Gemeinsam gescheitert

Für die Europäer schlug im Herbst die Stunde der Wahrheit. Wie stark ist die Wirtschaftsmacht Europa wirklich? Nicht sehr, wie sich zeigte. Nationale Reflexe behindern immer noch europäisches Handeln. Ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik bleibt die Union begrenzt handlungsfähig. Von Martin Winter

Kleine Gemeinheiten können in der Politik große Wirkung entfalten. Als sich der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Herbst angesichts der heraufziehenden Wirtschaftskrise in Gegenwart der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zu der Bemerkung verstieg, Frankreich handle, während Deutschland nachdenke, da war der Welt klar, dass sie vergeblich auf eine europäische Antwort auf die globale Rezession warten würde.

Nun vermag auch heute niemand zu sagen, ob das hastige Verprassenvon Milliarden aus den Staatskassen die bessere Reaktion auf den Einbruch der Weltwirtschaft war als das ruhige Nachdenken über die richtigen Hebelpunkte für Konjunkturhilfen. Doch eines wissen Amerikaner, Chinesen, Inder, Brasilianer oder Russen, allesamt Mitwettbewerber Europas um politische und wirtschaftliche Spitzenplätze, von jetzt an: Der europäische Markt ist groß, der Euro ist stark, aber der politische Wille der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist zu schwach, um mit diesen Pfunden zum gemeinsamen Nutzen zu wuchern.

Auf ihren Gipfeltreffen Mitte Oktober und Mitte Dezember versuchten die Europäer zwar, den Eindruck gemeinsamen Handelns zu erwecken. Doch es wurde nur abgenickt, was sich zuvor auf chaotische und meist strittige Weise entwickelt hatte. Von einem "koordinierten" Vorgehen, dessen die Europäische Union sich dann rühmte, konnte keine Rede sein.

Als die Finanzkrise mit dem Untergang von Lehman Brothers voll ausbrach, wurden die Europäer kalt erwischt. Und sie reagierten nach dem Motto: Rette sich, wer kann. Den Anfang machte Irland, das über Nacht ohne Rücksprache mit seinen Partnern eine Staatsgarantie für seine Banken abgab. Die Briten reagierten darauf umgehend mit einem ähnlichen Programm und einer Teilverstaatlichung von Banken. Großbritannien musste, wie andere Länder auch, fürchten, dass Kapital von seinen unsicheren Banken Zuflucht bei den staatlich gesicherten in Irland suchen würde.

Anstatt die anderen Regierungschefs umgehend zu einem Krisentreffen zu laden, um eine gemeinsame Reaktion auf die nach Europa schwappende Bankenkrise auszuarbeiten, verhedderte sich Sarkozy, damals EU-Präsident. Erst holte er die vier europäischen Mitglieder der G 8 zusammen. Merkel kam nur widerwillig und mit der Botschaft, die deutschen Finanzhäuser brauchten keinen Rettungsfonds. Als kaum 24 Stunden später die Hypo Real Estate über der Kanzlerin zusammenbrach, folgte Berlin dem irischen und britischen Vorbild. Wenig später rief Sarkozy die Eurogruppe zu sich und als Gast den britischen Premier Gordon Brown. Der Rest der Europäischen Union durfte zusehen und warten, was die anderen beschließen.

Wie wenig die Union auf Krisen dieser Art vorbereitet ist, räumte der Gipfel Mitte Oktober unfreiwillig ein. Dort wurde unter anderem beschlossen, einen - allerdings nur informellen - "Mechanismus zur Frühwarnung, zum Informationsaustausch und zur Evaluierung (der Krisenstab für den Finanzmarkt)" einzurichten. Nicht einmal darüber verfügte die Europäische Union bislang. Da wundert es kaum, dass sie vom Bankrott ihrer Mitglieder Ungarn und Lettland Ende des Jahres ziemlich überrascht wurde.

Dass die Europäer in dieser Krise auseinanderliefen, hat viele Gründe. Zwei aber stechen heraus: Misstrauen und kurzsichtiger Eigennutz. Auch wenn die beiden großen Wirtschaftsnationen Frankreich und Deutschland politisch so eng zusammenarbeiten wie sonst keiner in der Europäischen Union, trauen sie sich doch wirtschaftlich nicht über den Weg. Kaum spielte Paris mit der Idee, die Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe als eine Art "europäische Wirtschaftsregierung" zu etablieren, ging Berlin in Abwehrstellung. Dort glaubt man seit jeher, dass Frankreich von der Wirtschaft nichts versteht und dass es nur seine staatsinterventionistische Politik auf ganz Europa ausdehnen wolle - natürlich zum eigenen Nutzen. Paris hä;lt die Deutschen dagegen für unflexibel. Die seien auch dann noch von der Angst vor einer Inflation besessen, wenn es die weit und breit nicht gebe.

Wenn sich Deutschland und Frankreich aber wirtschaftspolitisch belauern, dann kann es keine europäische Einheit geben. Und dann gibt es auch keine Solidarität. So wiesen die Deutschen den italienischen Vorschlag zurück, die Konjunkturprogramme über europäische Anleihen zu finanzieren, anstatt dass jeder Staat seine nationalen Papiere auf den Markt bringt. Natürlich erhoffte sich Rom davon einen Vorteil: Es könnte von der Bonität der Deutschen und anderer stabiler Volkswirtschaften in Europa profitieren. Eigene Staatsanleihen kämen Italien teurer, weil es hohe Zinsen bieten muss, um sie loszuwerden. Deutschland käme auf der anderen Seite eine Verschuldung über Europaanleihen teurer, weil diese die durchschnittliche Bonität der Union spiegeln würden.

Kurzfristig spart Berlin jetzt Geld. Aber langfristig kann das teuer werden. Dann nämlich, wenn einige Länder viel Geld in die Hand nehmen müssen, um sich Kapital zu besorgen. Das könnte zu Verschuldungen führen, an deren Ende die Zahlungsunfähigkeit steht. In Brüssel wird bereits über Griechenland und Irland geredet. Wenn sie pleitegehen, dann müssen die anderen Länder ihnen mit sehr viel Geld aushelfen. Europa scheint gegenwärtig nicht in der Lage und auch nicht willens, aus den schmerzhaften Erfahrungen mit der Finanz- und Wirtschaftskrise gemeinsame Lehren zum gemeinsamen Nutzen zu ziehen.

Wirtschaftlich trauen sich Deutschland und Frankreich nicht über den Weg.

Folgen der Finanzkrise in der EU Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bitte einpacken

Boston: Erstes Museum schließt wegen der Finanzkrise

Es ist ein kleines Juwel, das Rose Museum, welches zur privatfinanzierten Brandeis-Universität für freie Künste gehört: Es liegt malerisch am Charles River, am Rande Bostons, nur ein paar Meilen flussaufwärts von der ungleich berühmteren Havard University.

Ein kleines Juwel - aber auch ein verstecktes: Kaum jemand kennt und besucht die Kunstsammlung des Instituts, welches immerhin drei Pulitzer-Preisträger und einen Nobelpreis-Gewinner hervorgebracht hat: Der Bestand umfasst insgesamt etwa 8000 Werke, darunter amerikanische Nachkriegskunst von Willem de Kooning, Jasper Johns, Roy Lichtenstein, Morris Louis, James Rosenquist oder Andy Warhol. Dazu an jüngeren Erwerbungen noch Arbeiten von Matthew Barney, Nan Goldin, Donald Judd, Anri Sala, Richard Serra oder Cindy Sherman. Eine Sammlung, die auf internationalem Niveau durchaus mitspielen kann. Derzeit wird, mit erheblichem Aufwand, der wichtige abstrakte Maler Hans Hofmann ausgestellt.

Doch das fast ein halbes Jahrhundert alte Museum muss spätestens im Sommer geschlossen werden. Die Sammlung wird anschließend meistbietend verscherbelt. Durch die Finanzkrise ist in der Brandeis-Uni ein Budget-Loch von bis zu zehn Millionen Dollar entstanden, welches durch Kunst-Verkäufe, das sogenannte "Deaccessioning", gestopft werden soll, wie das Kuratorium der Universität jetzt bekanntgab. Derlei Praktiken sind so gefragt wie umstritten, wenn es darum geht, Kürzungen oder Verluste in den Kunsthäusern auszugleichen - das "Deaccessioning" gilt als Ultima Ratio, wenn es gar keinen anderen Ausweg mehr gibt. Jedenfalls in den USA, wo Museumssammlungen nicht ganz so festgemeißelt dastehen wie hierzulande.

Bisher wurden aber in solchen Fällen immer nur einige wenige Werke verkauft. Zuletzt war die ehrwürdige National Academy in New York scharf kritisiert worden, weil sie, entgegen ihren eigenen Statuten, zwei bedeutende Landschaftsgemälde von Frederic Edwin Church und Sanford Robinson Gifford veräußerte. Zwei, na gut. Aber achttausend? Die Empörung in Boston ist groß - und nicht nur dort. Man wolle Lehre und Forschung erhalten, habe keine andere Wahl gehabt, so Uni-Präsident Jehuda Reinharz. Das sei der Weg des geringsten Widerstandes, so David Robertson, Präsident des Verbandes von College- und Universitätsmuseen in Amerika: "Immer ist es die Kunst, die zuerst verschwindet".

Ein Fanal für die Zukunft

Die Entscheidung der Brandeis-Universität könnte, obgleich sie an einer privaten Institution getroffen wurde, tatsächlich eine Art Tabubruch, ein Fanal bedeuten, und zwar nicht nur für die Vereinigten Staaten. Dort fehlen die Lehman-Gelder praktisch überall, und die Finanzkrise schlägt im Museumsbereich voll durch: In Austin wurde eine Erweiterung des Kunstmuseums ebenso auf Eis gelegt wie in Cincinnati, das Denver Art Museum reduzierte sein Budget drastisch und im Milwaukee Art Museum wurden die Tickets erheblich teurer. Nach einer Umfrage des Art Newspaper bei 40 amerikanischen Museen rechnen diese mit Etatkürzungen von bis zu 20 Prozent. Der Getty Trust muss gar einen Verlust von 1,5 Milliarden Dollar auffangen - stattliche 25 Prozent des Etats.

Aber auch in Europa greifen die Folgen der Krise. Das schlingernde Wiener Schlachtschiff Albertina verzichtete auf eine Immendorff-Schau, der Düsseldorfer Kunst-Palast auf eine Mode-Ausstellung. Überall gehen die Sponsoren über die Bücher. Schon länger ist bekannt, dass die Deutsche Bank sich von der Kunstmesse Art Cologne und vom Deutschen Pavillon der Kunstbiennale Venedig zurückgezogen hat. Die Liste ließe sich verlängern. Freilich: Mit der Lage in den USA mit ihren Trustees und Privat-Mäzenen ist die hiesige Krise schon wegen der überwiegenden Finanzierung der Kunsthäuser durch die öffentliche Hand kaum zu vergleichen.

Noch im Oktober 2008 stellte die Deutsche Bank 600 Werke ihrer Unternehmenssammlung als "unbefristete Leihgaben" dem Frankfurter Städelmuseum zur Verfügung - ein symbolischer Akt in Zeiten der Finanzkrise, so hieß es damals. Und nun das: Hubertus Gaßner, Direktor der Hamburger Kunsthalle, annonciert, dass vor allem Banken begännen, angebliche Dauerleihgaben aus seinem Haus abzuziehen oder sich ganz zurückzuziehen. Das gehe manchmal von heute auf morgen - "da kommt dann ein Anruf: bitte einpacken", so Gaßner.

Geht's noch schlimmer? Um Gelder und damit Zuschauer zu generieren, müssen die Museen sich öffnen - aber sie brauchen verlässliche Partner, sonst sind sie gezwungen, sich in Zukunft abzuschotten, zu Trutzburgen ihrer eigenen Schätze zu werden und nur noch Stiftungen ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Doch wer keine finanziell unterfütterten Glanzpunkte mehr setzen kann, dem gehen auch die Besucher stiften.

So kommt dann am Ende womöglich eine veritable Abwärtsspirale in Gang, die die Kunsthäuser in echte Existenznöte bringt. Die Sponsoren - es gibt in Deutschland immer noch viele davon, die so uneigennützig wie ehrenhaft verfahren - sollten sich also überlegen, ob sie das kulturell im Museum zwischengelagerte Kapital wieder aktivieren wollen. Denn sonst ist am Ende kein kulturelles Gut mehr übrig, das man finanzieren könnte. HOLGER LIEBS

Brandeis University Massachusetts Museen in den USA Folgen der internationalen Finanzkrise Museen in Europa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Klaus Franz muss vermitteln

Im November vergangenen Jahres wurde Klaus Franz wieder einmal seinem Ruf als Co-Manager gerecht. Er schlug vor, sich bei der Bundesregierung für eine Milliardenbürgschaft starkzumachen, um dem Rüsselsheimer Autohersteller Opel aus der Krise zu helfen. Franz ist Vorsitzender des Opel-Betriebsrats und seit 2003 stellvertretender Aufsichtsratschef des Unternehmens. "Ich sehe mein Amt als ein Gestaltungsamt an", sagt Franz. Betriebsräte sollten nicht nur reagieren, sondern vor allem in Krisenzeiten Vorschläge zur Sicherung von Arbeitsplätzen machen. Derzeit sorgt sich Franz angesichts der Krise der amerikanischen Muttergesellschaft General Motors (GM) um Opel mit seinen insgesamt knapp 29000 Mitarbeitern, zu denen Franz selbst seit mehr als 30 Jahren gehört. Er hat Manager kommen und gehen sehen. Franz ist einer der wenigen Konstanten bei Opel. Durch die staatliche Bürgschaft soll sich die deutsche Tochterfirma für den Fall einer Insolvenz von GM absichern. "Opel ist das produktivste Autounternehmen in Europa und absolut konkurrenzfähig", so Franz. Die Autoindustrie spüre die Kreditknappheit wegen der Finanzkrise. "Wir brauchen Darlehen, um in Entwicklungsleistungen zu investieren", erklärt der oberste Arbeitnehmer. Er rechnet damit, dass spätestens Ende März die Staatsbürgschaft genehmigt wird, auf deren Basis Opel bei Kreditinstituten Geld aufnehmen könne.

Mitte Januar haben sich Franz und seine Betriebsratskollegen mit dem Management von General Motors Europe zudem auf Mindeststandards bei Arbeitszeitverkürzungen für die europäischen Standorte geeinigt. "Dies ist die erste europäische Vereinbarung über Mindeststandards bei Arbeitszeitanpassungen", sagt Franz. Die Rahmenvereinbarung gelte von sofort an und so lange, wie die Krise dauere, betont er. So wolle GM Europe die staatlich geförderte Kurzarbeit oder Arbeitszeitverkürzungen bezuschussen. Während der Zeit seien betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen ausgeschlossen.

Der 56-Jährige sieht sich als Vermittler zwischen dem Management und den Mitarbeitern. Er gilt als diplomatisch und dennoch als einer, der weiß, was er will. Der Mann mit dem Schnauzer ist für sein klares Wort bekannt, wird aber selten verletzend. Mit Carl-Peter Forster, dem Europa-Präsidenten von GM, hält Franz guten Kontakt. "Wir sind in engem Austausch", nennt er das.

Der gebürtige Stuttgarter Franz kam nach einer Drogisten- und Fotografen-Lehre 1975 als Autolackierer zu Opel. "Opel war damals der Schmelztiegel der Revoluzzer. Es war eine Art proletarische Exkursion", erklärt er. Er sei dort "hängengeblieben" und machte später an der Fachhochschule Frankfurt am Main den externen Abschluss als Diplom-Sozialarbeiter. 1981 wurde Franz erstmals in den Opel-Betriebsrat gewählt. Seit Juli 2000 ist er Vorsitzender des Betriebsrats. Franz ist Mitglied der IG Metall, jedoch anders als viele Gewerkschaftskollegen parteilos. Für ihn ist das eine "Frage der Unabhängigkeit", sagt Franz. Er ist ein Pragmatiker, in vielerlei Hinsicht. Sibylle Haas

"Opel ist das produktivste Autounternehmen in Europa."

Klaus Franz leitet den Gesamtbetriebsrat von Opel - ein Mann zwischen den Fronten. Foto: dpa

Franz, Klaus: Berufsausübung Adam Opel AG: Betriebsrat Arbeitsschutz in der EU SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ist ja kolossal

Goya-Bild als Fälschung enttarnt: Ab ins Walhall der Fakes damit!

Natürlich kann einem in diesen harten Zeiten niemand so leid tun wie die notleidenden Banker. Knapp dahinter aber kommen schon die Museumskuratoren, ja man möchte manchmal amnesty international anrufen oder Ärzte ohne Grenzen, dass die mal ein Team bei den Ausstellungsmachern vorbeischicken um ihnen den Puls zu fühlen. Kaum hat man die Nachricht verdaut, dass ein Van-Gogh-Gemälde unecht sei, enthüllt das nächste Museum, dass es all seine bis dato Warhol zugeschriebenen Brillo-Boxen ins Altpapier gibt. Jetzt kommt aus Madrid die Nachricht, dass "Der Koloss", der bislang als eines der wichtigsten Goya-Gemälde galt und in der Fachliteratur exzessiv zitiert und analysiert wurde, nicht von Goya, sondern von einem seiner Assistenten gemalt worden sei.

Die Museen sitzen mittlerweile auf all diesen Fälschungen wie die Banken auf ihren toxischen Papieren. Leihen sie einander auch schon nichts mehr aus, weil sie ahnen, das eh die Hälfte Fake ist? Vielleicht sollten sie von den Bankern lernen und, parallel zur Bad Bank, von ihren Regierungen die Errichtung eines Bad Museums fordern, in das all die toxic paintings ausgelagert werden. Da gäbe es ein Stockwerk voller Warhol, einen Seitenflügel für all die Zahnarztpraxenfälschungen von Dalì und Miró und einen für das Gesamtwerk von Rembrandt, diesem angeblichen niederländischen Maler, von dem man mittlerweile annehmen darf, dass es ihn überhaupt nie gegeben hat: Rembrandts Gesamtwerk schmilzt seit Jahren wie der Schnee in der Sonne. Wurden ihm 1920 noch 750 Bilder zugeschrieben, so ging man 2000 davon aus, dass es 280 echte Rembrandts gibt. 470 Enthüllungen in 80 Jahren, geht das in dem Tempo weiter, wird 2047 der letzte falsche Rembrandt aus der Welt enthüllt.

Nun also Goya. Das Prado-Museum besitzt den "Koloss" seit 1913, aber erst jetzt wurde anscheinend in einer Ecke des Bildes ein Kürzel entdeckt, das die Experten als die Initialen "AJ" identifizierten. Da kommt man als Laie schon ins Grübeln, dass der große Maler nicht Ancisco Joya hieß, ist in Fachkreisen schließlich länger schon bekannt. Dafür hieß sein Gehilfe Asensio Julia.

Nun könnte man sagen, gut, der Stern hat bei Hitlers Tagebüchern ebenfalls keinen Verdacht geschöpft, obwohl auf den Büchern nicht AH sondern FH stand. Aber nicht mal Ernst Blochs Bonmot, eine Fälschung unterscheide sich vom Original dadurch, dass sie echter aussehe, trifft zu auf den "Koloss": Licht, Technik, Farbtöne - nichts passt laut Expertise zu Goya. Nur das, was darauf zu sehen ist, scheint noch dasselbe zu sein: Der Riese hinter den Bergen gilt als Allegorie des Krieges - insbesondere des Krieges, den Napoleon gegen Spanien führte.

Die bange Frage ist nun: Müsste der Staat nicht endlich eingreifen und, parallel zum Bail-out, echte Goyas und Rembrandts in den Kunstmarkt pumpen? Und kann ein Bad Museum die Situation retten? Es gab ja schon mal eines: Konrad Kujau, der Hitlerfälscher, eröffnete nach seiner Freilassung ein Museum, in dem auch "echte Kujau-Neuinterpretationen", vulgo Fälschungen, verkauft wurden. 2006 musste es schließen: Das Museum verkaufte falsche Fälschungen, die Museumschefin hatte Gemälde aus China bezogen und nur noch mit Kujaus Signet versehen. ALEX RÜHLE

Licht, Technik, Farbtöne - nicht von Goya: "Der Koloss", signiert von "AJ", wer immer das sein mag. Foto: AP

Goya y Lucientes, Francisco Jose: Werk Rembrandt: Werk Museo del Prado Kunstfälschungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Marx war kein Prophet"

Der argentinische Soziologe Atilio Borón über die Folgen der Finanzkrise für Lateinamerika, die Wiedererstarkung der Linken, Karl Marx, den gescheiterten Neoliberalismus, den selbstzerstörerischen Charakter des Kapitalismus und das Weltsozialforum. Von Peter Burghardt

Der argentinische Politikwissenschaftler und Soziologe Atilio Borón gehört zu den renommiertesten Kapitalismus-Kritikern Südamerikas. Der 65-Jährige hat in Harvard promoviert und lehrt unter anderem an der Universität von Buenos Aires.

SZ: Herr Borón, in Lateinamerika gibt es schon lange Zweifel am wilden Kapitalismus. Nun übernehmen immer häufiger mehr oder weniger linke Regierungen die Macht. Ist das die neue Avantgarde?

Borón: Hier waren die zerstörerischen Effekte des Neoliberalismus früher und stärker zu spüren als in Europa oder den USA, deshalb suchen große Teile der Gesellschaft Alternativen. Jetzt setzen auch regionale Integrationsversuche der erdrückenden US-Politik Grenzen. Interessante Bewegungen.

SZ: Dabei gehen die einen behutsamer vor, die anderen radikaler.

Borón: In Brasilien und Chile ist noch viel vom neoliberalen Vermächtnis der Privatisierung geblieben. Es kann dort auch wieder eine Wende in die konservative Richtung geben.

SZ: Venezuelas Präsident Hugo Chavez spricht viel von Sozialismus und verstaatlicht Firmen, lebt aber von kapitalistischen Ölpreisen und seinem Hauptabnehmer, den Vereinigten Staaten. Das passt doch nicht zusammen?

Borón: In Venezuela, Bolivien oder Ecuador hat sich der Staat die Fähigkeit zurückerobert, seine Märkte zu kontrollieren und hat die öffentliche Politik erweitert. Chavez hat eine Revolution geschafft, erstmals darf sich auch der vorher missachtete Teil der Bevölkerung als venezolanisch fühlen. Mehr ging noch nicht, weil der Widerstand enorm ist. Außerdem zeigen die gefallenen Rohstoffpreise natürlich ihre Wirkung.

SZ: Der lateinamerikanische Boom mit chinesischen Wachstumsraten ist jedenfalls vorbei. Ist Südamerika nicht zu abhängig von Ressourcen wie Soja, Kupfer und Öl mit schwankenden Preisen? Borón: Leider. Lateinamerika wurde während der Höhepunkte neoliberaler Ideen deindustrialisiert. Mexiko zum Beispiel war eine kleine Industriemacht. Jetzt exportiert Mexiko Arbeitskräfte, Gas, Öl, Gemüse und montiert an der US-Grenze Elektrogeräte. Für die Mexikaner ist der Zusammenbruch des US-Marktes brutal.

SZ: Und der mexikanische Unternehmer Carlos Slim ist einer der reichsten Männer der Welt.

Borón: Das ist das Paradoxe. Lateinamerika hat einen der reichsten Menschen und die ungerechteste Einkommensverteilung des Planeten.

SZ: Hat das Weltsozialforum, das in dieser Woche in Belém am Amazonas tagt, nicht trotzdem an Kraft verloren als Gegenveranstaltung zu Davos?

Borón: Schade, dass das Sozialforum in Belém stattfindet, die Reise wird vielen zu teuer. Das Sozialforum ist wichtig, aber wir bräuchten eine Art internationales Sekretariat für den sozialen Kampf. Wir haben in Davos einen übermächtigen Gegner, so kommen wir nicht weit.

SZ: Was denkt ein erklärter Marxist mit Doktortitel aus Harvard wie Sie über das globale Finanzdesaster?

Borón: Ich habe einen Satz auf Plakaten von Demonstranten an der Wall Street gesehen: Marx was right. Marx war kein Prophet, aber er hilft uns, viel von dem zu verstehen, was in dieser Welt passiert. Die Krise bestätigt den widersprüchlichen und selbstzerstörerischen Charakter des Kapitalismus. Keine Gesellschaft kann ohne klare Grenzen für den Markt funktionieren. Die

Gefräßigkeit und Unverantwortlichkeit der Kapitalisten hat ein gigantisches Debakel produziert. Fast 50 Prozent des weltweiten Kapitals wurden schon zerstört. Die Krise wird nicht den Kollaps des Kapitalismus provozieren, aber eine sehr lange Rezession, es geht noch weiter runter.

Bóron, Atilio: Interviews Folgen der internationalen Finanzkrise Wirtschaftsraum Lateinamerika SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Scheck bleibt weg

Eine ganze Weile glaubten der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und andere Staatenführer in Lateinamerika, der Kontinent werde schon glimpflich davonkommen. Sie haben sich geirrt. Die Globalisierung verschont kein Land und keine Region. Von Peter Burghardt

Die Kurse an den Börsen in New York, London, Paris und Tokio befanden sich bereits im freien Fall, da gaben sich die lateinamerikanischen Staatenführer noch selbstbewusst. "Welche Krise?", fragte Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, als er Anfang Oktober nach den Folgen des Finanzdesasters an der Wall Street für seine Heimat gefragt wurde. Da solle man sich in Washington erkundigen, dort sei dies ein Tsunami. "Hier wird es, wenn überhaupt, dann nur eine schwache Welle sein", beruhigte der frühere Dreher und Gewerkschaftsführer aus der Arbeiterpartei seine Landsleute. Argentiniens Präsidentin Cristina de Fernández sprach spöttisch vom "Jazz-Effekt" der Turbulenzen in den USA, eine Paraphrase auf den "Tango-Effekt" und "Tequila-Effekt" früherer argentinischer und mexikanischer Krisen. Auch Venezuelas Hugo Chávez wiegelte ab, sein Land werde es nicht so schlimm erwischen.

Die meisten von ihnen mussten inzwischen ein Stück zurückrudern, denn die Erschütterungen erreichen auch ihre Nationen. In Brasilien stürzten die Aktienkurse so stark ab, dass in São Paulo zeitweise der Handel ausgesetzt werden musste. Die Landeswährung Real, seit ihrer Einführung vor zehn Jahren eine Erfolgsgeschichte, verlor ein Fünftel ihres Wertes, obwohl die Zentralbank intervenierte. Strauchelnde Banken mussten vom Staat gestützt werden. Nun rollen die Wellen der Entlassungen heran. Mehr als 600 000 Brasilianer verloren im Dezember 2008 ihren Job. Für die kommenden Monate befürchten Gewerkschaften bis zu drei Millionen Kündigungen. Autofirmen wie General Motors tragen ihre Schwierigkeiten bis zu ihren ausländischen Standorten. Brasilien, das als Bric-Staat wie China, Russland und Indien als eine Macht der Zukunft gilt, wird in seinem Aufstieg zumindest gebremst. Lula gab gerade zu, er sei beunruhigt.

Dort wie anderswo braucht das niemanden zu wundern, denn der Dämpfer hat grundsätzlich ähnliche Gründe wie der zuvor phantastische Aufschwung: die zunehmende Vernetzung auf dem Globus und die Abhängigkeit von Ressourcen. Brasilien ist weltweit größter Exporteur von Soja, Stahl, Fleisch, Kaffee, Zucker und anderen Roh- und Grundstoffen. Der vormalige Pleitestaat Argentinien überwand seinen historischen Bankrott vor allem durch hohe Gewinne aus Soja, Getreide und anderen Naturprodukten. Peru und Chile profitierten vom Interesse an ihren Mineralien wie Kupfer und Gold. Venezuela und auch Mexiko flossen dank ihrer gewaltigen Vorkommen und horrender Preise für Erdöl Milliarden in die Kassen.

Mancherorts erreichten die Wachstumsraten chinesische Ausmaße, nicht zuletzt dank der hungrigen Abnehmer aus Fernost. Nach Mexiko und Chile erhielten auch Brasilien und Peru ein gutes Rating von Agenturen wie Standard & Poor's und Moody's. Nun endet der Boom jäh, weil die Nachfrage nach Rohstoffen einbricht. Viele Anleger flüchten aus den nationalen Währungen in Dollar oder Euro, ein gewohnter Reflex. Gleichzeitig werden in vielen Familien die Dollars und Euros rar, weil die in die USA oder nach Spanien ausgewanderten Mexikaner, Bolivianer oder Kubaner weniger für ihre daheimgebliebenen Verwandten übrig haben. Länder wie Kuba, El Salvador, Nicaragua und Ecuador leben nicht zuletzt von den Geldsendungen der Immigranten. Im Falle Mexikos führt die Nähe zu den USA zu abstrusen Entwicklungen. Beide sind seit 1994 durch ein Freihandelsabkommen verbunden und werden bald von einer Mauer getrennt. Millionen Mexikaner schleichen sich illegal über die Grenze und schicken Geld nach Hause. Der mexikanische Unternehmer Carlos Slim wiederum brachte es dank seiner lokalen und weltweiten Geschäfte in der Telekommunikation zum mindestens zweitreichsten Menschen der Erde und will nun trotz zuletzt milliardenschwerer Aktienverluste die New York Times retten. Der Betonkonzern Cemex, ein Symbol der Globalisierung, gerät dagegen in Schieflage, weil die Firma durch Investitionen hohe Schulden gemacht hat und bei den klammen Banken kaum mehr Kredite erhält.

Die Zustände nähren die Wut vieler Lateinamerikaner auf den wilden Kapitalismus. Die sozialen Ungleichheiten hatten südlich des Rio Grande bereits vorher linke und unorthodoxe Politiker an die Regierung gespült: den ehemaligen Fallschirmjäger Hugo Chávez in Venezuela, den früheren Kokabauern Evo Morales in Bolivien, den vormaligen Bischof und Befreiungstheologen Fernando Lugo in Paraguay. Sie alle und auch der frühere Streikführer Lula und die Argentinierin Fernández schimpfen jetzt noch mehr auf Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds. Der IWF habe sie mit seinen Rezepten einst in die Malaise geführt und versage nun weltweit. "Der IWF soll sich auflösen", wetterte Chávez. Er erprobt wie Morales ein etwas diffuses Projekt namens "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", allerdings lebt und leidet sein Öl-Imperium weitgehend nach kapitalistischen Gesetzen. Nach sagenhaften Gewinnen brechen die Einnahmen ein, der Schmierstoff für Sozialausgaben und Petro-Diplomatie wird knapp.

Dennoch sind die Länder südlich des Rio Grande besser auf solche Notlagen vorbereitet als früher und streben seit dem Debakel der Ära Bush nach größerer Unabhängigkeit von den USA. Selbst Argentinien besitzt mittlerweile umfangreiche Devisenreserven, die Inflation ist deutlich geringer als in schlimmsten Zeiten und die Haushaltsführung stabiler. Brasilien hat eine eigene Industrie aufgebaut, wird als Global Player wahrgenommen und profiliert sich als lateinamerikanische Führungsmacht mit dem umschwärmten Lula als Stimme.

Venezuelas Chávez gibt den Lautsprecher der Linken und pumpt Dollars in die Wirtschaft. Staatenbündnisse wie Mercosur und Unasur üben nachbarschaftliche Kooperation à la Europa, es entstand eine "Bank des Südens". Auch werden die Schätze der Region wieder gefragt sein und teurer werden. Optimist Lula glaubt, der neue amerikanische Präsident Barack Obama werde die Symptome lindern und die Krise sei im nächsten Jahr wieder vorbei.

"Der Internationale Währungsfonds soll sich auflösen."

Wirtschaftsraum Lateinamerika SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die verlorene Mittelschicht

Die Theke aus Edelstahl ist leer. Aber Gabriel Barrios lässt den Fisch in der Kühltruhe. Argentinier essen ohnehin viel lieber Fleisch, obwohl das südamerikanische Land neben gewaltigen Viehweiden auch Tausende Kilometer Küste besitzt. Außerdem ist es Januar und heiß in Buenos Aires, Ferienzeit - wer es sich leisten kann, verbringt den Tag am Strand. Der kleine Fischladen mit dem Namen "Hafen Golf" im Viertel Palermo verkauft da noch weniger als sonst. "Die Geschäfte laufen ohnehin von Tag zu Tag schlechter", sagt Fischhändler Barrios. Wenn überhaupt, dann greifen seine Kunden eher zu Dorsch als zu chilenischem Lachs. Dorsch ist billiger. Bislang trotzt Barrios' Heimat dem internationalen Finanzdebakel zwar besser als andere Länder Südamerikas. Seit der Pleite vor sieben Jahren haben die Investoren das Land gemieden. Das erweist sich nun als Segen. Leute wie Barrios wissen nur zu gut, wie sich eine Krise anfühlt.

In 40 Lebensjahren hat er viele erlebt, die letzte 2001/2002. Zuvor hatten die Dollarbindung des Peso, Kredite und ungezügelte Privatisierungen wie die der Fluglinie Aerolineas Argentinas unter dem damaligen Präsidenten Carlos Menem dem Land eine trügerische Fiesta beschert. Manche von Barrios' Landsleuten flogen übers Wochenende nach Miami, einfach so - bis die Party auf Pump in den legendären Staatsbankrott mündete. Wie Hunderttausende Demonstranten trommelte Barrios auf Kochtöpfe, um Präsident Fernando de la Rúa zu verjagen. Aus Angst vor Plünderungen ließ er die Jalousien vor seinem Schaufenster herunter und flüchtete in seine Heimatstadt Mar del Plata. Seinem Bruder wurden von der Regierung wie Millionen Betroffenen die Bankguthaben eingefroren, als der Peso dann im Verhältnis eins zu drei zum Dollar abgewertet wurde.

Seither profitierten einige von der boomenden Nachfrage nach Soja. Aber Durchschnittsbürger wie Barrios haben sich nie von der Krise richtig erholt. Sie leiden unter der hohen Inflation, manchen Fortschritt empfinden sie bloß als Last. "Die Mittelschicht ist verloren", sagt Barrios. Früher war sie das Fundament einer reichen Nation gewesen. Heute kann man Tag für Tag zusehen, wie die Elendsviertel am Stadtrand wachsen und die wohlhabende Minderheit versteckt sich hinter Mauern. Dabei gilt das wechselhafte Land am Rio de la Plata immer noch als eine Art Labor für weltweite Entwicklung, auch wenn die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden. Die Basis ist gut, es gibt viele gut ausgebildete und kreative Menschen.

Gabriel Barrios schimpft auf rasant gestiegene Preise. Strom, Wasser, Gas, alles wird immer teurer. Die Preise für manche Produkte haben sich binnen weniger Jahre vervielfacht. Ein Liter Milch kostet umgerechnet 75 Cent, einfaches Sonnenblumenöl kostet im Supermarkt fast zwei Euro - viel für ein Land, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen unter 10 000 Euro liegt. Der Einkaufspreis für Seehecht, Merluza, ist auf 11,80 Pesos emporgeschnellt, 2,60 Euro, auch der Südatlantik ist von Jägern aus allen möglichen Gegenden zunehmend überfischt. Die Ladenmiete beträgt 5000 Pesos, 1100 Euro. Barrios kommt über die Runden, ohne Auto oder Urlaub. "Viele Träume habe ich nicht", sagt er, "Globalisierung und Kapitalismus unterwerfen dich."

Die Medien berichten von Überfällen und Dürre und wettern gegen die launische Präsidentin. Barrios spritzt jeden Morgen ein wenig Essig auf den Boden. Soll Glück bringen. Peter Burghardt

Gabriel Barrios betreibt einen Fischladen in Buenos Aires. Aber die Geschäfte laufen schlecht. Foto: Burghardt

Soziales Leben in Argentinien Wirtschaftsraum Argentinien SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Es geht aufwärts - ein bisschen

Damit hatten die Volkswirte nicht gerechnet: Der Geschäftsklima-Index des Ifo-Instituts, ein viel beachtetes Stimmungsbarometer für die Wirtschaft, ist sieben Monate lang gefallen. Doch im Januar legte der Indikator, so das Ergebnis einer Umfrage unter Firmen, überraschend zu, wie das Institut am Dienstag bekanntgab. Allerdings war die Steigerung winzig - von 82,7 Zählern im Dezember auf 83 Punkte im Januar- , und der Index notiert immer noch sehr niedrig. Fachleute warnten deshalb , schon von einem Ende der Rezession zu träumen. Zumal die Industriebetriebe in der Umfrage berichteten, dass sich das Exportgeschäft weiter verschlechtert. Daher wollen sie Stellen streichen. (Kommentare) bfi

Konjunkturprognosen für Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kritik an Russland

Ostausschuss beklagt Abhängigkeit von Öl und Gas

Von Daniel Broessler

Berlin - Russland hat aus Sicht des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft während des Ölbooms der vergangenen Jahre wertvolle Chancen vertan und ist deshalb von der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders betroffen. "Russland hat seine starke Abhängigkeit von Öl und Gas nicht verringert", beklagte der Vorsitzende des Ausschusses, Klaus Mangold, in Berlin. Die dringend notwendige Diversifizierung sei ausgeblieben. Immer noch machten Öl und Gas 85 Prozent der Exporte aus. Nicht konsequent genug habe Russland seine hohen Einnahmen genutzt, um die Infrastruktur auszubauen. Das gelte etwa für das Straßen- und Schienennetz. Zu wenig gefördert worden sei auch der Mittelstand. Das räche sich nun in der Krise, in der große Konglomerate dazu gezwungen seien, sich auf ihr Kerngeschäft zu besinnen. Die deutsche Wirtschaft sei ein "idealer Partner", um die nötige Modernisierung in Russland anzustoßen.

Sorge äußerte Mangold wegen der jüngsten Ermordung eines Anwalts und einer Journalistin in Moskau. "Das sind Taten, die das internationale Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und die Sicherheit der Bürger in Russland beeinträchtigen". Von Präsident Dmitrij Medwedjew erwarte man klare Äußerungen zur notwendigen Aufklärung der Morde.

Die EU und die Länder an ihrem östlichen Rand rief Mangold angesichts der Wirtschaftskrise zum gemeinsamen Handeln auf. "Jetzt ist die Zeit, in der das politische Klein-Klein von großen Schritten nach vorne abgelöst werden muss", sagte er. Ein starkes Signal der EU seien die Schaffung einer Freihandelszone mit Ländern wie Serbien, Russland und der Ukraine sowie Erleichterungen beim grenzüberschreitenden Verkehr. Dazu sei es nötig, das neue Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland 2009 auszuhandeln und den stockenden Beitrittsverhandlungen Russlands zur Welthandelsorganisation WTO neuen Schwung zu geben.

Beziehungen der EU zu Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neues Hilfsprogramm der Regierung

Milliarden für die Exportwirtschaft

Profitieren sollen Großkonzerne wie Airbus und Siemens, aber auch die Autoindustrie

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Die Regierung plant ein milliardenschweres Hilfsprogramm zur Unterstützung der deutschen Exportwirtschaft. Es soll einerseits Darlehensbürgschaften umfassen, darüber hinaus sind auch direkte Finanzhilfen der Förderbank KfW an kreditgebende Banken im Gespräch.

"Vereinfacht gesagt wollen wir sicherstellen, dass die für den Kauf großer, teurer Exportgüter nötigen Langfristkredite auch während der aktuellen Wirtschaftskrise zur Verfügung gestellt werden", sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Peter Hintze, der Süddeutschen Zeitung. Als Beispiel nannte er den europäischen Flugzeugbauer Airbus, der wegen der Rezession in vielen Industrieländern in großem Umfang Abbestellungen befürchtet. "Es geht aber ausdrücklich nicht nur um eine ,Lex Airbus'", betonte Hintze mit Blick auf anderslautende Berichte.

Damit schafft die Regierung nach dem Rettungspaket für die Banken eine Art Schutzschirm für die gesamte Großindustrie. Profitieren könnten neben Airbus auch Konzerne wie etwa Siemens oder Bosch, aber auch die krisengeschüttelten Autobauer. Das Wirtschaftsministerium und die übrigen beteiligten Häuser arbeiteten mit Hochdruck daran, "der deutschen Exportindustrie bei den aktuellen Problemen, die durch die weltweite Finanzkrise entstanden sind, mit zusätzlichen Instrumenten zu helfen", sagte Hintze, der auch Luft- und Raumfahrtkoordinator der Bundesregierung ist. Welches Volumen ein solches Hilfspaket haben müsse, stehe noch nicht fest.

Konkret ist vorgesehen, das bestehende Exportkreditprogramm der Bundesregierung, die sogenannten Hermes-Bürgschaften, auszuweiten. Über diese Programme können sich Unternehmen für den Fall versichern, dass ein Kunde aus dem Ausland die bestellte und gelieferte Ware nicht bezahlt. Kommt es zu einem solchen Zahlungsausfall, erhalten die Firmen ihr Geld vom Staat. Derzeit besteht jedoch das Problem, dass manche Banken aus Mangel an Liquidität selbst dann keine langfristigen Kredite vergeben, wenn das Darlehen zu 100 Prozent verbürgt ist. Um dem zu begegnen, soll ein KfW-Programm aufgelegt werden, aus dem in Deutschland zugelassene Banken im Zweifel direkte Finanzhilfen zur Gewährung des Darlehens erhalten könnten. "Wie das im Einzelnen geschehen soll, steht noch nicht fest. Wir wollen aber gewährleisten, dass ein verbürgtes und damit sicheres Kreditgeschäft auch wirklich zustande kommt", sagte Hintze.

Im Fall von Airbus wollen die betroffenen Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu je einem Drittel bürgen, wenn eine Fluggesellschaft eine Maschine auf Kredit ordert. Voraussetzung ist, dass die Airline in der Vergangenheit ihre Rechnungen in der Regel fristgerecht bezahlt hat. Hinzu kommen könnten Hilfen an die kreditgebenden Banken der Fluggesellschaft.

Zuvor hatte bereits Frankreich Milliardenhilfen für die Finanzhäuser des Landes angekündigt, um die Darlehensvergabe an Airbus-Kunden zu sichern. "Durch ein Übereinkommen mit dem Staat werden die Banken fünf Milliarden Euro freigeben", sagte der Chef des Airbus-Mutterkonzerns EADS, Louis Gallois, der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Damit sei eine "signifikante Zahl" an Flugzeuglieferungen gesichert. Zusätzlich werde Airbus - wie auch schon in der Vergangenheit - selbst die Kunden unterstützen. EADS habe insgesamt neun Milliarden Euro in der Kasse.

Deutschland und Frankreich müssen allerdings aufpassen, dass die Hilfen für die Luftfahrtbranche von der EU-Kommission in Brüssel nicht als unerlaubte Subventionen eingestuft werden. Auch die USA, wo mit Boeing der größte Airbus-Konkurrent sitzt, könnten aktiv werden. Washington und Brüssel hatten sich in den vergangenen Jahren immer wieder gegenseitig vorgeworfen, den jeweils "eigenen" Konzern mit unerlaubten Mitteln zu unterstützen.

Die EADS-Aktie notierte am Dienstagnachmittag trotz des absehbaren Staatsbeistands im Minus. Allerdings hatte das Papier in den Vortagen wegen der Spekulationen über mögliche Hilfsmaßnahmen teils deutlich zugelegt. (Kommentare)

Nach den Banken bekommt auch die Flugzeugindustrie Hilfe vom Staat, so die EADS-Tochter Airbus. Foto: dpa

Außenhandel Deutschlands Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Flugzeugindustrie in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die große Wende

Der neue amerikanische Präsident Barack Obama soll in kurzer Zeit alles geraderücken, was in den vergangenen Jahren falsch gelaufen ist - im eigenen Land und in der Welt im Allgemeinen. Ein Land zwischen Freudentaumel und Schockstarre Von Nikolaus Piper

Für Amerikaner liegen in diesen Tagen Furcht und Hoffnung dicht beieinander. Am 20. Januar feierten eine Million Menschen die Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten. Die Erwartungen an ihn sind, nicht nur in den Vereinigten Staaten, übergroß: Barack Obama soll alles korrigieren, was in den vergangenen acht Jahren schiefgelaufen ist, er soll Amerika von Grund auf erneuern, das Land versöhnen, den Absturz der Weltwirtschaft stoppen und den Friedensprozess im Nahen Osten wieder in Gang bringen.

"Es wird erst schlechter werden, ehe es besser wird" - die Warnung Obamas, mehrfach wiederholt, ist bitter nötig, um Erwartungen und Realität in Einklang zu bringen: Noch während er seinen Amtseid ablegte, brachen wieder einmal die Börsenkurse ein. Der Dow Jones schloss mit einem Minus von 332 Punkten oder 4,01 Prozent, Obamas Amtseinführung war damit börsenmäßig die schlechteste in der Geschichte. Und es war nicht nur die Börse - aus der ganzen Wirtschaft kamen Horrorzahlen. Der Elektronikhändler Circuit City kündigte an, sämtliche Läden zu schließen, 30 000 Mitarbeiter werden ihren Job verlieren, die bisher größte Massenentlassung dieser Rezession. Der Chip-Hersteller AMD will 1100 Stellen streichen, Conoco Philips 1350, Pfizer 2400, der Autovermieter Hertz 4000, selbst Microsoft und Intel setzen Mitarbeiter auf die Straße. AMD kündigte an, die Gehälter um fünf bis 20 Prozent zu kürzen - alarmierendes Vorzeichen einer drohenden Deflation. Zum Beginn der Ära Obama befindet sich die US-Wirtschaft in der Schockstarre. 589 000 Amerikaner meldeten sich in der Woche vor dem Amtsantritt arbeitslos, die höchste Zahl seit November 1982. Noch nie seit Einführung der entsprechenden Statistik 1959 wurden in den USA so wenig neue Einfamilienhäuser gebaut wie im vergangenen Dezember. Und die Immobilienpreise sinken weiter.

Manche Analysten behaupten, Amerika befinde sich gar nicht mehr in einer Rezession, sondern schon in einer Depression. Das ist Auslegungssache, denn der Begriff "Depression" ist nirgendwo definiert. Auch die größten Pessimisten behaupten nicht, dass die Arbeitslosigkeit die Dimensionen der Großen Depression - 25 Prozent und mehr - erreichen wird. Aber allein das Wort nährt die Angst.

Die Hoffnungen der gesamten Wirtschaft ruhen jetzt auf dem Präsidenten und damit - auf dem Staat. Die Rückkehr des Staates ins Zentrum der Ökonomie gehört wahrscheinlich zu den bleibenden Folgen der Wirtschaftskrise. Es ist ein Paradigmenwechsel, wie er in Amerika alle paar Generationen einmal vorkommt. Paradoxerweise wurde die Wende gar nicht vom neuen Präsidenten selbst eingeleitet, sondern vom konservativen Vorgänger George W. Bush. Unter ihm wuchsen die Staatsausgaben unkontrolliert, er sah zu, wie sein Finanzminister die Banken unter seine Kontrolle nehmen musste. Obama erbte, wie der Wirtschaftswissenschaftler Nouriel Roubini von der New York University spottete, die "Vereinigten Sozialistischen Staaten von Amerika".

In Obamas Antrittsrede gibt es einen Schlüsselsatz: "Die Zyniker verstehen nicht, dass der Boden unter ihnen schwankt - dass die abgestandenen politischen Argumente, die uns so lange aufgezehrt haben, nicht mehr greifen. Heute fragen wir nicht, ob unser Staat zu groß oder zu klein ist, sondern ob er funktioniert." Mit dem Satz knüpft Obama, vermutlich absichtsvoll, an eine andere Rede an, eine Rede, die vor 28 Jahren einen Paradigmenwechsel einleitete. Am 20. Januar 1981 sagte Präsident Ronald Reagan bei seinem Amtsantritt: "In der gegenwärtigen Krise ist der Staat nicht die Lösung unseres Problems, er ist selbst das Problem." Der Satz war das Leitmotiv von "Reaganomics", für die Revitalisierung des amerikanischen Kapitalismus, für Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung in den achtziger Jahren. "Reaganomics" ist unter George Bush de facto zu Ende gegangen. Obama setzt nun einen neuen Grundton.

Der Staat wird sich wieder einmischen wie in früheren Phasen der amerikanischen Geschichte: Unter Präsident Theodore Roosevelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Beispiel, oder später, im Gefolge der Weltwirtschaftskrise, von Franklin D. Roosevelts New Deal bis zu Jimmy Carter, der in den späten siebziger Jahren die Wirtschaftsprobleme Amerikas nicht in den Griff bekam und dafür mit einer verheerenden Wahlniederlage bestraft wurde. Obamas Paradigmenwechsel könnte leicht als Abkehr vom Kapitalismus missverstanden werden. Aber anders als in Deutschland ist die Debatte in Amerika kein bisschen antikapitalistisch. In seinem ganzen Wahlkampf war Obama zwar gelegentlich protektionistisch, er stellte jedoch nie den Markt oder das Unternehmertum in Frage. Sein Wirtschaftsteam setzt sich aus Leuten zusammen, die in der Regierung von Bill Clinton Karriere gemacht haben und eher dem rechten Flügel der Demokratischen Partei nahestehen.

Es wird daher ein sehr pragmatisch agierender Staat sein, den die Amerikaner in den kommenden vier Jahren erleben werden: Er wird nochmals viel Geld in die Banken pumpen, er wird Straßen und Brücken renovieren und den Bürgern Zuschüsse gewähren, wenn sie ihre Häuser isolieren oder Windräder auf ihre Grundstücke stellen, und er wird ihnen eine rudimentäre Krankenversicherung anbieten.

Vor allem setzt Obama auf einen Zug der amerikanischen Gesellschaft, den viele Europäer gerne übersehen: die Bereitschaft der Bürger, für die Gemeinschaft Opfer zu bringen. Zu Recht berühmt geworden ist der Satz aus der Antrittsrede von John F. Kennedy: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst." Obama beschwor diesen Opfergeist am 20. Januar immer wieder. Er erinnerte an den Durchhaltewillen George Washingtons im Unabhängigkeitskrieg, er sagte den Amerikanern, dass sie Verantwortung trügen - "gegenüber sich selbst, gegenüber unserer Nation und der Welt".

Die Verbindung von Kapitalismus und Gemeinsinn prägt Amerika, und sie kann durchaus ihre amüsanten Seiten haben. Der Kaffeekonzern Starbucks begrüßte den neuen Präsidenten in Fernsehspots mit einem Rap unter dem Titel "Ich mache mit" und rief eine "Graswurzel-Bewegung" aus. Kern der Bewegung: Wer in einen Starbucks-Laden kommt und sich zu fünf Stunden Arbeit für eine gemeinnützige Organisation bereiterklärt, bekommt einen großen Becher Kaffee umsonst.

Allein das Wort Depression schürt die Angst

Obama, Barack: Reden Regierung Obama: Grundsätzliches Image und Selbstverständnis der Amerikaner Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Siemens überrascht die Börse

Hoher Gewinn im ersten Quartal. Aktionäre kritisieren satte Gehaltserhöhung für Top-Manager

Von Markus Balser

München - Siemens verbucht in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahr-zehnten einen Milliardengewinn. Aufsichtsräte wollen sich deshalb mit einer Gehaltserhöhung für ihr Engagement belohnen und empören damit die Aktionäre. Denn schon jetzt scheint klar: Der Boom dürfte nur von kurzer Dauer sein.

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung hatte Bundespräsident Horst Köhler kürzlich bei einem Treffen im Berliner Schloss Bellevue von Siemens-Chef Peter Löscher und anderen deutschen Spitzenmanagern gefordert, der Krise stärker als bisher die Schulter zu zeigen. Die Siemens-Führung gab sich bei der Hauptversammlung vor fast 10 000 Aktionären entsprechend zuversichtlich. "Wir sehen keinen Grund, in den Chor derer einzustimmen, die mit düsteren Äußerungen die Stimmung weiter in den Keller ziehen", rief Löscher den Aktionären zu. "Siemens geht mit Selbstvertrauen, Kraft und Entschlossenheit durch das Jahr 2009."

Die jüngste Bilanz spricht für Löschers Optimismus. Der Konzern präsentierte einen unerwartet starken Gewinnanstieg im ersten Quartal. Siemens verdiente zwischen Oktober und Dezember im laufenden Geschäft 1,2 Milliarden Euro - fast zehn Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Der Umsatz stieg um sieben Prozent auf fast 20 Milliarden Euro. Allein im Energiegeschäft legte das Geschäft um 20 Prozent zu.

