Hilfen überstiegen die Kräfte Bayerns. Die Angelegenheit sei "alleine durch ein Land oder zwei Länder nicht zu stemmen", sagte Finanzminister Georg Fahrenschon (CSU). Am Donnerstag treffen sich Vertreter der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen in Berlin mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), um das Thema zu beraten.

Auch in einer Sitzung der CSU-Landtagsfraktion wurden am Dienstag Bedenken laut: So äußerte sich der ehemalige CSU-Chef und amtierende Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Landtag, Erwin Huber, skeptisch über Staatshilfen für Schaeffler. Hingegen sprachen sich Innenminister Joachim Herrmann und Umweltminister Markus Söder dafür aus. Sie wiesen auf die Bedeutung Schaefflers als Arbeitgeber in Franken und Bayern hin. Man dürfe das Familienunternehmen beim schwierigen Conti-Deal nicht im Stich lassen. Die Firma stellt in Bayern nach eigenen Angaben etwa 20000 Arbeitsplätze.

Hoher Kapitalbedarf

Zeil, Fahrenschon und Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) trafen sich im Anschluss an die Kabinettssitzung zu einem Gespräch mit der Schaeffler-Führung. Wie eine Hilfe aussehen könnte, sei noch unklar, hieß es anschließend. Eine Entscheidung werde es frühestens in der kommenden Woche geben. Dazu habe man von Schaeffler erst einmal ein Konzept eingefordert, sagte Zeil der SZ - "mit klaren Zahlen und Zeitplänen".

In Bankenkreisen werden die benötigten Kapitalhilfen für Schaeffler auf drei bis fünf Milliarden Euro geschätzt. Die Gläubiger Schaefflers haben sich nach SZ-Informationen bereits Anteile an der Firmengruppe als zusätzliche Sicherheit geben lassen. Schaeffler ist wegen der Conti-Übernahme mit elf Milliarden Euro verschuldet. Es heißt in Bankenkreisen, schon in einem halben Jahr müsse ein Teil der Kredite umgeschuldet werden. Sollte Schaeffler gegen Auflagen verstoßen, könnten die Banken Schulden gegen Firmenanteile tauschen. Da Institute wie die Commerzbank und die Royal Bank of Scotland aber selbst große Probleme haben, würden sie dies nur ungern tun und hätten daher Interesse an staatlicher Unterstützung. Schaeffler drängt nun darauf, dass Conti rasch das Reifengeschäft verkauft. Außerdem sollen die Automotive-Sparten zusammengelegt und dort Mit-Investoren an Bord geholt werden. Beide Maßnahmen sollen die Schulden senken. In Finanzkreisen heißt es jedoch, dass sich die Investorensuche lange hinziehen könnte.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neue Datenpanne bei der Telekom

Düsseldorf - Die Serie von Datenpannen bei der Deutschen Telekom geht weiter. Nun waren tagelang mehrere hundert Daten von Neukunden im Internet für Unbefugte einsehbar, berichtete stern.de am Dienstag. Aufgeführt waren Namen, Anschrift, Telefonnummern und der bisherige Telefonanbieter von Kunden. Die Telekom bestätigte die Panne. Sie verwies darauf, dass es jedoch nur einen widerrechtlichen Zugriff gegeben habe - im Zusammenhang mit den Recherchen der Journalisten. Betroffen sind Kunden, die zur Telekom zurückwechseln wollten. Ihnen wollte das Unternehmen durch einen Link den Bestellprozess vereinfachen. Aufgrund eines technischen Fehler konnten sie über die Internetadresse dann aber auch auf Formulare anderer Nutzer zugreifen.

Bis Freitagnachmittag hätten je nach Zeitpunkt des Zugriffs etwa hundert bis über tausend Auftragsformulare widerrechtlich eingesehen werden können, sagte ein Telekom-Sprecher. Allerdings hätte eine Person nicht nur über einen Link zum Ausdruck eines vorausgefüllten Formblatts, sondern auch über entsprechendes Wissens über die Informationstechnologie verfügen müssen, um durch eine Veränderung der URL auf andere Formulare zugreifen zu können. Die betroffenen Kunden seien inzwischen informiert und der Fehler behoben worden, teilte das Unternehmen mit.

Die Telekom hatte zuletzt einige Maßnahmen getroffen, um die Datensicherheit zu erhöhen. So gibt es mittlerweile einen eigenen Vorstand für das Thema Datensicherheit, ebenso wie einen Beirat. Damit reagierte die Telekom auf den illegalen Datenabgleich von Mitarbeitern und Journalisten durch eigene Sicherheitsleute. Zudem war eine Diskette mit Kundendaten von T-Mobile-Kunden illegal angeboten worden. Bis heute untersucht die Bonner Staatsanwaltschaft die Vorfälle. dom

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Energieversorger MVV will zukaufen

Frankfurt - Ganz penibel gibt sich Georg Müller zum Einstand. Seit "gut drei Wochen" führe er nunmehr die Geschäfte - so war der neue Mann an der Spitze des Energieversorgers MVV Energie vorgestellt worden. Nein, es seien schon "knapp vier Wochen", korrigiert Müller. Und dann präsentiert der neue Chef die Bilanz des einzigen an der Börse notierten Stadtwerke-Konzerns, als würde er das schon seit Jahren tun. Vorstellen wolle er das Zahlenwerk, zu verantworten hätten es aber seine Vorstandskollegen, sagt er. Dabei gibt es keinen Grund, sich von den Ergebnissen zu distanzieren. Im Gegenteil. Um 17 Prozent auf 2,6 Milliarden Euro steigerte MVV im Geschäftsjahr 2007/2008 zum 30. September den Umsatz, um fast 50 Prozent auf 185 Millionen Euro den Jahresüberschuss. Und die Aktionäre sollen eine um 10 auf 90 Cent erhöhte Dividende auf ihre Aktie bekommen.

Wie sein Vorgänger Rudolf Schulten setzt auch Müller auf Expansion. Ob bei der wahrscheinlich vom Eon-Konzern zum Verkauf angebotenen Stadtwerke-Holding Thüga, möglichen Veräußerungen von RWE oder dem Bau von Müllverbrennungsanlagen in Großbritannien - Müller sieht für MVV "einen Strauß von Möglichkeiten". Allerdings gibt sich der promovierte Jurist, der zuvor bei RWE im Energiegeschäft tätig war, deutlich zurückhaltender als Schulten. Bisher gebe es weder bei Eon noch bei RWE Verkaufsbeschlüsse.

Erfolgreich treibt MVV als Nischenanbieter den Gaswettbewerb voran. Obwohl die Firma erst im Oktober mit dem bundesweiten Vertrieb startete, konnten die Mannheimer zahlreiche kleinere Industrie- und Gewerbefirmen und namhafte Unternehmen mit vielen Filialen wie McDonalds, Coca-Cola oder den Handelskonzern Metro als Kunden gewinnen. MVV plant auch den Einstieg ins überregionale Gasgeschäft mit Privatkunden. Seit mehr als einem Jahr wird bereits Elektrizität unter der Marke Secura Ökostrom bundesweit angeboten. hwb

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

IBM

Jobs weg

Boston - Der Technologiekonzern IBM will einer Gewerkschaft zufolge 2800 Stellen in Nordamerika streichen. Ein Sprecher der Communications Workers of America legte Dokumente vor, nach denen die Hälfte der Entlassungen im Bereich Software und die Hälfte bei Verkauf und Vertrieb vorgenommen werden sollten. Ein Sprecher von IBM bestätigte zwar Kürzungen, nannte jedoch weder eine Zahl noch einen betroffenen Bereich. Der amerikanische Konzern ist der zweitgrößte Software-Hersteller der Welt und die Nummer Eins bei Großrechnern. IBM beschäftigt weltweit 400 000 Mitarbeiter. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

LOEWE

Rekordgewinn wegen WM

München - Der fränkische Fernsehgeräte-Hersteller Loewe hat unter anderem dank der Fußball-Europameisterschaft im vergangenen Jahr prächtig verdient. Operativ sei das Ergebnis (Ebit) 2008 um 35 Prozent auf 28,5 Millionen Euro geklettert, teilte Loewe in Kronach mit. Damit fuhr das börsennotierte Unternehmen den höchsten Gewinn seiner 86-jährigen Geschichte ein. Der Umsatz stieg wegen ersten Auswirkungen der Rezession nur leicht auf 374 (Vorjahr 372,5) Millionen Euro. Reuters

Ein Loewe-Mitarbeiter überprüft Fernseh-Bildschirme. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

DUPONT

Voll erwischt

Wilmington - Der Nachfrageeinbruch vor allem in der Bau- und Automobilindustrie hat den US-Chemiekonzern DuPont im Schlussquartal voll erwischt. Das Unternehmen rutschte im vierten Quartal wie angekündigt in die roten Zahlen, der Umsatz ging deutlich zurück. Auch für das laufende Geschäftsjahr blieben die Wirtschaftsbedingungen für DuPont eine Herausforderung, sagte die neue Unternehmenschefin Ellen Kullman. Der schwachen Nachfrage will DuPont mit Kosteneinsparungen von 1,73 Milliarden Dollar entgegenwirken. dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

