"Wie Heinrich Heine in den Pariser Salons"

Konrad Beikircher, Forscher der rheinischen Lebensart, erklärt, warum das Experiment Podolski/München scheitern musste

SZ: Herr Beikircher, Sie als langjähriger Forscher der rheinischen Lebensart und Autor des profunden Werks "Et kütt wie et kütt - das rheinische Grundgesetz" können sicherlich Uli Hoeneß darüber aufklären, warum Lukas Podolski unbedingt aus der Fußballweltstadt München in die Fußballprovinz Köln wechseln will.

Beikircher: Kann ich ihm sagen, klar: Weil es so schön ist in Köln. Aber es hat natürlich auch mit dem Benehmen der Bayern zu tun: Podolski kam als Provinzler in die Metropole - und wurde erst mal im Salon stehen gelassen. Sie haben ihm gesagt: "Wir zeigen dir, wie schön es bei uns ist, aber erst mal musst du hier warten." Das hat er nicht verstanden. So muss sich Heinrich Heine in den Pariser Salons gefühlt haben. Am Anfang war er dort ja auch nur der Deutsche. Die Pariser haben ihn links liegen lassen, weil sie meinten: Was will der denn hier? Schließlich hat sich Heine durchgebissen und Eleganz gelernt. Aber die Bayern sind klobiger, so viel Eleganz wie die Pariser haben sie nicht.

SZ: Hoeneß kann den Fall nicht verstehen; er denkt: Der FC Bayern ist doch der Mittelpunkt des deutschen Fu balls, eigentlich der ganzen Welt . . .

Beikircher: So denken alle Diktatoren.

SZ: . . . Hoeneß' ganzes Unverständnis gipfelte dann in der Klage: "Köln, Köln, für ihn (Podolski, Anm.) gibt es nur Köln. Er träumt von Köln Tag und Nacht."

Beikircher: Ich will das mal an Uli Hoeneß' Nürnberger Rostbratwurstfabrik erläutern: Man kann einem Nürnberger nicht erklären, dass auch in Aachen hervorragender Lebkuchen gemacht wird. Das ist ja ganz normal, im Fall Podolski und Köln aber auch sehr speziell. Es gibt dieses Lied der "Höhner", das sagt eigentlich alles: Köln ist keine Stadt, sondern ein Gefühl. Wenn man - wie Podolski - dieses Gefühl hat, dann kann man darauf nicht verzichten. München wirkt da wie ein Antidot. Es war also bald klar: Podolski wird dort entweder untergehen oder zurückkehren müssen, sonst verliert er seine Gefühlsmitte. Außerdem haben es die Münchner vergeigt: Wenn sie ihn hätten spielen lassen, dann hätte er sein Gefühl zumindest ein paar Jahre vergessen - bis er dann wieder heimgekehrt wäre.

SZ: Streng genommen ist Podolski gar kein Kölner. Geboren wurde er in Gliwice (Gleiwitz), wo er seine ersten beiden Lebensjahre verbrachte.

Beikircher: Dass er in Polen geboren wurde, das spielt keine Rolle. Jeder hier wird Ihnen sagen: Der ist ein Kölscher. Vom Gefühl her. Die Kölner haben gespürt, dass er sich da unten einsam fühlt. Dass er ein Familientier ist - was in Köln sowieso ganz weit vorn ist - und nach Hause will. Und durch den Widerstand der Bayern wurde er im Bewusstsein der Kölner immer kölscher - bis hin zu der grandiosen Forderung im Express: Jetzt muss (Oberbürgermeister) Schramma ran! So ist die allgemeine Überzeugung: Ne Kölsche Jong jehört noh Kölle, denn Köln hat nicht nur geographische, sondern auch emotionale Koordinaten. Es gibt auch mentale Rheinländer, die nie im Rheinland waren, zum Beispiel Albert Einstein.

SZ: Andererseits gibt es die diskriminierenden Ansichten der Ureinwohner über die Wesen aus den umliegenden Kreisen und Gemeinden. Denen wird bestenfalls die Anerkennung als Kölner versagt - oder sie werden gleich als Bauern bezeichnet.

Beikircher: Dennoch ist der Glaube an das Magische im Rheinländer unbeirrbar. Er schafft sich damit seine eigenen Wahrheiten: Am Ende haben sie sogar Willy Millowitsch in den Himmel gehoben, obwohl sie immer unterstellt haben, dass nur die Euskirchener in sein Theater gingen. Bis zu seinem Tod haben sie ihm vorgeworfen, er würde Kölsch mit Knubbeln sprechen. Aber auf der Domplatte betrauerten ihn dann 30 000 Menschen.

SZ: Um Podolski heimzuholen, hat sich in Köln eine gesellschaftliche Bewegung gebildet: Ein Förderverein sammelte Geld, ein Kirchenchor stimmte Bittgesänge an, Fans haben an der Säbener Straße beim FC Bayern demonstriert und so weiter. Wie ernsthaft waren solche Aktivitäten?

Beikircher: Ich weiß zumindest, dass eine ganze Reihe von Leuten, die mit Fußball nix zu tun haben, Kerzen für den Lukas angezündet haben. Und ein Pfarrer aus dem Rechtsrheinischen hat mir erzählt, dass selbst die Zuhälter aus seiner Gemeinde - "meine Zuhälter", wie er sagt - welche aufgestellt haben. Der Reflex ist: Das ist das Kind in der Fremde, der Junge muss zurück. Das hat mit Religion natürlich nicht viel zu tun, aber man muss sich wundern, dass der Kardinal Meissner nicht durch ein paar nette Sätze über Poldi die Gelegenheit genutzt hat, die Herzen der Kölner zu gewinnen. Schade, dass sich die Kirche da raushält, denn Fußball ist in Köln ein Rundumphänomen, mit vollständiger Einbettung in das Lebensgefühl.

SZ: Peter Millowitsch, der Sohn von Willy, hat jetzt anlässlich von Podolskis bevorstehender Rückkehr erklärt: "Jetzt ist das Leben wieder in Ordnung. Alles ist wieder da, wo es hingehört." Ist das nicht, na ja, ein wenig spießig?

Beikircher: Aber nein. Das ist die kölsche Variante von Willy Brandt, ein Wiedervereinigungsgefühl: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Aus Kölner Sicht ist das genau das Empfinden. Bezeichnend ist ja auch, dass in der ganzen Sache keiner übers Geld spricht, also über den ökonomischen Vorgang und dessen Folgen. Weil es einfach zu profan ist.

SZ: Ausländische Experten wie Günter Netzer meinen, der Wechsel bedeute für Podolski einen sportlichen Abstieg.

Beikircher: Das sehe ich anders. Er bekommt ja einen objektiven Ausgleich: Er wird wieder spielen können, und außerdem kriegt er eine Tonne Gefühl nach der anderen entgegen geschaufelt.

SZ: Das kann erdrückend werden.

Beikircher: Klar, wenn man so plattgeliebt wird. Und man muss hoffen, dass Lukas, wenn er wieder da ist, nicht die falschen Dinge sagt. Er muss jetzt bedienen, dass die Kölner ihn immer weiter geliebt und deswegen zurückgeholt haben. Sonst werden die Leute sagen: Der hat sich in München zum Schlechten verändert.

SZ: Podolski erweitert die Reihe der Rückkehrer beim FC: Manager Meier, die Trainer Daum und Koch, Präsident Overath und Vizepräsident Glowacz - lauter Leute von früher. Lebt Köln in der Vergangenheit?

Beikircher: Wenn etwas damals schön war und die Leute von damals noch da sind, dann will man das wieder haben. Das ist nicht Nostalgie, da gibt es einen Unterschied. Man setzt die Vergangenheit einfach in der Gegenwart fort. Der Rheinländer lebt ja nicht wirklich im Gewebe der Geschichte, er lebt im Jetzt und glaubt an die Regelbarkeit von allem.

SZ: Ist der Rheinländer konservativ?

Beikircher: Im Prinzip ja. Man sieht es am Karneval. Seit Jahren überlegt man, wie man den Karneval modernisiert - und fährt trotzdem fort wie bisher. Das gilt genauso für die revolutionären Alternativen von der "Stunksitzung". Dabei wäre die Lösung einfach: Rein in das Lokale, raus aus Fernsehen und Mainstream. Aber die Verantwortlichen sagen dann: Eine Milliarde Umsatz - was will man machen?

SZ: Podolski hätte auch nach Rom, Turin, London gehen können, aber er hat den Karrierefortschritt verweigert. Das ist gegen die Konventionen in der am ständigen Aufstieg orientierten Leistungsgesellschaft des Profifußballs. Kann er seinen Entschluss vor den Kollegen vertreten?

Beikircher: Aber selbstverständlich. Er ist zu früh weggegangen, hat in München das Fundament nicht gefunden. Was das Seelische angeht, sind Fußballer wie Opernsänger - es macht unglaublich viel aus. Das einzig Richtige für ihn ist also, zurückzugehen. Da sehe ich keinen Abstieg. Wäre er jetzt nach Rom oder London gegangen, wäre das eine Heulsusennummer geworden, das hätte nix gegeben.

SZ: Sie stammen aus Südtirol, leben schon lange in Bonn. Sie könnten das also wissen: Das Alpenland und das Rheinland - stoßen sich diese Mentalitäten ab?

Beikircher: Aber nein. Die Mentalitäten sind verwandt durch die Verwurzelung im Mediterranen, in der italienischen Lebensauffassung. Aus dieser Richtung hätte es also für Podolski in Bayern funktionieren können, aber die diffuse Ähnlichkeit reichte nicht, ihm fehlte halt die Geborgenheit.

SZ: Köln und Podolski: eine Romanze im Profifußball?

Beikircher: Ja, herrlich. Es ist sozusagen Titanic ohne Untergang.

Interview: Philipp Selldorf

Buchautor Konrad Beikircher dpa

Unglücklich: Lukas Podolski ddp

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Eine Frage des Preises

Werder Bremen erwägt den Einstieg eines Investors, um finanziell in Europas Spitze mithalten zu können

Hamburg/Belek - Zuweilen ist es recht angenehm, Vorstandsvorsitzender von Werder Bremen zu sein. Etwa, wenn man während des Trainingslagers im türkischen Belek bei angenehmen Temperaturen eine Runde Golf mit Geschäftsführer Klaus Allofs spielen kann. Jürgen Ludger Born, 68, wird bald darauf verzichten müssen. Vergangene Woche wurde sein Vertrag wie der des Marketing-Geschäftsführers Manfred Müller, 64, zwar noch einmal um ein Jahr bis 2010 verlängert. Dann aber wird es eine Wachablösung geben. Eine Möglichkeit wäre, dass der frühere Nationalspieler Klaus Allofs Borns Nachfolge antritt, für ihn der einstige Nationalspieler Marco Bode den Sportchef-Posten übernimmt und ein Marketingfachmann dazugeholt wird.

Ob es so kommt, ist ungewiss. Sicher ist dagegen, dass sich auch die Bremer Kaufleute verschärft Gedanken machen, ob die derzeitige sportliche Krise (Tabellenplatz acht) nur "auf eine außergewöhnliche Situation" zurückzuführen oder Bestandteil "einer logischen Entwicklung" ist. Beide Varianten hält Allofs für denkbar. Sollte man sich intern verständigen, dass Werder die in den vergangenen Jahren erworbenen Meriten als größter Rivale von Rekordmeister Bayern München mit dem bisherigen 112-Millionen-Euro-Etat nicht mehr verteidigen kann, müsse man, so Allofs unlängst gegenüber der tageszeitung, "über Veränderungen nachdenken". Das könne auch bedeuten, dass man "ein Modell, Aktienanteile zu verkaufen", erwägt.

In der Tat könnte Werder Bremen so seinen finanziellen Spielraum erweitern. Die Profiabteilung ist längst kein "SV" mehr, sondern eine "GmbH und Co KG aA", wobei das letzte Kürzel "auf Aktien" bedeutet. Wenn der einstige Banker Born über den FC Bayern spricht, der zehn Prozent seiner Aktien für 75 Millionen Euro an die Sportartikelfirma Adidas verkaufte, sagt er: "Ein Superdeal. Da waren die Münchner allen mal wieder voraus." Das klingt, als ob man bei Werder nicht mehr wie einst aus Prinzip einen Partner ablehnt. Zumal Born hinterherschiebt, wenn ein "mittelständisches Unternehmen wie Werder ein Angebot von einem seriösen Anbieter erhält, müssen wir es prüfen".

Zu hoch jedoch möchten die Werder-Macher das Thema nicht hängen. Wenn jeder weiß, dass da einer händeringend neue Geldgeber sucht, drückt das den Preis. Deshalb sagt Born: "Wir haben bis jetzt kein realistisches Angebot gehabt und sind auch nicht auf den Markt gegangen." Zudem werde man vor der Geschäftsstelle kein Schild mit der Aufschrift "Suchen Super-Aktionär" aufstellen. Und auch nicht "110 Jahre Werder-Geschichte verkaufen, nur weil ein Investor mit großen Scheinen wedelt".

Gleichwohl wissen sie in Bremen, dass es immer schwerer wird, der erste Widersacher des FC Bayern zu sein - nicht nur, weil neue Kandidaten wie 1899 Hoffenheim oder der VfL Wolfsburg mit spendablen Geldgebern dazugekommen sind. Es wird immer schwieriger, mit relativ geringen Mitteln erstklassige Spieler zu verpflichten. Spieler, die die Mannschaft auch in Europa voranbringen. In den vergangenen zwei Jahren gab es für Werder in der Champions League deutliche Rückschritte. Profis wie Dusko Tosic (immerhin drei Millionen Euro teuer) oder Boubacar Sanogo (sechs Millionen Euro Ablöse) haben das Team nicht verstärkt, sondern herabgezogen.

Und ein Glücksgeschäft wie mit Claudio Pizarro, der von Chelsea London für eine Saison ausgeliehen wurde und inzwischen der einzige Werder-Stürmer von internationalem Format ist, gibt es nicht alle Tage. Ob Pizarro länger bleibt, hängt vor allem vom FC Chelsea ab, der ihn noch bis 2011 unter Vertrag hat. Schießt er auch im Frühling viele Tore für Werder (in der Hinrunde waren es zehn), holt Chelsea ihn eventuell zurück. Natürlich seien, ahnt Born, nicht nur die Bremer, sondern auch Pizarro und sein Berater gute Kaufleute: "Das müssen wir ganz nüchtern sehen." Mit anderen Worten: Auch der Peruaner, der Werders Trainer Thomas Schaaf immerhin auf eine Ebene mit José Mourinho stellt, wird sich eher am Weltmarkt orientieren als an seiner Sympathie für Werder.

Natürlich wolle man den sportlichen Erfolg nicht zu jedem Preis, sagt Klaus Allofs. So ein Partner müsste zu Werder passen, auch der Name des Weserstadions stand bisher nicht zur Disposition. Im Prinzip aber geht es bei einem möglichen Aktienverkauf auch darum, ob die Bremer trotz ihrer kaufmännischen Vorsicht nicht nur "Tafelsilber" (Born) verlieren, sondern auch ein Stück ihrer Identität. "Man kann auch versuchen, mit Geld sportlichen Erfolg zu produzieren", sagt Born, "bei uns war es zehn Jahre lang umgekehrt." Jörg Marwedel

Frustrierte Weggefährten: Die Saison von Werder Bremen verläuft für die Verantwortlichen (Trainer Thomas Schaaf, links, und Manager Klaus Allofs) ungewöhnlich enttäuschend, und der Ausblick ist auch nicht vielversprechend - weder sportlich noch finanziell. Foto: Getty

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Intel leidet - und begeistert trotzdem

Die Wirtschaftskrise setzt dem Chiphersteller stark zu, doch die Investoren hatten mit Schlimmerem gerechnet

Von Thorsten Riedl

München - Wenn Paul Otellini spricht, hört die gesamte Informationstechnik (IT)-Branche zu. Traditionell eröffnet der 58-jährige Chef des Chipherstellers Intel den Reigen der Quartalsberichte in dem Sektor. Da in vier von fünf Computern weltweit die Prozessoren des kalifornischen Konzerns den Takt angeben, hat sein Wort Bedeutung für die anderen IT-Schwergewichte. Und der Ausblick, den Otellini am Donnerstagabend nach Börsenschluss an der Wall Street zu geben hatte, lässt nichts Gutes ahnen. Erst zum zweiten Mal in 20 Jahren seien die Ergebnisse eines - traditionell starken - vierten Quartals bei Intel schlechter gewesen als die eines dritten. Zuletzt passierte das 2000, als die Dotcom-Blase platzte. "Das Tempo des Umsatzrückgangs im abgelaufenen Quartal war dramatisch", sagte Otellini.

In den kommenden Tagen legen IT-Firmen wie Microsoft, Amazon, Google oder Yahoo ihre Bilanzen vor, auch deutsche Firmen wie der Chipbauer Infineon, der gerade 1800 Arbeitnehmer seines Dresdner Werks in Kurzarbeit schickt, oder das Softwarehaus SAP. Sie alle werden wie Intel die Wirtschaftsflaute zu spüren bekommen, das lassen die Zahlen des Platzhirschen erwarten. Der Sektor, der einst für schier grenzenloses Wachstum bekannt war, bildet keinen sicheren Hafen gegen die Folgen der weltweiten Finanzkrise. "Der Abschwung ging bei uns über alle Produktbereiche und alle Regionen. Das ist eine Weltkrise", sagte Hannes Schwaderer, Deutschlandchef von Intel, der Süddeutschen Zeitung.

Die Zahlen des Chipherstellers sind auf den ersten Blick tatsächlich erschreckend. Der Quartalsgewinn ging um 90 Prozent auf 234 Millionen Dollar zurück, der Umsatz sank um 23 Prozent auf 8,2 Milliarden Dollar. Dennoch reagierte die Börse fast begeistert. Die Aktie von Intel stieg direkt nach der Präsentation von Otellini um vier Prozent. Auch am Freitag lag das Papier im Plus. Die Investoren waren erleichtert, dass die Quartalszahlen nicht noch schlechter ausgefallen sind. Gleich zweimal hatte Intel in den vergangenen drei Monaten gewarnt, dass es nicht so gut laufen wird wie erwartet.

Weil die Lage weiter unsicher bleibt, lässt Otellini die Vorhersagen nun erst einmal ganz sein - zumindest fast. "Für interne Zwecke planen wir aktuell mit einem Umsatz von sieben Milliarden Dollar im ersten Quartal", erklärte Stacy Smith, die Finanzchefin des Chipherstellers. Auch wenn das Unternehmen diese Zahl zwar offiziell nicht "Ausblick" nennen will, ist es doch eine Prognose, und zwar eine unter den Erwartungen.

Mit dem Deutschlandgeschäft von Oktober bis Dezember zeigte sich Schwaderer zufrieden. "Wir hatten hierzulande ein recht normales viertes Quartal." Gut sei vor allem das Geschäft mit den eher kleinen Computerfertigern gelaufen, die Komponenten wie Prozessoren, Festplatten und Gehäuse selbst einkaufen und für ihre Kunden zu einem Rechner zusammensetzen. 7000 solche PC-Bauer gebe es in Deutschland, sagte Schwaderer. Das Segment konnte im zweistelligen Prozentbereich wachsen. Gut kam auch der neue Hochleistungsprozessor i7 von Intel an. "Nirgendwo auf der Welt waren die Wachstumsraten so gut wie in Deutschland", sagte Schwaderer.

Das starke Minus beim Konzern-Nettogewinn kommt vor allem durch eine Abschreibung in Höhe von einer Milliarde Dollar zustande, weil der Börsenkurs des Internetfunkanbieters Clearwire seit vergangenem Herbst stark gefallen ist. An diesem Unternehmen haben sich neben Intel unter anderem auch Comcast und Google beteiligt, die ähnliche Wertberichtigungen vornehmen dürften.

Trotz der stürmischen Zeiten überraschte Otellini mit der Aussage, Intel werde die Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie neue Produktionsstätten nicht zurückfahren. Dafür will der Intel-Chef in diesem Jahr 5,2 Milliarden Dollar ausgeben. Die Investitionen gehen vor allem in den Ausbau der 32-Nanometer-Fertigung. Erste Prozessoren dieses Typs sollen Ende dieses Jahres vom Band laufen. "Das wird Intel mindestens ein Jahr Vorsprung vor AMD geben", sagte Uche Orji, Analyst bei UBS. Somit könne die Krise für Intel sogar zu einem Vorteil werden.

Entlassungen plant Intel laut Schwaderer im Moment nicht. Schon vor drei Jahren hat der Chiphersteller begonnen, die Kosten zu senken. "Mit leichtem Optimismus können wir sagen: Wir sind nicht schlecht vorbereitet", sagte der Manager. Investoren allerdings bauen schon wieder Druck auf. "Wir würden schon zusätzliche Einsparungen erwarten, wenn sich die Nachfrage weiter so enttäuschend entwickelt", erklärte James Covello, Analyst bei der Investmentbank Goldman Sachs.

"Das Tempo des

Umsatzrückganges

war dramatisch."

Schneller als der Rivale AMD hat Intel auf Prozessoren in 45-Nanometer-Technologie (im Bild) umgestellt. Nun schaut es so aus, als ob der Marktführer trotz Krise auch bei den noch kleineren 32-Nanometer-Chips der Erste wäre. Foto: oh

Intel Corp.: Ergebnis / Geschäftsberichte Intel Corp.: Verlust IT-Industrie Folgen der Finanzkrise in den USA Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Triumphzug nach Washington

Wie einst Abraham Lincoln benutzt Barack Obama die Eisenbahn, um zu seiner Amtseinführung zu fahren - und ebenso wie dieser stimmt er die jubelnden Menschen an den Gleisen auf harte Zeiten ein

Von Reymer Klüver

Baltimore - Es ist das Ende einer langen Reise. Einer Reise, die ihn aus einem Provinzparlament im Mittleren Westen nun ins Weiße Haus führt. Zehn Waggons umfasst der Sonderzug, mit dem Barack Obama an diesem Samstag von Philadelphia nach Washington fährt, seiner Inauguration, seiner Amtseinführung am Dienstag entgegen. Am Ende dieses Zuges haben sie einen nachtblauen Salonwagen gespannt, mit Rosetten in den Nationalfarben blau-weiß-rot geschmückt, so einen Waggon, wie man ihn von Schwarz-Weiß-Fotos kennt und wie sie Präsidenten früher für ihre Reisen benutzten. Das gibt natürlich auch heute schöne Bilder, nur in Farbe. Obama genießt diese Fahrt offenkundig. Er winkt, im schwarzen Wintermantel gegen die Brüstung gelehnt, als der Zug an jubelnden Menschen vorbeigleitet. Und dreimal betätigt er die Signalpfeife des Zuges. So wie einst die Zugschaffner. "Dafür ist man nie zu alt", sagt er später.

Es ist eine Zugfahrt der Symbole, sorgfältig inszeniert, wie alles, was Obama in der Öffentlichkeit macht. Abraham Lincoln hatte diese Strecke 1861 zu seiner Amtseinführung genommen, es war der letzte Abschnitt einer Reise, die ihn wie nun Obama aus dem Kongress des Bundesstaats Illinois in Springfield bis ins Weiße Haus nach Washington führte. Und wie einst Lincoln die Fahrt nutzte, seine Landsleute auf die damals bevorstehenden harten Zeiten einzustimmen - er kam auf 100 Reden in zwölf Tagen -, so tritt auch Obama an diesem Tag immerhin dreimal ans Rednerpult, um zu Anhängern zu reden und zu einer frustrierten, aber hoffenden Nation.

Tatsächlich gleitet Obama auf einer Welle des Wohlwollens ins Amt. Fast vier Fünftel aller Amerikaner haben einen "vorteilhaften Eindruck" von ihm, wie es im Kauderwelsch der Meinungsforscher heißt. Will sagen: Amerika mag seinen neuen Präsidenten. Eine Generation liegt es zurück, dass die US-Bürger den neuen Vormann der Nation ähnlich aufgeschlossen begrüßten: Jimmy Carter kam 1977 auf 78 Prozent, bei Obama sind es nun sogar 79 Prozent mit "vorteilhaftem Eindruck". Aber nicht nur Carters oft qualvolle Präsidentschaft beweist, wie rasch ein Präsident den Rückhalt verlieren kann. Nur wenige Amerikaner möchten daran erinnert werden, dass George W. Bush nach 9/11 auf Beliebtheitswerte kam, die kein anderer erreicht hat. Und nun verlässt er das Amt, so ungeliebt wie selten ein Präsident.

In jedem Fall ist es ein gewaltiger Vertrauensvorschuss - und ein gewaltiger Erwartungsdruck. Und Obama vollführt unter den Augen der Nation einen Drahtseilakt. Zum einen schürt er die Hoffnungen mit all der geschichtsbefrachteten Symbolik. Wenn er Lincolns Zugfahrt nachfährt, ist allein diese Geste ein Versprechen. Lincoln ist den Amerikanern der Bewahrer der Einheit der Nation. Und wenn er in Philadelphia, der Stadt der Unabhängigkeitserklärung, die Gründerväter der Nation beschwört, ist es ein Ton, der bei vielen Amerikanern an ihr Innerstes rührt. "Wir brauchen eine neue Unabhängigkeitserklärung, nicht nur für unsere Nation, sondern für unser Leben", deklamiert Obama an diesem Samstagmorgen im kühlen, hohen Wartesaal des Bahnhofs an der 30. Straße von Philadelphia, ehe der Zug in Richtung Süden fährt, "eine Unabhängigkeitserklärung von Ideologie und Kleingeist, von Vorurteilen und Engstirnigkeit, einen Appell nicht an unsere niederen Instinkte, sondern an unsere besseren Engel." Von den besseren Engeln hatte auch Lincoln damals gesprochen.

Das ist der hohe Ton seines Wahlkampfs, den er an diesem Tag wieder bemüht. Und die ganze Fahrt ist nichts als eine Mutmachtour. "Wenn wir Amerikaner auch einmal niederstürzen", ruft er nur Stunden später vor dem roten Gründerzeit-Backsteinbahnhof von Wilmington in Delaware, "kommen wir immer, immer wieder auf die Beine." Das wärmt nicht nur die Tausenden, die bei froststarrender Kälte auf dem Bahnhofsvorplatz ausharren. Die Botschaft soll die vielen Amerikaner aufrichten - ebenfalls vier Fünftel -, die glauben, dass sich ihr Land auf dem falschen Kurs befindet, auf Kurs Richtung Abgrund.

Doch zugleich versucht Obama die Erwartungen zu dämpfen. Erst am Donnerstag, bei einem Besuch in der Redaktion der Washington Post, sagte er, dass er nichts "überversprechen" wolle, wie er sich ausdrückte, also nicht zu viel verheißen will. Sonst werde man schnell gegen die Wand fahren: "Wenn man die gedrückte Stimmung heben will, gehört es dazu, dem Volk ehrlich zu sagen, wie tief das Loch ist, in dem wir stecken. Und dann muss man die Zuversicht vermitteln, dass wir uns da rausschaufeln."

Beides versucht er auch auf dieser Zugfahrt in seine Präsidentschaft. Es werde "Fehlstarts und Rückschläge und Enttäuschungen" geben, warnt er auf seinem letzten Halt in Baltimore, vor dem mit Sternenbannern geschmückten Rathaus der Stadt. Doch dann hebt er noch einmal an. Nie, sagt er unter dem Jubel Zehntausender auf dem Rathausplatz, dürfe man den Geist der Gründerväter vergessen, "die glaubten, dass sie die Kraft haben, die Welt zu erneuern".

Viele glauben, das Land befinde sich auf Kurs in Richtung Abgrund

"Wir kommen immer, immer wieder auf die Beine": Barack Obama und sein Vize Joe Biden werden bei ihrer Zugfahrt von Anhängern gefeiert. Foto: AP

Obama, Barack: Fahrzeug Obama, Barack: Zitate Regierung Obama 2009 Geschichte der USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Warten auf das Rauchsignal

Milliardenübernahme in schwierigen Zeiten: Der Pharmakonzern Roche will seine Beteiligung Genentech offenbar ganz schlucken

Von Gerd Zitzelsberger

Basel - Trotz der Finanzkrise nimmt der Schweizer Pharmamulti Roche offenbar einen neuen Anlauf für eine Elefantenhochzeit: Er will seine Halbtochter Genentech ganz übernehmen. "Alles ist auf Kurs", sagte Finanzchef Erich Hunziker. Analysten und Banken verfolgen die Entwicklung mit Spannung: Glückt Roche der Schachzug, wird das mancher als Rauchsignal dafür nehmen, dass ein Hauch von Normalität am Markt für Unternehmensfinanzierungen zurückkehrt.

Was den Übernahmeversuch in der gegenwärtigen Situation außergewöhnlich macht, ist die schiere Größe. Roche besitzt zwar bereits 56 Prozent des Genentech-Kapitals. Doch die in San Francisco beheimatete Pharmatochter hat mit ihren Medikamentenentwicklungen bei den Anlegern solche Phantasie entfacht, dass sich der Kurs seit 1999 verachtfacht hat. Gegenwärtig kommt das Unternehmen auf einen Börsenwert von 89,5 Milliarden Dollar oder umgerechnet 67 Milliarden Euro; das entspricht dem sechsfachen Jahresumsatz. Zudem soll es eine freundliche Übernahme werden. Denn nur in diesem Fall, so die Kalkulation des Baseler Mutterkonzerns, bleiben Genentechs Spitzenmanager und -wissenschaftler an Bord. Das aber verteuert den Kauf zusätzlich. Die Übernahme der restlichen 44 Prozent des Kapitals dürfte damit zwischen 31 bis 38 Milliarden Euro kosten - eine Summe, die selbst die reiche Roche nicht in der Hosentasche hat. Mit anderen Worten: Roche benötigt für den Kauf Finanzierungszusagen in zweistelliger Milliardenhöhe. Bekommt sie solche Zusagen zu vernünftigen Konditionen, dann wird der ganze Markt aufatmen: Der Dollar rollt wieder.

Bereits im vergangenen Sommer, kurz vor dem großen Desaster der Finanzmärkte, hatte Roche den Genentech-Aktionären ein Angebot über 89 Dollar je Aktie gemacht. Sie hatten es damals als zu niedrig zurückgewiesen. Zu Spekulationen, dass Roche, einer der fünf größten Pharmakonzerne weltweit, demnächst nachbessert, würde man in Basel an liebsten weniger als nichts sagen. "Wir stehen voll und ganz hinter der Transaktion", formuliert ein Konzernsprecher diplomatisch. Diese Wortwahl lässt auf eine Zugabe offen. Zu vermuten steht, dass die Schweizer mittlerweile etliche Genentech-Aktien über befreundete Banken und den freien Markt eingesammelt haben. Denn einerseits lag der Börsenkurs von Genentech in den vergangenen Monaten zeitweise unter dem Angebot aus der Schweiz; andererseits zeigte sich die Notierung, von zwei kurzen Zuckungen abgesehen, im Börsencrash vom Oktober vergleichsweise stabil. Auch dazu mag sich Roche nicht äußern.

Ein Pokerspiel ist die Übernahme freilich auch für freien Genentech-Aktionäre: Wird das Krebsmittel Avastin, derzeit das wichtigste Medikament des Konzerns, für einen weiteren Einsatzbereich zugelassen, können sie hoffen. Andererseits aber schrauben erste Analysten ihre Wachstumserwartungen an das Biotech-Unternehmen zurück. Bekommen sie Recht, liegt bereits das bestehende Angebot von Roche sehr hoch.

Roche Holding AG: Unternehmensbeteiligung Roche Holding AG: Finanzen Genentech Inc: Firmenübernahme SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Warten auf den Tag danach

SPD bereitet sich auf einen personellen Neuanfang vor

Wiesbaden - Es ist eine seltsame Situation für die hessische SPD in diesen letzten Tagen und Stunden vor der Wahl, denn mindestens ebenso gespannt wie auf das (aller Wahrscheinlichkeit nach verheerende) Wahlergebnis wartet man in der Partei auf die dann folgenden Ereignisse. Es wird für die Sozialdemokraten am Sonntag nicht nur darum gehen, ob sie es über jene 24 oder 25 Prozent schaffen, bei denen sie zuletzt in den Umfragen lagen. Es wird auch (nach Meinung vieler: vor allem) darum gehen, wie es dann weitergeht in der Partei. Wenn der eigentliche Wahlkampf vorbei ist, wird die innerparteiliche Auseinandersetzung beginnen, der Kampf um die personelle wie inhaltliche Gestaltung des Neuanfangs nach einem desaströsen Jahr 2008.

Zwar dürfte es auch Forderungen nach dem Rücktritt des gesamten Landesvorstands geben, doch das Augenmerk wird sich vor allem auf zwei Personen richten: den Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel und Landeschefin Andrea Ypsilanti. Schäfer-Gümbel, das ist in seinem Umfeld zu erfahren, will beide Spitzenpositionen für sich beanspruchen - sowohl den Vorsitz des Landesverbands als auch den der Landtagsfraktion. Er kann dabei auch auf die Unterstützung des überwiegenden Teils bei den Netzwerkern und Parteirechten zählen. Zwar fordern sie von ihm, dem Parteilinken, personell eingebunden zu werden, wollen ihn aber grundsätzlich an der Spitze sehen. Auch aus ihrem Lager wurde ihm in den vergangenen Tagen nahegelegt, seinen Anspruch noch am Sonntagabend zu äußern, möglichst früh - um gar nicht erst die Gefahr aufkommen zu lassen, dass sich bis zur Sitzung des Landesvorstands am nächsten Tag etwaige Konkurrenten ins Spiel bringen.

Voraussetzung dafür ist zum einen ein Ergebnis, das von den Umfragewerten nicht wesentlich nach unten abweicht. Zum anderen kommt einiges auf die Erklärung Ypsilantis an. Die allermeisten erwarten, dass sie noch am Abend beide Ämter zur Verfügung stellen wird. Es gibt aber auch vereinzelt die Befürchtung, sie könnte sich nicht eindeutig genug äußern. Mitte Dezember hatte sie angekündigt, die Verantwortung für das Ergebnis zu übernehmen.

Noch ein dritter Name fällt derzeit immer wieder: Manfred Schaub, Baunataler Bürgermeister und Vorsitzender des SPD-Bezirks Hessen-Nord. Der als pragmatisch geltende stellvertretende Landeschef sei der Richtige, um die gespaltene Partei wieder zusammenzuführen, so kolportieren es seine Anhänger - verbunden mit dem Hinweis, dass es sinnvoll sei, Fraktions- und Landesvorsitz auf zwei Personen zu verteilen. Nach dem zweiten gescheiterten Anlauf Richtung Rot-Grün-Rot hatte Schaub allerdings die Spitzenkandidatur ausgeschlagen, was ihm viele noch übelnehmen.

Schäfer-Gümbel hingegen hat sich durch seinen Wahlkampf Respekt auch bei denen erarbeitet, die seine Kür zum Kandidaten mehr als skeptisch gesehen hatten. Während die Partei einer schweren Niederlage entgegenblickt, hat er bereits gewonnen. Christoph Hickmann

Ypsilanti, Andrea Schäfer-Gümbel, Thorsten Schaub, Manfred SPD-Landesverband Hessen: Umstrukturierung SPD-Landesverband Hessen: Krise SPD-Landesverband Hessen: Spitzenkandidaten Landtagswahl 2009 in Hessen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ausschluss aus der SPD

Saarbrücken - Die Saar-SPD hat ihr langjähriges Mitglied Charly Lehnert wegen dessen Engagement für den Wahlkampf der Linken ausgeschlossen. Die Entscheidung der Schiedskommission sei im Dezember gefallen, sagte ein Parteisprecher. Lehnert will nun - nach 35 Jahren in der SPD - parteilos bleiben. Er wird mit seiner PR-Agentur den Landtagswahlkampf der Linkspartei betreuen. Bereits in den achtziger Jahren hatte er Wahlkämpfe für Oskar Lafontaine organisiert. ddp

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Streichkonzert in den USA

Der angekündigte Stellenabbau geht quer durch alle Branchen

New York - Massive Welle von Jobverlusten in der US-Wirtschaftskrise: Ein Unternehmen nach dem anderen kündigte am Wochenende den Abbau tausender Arbeitsplätze an. Am Schlimmsten trifft es die 30 000 Mitarbeiter der zweitgrößten US-Elektronikkette Circuit City. Der Handelskonzern ist pleite und wird liquidiert, alle Mitarbeiter dürften ihre Jobs verlieren. Der Mischkonzern General Electric (GE) erwägt laut einem TV-Bericht, 7000 bis 11 000 Stellen in seiner Finanzsparte zu streichen. Bei Hertz fallen mehr als 4000 Arbeitsplätze weg, bei AMD 900, beim Ölkonzern ConocoPhilips 1350. Der weltweit größte Pharmakonzern Pfizer will angeblich mit 2400 Stellen jeden dritten Arbeitsplatz in seinem Vertrieb streichen.

Circuit City versuchte noch bis zuletzt, einen Käufer für das Unternehmen oder neue Kredite zur Fortführung des Geschäfts zu finden. Am Freitag musste das Management jedoch das Scheitern eingestehen. Der anstehende Verlust von 30 000 Arbeitsplätzen auf einen Schlag dürfte der schwerste bei einem einzelnen Unternehmen seit Beginn der aktuellen Wirtschaftskrise werden. Circuit City sieht sich als Opfer des massiven Absatzeinbruchs bei Elektrogeräten in den USA, für den die seit fast 50 Jahren bestehende Kette schlechter gerüstet war als seine Konkurrenten wie Marktführer Best Buy oder der weltweit größte Supermarkt-Betreiber Wal-Mart.

Bei General Electric gehe es um mindestens 7000 der 75 000 Stellen in der Finanzsparte GE Capital, berichtete der US- Fernsehsender CNBC, der ebenfalls zu dem Mischkonzern gehört. Der Bereich, der in besseren Zeiten einen Großteil des Konzerngewinns lieferte, leidet seit Monaten schwer unter den Folgen der Finanzkrise.

Der Stellenabbau bei Hertz soll alle Bereiche und alle Regionen treffen. Da das Geschäft schrumpft, sollen die Kosten gesenkt werden. Der Wegfall der mehr als 4000 Arbeitsplätze soll helfen, im laufenden Jahr 150 bis 170 Millionen Dollar einzusparen.

Bei Pfizer treffen die Stellenstreichungen dem Wall Street Journal zufolge Außendienstmitarbeiter und das mittlere Management. Erst kürzlich hatte Pfizer den Abbau von 800 Arbeitsplätzen in der Forschung beschlossen. Bei Conoco-Philips ist der Abbau von 1350 Jobs, etwa vier Prozent der Belegschaft, eine Folge der drastisch gefallenen Ölpreise.

AMD streicht wegen der aktuellen Schwäche der Computerbranche weitere 900 Arbeitsplätze. Zusammen mit früheren Plänen zum Abbau von 200 Jobs gehe es um 1100 Stellen, etwa neun Prozent der Belegschaft, berichteten US-Medien.

Konzernchef Dirk Meyer und der Verwaltungsratsvorsitzende Hector Ruiz verzichteten zudem zeitweise auf ein Fünftel ihres Grundgehalts. Auch andere Angestellte müssen mit Einkommenseinbußen rechnen, wenn auch in geringerem Maße. In der aktuellen Krise werden Lohnkürzungen in den USA wieder häufiger als Sparmaßnahme eingesetzt. Unter anderem hatte der Baumaschinen-Hersteller Caterpillar im Dezember dazu gegriffen. dpa

Pfizer Inc.: Personalabbau Circuit City: Personalabbau General Electric Company: Personalabbau The Hertz Corp: Personalabbau Advanced Micro Devices: Personalabbau ConocoPhillips: Personalabbau Folgen der Finanzkrise in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Widerstand gegen RWE

Niederländische Politiker bekämpfen Verkauf von Essent

Von Hans-Willy Bein und Siggi Weidemann

Amsterdam/Köln - Der Vorstand des Essener Energiekonzerns RWE ist Querschüsse aus der Politik gewohnt. Zum einen beobachtet die Öffentlichkeit das Gebaren von Stromversorgern ohnehin kritisch. Zum anderen sind bei RWE westdeutsche Kommunen wichtige Aktionäre - bringen Entscheidungen des Vorstandsvorsitzenden Jürgen Großmann Nachteile für bestimmte Gemeinden, ist Widerstand gewiss. Nun bekommt das Unternehmen außerdem noch Ärger mit Kommunalpolitikern aus den Niederlanden. Denn gegen den geplanten Verkauf von Essent, dem größten Gas- und Stromproduzenten der Niederlande an RWE, formiert sich dort erheblicher politischer Widerstand. Die Firma gehört bislang Provinzen und Kommunen des Nachbarstaates.

In einer Sondersitzung des Parlaments haben Abgeordnete jetzt ihre Zweifel und Sorgen zum Ausdruck gebracht. Während sich die Regierungspartei Christliche Demokraten (CDA) und die oppositionelle rechtsliberale VVD für das Geschäft aussprechen, plädieren die Sozialisten (SP), die Partei Grün/Links sowie die sozialdemokratische PvdA-Fraktion gegen einen "Ausverkaufs des Energiemarkts". Die PvdA-Parlamentsfraktion hat ihre Parteigenossen in den sechs Provinzen und 136 Gemeinden, die Anteile an Essent haben, aufgefordert, den Verkauf zu verhindern. Da die PvdA in diesen Provinzen und Gemeinden über eine Mehrheit verfügt, könnte der Verkauf tatsächlich blockiert werden.

Voraussetzung dafür ist, dass alle sozialdemokratischen Gemeinderatsmitglieder und alle Deputierten - das sind die Abgeordneten in den Provinzparlamenten - dem Aufruf folgen. Aber damit wird nicht gerechnet, denn vor Ort steht man, auch bei der PvdA, dem Verkauf weitgehend positiv gegenüber. Bei RWE gibt man sich deswegen gelassen: Es habe im Vorfeld viele Gespräche mit allen betroffenen Seiten gegeben, sagte ein Sprecher. Man habe nicht den Eindruck, "dass die holländische Nation nun geschlossen gegen RWE steht". "Wir haben ein gutes Angebot gemacht und die Zustimmung von Vorstand und Aufsichtsrat von Essent", erklärte der Sprecher.

In der Sondersitzung des Parlaments begründete Diederik Samson (PvdA) den Kampf gegen den Verkauf damit, dass RWE keinen guten Ruf beim Thema saubere Energie habe. Finanzminister Wouter Bos (PvdA) erklärte, dass die Regierung bei einem Verkauf der Anteile die Zuschüsse an die Provinzen kürzen könnte. Schließlich flössen den Regionen ja die Verkaufserlöse zu: "Wenn sie mehr Geld haben als notwendig, passen wir die Zuschüsse an." Es ist ein offenes Geheimnis, dass die christlich-sozialliberale Regierungskoalition von Premier Jan Peter Balkenende (CDA) einen Teil des Kaufpreises von 9,3 Milliarden Euro in bar, den RWE überweisen will, in die Staatskasse lenken will, um Hilfspakete gegen die Rezession zu finanzieren.

Dividenden fehlen

Jan Franssen, königlicher Kommissar - eine Art Gouverneur - der Provinz Südholland, reagierte wütend auf die Aussagen des Finanzministers: Es sei "ungeschickt", dass die Regierung mit dem Kappen staatlicher Gelder drohe. So seien allein 60 Prozent des Verkaufserlöses dafür notwendig, bei den Provinzen und Kommunen den zukünftigen Verlust an Essent-Dividenden auszugleichen. Das restliche Geld wolle man unter anderem ins Verteilernetz investieren.

RWE hat ein Barangebot für den Erwerb aller Essent-Anteile ohne das Verteilernetz und das Entsorgungsgeschäft abgegeben. Mindestens 80 Prozent des Grundkapitals müssen den Essenern angedient werden, damit das Geschäft zustande kommt. Nehmen sogar alle Aktionäre das Angebot an, hat der Verkauf ein Volumen von 9,3 Milliarden Euro. RWE rechnet damit, die Übernahme bis zum dritten Quartal 2009 über die Bühne zu bringen. Nicht nur die Kommunen und Provinzen müssen von RWE als neuem Eigner überzeugt sein: Auch der Gesamtbetriebsrat von Essent muss eine Stellungnahme abgeben. Die Kartellbehörden müssen ebenfalls zustimmen.