Doch auch der Konzernspitze schwant, dass der Boom nur von kurzer Dauer sein könnte. "Der Preiskampf wird weltweit zunehmen", sagte Finanzchef Joe Kaeser. Der Auftragseingang - Messlatte künftiger Geschäfte - schrumpft. Die nächsten Quartale würden härter, warnte Löscher. "2009 wird auch für Siemens ein schwieriges Jahr - ebenso wie 2010." Wie lange und anhaltend der Abschwung sein werde, könne derzeit niemand sagen, räumte Löscher ein. An drei Standorten in Deutschland mit insgesamt 2300 Mitarbeitern führe Siemens mit Betriebsräten bereits Gespräche über Kurzarbeit, verlautete aus Konzernkreisen.

Scharfe Kritik von Investoren an steigenden Bezügen für Manager und Aufsichtsräte musste sich das Top-Management angesichts der drohenden Einschnitte für die Beschäftigten anhören. Siemens-Chef Peter Löscher gehörte mit einem Jahressalär von zehn Millionen Euro zuletzt zu den Spitzenverdienern in Deutschland. Aufsichtsratschef Gerhard Cromme will mehr Geld für die Kontrolleure - und seine Bezüge mehr als verdoppeln. Hans-Christoph Hirt, Manager der internationalen Fondsgesellschaft Hermes Investment, warf der Konzernspitze deshalb mangelnde Sensibilität vor. "Ich hätte mir mehr Bescheidenheit angesichts der Weltwirtschaftskrise gewünscht", sagte Daniela Bergdolt von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.

Im Streit mit Ex-Vorständen, die in die Korruptionsaffäre verwickelt sind, zeigt Siemens Kompromissbereitschaft. Cromme sprach bei der Hauptversammlung von einem möglichen Vergleich. Konzernchef Peter Löscher erläuterte: "Wir wollen das Unternehmen befrieden - befrieden mit seiner jüngeren Vergangenheit und mit den Persönlichkeiten, die über die dunklen Seiten hinaus auch für wichtige Weichenstellungen stehen." Siemens fordert von den früheren Vorstandschefs Heinrich von Pierer und Klaus Kleinfeld sowie neun weiteren Ex-Vorständen Schadenersatz, weil sie nach Ansicht des Unternehmens ihre Aufsichtspflichten verletzt haben.

Ausstieg bei Areva

Am Montag hatte Siemens den Ausstieg aus der Partnerschaft mit dem französischen Atomkonzern Areva bekanntgegeben. Löscher kündigte an, der Konzern werde in den kommenden Monaten Verhandlungen über neue Kooperationen aufnehmen. Nach Angaben aus Konzernkreisen gilt die russische Staatsholding Atomenergoprom als Wunschpartner. In Teilen des Aufsichtsrats gibt es den Kreisen zufolge jedoch Skepsis an einer Partnerschaft mit Russland. "Wir haben im Gasstreit erlebt, was die Abhängigkeit von Moskau bedeuten kann", sagte ein Aufsichtsrat zur SZ. "Das sollten wir uns nicht zumuten." (Seite 21)

Ergebnis des Quartals Oktober bis Dezember 2008, Ergebnis des Vorjahresquartals sowie Veränderung in Prozent: Angaben in Milliarden Euro20082007Änd.%
Umsatz19,63418,400+ 6,7Betriebsergebnis (Ebitda)2,5902,103+23,2
Gewinn nach Steuern1,2306,475-81,0Auftragseingang22,22024,242- 8,3
Mitarbeiter weltweit425 000428 000- 0,7Mitarbeiter in Deutschland131 000133 000- 1,5
Quelle: Unternehmen
Siemens AG: Management Siemens AG: Aktie Siemens AG: Gewinn Siemens AG: Umsatz SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Perskys neuer Job

Es gibt noch Menschen, die in diesen Tagen in New York einen Job finden. Einer davon heißt Joshua Persky. Der 48-jährige Absolvent des Massachusetts Institute of Technology (MIT) fing am 1. Dezember in Manhattan bei der großen Wirtschaftsprüfungsfirma Weiser LLP als Senior Manager an. Persky war fast ein Jahr lang arbeitslos, eines der ersten Opfer der Finanzkrise. "Ich bin froh, dass die lange Suche ein Ende hat," sagt er heute. "Mir gefällt es sehr gut in der Firma."

Perskys Fall ist außergewöhnlich, nicht nur, weil er zeigt, dass es auch in Zeiten von Massenentlassungen und Rekordverlusten an der Wall Street noch neue Jobmöglichkeiten gibt, selbst für Menschen, die nach den Standards der Branche als alt gelten. Joshua Persky ist eine Berühmtheit, weil er seine Jobsuche öffentlich gemacht hat. Bis Ende 2007 arbeitete er bei der Investmentfirma Houlihan Lokey an der vornehmen Park Avenue in Manhattan und wurde gut bezahlt dafür. Houlihan Lokey gehört zu jenen Wall-Street-Firmen, über die die Medien kaum berichten, deren Einfluss aber nicht zu unterschätzen ist; so gilt Houlihan als Marktführer bei der Abwicklung kleinerer Firmenzusammenschlüsse.

Am 1. Januar 2008 wurde Persky entlassen und machte sich auf die Jobsuche, zunächst durchaus in guter Stimmung. Doch die Bewerbungen blieben erfolglos.

Nach einem knappen halben Jahr probierte Persky dann etwas völlig anderes: Eines Morgens im Juni stellte er sich als Sandwich-Mann mit je einem Plakat vor dem Bauch und vor dem Rücken auf die vornehme Park Avenue. "Erfahrener MIT-Absolvent sucht Job", stand darauf. Passanten drückte er seinen Lebenslauf in die Hand. Auf diese Weise werben in New York sonst Nachtclubs und neu eröffnete Restaurants um Kunden. In der Weltwirtschaftskrise suchten Arbeitslose als Sandwich-Männer Gelegenheitsjobs.

Der MIT-Absolvent machte aber noch mehr. Er startete im Internet einen Blog (www.oracleofny.com) und machte seinen Fall damit vollends zum Medienereignis. Journalisten aus der ganzen Welt berichteten über seine Geschichte, es kamen interessante Kontakte zustande. Einmal im vergangenen Herbst rief ihn der Chef eines internationalen Möbelherstellers aus Dubai an, ohne dass daraus ein Arbeitsvertrag geworden wäre. Die Suche zehrte an den Nerven und belastete seine Familie. Er musste seine Wohnung in einem vornehmen Hochhaus mit Türsteher und Swimmingpool an der Upper East Side aufgeben. Seine Frau zog mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Omaha (Nebraska), er selbst lebt bei seiner Schwester in Westchester County vor den Toren der Stadt.

Schließlich hatte seine Aktion Erfolg, wobei sein Wechsel in eine andere Branche durchaus symptomatisch ist. Die Wall Street im eigentlichen Sinne gibt es nicht mehr. Viele der hochbezahlten Experten aus den Finanzfirmen müssen in andere Branchen wechseln, einige auch in andere Städte. Da hat es Persky mit einem angesehenen Wirtschaftsprüfer und einem Büro nicht weit entfernt vom Rockefeller Center in Manhattan gar nicht schlecht erwischt. Nikolaus Piper

Joshua Persky auf der Jobsuche in New York. Er war eines der ersten Opfer der Finanzkrise. Foto: Getty

Folgen der Finanzkrise in den USA Arbeitslosigkeit in den USA SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Stimmungsmache

Die Firmen sind zuversichtlicher - das liegt auch am Konjunkturpaket

Von Björn Finke

Ein positives Ergebnis haben die umstrittenen Konjunkturpakete der Bundesregierung bereits gebracht: Die deutschen Unternehmen blicken wieder etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Das Ifo-Institut will bei seiner monatlichen Geschäftsklima-Umfrage von den Firmen wissen, wie diese ihre Lage heute und mit Blick auf den Sommer bewerten. Die Beurteilung der jetzigen Situation verschlechterte sich von Dezember auf Januar weiter, doch dafür äußerten sich die Manager optimistischer zu den Geschäften in sechs Monaten. Offenbar gehen sie davon aus, dass das Schlimmste im Sommer vorbei ist. Zu dieser Einschätzung haben sicher auch die milliardenschweren Konjunkturprogramme in Deutschland und anderswo beigetragen.

Die Resultate für Januar sind zunächst eine Momentaufnahme - von einem Stimmungswandel kann man nach einem Monat mit besseren Umfragewerten nicht sprechen. Aber es ist erfreulich, dass die atemberaubend schnelle Abkühlung des Geschäftsklimas fürs Erste gestoppt ist. Denn Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie, wie schon Ludwig Erhard sagte. Haben Manager das Gefühl, dass es immer weiter abwärts geht, werden sie die Kapazität ihrer Fabriken und die Zahl der Jobs noch kräftiger herunterfahren, als sie es ohnehin planen.

Eins der wichtigsten Resultate der Konjunkturpakete ist daher, dass sie bei den Firmen - und hoffentlich bei den Verbrauchern - die Zuversicht steigern. Hier wirken die Programme auch sofort, während der direkte Effekt der Pakete, eine Ausweitung der Nachfrage, nur verzögert zu spüren sein wird - vielleicht sogar erst dann, wenn es ohnehin wieder aufwärts geht. Doch allein die bessere Stimmung ist bereits Milliarden wert.

Konjunkturelle Lage in Deutschland Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Unternehmen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Wir verwechseln Schnelligkeit mit Intelligenz, und das ist eine Katastrophe."

Irren und lernen

Entscheidungen von Führungskräften haben Folgen für Menschen und Märkte. Manager müssen mitunter schnell handeln und daher ständig lernen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. In der Hektik vergessen viele Bosse, ihren Leuten richtig zuzuhören. Das kann teuer werden. Von Grit Beecken

Am 14. September 2008 musste Henry Paulson, Finanzminister der Vereinigten Staaten, in kürzester Zeit viele Entscheidungen von großer Tragweite treffen. Damals stand die viertgrößte US-Investmentbank Lehman Brothers vor der Insolvenz. Paulson und seine Kollegen verhandelten bis zum späten Abend mit Vertretern von Wall-Street-Banken über mögliche Kapitalspritzen. Doch Paulson wollte nicht erneut Steuermilliarden zur Übernahme der Risiken zur Verfügung stellen, und die Banker waren nicht bereit, ohne staatliche Rückendeckung einzusteigen. Die Insolvenz am Montag danach führte zum Kollaps der Finanzmärkte rund um den Globus. Die Entscheidung war nicht mehr rückgängig zu machen, weil sich die Nachricht über die weltweit vernetzten Computersysteme in Windeseile verbreitete und die Akteure so reagierten, wie sie es in Theorie und Praxis der Finanzmärkte jahrelang gelernt hatten.

"Die Basis für erfolgreiches Lernen ist ein gutes Maß an Selbstorganisation", sagt Weert Kramer, Managementtrainer in Kiel. Zu dieser Selbstorganisation gehören für ihn neben der Priorisierung von Aufgaben und Konzentrationsvermögen auch ein gesunder Umgang mit den eigenen Gefühlen. Denn in einer gesunden Atmosphäre lerne es sich am besten. Menschen lernen vor allem durch Wiederholungen. Laut Kramer ist es wichtig, diese Erfahrungen anschließend auch auszuwerten - in einer möglichst kooperativen und freundlichen Umgebung.

Was so blumig klingt, hat in Unternehmen und Institutionen meist keinen Platz. Viele Führungskräfte beklagen, man gestehe ihnen keine Fehler zu. Wer immer perfekt funktionieren muss, für den ist das Lernen schwerer. Doch akzeptieren wir die Fehler, die Investmentbanker oder Finanzminister machen? Wenn ihre Fehlentscheidungen die Märkte in die Knie zwingen?

"Ja", sagt der Hirnforscher Ernst Pöppel. "Wenn jemand einen Fehler eingesteht und dadurch Transparenz schafft, dann verzeihen ihm die Leute." Doch bislang haben nur wenige Bankmanager gestanden, fahrlässig mit Risiken umgegangen zu sein. Alan Greenspan hingegen, der ehemalige Chef der US-Notenbank Fed, hat inzwischen eingeräumt, in Teilen zum Entstehen der Finanzkrise beigetragen zu haben. Er scheint dazugelernt zu haben. Dieses Dazulernen ist für die Wirtschaft von großer Bedeutung, daher interessieren sich inzwischen auch die Organisatoren des Weltwirtschaftsforums in Davos und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für das Thema.

Wenn Pöppel nach dem Lernverhalten von Managern gefragt wird, dann sprudeln die Worte: "Die Menschen müssen sich ihrer potentiellen Fehlerquellen bewusst sein." Wer nicht wisse, dass beispielsweise Vorurteile und Emotionen die Entscheidungen beeinflussen, der mache Fehler, die zu vermeiden wären.

Einer dieser Fehler ist laut Pöppel das "endlose Quasseln" in Vorstandssitzungen. "Wir brauchen wieder mehr Respekt, und zwar unabhängig von Hierarchieebenen." Nur in einem guten Miteinander könne man nachhaltig Wissen schaffen. Von einer weit verbreiteten Überzeugung müsse sich jeder Manager verabschieden: vom "Mythos Schnelligkeit". Pöppel beklagt: "Wir verwechseln Schnelligkeit mit Intelligenz, und das ist eine Katastrophe." Wichtiger sei es, Entscheidungen zu treffen, hinter denen der Manager auch emotional steht. Die aber brauchen Zeit: "Viele Entscheidungen kann man nicht erzwingen, die Gedanken müssen eine Weile gären." Da das Gehirn pausenlos denkt, folge früher oder später ein Ergebnis.

Das sagt auch Praktiker Kramer: Man könne nicht nicht lernen. Aber man kann besser oder schlechter lernen. Gemeinsam mit ihren Leuten lernen Manager besser - wenn sie offen sind für deren Anregungen und Meinungen und diese auch einfordern. Richard Fuld, Chef von Lehman Brothers, hingegen gilt als stur. Bis zum bitteren Ende behauptete er, alles sei unter Kontrolle.

Fuld, Richard: Image Lehman Brothers Holdings Inc Corporate Governance Unternehmensführung SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Gespaltener Kontinent

Bilder von Dürren, Bürgerkriegen und Diktaturen prägen das öffentliche Bild Afrikas in weiten Teilen der Welt. Dabei haben viele Länder in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht, Staaten wie Ghana oder Botswana. Dennoch bleiben viele auf Unterstützung angewiesen. An Katastrophenhilfe wie Nahrungsmittellieferungen oder technischem Gerät in akuten Notfällen werden die reichen Staaten trotz Wirtschaftskrise kaum sparen. Allerdings fürchten die Afrikaner, dass sich die Geberländer nicht an ihre Zusagen für die Entwicklungshilfe halten werden. Vom erklärten Ziel des Westens, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben, sind die meisten Industrieländer ohnehin weit entfernt. Vor allem aber verhindert der Protektionismus der reichen Länder den Aufbau starker Heimatmärkte in Afrika. Foto: laif

Wirtschaftsraum Afrika SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Schlaf

Enten bewachen sich gegenseitig, wenn sie schlafen. Die Tiere, die am Rande einer Gruppe ruhen, schlafen nur mit einer Gehirnhälfte und halten dabei ein Auge geöffnet. Andere Tiere schlafen ebenfalls, indem sie nur eine Hälfte ihres Hirns ruhen lassen. Albatrosse schaffen es dadurch, bis zu 15000 Kilometer am Stück zu fliegen.

Der 17-jährige Schüler Randy Gardner blieb 1964 ganze 264 Stunden lang durchgehend wach. Während der elf schlaflosen Tage wurde er von dem Schlafforscher William Dement von der Stanford Universität überwacht. Anschließend schlief Gardner 14 Stunden und 40 Minuten.

Laut Deutscher Verkehrswacht ist Sekundenschlaf Ursache für etwa ein Viertel aller Autounfälle auf Deutschlands Straßen.

Einige Gastropoden-Arten, das sind Schnecken, können wahrscheinlich länger schlafen als die meisten anderen Tiere: Sie verpennen leicht mal ganze drei Jahre.

Weil ausgehungerte Bettwanzen fast so dünn sind wie ein Blatt Papier, werden die hässlichen Blutsauger auch Tapetenflundern genannt. Eine ausgewachsene Bettwanze hält es fast ein Jahr lang ohne Blutmahlzeit aus.

Ein operatives Verfahren zur Behandlung chronischer Schnarcher, bei dem das Gaumenzäpfchen, Teile des weichen Gaumens und manchmal auch die Mandeln entfernt werden, heißt Uvulopalatopharyngoplastik. Weil sich das nicht mal Mediziner merken können, haben sie sich eine Abkürzung dafür ausgedacht: UPPP.

Bären halten Winterschlaf und dabei notgedrungen ihren Harn zurück. Fünf bis sieben Monate gehen die Tiere nicht zum Pinkeln, während sie in ihren Höhlen auf den Frühling warten.

Bis ins 20. Jahrhundert waren Schlafzimmer in Europa für einfache Menschen unerschwinglicher Luxus. Die meisten Menschen schliefen in einem Gemeinschaftsraum. Bei Bauern döste auch mal das Vieh im gleichen Zimmer und diente dabei als Wärmequelle. Richtige Betten wurden erst während des Mittelalters populär, waren aber zunächst ein Privileg des Adels.

Laut einer Studie von Wissenschaftlern der Universität Oxford, ist das Schäfchenzählen keine gute Einschlafhilfe. Die Tätigkeit sei so monoton und langweilig, dass sich dabei unweigerlich ablenkende Gedanken einschlichen, so die Forscher.

Etwa zwölf Prozent der Deutschen schlafen angeblich nackt. Das bedeutet, dass der überwiegende Teil der Deutschen im Bett Nachthemden, Pyjamas, Schlafanzüge oder andere Kleidung trägt. Wer nackt schläft, sollte seine Bettwäsche häufiger wechseln, der Körper gibt nachts nämlich bis zu einem Liter Schweiß ab, der dann statt im T-Shirt im Laken landet. SEBASTIAN HERRMANN

Illustration: Schifferdecker

Schlaf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Aktuelles Lexikon

Die innere Uhr

Alles hat seine Zeit, das ist eine alte physikalische wie philosophische Erkenntnis. Und irgendwie muss man die vielen verschiedenen Zeiten wahrnehmen, messen, lokalisieren können. Jedes Lebewesen, von den Algen im Meer bis zu den Schimmelpilzen, vom Einzeller bis zum Menschen, hat einen endogenen Rhythmus, der ihm hilft sein Leben zu gestalten - vor allem den Wechsel zwischen Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf, Aktivität und Erholung. Der Mensch hat es mittlerweile weit darin gebracht, diesen natürlichen Rhythmus, seine biologische innere Uhr, ins Stolpern zu bringen. Er steckt sein Leben in knallharte Dienstpläne und Überstundenkorsetts, weigert sich schlafen zu gehen, wenn die Sonne sinkt, und macht Nächte durch. Auf Transatlantikflügen durchquert er mehrere Zeitzonen und leidet anschließend am Jetlag-Effekt. Die Körperuhr, die er ständig austrickst, steckt bei Säugetieren im Zwischenhirn. Der suprachiasmatische Nucleus (SCN) ist ein winziger Zellhaufen, dessen Nervenzellen rhythmisch Signale an andere Gehirnregionen senden und den Organen ihre Aktivitäts- und Ruhephasen zuteilen, die Hochs und Tiefs des Tagesablaufs. Diese Uhren-Gene und ihr vererbbarer Rhythmus wurden Anfang der Siebziger entdeckt. Die innere Uhr lässt sich auch ein wenig justieren - die Gewöhnung an den Wechsel von der Winter- auf die Sommerzeit beweist es zweimal im Jahr. krr

Schlaf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kommentare

Überschätzt

Siemens könnte sich an Atom-Partnerschaft mit Russland verheben

Von Karl-Heinz Büschemann

Siemens-Konzernchef Peter Löscher hat mal wieder für eine Überraschung gesorgt: Er korrigiert die Atomstrategie des Konzerns und will stärker in den Bau von Kernkraftwerken einsteigen. Dazu ist er auf der Suche nach Partnern und hat offenbar auch den russischen Staatskonzern Atomenergoprom im Auge. Das lässt aufhorchen. Was Siemens auf dem Atomsektor plant, ist riskant. Wahrscheinlich überschätzt der Technologiekonzern die künftigen Chancen der Atomkraft und unterschätzt die Risiken, die sich aus der Zusammenarbeit mit einem russischen Staatskonzern ergäben.

Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass Löscher an der Entscheidung seines Vorvorgängers Heinrich von Pierer rüttelt. Der glaubte nicht mehr an das Geschäft mit Kernkraftwerken, nachdem die rot-grüne Regierung den politischen Ausstieg der Bundesrepublik aus der Atomkraft beschlossen hatte. Er brachte enttäuscht die Siemens-Nukleartechnik in eine Gemeinschaftsgesellschaft mit der französischen Framatome ein und gab sich mit der Minderheitsposition von 34 Prozent zufrieden. Das kam dem Ausstieg von Siemens aus der Atomtechnik gleich. Jetzt schätzt der Konzern die Atomchancen wieder optimistischer ein. Siemens erwartet nach eigenen Angaben eine Renaissance der Atomenergie und den Neubau von 400 Kernkraftwerken bis zum Jahr 2030 in der Welt. Da wollen die Münchner dabei sein.

Das wird nicht einfach. Der bisherige Partner Areva lässt nicht mit sich reden.

Die Münchner würden ihren Anteil an dem Unternehmen gerne wieder aufstocken. Doch die Franzosen wollen das Sagen bei Areva allein behalten und kommen dem deutschen Partner offenbar keinen Schritt entgegen. Das ist für die ambitionierten Deutschen ein Problem. Denn potentielle Partner gibt es nicht in beliebiger Menge. Da ist es kein Wunder, dass der russische Staatskonzern Atomenergoprom als Partner zur Diskussion steht. Siemens bestätigt die Gespräche mit Atomenergoprom nicht. Doch Konzern-Manager geben sich größte Mühe, etwaige Vorbehalte gegen einen Partner auszuräumen, der vom Kreml abhängt. Der Münchner Konzern habe seit 150 Jahren Erfahrungen mit Russland-Geschäften, sagen sie.

Siemens sollte im Umgang mit einem russischen Industriepartner in einer so wichtigen Frage vorsichtig sein. Die zurückliegenden drei Jahre haben im Westen erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit des russischen Staatskonzerns Gazprom in Energiefragen erkennen lassen. Dreimal blieben seit dem Jahr 2006 in Westeuropa fest zugesagte Lieferungen von Gas und Öl aus. Das führte in einzelnen Ländern Osteuropas bereits zu Versorgungsmängeln. Das kann Zufall sein, doch für den Westen sind vom Kreml abhängige Staatsunternehmen möglicherweise ein erhebliches Risiko. Niemand kann vorhersagen, ob sich Staatsunternehmen noch an Verträge halten, wenn der Staat andere Vorstellungen hat oder Ziele verfolgt, die rein politischer Natur sind. Der Münchner Konzern sollte sich besser an Unternehmen in Japan oder Nordamerika wenden.

Zu fragen ist auch, ob Siemens die atomaren Chancen nicht maßlos überschätzt. Wahrscheinlich werden in den nächsten 20 Jahren wesentlich weniger Kernkraftwerke gebaut, als mancher glaubt. Auch wenn sich die Atomlobby bemüht, darauf hinzuweisen, dass Atomkraftwerke zum Klimaschutz beitragen, weil sie kein Kohlendioxid ausstoßen: Die Zahl der konkret geplanten nuklearen Neubauten liegt unter zwei Dutzend. Viele andere sind reine Papierprojekte.

Es mag sein, dass in Zukunft einige Kernkraftwerke neu entstehen werden. Aber angesichts der immensen Kosten wird sich die Zahl in Grenzen halten. Atomkraftwerke sind teuer, vor allem, weil sich ihre Bauzeiten oft in die Länge ziehen. Das lässt sich gerade bei dem jüngsten finnischen Neubauprojekt besichtigen. Wenn nicht einmal ein aufstrebendes Land wie China, das auf keine Umweltbewegung Rücksicht nimmt, in großem Stil Atommeiler baut und stattdessen massenweise Kohlekraftwerke errichtet, sollte die Unternehmensführung von Siemens sehr nachdenklich werden.

Areva: Zusammenarbeit Siemens AG: Zusammenarbeit Atomenergoprom: Zusammenarbeit Atomenergie in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Kassandras zornige Jünger

Die Finanzkrise hat Kapitalismus und Globalisierung in ihren Grundfesten erschüttert. Kritiker wie das Bündnis Attac sehen sich nun bestätigt - und stehen vor neuen Herausforderungen: Kritik am System reicht nicht mehr. Konzepte müssen her. Von Michael Bauchmüller

Wie es ihm geht? Peter Wahl muss nicht lange nachdenken: "Großartig! Kassandra hat recht behalten, wie soll es mir da schlecht gehen?" So wie Wahl geht es vielen der langjährigen Globalisierungskritiker - einerseits. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist der Kapitalismus, ist die Globalisierung in ihren Grundfesten erschüttert. Andererseits: In den Strudel des Abschwungs geraten nun immer mehr einfache Leute, und das freut auch einen wie Peter Wahl nicht. "Da ,ätsch' zu sagen, wäre jetzt sicherlich der falsche Reflex", sagt Wahl. "Jetzt geht es darum, die richtige Antwort zu finden."

Im Jahr acht nach seiner Gründung geht es für das globalisierungskritische Bündnis Attac um alles. Jahrelang hatten sie mit teils spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam gemacht. Sie haben für eine Steuer auf Kapitaltransaktionen gekämpft, gegen den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan, für Gleichberechtigung und gegen Umweltzerstörung. Als Zehntausende 2007 gegen das Treffen der Industriestaaten in Heiligendamm demonstrierten, war Attac vorne mit dabei. Noch im vorigen Oktober seilten sie in der Frankfurter Börse ein Transparent ab, Aufschrift: "Finanzmärkte entwaffnen! Mensch und Umwelt vor Shareholder Value!".

Und jetzt? "Es gibt im Augenblick wenig Bedarf, den Leuten zu sagen, dass es so nicht weitergeht", erklärt eine Attac-Sprecherin nüchtern. "Dafür ist es zu offensichtlich." Es gibt jetzt viel mehr zu tun: Die Bedenkenträger der Globalisierung, die über den Protest leicht ihr Profil schärfen konnten, müssen nun konkrete Angebote vorlegen. "Wir kommen jetzt in eine neue Phase", sagt Wahl, einer der Mitbegründer von Attac Deutschland. Jetzt geht es nicht mehr nur um Kritik, es geht um Konzepte. Es ist eine Art Realitätstest für die Bewegung.

Die Nachfrage nach Alternativen ist offenbar gewachsen, rein statistisch zumindest. In der Frankfurter Zentrale des Netzwerkes fertigen sie seit Jahren Tabellen und Grafiken über die Mitgliederzahlen, und im Oktober, als die Finanzkrise nach Europa schwappte, riss die Kurve plötzlich aus. Weniger als 100 neue Mitglieder hatte Attac in den Vormonaten jeweils gewonnen - und im Oktober fast 300. "Wir werden jetzt gebraucht", sagt Wahl. Gleichzeitig hat Attac mit der Konkurrenz der Linkspartei zu kämpfen, und die internen Debatten sind nicht immer einfach. All das könnte von der Finanzkrise übertüncht werden.

Diese Woche, parallel zum Wirtschaftstreffen in Davos, treffen sich die Kritiker des Wirtschaftssystems im brasilianischen Belem zum "Weltsozialgipfel". Das Treffen ist inzwischen eine Art Institution der Gegenbewegung. Hauptthema, klar: die globale Finanzkrise. Einige Gruppen wollen nun mit neuer Wucht die "K-Frage" stehen, wobei "K" diesmal nicht für irgendeinen Kanzlerkandidaten, sondern für den Kapitalismus steht. Abermals begeben sich rund 80 000 Globalisierungskritiker damit in den Basar der Ideen - woraus nicht zwangsläufig konkrete Konzepte entstehen müssen. Darin liegt der Charme, aber auch die Schwäche der Bewegung.

"Wir haben einen ganz breiten Fächer von Themen" gesteht auch Detlev von Larcher, Finanzexperte bei Attac. "Wir wollen das nicht einschränken, aber die Gewichte verschieben sich." Und je mehr die Finanzkrise bei den Bürgern ankomme, desto mehr Gehör könnten sich auch Globalisierungskritiker verschaffen. Ende März, wenn die Staats- und Regierungschefs der 20 großer Industrienationen und Schwellenländer nach London kommen, will Attac europaweit Lärm machen. Davos dagegen spielt in den Planungen keine große Rolle. Das Treffen der Wirtschaftselite, sagt Larcher, sei doch ohnehin eher eine Veranstaltung von Verlierern.

"Wir kommen jetzt in eine neue Phase."

Wahl, Peter: Zitate Attac Globalisierungsgegner Maßnahmen zur Konjunkturbelebung ab 2008 SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Anzeige gegen Pecik

Die Schweizer Finanzmarktaufsicht wirft den beiden österreichischen Investoren Ronny Pecik und Georg Stumpf vor, beim Einstieg bei dem Schweizer Maschinenbauer Sulzer börsenrechtliche Meldepflichten verletzt zu haben. Sie will Strafanzeige erstatten. Die Investoren haben ihre Anteile inzwischen wieder verkauft. Reuters

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Dabeisein ist alles

Zürich und Luzern zeigen drei Kurzopern, die in einem Wettbewerb entstanden sind

"Wilde Welt" - so lautete die kühne, animierende thematische Vorgabe für einen Kurzopernwettbewerb in Zürich, in dessen Jury die renommierten Komponisten Beat Furrer, Manfred Trojahn und der Regisseur David Pountney saßen. Schon 2002 hatte das Opernhaus Zürich eine solche Konkurrenz ausgelobt unter dem Titel "Teatro Minimo", an dem damals auch die Bayerische Staatsoper beteiligt war. Damals siegten von sechs Teilnehmern der Italiener Arnaldo de Felice und der in Zürich lebende Brite Edward Rushton und erhielten dafür Aufträge für abendfüllende Opern, die dann in Zürich und München uraufgeführt wurden.

Endlich hat das Zürcher Opernhaus, nun im Alleingang, diese damals erfolgreiche Initiative wieder aufgegriffen und fortgesetzt. Drei Kurzopern hat die Jury jetzt ausgewählt, doch von "wilder Welt" war wenig am vergangenen Sonntag zu sehen. Die Stücke schwebten vielmehr in Zwischenreichen, irgendwo zwischen Traum und Realität, in einer Scheinwelt, durchaus bezeichnend für die hochartifizielle Kunstform Oper. Die Jury zeichnete alle drei Werke aus: Elena Langer erhielt einen "Publikumspreis" von 5000 Franken, dazu den Auftrag für ein Kammermusikwerk; Erin Gee soll ein 45-minütiges Orchesterwerk schreiben; und Gewinner Anno Schreier darf eine abendfüllende Oper schaffen, die in etwa anderhalb Jahren im Opernhaus Zürich uraufgeführt werden soll.

Eine Art Selbstbespiegelung

Die 35-jährige Kalifornierin Erin Gee, eine Schülerin des Jurymitglieds Furrer, behauptet in ihrem Kommentar zur Minioper "Sleep", dass es um die vier Schlafphasen gehe, wie sie in den indischen Upanischaden dargestellt werden. Aber das wird im Stück kaum sichtbar und verständlich. Vorn an der Rampe sitzt die Komponistin, die abwechselnd in zwei Mikrophone hinein pfeift und diverse andere Mundgeräusche hervorbringt. Im Mittelgrund bewegt sich ein Mann namens Johnson, der die phonetisch sehr kunstvoll gestalteten, inhaltlich geheimnisvoll bleibenden Texte des Librettisten Colin Gee singt. Diese Grundkonstellation wird über zwölf Szenen nicht verändert. Die Performance dreht sich in sich, es ist eine Art Selbstbespiegelung. Dazu spielt das zum Kammerorchester erweiterte Ensemble Opera Nova unter Zsolt Hamar eine differenzierte, doch etwas eintönige Musik. Es war der avancierteste, aber auch der am wenigsten theatralische Opernversuch des Abends.

Einen Text des Japaners Haruki Murakami hat der 30 Jahre junge Aachener Anno Schreier, einst Schüler des Jurymitglieds Trojahn, zu einem Libretto umgestaltet. "Hinter Masken" handelt von der rätselhaften Suche eines Mannes nach seiner ermordeten Frau. Schreier lässt der Handlung und dem Gesang Zeit, prägt jede der drei Szenen durch ein sehr deutliches Motiv, schafft Einheit, aber seine Musik vermag nicht abzuheben, Traumhaftes stellt sich nicht ein und Leidenschaft kommt nie auf. "Hinter Masken" war zwar handwerklich in Ordnung, zugleich aber von schwerer Langeweile.

Das dritte Stück "The Present" erzählt von einem Alzheimer-Patienten. Den Text schrieb Glyn Maxwell, die Musik komponierte die aus Russland stammende und in London bereits erfolgreiche Elena Langer. Sie haben sich dem Thema behutsam und ohne sensationsheischende Effekte genähert. Den Kranken spricht ein Schauspieler, alle anderen Personen singen. Auch ohne stringente Steigerung vermag sich das Drama auf intensive Weise zu entwickeln, entstehen Bilder, blühen Klänge auf. Dabei wird das Schumann-Lied "Ich will meine Seele tauchen in den Kelch der Lilie hinein" zweimal ganz selbstverständlich als Sehnsuchtsformel integriert. Manches mag allzu dicht verflochten sein, insgesamt klingt diese postmodern angehauchte Musik so lebendig, drängend, präzise gesetzt und vielgestaltig, dass man sich dem Stück kaum entziehen kann. Mit Abstand gelang diese "Teatro Minimo"-Oper am spannendsten.

Auch die Kammeroper "Die große Bäckereiattacke" der 1969 geborenen Japanerin Misato Mochizuki, die vergangenen Samstag am Luzerner Theater uraufgeführt wurde, ergab sich aus einem Wettbewerb. Gesucht wurde für die Komponistin ein Libretto, das zwei Kurzgeschichten von Murakami am besten zur Einheit verschmolz: Ein junges Paar, das nachts an plötzlichem Hunger leidet, überfällt ein McDonald's-Lokal, und "sühnt" damit die frühere Bäckereiattacke des Ehemanns - eine herrlich absurde Ausgangslage. Die Jury dieser Koproduktion mit Netzzeit Wien und Opera Genesis des Royal Opera House London, wählte aus 127 Bewerbungen die Version des in Israel lebenden Yohanan Kaldi.

Die große Bächereiattacke

Tatsächlich steckt in dem Text, von Reinhard Palm ins Deutsche übertragen, Tempo und Witz; die Absurditäten Murakamis werden drastisch zugespitzt und theatralisch in Form gebracht. Gerade richtig für die Erstlingsoper einer Komponistin, die mit den Stilen spielt: Sie persifliert Wagner, schiebt mühelos Rapgesang und Jazzschlagzeug ein und treibt so die Handlung an. Allerdings: So rassig vertont und gut montiert das alles ist, momentweise wirkt es auch überladen. Zwar wird der Sprachrhythmus auch in den gesungenen Partien nie opernhaft verschleppt, doch ab und zu geht im Durcheinander die Übersicht verloren, was man dem umsichtigen Dirigenten Johannes Kalitzke kaum vorwerfen kann. Das Durcheinander tut vor allem den "Sieben Weisen"nicht gut, einem vom Librettisten Kaldi eingeführten Minichor, der die Handlung ironisch begleitet. Die Kommentare hätten direkter getroffen, wenn ihnen Mochizuki mehr Zeit gelassen hätte, als das Raptempo erlaubt. Auch die hübschen Einfälle, die sich Regisseur Michael Scheidl mit Nora Scheidl (Kostüme/Bühnenbild) gerade für diese Gestalten ausgedacht hatte, huschten zu rasch vorbei. Es würde dem aparten Werk gut tun, wenn es die Komponistin nach diesen Erfahrungen noch einmal überarbeitete. THOMAS MEYER

Opernhaus Zürich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Einzelgänger

B. A. Zimmermann erschreckt mit einer "Ekklesiastischen Aktion"

Einer der unauffällig starken Väter der neuen Musik im Nachkriegsdeutsch-land, ein radikaler Einzelgänger der Mo-derne, der das Zeug hatte, mit seiner Kriegsoper "Die Soldaten" nach Jakob Michael Reinhold Lenz (1960) sogar den "Wozzeck" noch steigern zu können, das war der 1918 bei Köln geborene Bernd Alois Zimmermann. Das Nazi-Regime und der Weltkrieg prägten sein Leben, der böse Widerspruch von Verzweiflung und Hoffnung gehörte zu seinem Grundgefühl. 1970 schied er aus dem Leben. In der kurz vor seinem Tod abgeschlossenen "Ekklesiastischen Aktion" für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester führt Zimmermann sein pessimistisch tönendes Bekenntnis ins Extrem eines Angst, Schrecken und grausige Erkenntnis verbreitenden Oratoriums. Und Gerd Böckmann und Robert Hunger-Bühler gelingt es in der Aufnahme (ECM, 2008), die Texte aus dem Alten Testament und Dostojewskis Großinquisitor in so "flammender" Rezitation zu vergegenwärtigen, wie vom Komponisten verlangt. Das WDR-Sinfonieorchester Köln unter Heinz Holliger katapultiert die abrupten Klangkontraste und Stilmixturen fast erschreckend plastisch heraus. Entdeckung früherer Werke Zimmermanns: Thomas Zehetmair spielt das Violinkonzert und Thomas Demenga das Cellokonzert "Canto di speranza", in denen noch Strawinsky geistert, mit makelloser Musikalität. WOLFGANG SCHREIBER

Zimmermann, Bernd-Alois SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Giftspucker

Soul Jazz Records versammelt Pionierinnen des Rap

Dafür war das britische Label Soul Jazz schon immer berüchtigt: In den Besenkammern der Musikgeschichte zu stöbern und aus verstaubten Schätzen äußerst unterhaltsame Anthologien zu arrangieren. Auch mit "Fly Girls!" (Soul Jazz, 2009) gelingt ihnen wieder der Aha-Effekt: Wo haben die das nur gefunden? Wieso kenne ich diese unglaubliche Rapperin noch nicht? Und hat die weibliche Rap-Tradition schon 1969 angefangen? Tatsächlich datiert "Ego Tripping", ein Spoken-Word-Stück der afroamerikanischen Dichterin Nikki Giovanni aus einer Zeit, in der Rap noch die gesprochenen Einlagen von Soulstücken bezeichnete. Vor allem aber versammelt "Fly Girls" die weiblichen Pioniere der ersten Welle des Rap: Damals als der klassische Boom-Bap den Rhythmus vorgab und es darum ging, Konkurrentinnen verbal im Zaum zu halten, den Männern die eigene Stärke zu demonstrieren oder überschwenglich die letzte Block-Party zu rekapitulieren. Großartige Giftspucker: JJ Fad aus Los Angeles mit "You're Goin Down" oder Roxanne Shantés "Bite This". Auf "Simon Says", der ersten auf Vinyl gepressten Nummer einer rein weiblichen Crew machen dagegen Sequence und die damals noch unbekannte Angie Stone Tanzanimation im Stil der Sugar Hill Gang. Spätere Rapper-Aktivistinnen wie Bahamadia, MC Lyte oder Queen Latifah runden das Spektrum ab. Ein großer Spaß.JONATHAN FISCHER

Dafür war das britische Label Soul Jazz schon immer berüchtigt: In den Besenkammern der Musikgeschichte zu stöbern und aus verstaubten Schätzen äußerst unterhaltsame Anthologien zu arrangieren. Auch mit "Fly Girls!" (Soul Jazz, 2009) gelingt ihnen wieder der Aha-Effekt: Wo haben die das nur gefunden? Wieso kenne ich diese unglaubliche Rapperin noch nicht? Und hat die weibliche Rap-Tradition schon 1969 angefangen? Tatsächlich datiert "Ego Tripping", ein Spoken-Word-Stück der afroamerikanischen Dichterin Nikki Giovanni aus einer Zeit, in der Rap noch die gesprochenen Einlagen von Soulstücken bezeichnete. Vor allem aber versammelt "Fly Girls" die weiblichen Pioniere der ersten Welle des Rap: Damals als der klassische Boom-Bap den Rhythmus vorgab und es darum ging, Konkurrentinnen verbal im Zaum zu halten, den Männern die eigene Stärke zu demonstrieren oder überschwenglich die letzte Block-Party zu rekapitulieren. Großartige Giftspucker: JJ Fad aus Los Angeles mit "You're Goin Down" oder Roxanne Shantés "Bite This". Auf "Simon Says", der ersten auf Vinyl gepressten Nummer einer rein weiblichen Crew machen dagegen Sequence und die damals noch unbekannte Angie Stone Tanzanimation im Stil der Sugar Hill Gang. Spätere Rapper-Aktivistinnen wie Bahamadia, MC Lyte oder Queen Latifah runden das Spektrum ab. Ein großer Spaß.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Statiker am Rande des Nervenzusammenbruchs

Gebauter Widerspruch: das neue Porsche-Museum des Wiener Büros Delugan Meissl in Stuttgart-Zuffenhausen

Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan haben schon viele Wettbewerbe gewonnen. Ihre Entwürfe sind kühn, experimentell, kompliziert. Allerdings werden sie häufig nicht realisiert - sie sind den Bauherren zu komplex, zu riskant. Auch ihrem Entwurf für das Porsche-Museum wurde von der Fachwelt diagnostiziert: nicht machbar, statisch nicht zu bewältigen. Nun hat im Hause Porsche der Nervenkitzel aber Tradition. Deshalb bekam das Wiener Büro Delugan Meissl 2005 den Zuschlag für das neue Porsche-Museum in Stuttgart-Zuffenhausen. Denn es favorisierte nicht - wie die Konkurrenz - den Kubus, sondern visualisiert, worum es Porsche geht: Potenz.

Heute wird das neue Museum eröffnet. Eine statische Leistung, durchaus. Der 160 Meter lange Korpus liegt auf nur drei Stützen auf. Die ersten, flüchtig skizzierten Entwürfe erinnern an eine Schale, die auf einer Nadel steht. Doch es geht keineswegs um Fragilität, nicht um das elegante Beherrschen der Materie, sondern der wuchtige Monolith, der nun den Porsche-Platz dominiert, scheint mit gewaltiger Anstrengung emporgepresst.

35 000 Tonnen wiegt der Baukörper, 10 000 Tonnen Stahl wurden verbaut, wie die Architekten nicht müde werden zu wiederholen. Um die Verteilung dieser gewaltigen Lasten errechnen zu können, musste ein neues Computerprogramm entwickelt werden. Der Bau hat nicht nur Statiker und Ingenieure an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht, sondern auch viel Zeit und Geld gekostet: Die Eröffnung wurde mehrfach verschoben, aus fünfzig wurden schließlich hundert Millionen Euro.

Fließende Räume

Fast zu mächtig ist das neue Wahrzeichen von Zuffenhausen für die knappe Fläche geraten. Die Fassade scheint der Tristesse der Umgebung angepasst: Der Mantel aus weiß beschichteten Metallpanelen wirkt bei schlechtem Wetter so stumpf und traurig wie die Werkshallen vis-à-vis. Die Unterseite wurde dagegen mit spiegelndem Edelstahl versehen, der einen Hauch Luxus ins Viertel bringt und den Vorplatz durch die Spiegelung aufregend vergrößert. Umso erstaunlicher, dass der Eingang in einer niedrigen Glasfront versteckt wird. So beiläufig hat selten jemand das Entree eines Museums zu gestalten gewagt.

Widersprüche zeichnen das Gebäude aus. Rolltreppen zerschneiden das nüchtern-funktionale Foyer und gleiten in die Ausstellung hinauf. Im Inneren vermitteln sich nicht annähernd die Ausmaße des Monoliths, er wird von Ebenen durchzogen und wirkt durch die niedrigen Decken intim. Die Flächen, Podeste, Stufen und Wandelemente sind monochrom in Weiß gehalten. Hier wird nichts inszeniert, dienstbeflissen will die Architektur Bühne für die Fahrzeuge sein, die wie in einer Werkshalle nebeneinander- und für sich selbst stehen.

Porsche lud 2004 ausschließlich junge Büros zum Wettbewerb ein. Inzwischen sind die Österreicherin Elke Delugan-Meissl und der in Meran geborene Roman Delugan längst etabliert. Ihr Schwerpunkt liegt im Wohnungsbau; im kommenden Jahr soll auch das von ihnen entworfene Filmmuseum Amsterdam eröffnet werden. Das Büro steht für eine "physiologische Ästhetik", die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, auf Gefühle und Sinne reagieren will. Den Museumsbesucher sehen die Architekten entsprechend als "mündigen Menschen", der sich den spiralförmig angeordneten Rundgang selbst erschließen soll - ohne explizites Leitsystem.

Die "fließenden Räume", wie sie es nennen, lassen sich kaum erfassen, sie werden verschränkt, verzichten auf Hierarchien, steigen an und fallen ab. Das Prinzip lautet Heterogenität, wobei manche dieser Brüche eher wirken, als sei die Planung nicht bis in die letzte Konsequenz durchdacht worden: Hier ragt die Fassade unmotiviert in eine Fensterfront hinein, dort ist ein Durchgang allzu schmal, aber auch zu breit, um als Fuge zu gelten. Oder die Rückseite des Gebäudes: Unter dem geschlossenen Baukörper klebt wie ein störender Appendix die Fluchttreppe.

Delugan Meissl wollen dem Mythos Porsche gerecht werden, dabei aber jede Geste der Macht vermeiden. Das Ergebnis ist der gebaute Widerspruch: ein monumentaler Auftritt, der sich permanent selbst negiert. Große Räume und Flächen, die fragmentiert werden. Kraftmeierei haben sie sich beim Stemmen der Massen erlaubt, der Geist dieses Gebäudes aber ist zutiefst liberal.

Das Museum inszeniert die Marke nicht in einer High-Tech-Erlebniswelt, es protzt nicht mit teuren Materialien und übertriebenen Dimensionen. In der spektakulär daherkommenden Hülle steckt das Understatement - und ein Haus, in dem man dem Automobil auf Augenhöhe begegnet. ADRIENNE BRAUN

Mächtig schwebt der unten verspiegelte Baukörper des Porsche-Museums mit seiner Schaufassade über dem Platz in Stuttgart-Zuffenhausen. Die Besucher betreten das Gebäude durch eine Glaswand im Sockel und lassen sich dann von Rolltreppen hinauf in die Ausstellungsgeschosse tragen. Foto: Bernd Weißbrod / dpa

Delugan, Roman Delugan-Meissl, Elke Porsche AG Museen in Deutschland Bauwerke und Gebäude in Stuttgart SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tiefseetaucher

"Telepathe" borgen sich den Sub-Bass für den Indiepop

Es ist kein Geheimnis, dass Lautstärke in der Musik überhaupt, im Pop aber natürlich noch einmal auf ganz eigene, konstituierende Art, eine transformierende Kraft hat. Die blanke Wucht eines ohnehin im sonischen Vordergrund positionierten Gitarrenriffs ist dabei meistens nicht das Beeindruckendste. Es sind eher die Untiefen, die es nach oben spült, wenn sich die Regler dem roten Bereich nähern. Im schlechtesten Fall suppt es dann unerträglich, im besten Fall geht es erst richtig los. So ein Fall ist das Debüt-Album "Dance Mother" (V2/Universal, 2009) des aus Brooklyn stammenden Duos "Telepathe", das im weitesten Sinne erst einmal dem elektronisch inspirierten Indiepop zuzurechnen sein dürfte. Hört man es nur hinreichend laut über ausnahmsweise einmal nicht allzu schlechte Boxen oder Kopfhörer schiebt sich ein unüberhörbar beim Dub-Step geborgter Sub-Bass ins Klangbild, der so tieftrocken und präzise federnd nicht zur rhythmischen Grundaustattung des Indie gehört. Dass der zuletzt weithin als derzeit wichtigster Pop-Innovator gefeierte Dave Sitek von "TV On The Radio" die Platte produziert hat, erklärt manches. Von seiner Sammlung alter Synthesizer haben Melissa Livaudais und Busy Gangnes ausführlich Gebrauch gemacht. Ein guter Teil dieses kleinen Pop-Ereignisses dürfte jedoch auch auf das Konto ihrer so brüchig-nüchternen wie sphärischen Stimmen

gehen. JENS-CHRISTIAN RABE

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Tempomacher

Als künftiger Alleinchef rückt Léo Apotheker bei SAP schon jetzt in den Vordergrund - und kündigt eine Kulturrevolution an

Von Dagmar Deckstein

Die Urteile in der Presse fielen bislang immer recht gefällig aus. Von einem "Charmeur mit Härte" sprachen die einen, von einem "Grandseigneur" andere. Doch an diesem Mittwoch dürfte SAP-Chef Léo Apotheker keinen ganz leichten Stand haben. Wenn er - noch gemeinsam mit Co-Chef Henning Kagermann - die Geschäftszahlen von Europas größtem Softwarekonzern vorlegt, werden die auch mit Charme und Grandseigneurtum verkündet nicht viel besser ausfallen. Schließlich ist das Neugeschäft mit Softwarelizenzen seit vergangenem September nahezu zum Erliegen gekommen, und SAP wird sich vermutlich jeglicher Prognose für das Geschäftsjahr 2009 enthalten. Vom angepeilten Ziel, die operative Marge von 28 auf 35 Prozent zu erhöhen, ist bis auf Weiteres auch nicht mehr die Rede. Das mögen Börsianer gar nicht. Aber warum soll es SAP besser gehen als vielen anderen Konzernen, die angesichts der Wirtschaftskrise keinen Fernblick mehr wagen wollen und flächendeckend "nur noch auf Sicht" fahren? Für die erfolgsverwöhnten SAP-Getreuen ist es dennoch ein Novum.

Zuckerbrot und Peitsche

Eine Zäsur ist die diesjährige Bilanzpressekonferenz aber auch aus einem anderen Grund. Seit Frühjahr vergangenen Jahres führen der langjährige SAP-Alleinchef Henning Kagermann und Léo Apotheker den Konzern in einer Doppelspitze. Kagermann wird nach der Hauptversammlung im Mai abtreten und Apotheker das Feld allein überlassen. Damit der Wechsel nicht allzu abrupt geschieht, soll Apotheker schon jetzt die operative Leitung übernehmen. Ausgerechnet jetzt, da die bisher schwierigste Zeit für die 36 Jahre alte deutsche Kultfirma aus Walldorf angebrochen ist.

Durch den jahrzehntelangen Erfolg ist SAP mit seinen heute 55 000 Mitarbeitern behäbig geworden. Unvorbereitet hat in Walldorf die Krise eingeschlagen und das Management Anfang Oktober zu einem schon panikhaft dekretierten Sparprogramm veranlasst: Dienstreisen wurden gestrichen, Neueinstellungen storniert, befristete Verträge nicht mehr verlängert. 200 Millionen Euro will SAP einsparen, aber das ist nur der Anfang einer rigorosen Generalüberholung des gesamten Konzerns. Der soll schneller, kostengünstiger und innovativer werden, und Léo Apotheker hat schon Ende vergangenen Jahres die Parole ausgegeben, wie die Mitarbeiter weltweit sich das vorzustellen haben: "Viel mehr Tempo, wir brauchen deutlich mehr Tempo."

Mit der Ruhe der Softwaretüftler ist es allerdings schon dahin, seit sie wissen, dass Apotheker künftig die erste Geige im Konzern spielen wird, einer, der von sich sagt, er sei "etwas emotionaler und vielleicht auch ein bisschen ungeduldiger als der Henning."

Ein Novum an der Konzernspitze ist Apotheker ohnehin. Mit ihm sitzt erstmals in der Unternehmensgeschichte ein Vertriebsmann auf dem Chefsessel und kein Softwareentwickler. Viele dieser Entwickler, "Techies" genannt, sehen der Ägide von Apotheker denn auch mit gemischten Gefühlen entgegen. In der Belegschaft gilt er als fordernd und um deutliche Worte nicht verlegen, als einer, der Zuckerbrot und Peitsche gleichermaßen einzusetzen weiß. Aber viele Mitarbeiter sind auch einsichtig, dass es so wie bisher bei SAP nicht mehr weitergehen kann, dass sich der Konzern wohl zu lange auf seiner angestammten Marktführerposition ausgeruht hat.

Da wäre zum Beispiel die Schlappe mit der wichtigsten Neuerfindung der vergangenen Jahre. Die Markteinführung von Business By Design, einer Online-Software zum Mieten für den kleinen Mittelstand, wurde trotz vollmundiger Ankündigungen 2008 wieder gestoppt und kommt nun erst in diesem Jahr reichlich verspätet zu den Kunden. Wieder eine Wachstumschance weniger. Peinlich für SAP war auch die regelrechte Revolte namhafter Mittelstandskunden wie Tognum, Bitburger, Krones oder Miele, die gegen die saftige Erhöhung der Wartungsgebühren um 30 Prozent mitten in der Finanzkrise öffentlich zu Felde zogen und gegen die "Arroganz aus Walldorf" wetterten. SAP musste schließlich klein beigeben und die Kündigung der Wartungsverträge zurücknehmen. Aber ein Imageschaden bleibt erst mal haften.