DELTA

Milliarden-Verlust

Chicago - Die weltgrößte Fluglinie Delta Air Lines ist nach der Übernahme des Rivalen Northwest tief in die roten Zahlen gerutscht. Die Lufthansa-Konkurrentin schloss das vierte Quartal mit einem Minus von 1,4 Milliarden Dollar ab, nach einem Minus von 70 Millionen Dollar im Vorjahreszeitraum. Ohne Sonderposten blieb unterm Strich ein Fehlbetrag von 340 Millionen Dollar, wie die Partnerlairline von Air France-KLM mitteilte. Delta hatte Northwest Ende Oktober für 2,6 Milliarden Dollar übernommen und beschäftigt 75 000 Mitarbeiter. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Auf Schnäppchenjagd in Deutschland

Der schwedische Finanzinvestor Cevian Capital möchte mittelgroße Firmen aus dem Börsenindex MDax übernehmen

Von Martin Hesse

Frankfurt - Der schwedische Finanzinvestor Cevian Capital nimmt mittelgroße deutsche Konzerne ins Visier. "Wir sehen uns vor allem MDax-Unternehmen sehr intensiv an", sagte Cevian-Chef Lars Förberg der Süddeutschen Zeitung. Die Beteiligungsgesellschaft wolle in den nächsten Jahren in ihrem Kernmarkt Skandinavien und in den deutschsprachigen Ländern eine Milliarde Euro investieren. In Deutschland ist Cevian bislang an drei börsennotierten Firmen beteiligt; der Investor hält knapp drei Prozent an der Münchener Rück. Seit vergangenem Sommer heißt es zudem in Finanzkreisen, dass die Schweden bei Daimler engagiert sind. Über das dritte Unternehmen, an dem Cevian Anteile hält, ist nichts bekannt.

Künftig will Cevian bei deutschen Firmen auch mit größeren Anteilen einsteigen. "Es könnte gut sein, dass wir auch mal zehn bis 20 Prozent investieren", sagte Förberg. In den vergangenen zwei bis drei Jahren seien MDax-Unternehmen wegen des starken Interesses zahlreicher Hedgefonds und Private-Equity-Firmen überteuert gewesen, sagte Förberg. "Aber jetzt gibt es viele Gelegenheiten." Cevian sehe sich Firmen aus allen Branchen an. "Es gibt in Deutschland viele gesunde Unternehmen, die jetzt wegen der Wirtschaftskrise Probleme haben und Kapital brauchen." Zahlreiche mittelgroße börsennotierte Firmen suchten Investoren, die ihr Kapital stärkten und sie vor Übernahmen schützten. Förberg sieht Cevian gegenüber Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften im Vorteil, die Übernahmen überwiegend mit Krediten finanzieren. "Unser Geschäftsmodell funktioniert dagegen noch, weil wir nur Eigenkapital investieren."

Allerdings hat auch Cevian mit seinen bisherigen Beteiligungen in Deutschland Geld verloren. Die Aktie der Münchener Rück ist seit dem Einstieg Cevians Ende 2007 um etwa ein Fünftel gefallen. Dennoch zeigt sich Förberg zufrieden: "Das Management hat einen sehr guten Job gemacht und die Krise genutzt, um die Marktposition auszubauen."

Spekulationen um Daimler

Die Münchner hatten im Dezember von dem angeschlagenen amerikanischen Versicherungskonzerns AIG den Spezialversicherer HSB übernommen. Beim Einstieg Cevians hatte es in Finanzkreisen geheißen, der Investor wolle die Münchener Rück zu einem Verkauf der Erstversicherungstochter Ergo drängen. Das schließt Förberg zumindest vorerst aus: "Das ist kein Thema. Es ist nicht die Zeit, um Geschäftsbereiche zu verkaufen, man sollte eher daran denken zu expandieren."

Schmerzhafter als die Situation bei der Münchener Rück dürften für Cevian die Kursverluste bei Daimler sein. Seit vergangenen Sommer, als der Investor dort eingestiegen sein soll, hat sich der Börsenwert fast halbiert. Zu Daimler wollte sich Förberg nicht äußern. Er sagte allerdings über den Lkw-Markt: "Volvo und Daimler haben eine strategisch gute Position, aber gemessen an ihrem Potential entwickeln sie sich unterdurchschnittlich." An Volvo ist Cevian mit fünf Prozent beteiligt. Daimler habe seinen Größenvorteil nicht ausreichend genutzt. Mittlerweile arbeite das Management aber daran, effizienter zu produzieren und die Marktposition in Asien zu stärken.

Ins Visier nimmt Cevian Capital nach der Münchener Rück auch weitere Finanzkonzerne. "Aber wir werden dort eher in Nischen investieren", so Förberg. Er denke eher an Versicherer als an Banken, die er noch als zu riskant ansieht: "Bei den Banken werden wir weiterhin eher Verstaatlichungen sehen als private Kapitalgeber." Der Ansatz der Regierungen, Aktionären bei den Hilfsaktionen Verluste zuzumuten, sei richtig.

Förberg griff Hedgefonds scharf an. "Wie bei den Banken boten die kurzfristig ausgerichteten Vergütungssysteme der Hedgefonds Anreize, zu hohe Risiken einzugehen." Investoren würden solche Exzesse künftig nicht mehr akzeptieren. Laut Förberg ist die Vergütung der Manager von Cevian an längerfristige Erfolge geknüpft. "Wenn wir in den Firmen auf eine bessere Unternehmensführung drängen, müssen wir selbst auch vorbildlich führen", sagte Förberg.

Das deutsche System der Corporate Governance sei gut, werde aber von den Aktionären nicht ausreichend mit Leben gefüllt. Die Krise zeige, wie wichtig die Kontrolle des Managements durch die Eigentümer sei. "Wenn die Kontrollsysteme besser funktioniert hätten, wären wir nicht in der Krise, in der wir heute stecken."

Förberg hat Cevian 2002 mit Christer Gardell gegründet. Die beiden sehen sich als aktive Investoren, die mit einer "Mischung aus Druck und Dialog" mehr aus den Firmen herausholen, an denen sie sich beteiligen. Insgesamt verwaltet der Investor etwa 3,5 Milliarden Euro. Das Geld kommt von reichen Familien, vom schwedischen Staat, dem amerikanischen Großinvestor Carl Icahn, aber auch von deutschen Banken.

"Viele Gelegenheiten" sieht Lars Förberg, Chef und Mitgründer des Finanzinvestors Cevian Capital, in Deutschland. Zahlreiche börsennotierte Firmen suchten Kapitalgeber - auch um sich vor Übernahmen zu schützen. Foto: Martin Leissl

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kommentare

Überschätzt

Siemens könnte sich an Atom-Partnerschaft mit Russland verheben

Von Karl-Heinz Büschemann

Siemens-Konzernchef Peter Löscher hat mal wieder für eine Überraschung gesorgt: Er korrigiert die Atomstrategie des Konzerns und will stärker in den Bau von Kernkraftwerken einsteigen. Dazu ist er auf der Suche nach Partnern und hat offenbar auch den russischen Staatskonzern Atomenergoprom im Auge. Das lässt aufhorchen. Was Siemens auf dem Atomsektor plant, ist riskant. Wahrscheinlich überschätzt der Technologiekonzern die künftigen Chancen der Atomkraft und unterschätzt die Risiken, die sich aus der Zusammenarbeit mit einem russischen Staatskonzern ergäben.

Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass Löscher an der Entscheidung seines Vorvorgängers Heinrich von Pierer rüttelt. Der glaubte nicht mehr an das Geschäft mit Kernkraftwerken, nachdem die rot-grüne Regierung den politischen Ausstieg der Bundesrepublik aus der Atomkraft beschlossen hatte. Er brachte enttäuscht die Siemens-Nukleartechnik in eine Gemeinschaftsgesellschaft mit der französischen Framatome ein und gab sich mit der Minderheitsposition von 34 Prozent zufrieden. Das kam dem Ausstieg von Siemens aus der Atomtechnik gleich. Jetzt schätzt der Konzern die Atomchancen wieder optimistischer ein. Siemens erwartet nach eigenen Angaben eine Renaissance der Atomenergie und den Neubau von 400 Kernkraftwerken bis zum Jahr 2030 in der Welt. Da wollen die Münchner dabei sein.

Das wird nicht einfach. Der bisherige Partner Areva lässt nicht mit sich reden.

Die Münchner würden ihren Anteil an dem Unternehmen gerne wieder aufstocken. Doch die Franzosen wollen das Sagen bei Areva allein behalten und kommen dem deutschen Partner offenbar keinen Schritt entgegen. Das ist für die ambitionierten Deutschen ein Problem. Denn potentielle Partner gibt es nicht in beliebiger Menge. Da ist es kein Wunder, dass der russische Staatskonzern Atomenergoprom als Partner zur Diskussion steht. Siemens bestätigt die Gespräche mit Atomenergoprom nicht. Doch Konzern-Manager geben sich größte Mühe, etwaige Vorbehalte gegen einen Partner auszuräumen, der vom Kreml abhängt. Der Münchner Konzern habe seit 150 Jahren Erfahrungen mit Russland-Geschäften, sagen sie.