Kraftwerk von Essent im niederländischen Geleen: Die Linken wollen den Verkauf verhindern. Bloomberg

RWE Aktiengesellschaft: Kauf Essent NV: Verkauf Innenpolitik der Niederlande SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gratulation für "Pro Reli"

Volksentscheid in Berlin am 7. Juni möglich

Berlin - Die Berliner Bürgerinitiative "Pro Reli" kann mit einem Erfolg rechnen: Am Donnerstag gab die Initiative bekannt, dass sie schon vor Fristende am 21. Januar mehr als 195 000 Unterschriften beim Landeswahlleiter abgegeben habe. 170 000 Stimmen sind notwendig, damit es in Berlin zu einem Volksentscheid kommt. Dieser könnte am 7. Juni, dem Tag der Europawahl, stattfinden.

Die Initiative will bewirken, dass Religion als ordentliches Lehrfach an den Berliner Schulen eingeführt wird. Seit 2006 ist Ethik in Berlin für alle Schüler ab der 7. Klasse ein Pflichtfach, der Besuch des Religionsunterrichts ist dagegen freiwillig.

Die Kirchen gratulierten der Bürgerinitiative bereits zum Erfolg ihres Volksbegehrens. Landesbischof Wolfgang Huber sagte: "Ich freue mich sehr, dass voraussichtlich die notwendige Anzahl an Unterschriften erreicht wird. Das kann dafür sorgen, dass der Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach wird. Das tut der Berliner Schule gut."

Auch die Berliner Katholiken unterstützen die Initiative: "Das Volksbegehren greift etwas auf, was wir schon immer gefordert haben. Deswegen waren wir auch von Anfang an überzeugt, dass es klappt", sagte Stefan Förner vom Erzbistum Berlin. Zwar sei ihm bewusst, dass das Ziel noch nicht erreicht sei, man freue sich aber bereits jetzt über die breite Resonanz in den Pfarrgemeinden. Dass die Schüler möglicherweise bald getrennt voneinander unterrichtet werden, befürwortet Förner: "Je kompetenter jemand in seiner eigenen Religion zu Hause ist, desto gelassener, offener und toleranter kann er mit jemand anderem sprechen."

Anders sieht es dagegen Johann-Albrecht Haupt von der Humanistischen Union: "Ein gemeinsamer Ethikunterricht ist die Chance, die wesentlichen Fragen des Zusammenlebens zu diskutieren." Doch darauf soll laut dem Vorsitzenden von "Pro Reli", Christoph Lehmann, auch nicht verzichtet werden, wenn Religion Wahlpflichtfach wird: Zu bestimmten Themen könnte man gemeinsam die unterschiedlichen Positionen diskutieren. (Seite 4) Laura Weißmüller

"Je kompetenter jemand in seiner Religion ist, desto gelassener kann er sein"

Humanistische Union e.V. Unterrichtsfach: Religion Schulwesen in Berlin Volksabstimmungen in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Guantanamo-Pläne Schäubles in der Kritik

Berlin - Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist wegen seiner Ablehnung einer Aufnahme von einzelnen Gefangenen aus dem US-Lager Guantanamo auf Kritik gestoßen. Auch die Bundesregierung ging auf Distanz. Es gebe noch keine endgültige Entscheidung, sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg am Freitag. Jeder Minister, der sich jetzt festlege, müsse damit rechnen, "dass er sich eines Tages revidieren muss", fügte Steg hinzu. Auf jeden Fall sei es für eine solche Entscheidung noch zu früh. Erst müsse das Vorgehen der US-Administration abgewartet werden. Falls das Lager geschlossen wird, können möglicherweise nicht alle als ungefährlich eingestuften Insassen in ihre Heimatstaaten zurückkehren. Einige müssen dort Verfolgung befürchten, so die inhaftierten Uiguren, Angehörige einer in China lebenden muslimischen Minderheit. dpa/AP

Schäuble, Wolfgang: Angriffe Kriegsgefangene der USA in Guantanamo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Helfer für die Uni Witten

Witten - Ehemalige Studenten der Privatuniversität Witten/Herdecke wollen einen Verein gründen, der sich mit einem Millionenbetrag an der kriselnden Universität beteiligt. Mit dem Geld wolle der Verein Gesellschafteranteile erwerben, sagte am Freitag Universitätssprecher Ralf Hermersdorfer. Allerdings wollen die Initiatoren nur Anteile übernehmen, wenn das Land die Privatuniversität weiter finanziell unterstützt und weitere Investoren sich beteiligen. dpa

Private Universität Witten/Herdecke GmbH: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lebenslange Haft

Berlin - Der erste serbische Kriegsverbrecher, der vom UN-Tribunal fü;r das ehemalige Jugoslawien zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, verbüßt seine Strafe in Baden-Württemberg. Das teilte das Bundesjustizministerium am Freitag mit. Ex-Generalmajor Stanislav Galic, 65, der am Donnerstag nach Deutschland gebracht wurde, wurde wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Die Kriegsverbrecher Dusko Tadic und Dragoljub Kunarac traten bereits kürzere Haftstrafen in Deutschland an. dpa

Kriegsverbrecherprozesse beim Haager Tribunal Gefängnisse in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Treffpunkt Wohnzimmer

In unsicheren Zeiten bleiben viele lieber zu Hause und verschönern ihr Heim

Von Stefan Weber

Düsseldorf - Auf eins konnte sich die Möbelbranche in den vergangenen Jahren stets verlassen: Ihre Geschäfte liefen immer dann besonders gut, wenn die Autohersteller über einen schleppenden Absatz klagten - und umgekehrt. Beide Branchen konkurrieren um den Teil des Budgets, das viele Verbraucher für langfristige Anschaffungen reserviert haben. Und da heißt es in den meisten Fällen: Entweder ein neues Auto oder eine neue Küche.

Die Zulassungszahlen sind in den vergangenen Monaten dramatisch zurückgegangen. Aber anders als bisher prognostizieren viele Fachleute auch den Möbelanbietern eine düstere Zukunft. Nach einer Umfrage der Unternehmensberatung Boston Consulting Group gehören sowohl Autos als auch Möbel zu den größeren Anschaffungen, die die Verbraucher in diesem Jahr eher meiden. Und Timo Renz, Geschäftsbereichsleiter Möbel bei der Unternehmensberatung Wieselhuber & Partner, sagt Herstellern und Handel kräftige Umsatzrückgänge und eine verstärkte Auslese voraus. Im schlimmsten Fall würden die Möbelverkäufer zehn Prozent weniger umsetzen als 2008.

Die Branche will von solchen Vorhersagen nichts wissen. Das sei durch nichts gerechtfertigtes Krisengerede, schimpft Dirk-Uwe Klaas, der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie (VDM). Er ist überzeugt, dass die Firmen der schwierigen Konjunktur trotzen werden: "Die Möbelbranche kann sogar zum Gewinner der Krise werden. Denn in unsicheren Zeiten wie diesen sind viele Menschen gerne zu Hause und sparen deshalb nicht an der Wohnungseinrichtung." Tatsächlich registrieren Trendforscher seit einiger Zeit eine Lebensart, bei der das Zuhause zum sozialen Mittelpunkt wird. Soziologen sprechen von "Homeing": Statt in Restaurants zu gehen trifft man sich zum Kochen am heimischen Herd, das Wohnzimmerkino ersetzt den Besuch im Lichtspielhaus.

In den achtziger Jahren gab es einen ähnlichen Trend: Cocooning bezeichneten Trendforscher damals die Neigung vieler Menschen, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Große Umsatzzuwächse hat diese Lebensart der Möbelwirtschaft nicht beschert. Aber Klaas bleibt zuversichtlich: "2009 wird die Branche eine schwarze Null schreiben."

Im vergangenen Jahr erwirtschafteten die Möbelhersteller ein Plus von zwei Prozent auf 19,9 Milliarden Euro. Selbst in den letzten drei Monaten des Jahres, als sich die allgemeine Krise bereits deutlich abzeichnete, seien die Auftragseingänge weder in der Industrie noch beim Handel eingebrochen, heißt es beim VBM. Beflügelt wurde das Geschäft von der regen Nachfrage aus dem Ausland. In Deutschland hatten vornehmlich die Anbieter von Büromöbeln und Küchen Grund zur Freude. Andere Hersteller, etwa von Polstermöbeln, verzeichneten schon 2008 einen kräftigen Umsatzeinbruch.

Der Blick auf das Branchenumfeld vermittelt ein uneinheitliches Bild: Pessimisten verweisen auf die weiter sinkende Zahl der fertiggestellten Wohnungen und steigende Arbeitslosenzahlen. Optimisten betonen, dass die Zahl der Haushalte immer noch steigt. Obendrein hätten die Verbraucher dank gesunkener Energiepreise und zum Teil kräftiger Lohnzuwächse einen größeren finanziellen Spielraum als im vergangenen Jahr.

Sicher ist, dass die wenigsten Möbelanbieter über größere Reserven verfügen, um eine länger andauernde Durststrecke durchzustehen. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform beziffert die durchschnittliche Eigenkapitalquote der Hersteller mit nur zehn Prozent. Branchenkenner Renz ist deshalb überzeugt, dass einige Hersteller direkt in die Krise oder gar Insolvenz steuern, wenn die Umsätze um ein paar Prozent zurückgehen.

Spektakuläre Fälle wie die Pleite des Branchenführers Schieder im Jahr 2007 sind zwar bisher ausgeblieben, die Dramen spielen sich eher in kleinerem Ausmaß ab - wie im Oktober, als der fränkische Hersteller Völker Design in Finanznöte geriet oder kurz vor Weihnachten, als das branchenweit bekannte, traditionsreiche Kölner Einrichtungshaus Pesch Insolvenz anmeldete. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der produzierenden Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern um 500 auf etwa 1000 gesunken. In dieser Zeit sind in der deutschen Möbelindustrie 50 000 Stellen weggefallen.

Kurzfristige Strategien zur Umsatzsteigerung helfen den Möbelbauern nach Einschätzung von Fachleuten nicht weiter. "Die Unternehmen müssen ihre Effizienz erhöhen", meint Renz. Wie das funktionieren kann, deutet VDM-Hauptgeschäftsführer Klaas an: Durch eine Reduzierung der häufig sehr breiten Produktpalette beispielsweise. Oder ein Abspecken der Produkte: "Vielen Kunden ist es gleichgültig, ob die Füße eines Sofas aus Edelstahl sind, oder nur noch in Edelstahloptik daherkommen."

Möbelmesse: Der Kampf ums schmale Budget der Kunden

IMM KÖLN

Die internationale Einrichtungsmesse

vom 19. bis 25. Januar 2009

Wohlgefühl im Jahr 1967. Wenn das Geld knapper wird, wird das Zuhause wichtiger. Foto: SV-Bilderdienst

Möbelindustrie in Deutschland Internationale Einrichtungsmesse Köln Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Versicherung zahlt für Siemens

München - Die Siemens AG ist nach Informationen der Süddeutschen Zeitung zuversichtlich, im Korruptionsskandal einen höheren Millionenbetrag aus einer vor Jahren abgeschlossenen Versicherung zu erhalten. Aus Konzernkreisen hieß es am Wochenende, ein Assekuranz-Konsortium unter Führung der Allianz sei offenbar bereit, zu zahlen. Siemens hat sich für Schäden, die von Vorständen oder Aufsichtsräten verursacht werden, bei diesem Konsortium mit 250 Millionen Euro versichert. Das Konsortium will nach Angaben aus Siemens-Kreisen aber "nicht die volle Deckungssumme" zahlen. Offiziell äußert sich Siemens dazu nicht. Der Korruptionsskandal hat den Industriekonzern bislang fast zwei Milliarden Euro gekostet. Von ehemaligen Vorständen, die ein System von schwarzen Kassen und Schmiergeldzahlungen ermöglicht haben sollen, verlangt Siemens zwischen einer Million und sechs Millionen Euro Schadenersatz. Diese Beträge sollen die Ex-Vorstände aus ihrem privaten Vermögen zahlen. o.k.

Bestechungsaffären bei Siemens 2006 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Landesbank in schwerer Sinnkrise

Die HSH sucht nicht nur ein zukunftsfähiges Geschäftskonzept, sondern auch neue Kapitalgeber. Politiker stellen den Nutzen des Instituts für die Länder zunehmend in Frage

Von Jens Schneider und Meite Thiede

Hamburg - Das hätte sich Dirk Jens Nonnenmacher gewiss nicht träumen lassen, als er im Oktober 2007 bei der HSH Nordbank in den Vorstand eintrat: Statt wie genannt die Lorbeeren dafür zu ernten, die erste Landesbank an die Börse zu bringen, muss er heute, als Vorstandschef, um den Ruf und sogar die Existenz seines Instituts kämpfen. Längst befindet sich die Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein in einem gefährlichen Abwärtsstrudel schlechter Nachrichten. Da fackeln Investoren nicht mehr lange, und Nonnenmacher weiß: Seine Großkunden kostet es nur einen Mausclick, schon haben sie ihre milliardenschweren Einlagen abgezogen.

Um das zu verhindern, versucht es der 45 Jahre alte Mathematik-Professor jetzt sogar mit Psychologie. Die Bank, die einen Milliardenverlust für 2008 erwartet und keine Dividende zahlt, will wenigstens die stillen Einlagen von 860 Millionen Euro bedienen. Es geht nur um 64 Millionen Euro - und um die Hoffnung, dass der schlimmste Fall nicht eintritt: Die Umworbenen kassieren zwar den Coupon, tun den schlimmen Mausclick aber trotzdem. Dann müsste die Bank mit noch mehr Kritik rechnen. Dem Schritt ist in den Regierungen der Länder ohnehin mit Widerwillen begegnet worden. "Keine erfreuliche Nachricht" ist es für die finanzpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion in Schleswig-Holstein, Birgit Herdejürgen. Oppositionspolitiker finden die Erklärung Nonnenmachers für die Dividende gar skandalös - ob nun die SPD in Hamburg oder FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki in Kiel, der sie "haarsträubend absurd" nennt.

Die Regierenden freilich haben derzeit weitaus größere Sorgen: Die Zukunft der Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein ist völlig offen. Im besten Fall gelingt Nonnenmachers Plan, nach dem die HSH zu einer Regionalbank schrumpfen soll, deren Bilanzsumme nur noch 120 statt bisher 200 Milliarden Euro stark wäre. Der Rest würde ausgegliedert und entsorgt oder verkauft.

Im schlimmsten Fall steht sogar die Existenz des Instituts in Frage. "Keiner braucht doch diese Bank", heißt es im Norden. De facto ist die HSH gar keine Landesbank, deren Funktion ja die Refinanzierung der Sparkassen ist. Die Hamburger Sparkasse - größte Sparkasse Deutschlands - ist selbständig, und für die 15 schleswig-holsteinischen Sparkassen hat die HSH 2008 keine einzige nennenswerte Mittelstandsfinanzierung gemacht. Schließlich wollte man an die Börse, und dafür brauchte es keine Kleinkredite, sondern eine Wachstumsstory mit internationaler Ausrichtung. Nun ist die Frage, ob die HSH im Extremfall von staatlicher Seite als "systemrelevant" und rettungswürdig eingestuft wird.

In Kürze braucht sie frisches Kapital. Woher das kommen soll, weiß Nonnenmacher noch nicht. Fest steht nur, dass die Gesellschafter - neben den Sparkassen und beiden Ländern gibt es noch den Amerikaner Christopher Flowers - nicht können oder höchstens widerwillig wollen. Viele Landespolitiker hoffen, dass die Landesbank unter den staatlichen Rettungsschirm schlüpfen kann. Fünf Wochen hat Nonnenmacher noch Zeit, um der Soffin ein schlüssiges Konzept zu präsentieren. Fest steht nur, dass es wohl bei dem beschlossenen Personalabbau - 750 der 4500 Jobs werden gestrichen - nicht bleibt. "Eine zweite Welle wird kommen", heißt es. Ob Kiel als zweiter Standort der Bank erhalten bleibe, sei nicht mehr sicher. Den Erhalt des Sitzes in Kiel samt Arbeitsplätzen sieht aber die SPD in Schleswig-Holstein als Bedingung an. "Das ist für uns entscheidend", sagt Birgit Herdejürgen.

In Hamburg wird von der kleineren Regierungspartei GAL/Grüne inzwischen die Existenz der HSH als Landesbank in Frage gestellt. "Wir wollen prüfen lassen, ob die HSH als Bank eigenständig eine Zukunft haben kann", sagt GAL-Fraktionschef Jens Kerstan. Er denkt an eine "größere länderübergreifende Lösung" und deutet einen möglichen Rückzug Hamburgs an: "Langfristig stellt sich die Frage, ob die Stadt Hamburg an der Bank in dieser neuen Form noch beteiligt sein muss."

In Hamburg prüft derweil die oppositionelle SPD in einer Arbeitsgruppe namens "Operation Monopoly" einen Untersuchungsausschuss. Sie stimmt sich in einer bemerkenswerten Allianz mit der FDP in Kiel ab, die dort gegen die mit der CDU regierende SPD opponiert. "Mir soll", fordert FDP-Fraktionschef Kubicki, "endlich jemand erklären, warum es von der Bank noch im September hieß, dass sie 400 Millionen Euro Gewinn macht und dann so ein Ergebnis herauskommen konnte." Er fragt nach der Verantwortung der Regierungspolitiker im Aufsichtsrat. "Hier haben es Weltbanker mit Provinzpolitikern zu tun, die mit deren Kontrolle überfordert sind."

HSH-Chef Nonnenmacher kämpft ums Überleben der Bank. Foto: dpa

Nonnenmacher, Dirk Jens HSH Nordbank: Unternehmenskapital HSH Nordbank: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Reals Präsident Calderón

Geflüchtet wie ein Dieb

Madrid - Bis zuletzt hatte sich Ramón Calderón, Präsident bei Spaniens Fußball-Rekordmeister Real Madrid, gegen den Rücktritt gestemmt. Demissionen? Seien etwas für "Feiglinge". Beziehungsweise für solche, die "Schuld eingestehen müssten". Doch nichts davon treffe auf ihn zu, beteuerte Calderón. Das war am Mittwochabend, in einer 66-minütigen Pressekonferenz. Keine 48 Stunden später war zwar nicht ganz geklärt, ob sich Calderón nun, quasi über Nacht, in einen Hasenfuß oder einen Schuldigen verwandelt hatte. Fest stand nur, dass er am Freitagmittag vor der Regierungsjunta von Real Madrid seinen "unwiderruflichen Rücktritt" eingereicht hatte. Sein Adiós ist das Ende einer einerseits mit zwei Meistertiteln, andererseits mit etlichen Mauscheleien und degoutanten Taktlosigkeiten gespickten Präsidentschaft. Als Übergangspräsident soll Vize Vicente Boluda agieren, für den Sommer sollen Neuwahlen angesetzt werden.

Schon Caldérons Wahlsieg 2006 war skandalumwittert und von Betrugsvorwürfen begleitet. Vor Gericht hatte er erwirkt, per Briefwahl abgegebene Stimmen nicht auszuzählen; wären sie in das Resultat eingeflossen, wäre er wohl nie Präsident geworden. Vor diesem Hintergrund passte es zu gut, dass Calderón nun einräumen musste, dass auch die entscheidenden Abstimmungen der jüngsten Mitgliederversammlung vom 7. Dezember verschoben waren. Dies hatte die Zeitung Marca aufgedeckt. Eine Reihe von Personen, die nicht stimmberechtigt oder nicht einmal Vereinsmitglied waren, hatten für Calderón abstimmen können. "Bei meiner Ehre: Ich habe von alledem nichts gewusst. Ich bin ein Opfer!", wimmerte Calderón am Mittwoch. Die beiden Hauptverantwortlichen des Schmus seien geschasst worden. Einer der beiden, Luis Bárcena, erhielt eine Abfindung in Höhe von fast einer Million Euro. Der andere, der 25-jährige Mariano Rodríguez alias Nanín, nicht. Er sang stattdessen in allen erdenklichen Medien: "Ich habe nichts getan, was mir nicht zuvor vom Klub aufgetragen worden wäre." Zeitgleich warf eine frühere Sekretärin der Klubführung vor, Transfersummen künstlich aufgebläht zu haben, um selbst mitzukassieren. Auch das wies Calderón zurück. "Ich will nicht wie ein Dieb gehen", hat er Freitagnacht zu Vertrauten gesagt. Doch der Druck war schließlich zu groß. Javier Cáceres

Calderón, Ramón: Rücktritt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Operation Steuergeld

Schweden übernahm Geldhäuser und schützte seine Bürger

Von Alexander Hagelüken

München - Der Staat als Eigentümer von Banken? Eine Horrorvorstellung für jeden Marktwirtschaftler, der die Milliardenlöcher öffentlicher Geldhäuser wie BayernLB kennt. Der Staat als Eigentümer kann aus dieser Perspektive nur eine Notlösung für schwere Krisen sein, Verluste der Steuerzahler einkalkuliert. Doch es gibt ein Beispiel, das Hoffnung macht. Es hat mit exotischen Namen wie Gotabank und Riksgälden zu tun und zeigt, was eine Regierung leisten kann.

Anfang der Neunziger Jahre war es, als in Schweden eine Finanzblase platzte, die die Banken durch leichtfertige Kreditvergabe mit ausgelöst hatten. Die Immobilienpreise halbierten sich teilweise, große Geldhäuser bekamen ihre Darlehen nicht zurückgezahlt und schlitterten

auf die Pleite zu. Bei der privaten Gotabank wurde ein Drittel aller Kredite faul. In dieser Lage griff die Regierung ein, garantierte die Kundeneinlagen, schoss Kapital in die Geldhäuser. Aber sie nahm nicht nur wie zurzeit in Deutschland das Geld der Steuerzahler in die Hand, um die Kreditinstitute zu stützen - sie übernahm auch die Kontrolle. "Wir sagten den Aktionären: Wenn ihr vom Staat Kapital bekommt, wird er dafür den entsprechenden Einfluss verlangen", erzählt der damalige Finanzminister Bo Lundgren.

Abfindungen gekürzt

Die staatliche Behörde Riksgälden tauschte die komplette Führungsspitze der Gotabank und der ebenso maroden Nordbank aus und kürzte deren geplante Abfindungen. Faule Kredite der Banken wurden in eigene Gesellschaften mit Namen Securum und Retriva ausgelagert. Also in solche "Bad Banks" (wörtlich: schlechte Banken), die die deutschen Kreditinstiute derzeit so vehement fordern - die aber nach Ansicht von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück den deutschen Steuerzahler 200 Milliarden Euro zusätzliche Belastung kosten würden. Aus dem Vorgehen der Schweden lässt sich etwas lernen: Es gab damals keine gesamte Bad Bank. Die Gesellschaften wurden an die jeweilige Mutterbank angegliedert, damit nicht unterschiedliche Papiere mit unterschiedlichen Werten ganz unterschiedlicher Geldhäuser durcheinandergeworfen wurden.

Zweiter wichtiger Punkt: Das finanzielle Risiko der faulen Papiere blieb bei der Mutterbank und wanderte nicht zum Staat. Die Regierung achtete auch darauf, das Kapital der Bankkunden zu schützen, aber nicht das Kapital der Aktionäre. Diese mussten den staatlichen Einfluss hinnehmen und mitansehen, wie Gota- und Nordbank zerschlagen und zu einem neuen Institut Nordea zusammengeschwei t wurden, heute eine der größten Banken Schwedens.

Das Geld floss wieder zurück

Um das Geld der Steuerzahler wiederzubekommen, musste die Regierung länger warten, bis die Bankenkrise eben vorbei war. Sie kassierte etwas für den Verkauf von werthaltigen Aktiva der Banken. Sie kassierte Dividenden für ihre Aktien. Und sie konnte diese Aktien nach ein paar Jahren mit gewissen Kursgewinnen wieder verkaufen. Insgesamt setzte die Regierung sieben Milliarden Euro zur Rettung der Banken ein. Fünf Jahre später hatte sie laut Ex-Finanzminister Lundgren die Hälfte wieder hereingeholt. Am Ende blieb sie nach seinen Berechnungen auf einem geringen Verlust im Millionenbereich sitzen. Eine wissenschaftliche Studie rechnet anders und kommt sogar auf einen kleinen Gewinn.

Bemerkenswert ist am schwedischen Beispiel, dass die Interessen der Steuerzahler mindestens so hoch gewichtet wurden wie die Interessen der Bankaktionäre. Das drastische Eingreifen des Staates, der anders als zurzeit in der Bundesrepublik das Management der hilfebedürftigen Banken feuerte, hatte noch einen anderen Effekt. Andere Kreditinstitute wie der SEB-Bank, die auch um staatliche Hilfe nachgesucht hatte, besannen sich anders. Das Management und die Großaktionäre retteten die SEB auf eigene Kosten - eine Lösung, die der Versicherungskonzern Allianz bei der Dresdner Bank vermieden hat.

Bank- und Kreditwesen in Schweden Verstaatlichung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neuer Chef für McLaren-Mercedes

Ron Dennis tritt zur Seite

Woking/Melbourne - Ron Dennis wird als Chef des Formel-1-Teams von McLaren-Mercedes zurücktreten. Der 61-Jährige tat den Schritt bei der Enthüllung des Rennwagens für die Saison 2009 kund. Auf einer Pressekonferenz kündigte er an, dass sein bisheriger Stellvertreter Martin Whitmarsh am 1. März den Posten an der Spitze übernehmen wird. "Mein Engagement bei McLaren wird in den nächsten Monaten und Jahren sicher zurückgehen", sagte Dennis. Ganz werde er die Firmengruppe aber nicht verlassen. Niemals. "Es ist offensichtlich, dass ich ein McLaren-Mitglied bleibe, und es gibt noch viele Dinge, die ich mit der Firma verwirklichen will."

Entsprechend undramatisch fielen die Reaktionen der anderen Führungskräfte aus. Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton sagte: "Ron tritt nicht zurück, eher zur Seite. In meinem Leben hat er eine wichtige Rolle gespielt, und fürs Team wird er immer ein wichtiges Mitglied bleiben." Mercedes-Sportchef Norbert Haug sprach von einem "ganz normalen Prozess": In der Praxis ändere sich nichts. Dennis werde weiter die Rennen besuchen und dort auftreten wie bisher. Die neue Hierarchie bringe ihm lediglich "eine Marscherleichterung". Mercedes gehören 40 Prozent von McLaren. Dennis deutete an, den Teil-Rückzug schon länger geplant zu haben. Er werde sich nicht an den Strand legen, sondern Projekte verfolgen, für die ihm bisher die Zeit gefehlt habe. Neben Formel-1-Autos baut McLaren auch extreme Sportwagen, die auf öffentlichen Straßen bewegt werden dürfen, zuletzt zusammen mit Mercedes den mehr als 450 000 Euro teuren SLR. Um die Entwicklung eines Nachfolge-Modells kann sich Dennis nun kümmern.

Der Termin für den Abtritt ist geschickt gewählt. Dennis geht als Sieger. Obwohl der Automobilweltverband im Herbst 2007 wegen Industriespionage eine Rekordstrafe in Höhe von 100 Millionen Dollar gegen McLaren verhängt hatte, glückte es Lewis Hamilton 2008, Weltmeister zu werden - als bislang jüngster Pilot und als erster Schwarzer. Dennis war an Hamiltons Aufstieg maßgeblich beteiligt, er hatte ihn schon als Teenager unter Vertrag genommen. Hamiltons Triumph ist für Dennis deshalb ein doppelter: Er unterstreicht seinen Ruf als Visionär. Dennis war 1966 als Mechaniker in die Formel 1 gekommen. Seit 1982 stand er an der Spitze von McLaren. hof

Dennis, Ron: Karriere Formel-1-Rennstall McLaren Mercedes SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Albas Erfolg in der Euroleague

Die Bürde des Rekords

Berlin/München - Henning Harnisch blickte vom Rande des Parketts hinauf in die riesige Arena und dachte: "Wunderbar! Das haben wir uns erarbeitet!" Selbst die Ränge ganz oben unter dem Hallendach waren besetzt, nie zuvor haben so viele Menschen eine deutsche Europapokal-Partie im Basketball besucht wie am Donnerstagabend, als der Meister Alba Berlin gegen Olimpija Ljubljana um den Einzug in die Runde der letzten 16 der Euroleague spielte. Doch 14 800 Zuschauer, ahnte Harnisch, 40, Europameister von 1993 und heute Sportdirektor bei Alba, können auch eine Bürde sein. "Entweder du spielst dich relativ schnell locker, oder es wird ein langer, schwerer Abend." Knapp zwei Stunden später, nach Verklingen der Schlusssirene, stand Harnisch dann unschlüssig hinter der Bande und lauschte, wie der Hallensprecher sich als Live-Kommentator versuchte - als Kommentator eines ganz anderen Spiels. "Das war eine bedrückende Atmosphäre." Entscheidend für den ersten Einzug in die Euroleague-Zwischenrunde seit neun Jahren war nun nicht mehr die eigene Partie, welche eine verkrampfte Alba-Mannschaft 59:67 (30:31) aus der Hand gegeben hatte. Nur, weil in Spanien zeitgleich Tabellenführer Tau Vitoria 91:83 gegen Joventut Badalona gewann, nach 42:51-Rückstand zur Halbzeit, reichte die Niederlage den Berlinern zum Weiterkommen. "Man zelebriert das natürlich viel zwiespältiger", sagte Harnisch am Freitagmorgen. "Einfach freuen, das geht dann nicht."

In einem Topf mit Top-Teams

Wie wichtig der Erfolg tatsächlich ist, glaubt Harnisch, wird das Team erst nach der Auslosung am Montag begreifen. Dann sind für die drei Heim- und drei Auswärtsspiele der Zwischenrunde Top-Teams wie ZSKA Moskau, Panathinaikos Athen und FC Barcelona im Topf. Zwar sind auf dem deutschen Basketball-Markt auch mit solchen Begegnungen keine TV-Gelder zu erlösen. Doch drei ausverkaufte Arenen bringen Alba immerhin einen sechsstelligen Betrag. "Und der Imagegewinn ist natürlich enorm", sagt Harnisch, der hofft, "dass wir in solchen Spielen dann wieder von unserer Außenseiterrolle profitieren können". Wie in den überzeugenden Partien der Vorrunde, gegen Badalona, Rom, Istanbul. "So weit, dass wir auch Spiele dominieren, die wir gewinnen müssen, sind wir offenbar noch nicht."

Dabei ist genau dies das ambitionierte Ziel des Klubs. Vor der Saison hatte Alba sich spektakulär verstärkt, um auch auf europäischer Ebene wieder eine Rolle zu spielen. "Da haben wir jetzt einen Riesenschritt gemacht", sagt Harnisch. Im Ligaalltag ist die Übermannschaft, als die einige Konkurrenten den Meister schon ausgerufen hatten, allerdings noch nicht in Erscheinung getreten. Kapitän Patrick Femerling ist langzeitverletzt und wurde gerade am Knie operiert. Julius Jenkins, wichtigster Akteur der vergangenen Saison, sucht nach einer Verletzung noch seine Form. Doch um sich langfristig unter den Top 16 Europas anzusiedeln, kommt es weniger auf die internationale Leistung an. "Wir müssen wieder Meister werden. Das ist die schwierigste Herausforderung", sagt Harnisch. Claudio Catuogno

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Geheimtraining hinter Glas

Wurst versprochen, Eis verboten: Heiner Brands Handballer starten gegen Russland in die WM

Varazdin - Ein Tag nur noch, es ist Freitag, die Sonne scheint über Varazdin, und am Samstag, das wissen sie, wird es direkt so wichtig: Auftaktspiel gegen Russland (17.30 Uhr, live bei RTL) , und wenn die deutschen Handballer verlieren sollten, haben sie bei dieser WM in Kroatien direkt ein großes Problem. Deshalb angesetzt: nicht öffentliches Training, oder besser: Geheimtraining, um die letzten Tricks zu üben. Gemächlich rollt der Bus mit den Handballern zum neu errichteten Hallenkomplex, als wolle er es in punkto Gemächlichkeit mit der Drau aufnehmen, die sich breit und träge neben der Halle zwischen den weißen Ufern hindurchschiebt. Gelassen steigen die deutschen Spieler aus, sie schlendern in die Halle, und leider sehen sie nicht, dass die Kroaten vier Logos neben der Eingangstür angebracht haben, die das Mitführen von brennenden Zigaretten, Hunden, Speiseeis und Schusswaffen verbieten, in dieser Reihenfolge.

Dafür sehen sie bald, dass die kleine Trainingshalle, die sich neben der Haupthalle befindet, von allen Seiten durch einfamilienhausgroße Glasscheiben einsehbar ist und das Geheimtraining also nur halb geheim ist, was bekanntlich heißt: öffentlich. Immerhin: Russen haben dann keine zugesehen, sodass kaum jemand weiß, was die deutschen Handballer alles geübt haben, so kurz, bevor es wirklich ernst wird.

Apropos ernst: Mitten in die geheimen Bemühungen der Handballer hinein verbreitete die Deutsche Presseagentur am Freitag die Nachricht, dass Bundestrainer Heiner Brand sich im Falle der Titelverteidigung über eine lebenslange Versorgung mit Currywurst freuen könne. Demnach habe ein - Zitat - "Fleischunternehmer aus dem Oberbergischen" versprochen, Brand monatlich ein Kilogramm Wurst zu liefern, wenn denn die Deutschen den Titel gewännen. Vermutlich weiß der umtriebige Fleischunternehmer aus dem Oberbergischen, dass er Brand statt eines Kilos Wurst relativ gefahrlos auch ein Kilo Gold hätte versprechen können, denn es muss als höchstwahrscheinlich gelten, dass die deutsche Mannschaft ihren Titel nicht verteidigt.

Das hat mehrere Gründe, zuerst natürlich den, dass Brand nach Olympia 2008 den Umbruch eingeleitet hat. Dazu gesellt sich das traditionelle Verletzungspech der Deutschen. Es ist nachgerade unheimlich, in welcher Regelmäßigkeit sich wichtige Spieler vor großen Turnieren verletzten, mindestens einer ist es immer, diesmal ist es Michael Kraus. Das wiederum ist besonders unglücklich, da Brand den 25 Jahre alten Kraus erst kürzlich zum Kapitän befördert hatte; es sollte ein Zeichen für eine neue Ära sein und ein Zeichen des Vertrauens an Kraus, der die Mannschaft als Mittelmann lenken und führen sollte. Kraus laboriert an einem Muskelfaserriss, den er sich vor einer knappen Woche beim Vorbereitungsspiel gegen Spanien zuzog. "Vielleicht gibt es ja noch ein Wunder", brummte Brand am Freitag nach dem Training.

Beim Geheimtraining spielte Kraus jedenfalls nicht mit der Mannschaft, sondern übte allein an den Rändern des Feldes; er dehnte sich, machte geschätzte 350 Liegestütze im Nähmaschinentempo, absolvierte einige Sprints, warf ein wenig aufs Tor und wirkte insgesamt recht spritzig und fit. Ob sie bluffen beim Handball-Bund? Eher nicht, denn der Rest der Mannschaft übte spezifische Situationen für die Partie gegen Russland, insbesondere, wie die Abwehr zu stellen ist, und es wäre sportlicher Irrsinn, Kraus dabei nicht mitmachen zu lassen, wenn er fit wäre.

Statt des für einen Mittelmann eher jungen Kraus muss nun Martin Strobel das deutsche Spiel lenken. Der ist noch jünger, 22 Jahre alt, und er ist ganz neu dabei. Am Freitag schien es, als erfreue Brand dieser Gedanke aus irgendeinem Grund, so wie es manchen Seiltänzer freut, wenn er weiß, dass er heute zur Abwechslung mal ohne Netz arbeiten kann. "Der Junge hat nicht viel Erfahrung. Da muss man sehen, wie er sich schlägt", sagte Brand so gelassen, als ginge es nicht um den Auftakt der WM, sondern um einen Show-Auftritt für einen Fleischunternehmer aus dem Oberbergischen. "Da muss man den Druck ein bisschen rausnehmen, damit er nicht zu viel will", führte Brand in großer Seelenruhe aus und schloss zufrieden: "Und dann wird er das schon hinkriegen." Nach diesen Worten schlenderte Brand so gemächlich zum Bus, als wolle nun auch er es in punkto Gemächlichkeit mit der Drau aufnehmen, die sich - so schien es - mittlerweile noch langsamer am beschaulichen Varazdin vorbeischob, auf dem Weg nach Osijek, wo sie in die Donau mündet.

Bis zum kommenden Donnerstag agieren sie nebeneinander, die Drau und die Deutschen, dann geht die Reise für die Handballer weiter. Im schlechtesten Fall flussaufwärts, zurück nach Hause. Im besseren Fall geht sie zur Hauptrunde nach Zadar, das liegt am Endpunkt der Flüsse, am Meer. Christian Zaschke

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Im Wasser üben

Die deutschen Tennisprofis pflegen vor Beginn der Australian Open ihre Wunden

Melbourne - Die Rezession hat Australien mit Wucht getroffen. 44 000 Arbeitsplätze hat die Krise schon gekostet, allein im Bundesstaat Victoria gehen jeden Tag 150 Jobs verloren. Auch der Sport leidet. Den Melbourne Demons, einem der örtlichen Football-Klubs, fehlen ein Sponsor und fünf Millionen Dollar. Das Tennis entzieht sich dem Trend noch. In den vergangenen zwei Jahren gab es Zuschauerrekorde bei den Australian Open, weshalb es in diesem Jahr mehr Preisgeld gibt. Zwei Millionen Down-Under-Dollar bekommen die Siegerin und der Sieger der Einzelwettbewerbe, die am Montag beginnen. Jeder, versteht sich. Ken Rosewall wurde 1972 noch mit 2000 australischen Dollar abgespeist. An der Kaufkraft gemessen entsprächen die heute 18 000. Mit so wenig gehen inzwischen nicht einmal die Erstrunden-Ausscheider nach Hause. Alles angemessen, behaupten die Organisatoren trotzdem: Schließlich sei ihr Turnier "die wichtigste Sportveranstaltung weltweit im Januar". Der Park, in dem die Filzbälle fliegen, wird auf den Plakaten als "die größte Bühne überhaupt" angepriesen. Bescheidenheit sieht anders aus.

Wer auf der großen Bühne wohl seinen großen Auftritt haben wird? Wahrscheinlich Andy Murray, sagen zumindest die Buchmacher. Der Brite hat sich bei den Vorbereitungsturnieren in einer guten Form gezeigt, was die Wettquoten abstürzen ließ. Vor einigen Monaten wurde ein Murray-Sieg mit 15:1 gehandelt, inzwischen gibt es pro Dollar Einsatz nur noch 3,50, falls er gewinnt. Weniger lohnenswert ist lediglich eine Wette auf Roger Federer (3,25 für 1). Für Murray wäre es der erste Grand-Slam-Titel, für Federer der 14., womit er den Rekord von Pete Sampras einstellen würde. Bei den Frauen ist das Feld weit offen. Titelverteidigerin Maria Scharapowa tritt wegen ihrer Schulterbeschwerden nicht an, und an die aktuelle Nummer eins der Rangliste, Jelena Jankovic, mag so recht keiner glauben. Die Serbin musste sich zuletzt ein wenig Spott gefallen lassen. Erst richtete ihr Serena Williams aus, dass die Weltranglistennummer nichts besage ("Auch als Nummer tausend würde ich mich immer noch für die Beste halten"), dann beschied Roger Federer, der Wettbewerb bei den Frauen sei im Vergleich zu dem der Männern recht bescheiden ("Ich respektiere Jelena, aber Rafael Nadal musste fünf Grand-Slam-Titel gewinnen, um die Nummer eins zu werden").

In Melbourne könnte der spanische Spitzenreiter in Runde drei auf Tommy Haas treffen, falls der antritt und nicht gleich am Argentinier Eduardo Schwank scheitert. Haas hat seit fünf Monaten wegen einer Ellbogenentzündung kein Match mehr bestritten. Auch die Wildcard für das Turnier in Doha musste er ausschlagen. Am Freitag gewann er in Kooyong einen Schaukampf gegen Mardy Fish. Nicolas Kiefer, der sich zwei Bänder gerissen hat, schlug am gleichen Tag im Stand ein paar Bälle. Danach ging es wieder zum Schwimmen und zum Aqua-Jogging. An diesem Samstag will er entscheiden, ob er überhaupt antritt. Besser stehen die Chancen für Rainer Schüttler, bei dem die Ärzte nach seiner Absage für das Turnier in Chennai ein Ganglion im linken Handgelenk fanden. Aus dem Nervenknoten wurde Flüssigkeit gezogen. Fließt neue nach, droht das Prozedere erneut. Philipp Kohlschreiber hat noch nicht in Melbourne geübt. Er reist spät aus Auckland an, weil er bei dem dortigen Turnier seinen Titel verteidigen wollte. Daraus wurde nichts, nachdem die Schulter plötzlich schmerzte. Ob es klug ist, mit Schmerzmitteln in der ersten Runde dem starken Amerikaner Sam Querrey gegenüberzutreten, sollen die Ärzte entscheiden. René Hofmann

Auftaktspiele in Melbourne

Männer, u.a.: Schüttler (Korbach/30) - Qualifikant, Kohlschreiber (Augsburg/32) - Querrey (USA), Haas (Hamburg) - Schwank, Cañas (beide Argentinien) - Kiefer (Hannover), del Potro (Argentinien/8) - Zverev (Hamburg), Gremelmayr (Lampertheim) - Ferrer (Spanien/ 11), Dabul (Arg) - Petzschner (Bayreuth), Nadal (Spanien/1) - C. Rochus (Belgien), Seppi (Italien) - Federer (Schweiz/ 2), Hewitt (Australien) - Gonzalez (Chile/13), Murray (GB/4) - Pavel (Rumänien), Ferrero (Spanien) - Santoro (Frankreich).

Frauen, u.a.: Görges (Bad Oldesloe) - Ivanovic (Serbien/5), V. Williams (USA/6) - Kerber (Kiel), Wozniak (Kanada/30) - Lisicki (Berlin), Barrois (Bous) - Dementiewa (Rus/4), Malek (Bad Saulgau) - Morita (Japan), Grönefeld (Nordhorn) - Qualifikantin.

Ob Andy Murray von den australischen Buchmachern auch als Turnierfavorit gehandelt würde, wenn sie seine Trainingseinheiten in Melbourne beobachtet hätten? Da lag der Schotte in ernstem Clinch mit dem Ball. Foto: AFP

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Risiken am Banker-Bankett

Von Martin Hesse

Man muss dankbar sein, dass das größte Kreditinstitut des Landes enge Beziehungen zu der deutschen Zeitung mit den größten Buchstaben pflegt. So konnte schnell aufgeklärt werden, was vielleicht einmal als Bratwurst-Affäre in die Wirtschaftsgeschichte eingehen wird. Als Deutschland am Donnerstag von der Meldung aus dem Schlaf gerissen wurde, Josef Ackermann habe nach einem Empfang in Berlin einen Kreislaufkollaps erlitten, zeichnete sich für einen Moment Schlimmes ab für den Finanzplatz Deutschland.

Bankaktien knickten ein. Rasch zogen in Finanzkreisen heikle Gerüchte ihre Bahnen. Konnte es sein, dass hinter Ackermanns Rücken nicht nur toxische Wertpapiere in seine Bilanzen gerieten, sondern auch Gift in sein Essen gelangt war? Denn so viel war rasch klar: Es lag am Essen. Und wozu Politiker in der Lage sind, ist bekannt, spätestens seit Bundespräsident Horst Köhler die Finanzmärkte als Monster bezeichnete und Peter Sodann, Fernsehkommissar i. R., selbst Anwärter auf das erste Amt im Staate, Ackermann verhaften lassen wollte.

Gott sei Dank aber gibt es Bild, die ihrer Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems gerecht wurde. Rasch stand die Leitung zu Josef Ackermann und der Chef der Deutschen Bank stellte klar: "Auf dem Neujahrsempfang habe ich zum Schluss noch ganz schnell zwei Würstchen mit Sauerkraut gegessen, dann wurde mir schlecht." Viele Termine, ständig diese Milliardenverluste, fettige Berliner Würstchen. Da kann dem stärksten Wir-brauchen-kein-Staatsgeld-Banker übel werden. Die Märkte haben sich dann rasch beruhigt, zumal Ackermann gelobte, künftig besser auf sich achten zu wollen.