Zweitbüro in Paris

Da wird auch die Eloquenz des 55-jährigen Léo Apotheker gefragt sein, der neben Deutsch vier weitere Sprachen fließend beherrscht: Französisch, Englisch, Hebräisch und Niederländisch. Der Sohn jüdischer Flüchtlinge wurde 1953 in Aachen geboren, wuchs in Antwerpen auf, studierte in Israel internationale Beziehungen und Volkswirtschaft. 1988 kam er zu SAP, wo er für das Geschäft in Europa, Nahost und Afrika verantwortlich war. In den Vorstand rückte er 2002 auf, schließlich in die Co-Chefposition, nachdem der einstige Kronprinz Shai Agassi SAP überraschend verließ. Seit 25 Jahren lebt der Kosmopolit Léo Apotheker in Paris, wo er den Konzern auch zum Teil von seinem Zweitbüro in der Seinestadt aus leitet. Ob aus Paris oder Walldorf - Apotheker lässt keinen Zweifel, wohin er mit SAP will: Mehr Rendite, weniger Hierarchien, noch globaler werden, die Leistung erhöhen. Kurz: "Wir müssen uns neu erfinden", verkündete er vor Weihnachten. "Nur so können wir dauerhaft überleben."

"Ein bisschen ungeduldiger" als sein Vorgänger Henning Kagermann - so beschreibt sich Léo Apotheker selbst. Foto: Cooper Photos/Visum

Apotheker, Léo SAP AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Titanenhaftes

Kent Nagano und sein heroischer Beethoven in München

Es gibt an der Bayerischen Staatsoper einen Generalmusikdirektor und es gibt einen Staatsintendanten. Beide agierten sie jetzt leibhaftig auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters, um gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsorchester und dem Staatsopernchor eine bislang kaum bekannte Komposition Ludwig van Beethovens aufzuführen, die den Titel trägt: "Der General". Die musikalische Fachwelt wundert sich, der Laie im Akademiekonzert staunt. Immerhin ist das Werk schon auf einer CD erschienen, die voriges Jahr von Kent Nagano und seinem Orchestre Symphonique im kanadischen Montreal produziert wurde. Die Texte, die hier Nikolaus Bachler vortrug, hatte dort Maximilian Schell gelesen.

Das fiktive Oratorium

Es handelt sich bei "Der General" - Entwarnung für die Musikwissenschaft - natürlich nicht um eine frisch aufgetauchte Originalkomposition Beethovens für Orchester, Sopran, Chor und Erzähler, sondern um die Fiktion eines Oratoriums, eine Collage aus neuen Texten und Beethoven-Musiknummern. Man will wenigstens den Versuch unternehmen, die politische Landschaft, in die der Komponist im linksrheinischen, spä;ter französischen Bonn hineingeboren wurde, als Landschaft seines politischen Bewusstseins zu verstehen. Es geht um das politische Potential, das der Republikaner Beethoven, für den die Französische Revolution fundamental blieb, als seinen Lebenshorizont erkennen konnte.

"Beethovens Aktualität" ist der Text dazu im Programmheft etwas forciert übertitelt, denn dass Beethoven ein Künstler war, der von der umstürzenden Parole Liberté, Égalité, Fraternité zutiefst durchdrungen war, ist bekannt: Die Sinfonia eroica, Fidelio, die Schauspielmusik zu Goethes "Egmont" sind kapitale Zeugnisse von Freiheitspathos und sozialer Empathie. So wird die "Egmont"-Ouvertüre zum Einstieg in die 15-teilige Abfolge der neuen "Komposition", deren Dramaturgie und Texte von dem Londoner Musikpublizisten Paul Griffith stammen. Nagano und das Orchester in Montreal gaben den Auftrag.

Die gern gespielte Ouvertüre, die den leidenschaftlichen Freiheitskampf eines Volks und seines Helden besingt, entstand 1810, um diese Jahre des 40-jährigen politischen Menschen Beethoven geht es in der knapp einstündigen Nummernfolge. Nagano dirigierte das fulminante Vorspiel mit einer fast atemlosen dramatischen Stringenz, die die Wucht einer Bühnensituation evozierte: Aufruhr, Kampf, Freiheitsjubel. Die zwei bekannten Klärchen-Lieder aus der Egmont-Musik sang Aga Mikolaj mit sanftem Nachdruck.

Doch die Abfolge von Interludien und Melodramen, unterbrochen von kurzen Prosatexten, ist nicht ohne Risiko, denn weder die Texte, noch die Beethoven-Einschübe ergeben ein Kunstganzes. Gewünscht ist die Konfrontation Beethovens mit der Barbarei des 20. Jahrhunderts, statt Goethe-Texte werden Ausschnitte aus dem Buch "Shake Hands with the Devil" des kanadischen Generals Roméo Dallaire, Kommandeur beim UN-Friedenseinsatz in Ruanda, herangezogen: Beobachtungen menschlicher Grausamkeit. Eher schwache Details aus Beethovens "König Stephan"-Musik und der unbekannten "Leonore Prohaska" wirken kürzelhaft, das finale Chor-Orchester-"Opferlied" ist seraphischer Abgesang, ohne große lyrische Kraft.

Knapper, schlagender als mit Beethovens Fünfter kann die Antwort auf das pathetisch versprengte Freiheitskompendium nicht erfolgen. Nagano bietet die berühmteste Symphonie der Geschichte wie aus einem Guss, in schneller Gangart, die an die wahnwitzigen Metronomtempi Beethovens gemahnt - er liefert sich dem symphonischen Existentialismus des Werks aus, macht dabei die Dichte der Stimmenverflechtung überdeutlich und betont das nervös Vorwärtstreibende in Beethoven. Klangbalance und Tonschönheit sind nicht Ziel der Darstellung, sondern die Unbedingtheit der Idee wie der Konstruktion. Aufregender kann das Stück nicht sein, das man nicht zu oft hören soll. WOLFGANG SCHREIBER

Nagano, Kent Bayerische Staatsoper: Nationaltheater SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Sorgen der Manager

Nur jeder zehnte Firmenchef weltweit rechnet mit einer Umsatzsteigerung in diesem Jahr, zeigt eine Umfrage

Von Gerd Zitzelsberger

Davos - Die weltweite Wirtschaftskrise wird Jahre dauern, und die Erholung wird nur schwach ausfallen. Das ist die überwiegende Einschätzung von 1100 Vorstandschefs aus 50 Ländern, die die Wirtschaftsprüfungs- und -beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC) im Vorfeld des Weltwirtschaftstreffens in Davos befragt hat. Dennoch wollen - zumindest auf dem Papier - erstaunlich wenige Firmenchefs ihre Belegschaften verringern. Vergleichsweise positiv fallen die Prognosen deutscher Wirtschaftskapitäne aus.

Lediglich jeder Dritte der Vorstandsvorsitzenden sagte, er rechne auf Sicht von drei Jahren mit einem Wachstum. Vor einem Jahr lag der Vergleichswert noch bei 42 Prozent. Eine noch deutlich stärkere Stimmungsverschlechterung, so heißt es bei PwC, hätte sich gezeigt, wenn die Umfrage, die im vierten Quartal 2008 durchgeführt wurde, noch später stattgefunden hätte. Schon im Verlauf der drei Umfrage-Monate habe sich die Stimmung noch weiter eingetrübt.

Die kurzfristigen Wachstumserwartungen haben den tiefsten Wert seit der erstmaligen Befragung im Jahr 2003 erreicht. Ende November rechnete nur jeder zehnte Firmenchef mit einer Umsatzsteigerung für das laufende Jahr, heißt es in der Studie. Berücksichtige man auch die in den Wochen zuvor eingegangenen Antworten, dann zeigten sich noch 21 Prozent der Manager "sehr zuversichtlich", ihren Umsatz im Jahr 2009 steigern zu können.

Als besorgniserregend stufen die Berater den radikalen Stimmungswandel in den Schwellenländern ein. So ist in China der Anteil der Optimisten innerhalb eines Jahres von 73 auf 29 Prozent geschrumpft, in Russland von 73 auf 30 und in Mexiko sogar von 77 auf nur noch 13 Prozent. "Es ist ein Beleg dafür, dass sich die gegenwärtige Rezession anders als frühere Krisen nicht auf einige Wirtschaftsregionen beschränkt", sondern ein globales Problem sei, sagte Hans Wagner, der Sprecher des Vorstandes von PwC Deutschland.

In den Industrieländern sehen die Manager die Zukunft nicht rosiger. Dabei sind die Einschätzungen in Frankreich sogar noch düsterer als in den USA oder Großbritannien: Nur fünf Prozent der dortigen Spitzenmanager rechnen für 2009 mit einem Umsatzwachstum. In Deutschland dagegen beträgt der Anteil der "Optimisten" immerhin 17 Prozent - vor einem Jahr allerdings lag auch hier die Quote noch bei 57 Prozent.

Vergleichsweise zuversichtlich sind die deutschen Vorstandsvorsitzenden auch bei den Finanzierungsmöglichkeiten: Trotz des massiven Kursrutsches der Aktiennotierungen halten 38 Prozent der Befragten die Kapitalbeschaffung über die Börse weiterhin für eine Option. Weltweit dagegen haben 83 Prozent der Spitzenmanager das Thema Börsengang oder Kapitalerhöhung über die Börse erst einmal abgehakt. Selbst auf Kredite mag angesichts der Bankenkrise nur noch jeder vierte vertrauen. Die anderen wollen ihre Investitionen aus dem laufenden Umsatz finanzieren. Trotz der weltweiten Zinssenkungen der Notenbanken fürchten beinahe 80 Prozent der Spitzenmanager höhere Finanzierungskosten und erschwerten Zugang zu Kapitalquellen. Auch bei diesem Thema zeigen sich allerdings deutsche Vorstandsvorsitzende einen Hauch optimistischer als ihre Kollegen im Ausland.

Vor diesem Hintergrund denkt derzeit auch kaum mehr ein Vorstandsvorsitzender an Übernahmen und Fusionen. Statt dessen kommen der Not gehorchend jetzt wieder Allianzen und Gemeinschaftsunternehmen in Mode. Einen erstaunlichen Kontrast zu den Nachrichten der vergangenen Wochen liefert die Umfrage beim Thema Personalabbau: Während sich die Meldungen über Stellenstreichungen häufen, gaben in der PwC-Umfrage lediglich 26 Prozent der Vorstandsvorsitzenden - in Deutschland sogar nur 17 Prozent - an, dass sie mit einer Verringerung der Belegschaft rechnen. Mehr als ein Drittel der Spitzenmanager, sowohl weltweit wie in Deutschland, gaben sogar zu Protokoll, dass sie von einer wachsenden Belegschaft ausgehen. PwC-Deutschlandchef Wagner vermutet, dass sich die Firmen angesichts eines latenten Fachkräftemangels trotz der gegenwärtigen Umsatzausfälle nicht gerne von erfahrenem Personal trennen.

Schlechte Aussichten für Studenten in Peking: Vor allem in China habe sich die Stimmung dramatisch verschlechtert, stellten die Wirtschaftsprüfer in ihrer Umfrage fest. Foto: ecopix/Wong

Weltwirtschaftsforum 2009 Weltwirtschaftslage SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tornado oder schwebende Wolke

Wie die deutsche Autoindustrie ihre Musealisierung betreibt

Als Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au vor ein paar Jahren dem Vorstand des Münchner Autoherstellers seinen Entwurf für die 2007 eröffnete BMW-Welt vorstellte, wollte jemand wissen, was denn dieser merkwürdige Doppelkegel bedeute. Mit dem eng taillierten Stahl-Doppelkegel, der die Zufahrt markiert, zeigt sich die BMW-Welt der Stadt auf zeichenhafte Weise. Die Geometrie, so Prix, deute einen Tornado an.

Nun kennt man solche Symbolik von den Wiener Wolkenbauern schon seit 1980. Damals forderten sie: "Architektur muss schluchtig, feurig . . . brutal . . . sein. Lebend oder tot." Ach du meine Güte, mögen sich die BMW-Manager gedacht haben. Ein Tornado! Ausgerechnet zu Zeiten des Klimawandels! Lass uns mal lieber eine Wolke daraus machen. Und so kam es, dass man die BMW-Welt nun nicht als heftigen Tornado begreifen soll, sondern als liebliche Wolke. Wer sich jedoch den unfassbaren Absturz der deutschen Autobranche in den letzten Monaten betrachtet, kann nicht umhin: Ein Tornado, der für Schäden in Milliarden-Höhe sorgen kann, ist das treffende Bild.

Das neue Stuttgarter Porsche-Museum bietet sich nicht für meteorologische Metaphern an. Aber auch dieses Museum, in dem die Historie einer Marke zum Marketinginstrument umgeschmiedet wird, beleuchtet einen denkwürdigen Zusammenhang. Denn niemals zuvor gab es in Deutschland im Premiumsegment so viele architektonisch hochambitionierte Automuseen, Abhollager oder Erlebniswelten - und niemals zuvor mussten derart kraftstrotzende, teure Bauten eine derart schwächelnde, ja taumelnde Industrie abbilden. Es ist, als wollte man einer Branche am Abgrund ein Denkmal setzen; als wollte man quasi den Niedergang auf seinem Höhepunkt einfrieren.

Das architektonisch geglückte Porsche-Museum markiert dabei den letzten Stand der "Carchitecture"-Bautypologie, die übrigens eine deutsche Erfindung ist - so wie das PS-wunderliche Premium-Segment fest in deutscher Hand und also Teil des Problems ist. Zuvor waren die BMW-Welt in München und das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, entworfen von Ben van Berkel, eröffnet worden. Audi hat derweil für alle seine Autohäuser eine weltweit gültige neue Corporate Architecture (Architekten: Allmann Sattler Wappner) initiiert. Leipzig punktet mit einem von Zaha Hadid gestalteten Werk. Am gleichen Ort gibt es auch ein Porsche-Kundenzentrum (von Gerkan, Marg und Partner) - und schon vor Jahren gönnte sich VW eine edle "gläserne Manufaktur" in Dresden (Henn Architekten).

Dass nun in Stuttgart kein neues Werk, kein Kundenzentrum und kein Abhollager, sondern ein Museum eröffnet wird, ist zeichenhaft. Wenn es den Ingenieuren nicht gelingt, aus dem maximalen Hub ihrer Motoren die maximale Energieeffizienz zu machen, betreibt die deutsche Automobilindustrie ihre eigene Musealisierung. Es käme jetzt aber weniger auf Historizität und Architektur als Marketinginstrumente an - sondern auf die Zukunftsfähigkeit der Technologie.

GERHARD MATZIG

Museen in Deutschland Folgen der Finanzkrise für die deutsche Autoindustrie Bauwerke und Gebäude in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Diskrete Geschäfte

Die Familie von Finck mischt wieder im Bankgeschäft mit - viel mehr lässt sie sich dazu nicht entlocken

In Sachen Geheimniskrämerei übertrifft François sogar noch seinen Vater. François, mit vollem Namen August François von Finck, ist Urenkel des Gründers von Allianz und Münchener Rückversicherung und ältester Sohn der Münchner Milliardärs-Legende August Baron von Finck. Der 78-Jährige mit dem lebenslangen Beinamen "junior" hat zumindest noch einen Telefonbuch-Eintrag in seiner Wahlheimat Schweiz. Im Geschäftsbericht des Genfer 50000- Mitarbeiter-Konzerns Société Générale de Surveillance (SGS) stellt der sich auf immerhin neun Zeilen vor. Sohn François, der gleichfalls im SGS-Aufsichtsrat sitzt, sind an gleicher Stelle drei Zeilen genug: Respekt vor den Mit-Aktionären gehört nicht zu den Traditionen des Hauses von Finck.

Bei der Custodia Holding und der Finck'schen Hauptverwaltung in München will man kein Wort zum Lebenslauf von François sagen: "Schauen Sie in das Internet, da finden Sie genug", heißt lapidar die Antwort. Tatsächlich aber sieht bei François von Finck selbst Google blass aus. Auch der Blick in die Handelsregister der Schweiz, wo die Fincks mittlerweile den Schwerpunkt ihrer Interessen haben, bleibt unergiebig bis verwirrend: Die Familie bildet Anteilseigner-Gemeinschaften, in denen mal der eine, mal der andere fehlt, und anscheinend schieben sie untereinander Aktienpakete hin und her, wie es gerade passt.

Offiziell bekannt ist nur, dass François einen Schweizer Pass hat und im "Steueroasli" Pfäffikon, eine halbe Stunde von Zürich entfernt, gemeldet ist. Vermutlich ist er 40 Jahre alt, vielleicht auch schon 41. Er hat ein Wirtschaftsdiplom von der Jesuiten-Universität Georgetown in der Tasche. Dort hatten schon Bill Clinton, aber auch die umstrittene philippinische Staatschefin Gloria Macapagal-Arroyo studiert.

Bei François, so lassen etliche Umstände vermuten, laufen mittlerweile die Fäden des Finck'schen Imperiums zusammen. Das Schweizer Magazin Bilanz taxiert dessen Wert auf immerhin 3,5 bis vier Milliarden Euro. Damit spielt die Münchner Familie in der gleichen Liga wie Athina Onassis, der Peugeot-Clan oder die Liechtensteiner Fürstenfamilie. Zum Finck'schen Reich gehören neben Immobilien die Hotel- und Restaurantkette Mövenpick, der Isoliermaterialhersteller Von Roll, Beteiligungen am Prüfkonzern SGS, am australischen Baukonzern Leighton Holdings und an dem finnischen Energieunternehmen Fortum. In Deutschland hat die oberbayerische Familie sich 2007 mit einem Gewinn von 570 Millionen Euro als Hochtief-Aktionär verabschiedet und tritt jetzt beinahe nur noch als Anteilseigner der Staatlichen Mineralbrunnen AG, Bad Brückenau, in Erscheinung.

Seit dieser Woche gehört nun wieder - wie bis 1990 - ein Geldinstitut zum Finck'schen Reich. Es heißt Bank von Roll und soll sich auf die Vermögensverwaltung "nach Väter Sitte, ohne Chemie und Produkte" konzentrieren, sagt deren Chef Cyrill Escher. Derzeit betitelt sich François als "Bankkaufmann"; vielleicht mag er sich eines Tages, wie seine Vorfahren auch, doch lieber wieder Bankier nennen lassen. Gerd Zitzelsberger

Patriarch August von Finck (Foto) hat die Geschäfte an Sohn François übergeben. F.: Schneider-Press/W.Breiteneicher

Finck, August von Societe Generale de Surveillance (SGS) SA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Dinge des Lebens

Er blies die Pop Art riesenhaft auf: Zum 80. Geburtstag von Claes Oldenburg

Dass man besser Liebe macht als Krieg: Diese Einsicht dämmerte damals, Ende der sechziger Jahre, vielen in Amerika. Schließlich befand man sich, einerseits, mitten in einem hässlichen Krieg. Und andererseits sah die Liebe nie zuvor so heiter aus wie seit dem Summer of Love im Jahr 1967, als man daraus eine Hoffnung, das Ideal einer Epoche, eine Botschaft zu formen verstand. Er aber hat dieser Botschaft eine unübersehbare Gestalt gegeben, eine wirklich monumentale: Vor 40 Jahren ließ der amerikanische Pop-art-Künstler Claes Oldenburg auf den Campus der Yale University die Riesenskulptur eines Lippenstiftes setzen, mehr als zehn Meter lang und natürlich mit frivol entblößter Spitze in knalligem, signalfarbenem Rot. Dieser monumentalisierte Lipstick erinnerte nicht nur in seiner aerodynamischen Form an eine Langstreckenrakete - er war zudem auf einem bulligen Kettenfahrzeug als Sockel gesetzt.

Für die Umwertung aller Werte, die die amerikanische Popkultur damals vornahm, ließen sich kaum schönere Bilder denken als diese Lippenstift-Rakete von Claes Oldenburg. Er, der heute vor achtzig Jahren als Sohn eines schwedischen Diplomaten in Stockholm geboren wurde, ist ein Meister der Verwandlung. Wobei es immer Objekte sind, Alltagsgegenstände, die er in eine andere Erscheinungsweise transformiert. Als wäre er ein begnadeter Zauberkünstler aus dem Vergnügungspark oder eine jener Dämonenfiguren aus den Superhelden-Comics wie der Joker, mit deren Personae er gerne in frühen Selbstporträts spielte. Als ingeniöser Transformator bedient er sich vor allem der Methode des Softening, wo er die Dinge des Lebens - wie etwa bei dem "Soft Pay Telephone" - in weichen Materialien nachbildet, und ihre Formen dadurch in Fluss versetzt, ihre Funktion und ihren Geist fast magisch verändert.

Welt aus den Fugen

Und er bedient sich des gleichsam pharaonischen Stilmittels der Vergrößerung. Seit den mittleren siebziger Jahren hat er, meist zusammen mit der kürzlich verstorbenen Gefährtin Coosje van Bruggen, nahezu überall auf der Welt, auch in Deutschland, in Kassel zum Beispiel - mit der "Spitzhacke" am Ufer der Fulda - zahlreiche jener Monumente im öffentlichen Raum errichtet, die auf der gigantischen Überdimensionierung von Alltagsobjekten basieren, und die, wie jener "Lippenstift" für die Yale University, als ins Phantastische, Groteske geweitete Belanglosigkeiten aus dem Alltagsleben ein geheimnisvolles Leben zu besitzen scheinen.

Auf diesen rasch als sein Markenzeichen firmierenden Außenraum-Objekten gründet vor allem der Ruhm Oldenburgs, der in Amerika aufgewachsen ist und seit den fünfziger Jahren in New York lebt. Und wenn man ihm auch mit einer gewissen Berechtigung vorwerfen mag, dass er die Erfolgsnummer oft wiederholt hat, so hat er uns doch ein unvergessliches Spektakel geboten: von einer Welt, die aus den Fugen gerät, wenn man auch nur an einem Punkt eingreift, um die Maßstabsverhältnisse zu ändern. Von der Kraft, der viel zu wenig genutzten Gabe des Menschen, die Verhältnisse zu transformieren - so wie es Oldenburg schon in seinen frühen, seinen ganz großen Jahren getan hat, als er in seinen grandiosen Environments "The Street" und "The Store" die Brücke schlug von der Waren-Ästhetik der Pop-Art zur Art Brut des Jean Dubuffet und aus dem Straßenmüll ein Denkmal auf den Straßenmüll formte.

Er habe nie etwas anderes gewollt, als der Kunst ihre Macht zurückzugeben, hat Claes Oldenburg einmal bemerkt: Das ist ihm in wirklich denkwürdiger Weise gelungen. MANFRED SCHWARZ

Pop-Alltag: Claes Oldenburg mit Coosje van Bruggen vor seinem Frühwerk "Bedroom Ensemble" (1963) Lothar Wolleh

Oldenburg, Claes: Geburtstag SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Subprimefrei in die Wirtschaftskrise

Sinkende Erlöse für Rohstoffe treffen viele afrikanische Volkswirtschaften hart. Ihr Aufschwung wurde vor allem vom Export der Bodenschätze getragen. Anders als die Industrienationen dürfen sich viele Entwicklungsländer in der Rezession nicht in großem Maß verschulden. Von Judith Raupp

Zuerst waren die Afrikaner einfach nur erstaunt. Wie konnten sich die Banker in den USA derart verzockt haben? Beunruhigen ließen sie sich aber nicht. Afrikas Banken sind mit dem weltweiten Kapitalmarkt kaum vernetzt. Sie verdienen gut mit den Krediten, die sie an heimische Regierungen und Investoren vergeben, deshalb haben sie bisher die Finger von komplizierten internationalen Geschäften gelassen. Ausnahmsweise, so glaubten viele zu Beginn der Krise, zahle es sich aus, abseits der Weltwirtschaft zu stehen.

Dann aber purzelten die Preise für Rohstoffe weltweit. Und da wurde klar: Die amerikanischen Finanzhäuser würden andere Branchen und andere Regionen der Welt mit in die Tiefe reißen, auch Afrika. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Angola. Der Finanzminister des größten afrikanischen Ölexporteurs, Eduardo Leopoldo Severim de Morais, erklärte noch im Oktober: "Ich sorge mich nur ein klein wenig um unsere Wirtschaft." Der Ölpreis war damals schon von seinem Höchststand von 150 Dollar pro Barrel im Sommer 2008 auf weniger als die Hälfte gesunken. Das war aber noch genug, um das 42 Milliarden teure Infrastrukturprogramm zu stemmen. Dafür braucht das ehemalige Bürgerkriegsland einen Erlös von 55 Dollar pro Barrel. Nun aber liegt der Preis deutlich niedriger. Angola hat deshalb die tägliche Fördermenge von zwei Millionen Barrel auf 1,5 Millionen Barrel gedrückt und hofft, so den Preis zu stabilisieren.

Sinkende Erlöse für Öl und andere Rohstoffe treffen viele afrikanische Volkswirtschaften hart, weil ihr Aufschwung vor allem vom Export der Bodenschätze getragen wurde. Afrika verzeichnete in den vergangenen Jahren im Durchschnitt Wachstumsraten von fünf bis sechs Prozent, manche Länder wie Angola sogar 17 Prozent. Heiner Flassbeck, Chefökonom bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, Unctad, sagt, in diesem Jahr lägen für Afrika nicht einmal vier Prozent drin "und das wird sich so schnell nicht ändern". Zudem sei angesichts der niedrigen Rohstoffpreise zu befürchten, dass internationale Öl- und Minenkonzerne Projekte in Afrika auf Eis legten, weil sie nicht mehr die ursprünglich geplante Rendite versprechen. Die ausländischen Direktinvestitionen auf dem Kontinent waren in den beiden vergangenen Jahrzehnten von 2,5 Milliarden Dollar pro Jahr auf zuletzt 35 Milliarden Dollar gestiegen. China und Indien engagierten sich zunehmend und trugen so zum Wirtschaftsaufschwung bei. Nun werde etwa ein Drittel weniger Kapital nach Afrika fließen, erwartet das Institute of International Finance.

Reinhard Hermle von der Hilfsorganisation Oxfam sorgt sich um eine andere Finanzierungsquelle. "Einige Industrieländer halten ihre Zusagen für die Entwicklungshilfe schon jetzt nicht ein. Da sie künftig die Rettungspakete für ihre eigene Wirtschaft bezahlen müssen, werden sie die armen Länder noch schneller vergessen", sagt er. Tatsächlich sind die weltweiten Ausgaben der größten Industriestaaten für Entwicklungshilfe 2007 um 8,4 Prozent auf 104 Milliarden Dollar gesunken. Im vergangenen Jahr dürfte der Abwärtstrend angehalten haben, obwohl die reichen Staaten auf verschiedenen Konferenzen versprachen, mehr Entwicklungshilfe zu bezahlen. Nach Angaben der Konferenz afrikanischer Finanzminister sind die Industrieländer mit ihren Zusagen, die sie 2005 auf dem G-8-Gipfel in Gleneagles gemacht haben, insgesamt mit 240 Milliarden Dollar im Rückstand.

Etwa das Dreifache der offiziellen Entwicklungshilfe überweisen jedes Jahr die Arbeits-Emigranten an ihre Familien in den armen Ländern auf der ganzen Welt. Eine genaue Statistik darüber existiert zwar nicht. Schätzungen zufolge machen diese Zahlungen aber für einige afrikanische Staaten bis zu einem Viertel des Bruttosozialprodukts aus. Oxfam-Experte Hermle sieht angesichts der Wirtschaftskrise die Jobs der Afrikaner in Europa, den USA oder in den Golfstaaten gefährdet. Sie könnten schnell entlassen werden, weil viele illegal im Land seien und somit keine einklagbaren Rechte hätten. Dies träfe die Ärmsten der Armen am meisten, sagt er.

Die Hälfte der 750 Millionen Menschen, die südlich der Sahara wohnen, lebt im Elend, weil die Bevölkerung schneller wächst als die Nahrungsmittelproduktion und weil sich mancherorts verantwortungslose Regierungen nicht um das Wohl der Menschen scheren. Die meisten Länder im südlichen Afrika werden die Millenniumsziele der Vereinten Nationen nicht erreichen. Unter anderem hatte sich die Weltgemeinschaft dazu verpflichtet, die Zahl der hungernden und in Armut lebenden Menschen von 1990 bis 2015 zu halbieren. Das wird mit der Wirtschaftskrise noch schwieriger. Ein Prozentpunkt weniger Wachstum in den Entwicklungsländern, so hat die Weltbank ausgerechnet, bedeute 20 Millionen mehr arme Menschen.

Die Afrikanische Entwicklungsbank will dem Abschwung mit einem Hilfsfonds von 2,5 Milliarden Dollar entgegenwirken. Er soll verhindern, dass Entwicklungsprojekte mangels Geld zusammenbrechen und er soll den Warenhandel mit Krediten stützen. Verglichen mit den Notpaketen der Industrieländer ist dies ein bescheidener Betrag. In Afrika staunen viele darüber, wie schnell die Industrieländer riesige Summen für ihre Banken und Unternehmen zusammenbekommen und jegliche Haushaltsdisziplin über den Haufen geworfen haben. Der südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel sagte vor kurzem mit Blick auf die strenge Haushaltsdisziplin, die die Geldgeber den Entwicklungsländern normalerweise abverlangen: "Unsere Bevölkerung findet es komisch, dass wir keine derartigen Staatsdefizite haben dürfen wie die reichen Länder, obwohl wir gerade jetzt noch mehr Mittel zum Überleben brauchen."

Manuel kritisierte auch den zunehmenden Protektionismus, mit dem sich die Industrieländer aus der Krise winden wollten. Afrika müsse in der Weltwirtschaft mehr Einfluss bekommen, fordert er: "Wir wollen keine Almosen, wir wollen nur faire Regeln."

"Wir fordern keine Almosen, wir wollen nur faire Regeln."

Oxfam, Oxford Entwicklungshilfe Wirtschaftsraum Afrika Nord-Süd-Konflikt SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Sanyus Traum

Sanyu Nakalanda hat sich selbständig gemacht, aus eigener Kraft. Darauf ist sie unendlich stolz. Die alleinerziehende Mutter arbeitet in Ugandas Hauptstadt Kampala als Schneiderin. Sie ist eine fröhliche Frau, die vor Zuversicht und Energie sprüht. Obwohl sie aus armen Verhältnissen stammt, hat sie nie Hilfe von außen angenommen. Das Schneidern hat sie in Kursen gelernt, die sie von ihrem kargen Lohn als Köchin bezahlte. Erst nach einem harten Arbeitstag in der Küche konnte sie abends an ihrer Nähmaschine üben. Aber sie hat sich durchgebissen. Und nun hat sie ihr eigenes Geschäft in einem quirligen Viertel Kampalas. Sie ist froh, unabhängig zu sein, auch wenn sie Tag für Tag nach Aufträgen jagen muss.

Viel Geld kann die 35-Jährige nicht auf die Seite legen. Ihre elfjährige Tochter Joanita soll zur Schule gehen. Die Gebühren sind hoch, und der Vater zahlt nichts dazu. Eine kleine Summe hat Nakalanda gespart. "Das mit der Finanzkrise verwirrt mich, ich habe keine Ahnung, was das fü;r uns hier in Kampala bedeutet", sagt sie. "Soll ich mein Geld jetzt vom Konto abheben, damit es nicht verloren geht?" Aber sie verwirft diesen Gedanken schnell wieder, denn es wäre ihr zu riskant, das Geld bei sich zu Hause aufzubewahren.

Sanyu Nakalanda träumt davon, eine kleine Schneider-Schule aufzumachen und junge Leute auszubilden. Doch dafür braucht sie Kapital, sie müsste einen Kredit aufnehmen. "Ich scheue die hohen Zinsen", sagt sie. "Was, wenn das Geschäft mal nicht so gut läuft und ich nichts zurückzahlen kann?" Es gibt einige Mikrofinanz-Institute in Uganda, aber sie war noch nicht dort, weil sie nicht genau weiß, was sie erwartet. Lieber wären ihr private Investoren. Aber auch das ist nicht einfach und zudem riskant. Nicht selten geraten Kreditnehmer in die Hände von Wucherern, die astronomische Zinssätze verlangen.

Nakalanda möchte mit ihrer Schneiderei umziehen, an die Hauptstraße, damit sie mehr Kunden anlocken kann. Aber dort kostet die Miete im Monat umgerechnet 100 Euro und mehr, und das könne sie sich nicht leisten, sagt sie. Billigimporte aus Asien und der florierende Handel mit gebrauchten Markenartikeln aus Amerika und Europa machen es einheimischen Schneidern in Uganda schwer. Nakalanda aber schneidert nach Maß, und sie ist kreativ genug, um ausgefallene Stücke zu fertigen - von der Kinderkleidung bis hin zu festlichen Kostümen für die betuchten Menschen der Stadt. Mit solchen Aufträgen sichert sie sich ein Einkommen, das sie und ihre Tochter ernähren kann.

Die ständigen Stromausfälle in der Stadt behindern die Arbeit der Schneiderin. Und die Steuereintreiber der Behörden machen ihr das Leben schwer. Sie kann die Beträge oft nicht nachvollziehen und vermutet Willkür. Am meisten sorgt sie sich aber, dass die Preise für die Stoffe steigen. Das liegt an den hohen Transport- und Spritpreisen in Uganda, die kaum sinken, obgleich der Ölpreis fällt. Arne Perras

Sanyu Nakalanda hat es aus eigener Kraft geschafft. Sie hat eine kleine Schneiderei in Kampala. Foto: perr

Uganda SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Im Blickpunkt

Ein streitbarer Wirtschaftsweiser

RWI-Präsident Christoph Schmidt rückt in den Sachverständigenrat

Für einen Wirtschaftswissenschaftler dürfte es kaum einen schwierigeren Zeitpunkt geben, um Mitglied des Sachverständigenrates und damit Berater der Bundesregierung zu werden. Viele Menschen zweifeln derzeit am Sachverstand der Ökonomen, der einflussreiche SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck forderte sogar, das Gremium abzuschaffen, das "viel heiße Luft produziere". Dazu kam es bekanntlich nicht. Und deswegen soll auf Wunsch der Bundesregierung jetzt Christoph Schmidt einer der fünf Wirtschaftsweisen werden - und damit Nachfolger von Bert Rürup, der das Gremium Ende Februar verlassen wird und als "Chefökonom" zum Finanzdienstleister AWD wechselt.

Der 46-jährige Schmidt weicht Debatten mit Kritikern nicht aus. Vor wenigen Tagen etwa diskutierte er in der Essener Zentralbibliothek mit dem Kulturwissenschaftler Claus Leggewie über den Neoliberalismus, der bestimmenden wirtschaftspolitischen Ideologie der vergangenen Jahrzehnte. Vorangegangen war dem ein Schlagabtausch beider Wissenschaftler in einer Regionalzeitung. "Natürlich haben wir auf die Risiken der Entwicklung in Amerika hingewiesen, in der seriösen Art und Weise, die handwerklich solide Prognosen auszeichnet. Wahrsager können wir nicht sein", schrieb Schmidt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Gleichzeitig sagte er, die Wirtschaftswissenschaften müssten aus der Krise lernen. Schmidt lieferte den Maßstab gleich mit, an dem er sich selbst wird messen lassen müssen: Ökonomen sollten all die Fälle aufdecken, bei denen Gruppen zwar im Sinne des Allgemeinwohls etwas fordern, letztlich aber nur für sich selbst etwas herausholen wollen .

Schmidt hat das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsinstitut reformiert, seitdem er dort vor sieben Jahren als Präsident das Ruder übernommen hat. Er löste starre Strukturen auf. Heute arbeiten die Wissenschaftler häufig in mehreren Teams mit, ganz wie es die Aufgabenstellung verlangt. Unter Schmidt hat sich das wissenschaftliche Renommee des Instituts mit seinen 90 Mitarbeitern verbessert, insbesondere die Qualität der Konjunkturprognosen wird geschätzt. Daneben lehrt Schmidt an der Universität Bochum Wirtschaftswissenschaften. Wichtig sind ihm die Anreizmechanismen. Deswegen wunderte er sich nicht, als sich Nokia aus dem Ruhrgebiet verabschiedete und die Produktion nach Rumänien verlagerte. "Wenn man jemanden herlocken kann, indem man sagt, hier gibt es schöne Fördermittel, dann ist klar, dass spätestens nach Auslaufen der Förderung neu kalkuliert wird. Das würde jeder nüchterne Kaufmann so machen müssen", sagte Schmidt, als die Wut über Nokia auf ihrem Höhepunkt war.

Anders als sein Vorgänger beim Sachverständigenrat, Rürup, ist Schmidt kein ausgewiesener Sozial-, sondern ein Arbeitsmarktexperte. Doch er scheut sich nicht, auch querzudenken, und manchmal wagt sich Schmidt sogar auf fachfremdes Gebiet vor. So prophezeite er, für die deutschen Fußballer sei bei der WM im eigenen Lande im Viertelfinale Schluss - bekanntlich kamen sie dann ins Halbfinale. Caspar Dohmen

Christoph Schmidt F.: imago

Schmidt, Christoph Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Nachfolge SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Treuhänder gesucht

Die Suche nach einem Treuhänder für das Vermögen des verstorbenen Unternehmers Adolf Merckle gestaltet sich offenbar schwierig. In Finanzkreisen heißt es, man sei einer Lösung zuletzt nahe gewesen, habe sich aber doch nicht einigen können. Als ein Kandidat gilt Karl-Herbert Gädicke, der frühere Vize-Chef der damaligen DG Bank (heute DZ Bank). Ob der 77-Jährige noch im Rennen ist, ist unklar. Für ihn spräche, dass er sowohl in der Zement- als auch in der Pharmabranche Erfahrung hat. Die drei Kerngesellschaften des Merckle-Imperiums sind Heidelberg-Cement, der Pharmagroßhändler Phoenix und der Generikahersteller Ratiopharm. Nach monatelangen Verhandlungen hatten sich die Banken kurz vor Merckles Selbstmord Anfang Januar weitgehenden Zugriff auf die Firmen als Sicherheiten für ihre Kredite verschafft. Ein Treuhänder soll nun deren Verkauf organisieren. Offenbar streiten aber die mehr als 30 Banken und die Familie um den Treuhänder ähnlich heftig wie zuvor um die Sanierungskredite. Noch sei nicht einmal klar, ob es für Phoenix, Ratiopharm und Heidelberg-Cement einen oder mehrere Treuhänder geben werde, heißt es. mhs

Merckle, Adolf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Trübe Aussichten

Europas größter Softwarekonzern SAP legt an diesem Mittwoch seine Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr 2008 vor. Vorstandschef Henning Kagermann hat bereits angekündigt, dass der Walldorfer Dax-Konzern seine Jahresziele vor dem Hintergrund der Finanzkrise voraussichtlich nicht gehalten hat. Nach Einschätzung von Branchenexperten wird der Weltmarktführer für Unternehmenssoftware wegen der unsicheren Wirtschaftslage zudem auf eine konkrete Umsatzprognose für 2009 verzichten. Im dritten Quartal 2008 hatte SAP einen deutlichen Gewinnrückgang und einen Verlust von Marktanteilen verzeichnet. Daraufhin ordnete das Management ein Sparprogramm an, auch betriebsbedingte Kündigungen wurden nicht mehr ausgeschlossen. dpa

SAP AG: Ergebnis / Geschäftsberichte SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

US-Finanzminister tritt an

Nach längerer Verzögerung hat der US-Senat mit 60 zu 34 Stimmen Timothy Geithner als neuen Finanzminister bestätigt. Der 47-Jährige war in die Kritik geraten war, weil er zu wenig Steuern gezahlt hatte. Er kündigte bei seiner Vereidigung an, im Kampf gegen die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten rasch in die Offensive zu gehen. "In dieser Zeit der Herausforderung und Krise muss Tims Arbeit und die des gesamten Finanzministeriums sofort beginnen", sagte Präsident Barack Obama. "Wir dürfen keinen einzigen Tag verlieren, denn jeden Tag wird das ökonomische Bild düsterer - hier und auf der ganzen Welt." Geithners Nachfolger als Chef der New Yorker Notenbank sollte noch am Dienstag bekanntgegeben werden. Als Favorit gilt William Dudley, der unter anderem Chefvolkswirt von Goldman Sachs war. Reuters

Timothy Geithner Foto: dpa

Geithner, Timothy: Karriere Finanzpolitik in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Glauben oder nicht

Welche jüdischen Gemeinden muss der Staat unterstützen?

Das Bundesverfassungsgericht steht vor einer ebenso heiklen wie weitreichenden Entscheidung: Muss der Staat die finanzielle Unterstützung des Judentums neu regeln? Noch in diesem Jahr will der zweite Senat darüber befinden, inwieweit das Verhältnis von Bund und Ländern zur jüdischen Gemeinschaft auf der Fiktion beruht, mit der Unterstützung allein des Zentralrates erfülle der Staat seine Pflicht. Die Realität hat hier das Recht hinter sich gelassen. Seit den neunziger Jahren ist nicht nur die Zahl der Gemeinden rapide angestiegen. Auch die innere Vielfalt wuchs, liberale und streng orthodoxe Gemeinden entstanden neu, und nicht alle werden vom Zentralrat der Juden vertreten. Wie soll sich die Bundesrepublik angesichts einer solchen Rückkehr zur Pluralität verhalten? Welche Form von Judentum muss sie auf welche Weise fördern, ohne das Gebot der Gleichbehandlung zu verletzen? Und ergeben sich daraus Schlussfolgerungen für das Verhältnis zu den christlichen und muslimischen Gemeinschaften?

Bereits im April 2006 legte die "Gesetzestreue Jüdische Landesgemeinde Brandenburg" Verfassungsbeschwerde ein. Der Umstand, dass die Beschwerde angenommen wurde, zeugt von der grundlegenden Bedeutung des Falles. Die klagende Gemeinde wurde vor zehn Jahren in Potsdam gegründet. Sie begreift sich laut Satzung als "Nachfolgerin und Vertreterin jüdischer orthodoxer Traditionen". Den Staatsvertrag zum "Wiederaufbau eines jüdischen Gemeindelebens" schloss das Land Anfang 2005 aber ausschließlich mit der "Jüdischen Gemeinde Land Brandenburg". Diese umfasst insgesamt etwa 1300 Mitglieder in sieben Gemeinden, die im Gegensatz zu den "Gesetzestreuen" allesamt dem Zentralrat angehören. Durch eine solche, wie es in der Verfassungsbeschwerde heißt, "Exklusivität der Zuwendung" verstoße Brandenburg gegen das Neutralitätsprinzip. Eine Gruppe innerhalb des Judentums werde einseitig bevorzugt.

Noch deutlicher wird der Geschäftsführer der "Gesetzestreuen", Schimon Nebrat. Der Ingenieur, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus St. Petersburg nach Potsdam emigriert, wirft der Landesregierung eine "antisemitische Politik" vor. Das Kulturministerium werde seiner "politischen, organisatorischen und finanziellen Verantwortung" nicht gerecht. In einem offenen Brief an die Fraktionen im Landtag spricht Nebrat von der "langjährigen ausgeklügelten Vertreibungspolitik der Landesregierung", die dazu geführt habe, dass von den rund 7500 seit dem Jahr 1990 in Brandenburg aufgenommenen Juden inzwischen 5500 das Land wieder verlassen hätten. Es gebe "keine einzige jüdische Einrichtung" zwischen Havel und Elbe, keinen Kindergarten, keine Schule, kein Jugendzentrum, kein Seniorenwohnheim. In einer solchen Situation sei es falsch, wenn der Staat einen Vertrag mit einer "aus unserer Sicht atheistischen beziehungsweise reformorientierten jüdischen Gruppierung" schließe, welche "selbst die Grundsätze des Judentums ablehnt".

Fundamentaler Klärungsbedarf

Feliks Byelyenkov vom angegriffenen Landesverband gesteht zu, dass sein Kontrahent sich im Judentum sehr gut auskenne. Man dürfe aber nicht vergessen: "Die Juden, die aus den GUS-Staaten nach Deutschland auswanderten, kamen nicht hierher, um das Judentum zu suchen." Erst langsam erarbeite man sich nun die Grundlagen. Er halte es da mit David Ben Gurion, der bekanntlich kein besonders frommer Mann gewesen sei: Die Gottesdienste müssten orthodox sein, aber für alle Fragen der Lebensweise gebe es im Judentum ein breites Spektrum. Im Übrigen, so Byelyenkov, "ist das kein theologischer Streit. Es geht vor allem um Geld".

Der Staatsvertrag vom Januar 2005 bedenkt den Landesverband mit jährlich 200 000 Euro. Zuvor, von den frühen neunziger Jahren an, erhielten die sieben Ortsgemeinden der "Jüdischen Gemeinde Land Brandenburg" insgesamt 150 000 Euro pro Jahr. Der hochverschuldete Landesverband muss laut Staatsvertrag die Gelder an sämtliche "auf den jüdischen Religionsgesetzen beruhende Gemeinden" angemessen weiterleiten, auch wenn sie dem Landesverband nicht angehören. So habe man verfahren müssen, sagt Holger Drews vom Kulturministerium, "als Land können wir uns in Religionskonflikte nicht einmischen".

Das Verfassungsgericht wird jetzt entscheiden, ob das Land es sich mit diesem Standpunkt zu einfach macht. So argwöhnt Schimon Nebrat: "Es handelt sich hier um zwei absolut unterschiedliche Religionsgemeinschaften." Kein Protestant wäre schließlich begeistert, wenn die gesamte Kirchensteuer vom Papst verwaltet würde und dieser dann nach Gutdünken entschiede, welcher Anteil den übrigen Kirchen zukomme. Noch keinen Cent habe der liberale Landesverband den "Gesetzestreuen" überwiesen. Nur Karlsruhe könne für Gerechtigkeit sorgen - indem es den Staatsvertrag für verfassungswidrig erkläre. Danach, prophezeit Nebrat, werde es zu einem Exodus aus dem Zentralrat kommen. Viele Gemeinden, die mit dem Kurs des Zentralrats unzufrieden seien, liefen dann über zum momentan noch inaktiven "Bund gesetzestreuer Gemeinden".

Streit, wer denn Jude sei

Die Hoffnungen der strenggläubigen Potsdamer richten sich somit auf eine Neubelebung des "Halberstädter Bunds". Die Geburtsstunde dieser sogenannten Separatorthodoxie schlug 1920, als sich in Halberstadt der "Bund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden Deutschlands" konstituierte. Sie wollten ein Zeichen setzen gegen das vorherrschende liberale Judentum. Wahr ist aber auch: Die von Nebrat als unjüdisch abqualifizierten liberalen Gemeinden sind bereits im 19. Jahrhundert entstanden, ebenfalls in Deutschland, und deren eigentliche Heimat ist heute keineswegs der Zentralrat, sondern die "Union progressiver Juden". Auch von diesem anderen Ende der theologischen Skala gerät das überkommene Verhältnis zwischen Staat und Judentum gewaltig unter Druck.

Geradezu spiegelbildlich zu den Streitereien in Brandenburg erscheint nämlich der Dauerkonflikt in Sachsen-Anhalt. Auch dort ist es der dem Zentralrat angehörende Landesverband, der allein die staatlichen Mittel empfängt, und auch der Magdeburger Staatsvertrag von März 2006 sieht die Einbindung sämtlicher Gemeinden vor. Anders als in Brandenburg ist es in Sachsen-Anhalt aber die liberale Konkurrenz, die sich diskriminiert sieht von einem diesmal orthodox ausgerichteten Landesverband. Höchstrichterliche Urteile bis hin zum Bundesverwaltungsgericht haben zwar den Anspruch der liberalen "Synagogengemeinde Halle" auf Teilhabe bestätigt. Friede will dennoch nicht einkehren. Landesverband und Synagogengemeinde ringen seit zwölf Jahren miteinander. Die Streitsumme hat sich mittlerweile auf über zwei Millionen Euro addiert. Beide Seiten sind auf die Landesregierung, die ähnlich argumentiert wie in Potsdam, nicht gut zu sprechen. Auf lange Sicht dürfte auch dort nur ein zweiter oder zumindest ein präzisierter Staatsvertrag für Ruhe sorgen.

Reibungslos geregelt ist das komplizierte Ineinander von Politik, Religion und Tradition in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die dortigen Staatsverträge benennen klar jene Gemeinden, die nicht dem Vertragspartner, dem jeweiligen Landesverband also, angehören und schreiben für diese Gemeinden einen Betrag fest. Die Erfahrungen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt zeigen, dass nur so fruchtlose Debatten über das notwendige Maß an Orthodoxie oder Liberalität vermieden werden können.

Selbst der gesamtdeutsche Staatsvertrag zwischen Bundesregierung und Zentralrat vom Januar 2003 krankt an diesem Konstruktionsfehler. Gefördert werden soll mit aktuell fünf Millionen Euro pro Jahr das gesamte jüdische Leben in Deutschland, Zuwendungsempfänger ist aber einzig der Zentralrat. Eine Zeitlang beharkten sich darum Zentralrat und "Union progressiver Juden" heftig. Der Vorwurf einer staatlichen Diskriminierung des Reformjudentums schlug international Wellen. Heute unterstützt der Zentralrat Projekte der deutlich kleineren "Union".

Der Staat darf nicht Partei sein im innerjüdischen Streit, wer denn Jude sei. Er darf nicht entscheiden, ob, wie es die "Gesetzestreuen" postulieren, die verbindlichen Grundsätze des Judentums bereits im 12. Jahrhundert von Maimonides festgelegt wurden. Er muss sich auch aus der Frage heraushalten, ob das progressive Verständnis des Judentums der Weisheit letzter Schluss ist. Da aber, wo eine jüdische Konfession die andere bedrängt, endet die Enthaltsamkeit des Staates. Das Verfassungsgericht hat diesen fundamentalen Klärungsbedarf erkannt. Mit dem Urteil wird das deutsche Judentum wahrscheinlich in eine neue Epoche eintreten. Der deutsche Sonderweg, die Fiktion eines homogenen Judentums, wird vorbei sein. ALEXANDER KISSLER

Zentralrat der Juden in Deutschland Jüdische Gemeinden in Deutschland Fälle beim Bundesverfassungsgericht Religion und Politik SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Berg spricht für SPD

Die Abgeordnete Ute Berg, 55, ist die neue wirtschaftspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Berg setzte sich am Dienstag in einer Kampfabstimmung in der SPD-Fraktion gegen den Landesvorsitzenden von Niedersachsen, Garrelt Duin, durch. Wie eine Sprecherin der Partei der Süddeutschen Zeitung mitteilte, entfielen auf Berg, die bereits stellvertretende wirtschaftspolitische Sprecherin war, 101 Stimmen. Duin, den die Arbeitsgruppe Wirtschaft nominiert hatte, erhielt 72 Stimmen. Der Posten war frei geworden, weil der bisherige Sprecher Rainer Wend zum 1. April als Cheflobbyist zur Deutschen Post wechselt. Berg, die früher als Lehrerin arbeitete, ist wie Wend aus Nordrhein-Westfalen und Mitglied des SPD-Bundesvorstands. Die Fraktionsspitze wollte eine Kampfabstimmung verhindern. Die Fraktionsmehrheit favorisierte aber offenbar eine Frau in der Sprecherrolle. tö

Berg, Ute: Karriere SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Die Reiselust sinkt

Madrid - Die Wirtschaftskrise hat nun auch den Tourismus getroffen. Wie die Welttourismusorganisation (UNWTO) in Madrid mitteilte, erhöhte sich die Zahl der Urlauber 2008 im Vergleich zum Vorjahr zwar um zwei Prozent auf 924 Millionen, im zweiten Halbjahr gab es aber einen Rückgang um ein Prozent. Für 2009 sei bestenfalls eine Stagnation zu erwarten und schlimmstenfalls ein Minus von zwei Prozent, sagte der designierte UNWTO-Generalsekretär Taleb Rifai. Dies wäre der erste Rückgang seit 2003. Von 2004 bis 2007 hatte sich der internationale Tourismus mit jährlichen Zuwächsen der Urlauberzahl von durchschnittlich sieben Prozent noch auf Rekordniveau bewegt. Anfangs habe der Tourismus der Krise besser standgehalten als etwa die Bau- oder die Autoindustrie. Inzwischen mache sich aber auch diese Branche Sorgen. dpa

Tourismus-Statistik SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Geld für alle

Die japanische Regierung will die Konjunktur mit einem Hilfspaket von 40 Milliarden Euro ankurbeln. Die Verbraucher sollen Einmalzahlungen erhalten

Von Christoph Neidhart

Tokio - Japans Unterhaus hat am Dienstag dem zweiten Konjunkturpaket der Regierung von Premier Taro Aso zugestimmt. Mit 4,8 Billionen Yen will Aso Japans Wirtschaft ankurbeln, etwa 40 Milliarden Euro. Sein Paket umfasst Hilfskredite für kleine und mittlere Betriebe, eine Reduzierung der Autobahnmaut, Steuererleichterungen, unter anderem für Hauskäufer, Stützbeträge für wackelnde Finanzinstitute und 250 Milliarden Yen (2,1 Milliarden Euro) für Beschäftigungsprogramme. Dazu kommt noch die selbst im Kabinett umstrittene geplante Einmalzahlung an die Haushalte: Kinder unter acht Jahren und Rentner sollen je etwa 160 Euro in bar erhalten, Erwachsene im erwerbsfähigen Alter 100 Euro.