Siemens sollte im Umgang mit einem russischen Industriepartner in einer so wichtigen Frage vorsichtig sein. Die zurückliegenden drei Jahre haben im Westen erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit des russischen Staatskonzerns Gazprom in Energiefragen erkennen lassen. Dreimal blieben seit dem Jahr 2006 in Westeuropa fest zugesagte Lieferungen von Gas und Öl aus. Das führte in einzelnen Ländern Osteuropas bereits zu Versorgungsmängeln. Das kann Zufall sein, doch für den Westen sind vom Kreml abhängige Staatsunternehmen möglicherweise ein erhebliches Risiko. Niemand kann vorhersagen, ob sich Staatsunternehmen noch an Verträge halten, wenn der Staat andere Vorstellungen hat oder Ziele verfolgt, die rein politischer Natur sind. Der Münchner Konzern sollte sich besser an Unternehmen in Japan oder Nordamerika wenden.

Zu fragen ist auch, ob Siemens die atomaren Chancen nicht maßlos überschätzt. Wahrscheinlich werden in den nächsten 20 Jahren wesentlich weniger Kernkraftwerke gebaut, als mancher glaubt. Auch wenn sich die Atomlobby bemüht, darauf hinzuweisen, dass Atomkraftwerke zum Klimaschutz beitragen, weil sie kein Kohlendioxid ausstoßen: Die Zahl der konkret geplanten nuklearen Neubauten liegt unter zwei Dutzend. Viele andere sind reine Papierprojekte.

Es mag sein, dass in Zukunft einige Kernkraftwerke neu entstehen werden. Aber angesichts der immensen Kosten wird sich die Zahl in Grenzen halten. Atomkraftwerke sind teuer, vor allem, weil sich ihre Bauzeiten oft in die Länge ziehen. Das lässt sich gerade bei dem jüngsten finnischen Neubauprojekt besichtigen. Wenn nicht einmal ein aufstrebendes Land wie China, das auf keine Umweltbewegung Rücksicht nimmt, in großem Stil Atommeiler baut und stattdessen massenweise Kohlekraftwerke errichtet, sollte die Unternehmensführung von Siemens sehr nachdenklich werden.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kritik an Russland

Ostausschuss beklagt Abhängigkeit von Öl und Gas

Von Daniel Broessler

Berlin - Russland hat aus Sicht des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft während des Ölbooms der vergangenen Jahre wertvolle Chancen vertan und ist deshalb von der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders betroffen. "Russland hat seine starke Abhängigkeit von Öl und Gas nicht verringert", beklagte der Vorsitzende des Ausschusses, Klaus Mangold, in Berlin. Die dringend notwendige Diversifizierung sei ausgeblieben. Immer noch machten Öl und Gas 85 Prozent der Exporte aus. Nicht konsequent genug habe Russland seine hohen Einnahmen genutzt, um die Infrastruktur auszubauen. Das gelte etwa für das Straßen- und Schienennetz. Zu wenig gefördert worden sei auch der Mittelstand. Das räche sich nun in der Krise, in der große Konglomerate dazu gezwungen seien, sich auf ihr Kerngeschäft zu besinnen. Die deutsche Wirtschaft sei ein "idealer Partner", um die nötige Modernisierung in Russland anzustoßen.

Sorge äußerte Mangold wegen der jüngsten Ermordung eines Anwalts und einer Journalistin in Moskau. "Das sind Taten, die das internationale Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und die Sicherheit der Bürger in Russland beeinträchtigen". Von Präsident Dmitrij Medwedjew erwarte man klare Äußerungen zur notwendigen Aufklärung der Morde.

Die EU und die Länder an ihrem östlichen Rand rief Mangold angesichts der Wirtschaftskrise zum gemeinsamen Handeln auf. "Jetzt ist die Zeit, in der das politische Klein-Klein von großen Schritten nach vorne abgelöst werden muss", sagte er. Ein starkes Signal der EU seien die Schaffung einer Freihandelszone mit Ländern wie Serbien, Russland und der Ukraine sowie Erleichterungen beim grenzüberschreitenden Verkehr. Dazu sei es nötig, das neue Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland 2009 auszuhandeln und den stockenden Beitrittsverhandlungen Russlands zur Welthandelsorganisation WTO neuen Schwung zu geben.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Nächste, bitte

Erst die Banken, dann die Industrie: Der Staat ist als Retter überfordert

Von Ulrich Schäfer

Wer will noch mal? Wer hat noch nicht? Der Staat hat seine große Tüte geöffnet, und alle greifen hinein: Erst die Banken, dann die Autoindustrie, die Porzellanhersteller, und nun die ganze Großindustrie. Einen zweiten Rettungsschirm will die Bundesregierung spannen - diesmal nicht über die Banken, sondern über jene Unternehmen, die viel exportieren: über den Flugzeugbauer Airbus, über die Maschinen-, Anlagen- und Kraftwerksbauer, über alle, deren Kunden auf Pump leben und deshalb nun überlegen, ob sie noch "Made in Germany" kaufen.

So richtig es war, das Finanzsystem vor dem Kollaps zu retten, so falsch ist es nun, auch den Rest der Wirtschaft unter den schützenden Schirm des Staats zu stellen. Das Finanzsystem als Ganzes zu stabilisieren, war deshalb so wichtig, weil ohne einen funktionierenden Geldkreislauf die Wirtschaft insgesamt zusammenbrechen würde. Dieser Geldkreislauf, gewiss, ist immer noch nicht wieder richtig in Gang gekommen - trotz der Billionen, die die Regierungen in aller Welt bereitgestellt haben. Doch es kann nicht die Aufgabe der Politik sein, sich deshalb nun in sämtliche Wirtschaftsbeziehungen einzumischen. Der Rettungsschirm für die Exportindustrie würde darauf hinauslaufen, dass der deutsche Staat für Kredite bürgt, die Unternehmen in Russland, China oder den USA aufnehmen, um deutsche Waren zu kaufen. Berlin müsste also zahlen, wenn in Moskau, Shanghai oder Los Angeles ein Unternehmen pleitegeht.

Deutschland ist ein Land, das vom Export lebt. Doch wenn der Export nun einbricht, kann der Staat diesen nicht künstlich aufrechterhalten. Er würde sich dabei verheben. Und bezahlen müssten es am Ende alle Bürger.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Stimmungsmache

Die Firmen sind zuversichtlicher - das liegt auch am Konjunkturpaket

Von Björn Finke

Ein positives Ergebnis haben die umstrittenen Konjunkturpakete der Bundesregierung bereits gebracht: Die deutschen Unternehmen blicken wieder etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Das Ifo-Institut will bei seiner monatlichen Geschäftsklima-Umfrage von den Firmen wissen, wie diese ihre Lage heute und mit Blick auf den Sommer bewerten. Die Beurteilung der jetzigen Situation verschlechterte sich von Dezember auf Januar weiter, doch dafür äußerten sich die Manager optimistischer zu den Geschäften in sechs Monaten. Offenbar gehen sie davon aus, dass das Schlimmste im Sommer vorbei ist. Zu dieser Einschätzung haben sicher auch die milliardenschweren Konjunkturprogramme in Deutschland und anderswo beigetragen.

Die Resultate für Januar sind zunächst eine Momentaufnahme - von einem Stimmungswandel kann man nach einem Monat mit besseren Umfragewerten nicht sprechen. Aber es ist erfreulich, dass die atemberaubend schnelle Abkühlung des Geschäftsklimas fürs Erste gestoppt ist. Denn Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie, wie schon Ludwig Erhard sagte. Haben Manager das Gefühl, dass es immer weiter abwärts geht, werden sie die Kapazität ihrer Fabriken und die Zahl der Jobs noch kräftiger herunterfahren, als sie es ohnehin planen.

Eins der wichtigsten Resultate der Konjunkturpakete ist daher, dass sie bei den Firmen - und hoffentlich bei den Verbrauchern - die Zuversicht steigern. Hier wirken die Programme auch sofort, während der direkte Effekt der Pakete, eine Ausweitung der Nachfrage, nur verzögert zu spüren sein wird - vielleicht sogar erst dann, wenn es ohnehin wieder aufwärts geht. Doch allein die bessere Stimmung ist bereits Milliarden wert.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das verhängnisvolle Wörtchen "ab"

Manche Banken werben für Verbraucherkredite mit Zinssätzen, die kaum jemand wirklich bekommt. Die Bundesregierung will solche Lockangebote jetzt stoppen

Von Marco Völklein

München - Das Angebot klingt verlockend: Mit einem effektiven Zinssatz ab 3,99 Prozent wirbt die Citibank derzeit auf ihrer Internetseite. So mancher Kunde mag da bereits darüber nachdenken, das billige Geld aufzunehmen und auf ein Tagesgeldkonto zu legen - mit fünf Prozent oder mehr Zinsen würde man einen zusätzlichen Ertrag einfahren. Diese Überlegungen können die Kunden allerdings schnell wieder einstellen: Den Billigzins von 3,99 Prozent erhält vermutlich kaum ein Kunde.