Wir würden uns wünschen, dass alle Banken mit systemischen Risiken wie Bratwürsten so transparent umgehen würden. Warum erfährt man nicht, wie Commerzbank-Chef Martin Blessing das Essen beim Neujahrsempfang der amerikanischen (!) Handelskammer in Stuttgart vertragen hat? Warum wissen wir so wenig über die Ernährungsgewohnheiten von Landesbanken-Chefs? Und was aß Georg Funke, ehe die Hypo Real Estate zusammenbrach? Weißwurst? Lüngle? Presssack? Hilfe!

Ackermann, Josef: Gesundheitliches SZ-Serie Abgerechnet SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ausgeträumt

Die Finanzkonzerne haben nur noch einen einzigen Investor - die Regierung in Washington

Von Moritz Koch

New York - Die Finanzkrise hat Amerikas Großbanken erneut zu verzweifelten Sanierungsschritten gezwungen. Die Citibank spaltet sich auf, und die Bank of America zapft zum zweiten Mal den staatlichen Rettungsfonds an. In den vergangenen Monaten haben beide Finanzkonzerne schwere Verluste erlitten.

Für die gebeutelte Citigroup war es schon der fünfte Quartalsverlust in Folge. Die einst weltweit größte Bank verbuchte Einbußen von mehr als acht Milliarden Dollar. Damit hat die Citigroup im vergangenen Jahr insgesamt 19 Milliarden Dollar verloren. Nun wird der Allfinanzkonzern zweigeteilt. Das klassische Bankgeschäft soll unter dem Namen Citicorp weitergeführt werden. Risikoreiche Vermögenswerte sollen ausgegliedert und künftig von der neugeschaffenen Citi Holdings verwaltet werden.

Mit der Aufspaltung kehrt die Citigroup zu der Struktur von 1998 zurück, als Citicorp mit der Travelers Group fusionierte. Frühere Konzernchefs träumten davon, einen Supermarkt zu schaffen, der Finanzdienstleistungen aller Art im Angebot haben sollte. Dieser Traum ist geplatzt. Stück für Stück zerschlägt der heutige Citigroup-Chef Vikram Pandit den globalen Konzern. Erst Anfang der Woche hatte sich die Citigroup von ihrer erfolgreichen Vermögensverwaltung Smith Barney getrennt und sie in ein Gemeinschaftsunternehmen mit Morgan Stanley eingebracht. Die ehemalige Investmentbank zahlt der Citigroup 2,7 Milliarden Dollar dafür und wird 51 Prozent der Anteile besitzen, die Citigroup erhält den Rest. Die neue Brokerfirma soll Morgan Stanley Smith Barney heißen und mehr als 20 000 Anlageberater beschäftigen. Im vergangenen Jahr hatte die Citigroup schon ihr deutsches Privatkundengeschäft verkauft.

Auch die Bank of America befindet sich in akuter Not. Zwar hat das Institut aus North Carolina im vergangenen Jahr noch einen Gewinn von 2,6 Milliarden Dollar erzielt, doch im abgelaufenen Quartal beliefen sich die Verluste auf 2,4 Milliarden Dollar. Damit reichen die eigenen Kapitalreserven nicht mehr aus, um die bereits beschlossene Übernahme der Investmentbank Merrill Lynch zu stemmen.

Erneut musste die Bank of America den Staat um Hilfe bitten. Nach wochenlangen Verhandlungen stellte die US-Regierung am Freitag 20 Milliarden Dollar bereit und garantiert darüber hinaus Verluste aus faulen Kreditgeschäften in Höhe von 118 Milliarden Dollar. Schon im September hatte die Bank of America 25 Milliarden Dollar vom Staat erhalten. Am Freitag erklärte sie, die neue Finanzspritze erlaube es ihr, die Geschäfte "so normal wie möglich" fortzuführen. Die Bank of America hatte die einst drittgrößte Investmentbank Merrill Lynch im September für 50 Milliarden Dollar übernommen und sitzt seither auf einem Berg fast unverkäuflicher Kreditderivate. Allein im vergangenen Quartal erwirtschaftete Merrill Lynch ein Minus von 15,3 Milliarden Dollar.

Bisher hat die Regierung in Washington vermieden, Mehrheitsanteile der angeschlagenen US-Banken zu übernehmen. Dabei ist sie längst der einzige Investor, der noch bereit ist, den Finanzkonzernen Geld zu geben. Allein für die Citigroup und die Bank of America summieren sich Garantien und Kapitalzufuhren inzwischen auf 420 Milliarden Dollar.

Als Schatten-Verstaatlichung kritisieren Experten das System, da es das Ausmaß der Risiken verschleiere, das die Regierung eingehe, um die Banken zu retten. Der künftige US-Präsident Barack Obama, der in dieser Woche vereidigt wird, hat bereits grundlegende Änderungen bei der Verwendung der Hilfen für die Wall Street angekündigt. Sollten sich die Verluste der Branche weiter häufen, könnte er gezwungen sein, das gesamte Finanzsystem unter staatliche Kontrolle zu stellen.

Citigroup und Bank of America hängen am Tropf.

Die Amerikaner werden sich einschränken müssen. Sie haben mehr importiert, als sie sich leisten konnten. Der Lebensstandard wird sinken. Foto: Bloomberg

Citigroup Inc.: Krise Citigroup Inc.: Verlust Bank of America: Krise Bank of America: Verlust Merrill Lynch Investmentbank New York: Krise Merrill Lynch Investmentbank New York: Verlust Folgen der Finanzkrise in den USA Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neues Spiel für die Vergangenheit

Der belastete Champion Lance Armstrong kehrt nach dreieinhalb Jahren in den Rennsattel zurück - wenigstens der Radsport freut sich

"Mir tun die leid, die nicht an Wunder glauben und nicht an den Radsport. Ich bitte euch: Vertraut den Fahrern."

Als Lance Armstrong zuletzt Radprofi in Rennmontur gewesen ist, dreieinhalb Jahre ist das her, stand er auf den Champs Elysées. Er hatte gerade die Tour de France gewonnen, zum siebten Mal. Der Radsport ist schon damals in keiner guten Verfassung gewesen, auch an Armstrong zweifelte man, nicht nur die distanzierten Franzosen. Und so stand Armstrong in Paris auf dem Podium als zorniger Amerikaner, der mit verächtlichem Ton für seinen Sport warb, aus dem er sich nach seinem Rekordsieg für immer zurückzuziehen gedachte. Die Menschen hörten ihm zu, einige pfiffen. Und neben Armstrong standen die Platzierten. Ivan Basso. Und Jan Ullrich.

Diesen Januarsonntag kehrt Armstrong in den Rennsattel zurück, beim Kriterium in Adelaide, Südaustralien, wo sich Dienstag die Tour Down Under anschließt. Die Sternfahrt ist nicht besonders wichtig, eigentlich, für Armstrong und den Radsport aber schon. Denn das Image der beiden hat sich seit Juli 2005 nicht verbessert, im Gegenteil. Der Radsport verharrt in seiner größten Krise, seitdem Basso und Ullrich als namhafteste Klienten des Dopingarztes Fuentes enttarnt wurden und die Affären nicht abreißen. Und Armstrongs bemerkenswerte Lebensgeschichte, diese märchenhafte Vita eines todkranken Krebspatienten, der nach der Heilung zur Sieg- und Spendensammelmaschine aufsteigt, ist längst angereichert um gravierende Verdachtsmomente, um unstrittige Blutwerte und Zeugenberichte, welche seine Erfolge als großen Betrug erscheinen lassen.

"Ich habe nichts getan"

Die Welt des Sports hat sich zwar seit Armstrongs erster Rücktrittsankündigung verändert, viele Menschen zweifeln inzwischen an sportiven Wundertaten und der Reinheit dessen, was sie sehen; an breitschultrigen Schwimmern, an jamaikanischen Supersprintern, ja sogar an nimmermüden Helden in der Loipe oder auf dem Fußballplatz. Und doch darf die Veloszene für sich beanspruchen, mit unerreichter Schizophrenie ihr Rad weiterzudrehen. Von den Dutzenden auffälliger Blutproben, von welchen jeweils der Weltverband UCI im Rahmen seiner Blutpass-Analysen und die französischen Kontrolleure nach der Tour 2008 berichteten, ist jedenfalls nichts mehr zu hören. Und Armstrong wird nun nicht nur im chronisch sonnigen Australien hofiert wie eine unbelastete Ikone aus einer guten alten Zeit. "Er tut dem Radsport gut", sagt UCI-Präsident Pat McQuaid, und wie Armstrong lässt der Ire geschäftsschädigende Zweifel nicht zu. "Eine unabhängige Kommission hat mich entlastet", urteilt Armstrong heute über den Gutachterspruch, der ehedem zu seinen Positivproben von der Tour 1999 erging. Er meint wohl jenes Gefälligkeitsgutachten, das ein fachfremder Wissenschaftler erschuf. Im Auftrag der UCI.

Vier Wochen nach seinem vermeintlichen Rücktritt im Juli 2005 hatte das französische Sportblatt L'Équipe das Ergebnis der nachträglichen Testanalysen publiziert. Die französische Antidoping-Agentur bot nun nach der Comebackankündigung im Herbst an, B-Proben anfertigen zu lassen. Armstrong hat das abgelehnt und nennt die Idee "Affentheater".

Und die Bekenntnisse seiner früheren Betreuerin Emma O'Reilly, die von Spritzen, Tabletten und überschminkten Einstichstellen berichtete? Die vor Gericht vorgetragenen Aussagen seines einstigen Teamkollegen Frankie Andreu (der Doping zugab) und dessen Frau Betsy, wonach Armstrong 1996 am Krankenbett vor Krebsärzten umfangreiches Doping eingeräumt habe, mit Epo, Hormonen, Steroiden und anderem mehr? Die langjährige Zusammenarbeit mit dem verurteilten Dopingarzt Michele Ferrari? Die vielsagenden Dopinggeständnisse einstiger Kumpel wie Andreu oder Jonathan Vaughters? Das alles spielt heute keine Rolle mehr, Armstrong sagt: "Es ist mein Recht, zurückzukommen, denn ich habe nichts getan. Es gibt keine Regel, kein Gesetz, keine Bestimmung, die sagt: Du kannst nicht zurück." Er habe niemals verbotene Mittel genommen.

Armstrong beharrt auf seiner Version, und das Spiel, von dem der Radsport wirklich annimmt, es nütze ihm, geht wieder los. Er möchte es allen zeigen, erzählen sie in Armstrongs Umgebung, besonders Frankreich, aber das ist wohl nicht nötig. Mit den Organisatoren der Tour, der A.S.O., hat er sich ja bereits mehrfach in Paris getroffen. Und dort haben sie am Spiel mit der Vergangenheit sowieso wieder Gefallen gefunden.

Keine Silbe mehr über 2005

Auch deshalb hat ja die A.S.O. ihren Streit mit der UCI beigelegt, man folgte rein wirtschaftlichen Motiven. Die Folgen dieser vor einiger Zeit noch undenkbaren Eintracht sind bereits dokumentiert. So waren zwar 2005, nach Bekanntwerden der positiven Armstrong-Nachtests durch das renommierte Labor in Châtenay-Malabry, dem Delinquenten noch ehrabschneidende Bezeichnungen wie "Lügner" in den Frühpensionssitz Austin, Texas, nachgerufen worden. Als der Amerikaner jetzt aber seine Rückkehr avisierte, erwähnte das A.S.O.-eigene Blatt L'Équipe den eigenen Scoop vom August 2005 mit keiner Silbe mehr.

Armstrong ist derweil im Plan. Er ist trainiert "wie nie zu dieser Jahreszeit" und für seine Verhältnisse entspannt. "Just fucking relax!", empfahl er jüngst im Guardian zu all der Kritik - bitte entspannen, "wir reden doch hier nur über Radrennen". Die Mission für seine Krebsstiftung "Livestrong" sei ihm allemal wichtiger. Obwohl, der Gegenwind behagt seinem Ego natürlich schon, wie er einräumt: "I love the fact that it's fucking hard." Schön, dass es schwer wird.

Der Radsport wird es ihm sehr leicht machen. Die Flecken seiner Vita sind kein Thema, ebenso nicht die seines neuen Arbeitgebers Astana. Die kasachische Skandalflotte musste 2007 von der Tour abreisen. Zu viel Doping. 2008 war sie deshalb nicht geduldet - 2009 darf sie aber natürlich kommen, mit Armstrong, dessen ewiger Teamchef Johan Bruyneel die Mannschaft übernommen hat. Mit ihm will er, fast 38-jährig, zum achten Mal die Tour gewinnen. "Astana hat sich doch erneuert", sagt der windige Belgier.

Armstrong selbst hat große "Transparenz" in Aussicht gestellt, das schon, seine Blutwerte indes werden entgegen den Ankündigungen bisher nicht publiziert. Aber dafür meldet er sich ja jetzt täglich über einen Blogging-Dienst. Belanglosigkeiten und ein paar Schnappschüsse, das funkt sein Blackberry regelmäßig in die Welt: "Good morning from Adelaide! Watching the Eagles vs Giants live on Aussie TV. How cool is that?!?", solche Sachen. So klingt das wohl, wenn Lance Armstrong um Vertrauen wirbt, wenn er mal nicht zornig ist. Andreas Burkert

Seit einer Woche hält sich Lance Armstrong in Australien auf, und er erfährt dort sehr große Gastfreundschaft. Sogar der Premier hat sich bereits mit ihm getroffen, die Polizei eskortiert seine Trainingsfahrten rund um Adelaide. Für sein Comeback ab Sonntag werden Zuschauermassen und zahlreiche Journalisten aus aller Welt erwartet - und kaum unangenehme Fragen. Foto: AP

Armstrong, Lance: Karriere SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Richter-Boom

Berlin - Wegen der zahlreichen Klagen von Hartz-IV-Empfängern muss Berlin immer neue Richter am Sozialgericht einstellen. Ihre Zahl wuchs seit Start der Reform 2005 von 59 auf 103, wie das Gericht am Freitag mitteilte. Inzwischen ist die Zahl der Hartz-IV-Verfahren allein in Berlin auf knapp 60 000 angeschwollen. Die Erfolgsquote der Kläger ist hoch, wie das Gericht mitteilte: In fast jedem zweiten Fall beanstandet das Gericht die amtlichen Bescheide, während bei anderen Verfahren des Sozialgerichts nur rund ein Drittel der Kläger Erfolg haben. Gestritten wird besonders häufig über die Kosten der Unterkunft sowie die Anrechnung von Vermögen. AP

Justizwesen in Berlin Richter in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Meinungen und Gemeinheiten

Der Forsa-Chef Manfred Güllner steht vor Gericht - er warf einer Konkurrenzfirma vor, Umfragen zu schönen

Von Sebastian Beck

München - Die Lust am Kommentieren scheint Manfred Güllner noch nicht verloren zu haben. Jedenfalls ist es erst gut zwei Wochen her, dass der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa den Lübecker Nachrichten ein Interview gab. Darin lästerte er über Ralf Stegner, den SPD-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2010 in Schleswig-Holstein: "Er wird, mit Verlaub, von den Menschen als Kotzbrocken wahrgenommen." "Na und" - das ist alles, was Güllner antwortet, wenn er gefragt wird, ob der Begriff "Kotzbrocken" womöglich eine Beleidigung darstelle. Dabei hätte Güllner durchaus Grund, sich vorsichtiger zu äußern, denn nach dem Landgericht Berlin beschäftigt sich jetzt auch das Landgericht München mit einem Güllner-Zitat - allerdings nicht mit dem "Kotzbrocken", sondern mit der Passage aus einem Interview, das er im April 2008 dem Stern gab. Darin zog der Meinungsforscher über die Demoskopie-Konkurrenz von Infratest her: "Das ist vierzig Jahre das Hausinstitut der SPD. Und da wird man sich schon überlegen, ob man nicht ein bisschen die Zahlen schönt oder nicht." Infratest dimap verklagte Güllner daraufhin vor dem Landgericht in Berlin auf Unterlassung - und bekam recht. Auch im Münchner Verfahren der Schwesterfirma Infratest GmbH sieht es schlecht für Güllner aus. Richter Wolfgang Kopp deutete am Freitag bereits an, dass das Urteil für den Forsa-Chef "eher negativ" ausfallen werde.

Der meinungsfreudige Güllner ist unter Kollegen aus der Branche, aber auch unter Politikern berüchtigt. Vor allem die SPD sieht sich seit Jahren als Opfer von Forsa: Als "Güllnersche Standardabweichung" werden in der Partei jene Umfrage-Ergebnisse bespöttelt, die für die Sozialdemokraten immer wieder um ein paar Prozentpunkte schlechter ausfallen als die anderer Institute.

Bei der Interpretation seiner Daten ist Güllner alles andere als zimperlich. Über SPD-Chef Franz Müntefering soll Güllner laut Spiegel gesagt haben, er sei ein "stalinistischer Apparatschik"; dem Vorgänger Kurt Beck bescheinigte er ein schwaches Erscheinungsbild und unglückliche Auftritte. Insbesondere die Linken in der Partei kann Güllner allem Anschein nach nicht ausstehen. "Ich kriege immer eins auf die Rübe. Das nehme ich eher mit Humor", sagt der als Kotzbrocken titulierte Stegner. Hingegen bezeichnete SPD-Generalsekretär Hubertus Heil die Urteile Güllners als "menschlich und politisch zutiefst abstoßend". Dabei ist Güllner selbst SPD-Mitglied, was in der Partei den Verdacht nährt, seine demoskopischen Tatmotive seien enttäuschte Liebe und der Groll darüber, dass er von der SPD keine Aufträge mehr erhalte.

Für den Stern analysiert Forsa, das zu den großen Demoskopie-Instituten zählt, jede Woche die Stimmungslage in Deutschland. Das Onlineportal des Stern war es auch, dem Güllner das Video-Interview gab, bei dem er Infratest eins überzog - und sich damit Ärger einhandelte. "Das ist ein Frontalangriff auf Unabhängigkeit und Seriosität eines Umfrageinstitutes", empörte sich Infratest-Anwalt Ralf Tscherwinka vor dem Münchner Landgericht. Weder die Infratest GmbH in München noch Infratest-dimap in Berlin hätten von der SPD Aufträge erhalten, versichert er. Und der Begriff Hausinstitut sei von Güllner herabsetzend gemeint gewesen, mal ganz abgesehen von der Unterstellung, dass bei Infratest Daten manipuliert würden.

Güllner gab sich in der Verhandlung schweigsam. Sein Anwalt räumte ein, Güllner habe eine "scharfe Aussage gemacht", aber letztlich eine Vermutung geäußert, und eine Vermutung sei wiederum eine Meinung, weshalb sich Güllner im "Kernbereich der Meinungsfreiheit" bewege. Richter Kopp wollte diese Argumentation nicht nachvollziehen: Der Begriff Hausinstitut ist seiner Meinung nach zwar für sich betrachtet kein Problem. Wenn Güllner aber davon spreche, dass bei Infratest womöglich Zahlen geschönt würden, dann stelle dies eine Tatsachenbehauptung dar - und zwar eine in hohem Maße negative wie kreditschädigende. "Das wirft die Frage auf, ob sie sich nicht wieder vertragen wollen", sagte Kopp nach eineinhalb Stunden Erörterung. Nein, beschieden ihm die Streitparteien. Deshalb wird das Landgericht München am 7. Mai ein Urteil fällen. Gegen das Berliner Urteil hat Güllner bereits Berufung eingelegt. Im Streit der Demoskopen ist also kein Ende in Sicht.

Immerhin: Ralf Stegner will auf juristische Schritte verzichten, wenngleich er versichert, dass er kein Kotzbrocken sei. Und in ihren jüngsten Umfragen kamen Forsa und Infratest dimap zum selben Ergebnis: Demnach wäre die SPD Mitte Dezember bei Bundestagswahlen auf gerade einmal 24 Prozent gekommen.

"Da wird man schon überlegen, ob man nicht ein bisschen die Zahlen schönt."

Karikatur: Dieter Hanitzsch

Güllner, Manfred: Rechtliches Güllner, Manfred: Zitate Stegner, Ralf Forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH Infratest dimap Meinungsumfragen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alle Jahre wieder

Steuererklärung für 2008: Die Bürger tragen die Teile für das große Puzzle zusammen. Welche Elemente neu sind

Von Marco Völklein

München - Es ist eine Qual, jedes Jahr. Und trotzdem muss sie gemacht werden: die Einkommensteuererklärung. Eine "positive Nachricht vorneweg" hat Einkommensteuerexpertin Sabine Ziesecke vom Steuerberatungsunternehmen Pricewaterhouse-Coopers (PwC) für 2008: "Die Formulare haben sich gegenüber denen für das Jahr 2007 nicht wesentlich verändert." Auch sonst gab es zum Jahresanfang nicht so viele Neuerungen im Steuerrecht wie noch ein Jahr zuvor. Dennoch sind auch für 2008 einige Dinge zu beachten. Ein Überblick:

Pendlerpauschale

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber umgehend gehandelt: Rückwirkend zum 1. Januar 2007 zahlen sich Fahrtkosten zur Arbeitsstätte wieder ab dem ersten Kilometer aus. "Steuerzahler können nun in der Steuererklärung wieder den gesamten Fahrweg eintragen", sagt Albert Elsenberger von der Steuerkanzlei Ecovis. Wichtig ist allerdings, dass der Fiskus nur die einfache Strecke akzeptiert, nicht Hin- und Rückweg.

Umzugskosten

Wer beruflich bedingt in eine andere Stadt umzieht, kann diese Kosten bei der Steuer geltend machen. Neben den tatsächlich angefallenen Ausgaben, die per Rechnung nachzuweisen sind, kann der Steuerzahler noch eine Umzugskostenpauschale geltend machen. Diese wurde beispielsweise für Inlandsumzüge zum Januar 2008 angehoben: für Ledige von 561 auf 585 Euro (Verheiratete: 1171 statt 1121 Euro). Übrigens: Zum 1. Januar 2009 stieg die Pauschale erneut auf jetzt 602 Euro (1204 Euro). Und zum 1. Juli 2009 steigt sie auf 628 (1256 Euro).

Doppelte Haushaltsführung

Bereits 2007 hat der Bundesfinanzhof (BFH) einige wichtige Urteile zur doppelten Haushaltsführung gesprochen. Diese könnten nun in der Steuererklärung für 2008 von Interesse sein (siehe Kasten).

Schulgeld

Eltern, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken, können zwar 30 Prozent der Privatschulkosten absetzen - auch wenn sich die Schule in einem EU-Staat oder einem Land des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) befindet. Rückwirkend zum 1. Januar 2008 wird der maximal absetzbare Betrag aber auf 5000 Euro gedeckelt, erläutert der Bundesverband der Lohnsteuerhilfevereine.

Kinderbetreuungskosten

Wenn beide Partner berufstätig sind und ihr Kind zum Beispiel von einer Tagesmutter betreuen lassen, können sie zwei Drittel der Ausgaben (höchstens 4000 Euro) als Werbungskosten ansetzen. Absetzbar sind aber nur reine Betreuungskosten; Fahrtkosten oder die Ausgaben für die Verpflegung im Kindergarten erkennt das Finanzamt nicht an. Wichtig: Für 2008 müssen Eltern keine Belege mehr von sich aus einreichen; "es genügt, den Betrag im Formular einzutragen", sagt PwC-Expertin Ziesecke. Aber: Sollte das Finanzamt nachfragen, muss man die Unterlagen vorlegen können.

Bewirtungskosten/Werbegeschenke

Auch bei Bewirtungskosten und Werbegeschenken hat der BFH im Jahr 2007 ein interessantes Urteil gefällt: Lädt ein Außendienstmitarbeiter Kunden zum Beispiel zum Arbeitsessen ein und verteilt er Werbegeschenke, sind diese Ausgaben als beruflich bedingte Werbungskosten absetzbar - auch wenn der Arbeitnehmer kein erfolgsabhängiges Gehalt bezieht. Voraussetzung ist aber, dass der Chef die Aufwendungen nicht bereits steuerfrei ersetzt hat (Aktz. VI R 78/04).

Hilfen im Haushalt

Erledigen selbständige Dienstleister Aufgaben im Haushalt, etwa Putzdienste, Schneeräumen oder Gartenpflege, kann der Auftraggeber 20 Prozent der Ausgaben für diese "haushaltsnahen Dienstleistungen" absetzen. Allerdings gilt eine Obergrenze von 3000 Euro, maximal sind also 600 Euro absetzbar. "Seit Januar 2008 gilt dies auch innerhalb der EU", sagt Ecovis-Steuerberater Elsenberger - also zum Beispiel auch für die Putzhilfe in der Ferienwohnung in Spanien.

Auslandsreisen

Wer zeitweise im Ausland tätig ist, kann seit Januar 2008 keine pauschalen Übernachtungskosten mehr geltend machen. "Mit der Steuererklärung 2008 müssen für Übernachtungen nun Einzelbelege eingereicht werden", sagt Ziesecke. Für die Fahrt zum Einsatzort außerhalb der regelmäßigen Arbeitsstätte kann der Steuerzahler nun 30 Cent pro Kilometer ansetzen - unabhängig davon, wie lang der Einsatz dauerte und wie weit der Anfahrtsweg war. Im Jahr 2007 galten hier noch Beschränkungen.

Aktienoptionen

Unternehmen beteiligen ihre Mitarbeiter gerne mit Aktienoptionen am Erfolg der Firma. Dabei erhält der Arbeitnehmer eine Option, die ihn berechtigt, diese einige Zeit später in Aktien umzutauschen. Bei der Umwandlung der Option in Aktien muss der Arbeitnehmer den Erlös als "geldwerten Vorteil" versteuern. Der BFH entschied aber, dass dies zu einem ermäßigten Steuersatz möglich ist, wenn zwischen dem Zeitpunkt der Gewährung der Option und der Ausübung mindestens zwölf Monate vergangen sind (Aktz. VI R 136/01). Steuerexpertin Ziesecke sagt: "Wurde bereits vom Arbeitgeber die volle Steuer an den Fiskus abgeführt, sollte der Arbeitnehmer nun auf das Urteil hinweisen und eine mögliche Rückerstattung beantragen."

Für viele Bürger ist die Steuererklärung jedes Jahr wieder eine Herausforderung: Zahlreiche Einzelteilchen wollen zu einem großen Ganzen zusammengefügt werden. Foto: Grabowsky

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Abwarten beim Wohn-Riester

Verbraucherschützer erwarten in Zukunft bessere Angebote

Düsseldorf - Verbraucherschützer haben vor voreiligen Vertragsabschlüssen für Wohn-Riester-Produkte gewarnt. Häuslebauer sollten vorerst gelassen bleiben und auf bessere Angebote warten, riet Finanzexperte Thomas Bieler von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.

Nach seinen Angaben kommen bald weitere Wohn-Riester-Angebote auf den Markt. "Wer mit dem Abschluss noch wartet, kann am Ende der Gewinner sein." Wohn-Riester-Sparer können mit staatlichen Zuschüssen für ein Eigenheim sparen und einen Immobilienkredit abbezahlen. Voraussetzung ist, dass eine selbstgenutzte Immobilie finanziert wird, die nach dem 31. Dezember 2007 angeschafft oder fertiggestellt worden ist.

Erste Bauspartarife sind bereits da. Schon während der Ansparphase können Bausparer Riester-Zulage kassieren, wenn der Vertrag später für die Finanzierung des Immobilienkaufs eingesetzt wird. Allerdings sei die Rendite ohne den staatlichen Zuschuss bislang eher mau. So bietet die Bausparkasse Schwäbisch Hall laut Verbraucherzentrale ein Prozent Guthabenzins und kassiert ein Prozent der Bausparsumme als Abschlussgebühr. Bei der LBS West gebe es bei gleicher Abschlussgebühr nur 0,75 Prozent Jahreszins, zudem verlange die LBS jährlich 18 Euro Kontoführungsgebühren.

Bieler rät deshalb zur Gelassenheit. Zudem sei der Abschluss eines Riester-Bausparvertrages fürs Eigenheim wegen der vertraglichen Magerrendite meist nur sinnvoll, wenn anschließend auch das günstige Bauspardarlehen abgerufen werde. Bei diesen Baukrediten wird es vor allem darauf ankommen, ob sie bei den Zinsen mit den klassischen Hypothekendarlehen mithalten können. Wenn ein Riester-Bankkredit deutlich teurer ist als ein normales Darlehen, kann es für den Bauherren sinnvoll sein, das zinsgünstigere Darlehen zu wählen und mit einem herkömmlichen Riester-Sparvertrag vorzusorgen. Bieler: "Sonst wird unter Umständen die Riester-Förderung vom Zinsnachteil aufgefressen." AFP

Wohneigentum als private Altersvorsorge Private Rentenversicherung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zorn der Sparsamen

Im Kanzleramt wetterten die Haushaltspolitiker der Union gegen die hohen Staatsausgaben

Thomas de Maizière wird diese Sitzung so schnell nicht vergessen. Sie dauerte anderthalb Stunden. Und sie hatte es in sich. Denn diesmal ging es nicht um ein Detail hier und ein anderes dort. Derlei Debatten übersteht der Kanzleramtsminister in der Regel gut. Es ging, philosophisch gesprochen, um die Lage und die Politik der Union als Ganzes. Und das war nicht einfach für den Chef des Amtes von Kanzlerin Angela Merkel.

Es ist Dienstag morgen, acht Uhr 30. Wenige Stunden zuvor hat der Koalitionsausschuss das zweite Paket zur Ankurbelung der Konjunktur beschlossen. Doch bevor die Gesamtfraktion der Union informiert wird, sitzt de Maizière mit den Haushältern zusammen. Sie müssen an diesem Morgen am meisten schlucken, müssen nach langer Hoffnung auf einen ausgeglichenen Haushalt die größte Neuverschuldung verkraften. Was das auslöst, ist mit Sturm sehr harmlos umschrieben.

Der Arbeitsgruppe Haushalt gehört ein gutes Dutzend Mitglieder an - und die lassen ihrem Zorn freien Lauf. Der erste schimpft über die "sozialistische Investitionspolitik", der nächste attackiert die "Abkehr von den Grundsätzen marktwirtschaftlicher Politik", der Dritte beklagt den "Glaubwürdigkeitsverlust" nach dem Aufweichen eigener Positionen. "Alles, was später in der Fraktion nett und diplomatisch daherkommt, wird hier ungefiltert herausgeschleudert", erzählt ein Teilnehmer. Und ein zweiter ergänzt: "So deutlich sind wir noch nie geworden."

Nun muss man verstehen, dass für die Haushälter der Union eine Welt zusammengebrochen ist. Bis in den Herbst hofften die Mannen um Obmann Steffen Kampeter, dass sie mit einem bald ausgeglichenen Haushalt ein besonderes CDU-Markenzeichen setzen würden. Kein Wunder, dass sie unter den veränderten Vorzeichen leiden. "Deren Welt, das wissen wir, ist auf den Kopf gestellt worden", beschreibt ein Merkel-Vertrauter die Lage. Ihre Kritik trifft freilich einen, der bis zuletzt auf ihrer Seite kämpfte. Auch de Maizière zählt zu denen, die die Kernkompetenz solider Haushaltsführung nicht aufgeben mochten. Jetzt muss er die neuen Schulden erklären - und leidet genauso. Er muss verteidigen, was die anderen nur widerwillig schlucken. Und er muss dabei den Vorwurf ertragen, dass Grundüberzeugungen der Union in Gefahr gebracht werden.

Dabei gibt es viel Unterstützung für die Investitionen. Als problematisch gelten Kinderbonus, Abwrackprämie und branchenspezifische Hilfen. Die Automobilindustrie erhielt erst die KFZ-Steuererleichterung, jetzt folgen Investitionshilfen, Abwrackprämie, Zuschüsse für die Zulieferer. "Wir haben denen den kleinen Finger gereicht, seitdem kommt immer mehr", schimpft ein prominenter Haushaltsexperte. Wenn andere Branchen kämen, könnte man formal auf die überragende Bedeutung des Autos verweisen. "Aber dem einzelnen Arbeiter könnten wir ein Nein nicht wirklich erklären. Wir haben ja auch kein qualifiziertes Wahlrecht, bei dem die Stimme von einem mehr wert ist als die des andern."

Die Haushälter der Union wissen, dass sie am Paket nicht viel ändern können. Und sie wollen der Kanzlerin das Leben nicht schwerer machen. Eines aber wollen sie verhindern: dass sie auch in Zukunft überfallen werden mit einem solchen Ergebnis. "Wir wollen, dass wir als Teil der Partei an einer wenn nötig auch harschen Suche nach dem richtigen Weg beteiligt werden."

Das ist neben den Schulden das größte Problem für viele - zumal jetzt der Spielraum für ein zweites Kernziel der Union, eine Steuerreform, erstmal weg ist. Und das, ohne dass darüber breit diskutiert wurde. "Was derzeit passiert, kann man mit der Agenda 2010 der SPD vergleichen", schimpft ein CDU-Haushälter. Da sei es kein Wunder, dass nun über die Frage gestritten werde, ob es je nochmal eine Steuerreform geben werde. Stefan Braun

Stürmische Stunden musste Minister Thomas de Maizière überstehen. AP

Maiziere, Thomas de Steuer- und Finanzpolitik der CDU Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Lebensretter unterm Hakenkreuz

Die erste deutsche Kinoproduktion in China: Florian Gallenbergers "John Rabe" ist ein aussichtsreicher Kandidat für den Bayerischen Filmpreis

Als der Regisseur Florian Gallenberger im März 2006 zum ersten Mal in China ankam, klingelte bald nach seiner Ankunft sein chinesisches Mobiltelefon. Eine weibliche Stimme begrüßte ihn und erklärte, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas sich nun leider doch für ein anderes Filmprojekt "John Rabe" entschieden habe. Sollten seine historischen Recherchen, seine Drehbucharbeit, solte ein Jahr Vorbereitung umsonst gewesen sein?

Gallenberger, 36, ist schwierige Drehbedingungen gewohnt - man könnte sogar sagen, er braucht Widerstände. Schon für seinen Kurzfilm "Quiero Ser", mit dem er im Jahr 2001 den Oscar gewann, hatte er auf den Straßen von Mexiko City gedreht. Für "Schatten der Zeit" ging er monatelang nach Indien. Jetzt war er entschlossen, die erste deutsche Kinoproduktion in China auf die Beine zu stellen. Ein Drama über einen Deutschen, der in China zum Helden wurde, könne nur an Originalschauplätzen entstehen, meinte er.

Das allerdings sollte sich als seine bisher größte Herausforderung erwiesen. Nach der Kampfansage der Partei, auf der langen Suche nach Genehmigungen und Verbündeten bekamen er und seine Produzenten Mischa Hoffmann, Jan Mojto und Benjamin Herrmann nie verbindliche Antworten.

Das sich alles änderte, verdankte Gallenberger auch einer Begegnung mit dem chinesischen Regisseur Chen Kaige. Auf der Berlinale hatten sie sich kennengelernt - Kaige versprach zu helfen, sofern Gallenberger einmal in China arbeiten werde. Ein Anruf im März 2006, und das Treffen in Peking war ausgemacht.

Im Restaurant führte man Gallenberger in einen abgeschlossenen Raum, in dem 25 Menschen an einer Tafel saßen. Nein, nein, sagte Gallenberger, er sei nur mit einer Person verabredet, mit Herrn Kaige. Ja, ja, antwortete der Kellner, der sitze dort.

"Die Dame" öffnet Türen

Chen Kaige, der in China zu den einflussreichen Künstlern zählt, hatte wichtige Freunde versammelt. Zunächst aber musste angestoßen werden. Bedauerlicherweise, sagte Kaige, könne er wegen einer Erkältung selbst nicht trinken - das erledige Wladimir, ein Russe, heute für ihn. Wladimir nahm seinen Auftrag sehr ernst. Trotzdem lernte Gallenberger an diesem Abend die Frau kennen, die ihm später alle Türen und sogar Stadttore in China öffnete. Gallenberger spricht über sie nur als "die Dame".

So entstand der Film "John Rabe", der in einer Sondervorstellung der Berlinale uraufgeführt und vom 2. April an in den Kinos zu sehen sein wird. Am Freitagabend galt er bereits als aussichtsreicher Kandidat für den Bayerischen Filmpreis, beim Deutschen Filmpreis ist er in der Vorauswahl.

Für Mischa Hofmann, Geschäftsführer der Firma Hofmann & Voges in München, begann "John Rabe" vor zwölf Jahren. 1996 waren die Tagebücher des hanseatischen Kaufmanns John Rabe (1882 - 1950) erschienen, 800 Seiten. Rabe lebte mit seiner deutschen Frau beinahe dreißig Jahre in China. 1931 wurde er Vertreter für Siemens in Nanking und stieg zum Leiter der Niederlassung auf. Rabe war kein Nazi, aber ein überzeugter Patriot, und aus der Ferne hielt er Hitler lange für aufrecht. 1934 trat er der NSDAP bei, um in Nanking eine deutsche Schule gründen zu dürfen. Er war überhaupt nicht ideologisch, aber gerne Chef und im Stillen eitel genug, seine Position zu genießen.

Als die Japaner im Dezember 1937 in China einfielen, auf ihrem Vormarsch vergewaltigten, plünderten, Babys und Kinder ermordeten, weigerte sich Rabe, Nanking zu verlassen. Mit den verbliebenen Europäern und Amerikanern richtete er eine internationale Schutzzone ein. Weil Japan mit Deutschland verbündet war, wurde er der Vorsitzende des "Internationalen Hilfskomitees zur Rettung der chinesischen Zivilbevölkerung".

Hofmann, der noch ein junger Produzent war mit der Leistung von zwei TV-Movies und einem kleinen Kinofilm, faszinierte eine Fotografie in den Tagebüchern. Sie zeigte, wie Rabe während eines japanischen Luftangriffs im Garten seines Hauses eine übergroße NS-Fahne spannen ließ, unter der 40, 50 Chinesen Schutz suchten. Dass unterm Hakenkreuz Leben bewahrt worden ist, sei ein Paradoxon und verdiene einen Film, dachte Hofmann - und optionierte 1997 die Rechte. 200 000 Chinesen schlachteten die Japaner in Nanking ab, 250 000 Menschen hat die Schutzzone während das Massakers gerettet.

John Rabe, das ist die in Deutschland noch nicht sehr verbreitete Biografie eines guten Deutschen, eine Geschichte wie die von Oskar Schindler. Rabe war kein sehr gebildeter Mann, Politik nahm er in Nanking sprichwörtlich aus großer Entfernung wahr, sie erregte ihn nicht. Doch seine Zivilcourage kennt wenige Beispiele. Ulrich Tukur verkörpert ihn schon rein äußerlich lebensecht. Auch Steve Buscemi, Anne Consigny und Daniel Brühl zählen zur Besetzung.

Für Jan Mojto begann "John Rabe" 2002. Damals hatte er die Eos Entertainment in München gegründet, eines der ersten Telefonate führte er mit Mischa Hofmann. Hofmann suchte seinen Rat. Ein amerikanisches Studio wollte "John Rabe" inszenieren. Das sei ein Stoff, den Deutsche aus Deutschland für die Welt machen sollten, urteilte Mojto, der Slowake, und schlug Gallenberger für die Regie vor. Dann stieg er - wie das ZDF, das eine zweiteilige Fernsehfassung erhält - mit beinahe fünf Millionen Euro ein und übernahm den Weltvertrieb.

Für Benjamin Herrmann, den Geschäftsführer des Majestic Filmverleihs aus Berlin, begann "John Rabe" circa 1994. Mit Hofmann und Gallenberger studierte er an der Münchner Filmhochschule. Man kennt sich, doch viel mit einander zu tun hatten sie als Studenten nicht. Majestic und Hofmann & Voges sind jedoch Schwesterfirmen, sie gehören zur Odeon Film. So kam Herrmann als dritter Produzent dazu. Er war in Shanghai und Nanking an Gallenbergers Seite, 76 Drehtage lang - zwischen Oktober 2007 und Februar 2008. Am Ende "vollbrachte Gallenberger die größte Leistung", meint Mojto: mit seinen alles kontrollierenden Ansprüchen an die Qualität.

"John Rabe" ist auch ein zweieinhalbjähriges Krisenmanagement voller Absurditäten. So wäre das Projekt beinahe gescheitert, weil China und Japan 2007 gemeinsame Erdgasgeschäfte vereinbarten und die Chinesen, im Film Opfer, die Japaner, im Film Täter, nicht verärgern wollten. Auch am Set gab es Katastrophen: Das kriegszerstörte Nanking wurde in einem halb abgerissen alten Stadtviertel Shanghais aufgenommen. Dort gab es noch die für die dreißiger Jahre typische Architektur mit den prägenden Backsteinhäusern. Nach einer kurzen Weihnachtspause aber war die Hälfte des Schauplatzes weggerissen. Gleichzeitig fiel im härtesten Winter seit langem so viel Schnee in Shanghai, dass der Drehort kaum funktionstüchtig gehalten werden konnte. Mojto legte Geld nach, womit das Budget auf 17 Millionen stieg. 80 000 Euro verbrauchte jeder Drehtag, zuweilen bestand das Team aus 360 Mitgliedern. "In China sind die Strukturen teuer, die Arbeitskräfte billig", sagt Herrmann. Dass chinesische Setdesigner innerhalb von drei Tagen das Motiv "Siemens-Fabrikgelände in Nanking" aus massiven Baustoffen hochzogen, beeindruckte alle enorm. Über Komparsen und Bauten habe der Film einen Reichtum, "den er anderswo nie bekommen hätte", sagt Hofmann.

Einstieg der Chinesen

Und über allem wachte "die Dame" mit ihren Verbindungen. Sie ist die Tochter eines ehemaligen chinesischen Justizministers und heißt Qiao Ling - üblicherweise berät sie Industrielle. Ohne ihr Netzwerk wäre die Produktion in der Volksrepublik wohl gescheitert. Weil sie ihre Wünsche, die Gallenbergers Wünsche waren, im richtigen Ton an die richtigen Männer und Frauen richtete, wurde alles Wichtige überhaupt möglich.

Mit ihr als Vermittlerin marschierte "John Rabe" durch die Instanzen. Es gab die Drehgenehmigung und einen chinesischen Co-Produktions-Partner (Huayi Bros.) für die Ausstrahlung in China, wo nicht mehr als zwanzig Titel der weltweiten Kinoproduktion ausgewertet werden. Die Deutschen konnten sich aus dem Militärfilmstudio Kriegsgerät und echte Soldaten ausleihen und am Stadttor von Nanking, einem Symbol des chinesischen Volkes, den Einmarsch der Japaner inszenieren.

"Man schleppt", sagt Gallenberger, "die Sachen auch physisch zusammen." In der kommende Woche soll die internationale Kinofassung fertig sein. CHRISTOPHER KEIL

Ein Deutscher, der chinesische Zivilisten vor japanischen Angreifern schützt: Ulrich Tukur spielt "John Rabe" in Florian Gallenbergers Film Foto: Majestic

Panik unter den Flüchtlingen während des Massakers von Nanking 1937 - in der Mitte Daniel Brühl in der Rolle des Dr. Rosen Majestic

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Das fängt ja gut an

Der Start ins Börsenjahr verläuft ruppig und rau - doch die Experten sind gar nicht mal so skeptisch

Von Harald Freiberger

München - Die Verlustserie dauerte so lange, dass es schon unheimlich wurde. Sieben Handelstage in Folge, vom 7. bis zum 15. Januar, schloss der Deutsche Aktienindex (Dax) im Minus. Erst am Freitag überlegten es sich die Börsianer anders und kauften endlich wieder Aktien; das Börsenbarometer legte bis 15 Uhr um 2,1 Prozent zu. "Eine so lange Folge von schlechten Börsentagen ist völlig ungewöhnlich", sagt Jens Erhardt, Gründer der Münchner Vermögensverwaltung DJE Kapital. In den vergangenen zehn Jahren kam das erst zweimal vor: im März 2007 und im Januar 2008.

Alle negativen Vorhersagen für das Börsenjahr 2009 scheinen sich zu bestätigen. Schließlich ist der Dax schon wieder mit mehr als zehn Prozent im Minus, kaum dass das Jahr begonnen hat. Bange fragen sich die Anleger, ob das wohl so weitergeht. Die Antwort: Es hängt nicht immer auf eine Seite, der Dax wird sich wieder erholen. Die Experten erwarten eine turbulente Zeit mit starken Schwankungen nach oben und unten; mancher sieht den deutschen Aktienmarkt bis Jahresende sogar kräftig steigen.