Das von der oppositionellen demokratischen Partei DPJ dominierte Oberhaus lehnte das Konjunkturpaket am Montag ab. Doch Japans Verfassung ermächtigt das Unterhaus, die kleine Kammer mit einer Zweidrittelmehrheit zu überstimmen. Gleichwohl wird Aso sein Paket vorerst nicht umsetzen können. Angesichts der enormen Verschuldung des japanischen Staates (mehr als das Anderthalbfache des Bruttoinlandsprodukts) müsste die Finanzierung des Hilfspakets mit neuen Gesetzen geregelt werden. Dazu müsste das Parlament frühere Sparentscheide aussetzen. Die Opposition machte bereits klar, dass sie sich hier querstellen wird. Sie wirft Aso vor, er wolle mit den Einmalzahlungen Stimmen kaufen für die spätestens im September fälligen Unterhauswahlen. Nach jüngsten Umfragen unterstützen nur noch 19 Prozent der Japaner seine Regierung.

Der letzte Schub

Selbst Abgeordnete von Asos eigener liberaldemokratischer Partei LDP bezeichnen die Einmalzahlung als Geldverschwendung. Jüngere LDP-Parlamentarier haben Anti-Aso-Gruppen gebildet. Ex-Minister Yoshimi Watanabe ist aus Protest gegen die Einmalzahlung aus der Partei ausgetreten. Statt die Wirtschaft zu stimulieren, könnte das Konjunkturpaket Asos Regierung zu Fall bringen.

Die Erfahrung von 1998 gibt Asos Kritikern recht. Damals wollte die Regierung von Premier Keizo Obuchi die stagnierende Wirtschaft mit einem Konjunkturpaket von 24 Billionen Yen (200 Milliarden Euro) stimulieren. 5,9 Milliarden Euro wurden direkt an 35 Millionen Haushalte bezahlt. Ein Jahr später musste Obuchi ein nächstes Paket schnüren. Das nannte man damals den "letzten Schub". Auch diesmal hat der verschuldete Staat kaum weitere Hebel, die Wirtschaft anzukurbeln. Japans Leitzinsen bewegen sich seit Jahren unter einem halben Prozent. Gleichwohl machte der Nikkei in Erwartung des Konjunkturpakets am Dienstag einen Sprung von 4,9 Prozent. Tokios Börse wird freilich stark von ausländischen Investoren beeinflusst, die sich nur per Überschriften informieren.

Japan steckt nach sieben Jahren bescheidenen Wachstums wieder in einer Rezession. Allerdings hat sich das Land von der Stagnation der neunziger Jahre nie erholt, die Inlandsnachfrage nie richtig angezogen. Das Wachstum verdankte man dem Export, nicht zuletzt nach China, und der zunehmenden wirtschaftlichen Integration mit dem Nachbarn.

Zur Stagnation der Inlandsnachfrage trägt auch die Demographie bei: Die Bevölkerung überaltert rasch, von den Jüngeren hat über ein Drittel nur schlechtbezahlte Zeitarbeiter-Jobs. Der größte Teil der enormen privaten Ersparnisse Japans wird von Rentnern kontrolliert. Die könnten zwar mehr konsumieren, neigen aber zum Sparen. Daran wird die Einmalzahlung nichts ändern, so die Gegner.

Japans Exportgrößen leiden nicht nur unter dem Einbruch der US-Nachfrage, sondern auch unter dem starken Yen. Seit dem Sommer hat er gegenüber dem Dollar um 20 Prozent zugelegt, der Euro hat mehr als 40 Prozent zum Yen verloren. Die Unterstützung des Unterhauses für das Konjunkturpaket ist nur ein politischer Sieg des Premiers. Obwohl Aso auf die Dringlichkeit seiner Maßnahmen pocht, wird bis März kaum Geld fließen - die Einmalzahlungen sicherlich nicht.

Auch die Rentner sollen vom Hilfspaket profitieren. Doch diese Bevölkerungsgruppe wird das Geld eher sparen als ausgeben, vermuten Skeptiker. Foto: AFP

Wirtschaftslage in Japan Folgen der Finanzkrise in Japan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Krise, Krise... (3.Forts.)

Laura D. Tyson ist Dekanin der London Business School und Professorin in Berkeley. Die 61-Jährige spricht über die Schwierigkeiten, die besten Mitarbeiter zu finden.

Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, 65, fordert Stimmrechtsänderungen beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, um Entwicklungsländer zu stärken.

Nach der Absage von Obamas Wirtschaftsberater Lawrence Summers ist er nun der prominenteste Teilnehmer aus den USA: Ex-Präsident Bill Clinton, 62.

Der Gründer des Online-Netzwerkes LinkedIn, Reid Hoffman, engangiert sich als Business Angel. In Davos diskutiert der 41-Jährige die Probleme des Datenschutzes.

Paul Rice ist Präsident

der gemeinnützigen Organisation Transfair. Er lebte elf Jahre lang in Nicaragua

und arbeitete dort mit

Kaffeebauern zusammen.

Über Teamwork spricht

Benjamin Zander, Dirigent der Bostoner Philharmoniker.

Der 69-Jährige ist berühmt für seine Interpretation der

Werke Gustav Mahlers.

US-Nationalökonom Nouriel Roubini, 50, war vor seiner Professur an der Stern School of Business in New York

Berater des US-Finanzministeriums.

Indra Nooyi, 53, steht Pepsico vor. Als sie in Yale promovierte, gehörte sie noch zu den ärmsten Studenten. Heute zählt Nooyi zu den mächtigsten Frauen in den USA.

SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Krise, Krise... (2.Forts.)

Der Präsident von Guyana, Bharrat Jagdeo, 45, hat zu Hause andere Sorgen: Dort sorgte er für einen öffentlichen Skandal, als er seine Ex-Gattin vor die Tür setzte.

Wie lange kann sich der Dollar als Leitwährung noch halten, fragt der 68 Jahre alte Gouverneur der brasilianischen Zentralbank, Henrique de Campos Meirelles.

Paulo Coelho, 61, ist der meistübersetzte Schriftsteller der Welt. In Davos spricht der Brasilianer darüber, wie Unternehmen von Online-Netzwerken profitieren können.

Sergio Foguel, Aufsichtsrat des brasilianischen Firmenkonglomerats Odebrecht, wird erklären, wie das Vertrauen in Unternehmen wiederhergestellt werden kann.

Javier Santiso ist bei der OECD für Wirtschaftsentwicklung und Schwellenländer zuständig. In Davos moderiert er die Diskussion über den Zustand Lateinamerikas.

Auch der Präsident der Inter-American Development Bank, Luis A. Moreno, spricht zur Zukunft Südamerikas. Der 55-Jährige ist außerdem ein preisgekrönter Journalist.

Der Ex-Außenhandelsminister Brasiliens, Luiz F. Furlan, 62, führt in Davos den Vorsitz des Global Agenda Council Südamerika. Er ist Aufsichtsrat der Investmentgruppe GALF.

Yvo de Boer nimmt als Klimachef der Vereinten Nationen an der Konferenz teil. Der 54-Jährige ist Diplomatensohn, daher lernte er schon früh viele Länder kennen.

SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Krise, Krise... (4.Forts.)

Der südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel hält seinen Posten seit 1996. In Davos diskutiert der 53-Jährige die Frage, ob der Washington Consensus am Ende ist.

Einen Vortrag über die Zukunft Afrikas hält der Präsident Senegals, Abdoulaye Wade. Der 82-Jährige verteidigt den laizistischen Staatsaufbau seines Landes.

Donald Kaberuka, Präsident der African Development Bank, stammt aus Ruanda. Seinen Doktortitel der Wirtschaftswissenschaft erwarb der 57-Jährige in Glasgow.

Die Nigerian Stock Exchange ist eine der wichtigsten Börsen Afrikas. Ihre Präsidentin Ndi Okereke-Onyiuke spricht über unternehmerisches Handeln in der Krise.

Phuti Malabie, 37, ist Direktorin von Shanduka Energy in Südafrika. Malabie hat in New Jersey, USA, und an der De Montfort University im englischen Leicester studiert.

Über das "unbekannte Afrika" spricht der Südafrikaner Michael Solomon,Vorstand von Wesizwe Platinum. Von 1993 bis 1994 saß er im African National Congress.

Wendy Luhabe ist

Vorsitzende der Organisation für industrielle Entwicklung

in Südafrika. Zuvor führte

die 51-Jährige die Universität Johannesburg.

Michel Kazatchkine ist Direktor der African Medical and Research Foundation in Kenia. Er spricht über die Möglichkeit, Wohlstand durch Gesundheit zu schaffen.

SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neues Glück auf der anderen Seite

Immer mehr neokonservative Intellektuelle wechseln zu Obama

Wenn jemand die ideologische Seite wechselt, dann gibt es dafür meist zwei mögliche Ursachen: Entweder die Ideologie hat sich überlebt. Oder eine neue Ideologie ist aufgetaucht, die Besseres verspricht. Manchmal geschient etwas Drittes: eine Lichtgestalt erscheint, ein Charismatiker, der über alle Ideologien hinweg neues Glück und neue Wege verspricht - einer wie Barack Obama beispielsweise.

Jedenfalls scheint er etwas ausgelöst zu haben, ausgerechnet bei jenen, die den "linken Junior-Senator" lange Zeit geradezu verteufelten. Immer mehr so genannte Neokonservative scheinen vom rechten Glauben abzufallen - ausgerechnet sie, die die politische Ideologie der Regierung Bush maßgeblich beeinflussten und deswegen für deren sämtliche Fehler, Katastrophen und Fehlentscheidungen verantwortlich gemacht wurden. Doch nun heißt es: Die Republikaner sind von gestern, heute lautet die Antwort Obama.

Es begann mit Christopher Buckley, Sohn des kürzlich verstorbenen William Buckley. Der wiederum gilt als der wohl wichtigste konservative Intellektuelle Amerikas und bereitete mit seinen Essays und Büchern den Weg für die konservative Revolution eines Barry Goldwater und Ronald Reagan. Doch sein Sohn, ursprünglich ähnlich konservativ wie sein Vater, wenn auch nicht von gleichem intellektuellen Format, sprach sich im Sommer 2008 öffentlich für Obama aus - um daraufhin, freiwillig oder nicht, seine journalistische Tätigkeit bei der National Review einzustellen, jenem von seinem Vater gegründeten, altehrwürdigen Sprachrohr der neokonservativen Bewegung. Ihm folgten Kenneth Adelman, einst Reagans außenpolitischer Berater, und einflussreiche Kolumnisten wie Kathleen Parker.

Im Feindesland

Kurz vor seiner Amtseinführung wurde Obama selbst dann auf feindlichem Territorium gesichtet - bei einer Dinnerparty im Hause von George F. Will, dem konservativen Kommentator der Washington Post, zwischen seinem Erzkritiker Charles Krauthammer, David Brooks von der New York Times - und William Kristol. Und nun scheint es, als ob Letzterer, eine weitere Lichtgestalt der Neocons, die Seite wechselt - ausgerechnet William Kristol, dessen Vater Irving neben Buckley als Mitbegründer der neokonservativen Ideologie gilt.

Ist Obama der Katalysator für den Aufstand der neokonservativen Söhne? William Kristol jedenfalls beendet seinen Nebenjob als dezidiert konservativer Kolumnist der New York Times, indem er in seiner letzten Kolumne das Ende des Konservatismus ausruft. "Kann Obama den neuen Liberalismus (. . .) als kämpferischen Glauben neu erschaffen, kompromisslos patriotisch und stark in seiner Verteidigung der Freiheit? Das wäre ein Dienst an unserem Land", schreibt er, und das klingt, also ob sich der Neokonservatismus schlicht auf seine Wurzeln besinnen müsse, die ja tatsächlich im antikommunistischen Liberalismus liegen. Vielleicht ist das die Hoffnung vieler Neocons: Ihre Ideologie durch Obama zu läutern, auf das sie rein und unschuldig wiederauferstehe. PETRA STEINBERGER

Obama, Barack Buckley, Christopher Kristol, William Neokonservative in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

IG BAU gibt sich kampfeslustig

Von Sibylle Haas

Frankfurt - Die Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) hat ihre Lohnforderung für 2009 bekräftigt. "Die Streikbereitschaft ist groß. Die IG BAU kommt trotz der Wirtschaftskrise nicht auf Samtpfoten daher", sagte der Bundesvorsitzende der IG BAU, Klaus Wiesehügel, vor Journalisten in Frankfurt. Die Gewerkschaft fordert für die etwa 700 000 Beschäftigten des Bauhauptgewerbes sechs Prozent mehr Lohn. Die Tarifverhandlungen beginnen am 5. März in Wiesbaden. Wiesehügel verteidigte die Forderung: Ein Bauarbeiter verdiene im Jahr durchschnittlich 33 000 Euro brutto. Dies seien 9000 Euro weniger, als Beschäftigte in anderen Gewerbeberufen bekämen. Auch die Angleichung der Gehälter in Ost- und Westdeutschland stehe auf der Agenda dieser Tarifrunde, kündigte der IG-BAU-Chef an. "Es gibt nach 20 Jahren Wiedervereinigung noch immer eine Lohndifferenz von 19 Prozent. In den nächsten 20 Jahren muss eine Angleichung geschafft sein", so Wiesehügel.

Die Wirtschaftskrise habe die Bauwirtschaft noch nicht ganz erreicht. Nach Wiesehügels Angaben sieht die Bundesregierung als stützende Maßnahmen für die Bauwirtschaft 18 Milliarden Euro vor. "Angesichts der massiven kommunalen Infrastrukturdefizite für Bildung, Umwelt und Verkehr sowie dem gewaltigen Potential im Bereich der energetischen Gebäudesanierung wird die Bautätigkeit gewiss nicht am fehlenden Bedarf scheitern", betonte Wiesehügel.

Wiesehügel beklagte den Wohnungsmangel vor allem in den westdeutschen Ballungszentren. Niedrigverdiener könnten sich dort kaum mehr eine Wohnung leisten. Die IG BAU fordere deshalb die steuerliche Förderung von Wohnungen zur Belebung des Neubaus. Der Wohnungsneubau sei im vorigen Jahr um etwa zehn Prozent zurückgegangen, rechnete Wiesehügel vor. In den ersten 15 Jahren sollte nach Vorschlägen der Gewerkschaft der jährliche Abschreibungssatz von derzeit zwei auf vier Prozent erhöht werden. In den folgenden zehn Jahren solle die Abschreibung zwei und danach ein Prozent betragen. Darüber hinaus schlagen die Fachleute vor, Immobilienfonds steuerlich zu bevorzugen und Investitionszulagen nicht nur für Ost-, sondern auch für Westdeutschland zu erteilen.

IG Bauen-Agrar-Umwelt Tarifverhandlungen der Bauindustrie in Deutschland Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in Deutschland ab 2008 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bloß keine Gebrauchsmusik aus der Nähmaschine

Hollywood und die Fließbandarbeit: Die Schriften Hanns Eislers und seine Filmkompositionen werden minutiös erschlossen

Vermutlich hatte Igor Strawinsky erspürt, wie schnell, wie simpel und wie eingängig seine neoklassizistische Harmonik und seine expressiven Rhythmen von den Komponisten Hollywoods abgepaust wurden. Denn nicht von ungefähr äußerte er, Filmmusik sei nichts anderes als "wallpaper", ihre Funktion sei die einer Tapete. Das war in Los Angeles im Jahre 1946. Dieselbe Zeit und derselbe Ort, wo Hanns Eisler und Theodor W. Adorno ihr einschlägiges Traktat über das "Komponieren für den Film" geschrieben hatten. Und wo sie die musikalische Dutzendware des dortigen Tonfilms als "akustische Möbelstücke" geißelten (SZ vom 19. September 2006).

Ein gutes Jahrzehnt zuvor war Hanns Eisler, der spätere Komponist der DDR-Nationalhymne, schon einmal in Hollywood. Seine Emigration aus Deutschland hatte ihn zwar vorerst nach Frankreich, Dänemark und England geführt. Aber für eine Vortrags- und Konzerttournee war er 1935 zwei Monate in den USA. Über das Amerika der Großen Depression berichtete er für einen Rundfunksender in Straßburg und für die in Prag verlegte Rote Fahne. Voller Aufmerksamkeit für sein Metier, um nicht zu sagen: voller Ironie, schien er die "musterhafte Organisation" der Herstellung von Filmmusik in Übersee zu bewundern.

Jede Film-Gesellschaft habe dort, schrieb Eisler, "fünf bis sechs Musikspezialisten fix angestellt, die pünktlich ihre Bürostunden einhalten müssen. Nr. 1 ist Spezialist für Militärmärsche; Nr. 2 für sentimentale Liebeslieder, Nr. 3 ist ein mehr gründlich geschulter Komponist für die Symphonie, für Vor- und Zwischenspiele, Nr. 4 ist Spezialist für die Wiener Operette, Nr. 5 für Jazzmusik. Wird jetzt Musik für einen Film gebraucht, dann bekommt jeder Komponist eine bestimmte Stelle, die seiner Spezialität entspricht, zur Bearbeitung zugewiesen. Die Komponisten wissen gar nicht, was in dem Film sonst vorgeht oder was der Nebenmann komponiert." Das Verfahren ist vertraut: Auf die Filmproduktion wurden die idiomatischen Wendungen projiziert, mit denen seit der Kritischen Ökonomie und später der Kritik am Taylorismus die Entfremdung von Fabrik- und Manufakturarbeitern analysiert worden war.

Eislers Schilderung entstammt einem in der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrten Typoskript, dessen Text einst nur fragmentarisch zur Ausstrahlung kam. Denn als der Komponist im Radio nach seinen Impressionen aus Hollywood die Eindrücke aus Detroit vorzulesen begann - sein erster Satz lautete: "Den Ford-Arbeitern geht es miserabel" -, verfügte die Rundfunkleitung eine Unterbrechung der Sendung: Nicht unweit von Straßburg hatte die amerikanische Ford Motor Company gerade eine defizitäre elsässische Automobil-Fabrikation übernommen.

Nun ist der Beitrag erstmals vollständig zu lesen, zusammen mit über hundert Texten und Notizbuchauszügen der Jahre 1921 bis 1935, die den ersten Band einer umfangreichen, minutiös edierten historisch-kritischen Ausgabe Gesammelter Schriften Hanns Eislers ausmachen. Man erfährt dort zunächst von früh gehegten Zweifeln an dem Lehrer Schönberg ("Heiliger Arnold!") wie auch von intimistischen Kalauern und ein wenig selbstgefällig hingeworfenen Sentenzen ("Der Romantiker, der problemvolle, flüchtet sich heute ins Kino, der Naive liest Strindberg und Sigmund Freud"). Zugleich stehen recht harsche, aber berechtigte Invektiven gegen die Profession der Zeitungskritiker (Eislers Musik hatte einst manch bornierten Kommentar auszustehen) neben allzu euphorischen, jedoch seinerzeit verbreiteten Erwartungen an das Radio: "Rundfunkmusik", so der Autor, sei ein gesamtgesellschaftliches Instrument ohne bildungsbürgerliche Schranken und Privilegien.

Eislers früheste publizistische Stellungnahme zum Medium der Filmmusik erschien 1931. Der Komponist verwahrte sich im Berliner Börsen-Courier gegen die Veränderungen, die seine Musik für Victor Trivas' Film "Niemandsland" im Schneideraum erfuhr: "Aus einem geschlossenen, konstruktiven Musikstück wird durch die Schere eine zusammenhanglose Illustration." Dieser Satz birgt ein ganzes musikdramaturgisches Konzept. Nicht nur erinnert er an Kurt Weills wenig zuvor erarbeitete Definition des epischen Musiktheaters; zugleich nimmt er ein Prinzip der visuell-akustischen Montage voraus, das in den vierziger Jahren dem Filmmusikbuch von Adorno und Eisler zum Leitbegriff und zum Programm einer anti-illusionären Interaktion von Musik und Kamerabild erhoben wird. Vermutlich liegt er dem filmmusikalischen Gesamtwerk von Eisler zugrunde, das sich derzeit in einem Stadium langsamer Entdeckung befindet.

Zeugnis dafür ist ein Sammelband musik- und filmhistorischer Aufsätze, die einer exemplarischen Auswahl aus Eislers mehr als vierzig Kompositionen für Film und Fernsehen gewidmet sind. Noch in der Partitur für "Esther", einer nur sieben "Nummern" umfassenden Arbeit für einen Fernsehfilm, der bislang nur ein einziges Mal, zu Zeiten der DDR, ausgestrahlt wurde, scheint es um eine strukturelle Eigenlogik der Musik und der Instrumentation als Montagematerial zu gehen. Und bei allem Bemühen um "Anempathie", wie es in einem Beitrag zu Eislers Musik für Alain Resnais' Dokumentarfilm "Nuit et brouillard" heißt: Die Durchdringung von Musik und bewegtem Bild, die (frei nach Walter Benjamins Definition des Trauerspiels) einen Übergang von dramatischer zu musikalischer Zeit repräsentiert, ist ein Objekt kompositorischer Konstruktion, die der Versuchung widerstehen soll, Gebrauchsmusik aus bloßer "Spielfreudigkeit" "salonfähig" zu machen. Mit diesen Worten polemisierte Eisler einmal gegen Strawinsky, für diesen sei eine Musik am besten, "wenn sie läuft wie eine Nähmaschine". HENDRIK FEINDT

HANNS EISLER: Gesammelte Schriften 1921-1935. Herausgegeben von Tobias Faßhauer und Günter Mayer. Hanns Eisler Gesamtausgabe, Serie IX, Bd. 1.1. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2007. 760 Seiten, 48 Euro.

PETER SCHWEINHARDT (Hrsg.): Kompositionen für den Film. Zu Theorie und Praxis von Hanns Eislers Filmmusik. Eisler-Studien, Bd. 3. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2008. 280 Seiten, 29 Euro.

Plakat des deutschen Antikriegsfilms "Niemandsland" von Viktor Trivas aus dem Jahr 1931, für den Hanns Eisler die Filmmusik lieferte Foto: Cinetext

Eisler, Hanns: Veröffentlichung Eisler, Hanns: Biographie Filmindustrie in den USA Filmmusik SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Auf Schnäppchenjagd in Deutschland

Der schwedische Finanzinvestor Cevian Capital möchte mittelgroße Firmen aus dem Börsenindex MDax übernehmen

Von Martin Hesse

Frankfurt - Der schwedische Finanzinvestor Cevian Capital nimmt mittelgroße deutsche Konzerne ins Visier. "Wir sehen uns vor allem MDax-Unternehmen sehr intensiv an", sagte Cevian-Chef Lars Förberg der Süddeutschen Zeitung. Die Beteiligungsgesellschaft wolle in den nächsten Jahren in ihrem Kernmarkt Skandinavien und in den deutschsprachigen Ländern eine Milliarde Euro investieren. In Deutschland ist Cevian bislang an drei börsennotierten Firmen beteiligt; der Investor hält knapp drei Prozent an der Münchener Rück. Seit vergangenem Sommer heißt es zudem in Finanzkreisen, dass die Schweden bei Daimler engagiert sind. Über das dritte Unternehmen, an dem Cevian Anteile hält, ist nichts bekannt.

Künftig will Cevian bei deutschen Firmen auch mit größeren Anteilen einsteigen. "Es könnte gut sein, dass wir auch mal zehn bis 20 Prozent investieren", sagte Förberg. In den vergangenen zwei bis drei Jahren seien MDax-Unternehmen wegen des starken Interesses zahlreicher Hedgefonds und Private-Equity-Firmen überteuert gewesen, sagte Förberg. "Aber jetzt gibt es viele Gelegenheiten." Cevian sehe sich Firmen aus allen Branchen an. "Es gibt in Deutschland viele gesunde Unternehmen, die jetzt wegen der Wirtschaftskrise Probleme haben und Kapital brauchen." Zahlreiche mittelgroße börsennotierte Firmen suchten Investoren, die ihr Kapital stärkten und sie vor Übernahmen schützten. Förberg sieht Cevian gegenüber Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften im Vorteil, die Übernahmen überwiegend mit Krediten finanzieren. "Unser Geschäftsmodell funktioniert dagegen noch, weil wir nur Eigenkapital investieren."

Allerdings hat auch Cevian mit seinen bisherigen Beteiligungen in Deutschland Geld verloren. Die Aktie der Münchener Rück ist seit dem Einstieg Cevians Ende 2007 um etwa ein Fünftel gefallen. Dennoch zeigt sich Förberg zufrieden: "Das Management hat einen sehr guten Job gemacht und die Krise genutzt, um die Marktposition auszubauen."

Spekulationen um Daimler

Die Münchner hatten im Dezember von dem angeschlagenen amerikanischen Versicherungskonzerns AIG den Spezialversicherer HSB übernommen. Beim Einstieg Cevians hatte es in Finanzkreisen geheißen, der Investor wolle die Münchener Rück zu einem Verkauf der Erstversicherungstochter Ergo drängen. Das schließt Förberg zumindest vorerst aus: "Das ist kein Thema. Es ist nicht die Zeit, um Geschäftsbereiche zu verkaufen, man sollte eher daran denken zu expandieren."

Schmerzhafter als die Situation bei der Münchener Rück dürften für Cevian die Kursverluste bei Daimler sein. Seit vergangenen Sommer, als der Investor dort eingestiegen sein soll, hat sich der Börsenwert fast halbiert. Zu Daimler wollte sich Förberg nicht äußern. Er sagte allerdings über den Lkw-Markt: "Volvo und Daimler haben eine strategisch gute Position, aber gemessen an ihrem Potential entwickeln sie sich unterdurchschnittlich." An Volvo ist Cevian mit fünf Prozent beteiligt. Daimler habe seinen Größenvorteil nicht ausreichend genutzt. Mittlerweile arbeite das Management aber daran, effizienter zu produzieren und die Marktposition in Asien zu stärken.

Ins Visier nimmt Cevian Capital nach der Münchener Rück auch weitere Finanzkonzerne. "Aber wir werden dort eher in Nischen investieren", so Förberg. Er denke eher an Versicherer als an Banken, die er noch als zu riskant ansieht: "Bei den Banken werden wir weiterhin eher Verstaatlichungen sehen als private Kapitalgeber." Der Ansatz der Regierungen, Aktionären bei den Hilfsaktionen Verluste zuzumuten, sei richtig.

Förberg griff Hedgefonds scharf an. "Wie bei den Banken boten die kurzfristig ausgerichteten Vergütungssysteme der Hedgefonds Anreize, zu hohe Risiken einzugehen." Investoren würden solche Exzesse künftig nicht mehr akzeptieren. Laut Förberg ist die Vergütung der Manager von Cevian an längerfristige Erfolge geknüpft. "Wenn wir in den Firmen auf eine bessere Unternehmensführung drängen, müssen wir selbst auch vorbildlich führen", sagte Förberg.

Das deutsche System der Corporate Governance sei gut, werde aber von den Aktionären nicht ausreichend mit Leben gefüllt. Die Krise zeige, wie wichtig die Kontrolle des Managements durch die Eigentümer sei. "Wenn die Kontrollsysteme besser funktioniert hätten, wären wir nicht in der Krise, in der wir heute stecken."

Förberg hat Cevian 2002 mit Christer Gardell gegründet. Die beiden sehen sich als aktive Investoren, die mit einer "Mischung aus Druck und Dialog" mehr aus den Firmen herausholen, an denen sie sich beteiligen. Insgesamt verwaltet der Investor etwa 3,5 Milliarden Euro. Das Geld kommt von reichen Familien, vom schwedischen Staat, dem amerikanischen Großinvestor Carl Icahn, aber auch von deutschen Banken.

"Viele Gelegenheiten" sieht Lars Förberg, Chef und Mitgründer des Finanzinvestors Cevian Capital, in Deutschland. Zahlreiche börsennotierte Firmen suchten Kapitalgeber - auch um sich vor Übernahmen zu schützen. Foto: Martin Leissl

Förberg, Lars Cevian: Unternehmensbeteiligungen Beziehungen Deutschlands zu Schweden SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Energieversorger MVV will zukaufen

Frankfurt - Ganz penibel gibt sich Georg Müller zum Einstand. Seit "gut drei Wochen" führe er nunmehr die Geschäfte - so war der neue Mann an der Spitze des Energieversorgers MVV Energie vorgestellt worden. Nein, es seien schon "knapp vier Wochen", korrigiert Müller. Und dann präsentiert der neue Chef die Bilanz des einzigen an der Börse notierten Stadtwerke-Konzerns, als würde er das schon seit Jahren tun. Vorstellen wolle er das Zahlenwerk, zu verantworten hätten es aber seine Vorstandskollegen, sagt er. Dabei gibt es keinen Grund, sich von den Ergebnissen zu distanzieren. Im Gegenteil. Um 17 Prozent auf 2,6 Milliarden Euro steigerte MVV im Geschäftsjahr 2007/2008 zum 30. September den Umsatz, um fast 50 Prozent auf 185 Millionen Euro den Jahresüberschuss. Und die Aktionäre sollen eine um 10 auf 90 Cent erhöhte Dividende auf ihre Aktie bekommen.

Wie sein Vorgänger Rudolf Schulten setzt auch Müller auf Expansion. Ob bei der wahrscheinlich vom Eon-Konzern zum Verkauf angebotenen Stadtwerke-Holding Thüga, möglichen Veräußerungen von RWE oder dem Bau von Müllverbrennungsanlagen in Großbritannien - Müller sieht für MVV "einen Strauß von Möglichkeiten". Allerdings gibt sich der promovierte Jurist, der zuvor bei RWE im Energiegeschäft tätig war, deutlich zurückhaltender als Schulten. Bisher gebe es weder bei Eon noch bei RWE Verkaufsbeschlüsse.

Erfolgreich treibt MVV als Nischenanbieter den Gaswettbewerb voran. Obwohl die Firma erst im Oktober mit dem bundesweiten Vertrieb startete, konnten die Mannheimer zahlreiche kleinere Industrie- und Gewerbefirmen und namhafte Unternehmen mit vielen Filialen wie McDonalds, Coca-Cola oder den Handelskonzern Metro als Kunden gewinnen. MVV plant auch den Einstieg ins überregionale Gasgeschäft mit Privatkunden. Seit mehr als einem Jahr wird bereits Elektrizität unter der Marke Secura Ökostrom bundesweit angeboten. hwb

Müller, Georg MVV Energie AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Einstein rät zum Gattenmord

Irene Dische schreibt einen Roman, der ratlos macht

Benedikt Waller führt eine ziemlich selbstbezogene Existenz. Als brillanter theoretischer Physiker jagt er den Solitronen nach, die bei Zusammenstößen keinerlei Reaktion erkennen lassen; das sind seine Lieblinge im Teilchenzoo. Andere Menschen braucht er nicht, nur seine Schwester Dolly hat ein Auge auf ihn, besucht ihn zweimal im Jahr und versucht ihn zu menschlicher Normalität zu bekehren, indem sie ihm zu Weihnachten einen Christbaum mitbringt und als Gefährten einen Wellensittich schenkt; dass er diesen dreimal pro Tag füttern muss, kann er sich noch gerade so merken. Eines Tages jedoch wird bei ihm eine tödliche Krankheit diagnostiziert (man erfährt nicht genau, welche), und da entschließt er sich, folgende Anzeige aufzugeben: "Unverheirateter Mann mit unheilbarer Krankheit sucht Kind, bevorzugt Kleinkind, zwecks Adoption." Denn Benedikt entstammt, was bisher so gut wie keine Rolle spielte, dem Geschlecht der Grafen von Wallerstein; nun erwacht in ihm der Familiensinn. "Ich brauche einen Erben."

Die Anzeige hat Erfolg, sozusagen; es taucht bei ihm die Russin Marja mit ihrem siebenjährigen Sohn Valerij auf und quartiert sich, ohne Zeit mit dummen Fragen zu verlieren, in seiner Wohnung ein. Sie machen sich zusammen aus Berlin zum Familienstammsitz in Süddeutschland auf, wo Benedikts ebenso steinalte wie dominante Großmutter mehr haust als lebt; bei ihr sind er und seine Schwester nach dem Unfalltod der Eltern aufgewachsen. Sie lebt ganz allein, wenn man von Köchin, Chauffeur, Gärtner, Hundeführer u.s.w. absieht. Die Großmutter entschläft, Benedikt beschließt, standesgemäß seine Hochzeit zu feiern, die zu einer ziemlichen Farce gerät, wird aber seiner neuen Gattin, die für ihn ja eigentlich bloß einen Umweg zum Kind darstellt, überdrüssig, wendet sich um Rat an Einstein im Jenseits (eine völlig unnötige Absurdität), und dieser empfiehlt ihm, die störende Person doch aus dem Weg zu räumen. Benedikt plant daraufhin, Marja aus einer alpinen Seilbahn zu stoßen, doch lassen ihn Mutter und Sohn bei der Anreise plötzlich im Stich und sind verschwunden. Da merkt er, wie sehr sie ihm fehlen. Aber zum Schluss kommen sie doch zurück, Valerij, der bislang mit ihm kein Wort gesprochen hatte, wird langsam handzahm, Marja holt ihren etwas in Vergessenheit geratenen russischen Ehemann herbei, und es wird alles, alles gut.

Es ist eine Geschichte, die einigermaßen ratlos macht. Die großen Umschwünge in Benedikts Leben - er entschließt sich zur Adoption, er will seine Frau ermorden, er besinnt sich eines Besseren - fallen unvermittelt vom Himmel, und die Zustände der gräflichen Haushaltung sind eine Groteske aus dem 19. Jahrhundert. Dabei spielt die Handlung zur Zeit der Währungsunion im Jahr 1990. (Das Buch ist vor fünfzehn Jahren schon einmal erschienen und kommt jetzt in etwas veränderter Gestalt neu heraus).

Hilft Beethoven?

Die Autorin hat versucht, der mangelnden Stringenz durch musikalische Unterfütterung nachzuhelfen, sie benennt die Kapitel des Buchs nach Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli, also "Forteilend", "Presto", "Stürmisches Auf und Ab" u.s.w., was schon deswegen nicht recht überzeugt, weil der Ton doch so ziemlich immer derselbe bleibt. Teilweise entschädigt einen das Nebenpersonal für die völlige Geruch- und Geschmacklosigkeit des Protagonisten. Auch finden sich einige schöne Einzelbemerkungen, etwa wie Marja sich in ihrer neuen Umgebung verhält: "Die Landschaft betrachtete sie mit Vorsicht, wie eine Nonne einen Mann in Badehose." Oder zum Wesen der Stille: "Stille ist eine äußerst zerbrechliche Substanz. Wer sie beschreibt, tut ihr schon Gewalt an. Es gibt keine musikalische oder literarische Notation für absolute Stille, denn die Stille zwischen zwei Tönen ist eine Pause, und in einer Pause fühlt man immer noch den Rhythmus. Eine wirkliche Stille ist ohne Puls. Und wie jeder Arzt weiß, bringt alles, was ohne Puls ist, Probleme mit sich." Solche Details jedoch summieren sich nicht zu einem Ganzen. Das "fremde Gefühl", das sich behauptetermaßen zum Schluss Geltung verschafft: fremd bleibt es vor allem dem Leser. Diesem Buch mit seinem geistes- und herzensabwesenden Helden fehlt es in hohem Grad an innerer Notwendigkeit. BURKHARD MÜLLER

IRENE DISCHE: Veränderungen über einen Deutschen oder Ein fremdes Gefühl. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 438 Seiten, 23 Euro.

Eine Autorin, die manches vom Himmel fallen lässt: Irene Dische. Foto: ddp

Dische, Irene: Veröffentlichung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Graveyard

Kinderbuchpreis für Neil Gaiman

Dem britischen Fantasy-Schriftsteller Neil Gaiman ist der angesehenste Kinderbuchpreis der USA zugesprochen worden, die "Newbery medal". Bestsellerautor Gaiman, von dem mehrere Bücher auch ins Deutsche übersetzt wurden, erhält die Auszeichnung für den Roman "Das Graveyard-Buch", das kürzlich im Arena-Verlag in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die "Newbery medal" wird seit 1922 vergeben und ist nach dem britischen Buchhändler des 18. Jahrhundets John Newbery benannt. SZ

Gaiman, Neil: Auszeichnung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Leipziger Auktion

Buchmesse kooperiert mit eBay

Die Leipziger Buchmesse, die von 12. bis 15. März stattfindet, wird mit dem Internet-Auktionshaus eBay zusammenarbeiten, um Prominenten-Devotionalien für einen wohltätigen Zweck zu versteigern. Die Auktion soll unterschriebene Fotos und Plakate von Hape Kerkeling, Original-Requisiten aus den Kinofilmen "Krabat", "Die Welle" und "Die wilden Hühner" oder signierte Hörbücher von Ken Follett, Oliver Rohrbeck und Heike Makatsch umfassen, teilte die Buchmesse mit. Mit dem Erlös sollen Hörstationen und Hörbücher für eine Leipziger Kinderklinik gekauft werden. Überhaupt soll der Hörbuch-Schwerpunkt der Messe weiter ausgebaut werden, in diesem Jahr mit der erstmals ausgetragenen "Deutschen Hörbuchnacht". dpa/SZ

eBay Inc Leipziger Buchmesse SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neue Datenpanne bei der Telekom

Düsseldorf - Die Serie von Datenpannen bei der Deutschen Telekom geht weiter. Nun waren tagelang mehrere hundert Daten von Neukunden im Internet für Unbefugte einsehbar, berichtete stern.de am Dienstag. Aufgeführt waren Namen, Anschrift, Telefonnummern und der bisherige Telefonanbieter von Kunden. Die Telekom bestätigte die Panne. Sie verwies darauf, dass es jedoch nur einen widerrechtlichen Zugriff gegeben habe - im Zusammenhang mit den Recherchen der Journalisten. Betroffen sind Kunden, die zur Telekom zurückwechseln wollten. Ihnen wollte das Unternehmen durch einen Link den Bestellprozess vereinfachen. Aufgrund eines technischen Fehler konnten sie über die Internetadresse dann aber auch auf Formulare anderer Nutzer zugreifen.

Bis Freitagnachmittag hätten je nach Zeitpunkt des Zugriffs etwa hundert bis über tausend Auftragsformulare widerrechtlich eingesehen werden können, sagte ein Telekom-Sprecher. Allerdings hätte eine Person nicht nur über einen Link zum Ausdruck eines vorausgefüllten Formblatts, sondern auch über entsprechendes Wissens über die Informationstechnologie verfügen müssen, um durch eine Veränderung der URL auf andere Formulare zugreifen zu können. Die betroffenen Kunden seien inzwischen informiert und der Fehler behoben worden, teilte das Unternehmen mit.

Die Telekom hatte zuletzt einige Maßnahmen getroffen, um die Datensicherheit zu erhöhen. So gibt es mittlerweile einen eigenen Vorstand für das Thema Datensicherheit, ebenso wie einen Beirat. Damit reagierte die Telekom auf den illegalen Datenabgleich von Mitarbeitern und Journalisten durch eigene Sicherheitsleute. Zudem war eine Diskette mit Kundendaten von T-Mobile-Kunden illegal angeboten worden. Bis heute untersucht die Bonner Staatsanwaltschaft die Vorfälle. dom

Datenschutz in Deutschland Affäre um Missbrauch von Kundendaten für Internet- und Festnetzanschlüsse der Deutschen Telekom 2008 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Tyrannei der Muttermilch

Unglaublich lebendig und dokumentarisch genau: Alan Moores und Eddie Campbells Jack-The-Ripper-Comic "From Hell" ist wieder da

Fünf Mal schlägt er im Herbst 1888 zu. Sein Revier ist das Whitechapel-Viertel im bitterarmen Osten Londons. Stets sind seine Opfer Frauen, und stets werden sie erst erwürgt, dann auf grausamste Weise verstümmelt. Die Polizei ermittelt auf Hochtouren. Falsche Selbstbezichtigungsschreiben gehen stapelweise ein. Die Medien überschlagen sich. Gerüchte gehen um: Hohen, sogar höchsten gesellschaftlichen Kreisen soll der Täter angehören. Gefasst wird er nie. Noch heute aber kennt jeder den klangvoll-schauerlichen Namen, den man ihm damals verlieh: Jack the Ripper.

Wer war dieser Mann? Zahlreiche Sachbücher geben vor, die Antwort zu kennen. Aufsehen erregte zuletzt die amerikanische Kriminalautorin Patricia Cornwell, die vor sieben Jahren, auf vage Indizien gestützt, verkündete, der für seine morbiden Sujets berüchtigte Maler Walter Sickert stecke hinter den Morden. Der erste Beitrag der populären Kultur zum Fall war 1913 der Roman "The Lodger" von Marie Belloc Lowndes, mit dessen Verfilmung der junge Alfred Hitchcock 1927 seinen ersten Erfolg als Thriller-Regisseur feiern konnte. Durch den Ripper-Rummel des Jahres 1988 wurde der englische Comic-Autor Alan Moore, bekannt durch seine revisionistische Superhelden-Saga "Watchmen", auf das Thema aufmerksam. In Zusammenarbeit mit dem Zeichner Eddie Campbell entstand "From Hell"; die schrittweise Veröffentlichung dauerte von 1991 bis 1998. Auf deutsch war das 600 Seiten starke Werk einige Zeit vergriffen. Jetzt liegt es in einem brockhausschweren Band wieder vor - und begeistert wie am ersten Tag.

Waghalsige Thesen

"From Hell" beginnt mit einer Mesalliance. Durch Vermittlung Walter Sickerts lernt 1884 Prinz Eddy, der lebenslustige Enkel der Queen, die Süßigkeitenverkäuferin Annie Crook kennen. Sie verlieben sich ineinander, bekommen eine Tochter, heiraten sogar heimlich. Als Victoria davon erfährt, lässt sie das Paar gewaltsam trennen. Annie verschwindet im Irrenhaus. Die Prostituierte Marie Kelly und vier ihrer Kolleginnen wissen aber von der Affäre. Als sie, von einer Schutzgeldbande drangsaliert, dringend Geld benötigen, drohen sie Sickert, an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Maler wendet sich an das Königshaus, und Victoria beschließt, die Sache gründlich zu bereinigen. Sir William Gull, ihr Leibarzt, erhält den Auftrag, mit Unterstützung des Kutschers John Netley die Frauen, die den Thron ins Wanken bringen können, aufzuspüren und zu töten.

Dass Gull sich dazu sofort bereit erklärt, liegt einerseits an seiner Treue zur Königin. Andererseits hat er Überzeugungen und Absichten, die darüber weit hinausgehen. Auf einer langen Fahrt klärt er Netley über die Fundamente Londons in Mythos und Geschichte auf. Mit dem Sieg der römischen Besatzer über die sagenhafte englische Königin Boadicea war der Sieg des Patriarchats über das Matriarchat verbunden. Überall in der Stadt erblickt Gull Monumente, die dieses Machtverhältnis widerspiegeln. Auf einer Karte verbindet er sie mit Strichen - und siehe da: ein Pentagramm entsteht, dessen Aufgabe es ist, die Mächte des Weiblichen zu bannen. Gull aber fürchtet, dass dies nicht mehr lange gelingen werde: "Unsere Suffragetten fordern Frauenwahlrecht, wollen Gleichheit! Sie werfen uns zurück ins Kinderzimmer, unter die Regierung des Instinkts, die Tyrannei der Muttermilch. Das können wir nicht dulden." Um die geheimen "Linien von Kraft und Bedeutung" zu verstärken, müssen also Opfer gebracht werden, und Gull weiß kein Besseres als die

Nachfahren der Tempeldirnen antiker

Göttinnen.

Soweit Moore als Lösung des Whitechapel-Rätsels eine Verschwörung, die von den Royals ausging, vorschlägt, orientiert er sich vor allem an einem 1976 erschienenen Buch des britischen Journalisten Stephen Knight, das den zumindest für deutsche Leser etwas merkwürdigen Titel "Jack the Ripper - The Final Solution" trägt. Dennoch ist "From Hell" mehr als eine Illustration der dort vorgetragenen waghalsigen Thesen. Moore hat die gesamte Ripper-Literatur gesichtet und für den Comic zudem aus zahlreichen Quellen zur Geschichte Englands und seiner Hauptstadt geschöpft. Von der mehr oder minder obskuren Sachbuch-Literatur zu seinem Thema unterscheidet er sich dadurch, dass er keineswegs behauptet, die Wahrheit zu erzählen - allenfalls eine vielleicht mögliche Wahrheit. Deutlich wird dies im umfangreichen, außerordentlich faszinierenden Anhang, den man unbedingt parallel zum Comic lesen sollte. Hier weist Moore mehrfach darauf hin, lediglich mit "spekulativen Antworten" aufwarten zu können oder eine Szene "gewissen Annehmlichkeiten der Fiktion" gemäß gestaltet zu haben.

Ein sehr hoher Berg aus Papier hat für diesen Comic gekreißt, und man könnte fürchten, ihn bei der Lektüre immer noch rascheln zu hören. Dies ist aber keineswegs der Fall, denn Moore ist mehr als ein begabter Szenarist: Er ist ein Demiurg, ein Art Balzac des Comics. Mindestens ebenso wichtig wie der Ripper sind ihm dessen Opfer. Ihnen gilt in erkennbarer Weise seine Sympathie. Das lässt sich schon in der den realen Vorbildern treuen Art, in der sie gezeichnet sind, erkennen: "Die Frauen", erläutert Moore, "waren weder die zügellosen, liederlichen Schönheiten, als die sie in den eher reißerischen Ripper-Filmen dargestellt werden, noch die entstellten, zahnlosen Hexen, als die einige Autoren sie dargestellt haben."

Marie, Kate, Liz, Annie und Polly sind ganz gewöhnliche Unterschichtsfrauen ihrer Zeit. Sie haben Männer, Kinder, Liebhaber und verdienen sich ihr Geld auch bei der Hopfenernte oder mit der Pflege eines kranken Nachbarn. Auf den Strich gehen sie mitunter nur, um sich für die Nacht eine elende Schlafstätte leisten zu können. Unglaublich lebendig ist das alles geschildert, aber auch mit einer bis in Details dokumentarischen Genauigkeit. Moore wäre allerdings nicht Moore, wenn es dabei bleiben würde. Zum schwungvollen Schauerstück und zum sozialen Realismus kommen noch die metaphysische Spekulation und die Kulturkritik. Mehrfach wird auf die Schrift "Was ist die vierte Dimension?" rekurriert, in der Howard Hinton, der Sohn eines Freundes von William Gull, 1884 die Idee vertrat, dass die Zeit nicht verläuft, sondern "im gewaltigen Ganzen der Ewigkeit koexistiert". Dazu passt, dass für Moore die an Entdeckungen, Erfindungen und politischen Turbulenzen reichen 1880er "die Essenz des 20. Jahrhunderts verkörpern". Daher wird in einer Szene die Zeugung Hitlers gezeigt; daher wird Gull immer wieder von Visionen heimgesucht, die ihm das aktuelle London zeigen: Hochhäuser, Menschen in Großraumbüros und vor dem Fernseher. Die Whitechapel-Morde erscheinen in "From Hell" als der wahre Auftakt der Moderne. Das kann man als etwas überzogen empfinden, als Ausfluss einer allzu extensiven Beschäftigung mit einem Thema. In einem Punkt hat Moore aber zweifellos recht: Die heillose Mischung von Wahn und Rationalität, die er seiner Gull-Figur zuschreibt, lässt sich, ins Politische gewendet, auch hinter den Genoziden des "Zeitalters der Extreme" ausmachen.

Und die Zeichnungen? Blättert man von "From Hell" durch, entsteht der Eindruck, dass Eddie Campbell seine Aufgabe primär darin gesehen hat, den Leser nicht vom Verständnis des komplizierten Szenarios abzulenken. Bei genauerem Hinschauen wird aber deutlich, dass er auf subtile Weise eigene Akzente setzt. Wenn Sickert die Frau von Prinz Eddy um Hilfe anfleht, ist die melodramatische Szene in sehr kleinen, randlosen Panels festgehalten, die den Vignetten gleichen, mit denen die Unterhaltungsromane der damaligen Zeit illustriert waren. An anderen Stellen führt Campbell vor, welche Möglichkeiten in der graphischen Reduktion stecken: Wenn Gull beauftragt wird, Annie aus dem Weg zu schaffen, zeigen sieben Panels hintereinander dasselbe Bild der wie versteinert dasitzenden Victoria. Im achten Panel dann wendet sie plötzlich ihren Blick dem Betrachter zu - und der spürt mit ungeheurer Wucht den mühsam unterdrückten königlichen Zorn. Die dichten Schraffuren, mit denen Campbell gerne arbeitet, erinnern mitunter an Paul Flora; auf naheliegende Gothic Horror-Effekte verzichtet er fast völlig.

In seiner "Princeton-Rede" hat Thomas Mann unbescheiden, aber zu Recht gefordert, man möge den "Zauberberg" bitte zwei Mal lesen, um sich ein Urteil erlauben zu können. Im Falle von "From Hell" dürfen es gerne drei Durchgänge sein: zwei, um die immense inhaltliche Vielfalt zu erschließen; eine dritte, um die herrlichen Bilder genauer wahrzunehmen. Wenn es den Begriff der Graphic Novel nicht schon gäbe, für dieses gewaltige Werk verdiente er erfunden zu

werden. CHRISTOPH HAAS

ALAN MOORE (Text), EDDIE CAMPBELL (Zeichnungen): From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen. Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Cross Cult Verlag, Asperg 2008. 604 Seiten, 49,80 Euro.

Graphisch subtil reduziert: Eddie Campbells London um 1880 in "From Hell" Abbildung aus dem besprochenen Band

Comics SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Spiegel" schließt Büros

Der Spiegel beabsichtigt zwei Auslandsbüros abzuschaffen. Betroffen sind die Standorte Wien und Singapur. Wie das Nachrichtenmagazin an diesem Dienstag auf Anfrage mitteilte, handele es sich um eine lange vor der Finanzkrise 2008 getroffene redaktionelle Entscheidung. An Einsparungen sei dabei nicht gedacht worden. Österreich soll offenbar aus dem Münchner Büro mitbetreut, Singapur erst in zweieinhalb Jahren geschlossen werden.

Weil unlängst in Bangkok eine neue Redaktionsvertretung geschaffen wurde, sei der südostasiatische Raum gut bestückt, heißt es. Außerdem werde die Online-Redaktion demnächst in Indien und London Büros einrichten. Von einem Abbau könne keine Rede sein. SZ

Spiegel Verlag GmbH & Co KG: Auslandsinvestition SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Renault ist Schlusslicht bei Rückrufen

Bundesverkehrsministerium legt Zahlen für die vergangenen 16 Jahre vor. Deutsche Hersteller schneiden überwiegend gut ab

Von Thomas Öchsner und Michael Bauchmüller

Berlin - Ein modernes Auto soll möglichst viele Jahre ohne Pannen und Fehler laufen. Jedes neue Fahrzeug wird deshalb akribisch geprüft, bevor es beim Kunden landet. Trotzdem ist nicht jedes Mal alles perfekt: Immer wieder kommt es zu Rückrufaktionen, weil nachträglich Mängel auftauchen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Bärbel Höhn wollte es nun ganz genau wissen. Sie fragte beim Bundesverkehrsministerium nach, wie sich die Rückrufaktionen in den vergangenen Jahren auf die Autohersteller verteilen. Die Antwort, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, ist vor allem für Renault schlecht: Der französische Hersteller führt die Liste der Rückrufaktionen mit weitem Abstand an. Die deutschen Hersteller können sich dagegen freuen: Sie schneiden etwas besser ab als die ausländischen Hersteller.