"Die Superzinsen sind meist nur Lockangebote", sagt Frank-Christian Pauli, Bankenreferent beim Verbraucherzentrale-Bundesverband (VZBV). Das Problem ist das kleine Wörtchen "ab" in dem Angebot. Nach Angaben von Pauli sind bei den Verbraucherzentralen unzählige Beschwerden über diese "bonitätsabhängigen Kredite" eingegangen, die auch noch anderen Banken anbieten. Der Fachbegriff bedeutet, dass der beworbene Billigzins nur ein "ab"-Wert ist. Jeder Kunde muss sich einer ausführlichen Prüfung unterziehen lassen, einem sogenannten Scoring. Je nach dem, wie viel der Kunde verdient oder in welcher Region er wohnt, erhält er einen Kredit zu einem bestimmten Zinssatz. "Selbst bei gutem Verdienst und fester Arbeit bekommen die Kunden oft nur teure Angebote", kritisiert die Stiftung Warentest.

Welche Daten genau in das Scoring einfließen und wie sie gewichtet werden, ist zudem das Geheimnis der Banken. Das Bundesjustizministerium hat nun einen Gesetzentwurf erarbeitet und will den Banken Folgendes vorschreiben: Ein Anbieter darf künftig nur mit einem Zins werben, "von dem er erwarten darf, dass er mindestens zwei Drittel der Verträge zu dem angegebenen oder einem niedrigeren effektiven Jahreszins abschließen wird". Lockangebote wären damit nicht mehr möglich. In Großbritannien gibt es diese Regelung bereits. Pauli: "Dort hat sie sich als funktionsfähig erwiesen."

Hinzu kommt: Die Banken fragen beim Scoring auch bei der Schufa nach, der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung. Dort sind Daten über die Kreditwürdigkeit von Bankkunden gespeichert. Sobald jemand nach einem Kredit fragt, meldet die Bank dies als "Anfrage Kreditkonditionen". Doch einige Berater melden der Stiftung Warentest zufolge keine "Anfrage Konditionen", sondern eine "Anfrage Kredit". Die Warentester: "Dann weiß die Schufa nur, dass der Kunde einen Kredit wollte, aber keinen bekam - warum, bleibt offen." Vorsichtshalber senkt die Schufa anschließend den Scoring-Wert - und das wirkt sich langfristig aus: "Bei der nächsten Kreditanfrage erhält der Kunde einen schlechteren Zins", sagt Pauli.

Über eine schärfere Regelung würden sich auch viele Banken freuen, ergänzt Achim Tiffe vom verbrauchernahen Institut für Finanzdienstleistungen in Hamburg. Denn viele Institute stören sich an den marktschreierischen Schein-Zinsen der Konkurrenz. Tiffe: "Sie sehen sich einem aufreibenden Preiskampf ausgesetzt und würden eine Marktbereinigung sicher begrüßen."

Wer sich Geld leihen will, wird gern mal in die Irre geführt. Foto: Imago

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Wenn Supermanager fliegen

Mitten in der Finanzkrise kauft die Citigroup einen Privatjet für ihre Vorstände. Wert: 50 Millionen Dollar. US-Politiker sind empört

New York - Diese Meldung musste für Ärger sorgen: Die US-Großbank Citigroup wird für 50 Millionen Dollar einen neuen Firmenjet kaufen. Das tut sie in einem Moment, in dem die US-Regierung dem wankenden Bankriesen mit insgesamt 45 Milliarden Dollar unter die Arme greift.

Die Bank habe das Flugzeug des französischen Typs Dassault Falcon 7X im Jahr 2005 bestellt und wolle damit ältere Modelle ersetzen und die Zahl der Firmenjets reduzieren, heißt es in einer E-Mail der Citigroup an die Nachrichtenagentur Bloomberg. Das Flugzeug jetzt nicht zu übernehmen, würde Millionen an Strafzahlungen nach sich ziehen, hieß es dort weiter. Außerdem würden im Gegenzug zwei ältere Flugzeuge für je 27 Millionen Dollar verkauft. Die Bank wies außerdem darauf hin, dass es strenge Unternehmensregeln zum Einsatz der Firmenjets gebe und die Manager aufgerufen seien, wann immer möglich Linienflüge zu buchen, um Geld zu sparen.

Das alles half nicht: Carl Levin, demokratischer Senator für Michigan, rief das US-Finanzministerium umgehend auf, den Kauf des Flugzeugs zu prüfen. "Der Citigroup den Kauf eines Nobelflugzeugs - und dann auch noch ein ausländisches Fabrikat - zu erlauben, während die US-Autobauer ihre Jets verkaufen müssen, ist lächerlich und scheinheilig."

Dass er sich besonders ärgert, ist verständlich. Die Zentralen der großen Autobauer sind in seinem Bundesstaat Michigan beheimatet, in und um die "Motor City" in Detroit. Die Chefs von General Motors, Ford und Chrysler hatten Ende des Jahres die geballte Häme des Kapitols über sich ergehen lassen müssen, weil sie zu einer Anhörung mit dem Privatjet angereist waren, um Milliardenhilfen zu erbetteln. Zu einer späteren Anhörung kamen sie dann über Land in umweltfreundlichen Limousinen gefahren.

Politisch interessant ist die Geschichte, weil es einen Entwurf des staatlichen Banken-Rettungsprogramms TARP gab, in dem die Nutzung von Firmenjets komplett untersagt werden sollte. Der Entwurf musste aber geändert werden. Die Vertreter von Bundesstaaten, in denen Flugzeugbauer beheimatet sind, wehrten sich vehement. Nach Angaben der New York Times könnte es nach dem Jet-Kauf von Citigroup gut sein, dass nochmals über ein komplettes Verbot von Firmenjets für hilfsbedürftige Banken nachgedacht wird.

Die Citigroup zählt weltweit zu den größten Opfern der Finanzkrise. Der amerikanische Staat musste bislang nicht nur mit einer Beteiligung in Höhe von 45 Milliarden Dollar einspringen - er spannte außerdem durch weitere Garantien einen enormen Rettungsschirm über die Bank. Reuters/dpa

Exklusiver Firmenjet für die Citigroup: Dassault Falcon 7X. F.: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Amazon rechnet in der Wolke

Das Internetkaufhaus vertreibt nicht nur Bücher, sondern auch Rechenleistung - und will so den Weg ändern, Geschäfte zu machen

Von Thorsten Riedl

München - Wer, so fragt Werner Vogels spontan in die Runde, nutze eigentlich die Dienste von Amazon im Internet? Auf die Frage des Technikvorstandes des weltweit größten Internetkaufhauses hin heben sich am Dienstag fast ein Dutzend Hände im Großen Atrium im Münchener HVB-Forum, in der die DLD-Technikkonferenz stattfindet. "Das sind alles Leute, die ihr Geschäft mit Hilfe unserer Computer betreiben", sagt Vogels. Fast unbemerkt hat sich Amazon zum Anbieter von Computerinfrastruktur über das Netz entwickelt, für so genanntes Cloud Computing. "Das ist ein eigenständiges Geschäftsfeld - eines mit Substanz", erklärt er der Süddeutschen Zeitung.

Vom Cloud Computing ist die Rede, wenn die Rechenleistung nicht am eigenen Schreibtisch oder mit einem Notebook unterwegs stattfindet, sondern im Internet - also weit entfernt im Rechenzentrum eines Anbieters. Die Suchmaschine Google beispielsweise hat ein E-Mail-Programm ins Netz gestellt und eine Tabellen- und Textverarbeitung. Diese Anwendungen werden in den Server-Farmen des Unternehmens ausgeführt, die jeweiligen Daten dort gespeichert. Die Ergebnisse bekommt der Anwender live auf seinem heimischen Bildschirm zu sehen. Neben Amazon und Google setzen auch andere, große Spieler der IT-Branche wie IBM und Microsoft darauf, dass in Zukunft wesentlich mehr Dienste via Cloud Computing laufen.

Während Google oder Microsoft ihre Software im Internet in erster Linie für Verbraucher anbieten, will Vogels für Amazon vor allem die Entwickler gewinnen. "Jeff Bezos' Risky Bet", titelte dazu das US-Wirtschaftsmagazin Business Week im Herbst 2006, zu deutsch: die riskante Wette des Amazon-Chefs. Die Analysten der Wall Street zweifelten damals in dem Bericht, ob es die richtige Strategie für das Online-Kaufhaus Amazon sei, nun neben Büchern und Videos auch Rechenkapazitäten und Speicherplatz über das Internet zu verkaufen.

Zweieinhalb Jahre später scheint der Plan aufgegangen. In den vergangenen zwölf Monaten hat sich die Zahl der Nutzer von Amazons Infrastruktur verfünffacht auf inzwischen eine halbe Million Entwickler. Vogel berichtet von Wagniskapitalgebern, die inzwischen Wert darauf legen, dass junge Unternehmen nicht mehr für viel Geld eine eigene IT-Infrastruktur aufbauen, sondern die Dienstleistungen von Amazon mieten. "Es liegt kein Mehrwert darin, Computer zu warten, sagt Vogels.