Erinnerungen an 1932

"Schwankungen von 20 bis 30 Prozent im Börsenindex werden in diesem Jahr Normalität sein", sagt Jens Erhardt voraus. Er vergleicht 2009 mit 1932, als die Große Depression auf dem Höhepunkt war. Damals sei es bis Mitte des Jahres stark nach unten gegangen und dann bis Jahresende wieder um 100 Prozent nach oben. "Der Dax könnte nach starken Schwankungen am Jahresende wieder dort stehen, wo er sich jetzt befindet, oder auch leicht darunter", prophezeit der Vermögensverwalter.

Obwohl er diese Vorhersage wagt, sagt Erhardt: "Ich habe mich in meinem 40-jährigen Berufsleben noch nie so schwer getan mit einer Prognose." Die Lage ist unübersichtlich: Einerseits steckt die Weltwirtschaft in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, andererseits ist noch nie soviel Staatsgeld zur Ankurbelung der Konjunktur in die Weltwirtschaft gepumpt worden. Einerseits haben professionelle und private Anleger enorm viel Geld flüssig - die Liquiditätsquote beträgt 40 Prozent -, andererseits trauen sich die meisten Investoren noch nicht auf den Aktienmarkt. Die Lage ist ihnen viel zu unsicher in Zeiten, da besonders bei Banken eine Horrornachricht auf die andere folgt. In der vergangenen Woche meldeten Deutsche Bank und Citigroup hohe Milliardenverluste, bei der Postbank drückte die teure Übernahmelösung mit der Deutschen Bank enorm auf den Aktienkurs.

Trotz dieser Ungewissheit - ganz aussichtlos ist die Lage an der Börse nicht. Gottfried Heller, Gründer der Münchner Depotverwaltung Fiduka, sieht die Aussichten für die Wirtschaft 2009 zwar miserabel, jene für die Börse aber gar nicht so schlecht. Auch er erwartet im Jahresverlauf starke Schwankungen, kann sich aber vorstellen, dass es ab Mitte des Jahres merklich nach oben geht. "Die US-Wirtschaft ist bereits seit Ende 2007 offiziell in der Rezession", sagt er. Ab Ende 2009 rechnet er mit einer Konjunkturwende, und die Börsen nähmen diese um sechs bis neun Monate vorweg. Deshalb sagt er voraus, dass die Börsen auf Jahressicht um 20 oder gar 30 Prozent steigen könnten. Wichtig ist es dabei zu erwähnen, dass Heller als notorischer Optimist gilt, der allerdings mit seinen Prognosen häufig richtig lag. Schon vor zwei Jahren etwas sagte er voraus, dass auf dem amerikanischen Immobilienmarkt und bei Hedgefonds, eine Zeitbombe tickt.

Welche Branchen könnten an der Börse in Zukunft laufen, um welche sollten Anleger einen weiten Bogen machen? Erhardt sieht die Automobilunternehmen kritisch, sie brauchten trotz Abwrackprämie wohl Jahre, bis sich ihre Absatzzahlen wieder nachhaltig verbesserten. Heller misstraut besonders der Bankenbranche. Einig sind sich beide Experten darin, dass jene Aktien zu den Gewinnern gehören könnten, deren Unternehmen von den staatlichen Konjunkturprogrammen profitieren, also Baukonzerne wie Hochtief und Bilfinger Berger oder deren Ausrüster wie Caterpillar.

Der Fiduka-Gründer macht schon die nächste Blase aus: bei den Staatsanleihen, in die Anleger zuletzt geflüchtet sind. Wenn die Notenbanken bei einer Konjunkturwende die Zinsen erhöhen, werde die Inflation deutlich steigen, dann müssten die Staaten auch weit höhere Zinsen für ihre Anleihen zahlen - und das drücke auf den Kurs. Wer die Anleihe dann vorzeitig verkaufen wolle, müsse hohe Kursverluste hinnehmen. Heller lässt in seinem Depot deshalb derzeit die Finger von Staatsanleihen.

Heller, Gottfried: Zitate FIDUKA Depotverwaltung GmbH Aktienmarkt in Deutschland Deutscher Aktienindex SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Deutschland, USA, Großbritannien: In vielen Ländern kommen die Geldhäuser nicht aus der Krise

Bilanzen im Nebel

Angeblich haben deutsche Banken Schrottpapiere für mehrere hundert Milliarden Euro in ihren Büchern. Immer lauter wird nun der Ruf nach weiteren Staatshilfen

Von Helga Einecke, Thomas Fromm und Klaus Ott

Frankfurt - Wie geht es weiter bei der Hypo Real Estate (HRE)? Und bei vielen anderen deutschen Banken? Die angeschlagene HRE verhandelt derzeit mit der Regierung um weitere Milliardenhilfen, im Gespräch ist auch eine Mehrheitsbeteiligung des Staates. Doch innerhalb der Bundesregierung ist das weitere Vorgehen umstritten. "Gegen eine völlige Übernahme von Banken habe ich erhebliche ordnungspolitische Bedenken", sagte etwa Unions-Bankenexperte Otto Bernhardt der Süddeutschen Zeitung. Dies sei ein "zu starker Eingriff in die Rechte und in das Eigentum der Aktionäre". Zuletzt hatte es in Berlin geheißen, der HRE könnten mindestens zehn Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.

Dies allerdings würde bedeuten, dass der Staat eine klare Mehrheit an der Bank bekäme. Bei einer Staatsbeteiligung von mehr als einem Drittel müsste aber das Finanzmarktstabilisierungsgesetz geändert werden, in dem die Hilfen für die Bankenbranche geregelt sind. Das Gesetz sieht vor, dass sich der Staat über den Stabilisierungsfonds Soffin mit höchstens 33 Prozent direkt an einer Bank beteiligen darf.

Der im Oktober gegründete Soffin gibt Banken staatliche Bürgschaften in Höhe von 400 Milliarden Euro. 100 Milliarden Euro davon sind bereits abgerufen. Außerdem kann der Soffin Eigenkapitalhilfen von 80 Milliarden Euro zuschießen, wovon erst 18 Milliarden Euro beansprucht wurden. "Es gibt also noch Spielraum", sagte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er brachte diese Zahlen nicht ohne Grund ins Spiel, denn die Rufe nach einer staatlichen "Bad Bank" nehmen nicht ab. Eine Bad Bank ist ein neu zu gründendes Institut, das von anderen Banken alle Wertpapiere übernimmt, die als zu riskant gelten, um sie in den Büchern zu behalten. Über den Umfang dieser Papiere kursieren neue Zahlen: Sie sollen sich bei den 20 größten deutschen Instituten auf 300 Milliarden Euro aufgetürmt haben, aber erst zu einem Viertel abgeschrieben sein, meldete der Spiegel. Das Bundesfinanzministerium bestätigte zwar eine Umfrage unter den Banken zum Abschreibungsbedarf, nannte aber keine Zahlen. Wie es also aussieht in den Bank-Bilanzen, bleibt im Nebel. Die gesamte deutsche Kreditwirtschaft könnte auf riskanten Papieren in Höhe von einer Billion Euro sitzen.

Steinbrück sagte, eine staatliche Bad Bank müsse mit Steuergeldern von mindestens 150 bis 200 Milliarden Euro bestückt sein. Dies sei weder ökonomisch noch politisch vorstellbar. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann wirbt seit Monaten für die Idee einer Bad Bank. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident, Günther Oettinger (CDU), und die Privatbank Sal. Oppenheim plädieren für eine solche Auffanglösung.

Dagegen hält Deutschlands oberster Bankenaufseher Jochen Sanio nichts von der Idee. Der Staat müsste dann jeder Bank den bisher bekannten Giftmüll abnehmen und eine Blanko-Ankaufsgarantie für die Zukunft geben, argumentiert der Chef der Finanzaufsicht Bafin. Damit würde der Staat finanziell stärker verpflichtet als erforderlich. Verwunderlich findet Sanio auch, dass die Diskussion um eine Bad Bank nur drei Monate nach der Gründung des Soffin geführt werde. "Man hat den Instrumentenkasten des Soffin noch gar nicht richtig ausprobiert." Bestimmte Risiken ließen sich auch innerhalb einer Bank isolieren und mit staatlicher Hilfe neutralisieren.

Dagegen scheinen in den USA Finanzministerium, Notenbank und die Behörde zur Einlagensicherung ernsthaft die Gründung einer Bad Bank zum Aufkauf schlechter Wertpapiere zu erwägen. Ziel ist es, privates Kapital in das Bankensystem zu locken. Auch soll die Kreditvergabe an private Haushalte und an Firmen in Gang gehalten werden. "Wir wollen, dass der Kreditfluss wieder in Gang kommt", sagte ein Berater Obamas. "Wir wollen nicht, dass sie auf irgendwelchen Geldern sitzen, das sie vom Steuerzahler bekommen haben." Die US-Regierung hatte in einem ersten Schritt bereits 700 Milliarden Dollar für die Rettung der US-Finanzbranche zur Verfügung gestellt. Ursprünglich sollte das Geld dazu verwendet werden, die US-Banken von den riskanten Wertpapieren zu befreien.

Daraus wurde aber nichts; vielmehr entschied sich die Regierung für direkte Kapitalspritzen, vor allem für die größten Banken des Landes. Deshalb sitzen die Kreditinstitute weiter auf den teils wertlosen Papieren und müssen in ihren Bilanzen immer größere Löcher offenbaren. Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, der US-Wissenschaftler Dennis Snower, sieht für das Finanzsystem der Vereinigten Staaten ziemlich schwarz. Er sagte in einem Interview, die Sanierung der amerikanischen Banken würde dreimal so viel kosten wie bisher veranschlagt. (Kommentare)

Manager abgetaucht

Anleger befürchten nach dem Verschwinden eines Hedgefonds-Managers aus Florida einen weiteren Betrugsfall in der US-Finanzbranche. Die Kunden seien besorgt, mehrere Hundert Millionen Dollar verloren zu haben, berichteten Medien. Seine Familie hatte den 76-jährigen Manager, der bis zu 350 Millionen Dollar verwaltet haben soll, am Mittwoch als vermisst gemeldet. Ein Partner des Managers alarmierte Investoren, dass die Fonds verschwunden sein könnten. Der Partner sagte weiter, der 76-Jährige sei noch am Leben. dpa

Die Hochhäuser der Frankfurter Banken liegen im Dunst: Ähnlich verhält es sich auch mit den Bilanzen der Institute. Foto: AP

Steinbrück, Peer: Zitate Bernhardt, Otto: Zitate Sanio, Jochen: Zitate Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - Folgen der Finanzkrise in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Frage der Haftung

Seit sich Bernard Madoff vor gut einem Monat als der wohl größte Betrüger der Wirtschaftsgeschichte offenbarte, bangen auch deutsche Privatanleger um ihr Geld. Der Skandal um den 70-jährigen Finanzjongleur aus New York hat so manches Depot wertlos gemacht. Über Luxemburg und Irland kauften sich Dachfonds, in die Anleger ihr Kapital steckten, in Madoffs Schneeballsystem ein (Grafik links).

Jetzt fordern Investoren und Politiker, dass die beiden großen Depotbanken HSBC und UBS Schadenersatz für erlittene Verluste aus dem Madoff-Skandal zahlen. Ihr Vorwurf: Die Geldinstitute hätten bei Fonds in Luxemburg und Irland, die bei Madoff investierten, ihre Kontrollpflichten als Depotbank vernachlässigt. Etwa 3,2 Milliarden Euro wollen die Anleger zurück. Madoff hatte Investoren weltweit um insgesamt 50 Milliarden Dollar betrogen. Der Ruf der europäischen Fondsbranche stehe auf dem Spiel, schrieb Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde an die Europäische Kommission und Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker. "Wenn die Banken nicht zur Rückzahlung des Geldes verpflichtet werden, hat der Anlegerschutz keine Bedeutung", sagte Isabelle Wekstein-Steg, die als Anwältin von Wan Avocats in Paris die Interessen Geschädigter vertritt, der Agentur Bloomberg. am

Madoff, Bernard Betrugsfall Madoff SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zweifel am EU-Abkommen

Verfassungsgericht verhandelt über Lissabonner Vertrag

Karlsruhe - Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 10. und 11. Februar über den EU-Reformvertrag von Lissabon. Nach Gerichtsangaben geht es dabei um Klagen des CSU-Politikers Peter Gauweiler, der Bundestagsfraktion der Linken und des ÖDP-Bundesvorsitzenden Klaus Buchner. Im Zentrum steht die Frage, ob der Vertrag zu einer verfassungswidrigen Ausweitung der EU-Zuständigkeiten auf Kosten der souveränen Staatlichkeit Deutschlands führt.

Dies geschehe sowohl durch den Vertrag als auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, behauptet Gauweiler. Er sieht zudem das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Gewaltenteilung als verletzt an. Dem Europäischen Rat fehle die demokratische Legitimität. Als Mitglied des Bundestags macht Gauweiler eine Verletzung seiner parlamentarischen Mitwirkungsrechte geltend. Die Linke sieht ebenfalls Rechte des Bundestags als verletzt an.

Der Prozess ist von großer Bedeutung für das Schicksal des EU-Vertrags. Bisher haben ihn 23 von 27 Mitgliedsstaaten ratifiziert. Es fehlen noch Irland, Polen, Tschechien und Deutschland. Bisher galt Irland als Haupthindernis, nachdem eine Volksabstimmung negativ verlaufen war. Mittlerweile wird dort mit einer Zustimmung in einem zweiten Anlauf gerechnet. Nun bleibt bis zur Urteilsverkündung im Frühjahr oder Sommer unklar, ob Deutschland den Vertrag ratifiziert. Bundespräsident Köhler billigt zwar den Vertrag, hat jedoch mit Rücksicht auf den Karlsruher Prozess die Ratifikationsurkunde noch nicht ausgefertigt und nicht in Rom hinterlegt. ker.

Gauweiler, Peter Buchner, Klaus Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Ratifizierung der Vertragsverfassung und des Reformvertrags der EU EU-Reformvertrag von Lissabon 2007 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentare

Politik am Bruch

Das Krisenpaket ist ein Katastrophenpaket: Es erhält, statt zu gestalten

Von Michael Bauchmüller

Gemessen am Ausmaß ihres Versagens ist die Bundesregierung in dieser Woche ziemlich gut davongekommen. Die Kritik am größten Konjunkturpaket seit der Wiedervereinigung blieb verhalten. Gemessen am gigantischen Volumen von 50 Milliarden Euro, an der Aufgabe und der erforderlichen Eile erscheint die Exegese einzelner Unterpunkte ohnehin fast schon lächerlich. Und wer hat schon etwas gegen "Zukunftsinvestitionen", gegen eine "Umweltprämie" oder einen "Kinderbonus"? Das Konjunkturpaket ist ein Meisterstück politischer Camouflage. Viele sind darauf hereingefallen.

Das Versagen könnte fundamentaler kaum sein. Denn kaum etwas an diesem Paket deutet in die Zukunft, zu vieles in die Vergangenheit. Verbraucher müssen weniger Steuern zahlen und bekommen Extra-Geld für ihre Kinder: Damit sie weiter fleißig konsumieren. Kommunen erhalten Geld für ihre Schulen: Damit sie sich endlich neue Fenster leisten können oder vielleicht sogar ein dichtes Dach. Autofahrern schenkt der Staat Geld fürs Abwracken und die Kfz-Steuer: Damit bloß die Bänder weiterlaufen in den Autowerken. Deutlicher kann Politik Hilflosigkeit nicht demonstrieren. Sie nimmt 50 Milliarden Euro in die Hand, nicht etwa um dieses Land zu gestalten - sondern um seine Strukturen zu erhalten.

Nirgends wird das deutlicher als an der unseligen Abwrackprämie für Autos, der sogenannten Umweltprämie. Inmitten einer Krise werden die Deutschen so dazu angehalten, ihre alten Autos zu verschrotten, um Platz zu machen für viele neue. Mit anderen Worten: Verbrennungsmotoren wandern in die Schrottpresse, damit neue Verbrennungsmotoren gebaut werden können. Nichts anderes wird geschehen. Selbst Pläne, die Begünstigung von strengeren Abgasnormen abhängig zu machen, ließ der Bund fallen. Die Hersteller dürfen bis auf weiteres an dem Konzept festhalten, mit dem sie Schiffbruch erlitten haben, der Steuerzahler subventioniert es mit 1,5 Milliarden Euro. Ein grandioser Fehler.

Lärmschutz statt weniger Lärm

Neue, effizientere Technologie kommt so mit Sicherheit nicht auf die Straße. Letztere aber wird nun immerhin aus Steuermitteln saniert, was leider nötig ist. Denn der Straßenverkehr, Mittelpunkt der deutschen wie auch der desaströsen amerikanischen Mobilität, wird nach dem Willen der großen Koalition durch das deutsche Konjunkturpaket zusätzlich gestärkt. Millionen fließen in Lärmschutzwände, nicht aber in die Bekämpfung von Lärm. Geld für den öffentlichen Nahverkehr, die einzige Alternative zu einem überbordenden Autoverkehr, hat die Koalition aus ihren "Zukunftsinvestitionen" ausdrücklich ausgeschlossen. Wäre es nicht auf Papier fixierte Regierungshaltung, man müsste es für einen üblen Scherz halten.

Nicht viel besser sieht es mit den Milliarden für das Bildungssystem aus. Diese "Zukunftsinvestition" fließt nämlich im Wesentlichen in längst überfällige, mitunter skandalös lang unterlassene Sanierungen. Das ist angenehm für die Schüler, gescheiter werden sie dadurch aber nicht. Eine Investition in mehr Sonderpädagogen, in zusätzliche Lernangebote oder - jenseits ihrer Errichtung - auch in die Betreuung an Ganztagsschulen, all das sieht das Paket nicht vor, weil es nicht schnell genug die Wirtschaft ankurbelt. All das hätte den Namen "Zukunftsinvestition" aber zumindest verdient.

Plan A wird fortgesetzt

Was verschleiert den Blick auf die Zukunft? Ist es Hektik? Mangelnder Mut? Resignation? Nach allem, was wir bisher über diese Krise wissen, stehen wir nicht einfach einem besonders herben Abschwung gegenüber. Der Einbruch kommt so schnell wie nie, er ist so scharf wie nie, erschüttert so viele Länder und Branchen wie nie. Ganze Systeme geraten in gefährliches Ungleichgewicht: Die Systeme von Geld und Kredit, von globalem Güteraustausch, von Bereitstellung und Verbrauch begrenzter Ressourcen. Mit jeder neuen Katastrophe in der Wirtschaft wird klarer: Das hier ist nicht nur eine schwere Krise, es ist ein Bruch.

Ein Bruch ist kein Tal. Ein Tal verbindet zwei Berge. Ein Tal lässt sich gemeinsam durchschreiten: den nächsten Berg, den nächsten Aufstieg im Auge. Wäre die deutsche, die globale Wirtschaft einfach nur auf Talfahrt, dann wäre das Hilfspaket ausreichend, vermutlich überambitioniert. So weit ist die Bundesregierung in ihrer Analyse immerhin gekommen: Der nächste Berg ist diesmal seltsamerweise nicht in Sicht. Deshalb soll die Antwort besonders machtvoll sein, damit die deutsche Wirtschaft den langen Winter möglichst unbeschadet überlebt. Und dann weitermachen kann wie gehabt.

Doch dieser Verzicht auf Gestaltung kann mehr kosten als das größte Konjunkturpaket, denn wenig spricht dafür, dass es wie gehabt weitergehen wird. Um abzusehen, dass die Vorteile der deutschen Wirtschaft dauerhaft weniger in großen Industrien als in Köpfen stecken werden, braucht es keine Prophetie. Nur ein Blinder kann übersehen, dass die nächste große Krise viel mehr noch als die aktuelle von massiv steigenden Rohstoffpreisen ausgelöst werden könnte. Investitionen in die Erschließung neuer Ölreserven bleiben - was kein Schaden ist - derzeit genauso auf der Strecke wie das eine oder andere Stahlwerk. Das heißt: Technologien und Industriezweige, die Deutschland in 60 Jahren wirtschaftlich stark gemacht haben, könnten das Land in den nächsten Jahrzehnten schwächen.

Einen Plan B für eine nachhaltige, rohstoffunabhängigere Ökonomie hat die Bundesregierung offenbar nicht. Plan A wird fortgesetzt. Solange noch Geld für neue Konjunkturpakete da ist, geht das auch. Aber nur so lange.

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ich würde mir nie ein Urteil über Ihren Wagen erlauben - zahlt der Staat für dieses Modell neuerdings nicht sogar eine Prämie? Cartoon: Dirk Meissner

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Tricksereien kosten

Firmen legen Kunden rein und verdienen damit Geld. Verbraucherschützer haben erstmals einen Teil dieser Gewinne einkassiert

Von Marco Völklein

München - Verbraucherschützer brauchen schon ein dickes Fell. Über Monate, wenn nicht gar Jahre, fallen Verbraucher immer wieder auf die Tricks von Unternehmen herein. Sei es im Internet oder am Telefon. Oder auf unlautere Tricks in der Werbung. Die Juristen der Verbraucherzentralen gehen dagegen regelmäßig mit Unterlassungsklagen vor - und immer wieder versuchen sie auch, die unrechtmäßig erworbenen Gewinne der Anbieter abzuschöpfen. Das Gesetz sieht diese Möglichkeit theoretisch zwar vor. Doch in der Praxis kam es nach Auskunft des Verbraucherzentrale-Bundesverbands (VZBV) bisher noch nie dazu.

Doch nun haben die VZBV-Juristen erstmals einen solchen Sieg errungen. Weil er in der Werbung für eine Matratze die Verbraucher in die Irre geführt hatte, musste der Discounter Lidl 25 000 Euro an das Bundesamt der Justiz erstatten. VZBV-Vorstand Gerd Billen überreichte einen entsprechenden Scheck an Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD). "Unternehmen müssen wissen, dass es teuer werden kann, sich unredlich zu verhalten", erklärte Billen.

Allerdings werden Verbraucherschützer auch künftig nicht flächendeckend unrechtmäßig erworbene Gewinne abschöpfen können. Dazu sind die juristischen Hürden zu hoch. Denn die klagenden Verbände tragen das volle Prozessrisiko - und das kann bei einem hohen Streitwert schon mal existenzbedrohend sein. Zudem würde bei einem Sieg vor Gericht der Betrag, der von einer Firma abgeschöpft würde, nicht an den Kläger gehen, sondern vielmehr an den Staat. Deshalb ließ sich der VZBV im Fall gegen Lidl auch auf mehrere Kompromisse ein.

Der Discounter hatte eine Matratze mit einem veralteten Testurteil der Stiftung Warentest beworben. Die VZBV-Juristen gingen eigentlich davon aus, dass Lidl dadurch einen Gewinn von 400 000 Euro einfahren konnte. Um allerdings das Prozesskostenrisiko zu begrenzen, bezifferte der Verband den Streitwert auf nur noch 25 000 Euro. In einem Vergleich vor dem Landgericht Heilbronn einigten sich die Verbraucherschützer und der Discounter schließlich darauf, dass Lidl diese Summe bezahlt.

"Da es sich um einen Vergleich handelt und nicht um ein Urteil, kann er nun auch nicht flächendeckend von anderen Verbraucherzentralen genutzt werden", erläutert Steffen Küßner vom VZBV. Daher sei die Einigung auch nur "ein halber Sieg". Um viel öfter gegen unrechtmäßig erworbene Gewinne vorgehen zu können, müssten die juristischen Hürden in den Verfahren herabgesenkt werden, fordert der VZBV. Und außerdem müsste der Gesetzgeber eine Neuregelung treffen, wonach unrechtmäßig erzielte Gewinne an eine Stiftung fließen, aus der sich die klagenden Verbraucherschutzverbände finanzieren könnten.

Denn locker lassen wollen die VZBV-Juristen auf keinen Fall. Derzeit geht der Verband gegen einen Anbieter von Abo-Fallen im Internet vor. Erst im Oktober hat der Verband vor dem Landgericht Hanau erwirkt, dass der Anbieter Online Service Ltd. seine Gewinne offenlegen muss, die er mit diesen Fallen erzielt hat. Zwar hat der Anbieter Berufung eingelegt; doch bestätigt die nächste Instanz das Urteil, können die Verbraucherschützer zum nächsten Schritt übergehen: Steht fest, wie viel die Firma mit der unlauteren Methode verdient hat, werden sie auf Gewinnabschöpfung klagen.

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Browns letzter Ausweg

Die britische Regierung plant zusätzliche Milliardenhilfen für die angeschlagene Finanzbranche. Auch von Komplettverstaatlichungen ist mittlerweile die Rede

Von Andreas Oldag

London - Die britische Regierung arbeitet an einem weiteren Hilfspaket für die angeschlagenen Banken. Es hat ein Volumen von bis zu 200 Milliarden Pfund (etwa 220 Milliarden Euro), für die der Steuerzahler gerade stehen muss. Kernelement ist eine Art staatliche Versicherung, um die angeschlagenen Banken von faulen Krediten und Wertpapieren zu entlasten. Demnach sollen die Kreditinstitute ihre Ramschpapiere offenlegen und mit einer Gebühr gegen Zahlungsausfälle und Verluste absichern. Regierung, Notenbank und Finanzaufsicht wollen das neue Hilfspaket Anfang dieser Woche vorstellen.

Dem Vernehmen nach gibt es auch Pläne, große Geldinstitute voll zu verstaatlichen. Durch diesen Schritt könnte sich etwa der Staatsanteil an der Royal Bank of Scotland (RBS) von derzeit 58 auf 70 Prozent erhöhen. Diesen Schritt sieht Premierminister Gordon Brown offenbar als letzten Ausweg an, die Kreditklemme zu durchbrechen, in der die Wirtschaft steckt. Trotz milliardenschwerer Hilfen ist das Kreditgeschäft blockiert. Großbritannien steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit 1990.

Browns Berater haben zudem die Gründung einer Bad Bank (wörtlich: schlechte Bank) diskutiert. "Wir spielen verschiedene Optionen durch", hieß es in Londoner Finanzkreisen. Die Gründung einer Bad Bank gilt aber als wenig wahrscheinlich. Sie würde die Gründung einer staatlichen Auffanggesellschaft erfordern, die sämtliche problematischen Papiere aufkauft. Nachteil wäre ein erheblicher Bürokratie-Aufwand. Außerdem zeigen die Erfahrungen in den USA, das es schwierig ist, den Aufkaufpreis dieser Papiere objektiv zu bestimmen. Dies war nicht zuletzt der Grund, dass der scheidende US-Finanzminister Henry Paulson von seinem Aufkauf-Programm für US-Banken abrückte.

Premier Brown forderte indes die britischen Kreditinstitute auf, das Ausmaß ihrer faulen Kredite offen zu legen. Zugleich warnte er in der Financial Times vor einer finanzpolitischen Isolation, bei der sich die Banken auf ihre Heimatmärkte zurückziehen. Offenbar arbeitet die Regierung auch daran, die bereits verstaatlichte Hypothekenbank Northern Rock als Good Bank (wörtlich: gute Bank) einzusetzen. Sie soll mit Hilfe der Regierung dafür sorgen, dass Privatleute und Unternehmen ausreichend mit Krediten versorgt werden. Vor allem kleinere Firmen klagen, dass sie von Großbanken kaum noch Darlehen erhalten.

Mit einem spektakulären Schritt ver-sucht unterdessen die Barclays Bank ihre verunsicherten Anleger zu beruhigen. Nach einem drastischen Kurseinbruch um fast 25 Prozent am vergangenen Freitag gewährt die Bank einen vorgezogenen Einblick in ihre Bilanzen. Danach beträgt der Gewinn vor Steuern für das vergangene Jahr 5,3 Milliarden Pfund - mehr als Analysten voraussagten. Der Einbruch der Aktien sei unbegründet, teilte Barclays mit.

Bereits im Oktober hatte die britische Regierung ein erstes Hilfspaket im Volumen von 500 Milliarden Pfund für die Banken verabschiedet. Neben Garantien für Leihgeschäfte und frischem Geld der Notenbank konnten sich die Banken im Tausch gegen Aktien auch mit direkten staatlichen Finanzspritzen versorgen. Bisher nahmen die Royal Bank of Scotland (RBS), die Halifax Bank of Scotland (HBOS) und Lloyds TSB davon insgesamt 37 Milliarden Pfund in Anspruch. Die Großbanken HSBC und Barclays verzichteten bislang auf staatliches Geld.

Am Montag sollen Medienberichten zufolge erstmals Aktien der fusionierten Bank Lloyds und HBOS an der Börse gehandelt werden. Der Staat hält infolge der Kapitalspritzen einen Anteil von etwa 43 Prozent an dem neuen Geldgiganten. Llodys-Chef Eric Daniels wird den 140 000-Mitarbeiter-Konzern führen und hofft auf 1,8 Milliarden Pfund Kostenersparnisse pro Jahr. Analysten warnen aber, die HBOS-Bilanzen könnten wegen der Abhängigkeit vom Hypothekengeschäft weitere Risiken bergen.

Den britischen Großbanken drohen nach Schätzungen von Finanzexperten in diesem Jahr neue Verluste in Höhe von bis zu 70 Milliarden Pfund. Grund sind Darlehen für Gewerbeimmobilien, die im kommenden Jahr weiter drastisch an Wert verlieren dürften. Auch die Preise für private Immobilien sind im freien Fall: Vergangenes Jahr brachen sie um fast 16 Prozent ein. Der Dienstleistungssektor, der etwa drei Viertel der Wirtschaftsleistung ausmacht, befindet sich ebenso in einer schweren Krise.

"Hilfe" steht auf einem Schild vor dem britischen Premier Brown. Foto: Reuters

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"Noch mehr Geld aus den Portemonnaies der Beitragszahler kann es nicht geben."

Alles auf null

Ärzte-Honorare werden noch einmal neu verteilt

Von Guido Bohsem

Berlin - Das deutsche Gesundheitswesen ist reich an Kuriositäten und seit Anfang des Jahres darf man über eine neue staunen - das Rätsel der verschwundenen Arzt-Honorare. Seit Januar zahlen die 50 Millionen Kassenmitglieder den niedergelassenen Ärzten mehr Geld. Bis Ende 2009 sollen es immerhin knapp drei Milliarden Euro werden. Und doch erwarten zahlreiche Fachärzte Umsatzeinbußen von bis zu 50 Prozent. Rein rechnerisch müsste jede der rund 137 000 Arztpraxen ein jährliches Plus von etwa 17 500 Euro verzeichnen, und doch fürchten viele das Ende ihrer beruflichen Existenz. Vor allem die Fachärzte in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg klagen lautstark über drohende Einkommensverluste. Die Frauenärzte in Bayern drohen sogar damit, Kassenpatienten nur noch auf Rechnung und nicht mehr gegen Vorlage der Chipkarte zu behandeln.

Wo sind die drei Milliarden Euro geblieben? Ist es möglich, dass sie mit der Umstellung der Abrechnung für die niedergelassenen Ärzte einfach so im System verschwunden sind? Handelt es sich um einen Trick der verhassten Gesundheitspolitiker in Berlin, den bislang nur keiner durchschaut hat?

Um diese Fragen zu beantworten hat es in den vergangenen Wochen zahlreiche Krisensitzungen und hitzige Besprechungen gegeben. Die Gesundheitsminister der betroffenen Länder schalteten sich ein. Die Kassen wiesen den Ärzten die Schuld zu, die Ärzte beschuldigten ihre Bundesvertretung und vor allem die Politik. Am Donnerstagabend entschied das höchste Verhandlungsgremium von Ärzten und Kassen, der Erweiterte Bewertungsausschuss: Es geht alles zurück auf null. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) werden die Honorare in Abstimmung mit den Krankenkassen noch einmal komplett neu verteilen.

Für die von der Honorarreform bedrohten Mediziner soll so eine Art Mini-Rettungsschirm gespannt werden, der sie vor allzu hohen Umsatzeinbußen schützen soll. Von April bis zum 31. Dezember 2010 soll die Absicherung wirken und das Schlimmste für die Ärzte verhindern. "Niemand fällt ins Bodenlose", betont der Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Roland Stahl. Auf zusätzliche Mittel der Beitragszahler können die zuständigen Ärztevertreter allerdings nicht hoffen. "Noch mehr Geld aus den Portemonnaies der Beitragszahler kann es nicht geben", sagte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung. Sprich, mehr als insgesamt 30 Milliarden Euro sollen die Ärzte nicht bekommen

Stattdessen sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen nun herausfinden, welche Ärzte nach dem bisherigen Verteilerschlüssel im besonderen Ausmaß profitierten. Deren Zuwächse sollen in den kommenden 21 Monaten geringer ausfallen, denn nur so können die Ausfälle bei den weniger glücklichen Kollegen kompensiert werden. Das dürfte nicht einfach sein, denn im Gegensatz zu den Verlierern der Reform haben ihre Gewinner bislang zufrieden geschwiegen.

Die Neuverteilung des Geldtopfs stellt die Kassenärztlichen Vereinigungen vor weitere Schwierigkeiten. Schließlich wird auch der neue Ansatz ein Experiment sein. Denn es gibt keinerlei Erfahrungen mit dem neuen Honorarsystem. "Wir befinden uns in einer vollkommen neuen Abrechnungswelt", sagt KBV-Sprecher Stahl. Bislang wurden die Leistungen der Mediziner mit einem hochkomplizierten, dafür aber erprobtem Punktesystem bewertet. Seit Jahresanfang erfolgt die Abrechnung nach Euro und Cent.

Ziel der Reform war es außerdem, die Honorare der niedergelassenen Ärzte stärker anzugleichen und damit sicherzustellen, dass ein Arzt in Brandenburg für die Behandlung eines erkälteten Patienten annähernd den gleichen Betrag bekommt wie sein Kollege in Freising oder Duisburg. Zu diesem Zweck wurden die Honorare der Mediziner im Osten des Landes deutlich angehoben, während sie in Westdeutschland zum Teil nur sehr gering stiegen oder sogar stagnierten. Kein Wunder also, dass von den Ärzten in Thüringen und Sachsen keine Klagen zu hören sind, während in vielen Regionen der alten Bundesländer die Wogen hochschlagen.

Immerhin, an der regionalen Aufteilung des Budgets soll nicht gerüttelt werden. Eine andere Verteilung soll es nur innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen geben. Beim Spitzenverband der Krankenkassen hegt man große Zweifel daran, dass der zweite Anlauf besser gelingen wird. "Als nächstes werden die Ärzte auf die Barrikaden gehen, die was von ihrem zusätzlichen Einkommen abgeben müssen", heißt es dort. (Seite 4)

Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) Spitzenverband Bund der Krankenversicherung Ärztehonorare in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die dunkle Seite des Reemtsma-Imperiums

Wer glaubt, dass früher alles besser gewesen sei - insbesondere die Moral von Unternehmern - wird durch die Lektüre des wunderbaren Buches "Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961" eines Besseren belehrt. Die Reemtsmas, allen voran Philipp Fürchtegott, der in den glorreichen 40 Jahren des Konzerns die wichtigsten strategischen Entscheidungen traf, schreckten schon damals nicht vor "eindeutig illegalen Geschäftspraktiken" wie Steuerhinterziehung zurück, um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Das hat Buchautor Tino Jacobs sorgsam recherchiert.

Um unliebsame Entwicklungen zu verhindern, genügte es damals meist schon, dass die Reemtsmas ihre finanziellen Möglichkeiten oder ihre überragende Machtposition nutzten. Letztere gründete auf sorgfältig geknüpften Verbindungen zu Politikern, Journalisten oder Bankern. Auch bei der Besetzung einflussreicher Positionen in Verbänden und Gremien sprachen die Reemtsmas mit. Das jeweilige politische System spielte nur eine untergeordnete Rolle.

Um den Machtanspruch der Reemtsmas wiederzugeben, hat Jacobs sein Buch nach den verschiedenen Ausdrucksformen dieser Macht gegliedert: Dem Abschnitt über die bescheidenen Anfänge 1910 in Erfurt, als Bernhard Reemtsma Dixi, eine von etwa 1000 Zigarettenfirmen im Deutschen Reich, kaufte, folgt ein Kapitel über "Machtanhäufung", also die Entstehung des Konzerns in den 20er Jahren, begünstigt durch den Umzug nach Altona. Gekennzeichnet war diese Phase durch den rasanten Anstieg der meist weiblichen Belegschaft und die enge Zusammenarbeit mit Werbeexperten. Zigarettenmarken wie die R6 sollten unter Verzicht auf alles, "was nach typischer Reklame aussah", durch "hochwertige Eigenschaften" überzeugen.

Tino erläutert, wie es zur "Institutionalisierung der Macht" in den Jahren 1930 bis 1945 kam. Seit 1921 bestimmte Philipp Reemtsma zusammen mit seinem Bruder Hermann die Geschicke des Unternehmens. Mindestens 34 Millionen Reichsmark spendeten die Brüder bis 1945 an Hermann Göring und verschiedene andere NS-Funktionsträger und Nazi-Organisationen - und machten sich dadurch unangreifbar. Sie sorgten für eine partielle Vorwegnahme nationalsozialistischer Betriebs- und Sozialpolitik und unterstützten die Nazi-Propaganda durch Sammelbilder und Alben zu Themen wie "Deutschland erwacht" oder "Adolf Hitler. Bilder aus dem Leben des Führers". So konnten sie politisch und wirtschaftlich motivierte Angriffe aus SA-Kreisen wegen des Verdachts der Korruption abwehren - paradoxerweise mittels üppiger Spenden. Recht knapp behandelt Autor Jacobs den "Machtverlust" in den Jahren 1945 bis 1948, ehe er sich abschließend ausführlich der "Machtrestauration" bis zum Ende des Familienunternehmens im Jahr 1961 widmet und dabei die Einflussnahme der Reemtsmas auf die neuen Tabaksteuergesetze analysiert.

Was macht die Aktualität dieser Studie aus, deren Hauptfiguren seit mehr als vierzig Jahren tot sind? Neben der Frage nach unternehmerischer Moral und Verantwortung, die angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise besondere Brisanz gewinnt, sind es die Abschnitte über Kartelle, Lobbying, Marketing oder über die gezielte Bildung von Netzwerken, die man mit großem Gewinn liest. Dies gilt auch für die Schilderung, wie der Konzern mit Rauchverbots-Kampagnen in nationalsozialistischen Kreisen umging und auf die seit den 50er Jahren zunehmenden Vorwürfe reagierte, dass Rauchen Krebs erzeugt. Alles in allem hat Jacobs ein faktenreiches und unbedingt lesenswertes Buch geschrieben. Werner Bührer

Wirtschaftsbuch

Tino Jacobs:

Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961.

Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 311 Seiten, 34 Euro.

Jacobs, Tino: Veröffentlichung Reemtsma Cigarettenfabrik GmbH: Historisches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Urteile zur doppelten Haushaltsführung

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat 2007 einige Fragen zur doppelten Haushaltsführung geklärt, die nun bei der Steuer für 2008 relevant sein können. Eine kurze Zusammenstellung:

- Wenn Alleinstehende über lange Jahre Ausgaben für die doppelte Haushaltsführung ansetzen, ist es den Finanzämtern erlaubt, dies einer genaueren Kontrolle zu unterziehen und zu prüfen, ob der ursprüngliche Lebensmittelpunkt vielleicht doch aufgegeben wurde (Aktz. VI R 10/06).

- Lebt ein unverheiratetes Paar berufsbedingt an zwei verschiedenen Orten und entscheidet es nach der Geburt eines gemeinsamen Kindes, eine der beiden Wohnungen zum gemeinsamen Wohnsitz der Familie zu machen, so darf es auch weiterhin für die andere Wohnung Ausgaben im Rahmen der doppelten Haushaltsführung absetzen (Aktz. VI R 31/05).

- Grundsätzlich akzeptiert der Fiskus Ausgaben für eine doppelte Haushaltsführung nur, wenn die Zweitwohnung nicht größer als 60 Quadratmeter ist. Dies bestätigte der BFH in einem Urteil vom Sommer 2007: Auch bei einem Mangel an kleinen Wohnungen oder Eile bei der Wohnungssuche gelte diese Grenze (Aktz. VI R 23/05).

- Wenn ein junger Mensch in Ort B einem Job nachgeht, Wochenende und Urlaub aber an Ort A bei seinen Eltern verbringt, dann kann er Ausgaben für die doppelte Haushaltsführung geltend machen - allerdings nur, wenn die Bleibe in A im Haus seiner Eltern eine abgetrennte, eigenständige Wohnung ist, in der er einen eigenen Hausstand führt (Aktz. VI R 60/05). mvö

Lohn- und Einkommenssteuer in Deutschland Steuerrecht in Deutschland Zweitwohnungen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Baden-Baden im Nato-Taumel

Sechs Monate lang bereitete sich die Stadt Kehl auf das Treffen der Allianz im April vor- nun hat sie das Nachsehen

Von Bernd Dörries

Stuttgart - Ein halbes Jahr hatte sich die Stadt Kehl darauf gefreut, für ein paar Tage im Zentrum der Weltöffentlichkeit zu stehen und Vorbereitungen getroffen. Für den Nato-Gipfel Anfang April wurden frühzeitig alle Turnhallen gesperrt, die Hotels nahmen erste Reservierungen entgegen und die Polizei stellte eine Liste auf mit 11 000 möglichen Orten, an denen Bomben versteckt werden könnten. Vom Briefkasten bis zum Gully. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach mit Respekt von der "Friedensbrücke" zwischen Straßburg und Kehl, den beiden Austragungsorten des Gipfels, zu dem die Regierungschefs aus 26 Ländern und 3500 Gäste erwartet werden.

Ende vergangenen Jahres muss dann einer der Planer der Bundesregierung einmal selbst nach Kehl gefahren sein oder dort angerufen haben. Jedenfalls fiel auf, dass Kehl mit Straßburg zwar gemeinsam eine erfolgreiche Gartenschau veranstaltet hat, dass es sich aber ansonsten um zwei ungleiche Nachbarn am Rhein handelt. Kehl ist eine Stadt von lediglich 35 000 Einwohnern, die nicht über genügend Hotels verfügt und über sehr wenig repräsentative Orte, an denen die Regierungschefs das 60-jährige Bestehen des Verteidigungspaktes angemessen feiern könnten. Die Innenstadt ist eher zweckmäßig eingerichtet. Also wurde in Berlin beschlossen, die Veranstaltung ins etwa 30 Kilometer entfernte Baden-Baden zu verlegen. "Wir wurden nie gefragt - weder als beschlossen wurde, er solle zum Teil in Kehl stattfinden, noch als er nach Baden-Baden verlegt wurde", sagte Kehls Oberbürgermeister Günther Petry (SPD). Dort ist man etwas beleidigt.

Im April blühen vor den Kurhotels in Baden-Baden üblicherweise die Tulpen und es ist alles so ruhig und gemütlich, dass in den Straßen ein Husten schon auffällig ist. Diesen April wird es etwas anders werden, die Stadt erwartet 6500 Gipfelteilnehmer und Journalisten, dazu kommen noch einmal etwa 15 000 Polizisten, die das Treffen in der Region vor den etwa 20 000 Gegendemonstranten schützen sollen. Alles zusammen fast so viel wie Baden-Baden Einwohner hat. Manche in der Stadt denken mit unguten Gefühlen an die Bilder vom G-8-Gipfel in Heiligendamm, an den schwarzen Mob, Steine und Wasserwerfer.

Es wird so ziemlich alles erwartet, was das gesellschaftliche Spektrum an Gegnern hergibt. Die Linken werden kommen und auch die NPD hat eine Gegendemonstration angemeldet unter dem Titel "Widerstand gegen den Nato-Gipfel - von euren Kriegen haben wir die Schnauze voll." Und auch für die Islamisten habe der Gipfel "einen hohen Symbolcharakter", sagt Landespolizeidirektor Erwin Hetger . Die Ereignisse von Heiligendamm würden sich aber in der schönen Kurstadt nicht wiederholen, auch wenn es anspruchsvoller wird, die Demonstranten auf Distanz zu halten. Einen Zaun wie an der Ostsee wird es in Baden-Baden nicht geben.