Insgesamt kommt Renault nach Angaben des Bundesverkehrsministeriums auf 101 verschiedene Rückrufe von Anfang 1993 bis Ende 2008. Auf Platz zwei rangiert Ford mit 73 Rückrufen, gefolgt von Fiat mit 62 und Chrysler mit 52. Auffällig ist das gute Abschneiden der deutschen Premium-Hersteller BMW, Mercedes und Porsche. VW und Audi liegen dagegen eher im Mittelfeld (Tabelle). Die Zahlen beruhen nicht auf einer eigenen Erhebung des Verkehrsministeriums. Sie stammen vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), das jedes Jahr eine Rückruf-Statistik vorlegt. In der Aufstellung des Ministeriums werden Omnibusse, Motorräder, Lkw und kleine Lieferwagen nicht mitgezählt.

Tücken der Statistik

Der ADAC warnte jedoch davor, von der Zahl der Rückrufe auf die Qualität einer Automarke zu schließen. "Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich Hersteller ihrer Verantwortung beim Thema Sicherheit stellen", sagte ein Sprecher des Automobilklubs dazu. Dies sei viel besser, "als Probleme totzuschweigen und die Fehler in den Werkstätten heimlich zu bearbeiten". Außerdem ist die Statistik insofern trügerisch, als die Zahl der Rückrufe nicht in Beziehung gesetzt wird zur Menge der verkauften Autos. Hinzu kommen große Unterschiede bei der Zahl der vom KBA ermittelten Halteranschriften pro Rückruf. Hier liegt der Durchschnittswert bei BMW zum Beispiel bei 171 606 Fahrzeugen, bei Renault sind es nur 8923.

Das Flensburger KBA hatte für 2007 insgesamt 157 Rückrufaktionen gezählt. Das waren sechs Prozent weniger als im Vorjahr. 2006 war die Zahl noch deutlich gestiegen. Das Amt kann im Fall einer Rückrufaktion die Halter der Fahrzeuge ermitteln, bei denen der Hersteller einen Mangel entdeckt hat. Die Zahl der Fahrzeuge, die zurück in die Werkstatt müssen, hat sich zuletzt deutlich verringert. Nach Angaben des Amtes fiel sie von durchschnittlich 11 080 Fahrzeugen pro Aktion über 6090 im Jahr 2006 auf 3420 im Jahr 2007. Für diese Entwicklung kann es nach Angaben der KBA verschiedene Ursachen geben: So können die Hersteller zum Beispiel die Produktmängel besser auf bestimmte Fahrzeugserien einschränken und auch mit eigenen Adressen die Aktion abwickeln. Das Durchschnittsalter der zurückgerufenen Fahrzeuge belief sich auf 3,5 Jahre.

Branchenexperten wiesen darauf hin, dass der zunehmende Anteil von Elektronik in den Fahrzeugen eine Schwachstelle darstelle. Diese Einschätzung teilt das Kraftfahrt-Bundesamt nicht. "Mit 75 Prozent sind mechanische Mängel immer noch die häufigste Fehlerursache", heißt es im Jahresbericht der Behörde. Am häufigsten seien Rückrufe auf Grund von Mängeln bei der Bremse, am Motor oder Fahrwerk, bei Airbags, Sicherheitsgurten und bei der Lenkung erfolgt.

Rückrufaktionen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Schaeffler muss warten

Staatliche Hilfen sind in Bayerns Regierung umstritten

Von Martin Hesse, Uwe Ritzer und Kassian Stroh

München/Frankfurt - Die bayerische Staatsregierung ist in der Frage einer Staatshilfe für das Familienunternehmen Schaeffler offenbar uneins. In der Sitzung des Kabinetts am Dienstag warben nach Teilnehmerangaben einige Minister für staatliche Hilfen, andere jedoch kritisierten das Vorgehen der Schaeffler-Gruppe, forderten mehr Engagement der Besitzerfamilie oder warnten vor Staatshilfen aus grundsätzlichen ordnungspolitischen Erwägungen heraus. Beschlüsse fasste die Regierung keine. Schaeffler ist durch die Übernahme des Dax-Konzerns Continental in eine Schieflage geraten.

Staatshilfen könne es "nur unter der Federführung des Bundes" geben, sagte Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP). Mehrere Kabinettsmitglieder berichteten, die von Schaeffler benötigten Hilfen überstiegen die Kräfte Bayerns. Die Angelegenheit sei "alleine durch ein Land oder zwei Länder nicht zu stemmen", sagte Finanzminister Georg Fahrenschon (CSU). Am Donnerstag treffen sich Vertreter der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen in Berlin mit Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), um das Thema zu beraten.

Auch in einer Sitzung der CSU-Landtagsfraktion wurden am Dienstag Bedenken laut: So äußerte sich der ehemalige CSU-Chef und amtierende Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Landtag, Erwin Huber, skeptisch über Staatshilfen für Schaeffler. Hingegen sprachen sich Innenminister Joachim Herrmann und Umweltminister Markus Söder dafür aus. Sie wiesen auf die Bedeutung Schaefflers als Arbeitgeber in Franken und Bayern hin. Man dürfe das Familienunternehmen beim schwierigen Conti-Deal nicht im Stich lassen. Die Firma stellt in Bayern nach eigenen Angaben etwa 20000 Arbeitsplätze.

Hoher Kapitalbedarf

Zeil, Fahrenschon und Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) trafen sich im Anschluss an die Kabinettssitzung zu einem Gespräch mit der Schaeffler-Führung. Wie eine Hilfe aussehen könnte, sei noch unklar, hieß es anschließend. Eine Entscheidung werde es frühestens in der kommenden Woche geben. Dazu habe man von Schaeffler erst einmal ein Konzept eingefordert, sagte Zeil der SZ - "mit klaren Zahlen und Zeitplänen".

In Bankenkreisen werden die benötigten Kapitalhilfen für Schaeffler auf drei bis fünf Milliarden Euro geschätzt. Die Gläubiger Schaefflers haben sich nach SZ-Informationen bereits Anteile an der Firmengruppe als zusätzliche Sicherheit geben lassen. Schaeffler ist wegen der Conti-Übernahme mit elf Milliarden Euro verschuldet. Es heißt in Bankenkreisen, schon in einem halben Jahr müsse ein Teil der Kredite umgeschuldet werden. Sollte Schaeffler gegen Auflagen verstoßen, könnten die Banken Schulden gegen Firmenanteile tauschen. Da Institute wie die Commerzbank und die Royal Bank of Scotland aber selbst große Probleme haben, würden sie dies nur ungern tun und hätten daher Interesse an staatlicher Unterstützung. Schaeffler drängt nun darauf, dass Conti rasch das Reifengeschäft verkauft. Außerdem sollen die Automotive-Sparten zusammengelegt und dort Mit-Investoren an Bord geholt werden. Beide Maßnahmen sollen die Schulden senken. In Finanzkreisen heißt es jedoch, dass sich die Investorensuche lange hinziehen könnte.

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Krise Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Zeitungszeugen"

Verleger McGee legt Beschwerde gegen Beschlagnahmung ein

Der britische Verleger Peter McGee legt Beschwerde ein gegen die Beschlagnahmung von Nachdrucken des NS-Blattes Völkischer Beobachter, die der zweiten Ausgabe seiner Publikation Zeitungszeugen beiliegen. Das sagte er am Dienstag im Gespräch mit der SZ. Der Schriftsatz soll diesen Mittwoch beim Münchner Amtsgericht eingehen, das die bundesweite Aktion vergangene Woche angeordnet hatte. Zuvor hatte die bayerische Staatsregierung, welche die Verlagsrechte am Völkischen Beobachter und anderen NS-Blättern hält, den Verkauf der Faksimiles verboten. Die am Donnerstag erscheinende dritte Zeitungszeugen-Nummer werde "völlig im Einklang sein mit den Forderungen des Freistaats", sagte McGee, also keinen NS-Nachdruck enthalten. Dies bedeute aber keineswegs eine Aufgabe des Projektes: "Wir wollen nun Rechtssicherheit, und wir hoffen auf einen raschen Gerichtsbeschluss." flex

McGee, Peter: Rechtliches Massenmedien im Nationalsozialismus SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Billige Tarife, hoher Gewinn

E-Plus jagt den Konkurrenten mit Discountstrategie Kunden ab

Düsseldorf - Seit vier Jahren konzentriert sich E-Plus auf den Verkauf billiger Mobilfunktarife und gewinnt damit stetig Marktanteile von Konkurrenten wie T-Mobile, Vodafone oder O2. Vergangenes Jahr sei die Zahl der Kunden um ein Fünftel auf 17,8 Millionen in Deutschland angestiegen, sagte der Chef der KPN-Tochter Thorsten Dirk am Dienstag.

Der Mobilfunker steigerte seinen Gewinn auch, weil er fast ein Drittel weniger Geld für einen neuen Kunden ausgegeben hat. Möglich war dies, weil E-Plus die Zahl seiner eigenen Verkaufsshops um 200 auf 700 ausbaute. Anders als beim Verkauf über freie Händler muss das Unternehmen hier keine hohen Verkaufsprovisionen zahlen. Der operative Gewinn stieg im abgelaufenen Quartal um 14 Prozent auf 317 Millionen Euro. Allerdings sank der Gewinn je Kunde von 17 auf 15 Euro. Dies lag daran, dass Verbraucher für das mobile Telefonieren im vergangenen Jahr in Deutschland generell weniger zahlten. Die Tarife für Anrufe, SMS oder Datendienste sanken durchschnittlich um etwa zwei Prozent.

Mehr Kunden bedeutet eine höhere Auslastung für das Mobilfunknetz von E-Plus, diese stieg um ein Fünftel an. Gleichwohl will Dirks mit einem dreistelligen Millionenbetrag nur ebenso viel in den Netzausbau investieren wie im Vorjahr. Aus Kostengründen baut E-Plus sein Netz langsamer aus als andere Wettbewerber. Heute koste eine UMTS-Basisstation nur noch ein Drittel so viel wie 2004, sagte Dirks. Für Kunden von E-Plus bedeutet dies, dass beispielsweise der Datentransport in bestimmten Regionen langsamer ist als bei der Konkurrenz.

E-Plus bleibt Umsatz- und Gewinntreiber der Mutter KPN, die als Erste der großen europäischen Telekomgesellschaften Zahlen für das Schlussquartal vorlegte. Sie steigerte ihren operativen Gewinn um 5,3 Prozent auf 1,28 Milliarden Euro und traf die Erwartungen von Analysten. Die Aktie legte am Mittag um knapp drei Prozent auf 10,60 Euro zu. Bislang hat das Unternehmen kaum etwas von dem wirtschaftlichen Abschwung gespürt. Deshalb hält KPN an seiner Prognose für 2010 fest. dom

E-Plus Mobilfunk GmbH: Gewinn SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Der Treck nach Osten

Der Münchner Technologiekonzern arbeitet im Kernkraft-Geschäft nun mit Russen zusammen - die Firma Atomenergoprom wurde per Dekret des Staates geschaffen

Von Frank Nienhuysen

Moskau - Die Ostdrift von Siemens in der Atomwirtschaft wäre so radikal wie naheliegend. Russland setzt trotz seines Reservoirs an Öl und Gas auf die Kernenergie, und es gibt dort keine Grünen oder Sozialisten, die den Kurs der Regierung bremsen oder ändern könnten. Bis 2020 will Moskau die Zahl der heimischen Kernreaktoren von derzeit 31 auf 59 erhöhen, um so den Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung in den nächsten zehn Jahren auf knapp 25 Prozent zu erhöhen. Im Gegenzug wird der Gaskonzern Gazprom seinen Beitrag deutlich drosseln.

Erdgas teuer an den Westen zu verkaufen ist für den Konzern erheblich rentabler, als es für die heimische Stromgewinnung zu opfern. Profiteur dieser neuen Strategie ist auch Atomenergoprom, mit dem der deutsche Siemens-Konzern nun offenbar Geschäfte machen will. Eine Anfrage zur möglichen Zusammenarbeit ließ das russische Unternehmen am Dienstag zunächst unbeantwortet. Atomenergoprom ist erst vor zwei Jahren durch ein Dekret des damaligen Präsidenten Wladimir Putin gegründet worden. Putin wollte Ordnung in die unübersichtliche russische Atomindustrie bringen und straffte so die wilden Strukturen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ergeben hatten.

Atomenergoprom ist eine Holding vollständig in der Hand des russischen Staates und Teil des gewaltigen Apparates von Rosatom, das für den gesamten russischen Nuklearkomplex zuständig ist. Der Rosatom-Vorsitzende Sergej Kirijenko, unter Boris Jelzin einst russischer Ministerpräsident, ist zugleich Chef des Direktorenrats bei Atomenergoprom.

Der Wunschpartner vom Siemens konzentriert sich allein auf den zivilen Bereich, aber auch das ist eine umfangreiche Aufgabe. Atomenergoprom ist ein Konglomerat aus 89 verschiedenen Nuklear-Unternehmen, umfasst unter anderem den Betreiber der Kernkraftwerke, Energoatom, deren Hersteller Atomenergomasch, den Uran-Händler Tenex sowie den Konzern Atomstrojexport. Dessen Auftragsbücher sind besonders gut gefüllt, denn er verantwortet den Export und den Bau russischer Kernkraftwerke im Ausland, und davon gibt es in der Welt derzeit reichlich.

Atomstrojexport wirbt damit, dass er gerade in vier Ländern gleichzeitig Atommeiler baut und damit bereits 20 Prozent des Weltmarktes ausmache. Der umstrittene Reaktor im iranischen Buscher gehört dazu, Indien, China und Bulgarien sind weitere Abnehmer russischer Atomtechnik. Beim Bau des Kernkraftwerks im nordbulgarischen Belene ist Siemens ohnehin bereits Partner der Russen in einem Konsortium, dem auch Areva angehört. Und erst vor wenigen Tagen erhielt Atomstrojexport auch noch den Auftrag zum Bau des ersten Kernkraftwerks in Weißrussland, das 2016 ans Netz gehen soll.

Pikanterweise setzte sich das russische Unternehmen dabei gegen den französischen Konkurrenten Areva durch. Siemens trennt sich gerade von seiner Beteiligung an Areva. Atomenergoprom wäre also ein gewinnbringender Partner - in Russland, wo die Kernenergie auch dank der staatlich gelenkten Medien in keiner Weise in Frage gestellt wird, wie auch beim Export in energiehungrige Länder wie China und Indien. Mehr als sieben Milliarden Euro haben die Unternehmen der Holding nach eigenen Angaben allein von Januar bis September vergangenen Jahres erwirtschaftet. Dann kam die Finanz- und Wirtschaftskrise. Aber dies dürfte die Manager von Atomenergoprom nur bedingt umtreiben. Die Nachfrage nach Kernenergie ist offensichtlich sogar belebt worden. Unklar ist nur, inwieweit die russische Regierung ihre Investitionen aufrechterhalten kann, die in Milliardenhöhe in Nukleartechnik fließen sollen. Dem Land droht für 2009 die Rezession. (Kommentare)

Regenbogen über einem russischen Atomkraftwerk. Foto: Energoatom

Siemens AG: Zusammenarbeit Atomenergoprom: Zusammenarbeit Atomenergie in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

ARD blendet Köhler aus

Sendezeit zu überziehen, war früher unstatthaft. Mit der Zeit, vor allem bei Sportübertragungen oder Live-Shows, wurde das Unstatthafte die Regel. Heute führen Fußballspiele auch zu Verschiebungen: So nehmen TV-Manager eigenproduzierte Filme aus dem Programm und suchen andere Termine, weil ein kurzfristig eingekauftes Fußballspiel der Konkurrenz als übermächtiges Gegenprogramm verstanden wird.

Die ARD hat an diesem Dienstag die live aus dem Bundestag gezeigte Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Schlag 12 Uhr ausgeblendet. Zwei Minuten später war Köhler fertig, nach circa weiteren sechs Minuten die Veranstaltung beendet. Begründung aus dem ARD-Hauptstadtstudio: Man habe sich dem gemeinsamen Vormittagsprogramm von ARD und ZDF anschließen müssen. In eine laufende Sendung zuzuschalten, sei nicht üblich. Außerdem seien vereinbarte Redezeiten nicht eingehalten worden. Eine Qualitätsentscheidung war das nicht. Warum nicht zuschalten, wenn man abschalten kann? SZ

Köhler, Horst Programmgestaltung in der ARD SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Streiflicht

(SZ) Bowling ist der Sport mit der Kugel mit den drei Löchern, in denen die Anfänger mit ihren Fingern immer steckenbleiben. Entweder brechen sie sich den Daumen oder sie fallen mit der Kugel nach vorn. Gefährlich, diese Sache. Und wodurch ist sie noch bekannt? Durch Michael Moores Film Bowling for Columbine, wenngleich es da gar nicht um Bowling geht, sondern um das Schulmassaker von Littleton im Jahre 1999. Halb Amerika hatte ja gemeint, jenes Gemetzel sei nur möglich gewesen, weil die Täter dauernd Marilyn-Manson-Musik gehört hätten. Sie haben aber auch gebowlt, hielt Moore in dem Film dagegen und sagte böse, man könne genauso gut das Bowling für alles verantwortlich machen.

Großartiger Gedanke. Weiter verfolgen: Ist Bowling nicht eine Art Schießen, nur, dass die Kugeln auf dem Boden ihr Ziel finden, und ist es nicht ein besonders effektives Schießen, da doch die Meister mit einer Kugel gleich zehn Figuren erledigen können? Gewiss. Wobei man in diesem Zusammenhang vielleicht noch erwähnen sollte, dass es im Weißen Haus in Washington außer 412 Türen, 35 Badezimmern und 28 Kaminen auch eine Bowlingbahn gibt. Man weiß natürlich nicht, wie oft der jetzige Präsident da abgedrückt hat, ziemlich oft vermutlich, aber egal jetzt, bald wird er weg sein, und wenn es Obama ist, der für ihn kommt, dann könnte es passieren, dass die Bowlingbahn verschwindet. Hat jedenfalls Obama gerade öffentlich erwogen. Dafür, hat er gesagt, würde er liebend gern ein Basketballfeld haben.

Was es für die Politik der Vereinigten Staaten bedeutete, wenn sie einen basketballspielenden Präsidenten hätten? Nun, es ist, leider, nur ein Wischiwaschi-Sport. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Einerseits darf offiziell niemand hart zur Sache gehen, andererseits werden immer wieder fiese Körperkontakte eingestreut. Einerseits geht es darum, Körbe zu machen, andererseits sind es so viele, die gemacht werden, dass der einzelne Korb sofort wieder bedeutungslos wird und am Ende alles, was war, irgendwie beliebig erscheint. Folglich wird Obama keinen Krieg führen - aber unschön rempeln. Er wird herumwuseln und heftig bejubelte Erfolge landen - doch werden sie, während er noch schwitzt und pumpt, schon mickrig wirken. Und dann schnell vergessen sein. Bitte, das ist keine besonders günstige Prognose. Allerdings sind wir, ganz im Sinne Michael Moores, sofort und ohne rot zu werden in der Lage, auch das Gegenteil zu behaupten: Basketball, wow, Basketball ist der einzige Sport, bei dem der Ball in die Höhe muss und nicht in die Weite, was für Aussichten, denn nicht um territoriale Ansprüche und Öl und anderes, was im Boden steckt, wird es Obama gehen, sondern um die Sterne, also um das Unmögliche, Phantastische. Guter Mann, großartiges Spiel, soll anfangen endlich . . .

Obama, Barack Weißes Haus Kegelsport Basketball SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Streiflicht

(SZ) Drei Dinge im Leben geschehen dem Mann, ohne dass er dafür kann. Er wählt nicht den Fußballverein, nicht die Frau, nicht die Art der Rasur. Es ist ganz einfach, und wie alles Einfache ist es ganz unergründlich: Auf einmal hat er den Club, das Weib, den Pinsel. Natürlich den Pinsel. Wie war der vor langer, langer Zeit auf die Waschbeckenablage gekommen? Eine Geisterhand muss ihn da hingestellt haben. Jedenfalls hatte das andere Ding, das mit dem Stromkabel dran, keine Chance. Es war nie im Haus. Folglich weiß man nicht viel darüber, eigentlich nur, dass es brummt wie eine Hornisse. Und weil es so brummt, möchte man es auch niemals im Haus haben. Der Pinsel hingegen schleift leise auf der Haut, Musik, die das Ohr berührt, mal das eine, mal das andere, doch bevor wir ins Schwelgen geraten, Schnitt: Was bilden die sich ein, die Bengels von der Großindustrie? Unsere lebenslange Treue ist ihre Rendite. Sie werfen jetzt Fusion Powers und Quattro Titaniums auf den Markt, blitzende, vibrierende Hightech-Klingen zu drei Euro das Stück, aber wenn man mit so einem Monster die Stoppelhaare direkt unter der Nase erwischen will, dann geht es nicht mehr, dann ist man gleich in der Stirnhöhle , mit diesem Kartoffelschäler im Gewande der Raumfahrtindustrie.

Kleiner Tip: zurück zu den einfachen Klingen. Und Blade Master kaufen. Blade Master, so viel Werbung für ein in den großen Ketten nicht erhältliches Produkt muss sein, Blade Master sorgt dafür, dass eine Klinge Wochen länger hält als üblich, weil es nämlich ein Magnet ist, welcher die nach der Rasur beschädigte ultradünne Schnittkante wieder in Form bringt. Und damit vom Service zur Bildung; so wie der Mann alles über seinen Verein und etwas (freilich nicht zu viel) über seine Frau wissen sollte, möchte er schon auch wissen, wann, ein Beispiel bloß, erstmals Schaum geschlagen wurde zum Rasieren. Die älteste Darstellung datiert aus dem Jahre 1524. Oder die Nassrasierklinge, wann wurde die erfunden? 1895, von King Camp Gillette, kein König, sondern ein utopischer Sozialist, der, so spielt das Leben, sein größtes Geschäft machte, indem er im Ersten Weltkrieg 36 Millionen Klingen an die US-Armee lieferte: Die damals brandneuen Gasmasken lagen ja nur dann eng an, wenn das Gesicht frisch rasiert war.

Mittlerweile gibt es Terroristen. Und Atomkraftwerke. Und wenn jemand ins Kraftwerk will, wird er natürlich überprüft, ob er ein Terrorist ist und vielleicht eine Bombe bei sich trägt. Und siehe, vor zwei Wochen flog jemand auf, ein Mitarbeiter mit einer verdächtigen Dose in einer Tüte, das war im AKW Oskarshamn in Schweden. Alarm, Reaktor vom Netz, zehn Millionen Euro Verlust. Es ist aber, wie nun bekannt wurde, gar kein Sprengstoff in der Dose gewesen, sondern Rasierschaum, Sahne für den Bart.

Kosmetik und Schönheitspflege Männer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Constantin: Kogel bleibt

Fred Kogel, 48, bis Ende 2008 Vorstandschef der Constantin Film, wurde an diesem Montag zum Aufsichtsratsvorsitzenden der AG gewählt. In dieser Funktion war er für die Constantin schon zwischen 2001 und 2003 aktiv. Der bisherige Aufsichtsratschef, Bernhard Burgener, übernahm am 1. Januar den Vorstandsvorsitz von Kogel. SZ

Kogel, Fred Constantin Film AG: Aufsichtsrat SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Aktionärstreffen bei Siemens: Kritische Anteilseigner und ein neuer Partner in Russland

Die Löscher-Cromme-Show

Der Vorstandsvorsitzende und der Chef des Aufsichtsrats sind um gute Laune bemüht. Doch die Aktionäre kritisieren lieber die Gehaltserhöhungen

Von Karl-Heinz Büschemann

München - Wolfgang Niemann ist früh dran. Schon kurz nach acht Uhr steht der 67-Jährige an diesem nebeligen Morgen vor der Münchner Olympiahalle und spricht ins Mikrophon des ZDF. Ja, sagt der Vertreter des Vereins von Belegschaftsaktionären in der Siemens AG, er wolle auf der Hauptversammlung von Siemens Kritik üben an den viel zu hohen Gehältern von Vorstand und Aufsichtsrat. Die seien "in einem in keiner Weise vertretbaren Ausmaß angehoben worden", klagt der Mann, dessen Verein etwa 6000 Siemens-Belegschaftsaktionäre vertritt. Das sei zum Teil trickreich geschehen und verrate ein "erstaunliches Maß von Unsensibilität und Maßlosigkeit".

Dann strebt er in die Halle, um als einer der Ersten seine Karte für eine Wortmeldung abzugeben. Schüchtern steht der hagere Mann dann in der noch leeren Halle. Von 1970 bis 2006 sei er Mitarbeiter von Siemens gewesen, erzählt er, zwei Jahrzehnte davon als Betriebsrat. Stets sei ihm aufgefallen, dass auf den Hauptversammlungen die Interessen der Mitarbeiter zu kurz kommen: "Wir geben den Betriebsangehörigen eine Stimme." Es wird an diesem Dienstag lange dauern, bis Niemann an ein Mikrophon vorne im Saal treten kann. Denn die strenge Regie des Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Cromme hat Niemanns Wortmeldung weit in den Nachmittag geschoben.

Cromme, 65, der seit zwei Jahren Chef des Siemens-Aufsichtsrates ist und der den jetzigen Konzernchef Peter Löscher, 51, auf seinen Posten hob, haben anderes im Sinn. Sie wollen an diesem Vormittag das Signal aussenden, dass der Technologiekonzern die leidige Korruptionsaffäre hinter sich gelassen hat und dass der Konzern trotz der drohenden großen Wirtschaftskrise baumfest steht - kurz, dass Siemens wieder ein normales Unternehmen ist. "Nach zwei schwierigen Jahren steht Siemens wieder auf einem festen Fundament der Integrität", sagt der Aufsichtsratsvorsitzende, vor den knapp 10 000 Aktionären.

Unternehmenschef Löscher hat an diesem Tag die Rolle des Berufsoptimisten übernommen. Das Thema Korruption, sagt er am Rande der Versammlung, spiele in seinem Tagesablauf keine Rolle mehr. Gleichzeitig vermittelt er in der Olympiahalle auch den Eindruck, die allgemeine Finanz- und Wirtschaftskrise laufe an Siemens vorbei. Ein solches Maß an Optimismus ist schon überraschend, vor allem für den gebürtigen Österreicher, der stets so ernst dreinschaut. "Wir sind robust aufgestellt", sagt er. Er sehe "keinen Grund, in den Chor derer einzustimmen, die mit düsteren Äußerungen die Stimmung weiter in den Keller ziehen". Er sehe keinen Grund, die Gewinnziele für 2009 nach unten zu korrigieren, meint er trotzig.

In kleiner Runde erklärt er, dass er auch höherer Weisung folge, wenn er sich als einer der wenigen Optimisten zeige. Bundespräsident Horst Köhler habe ihm vor wenigen Tagen bei einem Abendessen ins Gewissen geredet und darum gebeten, nicht in das allgemeine Schwarzmalen mit einzustimmen. "Natürlich werden auch wir die Krise spüren", räumt Löscher ein. Siemens sei besser vorbereitet als andere, sagt er und strebt dann seinem Platz auf dem Podium zu.

Regisseur Cromme hat auch Theo Waigel zu dem Aktionärstreffen bestellt, den ehemaligen Bundesfinanzminister, der seit dem 1. Januar die neue Rolle des Chief Compliance Officer übernimmt. Der Politiker soll dafür sorgen, dass es bei Siemens nie wieder zu Korruption kommen kann. Bestens gelaunt gibt sich Waigel im Gespräch mit den heute versammelten Siemens-Honoratioren. Er gehe gerne an den Wittelsbacherplatz, schwärmt er.

Das sei doch der schönste Arbeitsplatz in München: "Die Arbeit macht Spaß." Er freue sich darauf, bei seinem nächsten Besuch bei den Justiz- und Börsenbehörden in Washington auf "ein paar alte Kumpels" zu treffen, die er noch aus seiner Ministerzeit kenne. Mancher bedauerte, dass Waigel auf der Hauptversammlung nicht redet. Vielleicht hätte Cromme seinen neuen Oberpolizisten auf die Rednerliste setzen sollen, denn so ganz geht seine Planung für diesen Tag nicht auf. Schon der erste Redner haut dem Aufsichtsratsvorsitzenden das Gehaltsthema um die Ohren. "Ich hätte mir in der Frage der Gehälter etwas mehr Bescheidenheit gewünscht", beklagt eine Aktionärsvertreterin. Ein Redner meint, für den Aufsichtsrat hätte angesichts der Klärung der Korruptionsaffäre auch eine einmalige Sonderzahlung gereicht.

Cromme ist sauer: Er fühlt sich missverstanden und wohl auch ungerecht behandelt. Die von den Belegschaftsaktionären verbreiteten Zahlen seien "falsch". Er müsse doch gute Leute für die Arbeit im Aufsichtsrat gewinnen. Solche Leute hätten ihren Preis. Bei Siemens gebe es zudem 1000 Leute, die mehr verdienten als er. "Ich könnte woanders mehr verdienen", mault Cromme noch, bevor er auf das Podium steigt, um die Hauptversammlung zu eröffnen.

Konzern-Chef Peter Löscher (links) und der Vorsitzende des Aufsichtsrats, Gerhard Cromme, auf dem Podium: "Siemens ist immer wieder gestärkt aus Krisen hervorgegangen", sagte Löscher. F.: AP

Siemens AG: Vorstand Siemens AG: Aufsichtsrat Siemens AG: Einkommen Aktiengesellschaften: Hauptversammlungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Echt ist nur der Tod

Die ARD zeigt Stefan Ruzowitzkys oscargekröntes KZ-Drama über den Meisterfälscher Salomon Sorowitsch

Für den jüdischen Witz gibt es berühmte Beispiele. Dieses hier ist so gut wie andere: Ein deutscher Jude besucht einen alten Freund in New York, der im KZ war. Als er das Büro des Freundes betritt, erblickt er hinter dem Schreibtisch ein Hitler-Porträt. Fassungslos fragt er: Was ist das? "Das", entgegnet der Freund. "Das ist gegen das Heimweh."

Wie absurd widersprüchlich auch eine historisch verbürgte Situation werden kann, bis sie selbst wie ein obszöner Witz anmutet, belegt der österreichisch-deutsche Spielfilm Die Fälscher (Regie und Drehbuch: Stefan Ruzowitzky), der 2008 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Er geht auf eine wahre Episode während des Zweiten Weltkriegs zurück, als Juden unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft in einem KZ zusammengezogen wurden. Ihre Aufgabe: Wertpapiere der Kriegsgegner im großen Stil zu fälschen. Aus dem Plan, so die Wirtschaft des Feindes zu schwächen, wurde, bedingt durch den Niedergang des NS-Regimes, notgedrungen die Aufgabe, gefälschte Pfund- und Dollarnoten zur Kriegsfinanzierung herzustellen. Ausgerechnet entrechtete, gequälte und ihrer Ermordung entgegengehende Juden halfen demnach ihren Folterknechten, den Krieg weiterzuführen. Ihr Lohn bestand in sauberen Betten, anständiger Kleidung und guter Ernährung, ja, mitunter sogar in Respekt und Zigaretten, die bei Erfolg unter den Männern der "Operation Bernhard" verteilt wurden.

Der Held in diesem aberwitzigen Spiel um ein angenehmes Leben in der SS-Hölle ist der Fälscher Salomon Sorowitsch. Im Berlin der 30er macht er mit falschem Geld und falschen Pässen seinen Reibach. Dann wird er geschnappt und ins KZ gesteckt.

Dollars aus Sachsenhausen

Sorowitsch stammt aus Russland. Aber dort erging es ihm so schlecht, dass er noch im KZ lieber die Sprache seiner Folterer spricht als seine Muttersprache. Sorowitsch ist ein Künstler, der sich aufs Zeichnen von Geldnoten genauso wie aufs Überleben versteht. Bald porträtiert er SS-Offiziere. Und landet schließlich im KZ Sachsenhausen, um Banker, Zeichner und Kommunisten anzuführen - und mit seiner Begabung immer wieder vor dem Tod zu bewahren.

Knochentrocken ist das inszeniert, ein kleines Fernsehspiel fürs Kino, sperrig, fern von jeder Überdrehtheit, die das Groteske betonen könnte. Diese formale Schlichtheit wurde ihm von einzelnen Kritikern sogar vorgeworfen. Aber die glänzend kurzatmigen Dialoge und das minimalistische Schauspiel retten das Furchtbare, das an diesem Ort immer im Hintergrund mitschwingt, vor Relativierung und Belanglosigkeit. Selten war ein bisschen Humor so hart erarbeitet wie hier, wie gemeiner Feinstaub, der vom Barackenboden aufgewirbelt wird, liegt er in der Luft und dringt einem beim ungläubigen Lachen ätzend in die Lunge. Zum Beispiel wenn der verantwortliche SS-Offizier die Neuen jovial begrüßt und nach der Konfektionsgröße fragt. "52", antwortet da eines der gemarterten Menschlein. Worauf der Offizier in aufgeräumter Stimmung ausruft: Na, der wird inzwischen 46 oder 48 haben!

Gar nicht böse meint er das, sondern er spricht mit dem Wissen des KZ-Experten: So ist das in Sachsenhausen. Machen wir das Beste draus - "Liebe Juden" pflegt dieser kultivierte Herrenmensch zu sagen. Oder: Zigarette gefällig, meine Herren? Diese absurde Idylle stört nur einer. Adolf Burger (August Diehl) sabotiert das Werk seiner Mithäftlinge, um den Nazis zu schaden. Wer ist hier der Verräter? Der Jude, der diesen Juden nicht hilft. Oder diese Juden, die den Nazis helfen, um sich selbst zu helfen?

Der Unterschied zwischen einem guten und einem dem Tod geweihten Leben im KZ macht bei Ruzowitzky nur ein halbaufgegessener Apfel auf einem sonst leeren Teller aus. Kleine Zeichen haben in dieser abgeschlossenen Welt große Wirkung. Wie ein KZ-Häftling nach Jahren wieder an einem sauberen Betttuch riecht. Wie man nach langer Abstinenz einen Schluck guten Cognac trinkt. Wie zum Losbrüllen blöd eine ahnungslose Offiziersgattin daherschwatzen kann, als der Meisterfälscher in die Villa eingeladen wird. Immer entfaltet Ruzowitzky Spannung mit eher zu wenig als zu vielen Mitteln, auch weil er sich auf Schauspieler wie Karl Markovics als Sorowitsch verlassen kann, die mit ganz wenig ganz viel erreichen. Und weil dort, wo sich Ungeheuerliches abspielt, selbst die kleinsten Geschehnisse selbst zur Ungeheuerlichkeit werden. HARALD HORDYCH

Die Fälscher, ZDF, 20.15 Uhr.

Nächstes Jahr in Monte Carlo: Salomon Sorowitsch (Karl Markovics) ist dem Lager entkommen. Er hat überlebt, weil er Pfund- und Dollarnoten nachmachen kann. Der Krieg ist aus, Pech im Spiel ist nicht mehr tödlich und Glück in der Liebe (Dolores Chaplin) vielleicht auch kein Drama. Ruzowitzkys Film erzählt eine aberwitzige und wahre Geschichte. Foto: ZDF

Spielfilme im Fernsehen Die Fälscher (Film) SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hoher "Standard"

Der russische Milliardär und Politiker Alexander Lebedew, 49, neuer Besitzer des Evening Standard, plant in den nächsten drei Jahren rund 25 Millionen britische Pfund in das Blatt zu investieren. Dies bestätigte ein Sprecher der SZ. Lebedews Sohn Evgeny, 28, der in der vergangenen Woche von seinem Vater zum Geschäftsführer des Standard ernannt worden war, kündigte eine intensivere Berichterstattung über kulturelle und wirtschaftliche Themen an. So will er die sinkende Auflage des Standard wiederbeleben und ihn von den vielen Gratiszeitungen in London abgrenzen. Nicht verändern soll sich unter dem neuen Eigentümer die labour-kritische politische Linie des Blattes. kro

Lebedew, Alexander Zeitungen in Großbritannien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Manche mögen's heiß

Das ist Klimakrieg: Eine BBC-Reihe (Vox) reagiert auf Skeptiker der Erderwärmung

Die Gentlemen der BBC schlagen zurück. Sie geben ihren Gegnern zwar nicht die Ehre, deren Argumente durch eine direkte Antwort aufzuwerten. Aber sie schöpfen im Dienst der Sache ihre ganze Macht und Erfahrung aus - und sind sich für ein paar Tricks nicht zu schade.

Die Rede ist von einer dreiteiligen Dokumentation, die nun in deutscher Fassung bei Vox anläuft. Der Klimakrieg beschreibt die Geschichte der Klimaforschung seit den frühen siebziger Jahren. Damals kamen Wissenschaftler von der Sorge über eine neue Eiszeit zur Warnung vor der globalen Erwärmung und mussten sich in hitzigen Debatten gegen die sogenannten Klimaskeptiker durchsetzen.

Auf diese Weise eine oft verwirrende Debatte aufzuschlüsseln, ist an sich ist schon Motivation genug. Zugleich schießt die BBC mit dem Dreiteiler - ohne das so auszusprechen - gegen den Rabauken-Sender Channel 4. Der Privatkanal hatte im März 2007 im Film The Great Global Warming Swindle Klimaskeptikern ein Forum geboten. Sie konnten unter Verdrehung von Tatsachen behaupten, die These vom menschengemachten Klimawandel sei großer Schwindel. RTL hatte einige Monate später eine deutsche Fassung ausgestrahlt, darin einige der gröbsten Fehler ausgemerzt, dafür aber neue eingebaut. So korrigiert nun Vox den Schwestersender RTL ebenso wie es die BBC mit Channel 4 getan hat.

Das Zusehen lohnt sich. Die drei Teile sind beeindruckend kurzweilig und gut aufgebaut. Das BBC-Team hat in Las Vegas den verschwenderischen Lebensstil des Westens gefilmt und in Grönland den bereits eingetretenen Klimawandel. Es hat in Labors verblüffend einfache Experimente eingefangen und mit prominenten Klimaforschern gesprochen. Die weiterhin skeptischen Kritiker der These von der globalen Erwärmung kommen hingegen nur in einzelnen Sätzen aus irgendwelchen Aufzeichnungen zu Wort, sozusagen aus der Konserve. Und dann fährt die Kamera noch in extremer Nahaufnahme auf ihre Münder zu - wohl um den Eindruck zu unterstreichen, dass da nur Sprechblasen heraus kommen. Journalistische Fairness, so die unterschwellige Botschaft, können Faktenverdreher von der aufrechten BBC nicht erwarten!

Ein wichtiger Aspekt des Films geht in der deutschen Fassung allerdings verloren: die Stimme der Erzählers. Das Original spricht Iain Stewart, ein in England bekannter Geologie-Professor mit schottischem Akzent. Der Ton seiner Stimme verankert die Geschichte im Alltag. Kaum denkbar, wie Vox diesen Aspekt hätte nachstellen können - mit kölschem Singsang oder Berliner Schnauze? Die Zuschauer müssen daher beim hochdeutschen Kommentar auf den Effekt verzichten. CHRISTOPHER SCHRADER

Der Klimakrieg, Vox, drei Folgen, mittwochs, 23.45 Uhr.

British Broadcasting Corporation (BBC) Dokumentarfilme im Fernsehen Treibhauseffekt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Sendeschluss

Hans Meisers Produktionsfirma creatv ist pleite

Der 14. September 1992 war die Geburtsstunde der deutschen Talkshow als Daily Soap. An jenem Montag um 16 Uhr ging bei RTL ein Format auf Sendung, das die deutsche Fernsehlandschaft nachhaltig verändern sollte: Hans Meiser, die erste Talkshow am Nachmittag; der ideale Programmplatz für Menschen, die sich am Nachmittag mangels besserer Alternativen vor dem Fernseher versammeln konnten. Es waren nicht wenige; und Meiser war der Star des Nachmittags.

Das Format hatte damals Marktanteile von über 40 Prozent, wurde mit Bambi und Goldener Kamera geehrt und über seine Firma creatv, die Hans Meiser produzierte, verdiente Hans Meiser gut. Die Sucht nach der Trivialität des Alltags, personifiziert durch Gäste, die allzu oft den Blick auf die Gepflogenheiten der Gosse erlaubten, war riesengroß. Hans Meiser bleib nicht allein, es folgten Bärbel Schäfer, Birke Karakus oder Oliver Geißen. Alle produziert von creatv.

Doch der Boom ging zu Ende, Meiser selbst stellte die Fragerei mit Fleischbeschau nach neun Jahren und mehr als 1700 Folgen ein. Er selbst soll genervt gewesen sein vom stetig sinkenden Niveau der täglichen Quasselei. Und aus creatv, der Talkshow-Schmiede mit einst mehr als 150 Mitarbeitern wurde eine kleinere Firma, die etwa auf Ratgebersendungen wie Ein Fall für Escher (MDR) setzte. Nun ist creatv ein Fall für den Insolvenzrichter. Am 21. Januar stellte die Produktionsfirma durch ihre Geschäftsführer Hans Meiser und Erich Wagner beim Kölner Amtsgericht einen Insolvenzantrag. Unter dem Aktenzeichen 71 IN 31/09 wird jetzt eine der erfolgreichsten deutschen Produktionsfirmen womöglich zu Grabe getragen. Erst einmal ist Sendeschluss.

Die Firma sei "Opfer der Wirtschaftskrise" geworden, erklärte die Kanzlei des bestellten Insolvenzverwalters. "Zwei bereits als sicher verbuchte Projekte" hätten am Jahresanfang wegen "des überraschenden Ausstiegs der Investoren nicht umgesetzt werden" können, teilte der vorläufige Insolvenzverwalter Christoph Niering mit. So sei es zur derzeitigen Zahlungsunfähigkeit gekommen. Innerhalb eines Monats wird von der Kölner Kanzlei ein Gutachten erstellt und geprüft, ob die Fortführung der Geschäfte möglich ist. Für eine Beurteilung, so die Anwälte, sei es aber "noch viel zu früh".

Von Hans Meiser wird so oder so etwas bleiben: 1999 hatte der heute 62-Jährige eine Sendung unter dem Titel Hans macht dich zum VIVA-Star produziert und machte damit einen neuen TV-Star. Sein Name: Oliver Pocher. DIRK GRAALMANN

In den neunziger Jahren war Hans Meiser der Star des TV-Talks. Nun ist seine Firma ein Fall für den Insolvenzverwalter. Foto: picture-alliance

Meiser, Hans Unternehmen in Deutschland Konkurse und Insolvenzen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Raus aus der Schmuddelecke

Präsident Barack Obama könnte Amerika für nachhaltige Geldanlagen wieder interessanter machen. Die Bankenkrise gibt ethischen Finanzprodukten einen Schub

Von Martin Hesse

Frankfurt - Barack Obama könnte Amerika aus der Schmuddelecke der Geldanlage holen. Diese Erwartung knüpft jener noch immer kleine Teil der Investmentbranche an den neuen US-Präsidenten, der soziale, ökologische und ethische Kriterien in die Anlagepolitik einbezieht. "Wenn Präsident Obama ernst macht mit seinen Ankündigungen, dann werden Anleihen der USA auch für nachhaltig orientierte Investoren zunehmend interessant", sagt Oliver Rüdel von der Ratingagentur Oekom Research.

In dem neuen Länderrating von Oekom nehmen die USA unter 50 OECD-Staaten und Schwellenländern den 40. Platz ein. Wie jedes Jahr hat die Ratingagentur anhand von 150 Kriterien ermittelt, wie sozial- und umweltverträglich Staaten wirtschaften. Der Verbrauch von Ressourcen und der CO2-Ausstoß werden dabei ebenso untersucht wie das Bildungssystem, Pressefreiheit und die Achtung der Menschenrechte. Das Rating dient Investoren und Finanzdienstleistern als Grundlage für ihre Anlageentscheidung. Insgesamt werden etwa 90 Milliarden Euro auf Basis von Oekom-Ratings für Staaten und Unternehmen investiert.

Deutschland liegt in dem seit 2001 erhobenen Ranking meist dicht hinter den skandinavischen Staaten - in diesem Jahr auf Rang sechs. Dagegen schneiden die USA traditionell schlecht ab. Sie rangieren diesmal zwischen Mexiko und der Türkei. Schlechter legt man aus Sicht nachhaltig ausgerichteter Investoren sein Geld nur in Ländern wie Indien, China oder Südafrika an.

Doch das könnte sich unter Obama ändern. "Wenn der neue Präsident alles umsetzt, was er angekündigt hat, könnten die USA in die erste Hälfte vorrücken", sagt Rüdel. Allerdings dürfte das eher zwei Legislaturperioden dauern. Die Empfehlungen von Oekom decken sich weitgehend mit Obamas Agenda: Schließung des Gefangenenlagers in Guantánamo, Abschaffung der Folter, Rückzug aus dem Irak, Ratifizierung des Kyoto-Protokolls, Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und Investitionen in die Infrastruktur.

Die Analysten haben neue Kriterien entwickelt, die stärker berücksichtigen, inwieweit Länder über ihre Verhältnisse leben. Dieser "ökologische Fußabdruck" bemisst sich etwa daran, wie viel Trinkwasser pro Kopf verbraucht, wie viel Fleisch gegessen und wie viele Autos gefahren werden. Dadurch fallen auch einige der traditionell besser bewerteten westlichen Industrieländer im Vergleich zu den aufstrebenden Staaten zurück. Das gilt etwa für Australien und Großbritannien.

Die gravierendste Veränderung in der Welt, die Finanzkrise, schlägt sich dagegen bislang in den Ratings kaum nieder. Rein finanzielle Kriterien untersucht Oekom anders als die klassischen Ratingagenturen wie Standard & Poor's nicht. Es gibt bei Oekom zwar Überlegungen, wie man auch die Regulierung der Finanzmärkte in die Bewertung einbeziehen kann. Es fehlt allerdings an quantifizierbaren Kriterien und verlässlichen Daten. Oekom bewertet aber beispielsweise das Betreiben von Offshore-Zentren negativ, über die Länder wie Großbritannien Banken und Investoren anlocken.

Die Finanzkrise macht sich allerdings in einer erhöhten Nachfrage nach ökologisch und sozial gemanagten Anlageprodukten bemerkbar. Das Volumen der nachhaltigen Investmentfonds ist zwar im deutschsprachigen Raum 2008 bis Ende September leicht zurückgegangen (siehe Grafik). Doch das liegt daran, dass der Wertverfall von Aktien und Unternehmensanleihen auch Nachhaltigkeitsfonds getroffen hat. Anders als klassische Fonds berichten sie jedoch von hohen Mittelzuflüssen. Außerdem drängen neue Anbieter auf den Markt. "Wir hatten noch nie so viele Neuverträge wie in den vergangenen Monaten", sagt Oekom-Chef Robert Haßler.

Vor allem kirchliche Investoren und Pensionskassen wollten ihr Geld verstärkt nachhaltig anlegen. "Die Finanzkrise zeigt, dass kurzfristige Gier zu einem Versagen des Marktes führt", sagt Haßler. Auch die Beratungsgesellschaft für sozial-ökologische Innovationen, Imug, berichtet von einem verstärkten Interesse an nachhaltiger Geldanlage. Eine von Imug mit dem Südwind-Institut für Ökonomie und Ökumene erstellte Studie kommt zu dem Schluss, dass kirchliche Investoren auch mit ihrem Kapitalvermögen für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten wollen. Dazu planten sie, ihre Investitionen in nachhaltige Anlageprodukte aufzustocken, aber auch stärker in einen Dialog mit Unternehmen zu treten, bei denen sie investiert sind.

Gefangenentransport in Guantánamo: Das Lager ist einer der Gründe, weshalb die USA bei nachhaltig denkenden Anlegern schlecht angesehen sind. Das könnte sich nun ändern. Foto: AP

Ausländische Investitionen in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Fernwärme

Heute ausgestoßene Treibhausgase wirken noch im Jahr 3000

In das Jahr 3000 versetzen sich für gewöhnlich nur Science-Fiction-Autoren. Jetzt haben sich auch vier Klimaforscher damit beschäftigt. Sie zeigen, dass der gegenwärtige Klimawandel noch in 1000 Jahren spürbare, und damit faktisch irreversible Folgen haben könnte (PNAS, online). Das Quartett um Susan Solomon von der US-Wetterbehörde Noaa, die eine leitende Funktion im Weltklimarat IPCC hat, berechnet zunächst die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre. Die Forscher betrachten den Fall, dass die Menschheit plötzlich nichts mehr von dem Treibhausgas ausstößt, nachdem dieses einen Spitzenwert erreicht hat. Anhand dieser Fiktion zeigen die Forscher, wie reversibel Veränderungen im Klimasystem im besten Fall sein könnten. Weil die Atmosphäre das CO2 zwar abbaut, aber der Ozean das zuvor aufgenommene Treibhausgas langsam wieder abgibt, schweben auf Dauer große Mengen davon in der Atmosphäre. Darum blieben Temperaturen und Meeresspiegel dauerhaft erhöht und die Muster der Niederschläge ändern sich irreversibel. Eine Verdopplung des CO2-Wertes von 280 ppm (Teile pro einer Million) in vorindustrieller Zeit auf etwa 600 ppm in diesem Jahrhundert löse daher noch im Jahr 3000 um 1,5 Grad Celsius erhöhte Temperaturen aus. Die Niederschläge in Südeuropa wären dann dauerhaft um mindestens 13 Prozent reduziert. Zurzeit steht der CO2-Wert bei 385 ppm.cris

In das Jahr 3000 versetzen sich für gewöhnlich nur Science-Fiction-Autoren. Jetzt haben sich auch vier Klimaforscher damit beschäftigt. Sie zeigen, dass der gegenwärtige Klimawandel noch in 1000 Jahren spürbare, und damit faktisch irreversible Folgen haben könnte (PNAS, online). Das Quartett um Susan Solomon von der US-Wetterbehörde Noaa, die eine leitende Funktion im Weltklimarat IPCC hat, berechnet zunächst die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre. Die Forscher betrachten den Fall, dass die Menschheit plötzlich nichts mehr von dem Treibhausgas ausstößt, nachdem dieses einen Spitzenwert erreicht hat. Anhand dieser Fiktion zeigen die Forscher, wie reversibel Veränderungen im Klimasystem im besten Fall sein könnten. Weil die Atmosphäre das CO2 zwar abbaut, aber der Ozean das zuvor aufgenommene Treibhausgas langsam wieder abgibt, schweben auf Dauer große Mengen davon in der Atmosphäre. Darum blieben Temperaturen und Meeresspiegel dauerhaft erhöht und die Muster der Niederschläge ändern sich irreversibel. Eine Verdopplung des CO2-Wertes von 280 ppm (Teile pro einer Million) in vorindustrieller Zeit auf etwa 600 ppm in diesem Jahrhundert löse daher noch im Jahr 3000 um 1,5 Grad Celsius erhöhte Temperaturen aus. Die Niederschläge in Südeuropa wären dann dauerhaft um mindestens 13 Prozent reduziert. Zurzeit steht der CO2-Wert bei 385 ppm.

Treibhauseffekt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Verbraucherportal ohne Investor

Irischer Verlag zieht sich aus Verivox zurück

Düsseldorf - Das Verbraucherportal Verivox muss sich einen neuen Investor suchen. Der irische Zeitungs- und Medienkonzern Independent News & Media (INM) habe Verivox über seinen Rückzug informiert, teilte das Heidelberger Unternehmen am Dienstag mit. INM wolle sich auf das Kerngeschäft konzentrieren und sich von weiteren Beteiligungen trennen. Das Verbraucherportal sei mit der Suche nach einem neuen Partner beauftragt worden, über den Verivox und INM dann gemeinsam entscheiden wollen.

An Verivox ist INM mit 49 Prozent beteiligt. Mehrheitseigner sind die Geschäftsführer Andrew Goodwin und Alexander Preston. Als Finanzinvestor habe INM keinen Einfluss auf die Strategie oder das operative Geschäft von Verivox.

Die 1998 gegründete Verivox GmbH ist ein Verbraucherportal für Energie und Telekommunikation. Konsumenten können auf der Internetseite Tarife vergleichen und den Anbieter wechseln.

Vor einigen Tagen hatte Verivox angekündigt, 84 der rund 200 Stellen abzubauen. Davon betroffen sind 33 Mitarbeiter in Vollzeit, größtenteils aber Studenten und Teilzeitbeschäftigte. Als Gründe nannte das Unternehmen ein schwächeres Wachstum 2008 als erwartet und technische Neuerungen, etwa bei der Erfassung von Tarifen, die weniger Mitarbeiter notwendig machten. Reuters

INM Independent News & Media PLC: Unternehmensbeteiligungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Finger weg

Apple erhält Patentrechte für Funktionen des iPhone

Die Bemühungen von Handyherstellern, die Bedienung ihrer Geräte ähnlich zu gestalten wie beim iPhone von Apple, könnten erheblich erschwert werden. Der Computerhersteller erhielt vom amerikanischen Patentamt ein 358 Seiten umfassendes Patent zugesprochen. Es schließt unter anderem die Fähigkeit von Handys ein, durch Zusammenziehen oder Spreizen der Finger auf dem Bildschirm dargestellte Internetseiten kleiner und größer zu zoomen. Auch auf das Merkmal, dass der Inhalt des Bildschirms vertikal oder horizontal dargestellt wird, je nachdem wie man das Gerät hält, erhielt Apple ein Patent. In der Schutzschrift werden zudem ausführlich die Funktionen zur Steuerung des Musikplayers, der Texteingabe sowie andere Funktionen des berührungsempfindlichen Bildschirms beschrieben.