Die Arbeit an den Computern will Amazon lieber als Dienstleister übernehmen - gegen einen entsprechenden Obolus, versteht sich. Einfache Datenbanken, Speicherplatz oder Rechenleistung etwa bietet das Unternehmen über das Netz an. Die Dienste lassen sich einfach mieten, gezahlt wird pro Stunde oder pro Gigabyte an genutztem Speicher. "Das verändert den Weg, wie Geschäfte gemacht werden können", erklärt Vogels. Ausgaben für die IT würden nicht mehr als Kapitalkosten anfallen, sondern als laufende Investitionen.

Der gebürtige Niederländer Vogels ist der Kopf bei Amazon hinter der Cloud Computing-Strategie. Das IT-Magazin Informationweek hat ihn im vergangenen Jahr zum besten Technikchef gewählt. Er selbst weist dem Titel wenig Bedeutung zu. "Das ist eine Teamleistung", sagt er. Von München reist Vogels weiter nach Davos. Vier Vortragsrunden wird es auf dem Weltwirtschaftsforum zum Cloud Computing geben. Erreicht das Thema damit die Massen? "Ja - eindeutig", sagt der Technikchef von Amazon.

Ein Supercomputer in einem Hochleistungs-Rechenzentrum an der Universität Stuttgart. Foto: ddp

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Renault ist Schlusslicht bei Rückrufen

Bundesverkehrsministerium legt Zahlen für die vergangenen 16 Jahre vor. Deutsche Hersteller schneiden überwiegend gut ab

Von Thomas Öchsner und Michael Bauchmüller

Berlin - Ein modernes Auto soll möglichst viele Jahre ohne Pannen und Fehler laufen. Jedes neue Fahrzeug wird deshalb akribisch geprüft, bevor es beim Kunden landet. Trotzdem ist nicht jedes Mal alles perfekt: Immer wieder kommt es zu Rückrufaktionen, weil nachträglich Mängel auftauchen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Bärbel Höhn wollte es nun ganz genau wissen. Sie fragte beim Bundesverkehrsministerium nach, wie sich die Rückrufaktionen in den vergangenen Jahren auf die Autohersteller verteilen. Die Antwort, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, ist vor allem für Renault schlecht: Der französische Hersteller führt die Liste der Rückrufaktionen mit weitem Abstand an. Die deutschen Hersteller können sich dagegen freuen: Sie schneiden etwas besser ab als die ausländischen Hersteller.

Insgesamt kommt Renault nach Angaben des Bundesverkehrsministeriums auf 101 verschiedene Rückrufe von Anfang 1993 bis Ende 2008. Auf Platz zwei rangiert Ford mit 73 Rückrufen, gefolgt von Fiat mit 62 und Chrysler mit 52. Auffällig ist das gute Abschneiden der deutschen Premium-Hersteller BMW, Mercedes und Porsche. VW und Audi liegen dagegen eher im Mittelfeld (Tabelle). Die Zahlen beruhen nicht auf einer eigenen Erhebung des Verkehrsministeriums. Sie stammen vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), das jedes Jahr eine Rückruf-Statistik vorlegt. In der Aufstellung des Ministeriums werden Omnibusse, Motorräder, Lkw und kleine Lieferwagen nicht mitgezählt.

Tücken der Statistik

Der ADAC warnte jedoch davor, von der Zahl der Rückrufe auf die Qualität einer Automarke zu schließen. "Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich Hersteller ihrer Verantwortung beim Thema Sicherheit stellen", sagte ein Sprecher des Automobilklubs dazu. Dies sei viel besser, "als Probleme totzuschweigen und die Fehler in den Werkstätten heimlich zu bearbeiten". Außerdem ist die Statistik insofern trügerisch, als die Zahl der Rückrufe nicht in Beziehung gesetzt wird zur Menge der verkauften Autos. Hinzu kommen große Unterschiede bei der Zahl der vom KBA ermittelten Halteranschriften pro Rückruf. Hier liegt der Durchschnittswert bei BMW zum Beispiel bei 171 606 Fahrzeugen, bei Renault sind es nur 8923.

Das Flensburger KBA hatte für 2007 insgesamt 157 Rückrufaktionen gezählt. Das waren sechs Prozent weniger als im Vorjahr. 2006 war die Zahl noch deutlich gestiegen. Das Amt kann im Fall einer Rückrufaktion die Halter der Fahrzeuge ermitteln, bei denen der Hersteller einen Mangel entdeckt hat. Die Zahl der Fahrzeuge, die zurück in die Werkstatt müssen, hat sich zuletzt deutlich verringert. Nach Angaben des Amtes fiel sie von durchschnittlich 11 080 Fahrzeugen pro Aktion über 6090 im Jahr 2006 auf 3420 im Jahr 2007. Für diese Entwicklung kann es nach Angaben der KBA verschiedene Ursachen geben: So können die Hersteller zum Beispiel die Produktmängel besser auf bestimmte Fahrzeugserien einschränken und auch mit eigenen Adressen die Aktion abwickeln. Das Durchschnittsalter der zurückgerufenen Fahrzeuge belief sich auf 3,5 Jahre.

Branchenexperten wiesen darauf hin, dass der zunehmende Anteil von Elektronik in den Fahrzeugen eine Schwachstelle darstelle. Diese Einschätzung teilt das Kraftfahrt-Bundesamt nicht. "Mit 75 Prozent sind mechanische Mängel immer noch die häufigste Fehlerursache", heißt es im Jahresbericht der Behörde. Am häufigsten seien Rückrufe auf Grund von Mängeln bei der Bremse, am Motor oder Fahrwerk, bei Airbags, Sicherheitsgurten und bei der Lenkung erfolgt.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Es geht aufwärts - ein bisschen

Damit hatten die Volkswirte nicht gerechnet: Der Geschäftsklima-Index des Ifo-Instituts, ein viel beachtetes Stimmungsbarometer für die Wirtschaft, ist sieben Monate lang gefallen. Doch im Januar legte der Indikator, so das Ergebnis einer Umfrage unter Firmen, überraschend zu, wie das Institut am Dienstag bekanntgab. Allerdings war die Steigerung winzig - von 82,7 Zählern im Dezember auf 83 Punkte im Januar- , und der Index notiert immer noch sehr niedrig. Fachleute warnten deshalb , schon von einem Ende der Rezession zu träumen. Zumal die Industriebetriebe in der Umfrage berichteten, dass sich das Exportgeschäft weiter verschlechtert. Daher wollen sie Stellen streichen. (Kommentare) bfi

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neues Hilfsprogramm der Regierung

Milliarden für die Exportwirtschaft

Profitieren sollen Großkonzerne wie Airbus und Siemens, aber auch die Autoindustrie

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Die Regierung plant ein milliardenschweres Hilfsprogramm zur Unterstützung der deutschen Exportwirtschaft. Es soll einerseits Darlehensbürgschaften umfassen, darüber hinaus sind auch direkte Finanzhilfen der Förderbank KfW an kreditgebende Banken im Gespräch.

"Vereinfacht gesagt wollen wir sicherstellen, dass die für den Kauf großer, teurer Exportgüter nötigen Langfristkredite auch während der aktuellen Wirtschaftskrise zur Verfügung gestellt werden", sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Peter Hintze, der Süddeutschen Zeitung. Als Beispiel nannte er den europäischen Flugzeugbauer Airbus, der wegen der Rezession in vielen Industrieländern in großem Umfang Abbestellungen befürchtet. "Es geht aber ausdrücklich nicht nur um eine ,Lex Airbus'", betonte Hintze mit Blick auf anderslautende Berichte.

Damit schafft die Regierung nach dem Rettungspaket für die Banken eine Art Schutzschirm für die gesamte Großindustrie. Profitieren könnten neben Airbus auch Konzerne wie etwa Siemens oder Bosch, aber auch die krisengeschüttelten Autobauer. Das Wirtschaftsministerium und die übrigen beteiligten Häuser arbeiteten mit Hochdruck daran, "der deutschen Exportindustrie bei den aktuellen Problemen, die durch die weltweite Finanzkrise entstanden sind, mit zusätzlichen Instrumenten zu helfen", sagte Hintze, der auch Luft- und Raumfahrtkoordinator der Bundesregierung ist. Welches Volumen ein solches Hilfspaket haben müsse, stehe noch nicht fest.