"Das erlebt man nur einmal im Leben", sagt Oberbürgermeister Wolfgang Gerstner (CDU), der sich einen Werbeeffekt für die Stadt erhofft. Am liebsten wäre ihm, wenn der dann amtierende US-Präsident Barack Obama einen ausgedehnten Spaziergang durch die Innenstadt unternähme. Am Abend des 3. April gibt es ein großes Abendessen der Staats- und Regierungschefs, am nächsten Tag geht es weiter nach Straßburg.

Die Stadt Kehl wird von dem großen Glanz wenig abbekommen, sie wird vom Gipfel aber dennoch betroffen sein. Man könnte sagen, dass alles, was das schöne Bild in Baden-Baden stört, nach Kehl ausgelagert wird, weil die Stadt günstig zwischen beiden Gipfelorten liegt. Die Polizei soll im Rheinhafen ihre Kräfte stationieren und auch die Gipfelgegner wollen in Kehl campieren. Als kleine Entschädigung werden die Regierungschefs aber doch kurz nach Kehl kommen, zu einem gemeinsamen Foto auf der Rheinbrücke, dem schönsten Platz der Stadt.

"Wir wurden nie gefragt, weder als der Gipfel in Kehl stattfinden sollte, noch als er verlegt wurde."

Mondäne Welt: Die Teilnehmer des Nato-Gipfels werden die Annehmlichkeiten der Kurstadt Baden-Baden zu schätzen wissen. Hier gibt es das weltberühmte Spielcasino (Bild), in dem schon der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewskij einst viel Geld verlor. Foto: Karsten Kramer

Nato-Gipfeltreffen 2009 in Straßburg und Baden-Baden Baden-Baden SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ausländer dürfen wählen

Madrid - Bei den nächsten spanischen Kommunalwahlen 2011 dürfen auch Kolumbianer und Peruaner wählen. Einen entsprechenden Beschluss über das aktive kommunale Wahlrecht für Einwanderer aus beiden lateinamerikanischen Staaten fasste die spanische Regierung, wie das Außenministerium in Madrid mitteilte. Voraussetzung ist, dass die Migranten bereits seit fünf Jahren mit einer Aufenthaltsgenehmigung in Spanien leben, volljährig sind und sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen. Insgesamt leben rund 256 000 Kolumbianer und etwa 127 000 Peruaner in Spanien. epd

Madrid

- Bei den nächsten spanischen Kommunalwahlen 2011 dürfen auch Kolumbianer und Peruaner wählen. Einen entsprechenden Beschluss über das aktive kommunale Wahlrecht für Einwanderer aus beiden lateinamerikanischen Staaten fasste die spanische Regierung, wie das Außenministerium in Madrid mitteilte. Voraussetzung ist, dass die Migranten bereits seit fünf Jahren mit einer Aufenthaltsgenehmigung in Spanien leben, volljährig sind und sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen. Insgesamt leben rund 256 000 Kolumbianer und etwa 127 000 Peruaner in Spanien.

Ausländer in Spanien Kommunalwahlen in Spanien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Cholera weitet sich aus

Genf - Die Zahl der Cholera-Toten in Simbabwe ist inzwischen auf 2201 gestiegen. Die Epidemie sei noch nicht unter Kontrolle, betonten die Vereinten Nationen am Freitag. Täglich würden 1550 Neuinfektionen gemeldet; insgesamt seien bisher 41 986 Menschen erkrankt. Die Cholera hat sich wegen des schlechten Gesundheitssystems, fehlenden Frischwassers und mangelnder Hygiene schnell in Simbabwe ausgebreitet. Wegen der Wirtschaftslage können es sich viele einheimische Ärzte nicht mehr leisten, ihrer Tätigkeit nachzugehen. AP

Gesundheitswesen in Simbabwe Cholera SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Tat mit lebenslangen Folgen

Klaus Bourquain tötete vor 49 Jahren einen Fremdenlegionär - nun hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass er dafür nicht mehr bestraft werden darf

Von Hans Holzhaider

Riedenburg - Fast 49 Jahre ist das jetzt her: Es war der 4. Mai 1960, am frühen Nachmittag, im Grenzgebiet zwischen Algerien und Tunesien. Klaus Bourquain, 21 Jahre alt, ein Brauergeselle aus Magdeburg und seit drei Monaten Mitglied der Fremdenlegion, war als Wachposten eingeteilt. Er sollte die ligne bewachen, die mit Stacheldrahtrollen und Hochspannungsdrähten gesicherte Grenze zum Niemandsland, wo die Fellaghas, die algerischen Aufständischen operierten. Aber Klaus Bourquain wollte nicht gegen die Rebellen kämpfen. Im Gegenteil: Er wollte zu ihnen hinüber, er wollte sie in ihrem Befreiungskampf gegen die Franzosen unterstützen.

Nur deshalb hatte er sich in der Fremdenlegion anwerben lassen - um bei der ersten Gelegenheit zu desertieren und sich den Aufständischen anzuschließen. Und jetzt wäre die Gelegenheit da - wenn da nicht der caporal wäre, der mit ihm zusammen Wache schiebt. Klaus Bourquain hebt einen Stein vom Wüstenboden auf, aber er zögert. Er bringt das nicht fertig. Dann kommt ein Nebelfetzen, der die Anhöhe einhüllt. Da schlägt er zu, aber nicht fest genug. Der caporal springt auf, schreit ihn an: "Bist du verrückt" , und läuft weg. Bourquain gerät in Panik. Wenn der andere den nächsten Wachposten erreicht, werden sie ihn erwischen und erschießen. Er hebt die Maschinenpistole und schießt dem Fliehenden nach. Er zielt auf die Beine. Der caporal stürzt. Er steht nicht mehr auf. Er heißt Deisler, Erich Deisler, ein Deutscher wie Bourquain, gerade eineinhalb Jahre älter.

Klaus Bourquain gelingt es, die Grenze zu überwinden. Eine Streife der Rebellen greift ihn auf, er bleibt bei ihnen, bis der Krieg zu Ende ist. Ein französisches Militärgericht verurteilt ihn am 26. Januar 1961 in Abwesenheit zum Tode. 48 Jahre dauert die juristische Odyssee, die an jenem verhängnisvollen 4. Mai ihren Anfang nahm. Erst jetzt hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg einen Schlussstrich gezogen: Nach den Bestimmungen des Schengen-Abkommens darf Klaus Bourquain wegen seiner Tat nicht mehr vor Gericht gestellt werden.

Als der Krieg in Algerien beendet war, entschloss sich Klaus Bourquain, in die DDR zu gehen, wo er aufgewachsen war, ehe die Familie 1955 nach Dortmund übersiedelte. Die französische Regierung erließ schon 1968 eine Generalamnestie für alle Straftaten, die von Angehörigen der Fremdenlegion in Algerien begangen worden waren. Das Todesurteil des Militärgerichts war damit hinfällig. In Dortmund dagegen führte die Staatsanwaltschaft, einst von den französischen Behörden um Amtshilfe gebeten, weiterhin eine Akte über den Fall Bourquain. Sie stellte sogar einen Auslieferungsantrag an die DDR, der natürlich abgelehnt wurde. Erst 1983 wurde das Ermittlungsverfahren wegen Verjährung endgültig eingestellt. Man wertete die Tat als Totschlag, nicht als Mord. Das erfuhr Klaus Bourquain aber erst 1990, nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Gleich nach der Wende begab er sich ins Polizeipräsidium Dortmund, zeigte seinen Ausweis und fragte, ob gegen ihn etwas vorliege. "Alles in Ordnung", sagte man ihm. "Sie können gehen".

In der DDR hatte Bourquain angefangen zu schreiben. Auch über seine Erlebnisse in Algerien. Er hat nie versucht, seine Schuld am Tod des Legionärs Erich Deisler zu vertuschen, sie lag ihm schwer auf der Seele. Er unternahm Reisen, nach Indien, in die Sahara. Er beschäftigte sich intensiv mit Religionen, er las die Bibel und den Koran, die Edda und die Upanischaden, Laotse und Konfuzius. Er schrieb ein Buch: "Das Göttliche", in dem er auch noch einmal die Geschichte des Caporals Deisler erzählte. Er erinnerte sich, wie man ihm in Dortmund gesagt hatte, es sei alles in Ordnung. "In mir ist nicht alles in Ordnung", schrieb Bourquain, "und wird es auch bis an mein Lebensende nicht sein."

Im Jahr 2001 entschloss sich Bourquain, seine Stasi-Akte einzusehen, weil er sich sicher war, dass er in der DDR bespitzelt worden war. Im Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen stieß eine Mitarbeiterin bei Durchsicht der Akte auf den alten Auslieferungsantrag der Staatsanwaltschaft Dortmund. In Dortmund beschloss ein Staatsanwalt nach einem entsprechenden Hinweis, die Akten anzufordern. Es solle überprüft werden, "ob sich neue Erkenntnisse ergeben haben, die eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erforderlich machen". Weil Bourquain inzwischen in Riedenburg an der Donau lebte, schickte der Staatsanwalt die Akten an die Kollegen in Regensburg. Dort las sich der Staatsanwalt Karl Pfeiffer die Akte durch und kam zu dem Schluss: Es war Mord - Mord zur Verdeckung einer Straftat (der Schlag mit dem Stein auf den Kopf des Caporals Deisler) und zur Ermöglichung einer anderen Straftat - die Mitnahme der Maschinenpistole, die Eigentum der Republik Frankreich war. Pfeiffer erließ einen Haftbefehl. Am 10. Juli 2002 standen zwei Kriminalbeamte vor Bourquains Wohnungstür in Riedenburg und forderten ihn auf, mitzukommen: "Sie wissen ja, warum".

Fast ein Jahr lang blieb Klaus Bourquain in Untersuchungshaft. Am 26. Juni 2003 begann vor dem Landgericht Regensburg der Prozess wegen Mordes an Erich Deisler. Aber das Gericht erkannte schnell, dass die Rechtslage höchst kompliziert war. Bourquain war ja schon einmal verurteilt worden, und der Vertrag von Schengen enthält ein ausdrückliches Verbot der Doppelbestrafung. Andererseits war das Urteil des Militärgerichts ja nicht vollstreckt worden. Durfte man Klaus Bourquain nun noch einmal vor Gericht stellen oder nicht?

Diese Frage hat nun der Europäische Gerichtshof beantwortet. Es ist eine sehr komplizierte Entscheidung, aber im Ergebnis ist sie eindeutig: Das Verbot der Doppelbestrafung gilt auch dann, wenn das in einem anderen Vertragsstaat ergangene Urteil nicht vollstreckt werden konnte. Klaus Bourquain kann für seine fast 49 Jahre zurückliegende Tat nicht mehr bestraft werden.

Jedenfalls nicht von einem Gericht. "Ich bin erleichtert", sagt Klaus Bourquain, "aber die Schuld gibt es immer noch. Das ist etwas Bleibendes."

Der ehemalige Fremdenlegionär Klaus Bourquain darf nicht doppelt für eine lange zurück liegende Tat bestraft werden. Foto: Rolf Thym

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Großes Gottvertrauen

Die neue Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner ist klug, charmant und ein Politprofi - und lächelt manches Problem hinweg

Von Daniela Kuhr

Berlin - Fast wäre es zum Kampf gekommen. Die Fotografen rempeln sich gegenseitig um, der mit der blauen Jacke haut seinem Hintermann die Kamera auf den Mund. Weitere drängen nach vorn. Jeder will ein Foto, komme was wolle. Dabei wird einfach nur die Grüne Woche eröffnet. Wie jedes Jahr. Zum 74. Mal. Doch den Fotografen geht es nicht um die hübsch drapierten Tulpen, den dekorativ angeschnittenen Käse oder den saftigen Schinken. Sie wollen nur eines: ein Foto von der schlanken hochgewachsenen Frau im grünen Dirndl - wie sie Tomaten in die Kamera hält, Hopfenblüten in die Luft wirft oder lächelnd einen Maßkrug ansetzt.

Ilse Aigner hatte am Freitagmorgen Premiere. Zum ersten Mal in ihrer Funktion als neue Bundeslandwirtschaftsministerin eröffnete die CSU-Politikerin die Grüne Woche, die größte Agrarmesse der Welt. Auf dem traditionellen Rundgang begleiteten sie Bauernpräsident Gerd Sonnleitner und Berlins Regierender Oberbürgermeister Klaus Wowereit. Das ist schon allein deshalb erwähnenswert, weil es sonst womöglich keiner bemerkt hätte. Die Aufmerksamkeit galt einzig und allein Aigner, die um Punkt acht Uhr morgens perfekt gestylt mit strahlendem Lächeln die Messe betrat. "Ja, da haben die Bayern uns endlich mal jemand Feschen geschickt", sagt ein älterer Herr, der aus dem Ems-Weser-Kreis angereist ist, um die Messe zu besuchen. "Die wirkt sehr nett." Auch Sonnleitner ist beeindruckt: "Einem Mann geht immer das Herz auf, wenn er eine Frau im Dirndl sieht, zumal wenn sie jung ist und was von Politik versteht."

Noch sind die 100 Tage nicht voll. An diesem Freitag ist Aigner erst 77 Tage im Amt der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Doch die 44-Jährige hat eine Schonzeit nicht mehr nötig. Sie tritt absolut routiniert auf. Keine einzige Frage der Journalisten bringt Aigner ins Stottern. Egal, ob es um den Welthunger, die Milchbauern, nachwachsende Rohstoffe oder die Kennzeichnung von Nahrungsmitteln geht - die Antworten kommen schnell, ohne jedes "Äh". Wie bei einem Profi üblich fällt die Antwort meist oberflächlich aus. "Wir müssen weltweit dafür sorgen, dass Nahrungsmittel produziert werden", sagt sie beispielsweise auf die Frage, wie das Ernährungsproblem zu lösen sei. Und in der Halle für nachwachsende Rohstoffe versichert sie: "Uns ist wichtig, dass die nachwachsenden Rohstoffe einen bedeutenden Platz bekommen." Nein, eine Schonzeit hat die neue Landwirtschaftsministerinnicht mehr nötig.

Aigners Entwicklung dürfte manchen überrascht haben. Auf den ersten Blick wirkt sie nämlich weich, zu weich für das Amt und den Umgang mit Deutschlands nicht immer ganz einfachen Bauern. Sie lächelt viel. Doch sobald Aigner zu reden beginnt, mit ihrer tiefen Stimme im oberbayerischen Tonfall, ist alles Weiche, Nachgiebige verschwunden. So sprechen Menschen, die sich ihrer Sache sicher sind und keine Auseinandersetzung scheuen. Fast herb wirkt sie - wäre da nicht immer wieder das herzliche Lachen. "Sie ist Profipolitikerin", sagt Sonnleitner. "Auf eine sehr charmante Art weiß sie sich durchzusetzen."

Dabei verliefen die ersten Wochen durchaus holprig. Es war kein leichtes Erbe, das Aigner am 31. Oktober antrat. Modisch gekleidet, im grauen Jacket mit grüner Halskette erschien sie zu ihrer ersten Pressekonferenz. An ihrer Seite Amtsvorgänger Horst Seehofer, der neue CSU-Chef. Er ein Politschwergewicht mit Charisma, sie dagegen eine eher zurückhaltende hübsche Frau, die bis dahin kaum einer kannte. "Die Fußstapfen, in die ich trete, sind riesig", sagte sie zu den Journalisten. "Größe 46", wandte Seehofer von der Seite ein. Aigner lachte, fuhr dann aber fort: "Ich habe großen Respekt vor dem Amt." Nicht ganz zu unrecht, wie sie gleich darauf erfahren sollte.

Ein Pressevertreter wollte wissen, ob Aigner für hohe Preise im Sinne der Landwirte sei oder für niedrige Preise im Sinne der Verbraucher. Ihre Antwort kam schnell, etwas zu schnell. "Ich sehe keinen Widerspruch zwischen Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Der Verbraucher hat ein Interesse daran, dass die Landwirtschaft funktioniert und dass die Landwirte faire Preise bekommen." Es wirkte, wie als hätte man ihr das kurz vorher noch zugeflüstert. Bei der Nachfrage geriet Aigner prompt ins Stocken. Wie es denn mit armen, kinderreichen Familien sei, wollte ein anderer wissen. Ob denen wohl auch wichtig sei, dass die Bauern gut bezahlt werden? Aigner blickte zu Seehofer. Doch der zuckte nur die Schultern: "Ich wurde nicht gefragt." Also musste sie selbst ran - und schwurbelte etwas davon, dass die Menschen bereit seien für gute Lebensmittel zu bezahlen. Zum Glück hakte keiner nach. Vielleicht wurde ihr in dem Moment erstmals bewusst, wie schwierig die Aufgabe wird, die auf sie zukommt.

Als Ministerin muss Aigner sich für die Landwirte, die Ernährungsindustrie und die Verbraucher zugleich einsetzen, obwohl deren Interessen oft gegenläufig sind. Ihr Vorgänger löste das Problem, indem er viel versprach und wenig hielt. Aber ob ihr das als Vorbild dienen sollte?

Sechs Tage später. Ein kühler Herbstmorgen wie aus dem Bilderbuch, strahlendblauer Himmel. Aigner ist nach Bad Tölz gekommen,wie jedes Jahr, zur Leonhardi-Fahrt, bei der traditionell gekleidete Wallfahrer auf geschmückten Pferdewagen durch den Ort fahren, um sich anschließend zum Gottesdienst unter freiem Himmel auf dem Kalvarienberg zu versammeln. Es ist Aigners Wahlkreis. Für sie war selbstverständlich, dass sie auch dieses Mal anreist. Doch Aigner ist eben nicht mehr eine normale Abgeordnete, sie ist Bundesministerin. Der Milchstreit kocht gerade wieder hoch. Nur einen Tag sp ter soll im Bundesrat die entscheidende Sitzung dazu stattfinden. Für Bayern und die Milchbauern, die zu den CSU-Stammwählern zählen, zeichnet sich eine Niederlage ab. Und doch - an diesem kritischen Tag ist die neue Landwirtschaftsministerin nicht in Berlin, sondern steht im Dirndl in Bad Tölz. Vor der Kapelle. Bei gleißendem Sonnenschein. Sie möge die Gabe haben, Ketten zu lösen, wünscht der Pfarrer ihr in seiner Predigt. "Die Bauern leiden darunter, dass die Preise sinken. Die Verbraucher aber freut das. Wie wird die Ministerin diesen Konflikt lösen?" Eine Antwort liefert er nicht.

Der Ausflug nach Bad Tölz hat bei so manchem in Berlin ein Kopfschütteln provoziert. Seehofer hätte so etwa nie gemacht. Der hätte den ganzen Tag am Telefon gehangen, um die Länder doch noch zum Einlenken zu bewegen. Auch die Gelegenheit, am nächsten Tag im Bundesrat zu reden und sich für die Milchbauern einzusetzen, ließ Aigner aus. Stattdessen verhandelte sie mit europäischen Amtskollegen und mit dem Einzelhandel. War sie feige? Vielleicht. Vielleicht war sie aber auch klug. Es wäre ihre erste große Niederlage gewesen, nach gerade mal einer Woche im Amt. Wer so beginnt, hat schon verloren.

Sie sei "nicht hierarchisch", hatte Seehofer über sie gesagt. Und genau das dürfte der Grund gewesen sein, warum Aigner unbedingt nach Bad Tölz hatte reisen wollen. Eben weil sie erst wenige Tage Ministerin war, wollte sie den Menschen in ihrer Heimat zeigen: Schaut her, ich bin noch die gleiche. Mir ist das nicht zu Kopf gestiegen. Das war ihr wichtig. Dass das nicht jeder versteht, damit kann sie leben. An einem mangelt es ihr sicher nicht: Selbstvertrauen.

Aigner war bei der CSU schon länger für höhere Aufgaben gehandelt worden. Mit 18 war sie in die Junge Union eingetreten, mit 21 in die CSU. Sie saß im Gemeinderat, im Kreistag, im bayerischen Landtag und schließlich seit gut zehn Jahren im Bundestag. Ob sie sich als Frau, noch dazu als unverheiratete, in ihrer Partei immer gut aufgehoben fühlte? "Ja", sagt sie, ohne zu zögern. "Ich habe mich in der CSU nie als Exotin gefühlt." Vielleicht, räumt sie ein, liege das aber auch daran, dass sie als gelernte Radio- und Fernsehtechnikerin gewohnt war, viel mit Männern zusammenzuarbeiten.

Ihren ersten großen Auftritt auf internationaler Bühne hatte sie Ende November in Brüssel. Zwar konnte Aigner dort nicht verhindern, dass bald noch mehr Milch produziert werden darf, doch immerhin setzte sie einen Fonds durch, der den Landwirten Erleichterung bringen soll. "Mehr war nicht drin", sagte sie im Anschluss. Die Milchbauern reagierten enttäuscht. Bei den meisten Gesprächspartnern aber hinterließ die Ministerin einen starken Eindruck. "Sie war bestens informiert und hat hart, aber fair verhandelt", sagt ein EU-Vertreter, der sie in Brüssel erlebt hat.

Danach wurde es wieder ein paar Wochen ruhig um sie. Die größte Aufmerksamkeit erlangte sie noch damit, dass sie in der Vorweihnachtszeit die Kerzen auf dem Adventskranz brennen ließ und so das Büro im Ministerium verwüstete. Der Vorfall ist ihr unsagbar peinlich. Aber immerhin: Sie machte ihn öffentlich, um auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Schließlich ist Aigner auch Ministerin für Verbraucherschutz. Ein Thema, das unter ihrem Vorgänger ein wenig in den Hintergrund geraten ist. Sie will es wieder stärker besetzen, und die Finanzkrise dürfte ihr noch viele Gelegenheiten dazu geben. "Ich habe den Eindruck, dass Frau Aigner dem Verbraucherschutz einen großen Stellenwert einräumt und ernsthaft gewillt ist, sich des Themas anzunehmen", sagt Gerd Billen, Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen. Den guten Willen stellen alle bei ihr fest, genauso, wie alle sie sympathisch finden. Doch das reicht nicht aus, um sich als Politikerin zu profilieren. Und Aigner ist zu klug und zu lange im Geschäft, um das nicht zu wissen.

Auf der Grünen Woche zieht der Tross weiter zum Stand der Schweden. Ein Herr reicht Aigner, Sonnleitner und Wowereit ein Gläschen "Elkschnaps", sie nippen kurz. Die Fotografen reißen die Kameras hoch. Auch einer der Besucher versucht, ein Foto zu schießen. Ob er denn wisse, wer das ist? "Na, der Wowi", sagt er verblüfft. Und die Frau daneben? "Ne, tut mir leid, da muss ick passen", berlinert er. "Die kenn- ick nich."

"Natürlich habe ich mich gefragt: Kannst du das? Schaffst du das?", antwortete Aigner einmal auf die Frage, ob sie sich das Ministeramt auf Anhieb zugetraut habe. "Aber ich habe ein großes Gottvertrauen. Es ist bisher immer gut gelaufen, und ich hoffe, dass es auch künftig gut läuft." Und da ist es wieder, das Lachen.

"Einem Mann geht immer

das Herz auf, wenn er

eine Frau im Dirndl sieht."

Gerd Sonnleitner, Bauernpräsident

Schaulaufen auf der Grünen Woche in Berlin, da wird auch der Hopfen nicht geschont: Ilse Aigner am Freitag mit Bauernpräsident Gerd Sonnleitner (rechts) und dem bayrischen Landwirtschaftsminister Helmut Brunner. Foto: dpa

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Warten auf die "Hinrichtung"

In einem Camp im Kelsterbacher Wald haben sich die Gegner einer neuen Landebahn für Frankfurts Flughafen eingenistet - wohl vergeblich

Von Harald Schwarz

Frankfurt - Winfried Heuser ist ein rüstiger Rentner. Entschlossen marschiert er in den Kelsterbacher Wald im Südwesten von Frankfurt, unter dem gelben Transparent hindurch, auf dem in schwarzer Schrift "Mehr Flughafen = mehr Risiko" steht. Es ist extrem kalt; bei jedem Schritt knirscht der Schnee unter seinen Füßen. Doch dem 72 Jahre alten früheren Versicherungskaufmann scheint das nichts auszumachen. Schließlich geht es ja auch um die Rettung des Waldes. Dies hier, sagt er und blickt um sich, sei "ein Naturschutzgebiet von höchstem Rang in Europa". Doch es sieht nicht gut aus um den Fortbestand. Just entlang des Weges, über den Heuser jetzt geht, sollen nach dem Willen des Frankfurter Flughafenbetreibers Fraport schon in wenigen Tagen die Rodungsarbeiten für das neueste Projekt beginnen: den Bau einer vierten Rollbahn.

Etwa 2800 Meter lang soll die Nordwest-Landebahn werden, allein eine Milliarde Euro sind dafür veranschlagt. Geplant sind auch ein weiterer Terminal im Süden des Flughafens und die Sanierung der alten Anlagen. Mit einem Investitionsvolumen von insgesamt sieben Milliarden Euro ist es eines der größten Infrastrukturprojekte in Deutschland. Seit Jahren machen Anrainer und Umweltschützer gegen die neue Piste mobil, sie kämpfen auch für ein Nachtflugverbot. Winfried Heuser ist Sprecher eines 60 Gruppen umfassenden Bündnisses der Bürgerinitiativen. Und vor einigen Monaten haben Aktivisten hier im Kelsterbacher Wald ein Camp errichtet - eine Blockade gegen die geplante Landebahn.

Das weckt Erinnerungen an ein anderes Großprojekt: Den Bau der Startbahn West, der Ende der 70er und in den 80er Jahren das Rhein-Main-Gebiet in bürgerkriegsähnliche Zustände tauchte. Startbahn-Gegner und Polizei lieferten sich erbitterte Kämpfe, Innenstädte mussten tagelang gesperrt werden. Auch damals entstand auf der geplanten Trasse ein Dorf mit 70 Hütten, in dem Aktivisten monatelang ausharrten. Viele Menschen kamen, um sich das anzuschauen. Am 2. November 1981 räumte die Polizei das Dorf. Kurz danach protestierten in Wiesbaden am Sitz der Landesregierung 120 000 Bürger gegen die Startbahn. Vergeblich: 1984 ging die Piste in Betrieb. Der Widerstand aber blieb. Er brach erst zusammen, als eine Demonstration 1987 mit dem Tod von zwei Polizisten endete. Sie wurden erschossen.

Weiße Kreuze

Heuser erinnert sich genau an diese Zeit. Auch er ging mit Frau und Kindern auf die Straße. "Aber ich war nicht an vorderster Front", sagt er. Er geht an Bäumen vorbei, die mit weißen Kreuzen markiert sind, todgeweihte Bäume. Ihre Abholzung droht. Dann, mitten im Wald, steht das Camp der Landebahn-Gegner - mit Holzhäusern, Zelten, Wohnwagen und Baumhäusern. Es sieht aus wie ein kleines Indianerdorf. 30 Leute leben hier. Einige seien "Stammpersonal", sagt Sascha Friebe. Er, 52 Jahre alt, gehört zum Stamm. "Besser kalt im Wald als kalt im Herzen" und "Nur mit brutaler Staatsgewalt kriegt ihr unseren Wald", steht auf Plakaten. "Die Spannung steigt täglich", sagt Friebe. Der Mann mit dem dunklen Haar und den grauen Schläfen erwartet die Rodung unmittelbar nach der Landtagswahl in Hessen an diesem Sonntag.

Dass viele neue Arbeitsplätze entstehen, wie der Konzern und die Politiker behaupten, glaubt Friebe nicht. Der Konzern werde rationalisieren, sagt er. Der Aktivist, der schon gegen die Startbahn West demonstrierte, zieht einen Zettel aus dem Papierstapel neben sich - "ein internes Fraport-Papier". Daraus geht hervor: Die Rodung soll spätestens am 4. Februar starten und am 16. März enden, wenn die Vegetationsperiode beginnt. Friebe sagt: "Wir müssen es mit dem Camp über den Sommer schaffen und mehr Leute mobilisieren. Sonst haben wir verloren." Wenn die ersten Bäume fallen, werde der Widerstand Zulauf bekommen, hofft der Mann im dunkelgrünen Hemd. Geht es nach ihm, wird es keine Gewalt geben. Aber Widerstand, der müsse schon sein. Die Polizei sagt, sie glaube den Leuten im Wald. Man sei "entspannt", meint der Leiter der Pressestelle des Polizeipräsidiums Frankfurt, Jürgen Linker. Er, 54 Jahre alt, war einst als Polizist an der Startbahn West.

Vieles hat sich geändert seit den Kämpfen an der Startbahn West. Friebe sagt: "Der Zeitgeist ist anders. Damals gab es die Nachwehen der 68er-Bewegung." Ziviler Ungehorsam sei angesagt gewesen. Die Flughafengesellschaft Fraport habe die Zeit seither geschickt genutzt, bei Job-Bewerbungen seien Leute aus der Region bevorzugt worden. Fraport pflege ein "breites Sponsoring", Heuser nennt es "Bestechung". Mit Spenden und Aktionen werden Kindergärten und Schulen unterstützt, auch viele Sportvereine. Und Fraport ist Sponsor des Profifußballklubs Eintracht Frankfurt. Das alles dient der Klimapflege.

Am Donnerstag wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Eilanträge von Anwohnern und Kommunen gegen den Bau der Landebahn zurück. Nun hoffen die Ausbau-Gegner auf die Stadt Mainz. Sie bereitet eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht vor. Die Stadtverwaltung will die Ablehnung von Befangenheitsanträgen gegen Richter des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs kippen. Ihr Vorwurf: Die Richter hätten sich mit Fraport abgesprochen.

Den Wald wird das nicht mehr retten. 80 Grundstücke, die der Stadt Kelsterbach gehörten, sind enteignet worden. Sie gehören nun dem Konzern. "Mit voller Kraft" will Stefan Schulte, Vize-Chef von Fraport, den Bau beginnen. "Bedeutsame Ausbauvoraussetzungen" seien geschaffen worden, das Gelände wird nun eingezäunt. Es gebe eine "Ersatzaufforstung", sagt der Manager. 40 000 Bäume und Sträucher seien schon gepflanzt worden. Für Heuser ist das kein Trost, kein Ersatz für den Wald und die Wildschweine, die diese Woche in ihrem Gehege geschossen wurden.

"Warum muss sich Wachstum immer in Ballungsgebieten vollziehen?", fragt Heuser, als er das Camp verlässt. Hoffnung, die "Hinrichtung" der Bäume abwenden zu können, hat er kaum noch. Im Landeanflug donnert ein Jet vorbei. "Da fallen einem die Ohren ab", schimpft er. Statt Wald werde es hier bald noch mehr Lärm geben. 2011 soll auf der Nordwest-Bahn der erste Jet landen. An diesem Samstag will Heuser mit anderen Gegnern der Piste am Flughafen demonstrieren - einfach aufgeben will er nicht.

Sascha Friebe gehört zu den Aktivisten, die gegen die Rodung im Kelsterbacher Wald kämpfen. "Stammpersonal" nennen sie sich. Foto: ddp

Flughafenausbau in Frankfurt/Main SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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EU will Erbrecht vereinheitlichen

Prag - Die EU-Justizminister haben erstmals über gemeinsame europäische Regeln für Testamente und Erbschaften beraten. Betroffen sind nicht nur Paare und Familien aus zwei Nationen, sondern etwa auch ein deutsches Rentnerpaar, das ein Haus auf Mallorca gekauft hat. "Stirbt einer der beiden, wird das Haus nach spanischem Recht vererbt, die anderen Besitztümer in Deutschland aber nach deutschem Recht", sagte Justizministerin Brigitte Zypries. Die Justizminister wollen festlegen, welches Gericht in so einem Fall zuständig ist. Die Kommission plant im März einen konkreten Vorschlag vorzulegen. Laut Angaben der Brüsseler Behörde haben bereits jetzt zehn Prozent aller jährlichen Erbschaftsfälle in Europa - das sind 450 000 - eine grenzüberschreitende Dimension. Zuletzt seien dabei 120 Milliarden Euro vererbt worden. Über eineinhalb Millionen Europäer leben nicht in dem Land, in dem sie geboren wurden. Auch die Zahl derjenigen steigt, die einen Partner aus einem anderen EU-Staat heiraten. Schritt für Schritt wollen die EU-Justizminister das Leben dieser "internationalen" Paare und Familien erleichtern und sie aus dem Gestrüpp der unterschiedlichen nationalen Vorschriften befreien.

Im EU-Zivilrecht, geht es nicht darum, dass 27 Länder denselben inhaltlichen Vorschriften folgen. Stattdessen sollen Prozeduren festgelegt werden, welches nationale Recht und Gericht in multinationalen Fällen maßgeblich ist. Solche Regeln gibt es beim Sorge-und Unterhaltsrecht. Manchmal jedoch sind die nationalen Traditionen zu stark. So konnten sich die Justizminister 2008 nicht auf Leitlinien für Ehescheidungen einigen. Schweden ist noch immer strikt dagegen, dass seine Bürger eventuell nach einem anderen als dem liberalen schwedischen Recht geschieden würde. Ob EU-Staaten deshalb zum erstenmal eine "verstärkte Zusammenarbeit" wagen, ist nach der Sitzung in Prag noch unklar. Zehn Staaten wollen trotz des schwedischen Vetos vorangehen, zwei mehr als notwendig wären. Doch elf weitere Länder äußerten Bedenken gegen dieses Europa der "zwei Geschwindigkeiten". Justizministerin Zypries meinte: "Mehr als die Hälfte der Staaten sollten es schon sein". EU-Kommissar Jacques Barrot erklärte, er habe sich noch nicht auf einen Vorschlag für eine verstärkte Zusammenarbeit festgelegt. Cornelia Bolesch

Justizwesen in der EU Erbrecht SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nonsens der Spitzenklasse

Die herrlich absurden Geschichten über Winnie-the-Pooh, den berühmten Bären von geringem Verstand, werden endlich fortgesetzt

Von Birgit Weidinger

Persönlichkeiten wie er können nicht in die Jahre kommen - sie sind immer da, heute, gestern und übermorgen. Deshalb ist keine Überraschung, was nun gemeldet wird: Die berühmten Pu-Geschichten des englischen Journalisten und Redakteurs A. A. Milne werden fortgesetzt.

Autor ist der gebürtige Londoner David Benedictus, Jahrgang 1938. Er hat in Eton, Oxford und an der State University von Iowa studiert, hat in verschiedenen Funktionen für den Rundfunk gearbeitet, zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht und an Schauspielschulen unterrichtet. Der Vater von vier Töchtern ist mit dem Pu-Thema sehr vertraut, weil er einschlägige CDs und Hörkassetten bearbeitet hat; er versichert, wie stolz ihn die Aufgabe gemacht habe, den Faden von Milnes Erzählungen weiterzuspinnen. Harry Rowohlt, dessen erfolgreiche Bärenübersetzung ins Deutsche alle Fans kennen und lieben, hat auch die Benedictus-Stories übertragen - und findet sie "ganz organisch anmutend". Im Herbst soll die deutsche Fassung bei Dressler erscheinen, gleichzeitig kommt in England und in den USA die englische Version heraus.

Die erste öffentliche Nachricht über den "Bären mit dem geringen Verstand" erschien zu Weihnachten, am 24. Dezember 1925, in der englischen Zeitung Evening News. In großen Lettern zog sich die Schlagzeile über eine Seite: "Eine Geschichte für Kinder von A. A. Milne." Sie wurde exklusiv in der Zeitung gebracht und am Tag darauf im Radio gesendet.

Am 14. Oktober 1926 erschien das Buch "Winnie-the-Pooh" in London, am 21.Okober wurde es in New York veröffentlicht. Die New York Herald Tribune war begeistert: "Das ist Nonsens der Spitzenklasse, in bester Tradition". Der Illustrator Ernest H. Shepard schuf die unverwechselbaren Zeichnungen zu den Pu-Geschichten. Gleich im ersten Jahr der Veröffentlichung wurden eine Million Exemplare verkauft. Auch die weiteren Bände erreichten hohe Auflagen. 1960 kam die lateinische Fassung "Winnie ille pu" auf den Markt, 1973 die griechische Ausgabe, Übersetzungen in zahlreichen anderen Sprachen kamen dazu. In den englischen Sprachgebrauch sind einige von Pus Spielgefährten eingegangen. So wissen die Engländer, was es heißt, wenn sich jemand so benimmt wie der eingebildete Tiger oder wenn von einem ganz besonderen I-Ah-Tonfall die Rede ist.

"Meinungen und Deinungen eines Bären von geringem Verstand "schrieb Harry Rowohlt als Untertitel zur deutschen Übersetzung, er habe ihn geträumt, behauptet er. Und Autor Milne fragte sich: Wie kann man behaupten, dass man irgend etwas über jemanden weiß? Was also wiegen Pus Träume? Wieviel zählen seine Fragen? Auf dieser schwankenden Ebene balanciert ein Teil von Pus großem Erfolg: Der wunderbare Bär will sich nicht mit der Latte des IQ messen lassen und ist damit unsterblich geworden.

Eine seiner vielen Fan-Gemeinden hat sich vor einigen Jahren über einen Forschungsbericht aus Berlin amüsiert, der sich dem aktuellen Stand der sogenannten Pu-Philologie widmete und unter anderem die wichtige Frage erörterte, woher der Bestandteil Pu in des Bären Namen Winnie-der-Pu stamme; so lautet Pus vollständiger Name. Vater Milne schenkte Sohn Christopher, der im Buch als Christopher Robin eine Hauptrolle spielt, zum Geburtstag einen Bären. der hieß zunächst Eduard Bär. Der Namensteil Winnie, das weiß man, geht auf Christophers geliebten Eisbären im Zoo zurück. Und was ist mit "Pu"? Als der Bär einmal mittels eines raffinierten und erfolglosen Manövers den Bienen ein wenig Honig abluchsen wollte, brauchte er seine Puste zur Abwehr einer Fliege, die sich auf seine Nase gesetzt hatte. Seine Hände und Arme waren nämlich damit beschäftigt, einen Luftballon zu halten. Also blies er: Pu, pu, pu.

Das Kind Christopher zieht seinen Bären immer hinter sich her, wenn es die Treppen hinuntergeht, dabei schlägt Pu mit dem Hinterkopf auf - rumpeldipumpel. Milne beobachtete solche Abgänge genau. Der studierte Mathematiker legte sich auf die Lauer, wenn sein Sohn mit seinen Tieren fantastische Abenteuer erlebt: Wer, bitte, hat schon mal einen Heffalump getroffen oder wer könnte die wahrhaftige Geschichte über den Verlust eines Eselschwanzes berichten? Auf "Pu der Bär" folgte zwei Jahre später "Pu baut ein Haus". Pu macht den Autor Milne reich und berühmt, doch er lässt ihn auch nicht mehr los: Die Werke für Erwachsene, die er schreibt, werden an den Bärengeschichten gemessen - und verrissen. Die Biographin Anne Thwaite hat das in Milnes Lebensbeschreibung einfühlsam geschildert. Dem Sohn geht es ähnlich: Schon als Jugendlicher hasst er es, dauernd nach seinen Kuscheltieren gefragt zu werden. Er zieht sich als Buchhändler nach Devon zurück, schreibt eine bittere Autobiographie: "Ich hatte das Gefühl, dass mein Vater dahin gekommen war, wo er war, indem er auf meine kindlichen Schultern kletterte, dass er mir meinen guten Namen gestohlen hatte und mich mit nichts als dem leeren Ruhm, sein Sohn zu sein, zurückließ."

Pus Erfolg wird dadurch nicht beeinträchtigt: Als Milne 1956 stirbt, haben seine Kinderbücher eine Auflage von sieben Millionen erreicht. In den 60er Jahren machen die Disney-Studios den Bären zum Trickfilmstar. Mittlerweile gibt es alle möglichen Poohphernalia, wie der Pu-Gedenk-Kitsch genannt wird.

Der Bär selbst und vier seiner Spiel- und Kampfgefährten sind in der New Yorker History and Social Science Library wie echte VIPs zu besichtigen: das ängstliche Ferkel, der melancholische Esel, das alerte Känguru Kanga mit dem kleinen Ru und der vorlaute Tiger.

Ob der berühmte Pu nun nochmal einen Karriereschub macht? Harry Rowohlt hat die Benedictus-Story gutgeheißen, und das heißt schon etwas. "Man könnte sagen, Christopher Robins Geist sei über Benedictus gekommen", meint er einem Interview.

Und wie findet Pu die Sache? Typisch: Er antwortet mit einem Lied. "Fragen, Fragen, immer nur Fragen. Ein Fisch kann nicht pfeifen, und ich kann nicht klagen. Gib mir ein Rätsel auf, ich werde sagen: Du must jemand anders fragen."

Pu auf einer Original-Zeichnung von E. H. Shepard (links): Mehr als 80 Jahre nach der ersten Geschichte von Autor A. A. Milne (rechts mit seinem Sohn Christopher Robin) erscheint bald eine Fortsetzung. Fotos: rtr, dpa

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Die Bundesregierung als Banker: Es gibt wenige Gewinner und viele Verlierer

Eins, zwei, drei - meins

Der Staat übernimmt Deutschlands Finanzinstitute: Erst Commerzbank, dann Hypo Real Estate, wer ist der nächste?

Von Thomas Fromm

München - Als Commerzbank-Chef Martin Blessing am Donnerstagabend beim Neujahrsempfang der amerikanischen Handelskammer in Stuttgart auftrat, waren die Bankentürme Frankfurts weit weg. Und doch holte ihn alles wieder ein. Die turbulenten vergangenen Wochen, der Streit um die Teilverstaatlichung der Bank und die Frage nach dem hohen Preis, den Blessing in den nächsten Jahren für die Hilfen des Staates zahlen muss. Bei 18 Milliarden Euro Staatshilfe, die mit neun Prozent verzinst werden, käme auf Blessing rein rechnerisch eine jährliche Zinsbelastung von 1,5 Milliarden Euro zu. Eine schwere Hypothek, wenn man bedenkt, dass dies fast so viel ist wie das beste Nettoergebnis der Bank von 2007 - es lag damals bei 1,9 Milliarden Euro. Dazu die Integration der Dresdner Bank. Gewinne werden in den nächsten Jahren wenn überhaupt wohl äußerst bescheiden ausfallen. Alles nicht einfach. "Aber", so Blessing in diesen Tagen, "wir kriegen das hin." Blessing vielleicht. Aber kriegt es auch der Staat hin?

Ein notwendiges Experiment

Was geschieht, ist ein Experiment. Ein notwendiges zwar. Experimente können funktionieren. Sie können aber auch schief gehen. Zum Beispiel bei der Hypo Real Estate (HRE). Die Bank, die im vergangenen Herbst mit einem Notprogramm von 50 Milliarden Euro gerettet werden musste, stellt das dar, was Branchenexperten ein "systemisches Risiko" nennen. Das heißt: Der Immobilienfinanzierer, der vor allem wegen seiner irischen Staatsfinanzierungs- und Pfandbrieftochter Depfa in Schieflage geraten ist, darf nicht sterben, um einen Zusammenbruch des Sektors zu vermeiden. Als einer der wichtigsten Finanzdienstleister für die öffentliche Hand weltweit operiert die Depfa unter anderem in den USA, Asien und Europa. Ihr Problem: Die langfristigen Kredite, die sie ihren staatlichen Kunden gab, hatte sie nur kurzfristig gegenfinanziert. Ein Modell, das im Zuge der Finanzkrise zusammenbrach. Nun sitzt die Depfa auf langlaufenden Krediten über 20 bis 30 Jahre. Für jeden Käufer eine schwere Hypothek. "Die Depfa ist der Mühlstein am Hals der HRE", räumt ein Manager des Konzerns ein. Wer die Bank kaufe, kaufe auch ihre " Bilanzstruktur mit".

Die Regierung muss also vor allem entscheiden, wie sie das Depfa-Dilemma kurzfristig lösen will. Denn selbst nach einer erfolgreichen Sanierung der HRE als Immobilienfinanzierer mit dem Abbau von 1000 von 1800 Stellen ist noch längst nicht klar, wie es mit der Depfa weitergehen soll. Was in Berliner Kreisen für wenig Enthusiasmus sorgen soll: Bei einer mehrheitlichen Übernahme der HRE würde sich die Regierung über die Depfa zu einem international agierenden Staatsfinanzierer aufschwingen. "Da geht es jetzt um industriepolitisch sensible Themen", heißt es aus Finanzkreisen. Die Depfa mit ihrem Staatskreditgeschäft könnte zwar zuvor aus dem Konzern herausgelöst werden. Allerdings gilt die Bank, die erst im Oktober 2007 für sechs Milliarden Euro gekauft wurde, als unverkäuflich. Eine sogenannte "bad bank", in die Banken ihre besonders kritischen Geschäfte auslagern, könnte sich als einzige Lösung erweisen.