Bereits bei der Vorstellung des iPhones hatte Apple-Chef Steve Jobs angekündigt, man werde sich die in dem Gerät verwendeten Innovationen schützen lassen. Zuletzt hatte Geschäftsführer Tim Cook bei der Vorstellung der Quartalszahlen gesagt, Apple wolle sich mit Hilfe von Patenten gegen eine "Ausplünderung geistigen Eigentums" wehren. Die meisten Beobachter hatten das als Kampfansage gegen den Konkurrenten Palm gewertet. Die Firma hatte auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas ein Handy namens Pre vorgestellt, das Fachleute als bedienungsfreundlichsten Konkurrenten des iPhone ansahen.

Der Apple-Konzern hat nun zumindestens in den USA juristische Handhabe gegen Hersteller, die eine der vielen Funktionen verwenden, die in Apples Patentschrift aufgeführt sind. Dass die Patente auch in Europa gewährt werden, ist keineswegs sicher. Aus Sorge vor Patentstreitigkeiten haben einige Hersteller offenbar vorsorglich darauf verzichtet, ihre Geräte mit den entsprechenden Funktionen auszustatten. So enthält das am Montag auf den deutschen Markt kommende T-Mobile-Handy G 1 mit Google-Betriebssystem zwar einen Bewegungssensor. Der wird allerdings nicht dafür benutzt, den Bildschirminhalt automatisch zu kippen, wenn das Gerät von der Horizontale in die Vertikale gebracht wird. HELMUT MARTIN-JUNG

Apple Inc: Produkt Apple Computer Inc.: Rechtliches Handy-Geräte Patente und Erfindungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Frühestens 2010 auf vollen Touren

Schäden am Teilchenbeschleuniger des Cern größer als gedacht

Die Reparaturarbeiten an dem beschädigten Teilchenbeschleuniger LHC des europäischen Forschungszentrums Cern bei Genf gestalten sich offenbar schwieriger als zunächst gehofft. Der seit dem 1. Januar amtierende neue Generaldirektor des weltgrößten zivilen Forschungslabors, Rolf Heuer, hat bestätigt, dass externe Gutachter hinzugezogen werden, um Ursache und Umfang der Schäden an dem unterirdischen Protonenbeschleuniger zu bestimmen. Nur wenige Tage nach der Inbetriebnahme der Anlage im September des vergangenen Jahres waren in dem Ringtunnel tonnenweise flüssiges Helium ausgelaufen. Die minus 271 Grad Celsius kalte Flüssigkeit kühlt die supraleitenden Magnete des Beschleunigers. Dabei wurden nach Angaben von Cern-Mitarbeitern mindestens 30 der insgesamt mehr als 1200 lastwagengroßen Magnete des Beschleunigers zerstört.

Die Teilchenforscher am Cern rechnen inzwischen mit Reparaturkosten von mindestens 30 Millionen Euro. Manche Schätzungen liegen noch deutlich darüber. Weil auch an einer anderen Stelle des 27 Kilometer langen Ringtunnels einige Magnete Unregelmäßigkeiten aufweisen, ist geplant, die Protonenkanone in diesem Jahr noch nicht mit voller Energie laufen zu lassen. Frühestens im Sommer 2009 soll die Anlage auf rund 70 Prozent ihrer maximalen Leistung hochgefahren werden. Das würde den Physikern immerhin Energiebereiche zugänglich machen, die mit dem derzeit größten Teilchenbeschleuniger am Fermilab in Chicago nicht erreichbar sind. Im kommenden Jahr, so hoffen die Forscher, wird der LHC dann Protonen aufeinander schießen können, deren Energie so hoch ist, als hätten die Teilchen ein Spannungsfeld von 7000 Milliarden Volt durchlaufen.

Nachdem die Cern-Physiker vor der Einweihung ihres neuen Teilchenbeschleunigers im vergangenen Jahr gegen das Gerücht ankämpfen mussten, ihre Protonenkanone könnte gefährliche Schwarze Löcher produzieren, sprechen die Wissenschaftler am Zentrum bei Genf nun scherzhaft von roten Löchern, die sich aufgrund des Unfalls in ihrem Budget breit macht. pai

Techniker montieren bereits Ersatzmagneten im LHC. Foto: Cern

Europäisches Kernforschungszentrum (CERN) Large Hadron Collider SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Zumwinkel zweifelt am Rechtsstaat

Nach seiner Verurteilung geht er mit der Justiz hart ins Gericht

Von Hans Leyendecker

Bochum - Am Abend nach dem Urteil flog Klaus Zumwinkel mit seiner Familie in den Skiurlaub nach Italien. Zuvor hatte der wegen Steuerhinterziehung am Montag zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und zu einer Geldauflage von einer Million Euro verurteilte frühere Postchef zwei Zeitungen in einem Bochumer Hotel Interviews gegeben. Dem Bonner General-Anzeiger sagte er, sein Vertrauen in den Rechtsstaat habe durch das Verfahren gelitten. Behörden hätten "gegen mehrere Gesetze verstoßen".

Er beklagte vor allem, dass der "Termin und die Tatsache der Durchsuchung öffentlich bekannt" geworden sind. Zudem sei es verboten, "Akten mit Steuerdaten weiterzugeben". Aus "diesen Gesetzesbrüchen" sei dann eine "mediale Hinrichtung" geworden: "Ich habe meine Fehler gemacht, und die Behörden haben ihre Fehler gemacht", sagte der 65-Jährige.

In dem Gespräch mit der FAZ beklagte er sich, dass "ein anderer Angeklagter, der einen viel größeren Steuerschaden verursacht" habe "genauso bestraft worden ist wie ich". Zumwinkel, der 967 000 Euro Steuern hinterzogen hatte, sprach über den Fall eines 67-jährigen Kaufmanns aus Bad Homburg, der dem Fiskus acht Millionen Euro Steuern vorenthalten hatte. Der Kaufmann war wie berichtet im Juli vergangenen Jahres von einer anderen Wirtschaftsstrafkammer des Bochumer Landgerichts ebenso wie jetzt Zumwinkel zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Zumwinkel kündigte an, in Zukunft mehr Zeit in seiner 800 Jahre alten Burg über dem Gardasee zu verbringen. Auch wolle er künftig selbständig als Unternehmer und Investor arbeiten.

Keine detaillierten Angaben machte er weiterhin zu dem Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Spitzelaffäre der Telekom, das die Bonner Staatsanwaltschaft schon vor Monaten gegen ihn einleitete. Die Strafverfolger gehen weiter dem Verdacht nach, Zumwinkel könnte als Aufsichtsratschef die damalige Sicherheitsabteilung des Konzerns zu Verstößen gegen das Post - und Fernmeldegeheimnis aufgefordert haben. Schnüffler des Konzerns hatten sich illegal die telefonischen Verbindungsdaten von Aufsichtsratsmitgliedern und Journalisten besorgt, um Lecks im Konzern ausfindig zu machen.

Die Rolle Zumwinkels ist noch nicht geklärt. In nordrhein-westfälischen Justizkreisen wird spekuliert, dass es für den früheren Postchef eng werden könnte. Wenn er im Bonner Telekom-Verfahren auch belangt werde, drohe ihm am Ende doch eine Gefängnisstrafe. Ein Gericht könnte dann eine Gesamtstrafe verhängen, die möglicherweise nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt würde.

Der Bochumer Oberstaatsanwalt Fred Apostel, der das Verfahren leitet, hält selbst dieses Szenario "für sehr unrealistisch". Auch angesichts der hohen Geldauflage für Zumwinkel in Bochum, die bei einer eventuellen Gesamtstrafe berücksichtigt werden müsste, schließt er derzeit zumindest eine solche Konstellation aus. Nach Ansicht von Fahndern ist es sogar möglich, dass am Ende die Ermittlungen gegen Zumwinkel in Bonn eingestellt werden. "Wir haben wenig gegen ihn in der Hand", sagt ein Fahnder. Die Staatsanwaltschaft will das Spitzel-Verfahren, das im Mai vergangenen Jahres durch eine Strafanzeige der Telekom ausgelöst worden war und sich insgesamt gegen etwa ein Dutzend Beschuldigter richtet, im Sommer dieses Jahres zu Ende bringen.

Verurteilter Zumwinkel. Foto: AP

Zumwinkel, Klaus: Rechtliches Zumwinkel, Klaus: Straftat Zumwinkel, Klaus: Steueraffäre SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Büro sündteuer renoviert

John Thain, Ex-Chef von Merrill, zahlt 1,2 Millionen Dollar zurück

New York - Der zurückgetretene frühere Merrill-Lynch-Chef John Thain zeigt Reue wegen der millionenschweren Luxus-Renovierung seiner Büroräume. Er werde die Kosten persönlich erstatten, kündigte der 53-Jährige in einem US-Fernsehinterview an. Die Neuausstattung hatte rund 1,2 Millionen Dollar gekostet. Die Investmentbank Merrill Lynch wurde von der Bank of America übernommen. Nach einem überraschend hohen Milliardenverlust zum Jahresende 2008 trat Thain auf Druck der Bank of America letzte Woche zurück. Die Renovierung seines Büros sowie zweier Konferenzräume und eines Empfangsbereichs seien vor mehr als einem Jahr in einem wirtschaftlich "noch sehr anderen Umfeld" erfolgt, sagte Thain. "Dennoch waren sie aus heutiger Sicht ein Fehler", räumte er zuvor auch in einer E-Mail an seine früheren Kollegen ein.

Der Manager hatte die Übernahme seines wankenden Instituts im September 2008 eingefädelt. Der zunächst als Überraschungscoup gefeierte Zukauf wurde für die Bank of America zum Debakel. Merrill Lynchs jüngster Quartalsverlust von mehr als 15 Milliarden Dollar zwang die Bank of America, noch mehr staatliche Hilfen anzufordern. Auch Konzernchef Kenneth Lewis steht nun selbst massiv in der Kritik. dpa/AFX

Zeigt Reue: John Thain. Foto: AFP

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das verhängnisvolle Wörtchen "ab"

Manche Banken werben für Verbraucherkredite mit Zinssätzen, die kaum jemand wirklich bekommt. Die Bundesregierung will solche Lockangebote jetzt stoppen

Von Marco Völklein

München - Das Angebot klingt verlockend: Mit einem effektiven Zinssatz ab 3,99 Prozent wirbt die Citibank derzeit auf ihrer Internetseite. So mancher Kunde mag da bereits darüber nachdenken, das billige Geld aufzunehmen und auf ein Tagesgeldkonto zu legen - mit fünf Prozent oder mehr Zinsen würde man einen zusätzlichen Ertrag einfahren. Diese Überlegungen können die Kunden allerdings schnell wieder einstellen: Den Billigzins von 3,99 Prozent erhält vermutlich kaum ein Kunde.

"Die Superzinsen sind meist nur Lockangebote", sagt Frank-Christian Pauli, Bankenreferent beim Verbraucherzentrale-Bundesverband (VZBV). Das Problem ist das kleine Wörtchen "ab" in dem Angebot. Nach Angaben von Pauli sind bei den Verbraucherzentralen unzählige Beschwerden über diese "bonitätsabhängigen Kredite" eingegangen, die auch noch anderen Banken anbieten. Der Fachbegriff bedeutet, dass der beworbene Billigzins nur ein "ab"-Wert ist. Jeder Kunde muss sich einer ausführlichen Prüfung unterziehen lassen, einem sogenannten Scoring. Je nach dem, wie viel der Kunde verdient oder in welcher Region er wohnt, erhält er einen Kredit zu einem bestimmten Zinssatz. "Selbst bei gutem Verdienst und fester Arbeit bekommen die Kunden oft nur teure Angebote", kritisiert die Stiftung Warentest.

Welche Daten genau in das Scoring einfließen und wie sie gewichtet werden, ist zudem das Geheimnis der Banken. Das Bundesjustizministerium hat nun einen Gesetzentwurf erarbeitet und will den Banken Folgendes vorschreiben: Ein Anbieter darf künftig nur mit einem Zins werben, "von dem er erwarten darf, dass er mindestens zwei Drittel der Verträge zu dem angegebenen oder einem niedrigeren effektiven Jahreszins abschließen wird". Lockangebote wären damit nicht mehr möglich. In Großbritannien gibt es diese Regelung bereits. Pauli: "Dort hat sie sich als funktionsfähig erwiesen."

Hinzu kommt: Die Banken fragen beim Scoring auch bei der Schufa nach, der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung. Dort sind Daten über die Kreditwürdigkeit von Bankkunden gespeichert. Sobald jemand nach einem Kredit fragt, meldet die Bank dies als "Anfrage Kreditkonditionen". Doch einige Berater melden der Stiftung Warentest zufolge keine "Anfrage Konditionen", sondern eine "Anfrage Kredit". Die Warentester: "Dann weiß die Schufa nur, dass der Kunde einen Kredit wollte, aber keinen bekam - warum, bleibt offen." Vorsichtshalber senkt die Schufa anschließend den Scoring-Wert - und das wirkt sich langfristig aus: "Bei der nächsten Kreditanfrage erhält der Kunde einen schlechteren Zins", sagt Pauli.

Über eine schärfere Regelung würden sich auch viele Banken freuen, ergänzt Achim Tiffe vom verbrauchernahen Institut für Finanzdienstleistungen in Hamburg. Denn viele Institute stören sich an den marktschreierischen Schein-Zinsen der Konkurrenz. Tiffe: "Sie sehen sich einem aufreibenden Preiskampf ausgesetzt und würden eine Marktbereinigung sicher begrüßen."

Wer sich Geld leihen will, wird gern mal in die Irre geführt. Foto: Imago

Ratenkredite in Deutschland Bankkunden in Deutschland Verbraucherschutz in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hegen und schießen

Naturschützer und Forstwissenschaftler kritisieren die Jagd - Tierbestände würden sich auch auf natürliche Weise regulieren

Ursprünglich gab es für Menschen zwei gute Gründe, Tiere zu jagen: Sie brauchten etwas zu essen und verarbeiteten die Reste zu Kleidung und Gebrauchsgegenständen. Heute stellen immer mehr Menschen den Sinn der Jagd in Frage. Zwar wird das Fleisch der erlegten Tiere immer noch gegessen und Jäger führen an, dass sie die Zahl der Tiere regulieren müssen, um ökologische und wirtschaftliche Schäden zu verhindern. Doch Jagdkritiker wie Ragnar Kinzelbach, Zoologe an der Universität Rostock, lassen solche Argumente nicht gelten: "Letztlich dient die Jagd nur dem Spaß und der Befriedigung der Mordlust der Jäger", sagt er. "Die Jagd ist überflüssig. Wenn man sie einstellt, regulieren sich die Bestände von allein."

Nach Ansicht von Naturschützern ist der Mensch zumeist selbst schuld, wenn sich Tiere irgendwo so stark vermehren, dass sie zur Belastung werden. Er zerstöre die Natur, pflanze Monokulturen und wundere sich dann, wenn sich Tiere an bestimmten Stellen konzentrieren. Dass etwa riesige Raps- oder Maisfelder für Wildgänse, die am Polarkreis brüten und in Deutschland Rast machen, ein gedeckter Tisch sind, sei nicht die Schuld der Vögel, sondern die der Landwirtschaft und der Agrarpolitik. Dies gilt auch für Wildschweine, für die endlose Maisfelder regelrechtes Mastfutter sind.

"Durch Überdüngung und Nährstoffeinträge aus der Luft steigt das Pflanzenwachstum, die Tiere haben mehr zu fressen, überstehen Phasen schlechten Wetters besser, und vermehren sich entsprechend stark", sagt der Münchner Wildtierexperte Josef Reichholf. Zudem hat der Mensch die meisten Raubtiere ausgerottet, so dass das Wild keine natürlichen Feinde mehr hat. Andernorts hat er Tiere in Gegenden ausgesetzt, wo sie nicht hingehören und reagiert verärgert, wenn sie es wagen, dort etwas zu fressen. Das gilt etwa für die Nilgänse, die seit kurzem auch in einigen Bundesländern gejagt werden dürfen.

Eine weitere Absurdität ist nach Ansicht von Jagdkritikern die Winterfütterung. "Die Jäger mästen sich in unseren Wäldern gigantische Rot- und Rehwildbestände heran, nur um sie anschließend abschießen zu können", sagt Kinzelbach. Dem hält Stephan Bröhl vom Deutschen Jagdschutzverband (DJV) entgegen, dass die Fütterung nur in Ausnahmefällen bei extremen Wetterlagen praktiziert werde, "um zu verhindern, dass Tiere verhungern, und um zu vermeiden, dass sie die Bäume im Wald annagen".

Tatsächlich sind die Schäden durch Wildverbiss riesig, muss auch Kinzelbach zugeben. In mehr als 80 Prozent der Reviere leiden Laubbäume wie die Eiche unter teils starkem Verbiss. Drei Viertel der Tannen sind geschädigt, wie die baden-württembergische Landesforstverwaltung in ihrem "Forstlichen Gutachten 2007" feststellte. Doch auch das ist nach Ansicht von Kinzelbach letztlich die Schuld des Menschen. Rehe, früher tagaktive Tiere, seien nur durch die Jagd zu scheuen, nachtaktiven Waldbewohnern geworden. "Wenn man die Rehe nicht jagen würde, würden sie sich auch nicht so sehr im Wald aufhalten und dort alles anknabbern", argumentiert der Rostocker Zoologe.

"Es kann nicht sein, dass die 0,3 Prozent der Bevölkerung, die einen Jagdschein haben, für fast 80 Millionen Menschen bestimmen, wie unsere Wälder in Zukunft aussehen werden", sagt Rainer Wagelaar, Forstwissenschaftler an der Fachhochschule Rottenburg und Vorsitzender des Ökologischen Jagdverbandes (ÖJV).

Doch die Lobby der Jäger in Deutschland ist mächtig - auch weil viele Politiker passionierte Jäger sind: Der Präsident des Landesjagdverbandes Bayern, Jürgen Vocke, saß zum Beispiel zehn Jahre lang für die CSU im Landtag. Der frühere Bundesminister und heutige Bundestagsabgeordnete Jürgen Borchert ist Präsident des Deutschen Jagdschutzverbandes und des Landesjagdverbandes Nordrhein-Westfalen. Sein Vorgänger war Constantin Freiherr von Heereman, sieben Jahre Bundestagsabgeordneter der CDU und Bauernpräsident. Der Präsident der Landesjägerschaft Niedersachsen ist der CDU-Landtagsabgeordnete Helmut Dammann-Tamke. In etlichen Kreistagen und Stadtparlamenten sitzen viele, die sich von gemeinsamen Jagden gut kennen. Dasselbe gilt für einflussreiche Stellen in der Wirtschaft.

Der Mensch müsse heute das bestandsregulierende Raubtier ersetzen, da die natürlichen Feinde des Wildes ausgerottet wurden, rechtfertigt sich die Jäger-Lobby. "Wir leben in einer reinen Kulturlandschaft, die vom Menschen geprägt ist. Die wenigen großen Raubtiere wie Wolf oder Luchs, die es erfreulicherweise noch oder wieder gibt, können den Jäger gar nicht ersetzen", sagt etwa DJV-Sprecher Stephan Bröhl. Die nachhaltige Nutzung der Wildtierbestände sei deswegen notwendig. "Die Idealvorstellung, dass sich Räuber und Beute selbst regulieren, mag in einem Nationalpark funktionieren, aber nicht in der normalen Landschaft."

Dem widerspricht das Ergebnis einer Studie des Münchner Zoologen Josef Reichholf. Der Wissenschaftler untersuchte die Bestandsentwicklung der Bisamratte am Inn - einmal auf deutscher Seite, wo diese Tiere gejagt werden, und einmal im österreichischen Flussabschnitt, wo sie von der Jagd verschont bleiben. Die Untersuchung zeigte, dass es im Jagdgebiet deutlich mehr Bisamratten gibt. Die kritischste Zeit für die Bisamratte ist der Winter.

"Tiere die gestärkt überleben, pflanzen sich im Frühjahr zeitiger und zahlenmäßig stärker fort", sagt Reichholf. Werden in einem Gebiet viele Tiere getötet, haben die Verbliebenen ein besseres Futterangebot, und statt erst im Mai zwei Junge zu gebären, bekommt ein Bisamrattenweibchen dann schon im März vier bis fünf und wirft dann noch bis zu zweimal im selben Jahr. Dieses Prinzip gelte auch für Rothirsch, Reh und Wildschwein. Durch die Jagd vermehrt sich das Wild stärker als unter natürlichen Umständen. "Die Konkurrenz im Winter ist geringer, die Chancen sind im Frühjahr besser", sagt Reichholf. Durch die Jagd würden Tierarten, die bereits selten sind, noch seltener, und jene, die häufig sind, noch häufiger.

Kritiker sagen, dass sich die Jagd in Deutschland seit 1934 nicht weiterentwickelt habe, als Hermann Göring das Deutsche Jagdsystem im Reichsjagdgesetz neu ordnete. Noch immer sei die Trophäe das wichtigste Ziel; Abschusspläne und Schonzeiten würden auch heute noch danach ausgerichtet, möglichst große Trophäen zu bekommen. Rehböcke beispielsweise seien für Jäger nur im Sommer interessant, wenn sie ein Gehörn tragen, sagt Wagelaar, der Chef des ÖJV. Die konservativen Jagdverbände bestreiten das. Der Naturschutz sei mittlerweile ein wichtiger Bestandteil des Waidhandwerks.

Um die Jagd zu modernisieren, will der ÖJV die Jagdmethoden unter anderem effizienter machen. "Statt stundenlangem Ansitzen morgens und abends, und dies oft über längere Zeiträume, sollte man die Jagd an einigen wenigen Tagen intensivieren - beispielsweise mit Hunden Drückjagden durchführen. Dann hat das Wild mehr Ruhephasen und muss nicht länger nachtaktiv und überaus scheu sein", sagt Wagelaar. Dass die Forderungen des ÖJV nicht umgesetzt werden, hat nach Wagelaars Einschätzung einen einfachen Grund: Die klassischen Jagdverbände seien oft "total überaltert, sehr konservativ und kaum reformbereit".

Eine Folge des hohen Jagddrucks in Deutschland wird nach Ansicht der Deutschen Wildtier-Stiftung, die einst von einem Jäger gegründet wurde, viel zu wenig beachtet: die große Scheu der Tiere. Wer jemals einen Nationalpark in Afrika besucht hat, in dem nicht gejagt wird, weiß, dass die meisten Tiere eigentlich keinerlei Scheu vor Menschen haben. Sie lassen sich dort aus wenigen Metern Entfernung beobachten. In Deutschland nehmen Hasen, Rehe und Wildschweine Reißaus, wenn sie einen Menschen in großer Entfernung sehen oder wittern. Die Tiere wissen: Mensch gleich Jäger gleich Feind.

Doch auch in Deutschland gibt es Ausnahmen. Im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft an der Ostsee zum Beispiel beobachtet man seit Jahren, wie der eigentlich nachtaktive und scheue Marderhund immer zutraulicher wird - die Jagd ist im Nationalpark untersagt. ROBERT LÜCKE

In vielen Parlamenten sitzen Jäger

Moderne Jäger sehen sich auch als Naturschützer

Das Geweih des Rothirschs ist unter Jägern eine begehrte Trophäe. Foto: Bluemagenta

Jagdwesen in Deutschland Wildbestand in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Sieger sehen anders aus

Ein Anleger wurde betrogen. Das Gericht gab ihm recht, doch sein Geld sah er nie wieder. Heute ist er pleite. Eine Geschichte über die Suche nach Gerechtigkeit

Von Hannah Wilhelm

Dortmund - Frank Planeck war mal ein Sieger. Ein Gewinner war er, einer der auf der richtigen Seite stand. Er hat vor dem Bundesgerichtshof gewonnen, hat das wichtigste Urteil errungen, das ein Kleinanleger jemals erreicht hat. Das war am 19. Juli 2004. An das Glücksgefühl dieses Sommertages erinnert er sich noch heute. Alle waren sie da, die Reporter aus der ganzen Republik, angereist nach Karlsruhe, um ihm beim Siegen zuzusehen. Er war ihr Held. Am Abend fuhr er nach Hause nach Dortmund, ging schick essen und dachte darüber nach, dass jetzt ein neues Auto drin sein könnte. Endlich.

Heute lebt Frank Planeck alleine, auf 35 karg möblierten Quadratmetern. Schmal ist er geworden, und wenn er an die vergangenen vier Jahre denkt, dann zieht der 48-Jährige seinen Mund zu einem schiefen Lächeln, das verzweifelt und hilflos aussieht. Die Falten um den Mund verraten, wie oft er sich zu diesem Lächeln und zum Durchhalten gezwungen hat. Sieger sehen anders aus.

Planecks Leiden beginnt 2000, als der Neue Markt mit all seinen hippen Internetunternehmen mit einem lauten Krach in sich zusammenbricht. Er hinterlässt zahlreiche verzweifelte Kleinanleger, deren Geld in nahezu wertlosen Aktien steckt. Viele Deutsche haben sich das erste Mal in ihrem Leben an die Börse gewagt und verloren, so auch der Fleischermeister Frank Planeck.

Aber am 19. Juli 2004 vor dem Bundesgerichtshof ist er der Vorkämpfer all dieser Kleinanleger: Er hat die beiden Vorstände des Unternehmens Infomatec, Gerhard Harlos und Alexander Häfele, verklagt, dessen Aktien er gekauft hat. Gut 90 000 Mark investierte er, weil ihn die Zahlen des Unternehmens so überzeugten. Doch die Vorstände haben gelogen, die angekündigten Aufträge gibt es nicht. Die Aktien stürzten ab und Planeck verlor alles. Der BGH spricht ein "Machtwort", wie die Presse damals jubelnd schreibt. Planeck soll alles wiederbekommen, 90 000 Mark plus Zinsen. Er ist glücklich, am 19. Juli 2004.

Doch er hat das Geld bis jetzt nicht bekommen. Keinen Cent. Heute lebt Planeck von 638 Euro im Monat, seine Schulden sind so hoch, dass er vielleicht Privatinsolvenz anmelden muss. Aus dem neuen Auto wurde nichts, für 300 Euro kaufte er einen 17 Jahre alten Opel Corsa. Aus seinem Haus musste er ausziehen - nun müssen 35 Quadratmeter reichen.

Auf dem Sims vor dem Balkon stapeln sich Bücher aus der Stadtbibliothek, Fachbücher über Börse und Medizin. "Ich lese viel", sagt er, was soll er auch sonst tun mit seiner ganzen Zeit? Planeck ist krank. Es gibt sogar Tage, an denen er zu schwach zum Laufen ist. Die Reporter, die über ihn und seinen Erfolg vor Gericht berichtet haben, sind weitergezogen und Planeck ist alleine sitzengeblieben in seinem Leben, in seinem Albtraum, den auch er gerne verlassen würde. Oft denkt er darüber nach, ab welchem Punkt alles in die verkehrte Richtung lief. "Solche Gedanken kommen, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat."

Früher, in seinem ersten Leben, hat er überhaupt keine Zeit. 70, 80 Stunden Arbeit pro Woche sind normal und es geht ihm gut damit. Er macht seine Ausbildung zum Fleischermeister in der Metzgerei seiner Eltern in Dortmund, ist einer der jüngsten Meister Deutschlands. Er steigt ins Geschäft der Eltern ein, hat 20 Mitarbeiter, ein eigenes Haus, eine Frau und einen kleinen Sohn. Es läuft gut für Frank Planeck. Finanzen sind sein Ding, schon immer. Hätten die Eltern nicht so sehr darauf gedrängt, dass er den Betrieb übernimmt, wäre er vielleicht lieber Banker geworden. Nun macht er es eben als Hobby: Er beobachtet die Börse und als 1996 die Telekom und viele Deutsche an die Börse gehen, geht er mit. "Das war der größte Fehler meines Leben", sagt er heute und nippt an seinem Wasser, "hätte ich das nicht gemacht, dann wäre es später nicht so gekommen."

1999 hat der damals 38 Jahre alte Fleischermeister endgültig Feuer gefangen und mit ihm brennt die ganze Börse. Alle jubeln, alle feiern, Erfolgsmeldungen werden veröffentlicht, mit der Wahrheit nimmt man es nicht immer ganz genau. So klettert die Aktie des kleinen Internetunternehmens Infomatec aus Augsburg auf zwischenzeitlich 318 Euro. Alles ist möglich im Neuen Markt. Planeck glaubt die Meldungen und kauft - für 90 000 Mark, dafür nimmt er einen Kredit auf seine Lebensversicherung auf. "Es sah alles so gut aus und ist ja von allen Seiten geprüft und testiert worden." Spekulieren auf Kredit, wie riskant das ist, erkennt er damals nicht.

Ein Jahr später bricht Planecks Leben zusammen. Seine Lunge macht nicht mehr mit, die Ärzte sagen, er müsse sich ausruhen, sie schicken ihn sechs Wochen zur Kur auf die Insel Norderney. Der zuvor sportliche Mann kommt kaum die 20 Stufen zu seinem Zimmer hoch, im Schwimmbad schafft er nicht mal mehr eine Bahn. Mittags sitzt er an der Strandpromenade, "die Sonne schien und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch leben wollte".

Einmal läuft er bei Ebbe alleine weit raus ins Watt. Er weiß, dass das lebensgefährlich ist. Er sammelt Muscheln, findet den Weg zurück. Die Muscheln liegen heute in einer Glasschale in seinem kargen Zimmer.

Als er im Herbst 2000 nach Dortmund zurückkehrt, sind seine Aktien fast wertlos. Die Erfolgsmeldungen des Unternehmens stimmten nicht, die Vorstände haben gelogen. Planeck zieht vor Gericht, er braucht das Geld, er muss seine Kreditraten zahlen. Geld verdienen kann er nicht, er ist berufsunfähig, seine Lunge erholt sich nicht mehr. Drei Jahre dauert der Weg durch die Instanzen - bis zu jenem 19. Juli 2004. Da ist es dann endlich geschafft. Gleichzeitig werden die beiden Vorstände wegen verbotener Insidergeschäfte und Kursbetrugs zu Gefängnis verurteilt. Der Freistaat Bayern pfändet das Vermögen der beiden. Das Geld ist in Sicherheit, denkt Planeck, und dass er das Geld später dann bekommen wird. Doch damit liegt er falsch.

Der Freistaat hat ihm das Geld nie ausgezahlt, die Millionen sind stattdessen im bayerischen Haushalt verschwunden. Auf die Anfrage des Grünen-Abgeodneten Martin Runge erklärt Bayerns Justizministerin Beate Merk 2006: "Nach Haushaltsrecht besteht keine Möglichkeit, auf Vermögenswerte zu verzichten, die dem Justizhaushalt infolge einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung zugeflossen sind." Mit anderen Worten: Einmal Haushalt, immer Haushalt. Planeck ist fassungslos, das Glück hat ihn verlassen. Er zieht vors Verfassungsgericht, die Klage wird abgewiesen: Sein Anwalt habe nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Also verklagt er seinen Anwalt. "Ich dachte, er hätte einen Fehler gemacht", sagt Planeck, "ich brauche das Geld so dringend - und bei einem Anwaltsfehler zahlt doch dessen Haftpflichtversicherung." Plötzlich sind da wieder die tiefen Falten um seinen Mund. Eigentlich war da sowas wie Freundschaft zwischen ihm und dem Anwalt, sagt er, doch Planeck hat den Prozess verloren und mit ihm auch die Freundschaft.

Es ist nicht die einzige Freundschaft, die der Dortmunder verloren hat, auf seiner Suche nach der Gerechtigkeit und den Schuldigen. Drei Freunde seien ihm geblieben, seine Frau zog 2002 aus. "Wenn man oben ist, lieben sie einen. Wenn man unten ist, nicht", folgert der Schwerkranke. Und er versteht sie ja, die die gegangen sind: "Ich kann nicht mit Essen oder ins Kino gehen. Ich habe einfach kein Geld für sowas." Vorher sei er ehrgeizig gewesen und kühl, jetzt sei er anders, viel weicher, erklärt er. Doch während er das sagt, ist sein Gesicht ganz und gar nicht weich.

Wütend ist er schon, nicht so sehr auf die beiden Vorstände, die ihn belogen haben. "Die kann ich irgendwie verstehen, sie waren clever und haben gut Geld damit verdient." Wütend ist er auf die Politik, den Staat. Schützen hätte der ihn müssen, statt dessen hat er versagt, ihn im Stich gelassen. "Die fehlende Aufsicht des Staates hat das Ganze erst möglich gemacht." Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, sein Leben dreht sich um diese Wut. Einen Beruf hat er ja nicht mehr, nur seine Krankheit, allergische Schocks, Atemnot, immer wieder - und diese Wut. Wenn er so redet, ist sein Gesicht endgültig hart.

Vor kurzem habe die Staatsanwaltschaft ihm einen Brief geschrieben: Die von den Vorständen beschlagnahmten Aktien sollen verkauft werden und Planeck solle sie doch bitte freigeben, sonst werde sie gerichtlich gegen ihn vorgehen. Da lacht Planeck wieder. "Das kann ich nicht machen! Das ist doch mein Geld, ich habe doch vor Gericht gewonnen." Er unterschreibt nicht, warum auch, er hat ja nichts zu verlieren. 638 Euro Berufsunfähigkeitsrente bekommt er, davon braucht er 270 Euro für die Miete, mit 100 Euro zahlt er noch seinen Kredit ab, ein Tropfen auf den heißen Stein, seine Schulden belaufen sich mittlerweile auf 60 000 Euro.

Dass der Fall Infomatec sein Leben zerstört hat, findet Planeck nicht. "Verändert hat es mich", sagt er nachdenklich, "es hat meinem Leben eine andere Richtung gegeben." Klar wäre es besser, wenn er nicht diese finanziellen Sorgen hätte. Früher, da schaute er aus seinem Haus auf seinen 800 Quadratmeter großen Garten mit den duftenden Rosenbeeten. Jetzt hat er nur einen Balkon, klein wie ein Bett, mit hässlichen grauen Betonplatten auf dem Boden. Da steht er nun, blickt auf die Garagen der Nachbarn und sagt: "Aber sehen Sie doch, die Bäume im Abendlicht und ab und zu fliegt ein Graureiher vorbei. Da kann man doch nicht von einem zerstörten Leben sprechen."

"Die Sonne schien, und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch leben wollte."

Er bekommt 638 Euro

im Monat, mittlerweile hat er

60 000 Euro Schulden.

Frank Planeck in einem Waschsalon: Er erstritt vor mehr als vier Jahren das wichtigste Anlegerurteil vor dem Bundesgerichtshof. Gebracht hat ihm das nichts: Heute ist er so gut wie pleite. Foto: Volker Wiciok/Lichtblick

Anlegerschutz in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Wenn Supermanager fliegen

Mitten in der Finanzkrise kauft die Citigroup einen Privatjet für ihre Vorstände. Wert: 50 Millionen Dollar. US-Politiker sind empört

New York - Diese Meldung musste für Ärger sorgen: Die US-Großbank Citigroup wird für 50 Millionen Dollar einen neuen Firmenjet kaufen. Das tut sie in einem Moment, in dem die US-Regierung dem wankenden Bankriesen mit insgesamt 45 Milliarden Dollar unter die Arme greift.

Die Bank habe das Flugzeug des französischen Typs Dassault Falcon 7X im Jahr 2005 bestellt und wolle damit ältere Modelle ersetzen und die Zahl der Firmenjets reduzieren, heißt es in einer E-Mail der Citigroup an die Nachrichtenagentur Bloomberg. Das Flugzeug jetzt nicht zu übernehmen, würde Millionen an Strafzahlungen nach sich ziehen, hieß es dort weiter. Außerdem würden im Gegenzug zwei ältere Flugzeuge für je 27 Millionen Dollar verkauft. Die Bank wies außerdem darauf hin, dass es strenge Unternehmensregeln zum Einsatz der Firmenjets gebe und die Manager aufgerufen seien, wann immer möglich Linienflüge zu buchen, um Geld zu sparen.

Das alles half nicht: Carl Levin, demokratischer Senator für Michigan, rief das US-Finanzministerium umgehend auf, den Kauf des Flugzeugs zu prüfen. "Der Citigroup den Kauf eines Nobelflugzeugs - und dann auch noch ein ausländisches Fabrikat - zu erlauben, während die US-Autobauer ihre Jets verkaufen müssen, ist lächerlich und scheinheilig."

Dass er sich besonders ärgert, ist verständlich. Die Zentralen der großen Autobauer sind in seinem Bundesstaat Michigan beheimatet, in und um die "Motor City" in Detroit. Die Chefs von General Motors, Ford und Chrysler hatten Ende des Jahres die geballte Häme des Kapitols über sich ergehen lassen müssen, weil sie zu einer Anhörung mit dem Privatjet angereist waren, um Milliardenhilfen zu erbetteln. Zu einer späteren Anhörung kamen sie dann über Land in umweltfreundlichen Limousinen gefahren.

Politisch interessant ist die Geschichte, weil es einen Entwurf des staatlichen Banken-Rettungsprogramms TARP gab, in dem die Nutzung von Firmenjets komplett untersagt werden sollte. Der Entwurf musste aber geändert werden. Die Vertreter von Bundesstaaten, in denen Flugzeugbauer beheimatet sind, wehrten sich vehement. Nach Angaben der New York Times könnte es nach dem Jet-Kauf von Citigroup gut sein, dass nochmals über ein komplettes Verbot von Firmenjets für hilfsbedürftige Banken nachgedacht wird.

Die Citigroup zählt weltweit zu den größten Opfern der Finanzkrise. Der amerikanische Staat musste bislang nicht nur mit einer Beteiligung in Höhe von 45 Milliarden Dollar einspringen - er spannte außerdem durch weitere Garantien einen enormen Rettungsschirm über die Bank. Reuters/dpa

Exklusiver Firmenjet für die Citigroup: Dassault Falcon 7X. F.: AP

Citigroup Inc.: Management Citigroup Inc.: Kauf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Eine Frage der Haftung

Wer streicht, muss Wände vor allem gut vorbereiten

Die Farbe ist hochwertig, das Malwerkzeug professionell - und manchmal ist die frisch gestrichene Wand trotzdem alles andere als ein Meisterwerk geworden. Wer die eigenen vier Wände selbst streichen will, muss einiges beachten. Vorarbeiten müssen sein, auch wenn viele Heimwerker sie als lästiges Beiwerk betrachten. Selbst die teuren, neu entwickelten Farben verlangen nach einer guten Vorbereitung.

Viel Zeit für die Pflicht

"Damit die Farbe optimal haftet und der Anstrich sauber und fachgerecht wirkt, muss der Untergrund plan, sauber und haftfähig sein", sagt Ludger Küper, Direktor des Paint Quality Institute in Frankfurt. Heimwerker sollten für das Abwaschen, Abschleifen, Grundieren und Ausbessern daher reichlich Zeit einplanen. "Das Streichen der Wände ist dann meist nur noch die Kür." Bevor Innenwände einen Neuanstrich erhalten, muss zunächst geprüft werden, ob der Altanstrich noch ausreichend Haftung bietet. "Einen ersten Eindruck vermittelt die Sichtprüfung", sagt Friedhelm Müller, Kursleiter an der DIY-Academy in Köln. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass zunächst die alte Farbe entfernt werden müsse, seien Stellen, an denen sich der Anstrich bereits löse oder Blasen werfe. Aufschluss über die Haftungseigenschaften alter Farbe ergibt auch die sogenannte Abreißprüfung: Hier wird mit einem Klebeband durch ruckartiges Abziehen festgestellt, ob die Farbe noch fest auf dem Untergrund sitzt.

"Bleiben Teile der Farbe am Klebeband hängen, muss der Altanstrich komplett entfernt werden", erläutert Küper. Abschleifen, möglichst mit einer Maschine, sei hier die beste Lösung. "Abschließend ist eine Vorbehandlung der Putzoberfläche mit Tiefengrund zu empfehlen, damit der Untergrund nicht zu sehr saugt und dadurch ein wolkiger Anstrich entsteht." Ein problematischer Untergrund sind laut der Stiftung Warentest auch alte Kalkanstriche - zumindest, wenn die Wand mit Dispersionsfarbe gestrichen werden soll. Erkennen lasse sich Kalkfarbe durch festes Reiben mit dem Daumen auf der Oberfläche. Wird der Daumen weiß, sollte die vorhandene Farbe mit Wasser und Wurzelbürste gründlich abgebürstet werden. Anschließend sei eine Vorbehandlung der Putzoberfläche mit Tiefengrund zu empfehlen. Erst dann sei auch ein Dispersionsanstrich auf einem Kalkuntergrund möglich.

"Ein intakter Altanstrich muss auf Verschmutzungen, Nikotin, Wasserflecken, Ruß und Fett untersucht werden", erläutert Küper. Heimwerker sollten hier besonders auf Fettrückstände auf der Wand achten. Denn diese müssten gründlich entfernt werden, weil sonst die Farbe nicht halte. Am besten helfe hier das Reinigen mit einem einfachen Geschirrspülmittel. "Schäden durch Wasser und Nikotin dürfen nicht einfach übergestrichen werden", erklärt Müller. Solche Schadstellen müssten zuerst immer mit speziellen Isoliersperrgründen gestrichen werden. Nur nach einer solchen Vorbehandlung lassen sich die Wände wie gewohnt malen.

Wenn Farbe direkt auf Putz kommen soll, darf dieser nicht mürbe sein. Guten Aufschluss über die Haftfähigkeit bietet eine Kratzprobe mit einer Messerspitze oder einer Schraubenzieherklinge. Ist der Putz noch gut, zeigt der Kratztest nur oberflächliche Kratzer. Ein mürber Putz lässt sich dagegen tief einkerben, wobei sich Kalk- und Sandbestandteile lösen. Ein Klopftest mit dem Fingerknöchel gibt laut der Stiftung Warentest Aufschluss darüber, ob sich Teile des Putzes vom Untergrund gelöst haben. Lose Partien müssen abgeschlagen und erneuert werden. Intakte Putze sollten vor dem Streichen möglichst grundiert werden. So sei gewährleistet, dass die Farbe gut haften kann.

Ist die Wand gut vorbereitet, hängt das weitere Ergebnis nicht nur von den Fähigkeiten der Maler, sondern vor allem von der Qualität der Farbe ab. Produkte mit der Deckkraftklasse eins haben die größte Deckkraft - in vielen Fällen reicht dann einmal Streichen aus. Die Nassabriebbeständigkeit gibt Hinweise darauf, wie sehr sich die Farbe abwischen und säubern lässt. Hier sorgt die Klasse eins für eine vergleichsweise pflegeleichte Wand. Stephanie Hoenig/dpa

Die zwei Maler in der Installation des Künstlers Nedko Solakov streichen den Raum rundherum in Weiß und Schwarz. Das Motiv soll eine moderne Interpretation des Sisyphos-Mythos sein. Damit Heimwerkern eine lange Arbeit erspart bleibt, müssen sie vor dem Malern eventuell erst den Altanstrich abschleifen. Foto: ddp

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Interview

"Dienstleistungen beeinflussen"

Wolfgang Marzin, Vorsitzender der Geschäftsführung der Leipziger Messe, erklärt, woran die Branche dieses Jahr arbeiten muss.

SZ: Sie haben im vergangenen Jahr Ihren Umsatz weiter steigern können. Wo lief es gut, wo lagen die Knackpunkte?

Marzin: Wir sind mit dem Jahr 2008 rundum zufrieden. Es war das sechste Rekordjahr in Folge. Unsere Fach- und Publikumsmessen, das Kongressgeschäft sowie die Tochtergesellschaften entwickelten sich kontinuierlich. Beispielsweise die Veranstaltungen Auto Mobil International, GC-Games Convention und Leipziger Buchmesse liefen sehr gut.

SZ: Wie viel Umsatz erwarten Sie für 2009 und wie viel investieren Sie?

Marzin: Das Jahr 2009 ist aus bekannten Gründen schwer zu prognostizieren, wir rechnen aber mit weiterem Wachstum vor allem in den Themenfeldern Maschinenbau, Umwelt und Energie, Medizin und Gesundheit sowie im Kongressbereich. Mit allem Vorbehalt erwarten wir etwa die Umsatzgröße des Vorjahres. Wir werden rund zwei bis drei Millionen Euro investieren, um die Rahmenbedingungen zu verbessern. Eine Studie zur Innovationskraft deutscher Messegesellschaften kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass vor allem die Zusammenarbeit mit inländischen Wettbewerbern noch nicht sehr weit fortgeschritten ist.

SZ: Können Sie sich denn Kooperationen vorstellen ?

Marzin: Die standortgebundenen Messegesellschaften tun sich naturgemäß schwer mit Kooperationen im Inland. Dagegen stehen die Interessen ihrer Eigentümer und Gesellschafter. Im Ausland ist es wesentlich einfacher, auf Augenhöhe und zum gegenseitigen Vorteil zusammenzuarbeiten. Dennoch findet ja auf vielen Ebenen Kooperation statt. Wir arbeiten eng mit der Messe Stuttgart zusammen, ebenso intensiv kooperieren wir mit privaten Messeveranstaltern. Bedarf für eine engere Abstimmung gibt es sicher bei Messegesellschaften aus einem Bundesland.

SZ: In der Studie heißt es ferner, dass die Umsetzung völlig neuer Messekonzepte aufgrund des hohen Risikos bisher eher zaghaft angegangen wird. Muss die Branche innovationsfreudiger werden ?

Marzin: Wir müssen uns an den Bedürfnissen der ausstellenden Branchen orientieren. Dienstleistungen sind das Einzige, was wir aktiv beeinflussen können. Hier ist das deutsche Messewesen in den letzten Jahren sehr flexibel und innovativ gewesen. Nur ein Beispiel ist die Messe GC (Games Convention). Hier haben wir für eine neue Branche ein neues und überaus erfolgreiches Messekonzept entwickelt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Interview: Ruth Vierbuchen

SZ-Beilage Messewirtschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Hohe Ziele

Fränkische Aufholjagd

Nürnberg setzt auf spezielle Fachmessen und gezielte Zukäufe

Markus Söder ist bestens gelaunt an diesem Vormittag. Einstmals als CSU-Generalsekretär der Lautsprecher seiner Partei, ist der Nürnberger seit Herbst vorigen Jahres als bayerischer Umweltminister ins seriöse politische Fach gewechselt. Damit verbunden übernahm er den Aufsichtsratsvorsitz der Nürnberg-Messe. Seinen Ehrgeiz hat sich Söder jedoch bewahrt. Was er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als Aufsichtsratschef diplomatisch-zurückhaltend als "Weiterentwicklung Schritt für Schritt" bezeichnet, ist nicht weniger als eine unverhohlene Kampfansage an deutlich größere Städte wie Köln und Berlin.

Nürnberg, die fränkische Halbmillionenstadt, will nicht zuletzt mit Hilfe des Freistaates Bayern umsatzmäßig in die deutsche und damit auch in die Weltspitze des Messewesens aufsteigen. Es ist ein ehrgeiziges Programm, welches Söder und Messechef Bernd Diederichs an diesem Vormittag vor zahlreichen Medienvertretern verkünden. Nach einem Rekordjahr mit einem Umsatzplus von 20 Prozent auf 150 Millionen Euro will die Nürnberg-Messe bis 2020 ihren Jahresumsatz auf 300 Millionen Euro verdoppeln.

Der Auslandsumsatz soll sich im selben Zeitraum sogar auf 50 Millionen Euro versechsfachen. Aus momentan zehn Messen im Ausland sollen 40 werden. Und um all diese Ziele zu erreichen, wird kräftig investiert. 300 Millionen Euro stehen bis 2020 zur Verfügung um den Messe- und Kongressplatz Nürnberg auszubauen, vor allem aber, um im In- und Ausland Messen hinzuzukaufen. Es gehe nicht zuvörderst darum, neue Ausstellungsflächen zu schaffen und weitere Hallen zu bauen, sagen Söder und Diederichs. Denn spätestens die Finanzkrise habe gelehrt, "dass nicht automatisch der Größte, sondern der am besten Sortierte am Ende erfolgreich ist", sagt Söder. Momentan liegen die Franken unter Deutschlands Messeplätzen was den Umsatz angeht auf Rang sieben.

Hier wollen die Franken weiter aufholen. Und zwar mit der Fortführung des speziellen Nürnberger Messekonzeptes. Man konzentriert sich auf überschaubare, jedoch hoch spezialisierte Fachmessen. An diese angebunden ist in der Regel ein stark fachspezifisches Kongress-, Tagungs- und Seminarprogramm. Die Internationalität ist dabei nicht nur hoch, sondern quasi Prinzip. Jeder zweite Aussteller und fast 40 Prozent der Besucher kommen aus dem Ausland. Tendenz steigend.

Ein Paradebeispiel dafür ist die Bio-Fach. Als Öko-Regionalschau ist sie vor genau 20 Jahren gestartet und peu a peu zur größten und wichtigsten Messe für Bioprodukte weltweit geworden. Erfolgreich haben die Nürnberger Ableger in China, Japan, USA und Brasilien etabliert; 2009 kommt die erste Bio-Fach in Indien dazu. Es hat etwas gedauert, bis die Franken Sinn und Zweck solcher Auslandsaktivitäten erkannten. Nürnberg traute sich später als andere Messegesellschaften über die Landesgrenzen.

Künftig allerdings soll ein gerüttelt Maß des Geschäftes im Ausland generiert werden. "Wir wollen nicht nur eigene Messen exportieren, sondern auch Zukäufe tätigen", sagt Bernd Diederichs. "Letztendlich werden wir dahin gehen, wo unsere Kunden es wollen." Im Visier sind Nordamerika, Asien und der Mittlere Osten. In China und neuerdings in den USA hat man eigene Auslandsgesellschaften gegründet. "Wir können nur dorthin gehen, wo die Volkswirtschaft bereits stark ausdifferenziert ist", sagt Diederichs. Denn spezielle Fachmessen setzen voraus, dass es auf den regionalen Märkten auch entsprechende Spezialisten gibt.

Die 300 Millionen Euro, welche sie investieren will, wird die Nürnberg-Messe nach eigenem Bekunden zu einem Großteil selbst erwirtschaften. Jeweils die Hälfte des Betrages soll in Zukäufe von Messen und Messegesellschaften im In- und Ausland ausgegeben werden, die anderen 150 Millionen Euro will man in die Modernisierung des Nürnberger Messegeländes investieren. Uwe Ritzer

Dahin gehen wohin die

Kunden wollen - mit dieser Losung will man wachsen

Alles ess- und trinkbare in Bioqualität: Das ist das Kerngeschäft der Nürnberger Biofach-Messe. Diese Jahr öffnet eine Ableger erstmals seine Tore in Indien. Foto: Biofach

SZ-Beilage Messewirtschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Großmessen

Fröhlich unter Druck

Der aktuellen Wirtschaftskrise zum Trotz konnten viele Messegesellschaften im vergangenen Jahr noch kräftig zulegen

Von Ruth Vierbuchen

Messemanager zu sein zählt in schwierigen Zeiten wie diesen bestimmt nicht zu den schlimmsten Jobs. Durch ihr Bauchladengeschäft mit unterschiedlichsten Veranstaltungen sind sie zwar mit sehr vielen Branchen verbandelt, aber eben auch nicht von einer einzigen allein abhängig. Wenn zu Hause ein Bereich schwächelt, ergeben sich andere Möglichkeiten weltweit.

So können die deutschen Messechefs tatsächlich auf ein ausgesprochen erfolgreiches Messejahr 2008 zurückblicken. So sieht man der Umsatzstatistik der elf größten deutschen Messeveranstalter mit eigenem Gelände denn auch kaum an, dass bereits im vergangenen Jahr der Weltwirtschaft die größte Krise seit den zwanziger Jahren ins Haus stand. Der weit überwiegende Teil der Gesellschaften konnte - teilweise sogar kräftig - zulegen. Lediglich im Bereich der "Big Seven", die in der Gemeinschaft Deutscher Großmessen e. V. (GDG) zusammengeschlossen sind, zeigt sich ein gemischteres Bild: Während Frankfurt, Düsseldorf, Berlin und Nürnberg ihre Umsätze steigern konnten, mussten München und Köln Erlösrückgänge hinnehmen, die nicht nur programmbedingt waren. So kamen im vergangenen Jahr zu Veranstaltungen der Koelnmesse wie Domotechnica (Hausgeräte), Spoga+Gafa (Sport, Camping und Lifestile im Garten) oder der Fahrradmesse Ifma deutlich weniger Aussteller und Besucher, in München schwächelten die Handwerksmesse sowie die Computermesse Systems.