Konkret ist vorgesehen, das bestehende Exportkreditprogramm der Bundesregierung, die sogenannten Hermes-Bürgschaften, auszuweiten. Über diese Programme können sich Unternehmen für den Fall versichern, dass ein Kunde aus dem Ausland die bestellte und gelieferte Ware nicht bezahlt. Kommt es zu einem solchen Zahlungsausfall, erhalten die Firmen ihr Geld vom Staat. Derzeit besteht jedoch das Problem, dass manche Banken aus Mangel an Liquidität selbst dann keine langfristigen Kredite vergeben, wenn das Darlehen zu 100 Prozent verbürgt ist. Um dem zu begegnen, soll ein KfW-Programm aufgelegt werden, aus dem in Deutschland zugelassene Banken im Zweifel direkte Finanzhilfen zur Gewährung des Darlehens erhalten könnten. "Wie das im Einzelnen geschehen soll, steht noch nicht fest. Wir wollen aber gewährleisten, dass ein verbürgtes und damit sicheres Kreditgeschäft auch wirklich zustande kommt", sagte Hintze.

Im Fall von Airbus wollen die betroffenen Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu je einem Drittel bürgen, wenn eine Fluggesellschaft eine Maschine auf Kredit ordert. Voraussetzung ist, dass die Airline in der Vergangenheit ihre Rechnungen in der Regel fristgerecht bezahlt hat. Hinzu kommen könnten Hilfen an die kreditgebenden Banken der Fluggesellschaft.

Zuvor hatte bereits Frankreich Milliardenhilfen für die Finanzhäuser des Landes angekündigt, um die Darlehensvergabe an Airbus-Kunden zu sichern. "Durch ein Übereinkommen mit dem Staat werden die Banken fünf Milliarden Euro freigeben", sagte der Chef des Airbus-Mutterkonzerns EADS, Louis Gallois, der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Damit sei eine "signifikante Zahl" an Flugzeuglieferungen gesichert. Zusätzlich werde Airbus - wie auch schon in der Vergangenheit - selbst die Kunden unterstützen. EADS habe insgesamt neun Milliarden Euro in der Kasse.

Deutschland und Frankreich müssen allerdings aufpassen, dass die Hilfen für die Luftfahrtbranche von der EU-Kommission in Brüssel nicht als unerlaubte Subventionen eingestuft werden. Auch die USA, wo mit Boeing der größte Airbus-Konkurrent sitzt, könnten aktiv werden. Washington und Brüssel hatten sich in den vergangenen Jahren immer wieder gegenseitig vorgeworfen, den jeweils "eigenen" Konzern mit unerlaubten Mitteln zu unterstützen.

Die EADS-Aktie notierte am Dienstagnachmittag trotz des absehbaren Staatsbeistands im Minus. Allerdings hatte das Papier in den Vortagen wegen der Spekulationen über mögliche Hilfsmaßnahmen teils deutlich zugelegt. (Kommentare)

Nach den Banken bekommt auch die Flugzeugindustrie Hilfe vom Staat, so die EADS-Tochter Airbus. Foto: dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

INHALT

PERSONALIEN

Der Tempomacher

Léo Apotheker hat bei SAP bald allein das Sagen. Seite 18

POLITIK UND MARKT

Geld für alle

Japan will die Konjunktur mit einem großem Hilfspaket ankurbeln. Seite 19

UNTERNEHMEN

Spitzenreiter bei Rückrufen

Renault schneidet in Statistik über 15 Jahre am schlechtesten ab. Seite 20

GELD

Sieger sehen anders aus

Ein betrogener Anleger auf der Suche nach Geld und Gerechtigkeit. Seite 26

Kursteil Seiten 22 und 24

Fondsseiten Seiten 24 und 25

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kurse des Tages

Die Bilanzvorlage von Siemens mit einem deutlichen Gewinnanstieg im ersten Quartal schob die Aktien des Münchner Mischkonzerns am Dienstag in der Spitze mit plus 5,65 Prozent auf etwa 46 Euro. Aktienhändler lobten einstimmig die gute Bilanz, machten aber vor allem die Bestätigung der Ziele für das Kursplus verantwortlich. (Seite 21)

Der 225 Werte umfassende Nikkei-Index stieg um 4,84 Prozent auf 8061 Punkte, nachdem er am Montag auf dem niedrigsten Stand seit fast drei Monaten geschlossen hatte. Exportwerte profitierten von einem schwächeren Yen. Dieser weitete seine Verluste aus, nachdem die Regierung eine Kapitalspritze für angeschlagene Unternehmen angekündigt hatte.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Siemens überrascht die Börse

Hoher Gewinn im ersten Quartal. Aktionäre kritisieren satte Gehaltserhöhung für Top-Manager

Von Markus Balser

München - Siemens verbucht in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahr-zehnten einen Milliardengewinn. Aufsichtsräte wollen sich deshalb mit einer Gehaltserhöhung für ihr Engagement belohnen und empören damit die Aktionäre. Denn schon jetzt scheint klar: Der Boom dürfte nur von kurzer Dauer sein.

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung hatte Bundespräsident Horst Köhler kürzlich bei einem Treffen im Berliner Schloss Bellevue von Siemens-Chef Peter Löscher und anderen deutschen Spitzenmanagern gefordert, der Krise stärker als bisher die Schulter zu zeigen. Die Siemens-Führung gab sich bei der Hauptversammlung vor fast 10 000 Aktionären entsprechend zuversichtlich. "Wir sehen keinen Grund, in den Chor derer einzustimmen, die mit düsteren Äußerungen die Stimmung weiter in den Keller ziehen", rief Löscher den Aktionären zu. "Siemens geht mit Selbstvertrauen, Kraft und Entschlossenheit durch das Jahr 2009."

Die jüngste Bilanz spricht für Löschers Optimismus. Der Konzern präsentierte einen unerwartet starken Gewinnanstieg im ersten Quartal. Siemens verdiente zwischen Oktober und Dezember im laufenden Geschäft 1,2 Milliarden Euro - fast zehn Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Der Umsatz stieg um sieben Prozent auf fast 20 Milliarden Euro. Allein im Energiegeschäft legte das Geschäft um 20 Prozent zu.

Doch auch der Konzernspitze schwant, dass der Boom nur von kurzer Dauer sein könnte. "Der Preiskampf wird weltweit zunehmen", sagte Finanzchef Joe Kaeser. Der Auftragseingang - Messlatte künftiger Geschäfte - schrumpft. Die nächsten Quartale würden härter, warnte Löscher. "2009 wird auch für Siemens ein schwieriges Jahr - ebenso wie 2010." Wie lange und anhaltend der Abschwung sein werde, könne derzeit niemand sagen, räumte Löscher ein. An drei Standorten in Deutschland mit insgesamt 2300 Mitarbeitern führe Siemens mit Betriebsräten bereits Gespräche über Kurzarbeit, verlautete aus Konzernkreisen.

Scharfe Kritik von Investoren an steigenden Bezügen für Manager und Aufsichtsräte musste sich das Top-Management angesichts der drohenden Einschnitte für die Beschäftigten anhören. Siemens-Chef Peter Löscher gehörte mit einem Jahressalär von zehn Millionen Euro zuletzt zu den Spitzenverdienern in Deutschland. Aufsichtsratschef Gerhard Cromme will mehr Geld für die Kontrolleure - und seine Bezüge mehr als verdoppeln. Hans-Christoph Hirt, Manager der internationalen Fondsgesellschaft Hermes Investment, warf der Konzernspitze deshalb mangelnde Sensibilität vor. "Ich hätte mir mehr Bescheidenheit angesichts der Weltwirtschaftskrise gewünscht", sagte Daniela Bergdolt von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.

Im Streit mit Ex-Vorständen, die in die Korruptionsaffäre verwickelt sind, zeigt Siemens Kompromissbereitschaft. Cromme sprach bei der Hauptversammlung von einem möglichen Vergleich. Konzernchef Peter Löscher erläuterte: "Wir wollen das Unternehmen befrieden - befrieden mit seiner jüngeren Vergangenheit und mit den Persönlichkeiten, die über die dunklen Seiten hinaus auch für wichtige Weichenstellungen stehen." Siemens fordert von den früheren Vorstandschefs Heinrich von Pierer und Klaus Kleinfeld sowie neun weiteren Ex-Vorständen Schadenersatz, weil sie nach Ansicht des Unternehmens ihre Aufsichtspflichten verletzt haben.

Ausstieg bei Areva

Am Montag hatte Siemens den Ausstieg aus der Partnerschaft mit dem französischen Atomkonzern Areva bekanntgegeben. Löscher kündigte an, der Konzern werde in den kommenden Monaten Verhandlungen über neue Kooperationen aufnehmen. Nach Angaben aus Konzernkreisen gilt die russische Staatsholding Atomenergoprom als Wunschpartner. In Teilen des Aufsichtsrats gibt es den Kreisen zufolge jedoch Skepsis an einer Partnerschaft mit Russland. "Wir haben im Gasstreit erlebt, was die Abhängigkeit von Moskau bedeuten kann", sagte ein Aufsichtsrat zur SZ. "Das sollten wir uns nicht zumuten." (Seite 21)

Ergebnis des Quartals Oktober bis Dezember 2008, Ergebnis des Vorjahresquartals sowie Veränderung in Prozent: Angaben in Milliarden Euro20082007Änd.%
Umsatz19,63418,400+ 6,7Betriebsergebnis (Ebitda)2,5902,103+23,2
Gewinn nach Steuern1,2306,475-81,0Auftragseingang22,22024,242- 8,3
Mitarbeiter weltweit425 000428 000- 0,7Mitarbeiter in Deutschland131 000133 000- 1,5
Quelle: Unternehmen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Verbraucherportal ohne Investor

Irischer Verlag zieht sich aus Verivox zurück

Düsseldorf - Das Verbraucherportal Verivox muss sich einen neuen Investor suchen. Der irische Zeitungs- und Medienkonzern Independent News & Media (INM) habe Verivox über seinen Rückzug informiert, teilte das Heidelberger Unternehmen am Dienstag mit. INM wolle sich auf das Kerngeschäft konzentrieren und sich von weiteren Beteiligungen trennen. Das Verbraucherportal sei mit der Suche nach einem neuen Partner beauftragt worden, über den Verivox und INM dann gemeinsam entscheiden wollen.