Die Lage ist kompliziert, der Staat womöglich überfordert. "Ich sehe eine sehr lange Durststrecke für die Banken", sagt der Finanzprofessor und Bankenexperte Klaus Fischer von der Fachhochschule München. Dies werde der Staat leidlich zu spüren bekommen. Außerdem gelte nach wie vor: Staatsunternehmen seien langfristig "unbeweglich und unflexibel" - daher sei es wichtig, dass sich der Staat so schnell wie möglich wieder aus seinen Beteiligungen zurückziehe. Dies aber wiederum sei auf absehbare Zeit nicht möglich. Fazit: Wo sich der Staat heute zum Großaktionär aufschwinge, werde er sich wohl oder übel längerfristig binden müssen.

Mit dem Einstieg des Staates sind Tabus gebrochen worden und die neue Rolle des Staates könnte Schule machen. Nicht ganz zu Unrecht befürchtet die Konkurrenz, von halbstaatlichen Banken gegen die Wand gedrückt zu werden. Uwe Fröhlich, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, sprach daher von einem "gravierenden Fehler", wenn bei der Commerzbank nun auf Anweisung des Staates der Ausbau des klassischen Mittelstandsgeschäfts finanziert würde. Damit würde man im Wettbewerb zusätzlich belastet, warnte Fröhlich. Auch die Landesbanken befürchten, durch die gegenwärtige Politik der Bundesregierung Wettbewerbsverzerrungen. So fordert Sparkassen-Präsident Heinrich Haasis gleiche Behandlung für alle: Der Staat könnte öffentlich-rechtliche Banken und ihre Träger nicht schlechter behandeln als private, sagte er. Klar ist: Nach der Commerzbank und möglicherweise der Hypo Real Estate könnte der Staat schon bald auch vor den Türen der Landesbanken stehen. So werden immer mehr Institute um Geldspritzen bitten. "Ich glaube, dass es noch Monate so weitergehen könnte", befürchtet Bankenexperte Hans-Peter Burghof von der Universität Hohenheim. Eine Finanzkrise mit offenem Ausgang. "Wir wissen nicht, was noch vor uns liegt", sagte Commerzbank-Chef Blessing am Donnerstag in Stuttgart. Genau das ist das Problem - auch für den Staat.

Der Bundesadler greift in Frankfurt nach Commerzbank und Dresdner Bank. Collage: Michael Mainka, Foto: AP

Verstaatlichung in Deutschland Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gepfefferte Renditen

Aktien, Investmentfonds oder Spareinlagen - wer Geld anlegen will, der hat eine große Auswahl an Produkten. Doch wer hat's eigentlich erfunden?

Von Grit Beecken

Lange Jahre drehte sich alles um den Pfeffer. Der wurde aus Indonesien nach Europa verschifft und lieferte darüber den Grund für die erste Volksaktie der Welt: 1606 gab die Händlergemeinschaft "Vereenigde Oostz-Indische Compagnie" (VOC) Anteilsscheine aus und sammelte im Gegenzug Kapital ein. Auf diese Weise kam der Zusammenschluss niederländischer Kaufleute, die gemeinsam rund 70 Schiffe pro Jahr nach Asien und Übersee schickten, zu frischem Kapital. Die Niederländer griffen beherzt zu: Erstmals konnten sich Menschen nur mit ihrem Geld, aber ohne eigene Arbeit an einem Geschäft beteiligen.

Denn bis zum Spätmittelalter hatte man sein Vermögen nicht durch Geldanlagen vermehrt, sondern indem man Handel trieb. Rohstoffe, Gewürze, Lebensmittel und Stoffe wurden damals Tausende Kilometer weit durch Länder und über Meere transportiert. Anfang des 15. Jahrhunderts entstanden die ersten Banken, bei denen Großkaufleute ihr Geld anlegen und vermehren konnten. Und erst nach und nach entwickelten Unternehmen und Investoren die Anlageklassen, die wir heute kennen.

Aktien: Gemeinsam sind wir stark

Was in Deutschland mit der magenta-roten Telekomaktie vor einigen Jahren wenig siegreich daher kam, war im 17. Jahrhundert ein ungeheurer Erfolg: Zeitweise zahlte die niederländische VOC Dividenden in Höhe von75 Prozent der Einlage. In den ersten 80 Jahren warf das Papier eine Dividendenrendite von 19 Prozent ab - denn Kriege und gesunkene Schiffe sorgten auch für ertragslose Jahre. In den Anfangsjahren gab es manchmal auch Naturalien als Dividende: zum Beispiel Pfeffer. Auch die Kursentwicklung lief prächtig: Wer die Aktie im Jahr 1606 erwarb, der verbuchte schon wenige Tage später einen Kursgewinn von 116 Prozent. Jahrzehnte später war die Aktie das Fünffache wert.

Die VOC wirtschaftete lange Jahre erfolgreich, bis sich in der Führung Misswirtschaft und Korruption mehrten. Im Jahr 1800 war die Gesellschaft bankrott und wurde aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt gab es aber bereits Alternativen: "Die Ausgabe von Aktien gehörte seit dem 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Finanzierungsquellen großer Unternehmen - auch in Deutschland", sagt Werner Abelshauser, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld. Hierzulande sei die private Nachfrage nach Aktien zunächst allerdings gering gewesen - obwohl es weder an Kapital noch an Projekten mangelte. "Die Gründung von Universalbanken sollte dies kompensieren", erläutert der Historiker. "Sie übernahmen anstelle risikoaverser Wirtschaftsbürger die Finanzierung der Industrie."

Die erste deutsche Aktiengesellschaft wurde 1682 gegründet: Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm rief die "Handels-Compagnie auf denen Küsten von Guinea" ins Leben. 1850 existierten in Preußen bereits 130 Aktiengesellschaften, 1900 waren es schon mehr als 4500. Die Aktiengesellschaft hatte sich als Rechtsform endgültig durchgesetzt, wurde anerkannt und diente nun auch zur Finanzierung kleinerer Unternehmen.

Doch schon damals bereiteten Spekulanten den Behörden Sorgen: Zweimal, 1897 und 1908, wurde das "Aktiengesetz des Norddeutschen Bundes" geändert - um den mit Börsentermingeschäften verbundenen Gefahren entgegenzuwirken.

Investmentfonds:

Schottisches Kapital

Das Grundprinzip des Investmentfonds entstammt dem Land, in dem gerüchtehalber die wirklich sparsamen Menschen wohnen. Im 19. Jahrhundert wollten auch schottische Anleger vom amerikanischen Wirtschaftsaufschwung profitieren. Da es jedoch für den Einzelnen nahezu unmöglich war, die Zahlungsfähigkeit der Schuldner in Übersee zu beurteilen, legten die Schotten ihr Geld zusammen und besorgten sich einen Treuhänder in Amerika, der ihr Kapital direkt anlege und dabei das Risiko über verschiedene Anleihen streute. So erzählt der Bundesverband Investment und Asset Management die Geschichte der Fonds.

Denn während die Zinsen auf der britischen Insel niedrig und die Kapitalstöcke hoch waren, benötigten die USA damals dringend Geld. Nach dem Bürgerkrieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten große Flächen des Landes wieder aufgebaut werden. Zudem wollte man weite Teile des Landes durch Eisenbahnen und andere Infrastrukturmaßnahmen miteinander verbinden. In Amerika, bis vor kurzem noch das große Vorbild in Sachen Investments, setzte sich der Fondsgedanke erst Ende des 19. Jahrhunderts durch. In Deutschland wurde die erste Kapitalanlagegesellschaft 1949 gegründet. Aber erst in den 1990er Jahren wagten sich große Teile der deutschen Privatanleger in diese Investmentklasse.

Anleihen: Mittel zum Defizit

Städte und Kommunen brauchten schon immer viel Geld. Und wenn die Steuereinnahmen den Kapitalbedarf nicht decken konnten, dann mussten Schulden gemacht werden. Italienische Städte finanzierten ihren Kapitalbedarf bereits im Spätmittelalter durch die Ausgabe von Anleihen. Wer ein solches Papier erwarb, erhielt im Gegenzug einen urkundlich verbrieften Zins. Später übernahmen dann auch Staaten dieses Instrument, um ihre Haushaltsdefizite zu decken - insbesondere in Kriegszeiten.

Über die Jahrhunderte hinweg hatten Anleihen jedoch immer wieder große Vertrauensprobleme. Die Ausgaben für den Ersten Weltkrieg beispielsweise finanzierte das Deutsche Reich zu 60 Prozent mit Kriegsanleihen. Als Deutschland den Krieg aber verlor, stand es vor einem gigantischen Schuldenberg - zu dem sich noch eine galoppierende Geldentwertung gesellte. Festverzinsliche Wertpapiere wurden so in kurzer Zeit wertlos.

Um die Zahlungsfähigkeit einzelner Anleihenschuldner transparent zu machen, wird inzwischen die Kreditwürdigkeit des Ausgebers geprüft und veröffentlicht. Deutsche Staatsanleihen erreichen dabei bislang Spitzenwerte, auch die großen Konzerne werden in der Regel gut benotet. Denn inzwischen geben auch Unternehmen Anleihen. Da bei ihnen die Insolvenz jedoch wahrscheinlicher ist als bei einem Staat, zahlen sie einen höheren Zinssatz - zur Freude vieler Anleger. Gilt es doch als unwahrscheinlich, dass ein Dax-Mitglied bankrott geht.

Sparbuch: Retter in

der Not

Das Sparen ist so alt wie die Menschheit selbst: Wer bei der Herbsternte keine Samenkörner für das kommende Frühjahr aufbewahrte, hatte bald nichts mehr zu essen. Institutionalisiert wurde das Sparen aber erst, als die Nachfahren der Geldwechsler ihre Tische an Handelsplätzen aufstellten, um ihrem Geschäft auch stationär nachzugehen. 1407 wurde schließlich die Banca di San Giorgio in Genua gegründet. Zunächst konnten nur wenige Großkaufleute Geld investieren. Die Kontenführung ähnelte aber bereits der heutiger Sparbücher. Auch dort werden die Einzahlungen, Auszahlungen und die Zinsen des dazugehörigen Kontos aufgelistet.

In Deutschland ist das Sparbuch eine der beliebtesten Anlageformen. Experten erwarten für das kommende Jahr eine Sparquote von 11,3 Prozent - ein Rekordwert. Doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg war das Sparbuch sehr gefragt, weil wieder mehr Menschen einen Teil ihres Einkommens ansparen konnten. Ähnlich wie ein Sparbuch funktioniert auch das Girokonto: In den 1950er Jahren bekamen die Arbeitnehmer ihren Lohn meist noch bar ausgezahlt. Die bargeldlose Gehaltszahlung wurde erst im Jahr 1957 für breite Bevölkerungsschichten eingeführt. Ganze 351 Jahre nach der Emission der ersten Volksaktie.

Um die Zahlungsfähigkeit

der Schuldner zu

beurteilen, engagierten

Schotten einen Treuhänder.

Mit exotischen Waren verdienten Händler im 17. Jahrhundert ihr Geld - hier ein Sack mit Beeren des brasilianischen Pfefferbaums. Das ist kein richtiger Pfeffer; die Beeren sind milder. Mit echtem Pfeffer aus Indonesien handelte die "Vereenigde Oostz-Indische Compagnie" (VOC), die die erste Volksaktie der Welt ausgab. Foto: Bildmaschine

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Ich habe einen Großteil meines Vermögens in einen offenen Immobilienfonds gesteckt, der bislang mit fünf Prozent rentierte. Der Fonds wurde für drei Monate geschlossen. Soll ich meine Anteile verkaufen oder einfach abwarten? Wird der Anteilswert sinken?

Christine P., München

Im Oktober hat die Finanzmarktkrise die offenen Immobilienfonds mit voller Wucht getroffen. Investoren zogen so viel Geld ab, dass den Fonds am Ende die Liquidität fehlte. Einige mussten geschlossen werden. Viele Anleger nutzen die Anlageform, um mit Entnahmeplänen ihr Einkommen aufzubessern. Mit der Schließung wird die Zusatzrente vorübergehend ausgesetzt. Bei einer hinreichenden Streuung des Vermögens kann der Anleger das durch andere Ersparnisse ausgleichen. Besteht die Möglichkeit nicht, kann man letztendlich nur warten, bis der Fonds wieder öffnet.

Daher halte ich es auch für höchst bedenklich, einen Großteil seines Vermögens in nur eine Anlageform zu stecken. Streuung ist heute wichtiger denn je. Alleine schon aus diesem Grund empfehle ich nach Möglichkeit einen Abbau dieser übergewichteten Position. Die betroffenen Fonds bleiben zunächst bis Ende Januar geschlossen. Was dann passieren wird, hängt sehr stark von der allgemeinen Verfassung der Finanzmärkte und dem Abgabedruck der Anleger ab. Ich könnte mir vorstellen, dass die Fonds für einen weiteren Zeitraum von drei bis sechs Monaten geschlossen bleiben. Für Anleger, die sich unbedingt von ihren Anteilen trennen wollen oder müssen, besteht die Möglichkeit des Verkaufs über die Hamburger Fondsbörse mit einem Abschlag von etwa vier bis fünf Prozent.

Ob der Anteilswert nach der Öffnung sinken wird, hängt sehr stark von der konjunkturellen Entwicklung ab. Das negative wirtschaftliche Umfeld wird sich generell sicherlich in niedrigeren Renditen der Fonds ausdrücken. Das Ausmaß möglicher Abwertungen ist stark abhängig von dem jeweiligen Immobilienportfolio. Wichtige Kriterien sind die regionale Streuung, die Mieterstruktur und die Laufzeit der Mietverträge.

Rüdiger Sälzle

ist Vorstand des Fondsanalysehauses FondsConsult mit Sitz in München.

Foto: oh

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Genug Gas in den Speichern

Deutsche Firmen reagieren entspannt auf Lieferstopp

Düsseldorf - Auch nach der mehrtägigen Unterbrechung der russischen Gaslieferungen durch die Ukraine befürchtet die deutsche Gaswirtschaft vorerst keine Versorgungsengpässe. Die großen Importeure Eon Ruhrgas, Wingas und VNG haben ihre Bezüge teilweise auf Lieferung über andere Pipelineverbindungen umgestellt und zehren von den Reserven in ihren Speichern. Diese sind zwar geringer als sonst zu dieser Jahreszeit üblich, doch gilt der Zustand nicht als bedrohlich. Große Gaskonzerne helfen immer noch Unternehmen in Nachbarländern mit Sonderlieferungen über Engpässe hinweg. Auch die deutschen Stadtwerke spüren nach Angaben ihres Spitzenverbands noch keine Auswirkungen des Lieferstopps. Für das Bundeswirtschaftsministerium stellt sich die Situation der Speicher noch als "entspannt" dar.

Der größte deutsche Gasimporteur, die Eon Ruhrgas Ruhrgas sprach von einer "stabilen" Lage. Alle Kunden würden derzeit in vollem Umfang versorgt. Darüber hinaus gebe es noch ausreichende Reserven für Unterstützungslieferungen in süd- und osteuropäische Länder. Inzwischen seien solche Transporte auch nach Slowenien aufgenommen worden.

Die Leipziger VNG, der mit Abstand wichtigste Gaslieferant für die neuen Bundesländer, hat unmittelbar nach Beginn der Versorgungskrise den Erdgasbezug aus Russland auf die Jamal-Pipeline durch Weißrussland und Polen umgestellt, sagte Unternehmenssprecherin Birgit Binder. Zusätzliche Mengen würden jetzt aus Norwegen und von anderen deutschen Lieferanten bezogen. Eine wichtige Versorgungsquelle seien derzeit die vier Untergrundspeicher des Unternehmens mit einem Fassungsvermögen von etwa 2,5 Milliarden Kubikmeter. Die Kasseler Wingas, die gemeinsame Vertriebsgesellschaft der deutschen Wintershall AG und der russischen Gazprom bezieht nahezu ihr gesamtes Gas über die Jamaltrasse und muss derzeit kaum Einbußen verkraften. Das Unternehmen verfügt zudem in Niedersachsen über einen der größten unterirdischen Gasspeicher in Deutschland. Nach Unternehmensangaben ist dieser mit einem Fassungsvermögen von 4,3 Milliarden Kubikmetern zu drei Vierteln gefüllt. Wingas-Vorstand Gerhard König hat sich bereit erklärt, Unternehmen, die Kürzungen der russischen Lieferungen hinnehmen müssen, mit Gas aus den eigenen Speichern zu versorgen. Auch die Versorgung Tschechiens ist derzeit gesichert. Der Ausfall der Lieferungen über die Ukraine wird von RWE-Transgas durch Bezüge aus Norwegen ausgeglichen. RWE beliefert auch die Slowakei.

Die Stadtwerke greifen derzeit auch auf örtliche Speicher zurück, um Lieferschwankungen auszugleichen und Engpässe zu vermeiden. Einige kommunale Unternehmen planten, ihre Speicherkapazitäten deutlich zu erweitern, um unabhängiger von Vorlieferanten zu werden, sagte Joachim Reck, Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen. Hans-Willy Bein/Wieland Kramer

Eon Ruhrgas AG Wingas GmbH Verbundnetz Gas AG Gasversorgung in Deutschland Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- Pipelines SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Putin-Gemälde erzielt hohen Erlös

Moskau - Ein von Russlands Regierungschef Wladimir Putin gemaltes Bild mit einem Fenster und Eisblumen ist für 37 Millionen Rubel (860 000 Euro) versteigert worden. Das Erstlingswerk mit dem Titel "Usor" (deutsch: Muster) erzielte bei der Wohltätigkeitsveranstaltung in Putins Heimatstadt St. Petersburg den Rekordpreis unter den Gemälden von 28 Prominenten, wie die Organisatoren mitteilten. Ungeachtet der Finanzkrise und sinkenden Preisen auf dem Kunstmarkt entschied sich eine Moskauer Galeristin für den "Putin". "Wladimir Wladimirowitsch ist ein ausgezeichnetes Bild gelungen, obwohl er als Künstler gerade erst angefangen hat", lobte die St. Petersburger Gouverneurin Valentina Matwijenko. Russische Medien zeigten Fotos von Putin mit Pinsel und Farbe in der Hand vor einer Staffelei. dpa

Werk mit großem finanziellen Wert: Putins erstes Ölbild. Foto: rtr

Putin, Wladimir: Hobby SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Notstand in Kalifornien

San Francisco - Gouverneur Arnold Schwarzenegger hat am Donnerstag wegen eines Milliardenlochs im Haushalt vor einem Finanznotstand gewarnt. "Kalifornien befindet sich im Notstand", sagte der Republikaner in seiner Rede zur Lage des US-Bundesstaates. Bald könne dem Staat das Geld ausgehen. Anfang Dezember hatte er das Parlament zu einer Krisensitzung einberufen. Die Abgeordneten konnten sich bis jetzt nicht einigen, wie das Budgetdefizit von mehr als elf Milliarden Dollar ausgeglichen werden soll. Bis Juni 2010 könnte das Loch auf mehr als 40 Milliarden Dollar (etwa 30 Milliarden Euro) anwachsen. dpa

Wirtschaftsraum Kalifornien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Straflose Sünden

Prag - Deutsche Verkehrssünder bleiben bei Verstößen im EU-Ausland weiter häufig straffrei. Zwar haben 16 EU-Staaten die gemeinsamen Regeln für "Knöllchen ohne Grenzen" aus dem Jahr 2003 mittlerweile in eigenes Recht umgesetzt, wie es am Freitag beim EU-Justizministerrat in Prag hieß. Die deutsche Regierung aber werde keinen Beschluss mehr fassen, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries: "Das macht die nächste." Der EU-Rahmenbeschluss soll dafür sorgen, dass die EU-Staaten alle Geldbußen und Geldstrafen von mehr als 70 Euro für die Partnerländer eintreiben. Das funktioniert nur, wenn die Länder die gemeinsame Regel übernommen haben. Zypries machte "unheimliche Schwierigkeiten" technischer Art für die schleppende Umsetzung in Deutschland geltend. Man müsse die nötigen Computerprogramme und eine zuständige Behörde schaffen, meinte die Ministerin. dpa

Straßenverkehr in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Verfahren dauert

ewig - aber der Job ist

auf zwei Jahre befristet

Bewerber im Dauerlauf

Im Vorstellungsgespräch will jeder mitreden: der Personalchef, der Abteilungsleiter, der Projektverantwortliche. Das braucht Zeit

Tatjana Krieger

Eigentlich war es ein toller Job in der Personalentwicklung, für den Lisa Schleier sich bei einem Termin in England vorstellen sollte. Trotzdem hatte die Münchnerin, als sie eingeflogen wurde, gar keine Lust mehr auf das Bewerbungsgespräch. Es war schon das siebte bei diesem Computerhersteller.

In den vier Monaten zuvor hatte sie mit der firmeneigenen Recruiterin, einem Bereichsleiter in Irland und dem Fachvorgesetzten in den USA Telefoninterviews geführt. Sie war schon in London gewesen, um dort verschiedene Manager und Vorgesetzte in Einzelterminen zu treffen. Nun also wieder London. Der Personalchef EMEA (Europe Middle East Africa) wollte sie auch noch kennenlernen, bevor es zu einer Entscheidung kommen sollte. Jeder Bewerber wäre in einer solchen Situation genervt. Weil Schleier selbst in einer Personalabteilung arbeitete, fragte sie sich umso mehr: "Warum machen die das so? Warum organisieren sie nicht einfach ein Assessment-Center, bei dem alle anwesend sind, die die Entscheidung treffen?"

Bewerbungsprozesse können sich in die Länge ziehen. Selbst der Idealfall sieht meist drei Gesprächsrunden vor: eine mit der Personalabteilung, eine mit dem Fachvorgesetzten und eine letzte wieder mit der Personalabteilung, um die Vertragsdetails auszuhandeln. "Der Grund, warum es oft mehr werden, liegt in der Matrix-Organisation großer Unternehmen", sagt Andreas Blank, Diplom-Psychologe und Leiter Personalentwicklung der Bayerischen Landesbank.

In einer Matrix-Organisation hat ein Angestellter häufig zwei oder mehr Chefs, an die er im Arbeitsalltag berichten muss. Und alle wollen bei einer Personalentscheidung mitreden. "Ein Mensch muss heute mit mehreren anderen zusammenarbeiten können", sagt Blank. "Intelligent wäre es deshalb, viele Partner zu einem Termin an einen Tisch zu bringen." Denn viele Einzeltermine zu vereinbaren, kostet nicht nur Geld, sondern setzt auch den Bewerber gehörig unter Druck.

Für Lisa Schleier jedenfalls war es nicht leicht, sich zu den geforderten Terminen diskret Zeit freizuhalten. "Teilweise wurden die Termine sehr kurzfristig angesetzt. Dann hörte ich wieder lange nichts von der Recruiterin", erzählt sie. "Und ich sitze nicht alleine im Büro. Es fällt einfach auf, wenn man alleine, aber mit Handy und Block, im Konferenzraum verschwindet." Zeitweise hatte sie schon den Verdacht, die Vorgehensweise sei Absicht. Man wolle vielleicht prüfen, wie sie unter Druck, unter Stress reagiere. Ein solches Vorgehen kann sich Psychologe Blank nicht vorstellen. "Das wäre auch nicht akzeptabel und legitim."

Es gibt gute Gründe dafür, dass sich Personalentscheidungen manchmal hinziehen. Wenn sich etwa die Geschäftsstrategie ändert, eine Umstrukturierung ein neues Stellenprofil erfordert oder ein neuer Vorgesetzter da ist. "Das muss man dem Bewerber dann offen sagen", so Blank. Ohnehin sei es anstrengender geworden, sich zu bewerben. "Die soziale Kompetenz ist viel stärker gefordert." Die Chemie muss stimmen, ganz gleich, ob man einer kommunikativen oder analytischen Persönlichkeit - oder beiden - im Vorstellungsgespräch gegenübersitzt.

Hinzu kommt, dass Neueinstellungen heute in der Regel vertraglich auf sechs Monate bis zwei Jahre befristet werden. Wer einen Ein-Jahres-Vertrag hat, ist gerade einmal ordentlich eingearbeitet, wenn er schon wieder in den nächsten langwierigen Bewerbungsprozess einsteigen muss. Besonders davon betroffen: die Nachwuchskräfte. Sie sind diejenigen, die am häufigsten Zeitverträge unterschreiben, und diejenigen, die in Bewerbungsverfahren am strengsten und längsten geprüft werden. Personaler haben hier eine breite Palette an Auswahlmethoden zu bieten - Assessment-Center, Fallstudie oder Motivationstest -, die immer wieder die Anwesenheit des Bewerbers erfordert.

Aber es geht auch anders: Je höher einer die Karriereleiter klettert, desto zügiger darf er eine Entscheidung über die eigene Personalie erwarten. "Es ist eine Frage der sozialen Akzeptanz und Zumutbarkeit", erklärt Blank. "Bestimmte Dinge lässt ein erfahrener Manager nicht mehr mit sich machen."

Das bestätigt auch Ulrich Thess von der Personalberatung Civitas in München. Bei seinen Kunden, für die er Führungskräfte sucht, stellt er keine Verschleppung von Entscheidungen fest. "Bewerbungsverfahren sind internationaler und damit komplexer geworden, dauern aber nicht länger. Wenn der Kandidat d die Zentrale in den USA besuchen soll, kommt höchstens eine Auswahlrunde hinzu." Schließlich geht es bei wichtigen Funktionen um viel Geld: "Wenn etwa ein kaufmännischer Leiter fehlt, kostet das die Firma Woche für Woche viel mehr als jede Personalberatung", sagt Thess.

Für alle anderen, die nicht so begehrt sind auf dem Arbeitsmarkt, heißt es: abwarten und Nerven bewahren - sofern man es sich leisten kann. "Gerade Alleinerziehende, Ernährer von Familien oder Ältere brauchen schnelle Entschlüsse", sagt Bewerbungstrainerin Sabine Kanzler-Magrit. Läuft ein Vertrag demnächst aus oder hat man gerade keine Arbeit, so wird man der ersten verbindlichen Zusage zustimmen. Selbst wenn die Entscheidung über den Traumjob noch in der Schwebe ist. "Wer cool genug ist, darf auch pokern und Fristen setzen", sagt Kanzler. "Das Ergebnis wird dann aber alles oder nichts sein. Vielleicht ist man dann aus dem Prozess endgültig raus."

Lisa Schleier war nach sieben Gesprächsterminen froh, als die Absage kam. Die Frage "Willst du so arbeiten wie die?" hatte sie zuvor schon mit "Nein" beantwortet.

"Wer eine Familie ernähren muss, ist auf schnelle

Entschlüsse angewiesen"

Eine Runde weiter - und wieder muss der Kandidat sich diskret Zeit freischaufeln. Und zwar mehrmals nacheinander. Denn in der neuen Firma möchte sich jeder ein Bild von ihm machen. Foto: Visum

Bewerbungen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sonderzug ins Chaos

Zum chinesischen Neujahrsfest reisen 188 Millionen Menschen mit der Bahn quer durchs Land - der Kampf um die Fahrkarten endet manchmal tödlich

Von Henrik Bork

Peking - Eine Rekordzahl von Chinesen kämpft derzeit auf den Bahnhöfen des Landes um Fahrkarten. Rund um das chinesische Neujahr, das dieses Jahr auf den 26. Januar fällt, werden 188 Millionen Bahnreisende erwartet. Das sind mehr als je zuvor und acht Prozent mehr als im vergangenen Jahr.

Das Neujahrsfest nach dem traditionellen Mondkalender, auf Chinesisch auch Frühlingsfest ("chun jie") genannt, ist das wichtigste Familienfest des Landes. In der Hauptreisezeit vom 11. bis zum 19. Januar wird zusätzlich die Rekordzahl von rund 24 Millionen Flugreisenden erwartet, eine Steigerung von 12 Prozent zum Vorjahr. 31 Millionen Menschen werden mit dem Schiff reisen. Und es werden, weil jeder Chinese mehr als eine Strecke zurücklegt, schätzungsweise zwei Milliarden Busfahrscheine verkauft werden. Doch nirgends wird es so ungemütlich werden wie in den schon jetzt hoffnungslos überfüllten Zügen, in denen die Menschen oft mehrere Tage und Nächte lang stehend eingequetscht sind, bis sie ans Ziel gelangen. Trotz eigens eingerichteter Sonderschalter herrscht derzeit auf allen Bahnhofsvorplätzen des Landes eine Art von Ausnahmezustand. Der Kampf um die Tickets ist hart. Dabei kam es in Hangzhou zu dem ersten tödlichen Unfall dieser Reisesaison. Ein 60-jähriger Mann brach nach einer durchwachten Nacht in einer Warteschlange zusammen und starb wenig später in einem Krankenhaus.

Der Fall erinnert viele Chinesen an die Tragödie kurz vor dem Neujahrsfest des letzten Jahres, als eine 19-jährige Studentin von einem mit 600 Menschen völlig überfüllten Bahnsteig geschoben wurde und von einem einfahrenden Zug getötet wurde. Ein anderer Mann war in Guangzhou im Februar 2008 zu Tode getrampelt worden, nachdem in einer Menge von 260 000 Menschen eine Panik ausgebrochen war.

Vergangenes Jahr mussten die Reisenden besonders viel leiden. Millionen Menschen campierten tagelang vor den Bahnhöfen, weil wegen schwerer Schneefälle ein Teil des Streckennetzes ausgefallen war. Chinas Premier Wen Jiabao hatte damals eine Bahnhofshalle besucht und sich für das Chaos entschuldigt. Dieses Jahr wird daher im Verkehrsministerium und auf allen Bahnhöfen rund um die Uhr gearbeitet. Angesichts des riesigen Passagieraufkommens fließt der Verkehr bislang erstaunlich reibungslos.

Schnee gibt es in diesem Jahr kaum. Dafür aber macht sich die internationale Wirtschaftskrise bemerkbar, die auch China schwer getroffen hat. Sie lässt die Zahl der Heimreisen offenbar noch weiter ansteigen. "In ganz China haben 4,8 Millionen Wanderarbeiter ihre Arbeitsplätze auf Baustellen in den Städten und in Fabriken verloren und sind auf dem Weg in ihre Heimatdörfer", berichtet die Zeitung Südliches Wochenende.

Solche Zahlen sind in China in der Regel nur eine Annäherung, weil nur regulär angestellte Arbeiter gezählt werden. In den vom Export lebenden Textilfabriken an der Ostküste hat seit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise eine Konkurswelle eingesetzt. "670 000 kleinere Betriebe haben bereits geschlossen und 6,7 Millionen Menschen sind arbeitslos geworden", sagte der Berater des Staatsrates Chen Quansheng. Doch Millionen von Bauernsöhnen, die sich als Wanderarbeiter verdingt hatten, tauchen erst gar nicht in solchen Statistiken auf.

Ein Beispiel dafür ist der 23-jährige Chen Hemei, der bis vor kurzem in einer Aluminiumfabrik in der südchinesischen Stadt Qingyuan gearbeitet hat. Vor einigen Tagen hat er sich die 150 Yuan (rund 17 Euro) für eine Bahnfahrkarte geliehen, um einen wenig ruhmreichen Rückzug in sein Heimatdorf in der Provinz Sichuan anzutreten. Als die Auftragsbücher der Aluminiumfabrik leer waren, hatte das Management die Löhne reduziert. "Ich bin nicht entlassen worden, aber ich habe einfach kein Geld mehr für die Miete und mein Essen", erzählte Chen einem chinesischen Reporter. Wie viele andere Wanderarbeiter wird er dieses Jahr wohl ein eher freudloses Frühlingsfest verbringen. Aber erst nach einer 17-stündigen Zugfahrt dritter Klasse, also im Stehen.

Bahnhof in Shanghai: Fast alle Chinesen wollen zum Neujahrsfest verreisen, nicht allen gelingt es. Foto: AP

Soziales Leben in China Schienenverkehr in China SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gefahr im Verzug

Lieber plündern als arbeitslos? Die Wirtschaftskrise ist die erste Nagelprobe für Arbeitszeitkonten

Arbeitszeitkonten sind inzwischen weit verbreitet. Sie dienen dazu, in Form von Kurzzeitkonten flexible Arbeitszeiten zu verwalten. Aber sie werden auch als langfristiges Guthaben zum Ansparen für eine berufliche Auszeit oder den vorzeitigen Ruhestand genutzt. Wenn der Arbeitgeber Pleite geht oder man den Job wechselt, ist das Guthaben auf dem Arbeitszeitkonto allerdings nicht sicher. Teilweise Besserung soll ein neues Gesetz bringen, das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist. Spürbaren Einfluss wird aber auch die Wirtschaftskrise auf die Arbeitszeitguthaben nehmen.

Die derzeitige Krise sei "die erste Nagelprobe für die Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten", sagt Hartmut Seifert, Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Bei Betrieben mit Auftragsflaute werden nun zunächst die Kurzzeitkonten geleert.

Experten gehen davon aus, dass das Guthaben auf den Arbeitszeitkonten insgesamt deutlich zurückgehen wird. Während das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg für 2008 noch einen Anstieg der Guthaben vorhergesagt hat, gehen es für 2009 von einem Rückgang etwa in der gleichen Größenordnung aus. Das gilt nicht nur für die Kurzzeitkonten: "Es kann sein, dass Beschäftigte und Betriebsrat sagen: Lasst uns lieber unsere Langzeitarbeitszeitkonten plündern, bevor wir arbeitslos werden", vermutet Hartmut Seifert.

"Ob ein Arbeitszeitkonto bei einem Auftragsrückgang angetastet werden kann, hängt davon ab, was in der konkreten Arbeitszeit-Vereinbarung geregelt ist", sagt Martina Perreng, Arbeitsrechtsexpertin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Berlin. Hierbei gebe es kein einheitliches Bild, sagt Marc Danlowski vom Zeitbüro NRW in Dortmund. "Häufig muss aber der Betriebsrat zustimmen, wenn Guthaben von einem Langzeitarbeitskonto genommen wird."

Nach einer unveröffentlichten Studie der Sozialforschungsstelle Dortmund hat gut die Hälfte der Beschäftigten ein Kurzzeit-, Langzeit- oder Lebensarbeitszeitkonto. Etwa jeder zehnte Arbeitnehmer verfügt über ein Langzeitkonto.

Zwei Knackpunkte gibt es. Was passiert mit dem Guthaben, wenn die Firma Insolvenz anmeldet? Und: Kann das Guthaben übertragen werden, wenn der Mitarbeiter den Arbeitgeber wechselt?

Hier soll das neue, Flexi II genannte Gesetz Besserung bringen. Tatsächlich war in einem Viertel der Unternehmen mit Langzeitkonten das Guthaben der Mitarbeiter bislang nicht gegen Insolvenz gesichert. Nach dem neuen Gesetz wird dies alle vier Jahre kontrolliert. Doch auch diese Prüfung bietet keine Garantie: "Wenn ich vier Jahre eingezahlt habe und die Firma dann kurz vor der Prüfung insolvent wird, hilft mir das nichts", warnt Gewerkschafterin Perreng. Hinzu kommt, dass nur eine Absicherung von mindestens 70 Prozent des Guthabens vorgeschrieben ist.

Die Übertragbarkeit bei einem Job-Wechsel wird ebenfalls verbessert. "Bislang war es so, dass die Guthaben ausgezahlt wurden, wenn ein Beschäftigter ausgeschieden ist", erläutert Marc Danlowski vom Zeitbüro NRW. Das angesparte Guthaben stand also nicht mehr in Form von Zeit zur Verfügung. Das neue Gesetz bringt nun insofern eine Verbesserung, als dass das angesparte Guthaben an die Deutsche Rentenversicherung Bund übertragen werden kann.

Allerdings ist dies an mehrere Bedingungen geknüpft: So müssen in Westdeutschland mindestens 15 000 Euro und in Ostdeutschland 13 000 Euro auf dem Arbeitszeitkonto sein. Von dem angesparten Guthaben kann der Arbeitnehmer dann etwas "abheben". Das geht aber nur begrenzt: "Die Entnahme ist möglich, wenn der Arbeitnehmer einen Angehörigen pflegt, ein Kind selbst betreut, in Teilzeit geht oder um daraus einen vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu finanzieren", betont Arbeitszeit-Experte Danlowski. Sebastian Knoppik/dpa

Das Flexi II-Gesetz soll Guthaben im Insolvenzfall sichern. Foto: Bilderbox

Arbeitszeit in Deutschland Kurzarbeit in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Von Raben und Säufern

Schweizer stimmen über die Zuwanderung aus Osteuropa ab - aber auch über die EU

Von Gerd Zitzelsberger

Bern - Das Schweizer Establishment zittert. Minister, Wirtschaftskapitäne und Gewerkschaftsspitzen, aber auch die meisten meinungsbildenden Zeitungen wollen das Verhältnis zur Europäischen Union im Grundsatz beibehalten, wie es ist. Doch das Volk ist rebellisch. Die Schweizer Aufrührer stehen rechts; ihr Ziel heißt: keine Zuwanderung aus Bulgaren und Rumänen, und schon gar nicht von Roma. Am 8. Februar stimmen die Schweizer darüber ab. Es sei für das kleine Land eine "Schicksalsentscheidung", sagt Arbeitgeber-Präsident Gerold Bührer. Bei einem Nein könnte die Eidgenossenschaft wieder zu einer Insel in Europa werden.

Diesmal sind es keine wei en Schafe, die ihren schwarzen Artgenossen aus der Schweiz hinauskicken, wie es auf einem Wahlplakat vor zwei Jahren zu sehen gewesen war. Diese Kampagne hatte der Schweiz, die einen deutlich höheren Ausländeranteil aufweist als etwa Deutschland, weltweit den Ruf der Fremdenfeindlichkeit eingebrockt. Diesmal sind es drei schwarze Raben, die auf der kleinen Schweiz herumhacken und gleichzeitig die Rosinen herauspicken. Gemeint sind wieder Ausländer - diesmal eben Bulgaren und Rumänen. Da die beiden Länder seit Jahresanfang 2007 zur EU gehören, sollen deren Einwohner nach geltendem Recht in ein paar Jahren in der Schweiz die gleichen Rechte bei der Personenfreizügigkeit erhalten wie beispielsweise Deutsche oder Franzosen. Das bedeutet, dass sie und ihre Familien in die Schweiz ziehen dürfen, wenn sie dort Arbeit finden, und dass sie vorab schon für sechs Monate dort leben können, um eine Stelle zu suchen oder sich eine selbständige Existenz aufzubauen. Vielen Eidgenossen jagt diese Vorstellung einen Schauer über den Rücken: Eine wahre Flut von Zuwanderern werde die Folge der Grenzöffnung sein, argumentiert etwa der Parlamentsabgeordnete Pirmin Schwander. Schon die Erleichterungen für die Bürger aus der "alten" EU im Sommer 2007 habe die Zuwanderungszahlen nach oben getrieben. "In Zürich verdient ein junger Automechaniker zehnmal mehr als in Sofia oder Bukarest", argumentiert er. Schweizer würden wegen der Neuankömmlinge ihre Stelle verlieren oder sich mit niedrigeren Löhnen bescheiden müssen. Die Zuzügler würden die Arbeitslosen-Versicherung plündern und die Straftaten in die Höhe schnellen lassen.

Ein Plakat suggeriert, dass die Ankömmlinge aus dem Balkan ohnehin nur Säufer seien. Es zeigt einen Mann mit Schnapsflasche im Rinnstein. "Sichere Straßen - Nein zur unkontrollierten Ostzuwanderung" steht darunter. Zugkräftig ist auch der Verweis auf italienische Verhältnisse. Die Bilder von rumänischen Ghettos am Rande der Großstädte wirken vor allem im Tessin: Dort gilt das Nein zur Personenfreizügigkeit schon als ausgemacht.

Ein paar Details allerdings verschweigt das rechte Lager der Nein-Sager. So könnte die Schweiz immer noch jederzeit die Notbremse ziehen und das Abkommen kündigen, wenn in ein paar Jahren Bulgaren und Rumänen in Scharen kommen sollten. Mit der Angst argumentieren auch die Befürworter der Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen. Ein Nein, sagen sie, setze quasi automatisch im November eine Reihe weiterer wichtiger Verträge zwischen Brüssel und Bern außer Kraft. Dies schneide die Schweiz von öffentlichen Aufträgen aus den EU-Staaten ab; es gehe um ein Volumen von 1500 Milliarden Euro. Überhaupt werde das Auslandsgeschäft viel schwieriger. Die Exporte aber sind die wichtigste Säule der Wirtschaft, beinahe zwei Drittel gehen in die EU.

Der harte Kern der Rebellen ist ein kleines Häuflein. Selbst die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) steht nur zum Teil hinter den Freizügigkeitsgegnern. SVP-Galionsfigur und Ex-Unternehmer Christoph Blocher schwingt zwar markige Reden, aber nur bei kleineren Veranstaltungen. Seine Tochter, die mittlerweile Blochers Chemie-Konzern führt, mag gar nichts sagen: Ein Sieg der Freizügigkeitsgegner würde auch ihr das Geschäft erschweren. Trotz der millionenschweren Werbekampagne der Wirtschaft und des politischen Establishments ist ein Sieg der Rebellen nicht auszuschließen. "Wir haben spezielle Zeiten", sagt der Meinungsforscher Claude Longchamp mit Blick auf die Angst vor der Wirtschaftskrise.

"Das ist eine Schicksalsentscheidung für unser Land"

Raben, die das Vaterland zerpicken: Für ihr Abstimmungsplakat hat die Schweizerische Volkspartei wie üblich ein drastisches Motiv gewählt. AFP

Volksabstimmungen in der Schweiz Ausländer in der Schweiz SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Risiko fliegt mit

Die Zahl der Todesopfer im internationalen Luftverkehr ist 2008 erneut gesunken, dennoch gab es mehr Unfälle / Entwicklung besorgt Experten

Fliegen war im vergangenen Jahr so sicher wie beinahe noch nie - nur 2004 fiel die Bilanz geringfügig besser aus. Vor dem Hintergrund weltweiter Passagierzahlen, die sich gegenüber dem Vorjahr nur minimal um 0,8 Prozent auf nunmehr 2,29 Milliarden Fluggäste erhöhten, ging die Anzahl der bei Flugunfällen Getöteten signifikant zurück.

So starben nach Angaben der unabhängigen Branchenwebsite Aviation Safety Network im Jahr 2008 bei Unfällen von mehrmotorigen Passagierflugzeugen weltweit 577 Menschen; im Vorjahr waren noch 750 Opfer zu beklagen. Allerdings stieg gleichzeitig die Zahl der Unfälle deutlich an - von 26 auf jetzt 32 Crashs mit Todesopfern. Experten warnen daher vor einem Stillstand im Bemühen um mehr Sicherheit am Himmel. "Die weltweite Flugsicherheit stagniert", mahnt David Learmount vom englischen Fachblatt Flight International, "nach einem Jahrzehnt stetiger Verbesserung zeigen die Daten für 2008, dass die Anzahl tödlicher Unfälle seit 2003 sogar angestiegen ist."

Die internationale Linien-Luftfahrtorganisation IATA ermittelt seit Jahren die Unfallraten für im Westen gebaute Jets; den Tiefststand verzeichnete sie 2006 mit nur 0,65 Totalverlusten je einer Million Starts. Nach einer Steigerung auf 0,82 im Vorjahr betrug dieser Wert 2008 nun 0,77. Trotzdem sieht man die Bilanz in der Branche als Erfolg an: "Das sind sehr beruhigende Statistiken", findet Paul Hayes, Direktor der Beratungsfirma Ascend, "obwohl es 2008 mehr schwere Unfälle als im Vorjahr gab, sind wesentlich weniger Menschen gestorben." Insgesamt habe sich die Sicherheit verbessert.