Dass es der Branche insgesamt aber noch ganz passabel geht, zeigen die Kennzahlen für 2008. So verzeichneten die 153 überregionalen Messen nach Berechnungen des Ausstellungs- und Messe-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft (Auma) etwa zwei Prozent mehr Aussteller und Besucher als die jeweiligen Vorveranstaltungen; die vermietete Fläche wuchs um 1,5 Prozent. "Das ist zwar weniger Wachstum als im Vorjahr, aber wir können angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen zufrieden sein", sagt Hans-Joachim Boekstegers, Vorsitzender des Auma. In Umsatzzahlen ausgedrückt, beziffert der Verband das Messe-Marktvolumen für 2008 mit etwa 2,75 Milliarden Euro (Vorjahr 2,6). Dabei verleibten sich die "Big Seven" der Messegesellschaften mit einem Gesamterlös von etwa 1,93 Milliarden Euro (Vorjahr: 1,83) - entsprechend einem Marktanteil von 70 Prozent - das größte Stück vom Messekuchen ein.

Sich erst einmal gemütlich zurücklehnen dürfen die Messechefs aber dennoch nicht. Nach Auffassung von Experten ist die Branche vor dem Hintergrund der Rezession jetzt erst recht gefordert, mit Innovationen, Kooperationen sowie einer Internationalisierungsstrategie ihr Geschäft für die Zukunft abzusichern. "Den Messen ist klar, dass internationale Märkte auch in Zukunft große Chancen für ein umsatzstarkes Wachstum eröffnen", sagt Wolf M. Spryß, Leiter des Messe-Instituts in Laubenheim.

Daher setzen vor allem die Großmessen auf das Ausland als Wachstumsmotor. So erzielte die Messe Düsseldorf in den letzten drei Jahren im Schnitt ein Drittel ihres Umsatzes im Ausland, das entspricht für 2008 einem Volumen von etwa 150 Millionen Euro. Hauptumsatzbringer ist die Tochtergesellschaft in Brünn. Darüber hinaus zahlt sich der langjährige Einsatz in Russland aus. Auch die Messe Frankfurt hat in den letzten Jahren einen wachsenden Umsatz-Anteil in anderen Ländern erwirtschaftet. Inzwischen entfallen vom 2008er Konzernumsatz der Hessen (436 Milliarden Euro) mit 104 Milliarden Euro rund ein Viertel der Erlöse auf Veranstaltungen jenseits der Grenzen.

Auch die Nürnberg-Messe will zu den Gewinnern der Globalisierung gehören und ihren Auslandsumsatz bis 2020 von zuletzt gut fünf auf 50 Millionen Euro vervielfachen. Dazu werde "es notwendig sein, Tochtergesellschaften in allen wichtigen Weltwirtschaftsregionen zu gründen und weltweit Messen und Messegesellschaften zu kaufen", sagt Bernd A. Diederichs, Geschäftsführer der Nürnberg-Messe-Group.

Derart breit aufgestellt zeigen sich die Messelenker den düsteren Konjunkturprognosen zum Trotz zuversichtlich im neuen Messejahr. Natürlich werde die Finanzkrise am Messewesen nicht spurlos vorübergehen, sind sich viele Messechefs einig. "Dennoch erwarten wir kurzfristig keine größeren Beeinträchtigungen." Da Düsseldorf, so Werner M. Dornscheidt, nach dem umsatzstarken Jahr 2008 in 2009 ein turnusgemäß schwächeres Messejahr ohne große Industriemessen zu verzeichnen habe, würden die negativen Konjunktureffekte abgeschwächt. Für 2010 - wieder ein stärkeres Messejahr - seien die Prognosen für die Messeveranstaltungen wieder stabiler.

Leipzig-Messechef Wolfgang Marzin weist darauf hin, dass das deutsche Messewesen sich bisher als sehr robust gegenüber den aktuellen wirtschaftlichen Turbulenzen gezeigt habe. Die Messe Leipzig rechne mit weiterem Wachstum vor allem in den Themenfeldern Maschinenbau, Medizin und Gesundheit sowie im Kongressbereich. Auch Gerald Böse von der Koelnmesse zeigt sich optimistisch. Selbst wenn einige Wirtschaftszweige ihre Prognosen herunterschrauben sollten, würden sie nicht auf das Marketinginstrument Messe verzichten, das ihnen gerade in Zeiten schwieriger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen am schnellsten helfen könne.

Doch es gibt auch skeptische Stimmen. Michael von Zitzewitz von der Messe Frankfurt hält die Entwicklungen einzelner Branchen im Detail für nicht absehbar. Feststehe, dass der globale Nachfrageeinbruch auch die deutsche Industrie bereits erfasst habe, die Automobilwirtschaft zähle zu den deutlichsten Beispielen. Die historische Bankenkrise werde an keiner Branche spurlos vorüberziehen. Für Horst Penzkofer, wissenschaftlicher Referent am Münchner Ifo- Institut für Wirtschaftsforschung, ist klar: Wenn die gesamtwirtschaftliche Großwetterlage zu wünschen übrig lasse, seien auch bei den Messen Einbußen zu erwarten. Werner Delfmann, Vorstand des Kölner Instituts für Messewirtschaft und Distributionsforschung, schließt Kriseneinflüsse ebenfalls nicht aus, denn: "Messeveranstaltungen sind die Spiegel ihrer Märkte, sie werden als Branchenbarometer und als Katalysatoren verstanden."

Salomonischer klingt da die Einschätzung von Auma-Chef Boekstegers. Er hält die meisten Firmen für "klug genug", die Messepräsenz nicht wesentlich einzuschränken - denn es gehe ja gerade darum, das Geschäft durch Bindung der bestehenden Kunden und durch neue Kunden zu stabilisieren. Die bisherige Entwicklung zeige, dass die Messekonjunktur relativ robust sei und auf das ganze Jahr 2009 gerechnet ein konstantes Ergebnis erreichbar sein dürfte. Fazit für Ökonomen und Messemanager: Was immer auch an Ungemach kommt, Einknicken ist nicht erlaubt.

Die Großwetterlage bleibt schwierig vorherzusagen - Auswirkungen noch offen

Zu früh gefreut? Diese Frage beantworten viele Messen klar mit Nein. Foto: dpa

SZ-Beilage Messewirtschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Professionelle Weiterbildung

Ein neues Fortbildungsangebot wendet sich gezielt an Personen, die bereits in der Veranstaltungswirtschaft arbeiten und ihr fachspezifisches Knowhow vertiefen möchten. Das Programm mit dem Abschluss "Geprüfter Veranstaltungsfachwirt / Geprüfte Veranstaltungsfachwirtin" umfasst 660 Stunden und endet mit der Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer (IHK). Da in der Regel eine kaufmännische Ausbildung und Berufserfahrungen in der Veranstaltungswirtschaft vorausgesetzt werden, erhalten die Absolventen einen Abschluss, der im nicht-akademischen Bereich mit dem Bachelor vergleichbar ist.

Die neue Weiterbildung ist in zwei Teile untergliedert: Ein allgemeiner Teil vermittelt zunächst grundlegende wirtschaftliche Qualifikationen aus den Bereichen Volks- und Betriebswirtschaft, Recht und Steuern, Unternehmensführung und Rechnungswesen. Fach- und branchenspezifische Kenntnisse erwerben die Teilnehmer im zweiten, umfangreicheren Teil, darunter Marktanalyse, das Konzipieren sowie Planen, Durchführen und Nachbereiten von Veranstaltungen und die Akquisition von Kunden. Der Veranstaltungsfachwirt ersetzt den bisherigen Fachwirt für die Messe-, Tagungs- und Kongresswirtschaft. Der neue Abschluss wird bundesweit mit gleichen Inhalten angeboten und auch einheitlich geprüft. Die Einsatzmöglichkeiten sind zahlreich: etwa bei Messen und Ausstellungen, aber auch bei Kunst-, Kultur- oder Sportveranstaltungen. SZ

MESSEWIRTSCHAFT

Verantwortlich: Werner Schmidt

Redaktion: Friederike Nagel

Anzeigen: Jürgen Maukner

SZ-Beilage Messewirtschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Innere Gespenster

Eine Spätgeborene des Fin de siècle: Die Mailänder Poetin Laura Pozzi

Ihr kurzes Leben erinnert an einen Fin-de-siècle-Roman: Laura Pozzi wurde 1912 als Tochter einer großbürgerlichen Familie in Mailand geboren, führte ein typisches großbürgerliches Leben und litt an einer typischen großbürgerlichen Pathologie. Ihre Schwermut konnten selbst Klavierstunden, Zeichenunterricht, Opernbesuche, ein Haus in den Bergen, Wanderungen, Skitouren, Ausritte und Gedichte, die sie dann und wann niederschrieb, nicht vertreiben. Erst als sich Laura Pozzi auf dem Gymnasium in ihren Lehrer Antonio Maria Cervo verliebte und eine Beziehung mit ihm einging, schienen die inneren Gespenster vertrieben: das Du verspricht in ihren reimlosen Versen Erlösung. Ein gemeinsames Kind wäre Ausdruck der geglückten Symbiose: "Und wenn es geboren sein wird/ wirst du das Fenster öffnen/ damit wir die ganze Morgenröte/ sehen können - ".

Keine standesgemäße Verbindung, fanden die Eltern und verboten der Tochter den Umgang. An ein, zwei Menschen versuchte sich Laura Pozzi noch festzuhalten, doch mit sechsundzwanzig waren ihre Kräfte verbraucht; sie schluckte Gift und starb. In ihren über dreihundert posthum erschienenen Gedichten umkreist sie in knappen, entschlackten Versen ihren seelischen Zustand, stilisiert die Natur als einen Hort des Trostes und lässt das lyrische Ich in Verschmelzungssehnsüchten aufgehen. "Ich gebe dir mich selbst, / die jungfräuliche Sonne meiner Morgen / an märchenhaften Ufern /unter übriggebliebenen Säulen / und Olivenbäumen und Ähren." Die begeisterte Rilkeleserin knüpft an deutsche Traditionen ebenso an wie an italienische. Ihre Bildwelten überschneiden sich mit der so genannten "linea lombarda", einer Mailänder Spielart der Hermetik und gehen oft von konkreten Landschaften aus. Das ist literaturhistorisch zwar durchaus interessant ist, ästhetisch aber eher durchschnittlich. Anrührend ist vor allem die verzweifelte Einsamkeit der jungen Lyrikerin. MAIKE ALBATH

LAURA POZZI: Worte - Parole. Gedichte. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gabriella Rovagnati. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 336 Seiten, 24 Euro.

KURZKRITIK

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

KORREKTUREN

Auf der Literaturseite vom 23. Januar erhielt eine Dichterin einen falschen Vornamen: Die Verfasserin des Gedichtbands "Worte - Parole" heißt nicht Laura, sondern Antonia Pozzi.

Im Profil von Uli Edel (23. Januar, Seite 4) stand, dass der Film "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" 1989 in die Kinos kam. Tatsächlich geschah das bereits 1981. 1989 erfolgte der Start von Uli Edels Film "Last Exit to Brooklyn".

Im Kommentar "Washingtoner Realsozialismus" (26. Januar, Seite 4) wurde in der Reihe der Banken, sich "in Pleitezeiten die Verluste vom Steuerzahler bezahlen lassen", auch die Deutsche Bank genannt. Das ist falsch. Die Deutsche Bank hat die Rettungsmittel des Staates bisher nicht in Anspruch genommen und will dies erklärtermaßen auch nicht tun. Für eine entsprechende interne Äußerung ("Ich würde mich schämen, wenn ....") war Ackermann sogar heftig kritisiert worden.

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Das Audi-Quattro-Kunststück

Die Kfz-Steuer wird für einige Autos billiger - aber für kaum eines teurer

Das Bundeskabinett hat am Dienstag der Neuregelung der Kfz-Steuer auch formal zugestimmt. Danach wird die Autosteuer vor allem für sparsame Autos künftig teils deutlich sinken. Richtete sich die Steuer bisher nach Schadstoffklassen und Hubraum der Fahrzeuge, ist die Schlüsselgröße künftig der Kohlendioxid-Ausstoß. Hinzu kommt ein sogenannter Sockelbetrag, der sich nach Hubraum und Motorisierung der Autos richtet.

Und so funktioniert die Steuer: Alle Autos bekommen zunächst einen "Freibetrag" von 120 Gramm CO2. Eine Steuer wird nur fällig für jedes Gramm, das darüber hinaus geht. Sie liegt bei zwei Euro. Beispiel BMW 3er mit Zweiliter-Benzinmotor: Der Wagen stößt je Kilometer 146 Gramm CO2 aus, die Steuer fällt aber nur für jene 26 Gramm an, die über die 120-Gramm-Grenze hinaus gehen. Der CO2-Anteil liegt damit bei jährlich 52 Euro. Hinzu kommt der Hubraum-Anteil. Für einen Benziner sind hier je angefangene 100 Kubikzentimeter ebenfalls zwei Euro zu zahlen, für einen Dieselmotor 9,50 Euro. Heißt im Beispielfall: 40 Euro kommen für die zwei Liter Hubraum hinzu. Macht insgesamt 92 Euro.

Quasi in letzter Minute hatte sich die Koalition am Montag auf diese Formel verständigt. Sie verhindert, dass - wie von der Union gewünscht - große Autos mit viel Kohlendioxid-Emissionen von der Steuer begünstigt werden. Stattdessen zahlt nun der Besitzer eines Audi Quattro Q 7 mit Sechs-Liter-Maschine exakt genauso viel Steuer wie vor der Reform. Allerdings werden die Regeln schrittweise verschärft. Der Freibetrag sinkt 2012 auf 110 Gramm, 2014 auf 95 Gramm. Entsprechend steigt die Steuer für Autos, die mehr emittieren. Umweltschützer kritisierten die Reform dennoch. Dem Klima helfe die Regelung nicht, beklagte der Verkehrsclub Deutschland.

Für Altautos ändert sich durch die Reform ohnehin nichts. Die neue Steuer gilt nur für Neuwagen, die nach dem 1. Juli zugelassen werden - und dann auch erst mit Verzögerung. Im ersten Konjunkturpaket hatte der Bund die Kfz-Steuer auf neue Autos schon für bis zu zwei Jahre erlassen. miba

KFZ-Steuer in Deutschland Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Genügend Projekte

Städte wollen zusätzliches Geld rasch investieren

Berlin - Die Kommunen haben angekündigt, die Zuschüsse aus dem Konjunkturpaket rasch zu investieren. "Es gibt genügend fertige Projekte", sagte der Präsident des Deutschen Städtetages, Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD), am Dienstag in Berlin. Vor allem die Sanierung von Schulgebäuden und Kindergärten könne schnell angegangen werden. Voraussetzung sei aber, dass den Ausgaben nicht langwierige Antragsverfahren vorangehen müssten. Ude sprach sich für pauschale Zuweisungen an Städte und Gemeinden aus. Vor allem strukturschwache Kommunen profitierten vom Konjunkturpaket.

Insgesamt überweist der Bund 2009 und 2010 zehn Milliarden Euro zusätzlich an die Länder. 70 Prozent davon werden an die Kommunen weitergereicht. Die Länder stocken den Gesamtbetrag laut Städtetag noch einmal um 3,3 Milliarden Euro auf. Der Städtetag rechnet damit, dass damit 2009 etwa 6,7 Milliarden Euro zusätzlich etwa für die Modernisierung von Bildungseinrichtungen eingesetzt werden können. Mit Investitionen von knapp 21 Milliarden Euro waren Städte und Gemeinden 2008 größter Auftraggeber der öffentlichen Hand. In diesem Jahr wird der Betrag unter dem Strich aber nur leicht ansteigen.

Die Situation der Kommunen ist laut Städtetag sehr unterschiedlich. Allein in Nordrhein-Westfalen seien 100 Kommunen nicht mehr Herr ihrer Finanzen. Sie stünden unter Aufsicht, weil sie pleite seien. NRW erhält mit mehr als zwei Milliarden Euro auch den größten Teil aus dem Konjunkturpaket. Das reiche Baden-Württemberg muss sich dagegen mit gut 1,2 Milliarden Euro begnügen. Im Südwesten seien kommunale Finanzprobleme weitgehend unbekannt, im Osten dagegen die Regel, erläuterte Ude. "Nicht die geringste Sorge" hat Ude, dass die vorhandenen Mittel vollständig ausgeschöpft werden. Der öffentliche Druck und die Erwartungshaltung beim regionalen Bauhandwerk und bei den Bürgern seien sehr hoch.

2008 konnten sich die Städte und Gemeinden über wachsende Einnahmen freuen. Mit fast 176 Milliarden Euro lagen sie 3,8 Prozent über dem Vorjahreswert. Vor allem die Gewerbesteuer trug mit einem Plus von fast sechs Prozent auf 42 Milliarden Euro zu diesem Ergebnis bei. Im laufenden Jahr rechnen die Kommunen aufgrund des Konjunkturpakets mit einem weiteren Anstieg der Einnahmen auf 179 Milliarden Euro. Reuters

Finanzen deutscher Städte und Gemeinden Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Wir werden die Erinnerung wachhalten"

Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus / Zentralrat der Juden boykottiert die Veranstaltung

Von Nico Fried

Berlin - Bundespräsident Horst Köhler hat für weitere Anstrengungen plädiert, um das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten. "Ich sehe hier eine gemeinsame Aufgabe für alle in Deutschland, denen die Zukunft der Erinnerung wichtig ist", sagte Köhler am Dienstag in einer Feierstunde des Bundestages zum Holocaust-Gedenktag. Köhler versprach: "Wir Deutsche werden die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer wachhalten. Wir sehen einen Auftrag darin."

Die Veranstaltung war überschattet vom demonstrativen Fernbleiben des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dessen Generalsekretär Stephan Kramer sagte zur Begründung, jene Vertreter des Zentralrates, die den Holocaust überlebt hätten, seien in der Vergangenheit noch nie im Rahmen der Gedenkveranstaltung begrüßt worden. Dies habe die früheren Präsidenten Ignatz Bubis und Paul Spiegel ebenso betroffen wie die amtierende Präsidentin Charlotte Knobloch. "Ich hätte Verständnis, wenn wir über Vertreter der zweiten oder dritten Generation reden würden. Es ist aber ein Unding, dass Überlebende wie Zaungäste behandelt werden", sagte Kramer.

Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte 1996 den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" erklärt. Seither begeht der Bundestag jedes Jahr eine Gedenkstunde in Anwesenheit der führenden Vertretern aller Verfassungsorgane. Traditionell wird vor allem an persönliche Schicksale von Opfern erinnert.

Nach Angaben Kramers war der Zentralrat schon vor Jahren mit der Bitte an den Bundestag herangetreten, Überlebende des NS-Regimes zu begrüßen. Dieser Wunsch sei mit der Antwort zurückgewiesen worden, dass das Protokoll einen solchen Programmpunkt nicht vorsehe. "Da frage ich mich: Wäre das nicht ein vernünftiges, ein gutes, ein sinnvolles Signal, wenn eben hier vom Protokoll Abstand genommen wird und die anwesenden Überlebenden, solange sie noch da sind, begrüßt werden?", sagte Kramer. Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte nach Angaben eines Sprechers, er habe von der Beschwerde des Zentralrats über die Presse erfahren und finde sie "unverständlich und bedauerlich".

Köhler sprach sich in seiner Rede insbesondere dafür aus, bei Jugendlichen in und außerhalb der Schule das Interesse für die Geschichte zu wecken. "Wir wollen erreichen, dass die Seele jedes Menschen berührt wird vom Leid der Opfer, vom Mut der Helfer und von der Niedertracht der Täter. Das ist unser gemeinsamer Auftrag", sagte der Bundespräsident. Er würdigte namentlich mehrere Projekte in Deutschland, die sich mit der Erinnerung an die NS-Zeit oder an jüdisches Leben befassen. "Ich wünsche mir, dass die vielen guten Erinnerungsprojekte, die es bereits gibt, immer neue Nachahmer und Nachfolger finden", sagte Köhler. Als Geschenk bezeichnete er es, "dass heute in Deutschland wieder jüdisches Leben erblüht". Dass die entsprechenden Orte aber von der Polizei vor Extremisten geschützt werden müssten, sei "eine Schande", sagte der Bundespräsident unter dem Applaus aller Fraktionen. Köhler rief zur Solidarität mit den jüdischen Landsleuten auf. "Wer sie angreift, greift uns alle an", sagte er.

Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte, der 27. Januar sei mehr als nur der Auftakt zu einer Reihe von Gedenkveranstaltungen im Jahr 2009. "Er verbindet die kommenden Gedenktage wie ein roter Faden, weil das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus jeden der Gedenktage begleiten wird", sagte Lammert unter anderem mit Blick auf den 60. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik. Lammert, der während seiner Rede kurzzeitig sichtlich berührt um Fassung rang, bezeichnete es als Aufgabe "der Nachgeborenen, dafür Sorge zu tragen, dass wir solche Zeiten nie wieder erleben".

"Stellen wir uns an die Seite unserer jüdischen Landsleute. Wer sie angreift, greift uns alle an"

Bundespräsident Horst Köhler

Der Zentralrat der Juden beklagt, seine Vertreter seien in den vergangenen Jahren nur "wie Zaungäste" behandelt worden. Dennoch besuchten auch in diesem Jahr Rabbiner die Gedenkstunde im Bundestag. Foto: dpa

Zentralrat der Juden in Deutschland Holocaust-Gedenktag SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Krise, Krise... (1.Forts.)

China im Fokus: Bundeskanzlerin Angela Merkel, 54, trifft sich nach dem Weltwirtschaftsforum in Berlin mit dem chinesischen Premierminister Wen Jiabao.

Wladimir Putin, russischer Ministerpräsident, hält am Mittwoch eine der Eröffnungsreden. Von 2000 bis 2008 war der heute 56-Jährige Präsident seines Landes.

Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, ist weltbekannt. Der 60-Jährige leitet die Diskussionsrunde über die europäische Wirtschaftspolitik.

Siemens-Chef Peter Löscher, 51, spricht in Davos über die Führung von Gemeinschaften in der Wirtschaftskrise. Er steht seinem Konzern seit Juli 2007 vor.

Jean-Claude Trichet ist seit 2003 Präsident der EZB. Davor war der 66-Jährige Chef der französischen Nationalbank. Er skizziert Szenarien des Weltfinanzsystems.

Stephen King leitet bei der Großbank HSBC die Bereiche Volkswirtschaft und Strategie. Der Brite warnte bereits 1999 vor Überbewertungen an den Finanzmärkten.

Über die Krisen der Welt spricht Gareth Evans, Präsident der International Crisis Group. Der 64-Jährige war von 1988 bis 1996 Außenminister Australiens.

Sir Martin Sorrell, 64, ist Präsident und Gründer des britischen Medienkonzerns WPP. Er diskutiert die Wirtschaftskrise und die Lehren, die aus ihr zu ziehen sind.

SZ-Beilage Thema Davos 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bahn will Warnstreiks noch abwenden

Personalvorstand Hansen: Lösung am Verhandlungstisch suchen / Ausstand soll am Donnerstag beginnen

Von Detlef Esslinger

München - Die Deutsche Bahn hält die Warnstreiks der Gewerkschaften Transnet und GDBA am Donnerstag für "unangemessen". Dies teilte Bahn-Personalvorstand Norbert Hansen am Dienstag den Verhandlungsführern der beiden Gewerkschaften, Alexander Kirchner und Heinz Fuhrmann, in einem Brief mit. Er biete weiterhin an, die Lösung am Verhandlungstisch zu finden. "So können wir gemeinsam schnellere und größere Erfolge erzielen als in einer Konfliktsituation, die unnötig zu einer Verhärtung der Verhandlungsposition führt", schrieb Hansen. Die Tarifverhandlungen werden am heutigen Mittwoch in Frankfurt am Main fortgesetzt.

Welchen Umfang die für Donnerstag geplanten Warnstreiks haben, wollen Transnet und GDBA erst am Mittwochnachmittag bekanntgeben. Damit wollen sie es der Bahn erschweren, sich auf die Streiks einzustellen. Formal protestieren beide Gewerkschaften dagegen, dass - nach ihren Angaben - die Verhandlungen über bessere Arbeitszeiten nicht vorankommen. Sie verhandeln zwar auch über Lohnerhöhungen; bei dem Thema befinden sie sich jedoch noch bis zum 31. Januar in der Friedenspflicht. Über Arbeitszeit und Löhne verhandelt die Bahn nicht nur mit diesen beiden Gewerkschaften, sondern auch noch separat mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Die GDL will jedoch in dieser Woche nicht zu Warnstreiks aufrufen.

In seinem Brief an Kirchner, den Vorsitzenden von Transnet, und Fuhrmann, den Vize der GDBA, sprach Bahn-Vorstand Hansen von "intensiven Beratungen" in der vergangenen Woche. Diese seien "Ausdruck unseres Einigungswillens". Es seien auch deutliche Fortschritte erzielt worden, und ihm sei klar, dass es bei "einigen" Arbeitszeit-Themen am heutigen Mittwoch zu Lösungen kommen müsse. Dies sehe er aber als realistisch an. Einen ähnlichen Brief schrieb Hansen auch an GDL-Chef Claus Weselsky, der die bisherigen Gespräche als "ergebnislos" bezeichnet hatte. Diese Einschätzung habe ihn "sehr erstaunt", schrieb Hansen.

Kirchner reagierte auf den Brief mit der Forderung an die Bahn, ihr Angebot "entscheidend" zu verbessern. Der Süddeutschen Zeitung sagte er, nur in diesem Fall seien Warnstreiks noch abzuwenden. Die Bahn sei den Gewerkschaften "in einigen Punkten entgegengekommen, die für uns nicht die höchste Priorität haben - aber in wesentlichen Punkten ist sie uns gerade nicht entgegengekommen".

Bei den Verhandlungen über die Arbeitszeiten geht es vor allem um bessere Dienstpläne. Viele Bahn-Mitarbeiter beklagen, dass sie manchmal erst nach Schichtende erführen, wann ihre nächste Schicht beginne, außerdem wollen sie mindestens zwölf freie Wochenenden im Jahr. Darüber hinaus fordern die Gewerkschaften Lohn-Erhöhungen von zehn Prozent.

Hansen, Norbert Transnet Gewerkschaft GdED Deutsche Bahn AG DB: Arbeitsbedingungen Tarifverhandlungen der Eisenbahner in Deutschland Streiks der Eisenbahner in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Datendiebstahl in Großbritannien

London - Bisher waren es vorzugsweise Regierungsbehörden, die sich in Großbritannien eines schlampigen Umganges mit Bürgerdaten schuldig machten: Mal traf es Führerscheinanwärter, mal Armeeangehörige, oder, im bislang schwersten Fall, 25 Millionen Kindergeld-Empfänger im Vereinigten Königreich. Das Finanzamt hatte ihre auf CD gespeicherten, persönlichen Daten der Post anvertraut, wo sie spurlos verschwanden.

Nun aber wurde erstmals eine private Firma in Großbritannien Opfer eines gewaltigen Datendiebstahls. Monster.co.uk, der britische Ableger der amerikanischen Job-Internetseite Monster.com, musste eingestehen, dass sich Hacker illegal Zugang zu den Daten von bis zu 4,5 Millionen Nutzern verschafft hätten. Namen, Kenn- und Passwörter, Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Geburtsdaten und andere nicht näher spezifizierte "demographische Informationen" seien gestohlen worden.

Monster ist die größte Arbeitsvermittlungs-Website der Welt. Arbeitgeber haben dort die Möglichkeit, die Lebensläufe Tausender Bewerber anzusehen. Die Zahl der Nutzer hat sich angesichts der Wirtschaftskrisein den vergangenen Monaten deutlich erhöht. Nun hat der Betreiber der Seite alle Nutzer aufgefordert, vorsorglich ihre Passwörter zu ändern. Doch dafür könnte es nach Ansicht von Datenexperten bereits zu spät sein.

4,5 Millionen Internet-Nutzer

Spezialisten der Londoner Tageszeitung Times erklärten, die Datendiebe könnten die entwendeten Informationen dazu nutzen, Bankkonten zu eröffnen und Kredite im Namen argloser Monster-Nutzer zu beantragen. Auch Graham Cluley von der IT-Sicherheitsfirma "Sophos" nannte den Datenklau bei der Job-Seite eine "grauenerregende Sicherheitslücke". "Die Informationen, die sie sich erschlichen haben, können für alles mögliche Unheil missbraucht werden", sagte er. Hinzu käme, dass nach Erhebungen seiner Firma rund 40 Prozent aller Internet-Nutzer ein und dasselbe Passwort für den Zugang zu verschiedenen anderen Seiten verwenden. "Mit diesen Passwörtern könnten sich die Hacker nun Zugang zu E-Mail- oder Bankkonten verschaffen", sagte Cluley.

Monster.com ist nicht zum ersten Mal Opfer einer Hacker-Attacke geworden. Schon im August 2007 infizierte eine Gruppe russischer Krimineller namens "Phreak" die Datenbank der Jobvermittlung mit einem Virus, das die Daten von mehr als 1,6 Millionen Kunden in den USA abschöpfte. Diese Daten verkaufte die Bande dann für umgerechnet 350 Euro pro Satz. Wolfgang Koydl

Datenmißbrauch in Großbritannien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Eine Frage des Tiefgangs

Hamburg beklagt, dass Niedersachsen das Ausbaggern der Elbfahrrinne ausbremst

Von Jens Schneider

Hamburg - Wenn Axel Gedaschko seine Sorgen beschreibt, klingt das nach einem Spagat zwischen der großen weiten und der kleinen norddeutschen Welt, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Immer häufiger, sagt Hamburgs Wirtschaftssenator, bekomme die Stadt Anfragen etwa aus Fernost. Große asiatische Reedereien wollten wissen, wann es endlich so weit sei mit der Vertiefung der Fahrrinne der Elbe. Ohne den Ausbau könnten ihre großen Containerschiffe nicht voll beladen von der Mündung nach Hamburg fahren. "Erklären Sie mal einer chinesischen Staatsreederei die Lage in Niedersachsen", sagt der Christdemokrat und klingt, als ob er es lieber gar nicht versuchen möchte. Schon weil ihm selbst nicht einleuchtet, warum alles länger dauern soll.

Die Hamburger sind, milde gesagt, verstimmt über das Nachbarland, aber auch über das Bundesverkehrsministerium in Berlin. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und sein Wirtschaftssenator argwöhnen, dass das Projekt Elbvertiefung von Berlin nicht beherzt genug vorangetrieben und von Niedersachsen sogar ausgebremst wird. Es gibt handfesten Streit. Vergeblich bat Beust die Parteifreunde in Niedersachsen, sie sollten sich "mal einen Ruck geben". In Hamburg fragt man, ob Niedersachsens CDU-Chef David McAllister, ein Vertrauter von Regierungschef Christian Wulff, aus taktischen Gründen blockiert.

Die Elbvertiefung verzögert sich seit Jahren. Eigentlich sollten 2007 die ersten Bauarbeiten beginnen. Zuletzt hoffte Hamburg auf einen Start Ende dieses Jahres. "Langsam kommen uns aber Zweifel angesichts der Geschwindigkeit", klagt Gedaschko über fehlendes Engagement in Berlin und Hannover. "Wenn es so weiter geht, fangen wir frühestens Mitte 2010 an."

Bei der Vertiefung soll die Fahrrinne zwischen Hamburg und der Elbmündung um 1,50 Meter ausgebaggert werden, damit auch Schiffe mit einem Tiefgang von 14,50 Meter passieren können. Gegen das Projekt gibt es massiven Widerstand von Umweltverbänden und Bürgern, die an der Elbe wohnen. Rund 7200 Einwendungen zum Planfeststellungsverfahren muss das Projektbüro abarbeiten. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) steht zwar hinter dem Projekt. Doch in Hamburg ist der Eindruck entstanden, dass nicht mit dem nötigen Eifer gearbeitet wird. Der Bürgermeister hat Tiefensee sogar Personal angeboten, damit die Einwendungen abgearbeitet werden können. Aber das ist nicht alles. Gedaschko vermisst eine intensive Kommunikation auf der Chefebene zwischen Berlin und Hannover.

Das Misstrauen der Hamburger gegen die Niedersachsen ist groß. So wird der Verdacht gehegt, dass die guten Nachbarn aus Eigeninteresse bremsen - mit Blick auf den im Bau befindlichen Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven, den große Containerschiffe bald ansteuern könnten. Auch hat man bemerkt, dass CDU-Chef McAllister seinen Wahlkreis in einer Region hat, in der der Widerstand am größten ist.

Die schwarz-gelbe Regierung in Hannover kommentiert all das dagegen unaufgeregt. CDU-Chef McAllister verweist wie Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) auf das laufende Planfeststellungsverfahren. Erst danach könne Niedersachsen eine Stellungnahme abgeben. Es gehe schließlich um die Frage, so Sander, "ob die Sicherheit der Menschen hinter dem Deich gewährleistet ist". Vorher werde es kein Zeichen dafür oder dagegen geben. Überhaupt müssten erst einmal die Schäden behoben werden, die nach der letzten Elbvertiefung im Jahr 1999 an den Deichen entstanden seien. Nicht vor Ende dieses Jahres sei mit einem Entwurf für den Planfeststellnungsbeschluss zu rechnen, sagt ein Sprecher der Planungsgruppe. Danach hätten erst mal die Länder Zeit zu prüfen.

Damit große Containerschiffe Hamburg erreichen, soll die Fahrrinne ausgebaggert werden. Es wäre bereits die neunte Elbvertiefung. Foto: dpa

Hamburger Hafen und Logistik AG HHLA: Investition SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Geschlossenheit bei Guantanamo

Minister wollen Streit über Häftlinge entschärfen

Berlin - Der Kompetenzstreit von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) um die Aufnahme von Häftlingen aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo ist offenbar entschärft. Bei einem Treffen am Rande der Kabinettssitzung am Dienstag vereinbarten beide, sich in der Frage künftig eng abzustimmen. Grundsätzliche Einigung erzielten die Minister aber nicht. Sobald die Bundesregierung konkrete Anfragen aus den USA erreichten, sollten gemeinsam "verantwortungsvolle Entscheidungen getroffen werden", hieß es aus Regierungskreisen. Auch Fragen der "transatlantischen Zusammenarbeit sollten berücksichtigt werden", teilte das Auswärtige Amt mit. Im Fall einer Anfrage müsse klar sein, warum die Aufnahme nicht in den USA erfolgen könne, hieß es aber aus dem Innenministerium.

Steinmeier hatte die Aufnahme unschuldiger Häftlinge aus dem Lager in Aussicht gestellt, um die von US-Präsident Barack Obama verfügte Schließung des Lagers zu unterstützen. Auch wenn sich Europa nicht um die Aufnahme von Gefangenen reiße, so sei es doch eine Frage der Glaubwürdigkeit, "ob wir die Auflösung des Lagers in den USA unterstützen oder nicht", hatte Steinmeier am Rande eines EU-Außenministertreffens zu Wochenbeginn gesagt. Er strebe eine gesamteuropäische Lösung an.

Schäuble hatte Steinmeier vorgehalten, die Zuständigkeit der Innenminister von Bund und Ländern in der Frage zu missachten. Im Fernsehsender Phoenix wiederholte Schäuble seine grundsätzliche Kritik an der Diskussion. "Es ist schon eine amerikanische Entscheidung gewesen und zwar eine falsche. Die Amerikaner haben jetzt entschieden, sie wollen es beenden - und dann wollen wir mal sehen, was sie daraus machen", sagte er. Er verstehe, dass Gefangene unter Umständen nicht in ihre Heimatländer zurückgeführt werden könnten. "Aber dann haben die Amerikaner die Verantwortung, die haben Guantanamo eingerichtet", betonte Schäuble. "Wir tun ja im Moment so, als tragen wir die Verantwortung für Guantanamo, und das ärgert mich", kritisierte der Innenminister. Er räumte aber ein: "Wenn wir eine deutsche Verantwortung haben, dann müssen wir das genau anschauen." Bisher habe ihm aber niemand gesagt, "warum jemand nicht in Amerika bleiben kann, weil er dafür zu gefährlich ist und deswegen nach Deutschland kommen muss."

"Als nicht vermittelbar", bezeichnete der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Werner Langen, eine mögliche Aufnahme von Guantanamo-Häftlingen. Von ihnen könne ein Risiko ausgehen. Sie dürften nicht "grundsätzlich als unschuldige Opfer verharmlost werden". Daniel Brössler

Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Größte Spenden an die CSU

Berlin - Die drei mit Abstand größten Einzelspenden an politische Parteien sind im vergangenen Jahr an die CSU geflossen. So erhielt die CSU im April 2008 vom Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie 540 000 Euro. Unmittelbar vor der Landtagswahl Ende September bekam sie noch einmal von zwei Spendern vergleichsweise hohe Summen, so von der Clair Immobilien GmbH in München 430 000 Euro und von der Mercator Verwaltungs GmbH, ebenfalls mit Sitz in München, 390 000 Euro. Das geht aus einem Bericht der Bundestagsverwaltung hervor. Nach dem Parteienfinanzierungsgesetz müssen alle Parteien dem Bundestagspräsidenten Spenden von mehr als 50 000 Euro melden, die zeitnah auch veröffentlicht werden.

Zu den Großspendern gehörten im vergangenen Jahr erneut die Banken, die Automobilindustrie und Versicherungen, die meisten allerdings verteilten ihre Spenden auf mehrere Parteien. So erhielten CDU und SPD von der Commerzbank je 100 000 Euro, die Deutsche Bank unterstützte FDP und CDU mit je 200 000 und die SPD mit 100 000 Euro. Der Daimler-Konzern überwies an CDU und SPD je 150 000 Euro, während BMW das Geld auf CDU (rund 71 000), SPD (rund 141 000), CSU (gut 134 000) und FDP (gut 61 000 Euro) verteilte. steb

Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU): Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Dialog mit Juden 100 Jahre zurückgeworfen"

Empörung über Wiederaufnahme des Holocaust-Leugners Williamson in die Kirche

Von Julius Müller-Meiningen

Rom - Jüdische Organisationen haben am Dienstag eine klare Distanzierung des Vatikans vom traditionalistischen Bischof und Holocaust-Leugner Richard Williamson gefordert. Der Oberrabbiner von Triest, Ytzhak Margalit, sagte am Rande einer Feier anlässlich des Holocaust-Gedenktages in Triest, Papst Benedikt habe den Dialog mit dem Juden "um 100 Jahre zurück geworfen". Die Vorsitzende des Deutschen Zentralrats, Charlotte Knobloch, sagte, sie sehe den Dialog mit der katholischen Kirche in Gefahr: "Für mich als Überlebende ist momentan das Gespräch nicht fortzusetzen", sagte sie dem Fernsehsender N24. Der Vatikan müsse sich überlegen, inwieweit er die mühsam wieder errichteten Verbindungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum fortführen möchte. Knobloch sagte außerdem, sie hoffe, dass der Vatikan die Rehabilitierung Williamsons rückgängig mache.

Der britische Bischof Williamson hatte in einem vergangene Woche ausgestrahlten Fernseh-Interview die Opfer des Holocaust auf 200 000 bis 300 000 beziffert und die Existenz von Gaskammern geleugnet. Am Samstag veröffentliche der Vatikan ein Dekret, nach dem die Exkommunikation von Williamson und drei weiteren Bischöfen der traditionalistischen Pius-Bruderschaft aufgehoben sei. Wie am Dienstag bekannt wurde, will wegen des Dekrets auch die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland ihren Dialog mit dem Vatikan abbrechen. "Die Brücken, die in der Vergangenheit gebaut worden waren, sind jetzt zum Einstürzen gebracht worden", sagte der Düsseldorfer Rabbiner Julian-Chaim Soussan bei einer Tagung in Berlin.

Am Montag hatte sich die Deutsche Bischofskonferenz von Williamson distanziert. Auch mehrere Vertreter des Vatikan nannten die Äußerungen Williamsons "nicht akzeptabel". Jüdische Organisationen fordern deutlichere Gesten, auch von Papst Benedikt XVI. selber.

Der Römische Oberrabbiner Riccardo Di Segni nannte die Aufhebung der Exkommunikation für Williamson einen Grund für Beunruhigung in der gesamten jüdischen Welt. Di Segni sagte, er habe Benedikt XVI. zu einem Besuch in der römischen Synagoge eingeladen. Eine solche Visite wäre ein klares und unmissverständliches Zeichen.

In einem Interview mit der Zeitung La Repubblica bezeichnete der Schweizer Theologe Hans Küng das Gnadendekret für die traditionalistischen Bischöfe als Anzeichen für eine "zunehmende Verhärtung des Vatikans", der sich auf einem stetigen Weg zurück befinde. Am Dienstag wurde im Vatikan erstmals Kritik an dem Vorgehen der Kirche laut. Insider sprachen von einer „Kommunikationspanne" und von einem "Fehler". Die italienische Bischofskonferenz stellte sich hinter den Papst. Der Vorsitzende, Kardinal Angelo Bagnasco, begrüßte die Rücknahme der Exkommunikation als "Akt der Barmherzigkeit". Die Äußerungen Williamsons bezeichnete Bagnasco als "nicht fundiert und unmotiviert".

Unterdessen versucht der Vatikan mit Hilfe seiner Presse-Organe, die Debatte über Williamson zu begrenzen. Die Vatikan-Zeitung Osservatore Romano brachte in ihrer Dienstagsausgabe zwei Seiten zum Holocaust-Gedenktag. In einem Kommentar hieß es, die Medien erweckten den falschen Eindruck, dass der Papst das Gespräch mit dem Judentum oder die Ökumene in Frage stelle. Die Aufhebung der Exkommunikation sei allerdings "nach einem falschen Drehbuch abgelaufen".

Die Debatte um die Rehabilitierung der vier Bischöfe wirft auch einen Schatten auf eine für Mai geplante Israel-Reise des Papstes. Der deutsche Kardinal Walter Kasper sagte, die Reise sei nicht von der Diskussion über Williamson abhängig. Nur die Entwicklung in Gaza könnte die Reisepläne beeinträchtigen.

Papst Benedikt XVI. hat mit seinem Gnadendekret für vier Bischöfe einen Proteststurm ausgelöst. Foto: AP

Benedikt 16, Papst Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum Katholische Bischöfe Leugnen des Holocaust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Blackout im Weißen Haus

Ein Server-Absturz katapultiert das Team von Präsident Obama ins 20. Jahrhundert

Sie stehen im Ruf, die kommunikative Avantgarde Amerikas zu sein. Und sie sitzen, seit nun fast einer Woche, im Machtzentrum der Nation. Und doch fand sich das "Team Obama", die Schar allzeit vernetzter, Blackberry-bewaffneter Vertrauter des 44. amerikanischen Präsidenten, einen knappen Tag lang sehr fern von dieser Welt. Denn tief drinnen im Weißen Haus war passiert, was schlicht nicht passieren darf: Gleich vier Email-Server auf einmal stürzten ab und warfen die neue Regierung zurück ins 20. Jahrhundert.

Die Mail-Sperre, so versicherte das Weiße Haus am Dienstag, habe "zu keiner Zeit irgendeine Gefahr" bedeutet. Die meisten Mitarbeiter griffen schlicht altmodisch zum Telefon und erledigten ihre Absprachen mündlich. Zugleich stieg die Zahl der Kollegen, die im Westflügel mit dem Handy in der Hand beim Tippen knapper SMS-Nachrichten beobachtet wurden. Besonders arg betroffen war die Pressestelle des Weißen Hauses, die die goldenen Worte ihres Präsidenten zu Umwelt- und Klimaschutz nicht wie gewohnt elektronisch und zellulosefrei unters Volk bringen konnte. Stattdessen verteilten Mitarbeiter wie anno dazumal die Obama-Rede per Abschrift auf Papier. Schätzungen, wie viele Bäume wegen der Panne sterben mussten, mochte das Weiße Haus nicht riskieren.

Anonym gestand ein Obama-Helfer der Washington Post, der Techno-Absturz habe die Sozialkontakte im Hause durchaus positiv befördert. Viele Mitarbeiter kannten sich bisher nur per Email und sahen sich am Montag gezwungen, ihren Kollegen erstmals in die Augen zu schauen. Einige Begegnungen verzögerten sich jedoch, da manche Novizen sich auf den Gängen des alten Gebäudes schlicht verirrten.

Nicht bekannt ist, wie Präsident Barack Obama selbst den Email-Entzug verkraftete. Obama hatte nach langem Hader mit dem Secret Service durchgesetzt, dass er im Amt einen (mit allerlei Sicherheitsfiltern aufgerüsteten) Blackberry behalten durfte. Sein Pressesprecher Robert Gibbs versicherte nur, er habe dank des Blackouts "den stressfreiesten Tag seit fünf Jahren" genossen. cwe

e-mail SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Brown verliert an Zuspruch

Britische Konservative legen in Umfragen deutlich zu

Von Wolfgang Koydl

London - Der Absturz in der Wählergunst kam ebenso rasch wie der Aufstieg vor wenigen Monaten: Die Briten haben kein Vertrauen mehr in ihren Premier Gordon Brown, den sie noch kurz vor der Jahreswende als vertrauenswürdigen und erfahrenen Retter aus wirtschaftlicher Krise und Not betrachtet hatten. Nach zwei soeben veröffentlichten Umfragen haben die oppositionellen Konservativen ihren Vorsprung gegenüber der regierenden Labour-Partei auf mehr als zehn Prozentpunkte ausgebaut.

Nach der vom Labour-freundlichen Guardian veröffentlichten Erhebung würden 44 Prozent der Wähler für die Torys stimmen, ein Zuwachs um sechs Prozentpunkte seit Dezember. Labour käme auf 32 Prozent und würde seine Mehrheit im Unterhaus verlieren. Die Liberaldemokraten würden abgeschlagen mit 16 Prozent auf dem dritten Platz landen. Nach dem britischen Mehrheitswahlrecht könnte Tory-Führer David Cameron 360 Sitze im Parlament erwarten; Labour würde nur mehr 240 Abgeordnete stellen. Noch deutlicher fällt eine Umfrage aus, die von der Tageszeitung The Independent in Auftrag gegeben wurde. Danach käme Labour nur auf 28 Prozent; die Mandatsmehrheit der Konservativen läge bei 120 Sitzen.

Besonders besorgniserregend für Brown muss es sein, dass er und Schatzkanzler Alistair Darling den Kompetenzvorsprung in Wirtschaftsfragen verspielt haben. Auf die Frage, wem sie eher zutrauen, die Nation aus der Krise zu führen, gaben die Wähler Cameron und seinem wirtschaftspolitischen Sprecher George Osborne mit 37 Prozent den Vorzug vor dem Regierungsteam mit 35 Prozent. Hinter dem kleinen Vorsprung verbirgt sich indes die Tatsache, dass Brown und Darling noch vor zwei Monaten bei 46 Prozent Zustimmung lagen.

Brown, Gordon: Image SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Neue Gewalt im Gaza-Streifen

Israelischer Soldat stirbt bei Bombenanschlag

Tel Aviv - Trotz der Waffenruhe zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas ist es am Dienstag zu einem tödlichen Anschlag auf eine israelische Militärpatrouille gekommen. Neun Tage nach dem Ende der Militär-Offensive wurden durch eine ferngezündete Bombe ein Soldat getötet und drei verletzt. Die Soldaten waren entlang der Grenze zum Gaza-Streifen nahe Kissufim unterwegs. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak sagte: "Wir werden darauf antworten." Außenministerin Tzipi Livni rief zu einem Vergeltungsschlag auf. Am Mittag durchbrach ein israelisches Kampfflugzeug über der Stadt Gaza die Schallmauer, was als Warnung gedeutet wurde. Israelische Medien berichteten, Hamas-Mitglieder hätten Regierungsgebäude aus Angst vor israelischen Vergeltungsschlägen geräumt. Außerdem drangen israelische Soldaten auf der Suche nach den Angreifern in den Gaza-Streifen vor. Nach israelischen Rundfunkangaben lieferten sich Soldaten und bewaffnete Palästinenser heftige Gefechte. Dabei wurden zwei Palästinenser getötet.

Als Reaktion auf den Angriff wurden die Grenzübergänge in den Gaza-Streifen für Transporte von Hilfsorganisationen gesperrt. Der Hamas-Funktionär Muschir al Masri sagte, seine Organisation habe nicht einen umfassenden Waffenstillstand, sondern nur eine Kampfpause zugesagt. "Die Zionisten sind verantwortlich für jede Aggression." Israel und die Hamas hatten am 18. Januar unabhängig voneinander eine Waffenruhe ausgerufen. Damit endete eine dreiwöchige israelische Militäroffensive mit dem Ziel, fortdauernde Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen sowie den Waffenschmuggel an der Grenze zu Ägypten zu stoppen. In dem Krieg wurden 1300 Palästinenser und 13 Israelis getötet. Der türkische Außenminister Ali Babacan hat die Hamas aufgefordert sich zu entscheiden, ob sie "eine bewaffnete Organisation oder eine politische Bewegung sein wollen." mitz

Kampfhandlungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Manche glauben, dass wir blöd sind"

Sechs Kassiererinnen berichten über gute und schlechte Zeiten an ihrem Arbeitsplatz

Andrea Schulte, 43, Edeka-Center in Minden: "Als Kassiererin wird man schnell berühmt. Ich arbeite jetzt seit vier Jahren an der Kasse und werde im Viertel inzwischen oft auf der Straße oder beim Bäcker erkannt. ,Ach, Sie kaufen auch hier ein? Das ist ja nett', sagen die Leute dann. Leider gibt es auch Kunden, die einen von oben herab behandeln. Neulich wollte ich einem Herrn den Gebrauch eines Wasserkochers erklären, aber der schnauzte mich nur an: ,Das brauchen Sie mir nicht erklären, ich bin Ingenieur!' Ich versuche dann, so etwas nicht persönlich zu nehmen und mich aufs Kassieren zu konzentrieren. Wir haben intern nämlich einen kleinen Wettbewerb laufen. Wer ist die Schnellste? Die ganz Guten schaffen 30 Posten pro Minute. Das will ich auch mal können."

Balbina Plaschka, 77, Tengelmann in München: "Ich liebe die Kasse! Es ist der beste Ort im Markt, da ist das Meiste los. Manche Kunden stellen sich extra bei mir an, ich bin eine feste Bezugsperson in ihrem Leben. Kein Wunder, ich mache das auch schon seit mehr als 30 Jahren, jetzt bessere ich damit meine Rente auf. Manche Kunden maulen mich an, einfach so. Denen sage ich: ,Jetzt benehmen Sie sich mal!' Für meinen Chef ist das in Ordnung, er weiß, dass mich viele Kunden gerade für mein loses Mundwerk mögen. Über einen aber habe ich mich mal wahnsinnig geärgert. Irgendetwas gefiel ihm nicht an mir, und er hat sofort ein Fax an die Filialleitung geschickt. Ich bin zu dem hin, seine Adresse stand ja auf dem Fax und habe geklingelt. Als er die Tür öffnete, habe ich gefragt: ,Was passt Ihnen an mir nicht?' Er war total verdutzt, mit so etwas hat er nicht gerechnet. Wir haben Kaffee getrunken, und es kam raus, dass er viele Schicksalsschläge einstecken musste und einsam war. Heute fällt er mir immer fast um den Hals, wenn er mich sieht. Ein bisschen ist man schon Psychologin an der Kasse."

Barbara E., 50, bis vor einem Jahr Kassiererin bei Kaiser's in Berlin: "Ich bin 13 Jahre lang mit vollem Herzblut Kassiererin gewesen. Zwischen 250 und 450 Kunden kamen am Tag an meine Kasse, und ich glaube behaupten zu können, dass ich alle mit Namen kannte. Die meisten bezahlen ja mit Karte, da habe ich mir die Namen eingeprägt. Das ist ein super Gedächtnistraining! Wenn ich die Kunden dann mit Namen angesprochen oder so was wie ,Na, heute gar keine Milch?' gesagt habe, sind sie manchmal richtig erschrocken. Leider habe ich nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit meinen Job verloren, weil ich einen Pfandbon für 1,30 Euro unterschlagen haben soll. Ich glaube aber, man wollte mich loswerden, weil ich bei uns in der Filiale Streiks mitorganisiert habe. Gegen meine Entlassung habe ich geklagt. Ich will meinen Traumberuf unbedingt zurück!"