An Verivox ist INM mit 49 Prozent beteiligt. Mehrheitseigner sind die Geschäftsführer Andrew Goodwin und Alexander Preston. Als Finanzinvestor habe INM keinen Einfluss auf die Strategie oder das operative Geschäft von Verivox.

Die 1998 gegründete Verivox GmbH ist ein Verbraucherportal für Energie und Telekommunikation. Konsumenten können auf der Internetseite Tarife vergleichen und den Anbieter wechseln.

Vor einigen Tagen hatte Verivox angekündigt, 84 der rund 200 Stellen abzubauen. Davon betroffen sind 33 Mitarbeiter in Vollzeit, größtenteils aber Studenten und Teilzeitbeschäftigte. Als Gründe nannte das Unternehmen ein schwächeres Wachstum 2008 als erwartet und technische Neuerungen, etwa bei der Erfassung von Tarifen, die weniger Mitarbeiter notwendig machten. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Fannie Mae braucht bis zu 16 Milliarden Dollar

Washington - Der unter staatlicher Kontrolle stehende US- Hypothekenfinanzierer Fannie Mae benötigt angesichts riesiger Verluste eine staatliche Soforthilfe von bis zu 16 Milliarden Dollar (rund 12,1 Milliarden Euro). Wie Fannie Mae am Montag berichtete, wären die benötigten 11 bis 16 Milliarden Dollar die erste Finanzspritze im Rahmen des Programms, das die US-Regierung im vergangenen Jahr für Fannie Mae und den anderen Hypothekengiganten Freddie Mac auflegte. Der Bedarf habe sich nach einem ersten Überblick über das vierte Quartal 2008 ergeben.

Fannie Mae braucht das Geld vom Finanzministerium, um die Geschäfte weiterführen zu können. Freddie Mac hatte erst am Freitag weitere 30 bis 35 Milliarden Dollar (23 bis 27 Millarden Euro) an Staatshilfen beantragt. Das Unternehmen hatte bereits im November 13,8 Milliarden Dollar erhalten.

Auf die beiden Hypothekengiganten Freddie Mac und Fannie Mae, bei denen im Zuge der Finanzkrise der Staat das Steuer übernommen hat, entfällt etwa die Hälfte der Immobilienkredite in den USA. Um einen völligen Kollaps des Hypothekenmarkts zu verhindern, waren die in extreme Schräglage geratenen Institute im September unter staatliche Kontrolle gestellt worden. dpa

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der unerwartete Anstieg des Ifo-Geschäftsklimaindex' hat dem Euro am Dienstag Auftrieb gegeben. Die Gemeinschaftswährung kletterte bis auf 1,3328 Dollar, nach 1,3172 Dollar zum Ende des Handels am Vortag in New York. "Seit langer Zeit kommt wieder ein Hoffnungsschimmer auf", sagte Analyst Rainer Sartoris von HSBC Trinkaus. "Das könnte ein erstes Anzeichen sein, dass wir im zweiten Halbjahr eine Stabilisierung der Konjunktur bekommen. Man muss allerdings vorsichtig sein: Das ist nur eine Zahl, und der Ifo-Index befindet sich noch immer auf sehr niedrigem Niveau."

Am Goldmarkt machten Investoren Kasse, nachdem der Preis am Vortag noch auf ein Dreieinhalb-Monats-Hoch von 915 Dollar gestiegen war. Zum Londoner Nachmittagsfixing kostete eine Feinunze Gold 897,50 (Montag: 910,25) Dollar. SZ/Reuters/dpa

Devisen und Rohstoffe: Euro legt weiter zu

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Deutsche Börse: TecDax überrascht positiv

Der Dax verlor am Dienstagnachmittag 1,3 Prozent und notierte bei 4272 Punkten. Damit büßte er einen Teil der Vortagesgewinne wieder ein. Der MDax gab 1,1 Prozent auf 4875 Punkte ab. Gegen den Trend stemmte sich dank fester Indexschwergewichte der TecDax mit einem Plus von 2,1 Prozent auf 469 Punkte.

"Das Tagesthema ist die Siemens-Bilanz, und die guten Ergebnisse haben zunächst für eine deutliche Stimmungsverbesserung bei den zuletzt verunsicherten Börsianern gesorgt", sagte Thilo Müller, Geschäftsführer bei MB Fund Advisory.

Die Bilanzvorlage von Siemens mit einem Gewinnsprung im ersten Quartal schob die Aktien des Mischkonzerns mit 2,4 Prozent auf 44,60 Euro ins Plus. Hinzu sei noch der besser als erwartet ausgefallene Ifo-Index gekommen.

Finanzwerte zählten dagegen wieder zu den Verlierern. Versicherer wurden zusätzlich von einer negativen Branchenstudie von Bernstein Research belastet. Allianz-Papiere fielen um 3,3 Prozent auf 63,03 Euro. Im TecDax legten die Aktien der Berichtsunternehmen kräftig zu. Titel der Software AG verteuerten sich um 11,3 Prozent auf 43,81 Euro. Deutschlands zweitgrößter Softwarehersteller hat 2008 der Krise durch gute Absatzzahlen und den Einstieg in Brasilien getrotzt. Auch Aktien von Phoenix Solar legten deutlich zu und gewannen zehn Prozent auf 29,51 Euro. Das Solarunternehmen aus Bayern will im laufenden Geschäftsjahr seinen Umsatz um gut 35 Prozent auf 520 Millionen Euro steigern und diesen bis 2013 sogar auf 1,5 Milliarden Euro erhöhen.

Am Rentenmarkt legte der Bund-Future auf 122,67 Punkte zu (Vortag: 122,87).

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Zumwinkel zweifelt am Rechtsstaat

Nach seiner Verurteilung geht er mit der Justiz hart ins Gericht

Von Hans Leyendecker

Bochum - Am Abend nach dem Urteil flog Klaus Zumwinkel mit seiner Familie in den Skiurlaub nach Italien. Zuvor hatte der wegen Steuerhinterziehung am Montag zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und zu einer Geldauflage von einer Million Euro verurteilte frühere Postchef zwei Zeitungen in einem Bochumer Hotel Interviews gegeben. Dem Bonner General-Anzeiger sagte er, sein Vertrauen in den Rechtsstaat habe durch das Verfahren gelitten. Behörden hätten "gegen mehrere Gesetze verstoßen".

Er beklagte vor allem, dass der "Termin und die Tatsache der Durchsuchung öffentlich bekannt" geworden sind. Zudem sei es verboten, "Akten mit Steuerdaten weiterzugeben". Aus "diesen Gesetzesbrüchen" sei dann eine "mediale Hinrichtung" geworden: "Ich habe meine Fehler gemacht, und die Behörden haben ihre Fehler gemacht", sagte der 65-Jährige.

In dem Gespräch mit der FAZ beklagte er sich, dass "ein anderer Angeklagter, der einen viel größeren Steuerschaden verursacht" habe "genauso bestraft worden ist wie ich". Zumwinkel, der 967 000 Euro Steuern hinterzogen hatte, sprach über den Fall eines 67-jährigen Kaufmanns aus Bad Homburg, der dem Fiskus acht Millionen Euro Steuern vorenthalten hatte. Der Kaufmann war wie berichtet im Juli vergangenen Jahres von einer anderen Wirtschaftsstrafkammer des Bochumer Landgerichts ebenso wie jetzt Zumwinkel zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Zumwinkel kündigte an, in Zukunft mehr Zeit in seiner 800 Jahre alten Burg über dem Gardasee zu verbringen. Auch wolle er künftig selbständig als Unternehmer und Investor arbeiten.

Keine detaillierten Angaben machte er weiterhin zu dem Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Spitzelaffäre der Telekom, das die Bonner Staatsanwaltschaft schon vor Monaten gegen ihn einleitete. Die Strafverfolger gehen weiter dem Verdacht nach, Zumwinkel könnte als Aufsichtsratschef die damalige Sicherheitsabteilung des Konzerns zu Verstößen gegen das Post - und Fernmeldegeheimnis aufgefordert haben. Schnüffler des Konzerns hatten sich illegal die telefonischen Verbindungsdaten von Aufsichtsratsmitgliedern und Journalisten besorgt, um Lecks im Konzern ausfindig zu machen.