Obwohl Europa in allen Statistiken zu den sichersten Kontinenten im Flugverkehr zählt (0,45 Totalverluste je einer Million Starts 2008 gegenüber 0,32 im Vorjahr) ereignete sich das schwerste Flugzeugunglück des vergangenen Jahres hier: Am 20. August stürzte eine MD-82 der Spanair beim Start von Madrid-Barajas nach Gran Canaria noch auf dem Flughafengelände ab; 154 Menschen starben, nur 18 überlebten den schwersten Crash in Spanien seit 25 Jahren. Wie sich herausstellte, hatten die Piloten versäumt, Vorflügel und Klappen auszufahren, die beim Start den nötigen Auftrieb erzeugen. Ein automatisches Warnsystem, das sie auf diesen Fehler hätte aufmerksam machen müssen, war ausgefallen - wie meist bei Flugunfällen auch hier eine Verkettung unglücklicher Umstände. Offiziell ist die Ursache noch nicht festgestellt worden, aber auch die Wartungs- und Betriebspraxis von Spanair war in Verdacht von Versäumnissen geraten. Als Konsequenz aus dem Unfall müssen die Piloten aller rund 180 fliegenden Jets dieses Typs jetzt vor jedem Start das Warnsystem überprüfen.

Außer dem Spanair-Absturz gab es 2008 nur noch zwei weitere Unfälle mit mehr als 50 Toten, beide in Russland beziehungsweise einem GUS-Staat und beide kurz nach der Katastrophe von Madrid: Ende August stürzte eine Boeing 737-200 der lokalen Gesellschaft Itek Air beim Anflug auf die kirgisische Hauptstadt Bishkek ab, nachdem angeblich der Kabinendruck abgefallen war und der Pilot in schwierigen Wetterbedingungen umkehren wollte; 65 von 90 Insassen kamen dabei ums Leben. Itek Air gehört zu den Fluglinien, die auf der Schwarzen Liste der EU stehen und nicht auf europäischen Flughäfen landen dürfen. Mitte September stürzte eine Boeing 737-500 einer Aeroflot-Tochter beim Anflug auf Perm im Ural ab; angeblich gab es vorher einen Triebwerksbrand, alle 88 Menschen an Bord starben.

Diese Unfälle führen zur weltweit höchsten Rate von 7,92 Totalverlusten je einer Million Starts für die Region Russland/GUS in der IATA-Statistik - nach einer weißen Weste von 0,0 im Vorjahr. "Das ist auch auf die geringe Anzahl westlicher Jets zurückzuführen, die dort fliegen und die wir ausschließlich zählen", erklärt IATA-Experte Gunther Matschnigg, "aber das ändert nichts daran, dass uns diese vergleichsweise hohe Rate Sorgen macht." Andreas Spaeth

Weltweiter Flugverkehr

Auf und ab: Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Flugpassagiere weltweit auf 2,3 Millionen; 577 Menschen fanden bei Flugunfällen den Tod. Schwerstes Unglück im Jahr 2008 war der Absturz einer Spanair-Maschine in Madrid. Foto: dpa

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Ein Traum im Raum

Ende Januar eröffnet Porsche sein neues, 100 Millionen Euro teures Museum in Stuttgart-Zuffenhausen

Unbaubar, lautete das Urteil. Ingenieure und erfahrene Tragwerksplaner schüttelten den Kopf, als sie vor knapp vier Jahren auf die Pläne des Wiener Architekturbüros Delugan Meissl schauten: So gehe das nicht. Viel zu kompliziert.

Das war nur eines der Probleme. Ein anderes brannte schon länger. Es drehte sich rund um den Kreisverkehr der Schwieberdinger Straße, den Stuttgart in großer Geste Porscheplatz getauft hat. Was für ein Euphemismus für die leere Mitte zwischen dem betriebsamen Porsche-Werk, der blutarmen Fassade der Porsche-Niederlassung und einem wirr gewürfelten Gewerbe- und Industriegelände hintendran. Es ist ein Ort, an dem ehrlich geschafft wird. Hier strömt viel Verkehr. Doch mit dieser stadträumlichen Rumpelkammer architektonisch klarzukommen, ist nicht einfach. Was blieb, war ein eigenes Zeichen zu setzen.

Das gelingt dem neuen Museum. Hoch, dabei nicht graziös, reckt sich diese kantig gefaltete, brillantweiß belegte und spiegelnde Box. Nachhaltig dominiert der Bau die Beliebigkeit seines zerfaserten Umfelds. Der gewaltige Polyeder bietet 82 Autos auf 5600 Quadratmetern Platz. Doch seine große Last, 35 000 Tonnen sind es, darf er nur in drei Stützenpaare ableiten, was zu Spannweiten von bis zu 60 Metern führt - und zu spektakulären Überhängen: Rund 40 Meter weit kragt das Museum in seinem hinteren Teil aus. Hier verformt sich der Bau um bis zu acht Zentimeter. "Wir haben den konventionellen Hochbau verlassen", sagt Martin Josst, Partner im Büro Delugan Meissl, "und uns beim Brückenbau bedient." Letztlich hat es funktioniert, mit viel Nachdenken, Nachrechnen, Nachzahlen. 100 Millionen Euro, sagt Porsche, habe der Bau gekostet. Das ist rund doppelt so viel, wie ursprünglich gedacht.

"Das Schweben", sagt Elke Delugan-Meissl, "hat auch etwas mit der Marke zu tun." Für die Architektin ist im neuen Museum der gesamte Porsche-Kosmos zu Hause. Wer sich zu dessen Entdeckung aufmacht, taucht zunächst ab: Das tiefe, flach unter der großen Box lagernde Foyer lässt noch nichts vom Museum ahnen. Der Blick fällt zunächst in die große Werkstatt, wo künftig Spezialisten an Motorsport-Pretiosen schrauben sollen: Hier könnten sie, so Klaus Bischof, Ex-Rennmechaniker und Chef des Rollenden Museums, zum Beispiel einen 917/30 restaurieren.

Statt kühlem Marketing prägen so profunde Handarbeit und kurze Wege das erste Bild. Im Rücken ziehen sich die Fluchten zweier langer Rolltreppen weit nach oben. Die Architekten inszenieren eine enge Himmelsleiter. Nach der Fahrt durch den Flaschenhals weitet sich plötzlich der Raum. Der schwarzweiße Purismus bleibt, doch garnieren ihn jetzt bunte Porsche-Modelle. Als Empfang wartet eine schimmernd-nackte Aluminium-Karosserie des Berlin-Rom-Wagens, den Ferdinand Porsche 1939 konstruierte. Ihn inszeniert Porsche heute als Nullpunkt seiner Geschichte. Er ist das erste Auto, das den Schriftzug der Marke trug. "Das ist die Ur-Form aller Porsche", sagt Klaus Bischof über das Projekt, das einst der Zweite Weltkrieg ausbremste. Als Ferdinands Sohn Ferry 1948 seinen ersten 356 baute, führte er diese frühe Idee eines reisetauglichen, leichten Sportwagens weiter.

Der Ouvertüre folgen Fahrzeuge wie ein Käfer, ein Mercedes Monza oder der Cisitalia als wichtige Wegmarken der Entwicklung vor 1948. Von hier reicht der Blick längs durch den rund 140 Meter langen Bau: Porsche, Porsche, Porsche. Nicht zu voll, doch überall. Kaum etwas, was davon ablenken könnte: Vor der tiefschwarzen Außenwand reihen sich die Modelle in strenger Chronologie. Sie beginnt mit dem frühen Gmünd-Coupé und endet im Heute. Weil die Porsche-Geschichte ein Kontinuum ist, gibt es nur einen Raum, der jedoch ständig seine Form variiert: Er öffnet sich, steigt an, verjüngt sich, fächert sich auf. "Mobilität war zentraler Gegenstand unserer architektonischen Auseinandersetzung", sagt Architekt Roman Delugan. Im Entwurf spiegeln sich Dynamik und Geschwindigkeit, Konzentration und Gelassenheit. Porsche wollte keinen Klamauk: "Wir haben mit Absicht darauf verzichtet, eine inszenierte Erlebniswelt zu schaffen", sagt Museumsleiter Achim Stejskal. Nur beim Klang wurde man schwach: Aus drei Soundduschen strömen die Klänge von 356, 911 und 917. Der Boden vibriert dazu.

Doch die Ausstellung ist mehr als nur ein Schaudepot, auch wenn die Exponate sich mitunter irritierend introvertiert präsentieren. Das täuscht jedoch: "Fast alle sind fahrbereit", sagt Klaus Bischof. Der Weg zum Lastenaufzug, der direkt in die Werkstatt führt, ist nie weit. Ein schneller Check ist kein Problem. Damit wird für kein Exponat das Museum zur letzten Bleibe. Manchmal wird der Besucher dann wohl auf einen verwaisten Platz stoßen, wenn Bischof mit einem seiner Autos bei der historischen Mille Miglia oder beim Goodwood Festival of Speed startet. Anlässe gibt es genug.

Wer sich darauf einlässt, kann in den Autos lesen wie in einem Buch. Ferry Porsches Alltags-911 steht hier und auf unerbittlich weißem Terrain parken die siegreichen Targa Florio- und Le Mans-Teilnehmer. Auch eine große 917-Armada tritt auf. Dazu fokussiert Porsche in sechs Themeninseln die Eigenschaften, die für die Marke stehen. Doch bei aller Präzision zeigt die Marke auch ein paar Gefühle. Immerhin melden sich legendäre Haudegen wie Hans Herrmann, Vic Elford oder Derek Bell mit Anekdoten zu Wort, feiert Porsche mit einem Wald aus Pokalen seine bisher 28 000 Rennsiege und liegt in kleinen Vitrinen Symbolisches - wie eine schwäbische Spätzle-Presse. "Nur wer gut isst, kann auch gut schaffen", proklamierte Ferry Porsche.

Dass Essen auch heute noch eine tragende Rolle spielt, zeigt das Nobelrestaurant Christophorus, das weit oben hinter der prominenten Glasfassade seine Gäste verköstigt. Doch der Blick in diesen Gastraum zeigt, wie sehr die Architektur beeindruckt: In dieser weißen Welt irritiert das geerdete Ambiente. Wendelin Wiedeking, der Chef selbst, soll seine Hand im Spiel gehabt haben, die Architekten blieben außen vor.

Ein kleiner Fauxpas, doch er verblasst zur Randnotiz, rechnet man die gemeisterten Herausforderungen gegen. Wiedeking hat schließlich Porsche aus den tiefsten Tiefen in nie geahnte Höhen geführt. Und jetzt hat er auch noch, am Porscheplatz steht es, für seine Marke das Unbaubare bauen lassen. Thomas Wirth

Porsche Museum: ab 31. Januar geöffnet; Dienstag bis Sonntag 9 bis 18 Uhr; Eintritt: 8 Euro, ermäßigt 4 Euro, freier Eintritt für Kinder bis 14 Jahre sowie angemeldete Schulklassen. Weitere Infos unter Telefon 01805/356 911.

Ein Museum setzt zum Fliegen an: Porsche hat sich einen mutigen Entwurf ausgesucht. Mehr als 80 Meilensteine wie das rote Gmünd- Coupé warten auf Besucher. Die nackte Alu-Karosse des Berlin-Rom-Wagens symbolisiert den Urknall der Idee vom Reisesportwagen. Fotos: Uli Jooß

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Beleidigte Leberwurst

Manches muss man einfach überhören: Bei Kränkungen durch den Chef oder die Kollegen nicht die Selbstkontrolle verlieren

"Na, wieder im Bademantel unterwegs?" Der Chef und die lieben Kollegen vergreifen sich manchmal im Ton, wenn sie witzig sein wollen. Das berührt selbst weniger sensible Naturen. "Doch wer dem aufwallenden Gefühlsschwall, gekränkt worden zu sein, spontan nachgibt und sich beleidigt zeigt, handelt unklug", sagt Thomas Weegen, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Coverdale in München.

Leider gelingt es nicht immer, den kühlen Kopf über das heiße Herz siegen zu lassen und die eigenen Reaktionen im Zaum zu halten. Warum ist das so schwer? "Eine Kränkung ist eine Verletzung unserer Person", sagt Bärbel Wardetzki, Diplom-Psychologin aus München, "wir erleben uns oder unsere Arbeit nicht wertgeschätzt oder sogar entwertet." Durch eine beiläufige Bemerkung, eine anmaßende Äußerung, plumpe Kritik, ein erwartetes, aber ausgebliebenes Lob. Aber auch durch Ausgrenzung oder Ablehnung.

Wenn es nun wenig ratsam ist, sich auf der Stelle die empfundene Kränkung anmerken zu lassen, wie soll man dann mit solchen Verletzungen umgehen? "Manches muss man überhören oder einfach nicht zur Kenntnis nehmen", empfiehlt Berater Weegen ganz pragmatisch. Wer erregt unmittelbar auf alles und jedes reagiere, schade sich selbst. In Windeseile gehe einem dann der Ruf voraus, ganz besonders heikel, kompliziert im Umgang und schrecklich übelnehmerisch zu sein. Das werde weder von Vorgesetzten noch von den Kollegen geschätzt.

Dem pflichtet Alfred Kirchmayr bei: "Durch zu große Empfindlichkeit kann man sein eigenes Ansehen und Standing rasch nachhaltig beschädigen", sagt der in solchen Dingen erfahrene Psychotherapeut aus Wien. Allein schon aus dieser Fremdeinschätzung heraus könne der tägliche Umgang miteinander zum Eiertanz werden. Viel zwischenmenschlich Belastendes im Arbeitsalltag sei "bei genauem Nachverfolgen oft auf derartige Mechanismen zurückzuführen", sagt Professor Kirchmayr. "Vieles muss heute sehr schnell gehen." Und in dieser Eile rutsche nun mal so manches heraus, was nicht sofort auf die Goldwaage gelegt werden sollte.

Dennoch: Es gibt Grenzen des Tolerablen, deren Überschreitung eine unmittelbare Intervention fordert. Aber auch die sollte, so Wardetzkis Rat, "in jedem Fall bedacht ausfallen". Wenn es ratsam erscheine, die Dinge nicht einfach im Raum stehen zu lassen und deutlich zu machen, dass eine eindeutige Grenzüberschreitung vorliege, tue jeder gut daran, nicht aufgeplustert und erregt zu intervenieren. Eine gelassene und - so Kirchmayr, "humorvolle Reaktionsweise" - entschärfe die Situation nicht nur. Sie rücke die Dinge meist viel unkomplizierter wieder zurecht oder in ein anderes Licht als das meist selbstschädigende beleidigte Zurückschnappen und Auftrumpfen.

Die Reaktion auf Kränkungen offenbart für Bärbel Wardetzki "viel von der eigenen Persönlichkeit". Wer in sich ruhe, ein positives Selbstwertgefühl habe, zeige das durch eine gelassen-souveräne Reaktion auf Holprigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang. Wer hingegen sich selbst nicht schätze, in sich unsicher sei, beiße auf jeden blanken Haken und reagiere entsprechend verquer auf tatsächliche oder vermeintliche Ausrutscher anderer ihm gegenüber.

"Das beschädigt immer die eigene Position und das eigene Ansehen", sagt Weegen. Zeigten unwirsche Reaktionen in den Augen der anderen doch: Man kann nichts vertragen und nichts einfach auch mal wegstecken. "Das ist kein Fremdbild, das den eigenen Interessen nützt und das eigene Image fördert. Deshalb grundsätzlich nie die beleidigte Leberwurst spielen", rät Weegen. Gerade heikle Situationen wie Kränkungen eigneten sich wunderbar dazu, Souveränität zu zeigen und unter Beweis zu stellen. Und sich dadurch für höhere Weihen zu empfehlen. Wer diese situative Überlegt- und Überlegenheit an den Tag lege, demonstriere auch, psychisch belastbar zu sein. Und das sei heute "mehr denn je ein zentrales Kriterium für berufliches Weiterkommen".

Und noch ein weiteres Detail sorgt laut Wardetzki bei empfundenen Kränkungen für Mäßigung im Reagieren: Man solle immer bedenken, dass die persönlichen Bewertungsmaßstäbe immer auch an die Tagesform gekoppelt seien. Niemand empfinde jeden Tag gleich. Was einen heute heftig kränke, könne einen morgen schon völlig kalt lassen. In zwischenmenschlichen Konfliktsituationen handele auf der sicheren Seite, wer das nicht vergesse und in der Lage sei, sich demgemäß zu verhalten.

Und für Kirchmayr spielt auch dieser Aspekt im Umgang mit Kränkungen eine Rolle: Die Frage, wer uns da gerade auf die Füße tritt. Schätze ich jemanden, darf der sich ein Wort mehr erlauben als jemand, der mir ohnehin nicht so sympathisch ist. Das verleite zum Messen mit zweierlei Maß, was auch nicht gerade ratsam sei.

All das sollte dazu bewegen, bei einer empfundenen Kränkung nicht aus der Situation heraus den Kopf zu senken und den Gegenüber auf die Hörner zu nehmen. Selbstkontrolle ist auch hier der Schlüssel zur Problemlösung. Und wenn der Stachel der Kränkung dann doch tiefer sitzt? "Man sollte eine entspannte, ruhige Situation abwarten und auf den Vorfall noch einmal unaufgeregt zurückkommen", rät die Psychologin Wardetzki. Ohne Vorwürfe, Anklagen oder gar Drohungen. Grundsätzlich gelte für einen solchen nachträglichen Klärungsprozess: Man sollte sich nicht auf Positionen versteifen, sondern nach einem Interessenausgleich suchen; versuchen, zu verstehen und verstanden zu werden. Hartmut Volk

In Windeseile hat man

den Ruf weg, besonders kompliziert zu sein

Je nach Tagesform: Was heute schwer kränkt, kann einen morgen kalt lassen

Wenn einem der Kollege mit spitzen Bemerkungen und kleinen Unverschämtheiten auf die Pelle rückt, sollte man humorvoll parieren. Foto: www.stills-online.de

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Sicher radeln für ein langes Leben

Ob Gelenkschutz oder Kräftigung der Muskulatur inklusive des Herzmuskels, ob Stärkung des Immunsystems oder Verbesserung der Lungenventilation: Für Mediziner gilt Radfahren als Gesundbrunnen - vor allem für die ältere Generation. Schon die Alltagsnutzung des Velos wirke für Senioren sozusagen als lebensverlängernde Maßnahme. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sehen das anders, denn im letzten Jahr zählte jeder sechste verunglückte Radler zur Generation 65 plus. Und dramatisch hoch ist der Anteil der Älteren bei den tödlich verunglückten Fahrradfahrern: 45 Prozent.

Dass radelnde Senioren "deutlich häufiger in komplexen Verkehrssituationen verunglücken", weiß auch die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Ihre Forderung: Wer den generationenübergreifenden Radverkehr wolle, dürfe die Sicherheitsbedürfnisse der Älteren nicht vernachlässigen. Wer im fortgeschrittenen Alter das Radeln wiederentdecken m chte, kann sich in vielen Städten in einer privaten Radfahrschule oder zu einem Kurs des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) anmelden. Die Landesverkehrswachten beteiligen sich an dem vom Bundesverkehrsminister geförderten Programm "Mobil bleiben, aber sicher!", bei dem das Fahrrad immerhin einen gleichberechtigten Status genießt. Die Botschaft hier wie dort: Radfahren hält fit und vergrößert den persönlichen Radius, Unfälle können vermieden werden. heda

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Die Krise ist noch lange kein Kündigungsgrund

Jede dritte Firma in Deutschland plant einer Umfrage des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln zufolge, dieses Jahr Arbeitnehmer zu entlassen. Grund: die weltweite Wirtschaftskrise, die schon jetzt zu einem spürbaren Rückgang von Aufträgen geführt hat. Betroffene sollten solche Kündigungen aber genau prüfen: "Ein allgemeiner Verweis auf die momentane Rezession reicht als Grund für eine betriebsbedingte Kündigung nicht aus", sagte Torsten Walter, Rechtsexperte beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Berlin. Unternehmer müssten vielmehr nachweisen, dass durch Umsatz- oder Auftragsrückgänge für die Tätigkeit eines Arbeitnehmers konkret kein Bedarf mehr besteht.

Sogenannte dringende betriebliche Erfordernisse angesichts einbrechender Auftragszahlen rechtfertigen eine Kündigung zudem nur dann, wenn keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Beschäftigung des Arbeitnehmers im Unternehmen, etwa in der Nachbarabteilung, besteht. "Ein Autoverk ufer kann also nicht einfach betriebsbedingt gekündigt werden, wenn er zum Beispiel in einer anderen Niederlassung des Unternehmens weiterarbeiten könnte", erklärte Rechtsexperte Walter.

Bei derartigen Kündigungen müssen Arbeitgeber laut Walter auch die Kriterien einer Sozialauswahl beachten. Demnach muss immer erst der Angestellte betriebsbedingt gekündigt werden, den die Entlassung am wenigsten trifft. Hierzu werden alle Arbeitnehmer mit gleichem Status nach Gesichtspunkten wie der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit, dem Alter, Unterhaltspflichten und einer Schwerbehinderung verglichen. In Firmen mit einem Betriebsrat muss auch dieser vor einer Kündigung gehört werden. Ausgenommen von den Regeln sind allerdings Betriebe mit weniger als zehn Mitarbeitern. SZ/dpa

Kündigungen in Deutschland Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ägyptens neuer Einfluss auf ein altes Problem

Präsident Mubarak nutzt die Verhandlungen mit Israel für eine Aufwertung seines Landes in der arabischen Welt

Von Tomas Avenarius

Kairo - Wer Ägypten und seinen alternden Präsidenten Hosni Mubarak abgeschrieben hatte, war voreilig: Auch wenn das Land nach 25 Jahren Mubarak-Herrschaft innenpolitisch völlig verkrustet wirkt, erweist sich der 80-jährige Staatschef im Gaza-Konflikt als Schlüsselfigur. Ägypten lebt in Frieden mit Israel, ist eng verbündet mit der offiziellen Palästinenser-Regierung in Ramallah - und verhandelt als einzige Partei auch mit der Hamas. Zudem wird Kairo derzeit von den USA und Europa umworben: Die Sicherung der ägyptisch-palästinensischen Grenze in Rafah und die Unterbindung des Schmuggels ist einer der zentralen Punkte eines möglichen Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der radikal-islamischen Gruppe im Gaza-Streifen. "Pharao Mubarak", lange als greiser Machthaber eines in sich erstarrten Staates wahrgenommen, erscheint plötzlich wieder als entscheidender Mann auf der Spielfläche.

Die wichtige Mittlerrolle wird dem Ägypter gefallen. Wobei Mubarak niemals Zweifel daran gelassen hat, wie er, aber auch sein Geheimdienstminister und Hamas-Unterhändler Omar Suleiman zu den Militanten stehen: Der s kulare Pragmatiker lehnt den politisierten Islam aus tiefstem Herzen ab. Mubarak sieht die Zukunft der arabischen Welt in halbwegs säkularisierten Staaten wie Ägypten. Der Luftwaffenchef im israelisch-arabischen Krieg von 1973 dürfte sogar begrüßen, dass die Hamas von der israelischen Armee militärisch und politisch in die Zange genommen wird. Ihm selbst kommt das innenpolitisch und außenpolitisch zugute: Die wichtigste Oppositionsgruppe in Ägypten sind die Muslim-Brüder. Die wiederum sind die Mutterorganisation der Hamas. Mubarak aber geht seit Monaten rücksichtslos gegen die bei Parlamentswahlen erfolgreichen Islamisten vor.

Ein Erfolg der Hamas im Kampf gegen Israel wäre eine Niederlage für Mubarak und andere gleichgesinnte Führer in arabischen Staaten wie Saudi-Arabien oder Jordanien. Sie alle haben ein enges Verhältnis zu den USA, und sie sehen in der islamistischen Opposition eine Gefahr für ihre eigene Herrschaft. Zudem betrachten sie die Hamas als Handlanger der feindlichen Nahost-Fraktion: der Allianz aus Iran, Syrien und der libanesischen Hisbollah-Miliz. Das haben die konservativen arabischen Staaten wie Ägypten mit den Israelis gemeinsam: Der brutale Schlag gegen die Hamas in Gaza ist auch eine unmissverständliche Warnung an diese Allianz.

Ägypten fürchtet die offenkundigen Hegemonialbestrebungen der Iraner ebenso, wie Saudi-Arabien dies tut. Auch die kleinen Golf-Staaten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Qatar, Bahrein und Oman, haben kein Interesse an einem iranischen Machtzuwachs in Nah- und Mittelost. Das umstrittene iranische Atomprogramm steht sinnbildlich für den Machtanspruch der Perser, den die Araber fürchten. Mit seiner Schlüsselrolle in der Gaza-Krise kann Mubarak aber nun Ägypten aufwerten. Der außenpolitische Einfluss des größten arabischen Staates hatte in den vergangenen Jahren abgenommen. Das Problem der durchlässigen Gaza-Grenze und der geschmuggelte Waffen, die Kairos Polizei mit dem nötigen politischen Willen schon seit Jahren hätte in den Griff kriegen können, war immer auch eine Trumpfkarte für Mubarak. Jetzt kann er sie zur Aufwertung der Rolle Ägyptens nutzen.

Gleichwohl bleibt die Grenze bei Rafah auch für den Fall der Einrichtung einer internationalen Kontrollmission ein Problem für Mubarak: Der Schmuggel ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für den armen Nord-Sinai; es geht um Millionen. Die Bevölkerung, die auf der ägyptischen Seite der Grenze aus Beduinen und Palästinensern besteht, liegt mit der Regierung in Kairo ohnehin in einer Dauerfehde. Würde der Schmuggel nach Gaza strikt unterbunden, könnte das zu neuem Unmut bei den Einheimischen führen. Zudem muss der ägyptische Staatschef strikt vermeiden, mittels eines neuen Grenzregimes von den Israelis indirekt die politische und wirtschaftliche Verantwortung für die 1,5 Millionen Gaza-Palästinenser zugeschoben zu bekommen. Israel wäre es nur allzu recht, das Problem Gaza loszuwerden. Und der Taktiker Mubarak hätte am Ende die gefürchteten Hamas-Islamisten fast schon im eigenen Land. (Seite 4)

Israel würde die Verantwortung für die Menschen in Gaza gern an Ägypten abgeben

Trauer vor dem Haus, in dem Said Siam starb: Der Hamas-Minister kam bei einem israelischen Agriff auf Gaza um. Tausende kamen zu seiner Beerdigung.AFP

Mubarak, Mohammed Hosni Außenpolitik Ägyptens Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Schmuggeltunnel zwischen Gaza und Ägypten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wenn einer eine Geschäftsreise tut

Heute ein Meeting in München, morgen ein Treffen in Triest: Vielflieger schmälern die Ökobilanz

Von Georg Etscheit

Ein gutes Vorbild sieht anders aus. Mit viel Tamtam hatte die Bundesregierung angekündigt, ihre Dienstreisen klimafreundlicher zu gestalten. Viel ist seither nicht passiert; das im Haushalt bereitgestellte Geld ist bisher nicht abgerufen worden. Private Unternehmen sind da oft schon weiter. Etwa der Produzent von Babynahrung Hipp aus dem bayerischen Pfaffenhofen. Dort gehört es längst zur Firmenphilosophie, wo immer möglich auf Dienstreisen zu verzichten oder sie durch virtuelle Treffen in Form von Video- und Telefonkonferenzen zu ersetzen. "In den vergangenen Jahren konnten wir 40 bis 50 Prozent aller Dienstfahrten einsparen", sagt Bernhard Hanf, der Umweltkoordinator des Familienunternehmens.

In Zeiten der Globalisierung sind immer mehr Menschen beruflich auf Achse. Die Zahl der Dienstreisen steigt kontinuierlich. Im vergangenen Jahr registrierte der Verband Deutsches Reisemanagement (VDR) in inländischen Unternehmen ab zehn Mitarbeiter rund 167 Millionen Dienstreisen. 2004 waren es erst 146 Millionen Fahrten. Die auf Dienstreisen gefahrenen oder geflogenen Kilometer übersteigen die Urlaubsreisen bei weitem. 2005 zählte das Bundesverkehrsministerium in Deutschland 149 Milliarden Personenkilometer auf Dienstreisen; Urlaubsreisen fielen mit nur 90 Milliarden Personenkilometern deutlich weniger ins Gewicht.

Die Vielfliegerei und Vielfahrerei ist für Betriebe und öffentliche Institutionen in Zeiten hoher Energiepreise nicht nur ein wachsender Kostenfaktor, sondern belastet auch die Atmosphäre. Immerhin 20 Prozent der klimarelevanten Emissionen kommen nämlich - Tendenz stark steigend - aus dem Verkehrsbereich. Und der sei obendrein "ziemlich veränderungsresistent", sagt Anja Hänel vom Verkehrsclub Deutschland (VCD), dem ökologischen Pendant zum ADAC. Deshalb hat der VCD einen Leitfaden für Unternehmen herausgebracht, mit dessen Hilfe Dienstreisen effizienter und umweltfreundlicher gestaltet werden können. Neben schädlichen Emissionen und Kosten schone das im Zeitalter der Staus und Warteschleifen auch die Nerven der Reisenden, sagt Hänel.

Erster Anknüpfungspunkt im Unter-nehmen ist die Organisation der Arbeitsprozesse. "Besonders im Kundendienst lassen sich viele Reisen von Technikern einsparen", sagt Hänel. Etwa mit Kameras, die in Maschinen eingebaut sind und es erlauben, den Spezialisten in der Zentrale ein Bild der Situation am Ort zu vermitteln. Über eine Telefonhotline können dann Techniker aus der Ferne angeleitet werden.

Immer mehr Unternehmen mit über die ganze Welt verteilten Firmenstandorten - Hipp hat neben seinem Firmensitz in Bayern noch Dependancen in Österreich, Ungarn und Kroatien - nutzen moderne Videokonferenztechniken. Damit könnten vor allem regelmäßige Routinetreffen und Dienstbesprechungen ersetzt werden, sagt Hänel. "Wir haben damit bei kleineren Meetings und Absprachen sehr gute Erfahrungen gemacht", bestätigt Hipp-Umweltkoordinator Hanf. Für Erstkontakte mit Kunden oder komplexe Schulungen sei aber die physische Anwesenheit der Teilnehmer nach wie vor notwendig. Ähnlich beurteilt das die Hamburger Otto Group, das größte Versandhaus der Republik. Videokonferenzsysteme seien umso erfolgreicher, je besser sich die Teilnehmer persönlich vorher kennengelernt hätten, sagt ein Firmensprecher.

Schließlich empfiehlt der VCD-Leitfaden den Unternehmen, das Reisemanagement zu optimieren. "Viele Termine lassen sich sehr gut bündeln", sagt Hänel. Hipp-Umweltkoordinator Hanf macht das schon seit langem. Im Intranet kann man sich bei dem Unternehmen Partner für eine Fahrgemeinschaft suchen. Größere Konferenzen finden nicht unbedingt am ländlichen Firmensitz, sondern an zentralen Orten statt. Die jährliche Zusammenkunft der Außendienstmitarbeiter der Firma Hipp wird immer in Kassel abgehalten. "Das liegt mitten in Deutschland und ist mit der Bahn optimal erreichbar", sagt Hanf. Generell gilt bei dem Babynahrungshersteller: Dienstreisen, wenn möglich, mit dem Zug. Dann kommt das Auto, am besten in Form von Fahrgemeinschaften, dann der Flieger.

Die Videokonferenztechnik hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Heute gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten, sich virtuell kurzzuschließen - von der billigen Web-Lösung mittels Laptop plus eingebauter Minicam und schlechter Bildqualität bis zur kostspieligen High-End-Lösung eines "Telepräsenzsystems". Die Systeme seien nicht nur komfortabel, sondern auch in puncto Abhörsicherheit auf dem neuesten technischen Stand, betont Vito Caime, Produktmanager der Frankfurter Firma MVC Mobile VideoCommunication GmbH (MVC), die den Energiekonzern Vattenfall, die Deutsche Börse oder den Optikhersteller Olympus mit modernster Videokonferenztechnik ausgerüstet hat. "Die Investition rechnet sich nach ihrer Integration in die Unternehmensabläufe schon nach weniger als einem Jahr." (Ein Kalkulator findet sich auf der mvc-Website www.mvc.de oder unter www.roi-rechner.com).

Bei dieser Rechnung ist zu bedenken, dass die reinen Übertragungskosten durchaus nicht zu vernachlässigen sind und schon mal die Reisekosten der Teilnehmer übersteigen können, vor allem, wenn Billigflüge gebucht werden. "Berücksichtigt man aber auch die entgangene oder weniger effektiv genutzte Arbeitszeit der Reiseteilnehmer, ist die Videokonferenz meistens billiger", heißt es auf der Homepage der Klimaschutz-Organisation Atmosfair.

Fürs Umwelt und Klima gilt: Je länger der Anreiseweg, desto besser sind virtuelle Treffen. Eine Studie der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) kommt zu dem Ergebnis, dass es bei Entfernungen unter 200 Kilometern umweltfreundlicher ist, einen einzelnen Teilnehmer mit dem Zug anreisen zu lassen als eine Videoschaltung aufzubauen. Bei zwei Reisenden reduziere sich die Maximaldistanz auf 100 Kilometer. Bei weiteren Distanzen oder mehr Anreisenden - etwa bei Konferenzen oder Tagungen - seien virtuelle Meetings "dann bereits um ein Vielfaches umweltverträglicher als reale".

Fritz Reusswig vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), der für die Deutsche Telekom eine entsprechende Studie erstellt hat, schätzt, dass bis 2025 etwa 50 Prozent aller Dienstreisen durch moderne Konferenztechniken ersetzt werden könnten. Der Ersatz "physischer durch virtuelle Mobilität" habe durchaus das Potential, den Geschäftsreiseverkehr und damit schädliche Auswirkungen auf das Weltklima zu verringern.

Wenn sich die Teilnehmer persönlich kennen, laufen

Videokonferenzen besser

Bis 2025 könnten virtuelle Besprechungen die Hälfte aller Dienstfahrten ersetzen

In Zeiten der Globalisierung gehen immer mehr Menschen beruflich auf Reisen. Das schadet der Umwelt und kostet Geld. Dabei lassen sich viele Besprechungen ohne weiteres per Videokonferenz erledigen. Foto: F1online

Geschäftsreisen Umweltschutz im Betrieb SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kriegsverbrecher wieder frei

Russischer Oberst überraschend begnadigt

Von Frank Nienhuysen

Moskau - Der wegen Mordes an einer 18 Jahre alten Tschetschenin verurteilte russische Oberst Jurij Budanow ist nach seiner Begnadigung vorzeitig aus dem Gefängnis in Uljanowsk freigekommen. Budanow, ehemaliger Kommandeur eines Panzerregiments, hatte Elsa Kungajewa im März 2000 in der Nacht festnehmen lassen und bei einem Verhör erwürgt. Die Leiche wurde anschließend in einem Wald verscharrt. Ein Militärgericht in Rostow sprach den Offizier zunächst wegen zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit frei; vermutlich aufgrund großen politischen Drucks wurde das Urteil jedoch aufgehoben und der Angeklagte erhielt 2003 eine zehnjährige Haftstrafe. Internationale Aufmerksamkeit erregte der Fall deshalb, weil Budanow der erste hochrangige russische Militärangehörige war, der wegen eines Verbrechens im Tschetschenien-Krieg belangt wurde. Er selber hatte stets behauptet, Kungajewa sei eine Heckenschützin der tschetschenischen Rebellen gewesen.

Das Gericht verfügte die Begnadigung bereits im Dezember und begründete dies damit, dass Budanow mehr als fünf Jahre inhaftiert gewesen sei und sich tadellos verhalten habe. Außerdem bereue er die Tat. Vor zwei Jahren war einer von mehreren Anträgen auf vorzeitige Entlassung noch abgelehnt worden, weil das Gericht aufgrund eines Berichts der Lagerleitung damals noch keine Besserung des Häftlings erkennen konnte. In Tschetschenien protestierten nach Bekanntgabe der Begnadigung zahlreiche Menschen.

Der Anwalt der Opfer-Familie kritisierte die Entscheidung des Gerichts als illegal und legte Berufung ein; diese sei nach seinen eigenen Angaben jedoch abgelehnt worden. Der Vater der getöteten Tschetschenin, Wisa Kungajew, sagte, Budanow habe sich seine Freilassung mit Unterstützung "hilfreicher Freunde gesichert". Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow erklärte nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax, er glaube nicht an die Reue eines Mannes, der ein solches Verbrechen begangen habe.

Viele Tschetschenen, so der Ombudsmann für Menschenrechte Nurdi Nuchaschijew, sehen in der Begnadigung Budanows ein Symbol für "Doppelstandards in der russischen Justiz und den Hass der Russen auf die Tschetschenen". Er glaubt sogar, dass es eine ausreichende Grundlage dafür gebe, den Offizier wegen weiterer Vergehen vor Gericht zu bringen. Russische Nationalisten sehen dagegen in Budanow einen Helden.

Budanow, Jurij: Rechtliches Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenienkrieg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Jobcoach

Schnell, aber keine guten Referenzen

SZ-Leser Kai H. schreibt:

Ich bin 26 Jahre alt und habe erst an

der Fachhochschule Betriebswirtschaft

und danach an der Uni Wirtschaftsrecht studiert und will ins Personalwesen. Weil ich beide Studiengänge so schnell wie möglich durchziehen wollte, habe ich auf Praktika verzichtet. Offenbar war das ein Fehler, denn trotz zahlreicher Bewerbungen habe ich nach meinem Abschluss nur einen auf ein Jahr befristeten Vertrag als Vermittler bei der Arbeitsagentur bekommen. Die

Unternehmen, bei denen ich mich bewerbe, scheinen diese Referenz aber nicht so toll zu finden. Habe ich mir selbst ein Bein gestellt?

Christine Demmer antwortet:

Lieber Herr H., das sehe ich nicht so.

Es kommt ganz darauf an, wie Sie Ihren Einstand in der Arbeitswelt im Lebenslauf darstellen und wie Sie diese Etappe im Vorstellungsgespräch erkl ren. Wenn Sie sich innerlich zusammenfalten und mit gedrückter Stimme damit herausrücken, dass Sie außer dieser überhaupt keine Stelle bekommen hätten, dann tun Sie weder sich noch der Arbeitsagentur geschweige denn deren Kunden einen Gefallen. Denn was das bedeuten würde, können Sie sich selbst ausrechnen: Hier arbeitet man nur im äußersten Notfall, wenn sonst gar nichts mehr geht. Und das stimmt nicht. Es gibt ganz sicher ebenso viele engagierte und leidenschaftliche Arbeitsvermittler wie in allen anderen Berufen. Vielleicht sehen Sie das anders. Aber Sie wollen sich ja ohnehin anderweitig umsehen.

Ich weiß übrigens gar nicht, warum man einem angehenden Personaler gerade aus dieser beruflichen Station einen Strick drehen könnte. Im Gegenteil: Wer die Motivation von Menschen erfragt und hinterfragt, Lebensläufe studiert, mit vielen Arbeitgebern gesprochen und sich dann bemüht hat, einen möglichst stabilen Arbeitsplatz für einen Arbeitslosen zu finden, dürfte einen guten Einblick in die angewandte Wirtschaft und in die psychosoziale Welt eines Stellensuchenden gewonnen haben. Ich finde, das steht einem Personalfachmann ebenso gut zu Gesicht wie die einschlägige Kenntnis des Arbeitsrechts, die steuerliche Berechnung von Firmenwagen und die Möglichkeiten der betrieblichen Altersversorgung. Insofern gleicht diese berufliche Etappe zu einem guten Stück ihre fehlenden Praktika aus. Gut, nun kennen Sie die eine Seite. Ist doch logisch, dass Sie jetzt deren Gegenstück, also die betriebliche Personalarbeit kennenlernen wollen, und zwar mit Begeisterung, nicht wahr? So würde ich denken. Und Sie können damit argumentieren.

Haben Sie auch eine Frage zu Beruf und Karriere? Schicken Sie ein paar Zeilen an Christine Demmer. Sie beantwortet ausgewählte Briefe an dieser Stelle, selbstverständlich anonymisiert. (coaching@ sueddeutsche.de)

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Auf der Bahn, aus der Bahn

Holzrodel sind angesagt: Wie der Deutsche Meister im Naturbahnrodeln am Tegernsee seine rasanten Gefährte baut

Das Eis spritzt durch die Luft, wenn sich Marcus Grausam richtig in die Kurve legt. Mit gemütlichem Schlittenfahren hat das, was der 32-Jährige an seinen Wochenenden macht, nichts mehr zu tun: Bis zu 90 Kilometer pro Stunde erreicht der amtierende Deutsche Meister im Naturbahnrodeln, wenn er richtig in Fahrt ist. "Fehler sollte man da keine machen", sagt er, "sonst prallt man mit voller Wucht gegen die senkrechte Holzbande." Das passiert zwar öfter, erzählt Grausam unaufgeregt, "aber wir sind hart im Nehmen". Der Rodelsport bestimmt sein ganzes Leben: Wenn er sich nicht gerade selbst in die Kurve legt, steht er in seiner Werkstatt in Kreuth nahe des Tegernsees und baut Schlitten. Keine Renn-, sondern Freizeitrodel allerdings. Für sein eigenes Profigerät, das er ebenfalls selbst gebaut hat, wäre der Markt nicht groß genug.

Die Nachfrage nach Freizeitrodeln wird dagegen immer größer: Vor allem an den Wochenenden ist in den Bergen nicht mehr nur in den Skigebieten viel los. Seit Jahren boomt der Schlittenmarkt. Grausam ist dabei einer der wenigen Rodelbauer, die ihre Gefährte komplett selbst und in Handarbeit fertigen. Damit trifft der gelernte Schreiner einen Nerv der Zeit: Die unvermeidlichen Plastikrutschen werden von soliden Holzrodeln mittlerweile klar abgedrängt.

Zum Rodelsport kam Grausam, weil er als Kind eine der besten Bahnen genau vor seiner Haustür hatte. In Stuben am Achenpass erlebte er 1984 seine erste Weltmeisterschaft - noch als Zuschauer. Später rodelte er im Eiskanal am Königssee, hörte aber bald wieder auf damit: "Da muss man zu wenig arbeiten", sagt er. Beim Naturbahnrodeln dagegen rasen die Sportler auf steilen und vereisten Forstwegen den Berg hinunter und müssen dabei tatsächlich ganz schön arbeiten, sprich mit vollem Körpereinsatz bremsen und lenken. 1992 nahm er zum ersten Mal am Weltcup teil, seitdem hat er ihn einmal gewonnen, acht Mal wurde er bisher Deutscher Meister.

2003 machte er aus seinem Sport einen Beruf und begann mit der Rodelkonstruktion. An seinen Gefährten ist kein Teil, über das er sich nicht lange Gedanken gemacht, an dem er nicht immer wieder gefeilt und optimiert hätte. Er wählt das Holz, ausnahmslos Esche, selbst aus - bei Bauern der Region oder aus Franken und lässt es zwei Jahre zum Trocknen lagern. In seiner Kreuther Werkstatt verleimt er dann die Leisten für Kufen und Holme und presst sie in einer selbst konstruierten Verleimpresse in die richtigen Biegungen. "Dabei sind gerade die kleinen Arbeiten manchmal wahnsinnig zeitaufwändig", schildert er. Allein 18 Arbeitsgänge sind zum Beispiel nötig, damit aus einem Holzklotz das Verbindungsstück von den Kufen zur Bank wird - dementsprechend klein ist die Stückzahl der gefertigten Schlitten.

Um die 300 Rodel baut Grausam jedes Jahr unter seiner Marke German Luge - so heißt Naturbahnrodeln unter Profis. Dass das kaum jemand weiß, merkte Grausam erst hinterher: "Jetzt rufen die Leute bei mir an und fragen nach Herrn Luge." Der Clou an den Rodeln ist, dass sie ausgesprochen gut lenkbar sind: Die aufgesetzten Metallkufen sind in einem genau definierten Winkel angebracht, der eine Steuerung möglich macht; einzelne Schrauben sind nicht festgezogen, damit der Rodel flexibel und damit steuerbar bleibt.

Das Lenken ist nach der Beschreibung des Meisterrodlers Grausam "ganz einfach": Für eine Linkskurve drückt der rechte ausgestreckte Fuß vorne gegen den Rodelholm, der linke bleibt ganz locker. Gleichzeitig zieht man mit der rechten Hand an der Schlittenschlaufe die Innenkufe nach oben und zieht mit der linken elegant durch den Schnee. "Wenn man generell schneller unterwegs ist, kann man außerdem die Sitzdecke meiner Rodel absenken", erklärt Grausam. Dadurch rutscht der Rodler zwischen die Seitenholme - und sitzt fast so sicher wie auf einem Profigerät. Dafür sind die Rodel aber nicht billig: Grausam fertigt je nach Körpergröße und Verwendungszweck unterschiedliche Längen, wobei der kleinste mit 95 Zentimetern schon 175 Euro kostet.