Werner Hammermeister, 56, LPG Biomarkt in Berlin, Prenzlauer Berg : "Hier sind wir alle per du, auch mit den Kunden. Ich habe 17 Jahre lang in einem normalen Supermarkt gearbeitet - das war Stress ohne Ende, und die Leute haben dauernd gemeckert. Man kam kaum zum Luftholen und musste die Kunden einfach so abfertigen. Hier meckert nie einer, auch wenn mal was nicht da ist oder zwei Leute vor ihnen an der Kasse stehen. Ein Bioeinkauf dauert einfach länger, die Leute nehmen sich mehr Zeit. Mit den vielen Kindern sind wir hier fast wie eine Familie, die Mütter können sogar im Laden stillen. Davor hab' ich in Charlottenburg gearbeitet. Aber inzwischen sind da alle alt, und genauso sind es die Kunden. Hier dagegen sind mindestens 50 Prozent der Frauen schwanger. Ich mag Kinder total gern. Nur wenn wieder eins verrückt spielt, die Mutter nichts sagt und das Kind dann eine Ladung Eier runterschmeißt, bin ich etwas genervt - das dauert aber nie lange."

Elena Tilkeridou, 48, Rossmann in München: "Ich sitze seit 16 Jahren an der Kasse und habe so meine Taktik entwickelt: Sind Kunden frech, bin ich noch netter als sonst. Meistens zieht das, denen wird dann bewusst, wie blöd das ist, eine Kassiererin anzumeckern. Aber es gibt auch Grenzen, und da steht meine Filialleiterin hinter mir und regelt die Sache. Einmal hat ein Mann eine Kollegin bespuckt, dem ging es nicht schnell genug, aber das ist die krasse Ausnahme, zumal Männer in der Regel freundlicher sind als Frauen. Unsere Arbeit wird oft nicht anerkannt, manche glauben, dass wir zu blöd sind, etwas anderes zu machen. Dabei ist das sehr anspruchsvoll, die Technik zu beherrschen, viele Dinge gleichzeitig zu machen und immer nett zu sein. Jeder Tag an der Kasse ist eine Herausforderung, aber genau das ist, was ich so toll an dem Job finde."

Ines Albrecht, 44, Lidl in Aschheim: "Bei uns ist es wie beim Friseur: Viele Leute kommen, um zu reden. Das ist zwar nett, führt aber auch zu Problemen, etwa wenn mittags die Angestellten aus den Büros kommen. Die wollen ihre Pause natürlich nicht im Supermarkt verbringen. Manchen Stammkunden ist das jedoch egal: Sie lassen sich nicht vom Schwätzchen abbringen. Einer meiner treusten Kunden ist ein Mann, mit dem ich mal aneinander geraten bin. Schon als er den Laden betrat, stritt er mit seiner Frau und ging dann getrennt von ihr einkaufen. An meiner Kasse trafen sie sich wieder. Er fing er an, die Waren aus ihren Wagen auf die Süßigkeitenablage zu schmeißen. Als ich ihn freundlich gebeten habe, das zu lassen, schimpfte er: ,Jetzt werden die Sachsen schon im Westen aufmüpfig!" Ich habe ihm erklärt, dass ich aus Thüringen bin. Zehn Minuten später wollte er sich mit einem riesigen Blumenstrauß bei mir entschuldigen. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn lieber seiner Frau schenken."

Protokolle: from, ake, lawe

Fotos: ddp, from, oh

Supermärkte in Deutschland Berufe in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Orthodoxe Kirche wählt neuen Patriarchen

Mehr als 700 Delegierte aus der ganzen Welt in Moskau versammelt / Kirill, Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, ist klarer Favorit

Von Frank Nienhuysen

Moskau - Fast zwei Monate nach dem Tod von Patriarch Alexij II. hat die russisch-orthodoxe Kirche am Dienstagnachmittag mit der Wahl eines Nachfolgers begonnen. Mit dem Ergebnis wurde noch am Abend gerechnet. Spätestens jedoch an diesem Mittwoch soll der Name des 16. Patriarchen feststehen. Als aussichtsreichster Kandidat galt Kirill, der Metropolit von Smolensk und Kaliningrad. Der 62-Jährige, der eine eigene Fernsehsendung hat und zwei Jahrzehnte lang die Außenbeziehungen der Kirche geleitet hatte, führte bereits seit Dezember das Patriarchat übergangsweise. Weitere Kandidaten waren der Metropolit von Kaluga und Borowsk, Kliment, 59, und Filaret, 72, der Metropolit von Minsk.

Zur Wahl des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche in der Christi-Erlöser-Kathedrale waren 711 Delegierte aus der ganzen Welt nach Moskau gereist. Fast 200 der Bischöfe, Geistlichen und Laien reisten allein aus der Ukraine an. Auch aus Amerika, Japan und Europa kamen Gesandte zur Abstimmung, unter ihnen vier aus Deutschland. Nach der Oktoberrevolution 1917 hatten russische Orthodoxe im Ausland eine Exilkirche gegründet, die sogenannte Auslandskirche. Patriarch Alexij gelang es vor zwei Jahren jedoch, die Auslands- mit der Heimatkirche wieder zu vereinen.

Die russisch-orthodoxe Kirche hat weltweit 150 Millionen Gläubige, in Russland sind es nach eigenen Angaben etwa 100 Millionen, zwei Drittel der Bevölkerung. Seit dem Ende des atheistischen Sowjetregimes zu Beginn der neunziger Jahre erlebte die Orthodoxie eine Wiedergeburt. Desorientiert durch die Wirren der Wende und wirtschaftlich weitgehend verarmt, suchten viele Russen neuen Halt in der Kirche. Im ganzen Land entstanden mit Unterstützung des Staates neue Kirchen, Klöster und Kathedralen, alte wurden wiederaufgebaut. Symbol hierfür ist die Erlöser-Kathedrale in Moskau, das zentrale Gotteshaus der russischen Orthodoxie. Sie wurde während der Stalin-Zeit zerstört und vor wenigen Jahren unter dem Patriarchat von Alexij II. am Ufer der Moskwa originalgetreu errichtet.

Als Träger nationaler Werte ist die orthodoxe Kirche zu einem wichtigen Machtfaktor der russischen Gesellschaft geworden. Kein Präsident kann es sich leisten, zum Patriarchen auf Distanz zu gehen. Die Kirche wiederum sucht und braucht die Hilfe des Staates. So stellte sie sich in den Tschetschenienkriegen auf die Seite Moskaus. Erst vor drei Jahren wurde an Russlands Schulen wieder der Religionsunterricht eingeführt. Präsident Dmitrij Medwedjew zeigte sich am Wahltag überzeugt, "dass die Entscheidung des Landeskonzils fruchtbar sein wird für die Beziehungen zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und dem Staat". Der Vatikan ist gespannt, ob der neue Patriarch einen engeren Dialog mit der katholischen Kirche erlaubt. Alexij II. hat sich während seines 18-jährigen Patriarchats stets gegen einen Besuch des Papstes in Russland gesträubt.

Das Landeskonzil der russisch-orthodoxen Kirche trat am Dienstag in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau zusammen, um den neuen Patriarchen zu wählen. Dem bislang größten Gremium der russischen Kirchengeschichte gehörten 711 Bischöfe, Geistliche und Laien aus 60 Ländern an - deutlich mehr Mitglieder als je zuvor. Foto: AP

Russisch-Orthodoxe Kirche in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Terror gegen Kosovo-Albaner

Ehemaliger serbischer Polizeigeneral vor UN-Tribunal

Von Enver Robelli

Zagreb - Die mutmaßlichen Verbrechen von Vlastimir Djordjevic liegen ein Jahrzehnt zurück. Doch erst jetzt wird dem serbischen Polizeigeneral vor dem UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag der Prozess gemacht. Die Ankläger werfen ihm vor, Ende der neunziger Jahre die Terrorkampagne gegen die kosovo-albanische Bevölkerung geplant und angeordnet zu haben. Dem Konflikt in der damals serbischen Provinz fielen 12 000 Menschen zum Opfer. Ziel des kriminellen Unterfangens sei es gewesen, die serbische Herrschaft im Kosovo dauerhaft zu sichern, sagte der Anklagevertreter Chester Stamp am Dienstag vor dem UN-Gericht in Den Haag.

Djordjevic gilt als Chefplaner der Vertreibung von 800 000 Menschen aus dem Kosovo während der Nato-Intervention gegen Serbien im Frühjahr 1999. Serbische Polizisten sollen laut der Anklage Frauen vergewaltigt und mehrere Dörfer, Städte und Moscheen zerstört haben. Djordjevic habe als Befehlshaber die Polizeieinheiten effektiv kontrolliert und Gräueltaten an Zivilisten nicht verhindert. In der Anklage wird das Massaker in der Kleinstadt Suva Reka hervorgehoben, wo serbische Polizisten 47 Mitglieder einer Großfamilie erschossen hatten. Unter den Opfern waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Die Hinrichtung überlebten nur zwei Frauen und ein Kind, die sich tot gestellt hatten. In Belgrad läuft derzeit ein Prozess gegen ehemalige Polizisten, die am Massaker von Suva Reka beteiligt gewesen sein sollen.

Der Prozess gegen den 1948 geborenen Djordjevic ist der letzte vor dem UN-Gericht in Den Haag, der sich mit Kriegsverbrechen im Kosovo befasst. Das Verfahren gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatschef Slobodan Milosevic konnte nicht abgeschlossen werden, weil der Angeklagte kurz vor dem Urteil in seiner Zelle starb. In einem anderen Prozess gegen den früheren serbischen Präsidenten Milan Milutinovic und mehrere ehemalige Funktionäre und Generäle des Regimes wird ein Urteil in den kommenden Monaten erwartet. Die Anklage gegen Djordjevic wurde im Oktober 2003 erhoben. Djordjevic wurde im Juni 2006 an der montenegrinischen Küste festgenommen, wo er unter einem anderen Namen lebte und als Bauarbeiter arbeitete. Nach der Verhaftung räumte er ein, dass er sich drei Jahre lang in Moskau dem Zugriff der UN-Justiz entzogen hatte.

Angeklagt: Der ehemalige Polizeigeneral Vlastimir Djordjevic Foto: AFP

Kriegsverbrecherprozesse beim Haager Tribunal Kriegsverbrechen im Kosovo-Krieg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Blaue Flecken, wüste Worte

Der SPD-Politiker Markus Meckel und eine Nachbarin liefern sich ein Gefecht

Berlin - Markus Meckel ist ein Mensch, dessen Gestalt und Lebensweg mal fürs Lehrbuch des Bürgerrechtlertums zu taugen schienen. Er gehörte zu den mutigen Pfarrern der DDR, wurde letzter Außenminister dieses Landes und sitzt seither im Bundestag, wo man nicht mehr so viel von ihm hört. Für Aufmerksamkeit sorgt der bärtige SPD-Mann dafür mit privaten Händeln. 2007 verzettelte er sich in einem aberwitzigen Rechtsstreit mit einer Gräfin, die behauptete, er habe für sein Grundstück in der Uckermark eine ihrer Zaunlatten gestohlen. Meckel focht das an, die Sache eskalierte, man bekämpfte ihn mit einer Stinkbombe aus Petroleum, Fenchel und Knoblauch. Nun ist es wieder zu Tätlichkeiten gekommen.

Der Polizei Prenzlau liegen zwei Anzeigen vor: eine von Meckel, der seiner Nachbarin Silke Podschum Körperverletzung vorwirft. Die beiden kennen sich von einem früheren Rechtsstreit, Frau Podschun hat mal ein Transparent rausgehängt, auf dem garstige Dinge über Meckel standen. Am 15. Januar habe sie ihm vor seiner Tür mit einem Baseballschläger aufgelauert, sagte Meckel zu Bild. In letzter Sekunde habe er den Schläger gepackt und sie in ein Nachbarhaus gezerrt, dabei sei es zu "blauen Flecken" gekommen. Frau Podschum wiederum zeigte Meckel an, wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung, sagt ein Prenzlauer Polizeisprecher. Die Nachbarin will keinen Schläger, sondern eine Reitgerte in der Hand gehalten haben, als Meckel plötzlich vor ihr stand. Sie sei erschrocken und habe ihn angeblafft, da habe er sie an den Armen in ein Haus gezerrt. Um sich zu wehren, habe sie zugeschlagen. Eine Ärztin soll ihr Blutergüsse an Unterarm und Knie attestiert haben, die Polizei ermittelt nun gegen beide. Meckel wollte sich zu der Sache nicht mehr äußern. Constanze von Bullion

Zwei, die miteinander können: Markus Meckel und die Kanzlerin. Foto: ddp

Meckel, Markus: Wohnsitz Meckel, Markus: Rechtliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Wir jedenfalls haben uns nichts vorzuwerfen"

Gazprom-Vize Alexander Medwedjew über den Gas-Streit zwischen Moskau und Kiew, neue Leitungen und langfristig steigende Energiepreise

Alexander Medwedjew ist Vizechef des russischen Gazprom-Konzerns. Er verantwortet die Exporte, etwa durch die Ukraine.

SZ: Herr Medwedjew, seit voriger Wochen ist der Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine beigelegt. Wer hat gewonnen?

Medwedjew: Beide haben gewonnen. Wenn alle unsere neuen Abkommen respektieren, dann ist es für alle ein Gewinn, vor allem für unsere Kunden.

SZ: Man könnte es auch anders sehen: Mindestens die Ukraine und Gazprom haben verloren, nämlich an Ansehen.

Medwedjew: Unser Ruf ist uns sehr wichtig. Wir brauchen aber keine schönen Worte über Gazprom, sondern ein angemessenes, funktionierendes System. Das haben wir erreicht. Jeder, der objektiv auf den Konflikt schaut, kann sich selbst ein Urteil bilden, wer hier im Unrecht war.

SZ: Nach Ihrer Auffassung die Ukraine.

Medwedjew: Wir jedenfalls haben uns nichts vorzuwerfen. Das Verhalten der ukrainischen Seite ist immer irrationaler geworden. Es gab einen politischen Kampf zwischen dem ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko und der Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Das war der Hauptgrund dafür, dass die Krise letztlich eskaliert ist. Da wurden Verträge ausgehandelt, aber nicht unterschrieben.

SZ: Immerhin haben Sie jetzt einen Vertrag, und das Gas fließt wieder.

Medwedjew: Ja, aber es gibt immer noch Attacken gegen das Übereinkommen. Erst am Montag hat eine Berater von Juschtschenko eine Untersuchung angekündigt. Die soll herausbringen, ob das Abkommen rechtsgültig ist, weil es Anzeichen gebe, dass es unter Druck zustande gekommen sei. De facto stand jeder von uns unter Druck, Zeitdruck zum Beispiel. Ich verstehe das nicht.

SZ: Also ein neuer Konflikt?

Medwedjew: Das Problem ist, dass sich die Ukrainer gegenseitig nicht trauen. Zehn Leute sind nötig, um ein Abkommen zu paraphieren. Ich hoffe, dass es keine Versuche mehr gibt, etwas zu zerstören, das unter solchen Schwierigkeiten zustande gekommen ist. Jeder sollte wissen, dass uns zwei Milliarden Dollar Einnahmen entgangen sind. Wir rechnen gerade nach, welche finanziellen Folgen der Streit im Einzelnen für uns hatte.

SZ: Und wer kommt dafür auf?

Medwedjew: Wir werden alle rechtlichen Möglichkeiten ausnutzen, das zu klären.

SZ: Was lernen Sie denn nun aus dem Konflikt?

Medwedjew: Erstens, dass es im Transport immer Risiken gibt. Das müssen keine politischen Gefahren wie diese sein, es geht auch um Naturkatastrophen, Erdbeben, Überflutungen. Wir leben in einer sehr gefährlichen Welt. Pipeline-Systeme sind Hightech, sie zu betreiben ist ein schwieriger Job. Um diese Risiken zu vermindern, brauchen wir ein stärker diversifiziertes Transportsystem mit mehr unterschiedlichen Leitungen, aber auch mit mehr unterirdischen Speichern. Wir arbeiten daran, die Speicher auszubauen. Und parallel müssen wir mehr in die Infrastruktur investieren, etwa in Leitungen wie die Ostsee-Pipeline Nord Stream oder South Stream. Je schneller wir die Projekte verwirklichen, desto verlässlicher ist der Gas-Transit.

SZ: Das sieht die EU offenbar genauso. Sie will die Nabucco-Pipeline ausbauen, die mit Ihren Röhren konkurriert.

Medwedjew: Wir denken nicht, dass Nabucco eine echte Konkurrenz ist. Europa braucht mehr Gas, keine Frage. Man muss sich aber auch die Bedingungen für eine erfolgreiche Pipeline anschauen: Man braucht dafür Gasreserven, die für die ganze Lebensdauer des Projekts ausreichen, einen Markt, und schließlich das technische Know-how. Wir haben für Southstream starke Partner in den Regierungen, und wir wollen 2013 oder 2014 damit fertig werden. Das ist ein realistischer Zeitplan. Aber bei Nabucco muss man sich fragen: Wo ist das Gas? Wer soll das managen? Die Türkei gibt vor, die führende Rolle zu spielen. Ein Land, das kein Erdgas produziert. Aber wir sind da nicht eifersüchtig.

SZ: Die Westeuropäer haben eben einfach Angst vor zu großer Abhängigkeit von Russland.

Medwedjew: Aber diese Abhängigkeit ist gegenseitig: Wir hängen doch auch von den Exporteinnahmen ab.

SZ: Die Öl- und Gaspreise fallen. Brechen Gazprom die Einnahmen weg?

Medwedjew: Nein. Wir sind bei unseren Investitionen nicht von Ölpreisen von 150 oder 100 Dollar ausgegangen, da sind wir konservativ. Aber die Zeit günstiger Energievorkommen ist vorüber. Die Entfernungen zu den Vorkommen wachsen, es wird immer schwieriger, sie zu fördern. Und die Nachfrage wird wieder wachsen, sobald die Wirtschaft sich wieder erholt. Ein Ölpreis von 100 Dollar wird sicher bald wieder kommen.

Interview: Michael Bauchmüller

"Im Transport gibt es immer Risiken": der stellvertretende Gazprom-Chef Alexander Medwedjew. Foto: dpa

Medwedew, Alexander: Interviews Energieexporte Russlands SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

100 Milliarden für den Klimaschutz

EU fordert hohe Zahlungen an Entwicklungsländer

Brüssel - Die Europäische Kommission stellt an diesem Mittwoch ihre Ziele für die Verhandlungen um das neue internationale Klimaschutzabkommen vor, das im Dezember in Kopenhagen geschlossen werden soll und das Kyoto-Protokoll ablöst. Umweltkommissar Stavros Dimas fordert in seinem Positionspapier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, eine Vorreiterrolle der reichen Länder im Kampf gegen den Klimawandel ein. Um die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, sollte die Gruppe der Industriestaaten ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 um bis zu 40 Prozent reduzieren, bis 2050 sogar um bis zu 95 Prozent. Dazu will Dimas den in der EU bereits eingeführten Handel mit Emissionsrechten weltweit ausdehnen. Bereits 2015 sollen diese Regeln in allen OECD-Staaten gelten. Neben Industrie- und Gewerbebetrieben sollen auch der Luft- und der Schiffsverkehr künftig für den Ausstoß von Treibhausgasen bezahlen. Auch die Entwicklungsländer sollen ihre Klimagasemissionen begrenzen. Bis 2020 müsse deren Anstieg um 15 bis 30 Prozent begrenzt werden, schlägt Dimas vor.

In Brüssel heftig umstritten sind allerdings die Transferzahlungen, mit denen die reichen Länder den ärmeren Staaten beim Klimaschutz helfen wollen. Dimas geht davon aus, dass weltweit immer mehr Geld in klimafreundliche Technologien, Aufforstung oder nachhaltige Bodennutzung investiert werden muss. Bis 2020 werde diese Summe auf mindestens 175 Milliarden Euro pro Jahr steigen. Mehr als die Hälfte des Geldes müsse in ärmeren Ländern investiert werden. Dimas' Papier zufolge werden sich diese Staaten in Kopenhagen nur dann zum Klimaschutz verpflichten, wenn ihnen die reichen Länder eine "signifikant höhere finanzielle Unterstützung als bisher" zusichern. Dies gelte sowohl für Investitionen in neue Klimaschutzprojekte als auch für Anpassungsmaßnahmen zum Schutz gegen die Folgen des Klimawandels. Wie groß dieses Geldversprechen sein könnte, bleibt in Dimas' Positionspapier allerdings noch offen.

Europäische Diplomaten gehen davon aus, dass die EU bis 2020 jährlich bis zu 15 Milliarden Euro überweisen könnte. Auch Wirtschaftskommissar Joaquin Almunia hatte bei einem Mittagessen der europäischen Finanzminister in der vergangenen Woche in Brüssel erstmals über mögliche Transferleistungen gesprochen. Laut Teilnehmern könnten sich die Zahlungen der EU bis 2020 auf 100 Milliarden Euro summieren. Die Kommission wollte dazu keine Stellung nehmen. Umstritten sind zudem die Quellen, aus denen die Milliarden fließen sollen. Ein großer Teil des Geldes könnte laut Dimas aus der Versteigerung der Emissionsrechte kommen. Möglich sei auch, dass alle reichen Länder pauschal eine Summe in einen internationalen Fonds zahlen. Die genaue Höhe solle sich an der Emissionsmenge und der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes bemessen.

Anfang März sollen sich die europäischen Finanzminister auf mögliche Milliardentransfers einigen. Wenige Tage später müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs eine grundsätzliche Verhandlungsstrategie verabschieden. Bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober bleibt ihnen dann noch Zeit, Verhandlungsdetails festzulegen. Cerstin Gammelin

Die Treibhausgas-Emissionen sollen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent sinken.

Klimapolitik der EU ab 2006 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Brückenschlag zu neuen Reserven

Viele Länder dringen stärker als je zuvor auf die Nabucco-Pipeline - sie soll Europa mit Gas vom Kaspischen Meer oder gar aus Iran versorgen

Von Klaus Brill

Prag - Unter dem Druck der jüngsten Gas-Krise drängen mehrere Länder Mitteleuropas die EU, das Projekt einer neuen Pipeline in den Kaukasus möglichst rasch in Angriff zu nehmen und damit eine Alternative zu den Lieferungen aus Russland zu schaffen. Auf einer von ihm organisierten Konferenz in Budapest erklärte der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany am Dienstag, für die Union sei eine solche Diversifikation das wichtigste strategische Ziel. Im selben Sinne äußerten sich auch der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek, der derzeit die Ratspräsidentschaft der EU innehat, sowie der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso.

Bei dem Treffen in Budapest, das schon lange vor dem jüngsten Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine einberufen worden war, geht es um das Projekt Nabucco. Es ist nach einer Oper des Italieners Giuseppe Verdi benannt, die die Befreiung des jüdischen Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft thematisiert. Das Vorhaben wird von einem internationalen Konsortium aus Energiekonzernen, unter ihnen die deutsche RWE, betrieben und hat den Bau einer 3300 Kilometer langen Erdgas-Leitung von der Ostgrenze der Türkei bis kurz vor Wien zum Ziel. Die Kosten werden auf acht Milliarden Euro geschätzt.

Als Lieferanten des Rohstoffes kommen Aserbeidschan, Turkmenistan und Kasachstan, aber auch Iran und Irak infrage. Zudem hat Ägypten seine Mitwirkung angekündigt, in anderen Fällen ist die Entscheidung noch offen. Nach bisherigen Plänen soll die Leitung quer durch die Türkei und Bulgarien nach Rumänien, Ungarn und Österreich führen und für weitere Interessenten wie etwa Tschechien zugänglich sein. Als Konkurrenz-Projekt dazu plant der russische Energiekonzern Gazprom zusammen mit der italienischen Gesellschaft Eni eine neue Gas-Pipeline mit Namen South Stream, die von Russland durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und weiter nach Serbien, Ungarn und Österreich sowie nach Griechenland und Italien verlaufen soll. Sie würde die deutsch-russische Verbindung North Stream durch die Ostsee ergänzen und dient wie alle anderen Planungen dazu, die Abhängigkeit von den jüngst gesperrten Leitungen durch die Ukraine zu beenden.

Der Tscheche Topolanek erklärte in Budapest als EU-Ratspräsident: "Nabucco ist kein antirussisches Projekt. Wir wollen Nabucco nicht gegen irgendjemanden, sondern für uns." Allerdings seien die russischen Konkurrenzvorhaben, mit denen die hohe Abhängigkeit der EU von russischen Gaslieferungen aufrechterhalten werden solle, eine "direkte Bedrohung" für Nabucco , sagte Topolanek. Der Ungar Gyurcsany erklärte, der "Eiserne Vorhang der Energieversorgung zwischen Ost- und Westeuropa" müsse fallen. Er forderte die EU auf, sich finanziell mit mehreren hundert Millionen Euro an der Vorfinanzierung zu beteiligen, damit das Projekt Nabucco bald starten könne. Die Entscheidung soll noch in den nächsten zwei Monaten fallen, der Bau könnte dann 2010 beginnen und 2013 fertig sein.

An der Konferenz in Budapest nahmen auch Vertreter anderer interessierter Länder teil, unter ihnen der bulgarische Premierminister Sergej Stanischew und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew. Alijew drängte die EU-Staaten zu einer baldigen Entscheidung und wies darauf hin, dass auch Gazprom von seinem Land Erdgas kaufen wolle. Die Sache sollte aber entpolitisiert werden, sagte er in Budapest. Aserbaidschan werde mit einer Förderung erst beginnen, wenn der Verkauf des Gases geregelt sei. Am Montagabend hatte Alijew mit dem Bulgaren Stanischew schon eine Sondervereinbarung über die Lieferung von Erdgas getroffen, das Bulgarien bisher fast nur aus Russland erhält.

Probleme könnte auch die Türkei aufwerfen, die als Transitland am Bosporus eine Schlüsselstellung einnimmt. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hatte jüngst zwar erklärt, seine Regierung wolle diesen Umstand "niemals als Waffe benutzen", zugleich aber mit einer Abkehr von Nabucco gedroht, falls bei den Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU nicht auch die Energiepolitik bald behandelt werde.

Offene Fragen gibt es schließlich auch zur Finanzierung. Aus diesem Grund waren in Budapest am Dienstag auch die Chefs der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung anwesend. Außerdem nahm Reinhard Mitschek, der Vorstandschef des Nabucco-Konsortiums, zugegen. Die RWE hat nach den Worten ihres Vertreters Stefan Judisch "keine Zweifel daran, dass Nabucco kommen wird". Die Planungen seien auf einem guten Weg, "es gibt auch keine Finanzierungsprobleme", sagte der Manager der RWE-Tochter Supply & Trading.

Nabucco-Gaspipeline SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Notizen am laufenden Band

"Haben Sie eine Kundenkarte?" Die Französin Anna Sam hat einen Bestseller über ihre Arbeit an der Supermarktkasse geschrieben

Von Claudia Fromme

Ein paar Tage ist es her, da hat es sich wieder in ihren Traum geschlichen. Hat auf die Tiefschlafphase gewartet, um sich hinterlistig anzupirschen. Biep! Und wieder: Biep! Zwischen jedem Biep! ziehen im Traum an ihr vorbei: Toilettenpapier, Milchtüten, Bananen, Ziegenkäse, Eclairs. Anna Sam sagt, dass sie es damit vergleichsweise gut getroffen hat, Kolleginnen von ihr schlafwandelten mit den Händen, schöben Waren über die Bettdecke und riefen zuweilen laut in der Nacht: "Haben Sie eine Kundenkarte?"

Acht Jahre lang hat Anna Sam, 29, im französischen Rennes im Supermarkt an der Kasse gearbeitet, im vergangenen Januar hat sie ihren Polyesterkittel an den Nagel gehängt. Das alles wäre ja nun keine so spektakuläre Sache - hätte sie nicht aus ihrem Alltag am Warenband einige Dinge aufgeschrieben, die seit Wochen die Bestsellerlisten in Frankreich anführen. "Die Leiden einer jungen Kassiererin" hat sich dort mehr als 100 000 Mal verkauft, Übersetzungen erscheinen gerade in Deutschland, Italien, Brasilien, Israel und Taiwan. Es gibt Filmpläne, der Pariser Regisseur Jackie-George Canal will das Buch auf die Bühne bringen, und Anna Sam fragt belustigt: "Seit wann taugen eigentlich Kassiererinnen zu Stars?"

Lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne, Überwachungen durch die Zentrale, mit denen Kassierer zu kämpfen haben - um all das geht es nicht. Das Bändchen wird nie die Magna Charta der Gewerkschaften werden, Sozialpolitiker werden Anna Sam nie als menschliches Antlitz einer Misere anführen. "Natürlich hätte ich über all das schreiben können", sagt Anna Sam und seufzt, "aber glauben Sie mir, es gibt viel Schlimmeres - die Kunden."

Kostprobe gefällig? Anna Sam sagt zu Monsieur A: "65,78 Euro bitte. Haben Sie eine Kundenkarte?" A. antwortet mit einer Gegenfrage: "Möchten Sie mit mir ins Bett gehen?" Ein anderer Fall: Die Kasse ist geschlossen, doch Monsieur B will sein Bier zahlen, und zwar sofort, er verspricht einen Euro extra. Anna Sam sagt: "Tut mir leid, diese Kasse ist bereits geschlossen." B. blafft sie sofort an: "Ach, komm schon. Ihr Kassiererinnen seid doch sowieso alle Schlampen! Ihr sagt immer ja, wenn ihr ein Trinkgeld bekommt! Jetzt nimm schon unsere Flasche, du Nutte!" Und das Highlight zum Schluss: Madame C. zeigt mit dem Finger auf Anna Sam und sagt zu ihrem Kind: "Wenn du in der Schule nicht fleißig lernst, dann wirst du einmal Kassiererin wie diese Frau da."

Und Anna Sam, die Kassiererin mit Literaturdiplom auf erfolgloser Jobsuche? Lächelt. Wie das vorgesehen ist für die "Servicemitarbeiterinnen Kasse". Manchmal, wenn es ganz schlimm wird, sagt sie: "Du Arsch." In Gedanken. Eigentlich hätte sie es auch laut sagen können, meint Anna Sam, die meisten hätten sie eh nur als Verlängerung der Technik gesehen. "Man wird nie als Person wahrgenommen, nur als Objekt." Das Ding an der Kasse. Biep!

Ja, das mag ja alles sein, werden spätestens jetzt die Ersten sagen. Aber hat mir nicht erst gestern eine Kassiererin im Supermarkt den Preis entgegengebellt und sich über den Fünfziger beschwert, mit dem ich den Joghurt zahlen wollte? "Jeder hat mal einen schlechten Tag", verteidigt Anna Sam ihre Zunft, "es ist eine Sache der Verhältnismäßigkeit." Kunden sähen maximal eine Kassiererin im Supermarkt pro Tag. Sie hätte hingegen täglich bis zu 300 Kunden bedient. Anna Sam liebt Statistiken, und so hat sie errechnet, dass sie 800 Kilo Waren pro Stunde anhebt, 20 Artikel pro Minute einscannt und 30 Mal pro Tag sagt: "Die Toiletten sind dort drüben." 15 Mal fragen Kunden, die die Kasse meinen, Anna Sam: "Sind Sie offen?" Und in zehn von 15 Fällen lacht sie und sagt: "Ich nicht, aber Sie vielleicht?"

Anna Sam betreibt eine sehr amüsante Kundenkunde im Zoo Supermarkt, "einen magenbitteren Sozialreport liest ja eh keiner", sagt sie. Sie setze darauf, dass Leute sich erst amüsieren und dann über sich nachdenken. Und so lacht man viel bei der Lektüre und am meisten über sich selbst. In mindestens einem der vielen Archetypen, die Anna Sam im Supermarkt ausgemacht hat, findet der Leser sich garantiert wieder. Vielleicht ist er einer von denen, die Einkaufen als strategische Kriegsführung begreifen und sich in Guerillamanier unter dem Gitter durchrollen, in der Sekunde, in der der Markt öffnet. Oder er gehört zur Gruppe der Trickteiler, die an der 10-Teile-Kasse mit 40 Artikeln anrücken, und die in vier Packen aufteilen. Oder er versteht Supermärkte als Orte für sozialdarwinistische Übungen und stellt den leeren Wagen an die Kasse, um später alte Gebietsansprüche einzufordern. Vielleicht gehört er auch zur allergrößten Gruppe, an die Anna Sam eigentlich nur einen Wunsch hat: "Sagt doch wenigstens mal Hallo!"

Großes Theater im Supermarkt

Fast sei es wie im Theater. Als Kassiererin habe man den Logenplatz. Was wird gegeben? Drama? Tragödie? Komödie? "Etwas von allem", sagt Anna Sam. Damit ihr keine Szene entwischte, fing sie im April 2007 an, Zettel neben die Kasse zu legen, um am laufenden Band zu notieren. Ihre Chefs hätten das nie bemerkt. "Hauptsache, die Kasse stimmt." Im Internet schrieb sie auf caissierenofutur.over-blog.com unter dem Pseudonym Miss Pastouche ihre Kolumnen, und innerhalb kürzester Zeit wurde sie zum Star, ihr Blog hatte zuletzt 600 000 regelmäßige Leser.

Magazine bettelten die Unbekannte um Interviews an, und am Ende bekam die bekannteste Kassiererin Frankreichs in einer Talkshow ein Gesicht. Kurz drauf, im Januar 2008, kündigt sie in ihrem Supermarkt. "Das wär auf Dauer nicht gutgegangen", sagt sie. Ein halbes Jahr später erschien ihr Buch. Kolleginnen aus aller Welt schreiben Anna Sam, der Jeanne d'Arc der Kassiererinnen, von ihren abstrusesten Erlebnissen, ihre alten Chefs klopfen ihr auf die Schulter, wenn sie einmal die Woche in ihren alten Supermarkt kommt. Ja, auch nette Mails von Kunden gibt es, aber deutlich weniger.

Gerade schreibt Anna Sam am zweiten Buch. Auch darin geht es wieder um den Supermarkt, aber nicht um Kassen, mehr will sie noch nicht verraten. Zurück an die Kasse will sie nie mehr, sagt sie. In den nächsten Monaten wird sie ihr gleichwohl erhalten bleiben: In ihrer alten Supermarktkette schult sie nun Kassiererinnen - im Umgang mit schwierigen Kunden.

"Sagt doch einfach mal Hallo": Anna Sam (li.) berichtet über ihre Erlebnisse am laufenden Band. phototek/Marc Ollivier

Sam, Anna: Veröffentlichung Supermärkte in Deutschland Berufe in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

"Der Stress für Eltern ist enorm"

Daten und Fakten zu Mehrlingsgeburten in Deutschland

Werden Mehrlingsgeburten häufiger?

2007 gab es in Deutschland 22 400 Mehrlingsgeburten, drei Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten dieser Kinder wurden als Zwillinge geboren, etwa 700 als Drillinge und 40 als Vierlinge, teilt das Statistische Bundesamt mit. Seit den achtziger Jahren sind die Chancen auf doppelten oder dreifachen Kindersegen deutlich gestiegen: Damals kam eine Zwillingsgeburt auf 85 normale Geburten, heute ist es eine auf 50.

Ist es überhaupt möglich, Achtlinge ohne hormonelle Behandlung zu bekommen?

Dass bei den Achtlingen aus Kalifornien keine Hormone im Spiel waren, sei nahezu auszuschließen, sagt Carlos Spickhoff, Chef der Frauenklinik am Klinikum Neuperlach in München. Nach einer normalen Befruchtung seien schon Drillingsgeburten die absolute Ausnahme. "Die steigende Zahl der Mehrlingsgeburten hängt direkt mit dem zunehmenden Einsatz der Fortpflanzungsmedizin zusammen."

Welche Risiken bestehen für die Kinder?

"Alles, was über drei Kinder hinaus geht, ist aus medizinischer Sicht eigentlich Wahnsinn", sagt Mediziner Spickhoff. Sogar bei Drillingsschwangerschaften werde manchmal erwogen, einen Embryo abzutreiben, um den verbleibenden beiden bessere Chancen einzuräumen. Das Risiko einer Frühgeburt sei groß. "Die Gebärmutter wird nun mal nicht größer, da geht irgendwann der Platz aus", so Spickhoff. Mit etwa 1000 Gramm Körpergewicht haben Babys heute sehr gute Chancen. Bei Kindern, die kleiner zur Welt kommen, besteht ein erhöhtes Komplikationsrisiko bei Herz-, Lungen- oder Hirnfunktion.

Wie werden Familien in Deutschland nach Mehrlingsgeburten unterstützt?

Bei Mehrlingsgeburten erhöht sich das Elterngeld monatlich um 300 Euro für das zweite und jedes weitere Kind. Viele Länder und Gemeinden bieten zusätzliche Unterstützung in unterschiedlicher Form an: vom Einkaufsgutschein bis zu Bonuszahlungen. Bei gesetzlichen Krankenkassen kann zudem ein Antrag auf Haushaltshilfe gestellt werden. Auch bei Unternehmen gibt es für Mehrfacheltern manches zu holen: Viele Hersteller von Kindernahrung, Windeln und anderen Babyprodukten stellen "Mehrlingspakete" kostenlos zur Verfügung.

Ist mit so vielen Kindern überhaupt ein normales Familienleben möglich?

"Der Stress für die Eltern nach einer Mehrlingsgeburt ist enorm", sagt Anna Götz-Spranger von der Familienberatungsstelle in Hof. Betroffene Eltern sollten alle Hilfsmöglichkeiten nutzen, die zur Verfügung stehen. Vor allem wenn es zusätzlich ältere Kinder gebe, verlange es von den Eltern "enorme Disziplin", sich auch um diese noch ausreichend zu kümmern. "Wenn dann auch noch ein Elternteil arbeiten soll, ist das ohne Haushaltshilfe nicht vernünftig zu schaffen", so Götz-Spranger.

Was kosten Achtlinge?

Ein Säugling verbraucht schon mal bis zu acht Windeln am Tag. Bei Achtlingen macht das mehr als 1900 Windeln im Monat. Selbst wer günstig einkauft, muss dafür etwa 250 Euro einkalkulieren - Schnuller, Fläschchen, Spielzeug und Brei nicht mitgerechnet. Angelika Slavik

Mehrlingsgeburten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Bedauern ohne Reue

Der Amokläufer von Dendermonde äußert sich über seinen Anwalt

Von Cornelia Bolesch

Brüssel - Drei Tage nach seinem blutigen Angriff auf die Kinderkrippe "Märchenland" hat der Amokläufer von Dendermonde erstmals wieder geredet. Kim De Gelder sitzt im Gefängnis von Brügge. Er wird schwer bewacht, um ihn vor der Wut der anderen Insassen zu schützen. Er nehme wieder Nahrung zu sich, heißt es, er wirke aufmerksam und ruhig, zeige aber keinerlei Gefühle. Was den 20-jährigen Flamen dazu trieb, auf die Babys einzustechen, bleibt weiter unklar. Sein Anwalt Jaak Haentjens sagt: "Ich glaube, er bedauert, was geschehen ist. So hat er sich jedenfalls ausgedrückt. Aber ich denke, man sollte das nicht für echte Reue halten."

Kim De Gelder hatte die Kinderkrippe der flämischen Kleinstadt am Freitagmorgen überfallen. Zwei Babys, neun und sechs Monate alt, und eine 54-jährige Betreuerin starben unter seinen Messerstichen. Zehn Kinder und zwei Erwachsene wurden verletzt. Der Täter flüchtete zunächst auf einem Fahrrad, zwei Stunden später konnte ihn die Polizei aber festnehmen. In seinem Rucksack fanden sie ein Messer, ein Beil und eine Pistolenattrappe. Zudem einen schwarzen Eye-Liner und eine Zeichnung von Dendermonde, auf der außer dem "Märchenland" noch zwei weitere Kinderkrippen eingetragen waren.

Stück für Stück kommen Einzelheiten aus dem Leben des Amokläufers ans Licht. Sie zeichnen das Bild eines mental offenbar tief gestörten und schon seit Jahren auffälligen jungen Mannes. De Gelders Anwalt berichtet, sein Mandant habe im Alter von 15 und 16 Jahren eine schwere Depression gehabt. Danach sei er seltsam geworden, habe Stimmen gehört. Die Eltern waren besorgt, wollten ihren Sohn in einer psychiatrischen Einrichtung unterbringen. Doch er ging zunächst nur in eine Therapie. Der behandelnde Psychiater habe eine feste Unterbringung nicht für nötig gehalten.

Kim De Gelder muss sich nicht nur für den Überfall auf die Kinderkrippe verantworten. Er wird außerdem beschuldigt, eine Woche zuvor in der 20 Kilometer von Dendermonde entfernten Stadt Beveren eine 73-jährige Rentnerin in ihrem Wohnhaus erstochen zu haben. Kim De Gelder leugnet bisher strikt, mit dem Mord etwas zu tun zu haben. Die Polizei spricht dagegen von "zahlreichen Verbindungen" zwischen beiden Verbrechen. Belgische Medien berichten, die DNS-Spuren des Amokläufers seien im Haus der Rentnerin entdeckt worden. Angeblich seien bei Kim De Gelder auch zahlreiche Zeitungsausschnitte mit Berichten über den Mord gefunden worden.

Vor der Kinderkrippe in Dendermonde türmt sich unterdessen ein Berg aus Blumen und Spielzeug. Tausende Bürger und Repräsentanten der Politik haben in der Stadt in den vergangenen Tagen in Schweigemärschen und Trauer-Zeremonien der Opfer gedacht. Für Belgien ist es innerhalb weniger Jahre die zweite schwere Amoktat. Vor drei Jahren hatte ein junger Mann aus Rassenhass auf offener Straße in Antwerpen ein Kind und ihre afrikanische Kinderfrau getötet und eine Türkin schwer verletzt. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Trauermarsch: Belgier gedenken am Montag der Opfer der Amoktat. AP

De Gelder, Kim Morde an Kindern Kriminalität in Belgien Mordfälle SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

DIE FRAGE

Wer kauft sich einen Nacktscanner?

Im Oktober stoppte die EU nach einem Sturm der Entrüstung den Einsatz von Nacktscannern an Flughäfen. Sechs von ihnen stehen seit Jahren nutzlos im Keller des EU-Parlaments herum.

Markus Ferber, Haushaltsexperte im EU-Parlament : "Da unsere Nacktscanner nicht zum Einsatz kommen werden, sollen sie jetzt verkauft werden. Neu haben sie 120 000 Euro pro Stück gekostet. Sie sind quasi ungebraucht - auch die Originalverpackung ist noch vorhanden. Vielleicht ist die Medienbranche interessiert, oder Bürohäuser, die damit ihre Besucher durchleuchten möchten. Ich könnte mir auch vorstellen, dass einige Flughäfen Interesse zeigen. Allerdings haben wir den Markt noch nicht genau analysiert. Wir wollen nur nicht, dass die neuen Geräte im Keller vergammeln und irgendwann verschrottet werden. Es ist doch schon peinlich genug, dass sie das Parlament angeschafft hat."

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

EIN ANRUF BEI . . .

Michael Hess, Erfinder einer Bonuskarte gegen Schulschwänzen

In Oer-Erkenschwick (Kreis Recklinghausen) sollen sozial problematische Familien künftig Prämien im Wert von bis zu 100 Euro erhalten - etwa wenn sie ihre Kinder stets pünktlich in die Schule schicken. Auch ein gesundes Frühstück könnte den Eltern Bonuspunkte einbringen. Jugendpfleger Michael Hess, 51, hatte die Idee zu der Aktion, die nur noch vom Landesjugendamt abgesegnet werden muss.

SZ: Herr Hess, Oer-Erkenschwick scheint ja ein ganz heißes Pflaster zu sein.

Hess: Nein, hier ist es nicht heißer als woanders.

SZ: Zuletzt war Ihre Stadt bundesweit in den Schlagzeilen, weil sich Feuerwehrmänner bei der Aufnahmeprüfung gegenseitig mit Schuhcreme die Genitalien beschmierten.

Hess: Gut, diesmal geht es um Probleme, die die zuständigen Pädagogen gemeinsam mit Eltern lösen wollen. Zum Beispiel das Schulschwänzen. Ein Problem, das natürlich nicht nur in Oer-Erkenschwick existiert.

SZ: Angenommen, ich gehöre zu den Vätern, die ihr Kind täglich pünktlich in die Schule bringen. Könnte ich Ihre 100-Euro-Prämie dann in jedem Fall einstecken?

Hess: Nein. Das Bonussystem ist vor allem für Eltern gedacht, die sich der Zusammenarbeit mit Jugendamt, Kindergarten oder Schule konsequent entziehen. Es gibt doch schon überall solche Bonuskarten. Wieso sollte man sie nicht auch in der Jugendhilfe etablieren?

SZ: Weil man ja einfach sagen könnte: "Kruzifix, um acht ist Schule, da gehst du hin, und jetzt ist Ruhe."

Hess: Leider machen das nicht alle Eltern. Unser Bonussystem soll eine Art Schraubenzieher für besonders schwierige Fälle sein. Ein Anreiz. Ein Versuch.

SZ: Sie denken an ein Payback-Punkte-System für Problemfamilien?

Hess: Unser Gedanke ist zum Beispiel: Der Lehrer soll durch das Stempeln der Bonuskarte das regelmäßige Erscheinen des Schülers bestätigen. Hat der Schüler eine gewisse Zahl an Stempelpunkten erreicht, so gibt es eine Belohnung . . .

SZ: . . . nämlich einen Einkaufsgutschein im Wert von 100 Euro, mit dem die Eltern anschließend eine Großpackung Jägermeister einkaufen gehen?

Hess: Nein. Gedacht ist an Sachprämien, die wir verteilen. Ein Grill, eine Kaffeemaschine, eine Kamera. Solche Dinge, wie man sie von einer Zeitung kriegt, wenn man neue Abonnenten wirbt.

SZ: Kundenpflege also. Und ganz Oer-Erkenschwick ist von dieser Idee begeistert?

Hess: Sie wurde von verschiedenen Schulen, Kindergärten und von Politikern zuerst kontrovers diskutiert. In der entscheidenden Ausschusssitzung hat man hier den einstimmigen Beschluss gefasst: Jetzt probieren wir das einfach mal aus. Schließlich gibt es im Jugendförderplan einen Topf, der heißt "Besondere Maßnahmen, innovative Projekte und Experimente". Aus dem bräuchten wir 23 000 Euro, um das zu verwirklichen.

SZ: Herr Hess, wenn ich meinem Kind Schokolade gebe, bloß weil es die Hausaufgaben gemacht hat, dann will es fortan immer Schokolade. Haben Sie nicht Angst, Eltern - die nichts anderes tun, als etwa der Schulpflicht nachzukommen - zu sehr zu verwöhnen? Beim nächsten Mal wollen die vielleicht ein Auto.

Hess: Es geht darum, dass man den Eltern eine positive Erfahrung nachhaltig mit auf dem Weg gibt. Ich bin da sehr optimistisch.

Interview: Martin Zips

Jugendpfleger Michael Hess. Foto: oh

Verletzung der Schulpflicht SZ-Serie Ein Anruf bei .... SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de

Ein Wunder mal Acht

Mit sieben Babys hatten die Ärzte gerechnet - nun brachte eine Frau in Kalifornien gesunde Achtlinge zur Welt

Von Tanja Rest

Als Mandhir Gupta am Montagmittag vor die eilig aufgebauten Fernsehkameras trat, stand ihm das große Staunen noch ins Gesicht geschrieben. "Diese Geburt war eine faszinierende Erfahrung für mein Team, jeder Einzelne hat großartige Arbeit geleistet. Alle Babys sind zu diesem Zeitpunkt stabil, auch der Mutter geht es gut", sagte der Arzt und strahlte. Mandhir Gupta ist der Frühchen-Experte im Kaiser Permanente Hospital der Stadt Bellflower bei Los Angeles, er dürfte im Lauf seiner Karriere schon viele spektakuläre Geburten miterlebt haben, aber gewiss noch keine wie diese: Mit sieben Kindern hatten die Ärzte gerechnet, doch dann kamen per Kaiserschnitt innerhalb von fünf Minuten sechs Jungen und zwei Mädchen zur Welt. Achtlinge, alle am Leben. Das hat es weltweit erst ein einziges Mal gegeben, im Jahr 1998.

Ein Aufgebot von 46 Ärzten und Helfern war im Kreißsaal zugegen. Ihre Augen seinen "so groß wie Untertassen" geworden, als sie Nummer acht entdeckten, sagte die Geburtshelferin Karen Maples. Es war ein Junge, 680 Gramm leicht. Alter und Namen der Eltern gab das Krankenhaus nicht bekannt. Sie wollten zunächst anonym bleiben, hieß es. Auch die Frage von Reportern, ob die Mutter mit Hormonen behandelt worden war, um schwanger zu werden, blieb unbeantwortet. Allerdings: Die Wahrscheinlichkeit, auf natürliche Art Achtlinge zu bekommen, wird auf 1 zu 32 Billionen geschätzt.

Schon Wochen zuvor war die extrem riskante Geburt von den Ärzten generalstabsmäßig vorbereitet worden. Die Mutter befand sich von der 23. Schwangerschaftswoche an auf Station - sie litt unter Rückenschmerzen und verbrachte die Zeit bis zum geplanten Kaiserschnitt in Woche 30 überwiegend im Liegen. Am Ende waren die acht Babys in ihrem Bauch zusammen fast elf Kilo schwer. Die Ultraschallaufnahmen hatten allerdings nur auf sieben Kinder hingedeutet. "Es ist recht leicht, eines zu übersehen, wenn es schon sieben gibt", entschuldigte der Arzt Harold Henry den Untersuchungsfehler.

1470 Gramm wiegt das Schwerste

Um 10.43 Uhr Ortszeit - die Mutter war während der letztlich unkomplizierten Geburt bei vollem Bewusstsein - holte das Team das erste Kind, einen Jungen, ans Licht der Welt. "Er kam raus, schrie und strampelte sofort los. Das war ein gutes Zeichen - wir waren die schlimmste Sorge los", sagte der sichtlich erleichterte Gupta. Die restlichen sieben Babys kamen binnen weniger Minuten nach; das letzte war das leichteste, der schwerste Junge wiegt 1470 Gramm. Alle Lebenszeichen wie Blutdruck, Puls und die wichtigsten Reflexe sind Gupta zufolge normal. Nur zwei der Neugeborenen müssen noch künstlich beatmet werden. Nichtsdestotrotz sei die erste Woche "kritisch", sagte Gupta. Die untergewichtigen Kinder müssten voraussichtlich noch acht Wochen im Brutkasten bleiben.

Die Mutter wird das Krankenhaus wohl bereits in einer Woche verlassen können. Sie sei eine "sehr mutige und sehr starke Frau", schwärmte Karen Maples. "Sie ist ganz aus dem Häuschen, dass sie nun all diese Babys hat und es ihnen gut geht." Ob sie es schaffen werde, ihre Kinder zu stillen, wollte ein Reporter wissen, und Gupta versicherte: "Wir haben ihr zum Stillen geraten, und das wird sie ganz bestimmt auch tun. Das hat sie sich vorgenommen."

Sie haben sich insgesamt viel vorgenommen, die neuen Mehrlingseltern. Acht Babys, das bedeutet pro Tag etwa 60-mal wickeln, zwei- bis dremal mit prallen Windeltüten zur Mülltonne laufen, ungefähr 60-mal stillen und später um die 40-mal die Prozedur, bei der eine Breimahlzeit in einen offenen Mund zu löffeln ist - all dies bei sehr wenig Schlaf, ganz zu schweigen von den Kosten für Kleidung, Spielzeug, Wohnraum und schließlich die Ausbildung.

Guter Rat, wie man all das irgendwie hinbekommt, ist einige Bundesstaaten entfernt in Texas zu haben: Dort brachte vor zehn Jahren die aus Nigeria stammende Nkem Chukwu ebenfalls Achtlinge zur Welt. Anders als bei den kalifornischen Achtlingen waren die Babys aber nur zwischen 300 und 800 Gramm leicht, also extrem untergewichtig - das kleinste starb nach einer Woche. Die Mutter war mit Hormonen behandelt worden. Ab Vierlingen reden Ärzte eigentlich von einem Kunstfehler, Nkem Chukwu waren sieben trotzdem zu wenig: 2002 brachte sie noch eine weitere Tochter zur Welt.

Diese Babys wurden in einer Neugeborenen-Station in Prizren fotografiert. Von den kalifornischen Achtlingen gibt es noch keine offiziellen Bilder, doch ein vergleichbarer Anblick dürfte sich den Eltern bieten, wenn ihre Kinder den Brutkasten erst einmal verlassen haben. Fotos: Zeitenspiegel/Visum, AP

"Eine faszinierende Erfahrung": Arzt und Geburtshelfer Mandhir Gupta.

Mehrlingsgeburten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de