Die Rolle Zumwinkels ist noch nicht geklärt. In nordrhein-westfälischen Justizkreisen wird spekuliert, dass es für den früheren Postchef eng werden könnte. Wenn er im Bonner Telekom-Verfahren auch belangt werde, drohe ihm am Ende doch eine Gefängnisstrafe. Ein Gericht könnte dann eine Gesamtstrafe verhängen, die möglicherweise nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt würde.

Der Bochumer Oberstaatsanwalt Fred Apostel, der das Verfahren leitet, hält selbst dieses Szenario "für sehr unrealistisch". Auch angesichts der hohen Geldauflage für Zumwinkel in Bochum, die bei einer eventuellen Gesamtstrafe berücksichtigt werden müsste, schließt er derzeit zumindest eine solche Konstellation aus. Nach Ansicht von Fahndern ist es sogar möglich, dass am Ende die Ermittlungen gegen Zumwinkel in Bonn eingestellt werden. "Wir haben wenig gegen ihn in der Hand", sagt ein Fahnder. Die Staatsanwaltschaft will das Spitzel-Verfahren, das im Mai vergangenen Jahres durch eine Strafanzeige der Telekom ausgelöst worden war und sich insgesamt gegen etwa ein Dutzend Beschuldigter richtet, im Sommer dieses Jahres zu Ende bringen.

Verurteilter Zumwinkel. Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Marktdaten 27.1.09Vortag Änd.
MDax(16 Uhr)4910,764927,47 - 0,34 %
TecDax(16 Uhr)474,01459,81 + 3,09 %
Euro Stoxx 50(16 Uhr)2213,542226,77 - 0,59 %
Dow Jones(16 Uhr)8174,348116,03 + 0,72 %
Euro Interbanken(16 Uhr)1,32151,3172 +0,0043 $
Gold je Feinunze * 897,50910,25 - 12,75 $
Brent-Öl je Barrel(16 Uhr)44,7146,96 - 2,25 $
10j. Bundesanl.(16 Uhr)3,273,35 - 0,08**
10j. US-Staatsanl.(16 Uhr)2,642,65 - 0,01**
* Londoner Nachmittagsfixing ** Prozentpunkte
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Raus aus der Schmuddelecke

Präsident Barack Obama könnte Amerika für nachhaltige Geldanlagen wieder interessanter machen. Die Bankenkrise gibt ethischen Finanzprodukten einen Schub

Von Martin Hesse

Frankfurt - Barack Obama könnte Amerika aus der Schmuddelecke der Geldanlage holen. Diese Erwartung knüpft jener noch immer kleine Teil der Investmentbranche an den neuen US-Präsidenten, der soziale, ökologische und ethische Kriterien in die Anlagepolitik einbezieht. "Wenn Präsident Obama ernst macht mit seinen Ankündigungen, dann werden Anleihen der USA auch für nachhaltig orientierte Investoren zunehmend interessant", sagt Oliver Rüdel von der Ratingagentur Oekom Research.

In dem neuen Länderrating von Oekom nehmen die USA unter 50 OECD-Staaten und Schwellenländern den 40. Platz ein. Wie jedes Jahr hat die Ratingagentur anhand von 150 Kriterien ermittelt, wie sozial- und umweltverträglich Staaten wirtschaften. Der Verbrauch von Ressourcen und der CO2-Ausstoß werden dabei ebenso untersucht wie das Bildungssystem, Pressefreiheit und die Achtung der Menschenrechte. Das Rating dient Investoren und Finanzdienstleistern als Grundlage für ihre Anlageentscheidung. Insgesamt werden etwa 90 Milliarden Euro auf Basis von Oekom-Ratings für Staaten und Unternehmen investiert.

Deutschland liegt in dem seit 2001 erhobenen Ranking meist dicht hinter den skandinavischen Staaten - in diesem Jahr auf Rang sechs. Dagegen schneiden die USA traditionell schlecht ab. Sie rangieren diesmal zwischen Mexiko und der Türkei. Schlechter legt man aus Sicht nachhaltig ausgerichteter Investoren sein Geld nur in Ländern wie Indien, China oder Südafrika an.

Doch das könnte sich unter Obama ändern. "Wenn der neue Präsident alles umsetzt, was er angekündigt hat, könnten die USA in die erste Hälfte vorrücken", sagt Rüdel. Allerdings dürfte das eher zwei Legislaturperioden dauern. Die Empfehlungen von Oekom decken sich weitgehend mit Obamas Agenda: Schließung des Gefangenenlagers in Guantánamo, Abschaffung der Folter, Rückzug aus dem Irak, Ratifizierung des Kyoto-Protokolls, Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und Investitionen in die Infrastruktur.

Die Analysten haben neue Kriterien entwickelt, die stärker berücksichtigen, inwieweit Länder über ihre Verhältnisse leben. Dieser "ökologische Fußabdruck" bemisst sich etwa daran, wie viel Trinkwasser pro Kopf verbraucht, wie viel Fleisch gegessen und wie viele Autos gefahren werden. Dadurch fallen auch einige der traditionell besser bewerteten westlichen Industrieländer im Vergleich zu den aufstrebenden Staaten zurück. Das gilt etwa für Australien und Großbritannien.

Die gravierendste Veränderung in der Welt, die Finanzkrise, schlägt sich dagegen bislang in den Ratings kaum nieder. Rein finanzielle Kriterien untersucht Oekom anders als die klassischen Ratingagenturen wie Standard & Poor's nicht. Es gibt bei Oekom zwar Überlegungen, wie man auch die Regulierung der Finanzmärkte in die Bewertung einbeziehen kann. Es fehlt allerdings an quantifizierbaren Kriterien und verlässlichen Daten. Oekom bewertet aber beispielsweise das Betreiben von Offshore-Zentren negativ, über die Länder wie Großbritannien Banken und Investoren anlocken.

Die Finanzkrise macht sich allerdings in einer erhöhten Nachfrage nach ökologisch und sozial gemanagten Anlageprodukten bemerkbar. Das Volumen der nachhaltigen Investmentfonds ist zwar im deutschsprachigen Raum 2008 bis Ende September leicht zurückgegangen (siehe Grafik). Doch das liegt daran, dass der Wertverfall von Aktien und Unternehmensanleihen auch Nachhaltigkeitsfonds getroffen hat. Anders als klassische Fonds berichten sie jedoch von hohen Mittelzuflüssen. Außerdem drängen neue Anbieter auf den Markt. "Wir hatten noch nie so viele Neuverträge wie in den vergangenen Monaten", sagt Oekom-Chef Robert Haßler.

Vor allem kirchliche Investoren und Pensionskassen wollten ihr Geld verstärkt nachhaltig anlegen. "Die Finanzkrise zeigt, dass kurzfristige Gier zu einem Versagen des Marktes führt", sagt Haßler. Auch die Beratungsgesellschaft für sozial-ökologische Innovationen, Imug, berichtet von einem verstärkten Interesse an nachhaltiger Geldanlage. Eine von Imug mit dem Südwind-Institut für Ökonomie und Ökumene erstellte Studie kommt zu dem Schluss, dass kirchliche Investoren auch mit ihrem Kapitalvermögen für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten wollen. Dazu planten sie, ihre Investitionen in nachhaltige Anlageprodukte aufzustocken, aber auch stärker in einen Dialog mit Unternehmen zu treten, bei denen sie investiert sind.

Gefangenentransport in Guantánamo: Das Lager ist einer der Gründe, weshalb die USA bei nachhaltig denkenden Anlegern schlecht angesehen sind. Das könnte sich nun ändern. Foto: AP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Weltbörsen: Hoffnung macht sich breit

Hoffnungen auf ein schnelles Vorgehen des neuen US-Finanzministers Timothy Geithners im Kampf gegen die Rezession haben den US-Börsen am Montag leichten Auftrieb verschafft. Der Dow Jones legte in den ersten Handelsminuten um 0,6 Prozent auf 8162 Punkte. Der breiter gefasste S&P 500 gewann 0,8 Prozent auf 843 Zähler. Der Nasdaq-Composite verbesserte sich um 0,7 Prozent auf 1500 Punkte. Nach längerer Verzögerung hatte der US-Senat Geithner am Montag als neuen Finanzminister bestätigt. Der 47-Jährige kündigte bei seiner Vereidigung an, rasch in die Offensive zu gehen. Im Hochtechnologiesektor kletterten die Aktien des Elektronikkonzerns Texas Instruments (TI) 4,4 Prozent auf 15,40 Dollar. Das Unternehmen streicht angesichts der Krise zwölf Prozent seiner Stellen. Für das laufende erste Quartal schloss TI wegen der Schwäche im Handy-Markt einen Verlust nicht aus. Der Gewinnrückgang im abgelaufenen vierten Quartal fiel allerdings weniger stark aus als von Analysten erwartet.

Die europäischen Aktienmärkte verbuchten mehrheitlich Kursverluste. Der Euro Stoxx 50 lag um 16 Uhr 1,1 Prozent im Minus bei 2203 Punkten. Der Tokioter Nikkei 225 Index schloss dagegen knapp fünf Prozent höher bei 8061 Punkten.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de