Neben seinen vielen Wettkämpfen hat Grausam kaum noch Zeit, seine Freizeitrodel selbst zu fahren. Wenn, dann ist die Kreuther Klamm seine Lieblingsstrecke.

Um bei seinen Geschwindigkeiten mithalten zu können, braucht es neben Mut aber auch eine ganze Menge Training. Das merkten zwei Koreaner, die sich seit kurzem im Internationalen Rodelverband zu etablieren versuchen. Als sie die Sportler über die steile und vereiste Bahn rasen sahen, gingen sie dann doch lieber wieder auf die Zuschauertribüne. Birgit Lutz-Temsch

Alles in Handarbeit: Marcus Grausam baut in seiner Kreuther Werkstatt 300 Holzrodel im Jahr, die fast Profiqualität haben. Foto: Andreas Heddergott

Rodeln SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Wir schaffen es nicht"

Pilot spricht über die Notlandung in New York - Airbus geborgen

Nach der spektakulären Notlandung eines Airbus im Hudson in New York haben Taucher am Wochenende die Maschine aus dem eiskalten Wasser gehoben und die beiden Flugschreiber geborgen. Die Bergung war durch Kälte und Eis erschwert worden, bei einer Lufttemperatur von minus 15 Grad trieben am Samstagmorgen Eisschollen auf dem Hudson. Ein Kran hievte die Unglücksmaschine aus dem Fluss. Im Flutlicht waren die Schäden zu sehen, die der Aufprall auf dem Wasser verursacht hat: Die Spitze der rechten Tragfläche ist abgebrochen, aus dem Rumpf ragen Kabel und zerfetzte Metallteile, und die vordere Tür ist abgerissen.

Die Aufzeichnungsgeräte aus der Maschine wurden nach Angaben der New York Times in eisgekühlten Spezialbehältern zur Analyse nach Washington gebracht. Eines der beiden Triebwerke fehlte am Sonntag zunächst noch. Taucher hatten nach Angaben der Verkehrssicherheitsbehörde NTSB mit Sonargeräten eine mögliche Fundstelle geortet. Das zweite Triebwerk befand sich entgegen früheren Angaben noch an der Maschine. Nach der Bergung sollte der Airbus zur weiteren Untersuchung ins benachbarte New Jersey gebracht werden.

Von der Untersuchung des Triebwerks sowie der Auswertung der Flugschreiber erhoffen sich die Ermittler Aufschluss zur genauen Ursache des Unglücks. Der Pilot Chesley Sullenberger hatte sich am Donnerstag im Bruchteil einer Sekunde zur Notwasserung auf dem Hudson entschlossen, nachdem eine Kollision mit Vögeln beide Triebwerke beschädigt hatte. Alle 155 Menschen an Bord des Airbus A320 überlebten die harte Landung.

Eine Rückkehr zum Flughafen LaGuardia hätte zu einer Katastrophe in einer dicht besiedelten Wohngegend führen können, sagte Sullenberger den Ermittlern. Er habe rasch bemerkt, dass er "zu niedrig, zu langsam" gewesen sei, um noch die Landebahn in Teterboro in New Jersey zu erreichen, erklärte der ehemalige Kampfpilot. "Wir schaffen es nicht. Wir werden im Hudson landen", gab der Kapitän an den Tower durch.

Der künftige US-Präsident Barack Obama würdigte die Notwasserung als "heldenhaften und tollen Job". Obama versicherte dem Piloten am Freitag in einem fünf Minuten langen Telefonat, dass jedermann sehr stolz auf seine Leistung sei. Die New Yorker Stadtverwaltung und die Wasserwacht stellten Videos von der Landung zur Verfügung.

SZ

Komplizierte Bergung: Eisschollen und niedrige Lufttemperaturen erschwerten das Heben des verunglückten Airbus aus dem Hudson in New York. Bei der Notwasserung am Donnerstag hatten alle 155 Passagiere überlebt. Foto: Reuters

Airbus-Unglücke Flugzeugunglücke in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Litauer protestieren gegen ihre Regierung

Vilnius - Wenige Tage nach den gewalttätigen Demonstrationen in der Baltenrepublik Lettland sind im benachbarten Litauen etwa 7000 Menschen auf die Straße gezogen. Sie versammelten sich am Freitag in der Hauptstadt Vilnius, um gegen den Sparkurs der Regierung zu protestieren. Hunderte Demonstranten warfen Rauchbomben, Schneebälle, Steine und Eier auf das Parlamentsgebäude, dabei gingen ein Fenster und Autoscheiben zu Bruch. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein. , um die Menge zurückzudrängen. Zwei Menschen wurden verletzt. Die Kundgebung richtete sich gegen den Sparkurs der Mitte-rechts-Regierung von Ministerpräsident Andrius Kubilius. Diese will die Gehälter im öffentlichen Dienst um bis zu 15 Prozent kürzen und die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt auf 19 Prozent anheben. In diesem Jahr wird in Litauen ein Wachstumsrückgang von 4,8 Prozent erwartet. Präsident Valdas Adamkus forderte einen "normalen, ruhigen Dialog" zwischen Bürgern und Regierung. (Seite 4) AFP

Vilnius

- Wenige Tage nach den gewalttätigen Demonstrationen in der Baltenrepublik Lettland sind im benachbarten Litauen etwa 7000 Menschen auf die Straße gezogen. Sie versammelten sich am Freitag in der Hauptstadt Vilnius, um gegen den Sparkurs der Regierung zu protestieren. Hunderte Demonstranten warfen Rauchbomben, Schneebälle, Steine und Eier auf das Parlamentsgebäude, dabei gingen ein Fenster und Autoscheiben zu Bruch. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein. , um die Menge zurückzudrängen. Zwei Menschen wurden verletzt. Die Kundgebung richtete sich gegen den Sparkurs der Mitte-rechts-Regierung von Ministerpräsident Andrius Kubilius. Diese will die Gehälter im öffentlichen Dienst um bis zu 15 Prozent kürzen und die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt auf 19 Prozent anheben. In diesem Jahr wird in Litauen ein Wachstumsrückgang von 4,8 Prozent erwartet. Präsident Valdas Adamkus forderte einen "normalen, ruhigen Dialog" zwischen Bürgern und Regierung. (Seite 4)

Regierungen Litauens SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gewaltexzess in der Werkstatt

Zwei Rechtsradikale sollen in Templin einen Saufkumpanen erschlagen haben - vor Gericht geht es auch um die Gesinnung der Täter

Von Constanze von Bullion

Berlin - Es wird ein Prozess, der in eine Lebenswelt führt, die viele nur vom Wegschauen kennen. Sie befindet sich am unteren Rand der ostdeutschen Gesellschaft, wo Obdachlose hausen, Alkoholiker, Rechtsextremisten und junge Leute, mit denen sich zuhause schon lange keiner mehr befasst. Manche von ihnen dürften Mühe haben, vor Gericht einen klaren Satz herauszubringen, denn nach elf Uhr vormittags sind sie in der Regel sturzbetrunken. Andere trinken nicht ganz so viel, aber haben das Sprechen nie gelernt und so ihre eigenen Formen der Kommunikation.

Sven P. und Christian W. gehören wohl zu ihnen, ab Montag müssen sie sich vor dem Landgericht Neuruppin wegen gemeinschaftlichen Mordes verantworten. Es geht um eine Tat, die sich vergangenen Juli im brandenburgischen Templin abgespielt hat und so brutal war, dass sie weit über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen sorgte. Sven P., der 19 Jahre alt war, soll mit dem 21 Jahre alten Christian W. einen stadtbekannten Alkoholiker so lange gegen den Kopf getreten haben, bis der 55-Jährige tot war. Dann sollen die beiden vorbestraften Rechtsextremisten die Leiche mit Brandbeschleuniger übergossen und angesteckt haben.

Der Bürgermeister von Templin behauptete damals, es gebe keine rechte Szene in der Stadt, das hat ihm einigen Ärger eingebracht. Die Staatsanwaltschaft hat die politische Einstellung der Angeklagten sogar ins Zentrum des Verfahrens gerückt. "Die Anklage geht davon aus, dass die Täter entsprechend ihrer rechten Gesinnung das Opfer verachtet haben, weil es Hartz IV bezog und im Obdachlosenheim gelebt hatte", sagte die Sprecherin des Landgerichts vor Prozessbeginn. Weil dies als niederer Beweggrund gilt, wird auf Mord angeklagt.

Dass die Angeklagten sich zu den Vorwürfen äußern, steht eher nicht zu erwarten. Zu Wort kommen werden also vor allem die anderen, Uwe Liem zum Beispiel, ein Mann mit Rübezahlbart und wilden Tatoos, der einen guten Teil seines Lebens im Gefängnis verbracht hat. In der Nacht zum 22. Juli 2008 saß er im Obdachlosenheim von Templin, wo er lebt, und trank Bier mit Christian W., dem Sohn eines arbeitslosen Fleischers. Bei der Polizei ist Christian W. bestens bekannt, weil er schon als Kind geklaut hat, Keller anzündete, im Knast landete und nicht nur schnell zuschlägt, sondern sich auch mit Neonazis herumtreibt.

Mit am Tisch sitzt in jener Nacht auch das spätere Opfer: Bernd K., ein kleiner Kerl mit rotem Bart, in der Stadt nennen sie ihn "Stippi". Er kann keiner Fliege etwas zuleide tun, sagen die Leute, aber mit der Familie hat er Krach. Bernd K. hat eine Frau, zwei Töchter und ein Haus, aber er trinkt, bis alles den Bach hinunter geht. Mal schläft er jetzt bei den Obdachlosen, mal in einer vergammelten Werkstatt, die er geerbt hat. In der Tatnacht soll er Christian W. vom Obdachlosenheim dorthin mitgenommen haben.

Uwe Liem, der mit dem Rauschebart, war zu diesem Zeitpunkt wohl schon im Bett, dafür gesellt sich ein anderer Saufkumpan zu den beiden: Sven P., ein blasser junger Schulabbrecher mit Brille, der wegen diverser rechtsextremistischer Übergriffe zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Mal schlug er einen Passanten mit einem Teleskopstock und beschimpfte ihn als "Juden", mal belagerte er mit 30 anderen eine Kneipe, weil da einer mit dunkler Haut arbeitete.

Am Abend vor der Tat soll Sven P. auf dem Markplatz von Templin mal wieder mit "Sieg-Heil"-Rufen aufgefallen sein. Für die Staatsanwaltschaft ist dieses Detail neu - und nicht ganz unwichtig. Denn während unstrittig ist, dass beide Angeklagten zur rechtsextremistischen Szene von Templin gehören, muss sich vor Gericht noch erweisen, ob ihre politische Gesinnung auch tatsächlich die Motivation der Tat war.

Laut Anklage trinken Christian W. und Sven P. zwar Bier mit Bernd K., verachten ihn aber als "Penner". In der alten Werkstatt soll es dann zum Streit gekommen und Bernd K. zu Boden gegangen sein. "Insbesondere der Angeklagte P. soll auf den am Boden Liegenden mit großer Wucht im Kopfbereich eingetreten haben", sagt die Sprecherin des Landgerichts Neuruppin. Als Uwe Liem am Morgen seinen Saufbruder Bernd K. in dessen Werkstatt besuchen wollte, lag der mit zertrümmertem Schädel in einer Blutlache, die Wände seiner Werkstatt waren mit Blut bespritzt, Ermittler sprachen von einem "Gewaltexzess".

Ob es dem Gericht gelingt, seine Ursachen zu erklären, wird auch von Stephanie Z. abhängen. Sie ist 17 Jahre alt und ist in einem ärmlichen Plattenbau am Stadtrand aufgewachsen, in dem man viele eingetretene Haustüren sieht und auf betrunkene Mütter und Nachbarn trifft, von denen kaum noch einer Arbeit hat.

Stephanie Z. soll auf eine Sprachheilschule gegangen sein und war mit Christian W. zusammen. Am Morgen nach dem Mord soll er in ihrer Küche mit Sven P. über die Tat gesprochen haben. Sie hat das dann gleich der Bildzeitung erzählt, erst daraufhin wurden die beiden Angeklagten festgenommen. Ob Stephanie Z. noch einmal so freimütig sprechen wird, ist ungewiss. Nach ihrem Auftritt in der Zeitung hielt sie sich bei ihrer Mutter versteckt, es hieß, sie werde von Rechtsextremisten bedroht.

Rechtsextremistische Straftaten in Deutschland Mordfälle in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der erste seiner Art

Vor 25 Jahren wurde der Macintosh-Rechner vorgestellt - ohne ihn hätte die Branche sich anders entwickelt

Nach einem Vierteljahrhundert auf dem Markt gibt es für Apple-Macintosh-Computer wenig Grund für düstere Gedanken. Schade eigentlich. Man könnte sonst für die Geburtstagsrede schamlos das Rezept von Frank Capras klassischem Kitschfilm "Ist das Leben nicht schön?" kopieren. Darin steht der verzweifelte Wohltäter vor dem Selbstmord, bis ihm ein Engel zeigt, wie die Welt ohne ihn ausgesehen hätte: grau, kalt, chaotisch.

Andererseits ist der Gedanke zu schön, ihn aufzugeben, bloß weil sich Apple trotz der Auszeit des Übervaters Steve Jobs nicht in einer Krise befindet und keine Rettung braucht. Selbst auf die Gefahr hin, das nicht unbeträchtliche Ego der Manager im Firmensitz Cupertino zu bedienen, sei hier also die Frage gestellt: Wie hätte die Welt ohne den Apple Macintosh ausgesehen? Dabei sei ein wenig künstlerische Freiheit gestattet, zumindest bei der Interpretation der Fakten. Wo es hier in Sachen Apple zu arg wird, meldet sich die Stimme des Gewissens.

Zuerst die Fakten. Angekündigt durch einen legendären Fernsehspot kam am 24. Januar 1984 der erste Apple Macintosh auf den Markt. Es war ein kleines, beiges Kistchen mit Schwarzweiß-Monitor und Diskettenlaufwerk, 128 Kilobyte Arbeitsspeicher, acht Megahertz Prozessortakt, ohne Festplatte und Gebläse zur Kühlung, mit einer klobigen Tastatur und einer Maus mit nur einer Taste. Preis: 2500 Dollar oder etwa 4000 Mark. Seither hat Apple der Computer-Industrie immer wieder durch Innovationen die Richtung vorgegeben. Was also wäre ohne den Macintosh aus der Branche geworden?

Zeilenweise kryptische Befehle

Ohne diesen Apple wäre der Computer an sich heute kein Gerät, das auf nahezu jedem Schreibtisch steht, das Kinder und Rentner sicher bedienen können und das ihnen den Zugang zu einem weltweiten Datennetz öffnet. Vor dem Ur-Macintosh nämlich musste der Benutzer seinem Computer zeilenweise kryptische Befehle eintippen. Der Apple hingegen hatte eine grafische Benutzeroberfläche. Der Bildschirm erinnerte an einen Schreibtisch, auf dem Dokumente lagen. Die Maus bewegte einen Zeiger auf dem Monitor, auf Klicks öffneten sich die Dokumente in eigenen Fenstern und konnten bearbeitet werden. Die Fenster legten sich zwanglos übereinander wie verschiedene Blätter Papier auf dem realen Schreibtisch. Wer eine Datei an anderem Ort speichern wollte, fasste sie mit dem Mauszeiger an und schob sie in den Zielordner; zum Löschen bugsierte man sie in den Papierkorb.

Das erscheint heute banal, damals war es revolutionär. Apple hatte mindestens ein Jahr Vorsprung bei Rechnern, die auf den Konsumenten-Markt zielten. 1985 kamen Computer von Atari und der Commodore Amiga mit grafischer Bedienung heraus, erst 1990 schaffte Microsoft mit Windows-Version 3 etwas halbwegs Vergleichbares. Daher muss die Stimme des Gewissens einräumen: Auch ohne den Macintosh gäbe es heute wohl Computer mit Maus, Ordnern und Papierkörben. Entscheidend an der Entwicklung beteiligt waren schließlich kluge Köpfe der Stanford University und des benachbarten Xerox-Parc-Forschungszentrums in Palo Alto, Kalifornien. Irgendwann wäre Apples Konkurrenz von allein draufgekommen. Doch es war eben Steve Jobs, der die Entwicklung als Erster auf einen Konsumenten-Computer übertrug.

Die Einführung des Macintosh hatte noch auf anderem Wege entscheidenden Einfluss auf die Computerindustrie: über den Werbespot. Er lief nur ein einziges Mal regulär im Fernsehen, in der Pause des "Superbowl", des Football-Endspiels am 22. Januar 1984. Starregisseur Ridley Scott hatte die 60 Sekunden für 900 000 Dollar gedreht. Eine Athletin hetzt darin durch eine graue Welt, in der gleichgeschaltete Menschen der Botschaft eines Diktators zuhören. Die Atmosphäre ist George Orwells Romanklassiker "1984" nachempfunden. Verfolgt von Wachen erreicht die Läuferin den wandgroßen Bildschirm, von dem der Große Bruder dröhnt, und schleudert ihm einen Vorschlaghammer ins Gesicht. Aus dem Off erklärt eine Stimme, mit dem neuen Apple Macintosh werde 1984 eben nicht wie "1984".

Nie zuvor und nie danach hat TV-Werbung ein vergleichbares Echo ausgelöst. Am nächsten Tag sprachen mehr Menschen über den Spot als über das Spiel. Er hat nicht nur die Werbebranche verändert, sondern auch eine Generation von Computer-Experten geprägt. Es war die Generation, die im Silicon Valley in Kalifornien schließlich die digitale Revolution lostrat und die Büroarbeit ebenso wie den privaten Umgang mit Unterhaltungsmedien umgekrempelt hat.

Ohne den Macintosh wüssten heute auch nur Insider, wo Bondi Beach ist. Dieser Strand östlich von Sydney wurde 1998 zum Namensgeber für den Blauton, in dem das durchsichtige Gehäuse des ersten iMac-Computers von Apple schimmerte. (Stimme des Gewissens: Im Jahr 2000 fanden die olympischen Beachvolleyball-Wettbewerbe in Bondi Beach statt, es gibt also eine Quelle für das Wissen, die unabhängig von Apple ist). Mit dem rundlichen iMac übernahm Steve Jobs bei Apple wieder die Macht und zeigte der Welt, dass auch Computer Designobjekte sein können. Plötzlich waren Bonbonfarben für Rechner akzeptabel, später griff Apple zu gebürstetem Aluminium und weißem Kunststoff in Hochglanzoptik. Es unterstrich damit seinen Anspruch, Computer für eine Avantgarde zu bauen.

Diese Zielgruppe bekommt auf ihren Rechnern vorgeführt, was eigentlich möglich ist. Apple stimmt seine Computer und Programme seit dem ersten iMac eng aufeinander ab, weil die Hard- nicht ohne die Software funktioniert und umgekehrt. So ist es möglich, dass ein Apple-Notebook in den Ruhezustand geht, wenn man den Bildschirm zuklappt. So konnte das Betriebssystem Mac OS X der installierten Software unabhängig vom Hersteller zentrale Dienste anbieten wie das Erzeugen von PDFs. Mac-Nutzer haben sich zudem daran gewöhnt, per Knopfdruck einen Überblick aller geöffneten Fenster zu sehen oder in nahezu jede Datei hineinzuschauen, ohne das entsprechende Programm öffnen zu müssen.

Dafür nahm es diese Zielgruppe viele Jahre lang hin, dass es für ihre Computer weniger Software gab als für die längst dominierenden Windows-PCs. Und dass der Austausch von Dokumenten zwischen den Rechnerwelten manchmal Probleme machte und merkwürdige Sonderzeichen in die Dateien brachte, wo vorher Umlaute standen. Diese Mängel begrenzten immer den Verkaufserfolg der Apple-Computer, sind inzwischen aber weitgehend behoben. Übriggeblieben sind Computer, die einfach gut funktionieren. Ohne den Macintosh hätte es diesen Maßstab nicht gegeben, an dem sich die Macken von Microsofts Windows abmessen lassen. Christopher Schrader

Apple-Mitgründer Steve Jobs versah als erster erschwingliche Computer mit einer grafischen Benutzer- Oberfläche. Foto: Getty Images

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Im Hüllenbad

Berliner Badetriebe lassen erstmals muslimische "Burkinis" zu

Berlin - Auf den ersten Blick wirkt der Anzug nicht schwimmtauglich: Mit langen Ärmeln und Beinen, Kapuze und Tunika verhüllt der sogenannte Burkini die Schwimmerin komplett. Für gläubige Musliminnen ist er allerdings das einzige Kleidungsstück, mit dem sie sorglos ins Wasser gehen können. In Berliner Hallenbädern wird der Burkini - eine Kreation aus Burka und Bikini - jetzt erstmals probeweise zugelassen.

Ohne großes Aufsehen und im Einvernehmen mit den Berliner Bäder-Betrieben genehmigte Innensenator Ehrhart Körting im Dezember den zunächst bis Sommer befristeten Versuch. Damit folgte der SPD-Politiker der Praxis auch in anderen Bundesländern. Der Vorstandsvorsitzende der Berliner Bäder-Betriebe, Klaus Lipinsky, sagte, es gebe keine vernünftigen Gründe, den Burkini nicht zuzulassen: "Wir sind eine multikulturelle Stadt. Hier ist ein bisschen Toleranz gegenüber Andersgläubigen gefragt." Gleichzeitig dürfe der Burkini nicht dazu führen, dass Frauen dazu gezwungen würden, diese Ganzkörper-Badebekleidung statt eines normalen Badeanzuges zu tragen. Die Nachteile würden aber schon dann aufgewogen, wenn auch nur ein paar muslimische Mädchen infolgedessen schwimmen lernten, meinte er.

Erfunden wurde der Burkini von einer Tochter libanesischer Einwanderer in Australien, der es wenig Spaß machte, in ihrer Burka ins Wasser zu steigen, denn diese wurde schwer wie Blei, wenn sie sich mit Wasser vollsog. Inzwischen tragen den Burkini in Australien sogar Rettungsschwimmerinnen.

In Berlin setzte sich Nele Abdallah für die Zulassung in Schwimmbädern ein, die die vierteiligen Anzüge über ihre Firma Dressed To Swim vertreibt. Dort gibt es Modelle aus Polyester und Elasthan in verschiedenen Farben und Mustern ab rund 70 Euro. Andere Internetseiten bieten "Slim Fit"-, "Modest Fit"- und "Active Fit"- Schnitte an, je nachdem, wie sehr sie die Silhouette des Körpers verschleiern.

In Berlin wird laut Lipinsky nur zugelassen, was keine Rüschen und Schlaufen hat, in denen sich die Schwimmerin verheddern könnte. Sicherheit und Hygiene sind die obersten Gebote. Das Material muss leicht sein und darf sich nicht wie Baumwolle voll Wasser saugen. Im Juli ließ sich der Vorstand zusammen mit Schwimmmeisterinnen und Fachleuten eine Kollektion vorführen. Sie warfen auch einen Anzug einfach mal ins Wasser, um sich davon zu überzeugen, dass er oben treibt.

Probeweise wird der Burkini nun zunächst in zwei Berliner Hallenbädern zugelassen, nur während der Frauenschwimmzeiten. Stichprobenartig sollen die Bademeisterinnen kontrollieren, ob es sich tatsächlich um einen Badeanzug handelt und nicht um Straßenkleider oder gewöhnliche Sportbekleidung. Das weibliche Personal der Badeanstalten soll sich auch davon überzeugen, dass die Schwimmerin keine Unterwäsche trägt. Hält sie sich nicht an die Vorschriften, kann sie des Bades verwiesen werden. Verläuft der Pilotversuch erfolgreich, soll der Burkini in der Sommersaison auch in den Berliner Freibädern zugelassen werden. AP

Burkini im Einsatz: Musliminnen dürfen nun auch in zwei Berliner Hallenbädern verhüllt schwimmen gehen. Foto: Reuters

Frauen im Islam Schwimmbäder in Deutschland Soziales Leben in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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TECHNIK & TRENDS

Das Datenaufkommen im Internet hat sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Am Deutschen Internet Exchange

(DE-CIX), über den Leitungen aus 30 europäischen Ländern verknüpft werden, wurden im Dezember 2008 Spitzen von 600 Gigabit pro Sekunde erreicht. Als Grund für das enorme Wachstum vermuten die Betreiber des Knotenpunktes, dass viele Video-Inhalte abgefragt würden sowie Fernsehen übers Internet.

Der Internet-Explorer von Microsoft (IE) verliert nach Statistiken des Internetmarktforschungsunternehmens Net Applications weiter in der Gunst der Nutzer. Im November und Dezember 2008 sank sein Anteil weltweit auf unter 68,2 Prozent, im Februar waren es noch 74,9. Nutznießer ist vor allem der Browser Firefox, der von Programmierern weltweit als freie und quelloffene Software zur Verfügung gestellt wird.

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Moskau plant Basen in Nahost

Moskau - Russland will innerhalb weniger Jahre mehrere Flottenstützpunkte im Nahen Osten einrichten. Die politische Entscheidung darüber sei gefallen, zitierte die Nachrichtenagentur Itar-Tass am Freitag einen Militärsprecher. Geplant seien Stützpunkte in Libyen, Syrien und im Jemen. Unklar sei noch, wann die Marinestützpunkte einsatzbereit seien. "Aber fraglos wird dies innerhalb weniger Jahre geschehen", wird der Sprecher zitiert. Da mit den ausländischen Regierungen noch verhandelt werde, sei es noch zu früh, um Häfen zu nennen. Das Vorhaben verdeutlicht Russlands zunehmenden außenpolitischen Ehrgeiz. Nach Meinung von Analysten könnte der syrische Hafen Tartus am Mittelmeer als russischer Stützpunkt wiederbelebt werden. Zu Zeiten des Kalten Krieges betrieb die Sowjetmarine dort ein Materiallager. Auch war zuletzt die Eröffnung eines Stützpunkts im libyschen Hafen Bengasi im Gespräch. 2002 gab Russland eine Basis in Vietnam wegen zu hoher Kosten auf. Reuters

Moskau

- Russland will innerhalb weniger Jahre mehrere Flottenstützpunkte im Nahen Osten einrichten. Die politische Entscheidung darüber sei gefallen, zitierte die Nachrichtenagentur Itar-Tass am Freitag einen Militärsprecher. Geplant seien Stützpunkte in Libyen, Syrien und im Jemen. Unklar sei noch, wann die Marinestützpunkte einsatzbereit seien. "Aber fraglos wird dies innerhalb weniger Jahre geschehen", wird der Sprecher zitiert. Da mit den ausländischen Regierungen noch verhandelt werde, sei es noch zu früh, um Häfen zu nennen. Das Vorhaben verdeutlicht Russlands zunehmenden außenpolitischen Ehrgeiz. Nach Meinung von Analysten könnte der syrische Hafen Tartus am Mittelmeer als russischer Stützpunkt wiederbelebt werden. Zu Zeiten des Kalten Krieges betrieb die Sowjetmarine dort ein Materiallager. Auch war zuletzt die Eröffnung eines Stützpunkts im libyschen Hafen Bengasi im Gespräch. 2002 gab Russland eine Basis in Vietnam wegen zu hoher Kosten auf.

Beziehungen Russlands zum Nahen Osten Marine Russlands SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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LEUTE

Muntassir Jacob , 27, Friseur, hat seinen Herrensalon in Khartum, der Hauptstadt des Sudans, dem künftigen US-Präsidenten Barack Obama gewidmet. Den Salon Obama ziert ein riesiges Porträtfoto des künftigen US-Präsidenten, sein Name prangt in arabischer Schrift am Laden. "Ich habe das Geschäft kurz vor der Präsidentschaftswahl eröffnet, aber ich habe den Sieg Obamas abgewartet, um es zu benennen", erläuterte Jacob - dabei hätte er seinen Salon niemals nach dem Republikaner John McCain benannt .

Prinz Harry , 24, britischer Thronfolger, ist von einem pakistanischen Soldat, der von Harry abwertend "Paki" genannt wurde, nachträglich verteidigt worden. "Wir waren bei der Ausbildung enge Freunde, und ich weiß, dass er kein Rassist ist", sagte Ahmed Raza Khan der britischen Zeitung Sun. "Der Prinz rief mich mit einem Spitznamen, der normalerweise sehr verletzend ist. Aber ich weiß, dass er es nicht so gemeint hat." Die Äußerung war im Jahr 2006 gefallen, als Harry gemeinsam mit Khan in der Armee war.

Frau Antje, 36, Käse-Expertin, will heiraten. Das Gesicht der holländischen Käseindustrie heißt eigentlich Madeleen Driessen und ist Physikerin. Mit dem zukünftigen Herrn Antje, dem TV-Produzenten Roel Kooi, lebt sie bei Amsterdam. Kennengelernt hat sie ihn im Fernsehen als Frau Antje. Wird sie in Kittelschürze und Holzschuhen heiraten? So ein Käse: "Ich trage ein elegantes rotes Kleid mit tief ausgeschnittenem Rücken," sagte sie bei der Ernährungsmesse "Grüne Woche" in Berlin. Foto: AP

Patrick Swayze , 56, Schauspieler, ist nach einer Lungenentzündung wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Seine Sprecherin Annett Wolf sagte dem People-Magazin, der krebskranke Star sei nach einem einwöchigen Klinikaufenthalt wieder nach Hause zurückgekehrt und erhole sich bei seiner Frau Lisa, 52. Swayze ist seit 2007 an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. "Ich bin lebendig und ich plane, das auch weiter zu bleiben", sagte er.

Heiner Lauterbach , 55, Schauspieler, hat seit seiner Hochzeit im Jahr 2001 nicht mehr mit seiner Frau getanzt. "Wir haben das gerade festgestellt", sagte Viktoria Lauterbach am Samstagabend auf dem 36. Deutschen Filmball in München. Für den Ball habe ihr Mann Besserung gelobt. Auf der Tanzfläche wurde das Paar allerdings nicht gesichtet. Die beiden verbrachten den Abend mit Lauterbachs Sohn Oscar aus erster Ehe.

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"Atomwaffen sind irrelevant"

Britische Generäle fordern, Arsenal zu verschrotten

Von Wolfgang Koydl

London - Zum ersten Mal haben sich hochrangige Vertreter des britischen Militärs für die Verschrottung des Atomwaffenarsenals des Vereinigten Königreiches ausgesprochen. Die auf U-Booten stationierten Trident-Raketen mit Nuklearsprengköpfen seien angesichts der derzeitigen Bedrohungen wie etwa dem internationalen Terrorismus "vollkommen unbrauchbar" und "irrelevant" heißt es in einem Brief, den der ehemalige Generalstabschef, Feldmarschall Lord Bramall, sowie die Generäle Lord Ramsbotham und Sir Hugh Beach in der Tageszeitung Times veröffentlichten. Zudem dürfe Großbritannien diese Waffen ohnehin nicht ohne Billigung der USA einsetzen.

Die Kosten von 20 Milliarden Pfund (etwa 22,7 Milliarden Euro), die das Trident-Programm verschlingt, wären nach Überzeugung der Militärs besser angelegt, wenn man sie für die Modernisierung der Streitkräfte ausgeben würde. "Im gegenwärtigen wirtschaftlichen Klima könnte es sich sehr wohl als unmöglich herausstellen, sich beides (Atomwaffen und konventionelle Truppen) zu leisten", warnten die Generäle. Atomraketen seien eine "Waffe des Kalten Krieges", die für die heutige Lage ungeeignet seien, ergänzte Ramsbotham in einem Fernsehinterview.

Die vier Vanguard-U-Boote mit jeweils 16 Interkontinentalraketen des Trident-Typs wurden 1982 als Nachfolger der Polaris-Raketen in Dienst gestellt. Sie müssen spätestens 2020 durch ein neues System abgelöst werden. Gegen den Widerstand vor allem des linken Flügels in seiner Labour-Partei billigte der damalige Premierminister Tony Blair 2006 eine Modernisierung der britischen Atomstreitmacht.

Der konservative Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Unterhauses, James Arbuthnot, widersprach den Militärvertretern. Nur die Nuklear-Kapazität garantiere Großbritannien einen Platz als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Auch der frühere konservative Verteidigungsminister Malcolm Rifkind bezeichnete die Forderung nach einer Verschrottung der Atomwaffen als "ernsten Fehler". Atomwaffen seien "letzten Endes eine Versicherungs-Police für die nächsten 50 Jahre".

Atomwaffen Großbritanniens SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erster Sieg vor Amtsantritt

Kongress folgt Obama und bewilligt Milliarden für Banken

Washington - Amerikas künftiger Präsident Barack Obama hat eine erste Machtprobe mit dem Kongress bestanden, noch ehe er überhaupt im Amt ist. Der US-Senat genehmigte am Donnerstag die auf Wunsch Obamas vom amtierenden Präsidenten George W. Bush beantragte Freigabe von 350 Milliarden Dollar für notleidende US-Finanzinstitutionen. Das Geld wird zur Verfügung stehen, wenn Obama am Dienstag sein Amt antritt. Obama hatte sich persönlich um die Freigabe der zweiten Rate des im vergangenen Herbst grundsätzlich genehmigten Rettungspaketes von 700 Milliarden Dollar bemüht. Kurz nach der Entscheidung des Senats kündigte das US-Finanzministerium an, dass die Bank of America mit Milliarden aus der zweiten Rate gestützt werden soll.

Obama lobte die Senatoren. "Ich bin dankbar, dass eine Mehrheit im US-Senat, sowohl Demokraten als auch Republikaner, dafür gestimmt haben, mir die Vollmacht zu erteilen, den Rest des Rettungsplanes auf neue und verantwortungsbewusste Art und Weise einzusetzen." Die Entscheidung sei vielen nicht leicht gefallen "wegen der Unzufriedenheit, die so viele von uns teilen", darüber, wie die Bush-Administration die Verteilung der ersten Rate des Rettungspaketes gehandhabt habe.

Demokraten wie Republikaner hatten dem noch amtierenden Finanzminister Henry Paulson vorgeworfen, sie bewusst in die Irre geführt zu haben. Anstatt wie angekündigt die im Herbst genehmigten Milliarden für den Aufkauf fauler Kreditpakete zu verwenden, hatte er Geld in große Banken gepumpt. Zudem kam die Hilfe, entgegen der angekündigten Absicht, bisher nur wenigen Hausbesitzern zugute, die von einer Zwangsversteigerung bedroht sind. Allgemein wurde die mangelnde Aufsicht über den Verbleib der Milliarden heftig kritisiert.

Obama hatte versucht, diesen Bedenken entgegenzukommen. Sein Chef-Finanzberater Lawrence Summers hatte in mehreren Briefen und Gesprächen mit Senatoren und Abgeordneten versprochen, den Hauptteil der zweiten Rate für die Stützung des Kreditmarktes und notleidender Hausbesitzer einzusetzen.

Obama konnte vier demokratische Senatoren umstimmen, die im Herbst gegen das Rettungspaket votiert hatten. Von den neun neuen demokratischen Senatoren konnte er acht gewinnen. Unter den republikanischen Senatoren konnte der künftige Präsident immerhin noch sechs gewinnen - ohne sie hätte er keine Mehrheit gehabt. Reymer Klüver

Obama, Barack US-Kongress Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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BLOGS zur Inauguration

Am morgigen Dienstag ist es soweit: Aus dem President-elect wird der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Bevor Barack Obama feierlich auf die Lincoln-Bibel schwört und seine Antrittsrede hält, rollen ihm Blogger einen virtuellen roten Teppich aus.

Wenn die Obamas probehalber schon einmal den Weg beschreiten wollten, den sie bei der Parade am morgigen I-Day nehmen werden, sollten sie sich warm anziehen, empfiehlt Herndon Davis. Und der muss es wissen. Davis schreibt unter www.herndondavis.com ein tägliches Blog, das Obama-Anbeter wie ihn auf dem langen Weg zum großen Tag begleiten soll. Dazu recherchiert er selbst an vorderster Front, bei eisiger Kälte. "Die Obamas sollten mindestens drei bis vier Schichten Kleider übereinander tragen oder gute Thermo-Unterwäsche", empfiehlt Davis. Besorgt ist er aber nicht nur um Barack Obamas Gesundheit: "Immer noch bin ich wie in Trance aufgrund des Wahlergebnisses. Ein Farbiger als Präsident? Wer hätte das je für möglich gehalten?" Aber: "Meine Freude ist jetzt ein wenig getrübt, wenn ich bedenke, vor welch großen Herausforderungen der President-elect steht."

Schier überwältigt von ihren Gefühlen ist die 19-jährige Hannah Gladstone aus Sacramento, die am Dienstag in Washington D.C. dabei sein wird, wenn aus Barack Obama der 44. Präsident der Vereinigten Staaten wird. "Ich habe wirklich geträumt vom Inaugurations-Tag. ... Dieser Tag wird zweifellos nie vergessen sein und ein Teil der Menschheitsgeschichte werden, solange wir leben", schreibt sie als Gast-Bloggerin des Houston Chronicle (blogs.chron.com) . Gladstone zieht gar Parallelen zum Allerhöchsten: zu jenem Helden, der das unaussprechlich Böse bereits besiegt und die Welt gerettet hat. "Obamas Inauguration ist keine Harry-Potter-Magie, sie ist ein Traum."

Ist die anstrengende Inaugurations-Zeremonie überstanden, darf gefeiert werden - wenngleich der Präsident selbst wenig Muße haben wird, die Festivitäten zu seinen Ehren angemessen zu würdigen. Kenny Yum schreibt im Blog der National Post (network.nationalpost.com/np/blogs) über den Feier-Marathon, der Barack Obama bevorsteht: "Präsident Obama ist Gastgeber eines Jugend-Inaugurations-Balls, zugleich von fünf Regional-Inaugurations-Bällen und einem Ball für seine Heimatstaaten Illinois und Hawaii. ... Diese Bälle runden die Liste offizieller Bälle ab, die am 20. Januar stattfinden werden, neben dem Nachbarschafts-Inaugurationsball ist das zudem der Commander in Chief´s Ball. Der Präsident und sein Vize werden auf jedem der zehn Bälle erscheinen."

So eine Inaugurations-Feier ist teuer, kostet Kraft - und setzt nicht nur Emotionen, sondern auch Unmengen CO2 frei. Warner Tedd Huston listet in seinem Blog (newsbusters.org/blogs/warner-todd-huston) die neuesten Klimakiller-Zahlen auf: Sage und schreibe 230 Millionen Kilogramm CO2 entstehen nach Berechnungen des Institute for Liberty. "Es ist nicht leicht, grün zu sein, und in Bezug auf Obamas Inaugurationsfeierlichkeiten scheint es, als versuche er noch nicht einmal, es ein wenig zu begrünen", spielt Huston auf eine melancholische Ballade an.

Nicht grün, sondern schwarz ist für viele die Farbe des Tages. So auch für DJ Mick Boogie, der bei Popwatch (popwatch.ew.com) eine spezielle ObamaPlayliste erstellt hat. Ausschließlich schwarze Musiker singen dort zu dessen Ehren. Die Musik soll die Aufgaben umreißen, vor denen Obama steht. Erster Song: "The O´Jays, "For the love of money": Die Finanzkrise ist eine der größten Herausforderungen, vor denen das Land steht, und dieser Song ist definitiv ein guter Auftakt für eine Party", schreibt der DJ. Am Ende singt Jay-Z, "Politics as usual".

Zusammengestellt von Katja Riedel

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Bahn fordert Schadenersatz

Berlin - Nach feinen Rissen in den Achsen von Hochgeschwindigkeitszügen prüft die Deutsche Bahn den Austausch aller Achsen ihrer ICE-T-Züge. "Unsere Experten schließen nicht mehr aus, dass wir bei der ICE-T-Flotte die entsprechenden Achsen austauschen müssen", sagte Bahnchef Hartmut Mehdorn der Bild am Sonntag. Die Bahn wolle deshalb bei der Industrie Schadenersatz geltend machen. "Ich gehe von einem dreistelligen Millionenbetrag aus", sagte Mehdorn. Der Ersatz sämtlicher Achsen werde "realistisch bis zu zwei Jahre" dauern. Die Bahn betreibt 70 ICE-T-Züge. Sie können sich seitlich neigen und sind daher auch auf kurvenreichen Strecken schnell unterwegs. Allerdings werden die Achsen besonders stark belastet.

Die Industrie kommt damit zunehmend unter Druck. Im vergangenen Sommer war ein ICE - allerdings der Baureihe ICE 3 - nahe dem Kölner Hauptbahnhof entgleist, weil eine Achse gebrochen war. Die genaue Ursache des Bruchs ist bis heute unklar. Ein Zwischenbericht der Bundesanstalt für Materialforschung deutet auf Materialfehler hin. Allerdings seien verschiedene Faktoren zusammengekommen, weshalb der Riss nicht rechtzeitig erkannt wurde. Das Intervall, in dem die Züge zur Inspektion müssen, wurde von 300 000 auf 30 000 Kilometer verkürzt. Anschließend wurden auch bei zwei Zügen des Typs ICE-T feine Risse in den Radsatzwellen gefunden. Diese Züge müssen seither ebenfalls alle 30 000 Kilometer zur Inspektion. Dort sollen per Ultraschall Schäden frühzeitig erkannt werden. Damit muss ein Großteil der ICE-Flotte alle drei Wochen für gut 24 Stunden in die Werkstatt, der Bahn entstehen Kosten in Millionenhöhe. Auch ist die Neigetechnik bei den ICE-T seither ausgeschaltet. Auf der Strecke von Berlin nach München etwa kommen sie deshalb etwas langsamer voran als sonst.

Die Bahn prüft schon seit Monaten Regressforderungen gegen die Hersteller, hat diese aber noch nicht eingereicht. Zudem will sie von den Konsortien, die die Züge gebaut haben, eine feste Zusage über die Belastbarkeit der Achsen. "Die Bahnindustrie hatte mir für Mitte Dezember eine Lösung in Aussicht gestellt", beklagte Mehdorn am Wochenende. "Ich habe immer noch keine Antwort bekommen." (Seite 4) Michael Bauchmüller

Mehdorn, Hartmut: Zitate Intercity Express (ICE) SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Künftiger US-Minister: Waterboarding ist Folter

Washington - Der künftige US-Justizminister Eric Holder hat das simulierte Ertränken von Gefangenen bei Verhören, das sogenannte Waterboarding, als Folter bezeichnet. Die USA hätten während des Vietnamkrieges sogar eigene Soldaten strafrechtlich verfolgt, die diese Methode angewandt hätten, sagte er während seiner Anhörung vor dem Justizausschuss des Senats. "Waterboarding ist Folter", sagte der Jurist. US-Vizepräsident Dick Cheney hatte erst am Sonntag in einem Fernsehinterview zugegeben, dass in drei Fällen das berüchtigte "Waterboarding" angewandt worden sei. Die scheidende Regierung von George W. Bush verurteilt offiziell zwar Folter. Ihrer Ansicht nach fällt das simulierte Ertränken aber nicht darunter. dpa

Washington

- Der künftige US-Justizminister Eric Holder hat das simulierte Ertränken von Gefangenen bei Verhören, das sogenannte Waterboarding, als Folter bezeichnet. Die USA hätten während des Vietnamkrieges sogar eigene Soldaten strafrechtlich verfolgt, die diese Methode angewandt hätten, sagte er während seiner Anhörung vor dem Justizausschuss des Senats. "Waterboarding ist Folter", sagte der Jurist. US-Vizepräsident Dick Cheney hatte erst am Sonntag in einem Fernsehinterview zugegeben, dass in drei Fällen das berüchtigte "Waterboarding" angewandt worden sei. Die scheidende Regierung von George W. Bush verurteilt offiziell zwar Folter. Ihrer Ansicht nach fällt das simulierte Ertränken aber nicht darunter.

Holder, Eric Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Demonstration abgebrochen

Düsseldorf - In Duisburg ist es am Samstag bei einer Demonstration gegen den israelischen Militäreinatz im Gazastreifen erneut zu einem Zwischenfall gekommen. Aus den Reihen der etwa 2000 Teilnehmer waren Feuerwerkskörper auf Gegendemonstranten geworfen worden, die Israel-Flaggen schwenkten. Die pro-palästinensische Demonstration wurde daraufhin auf Wunsch der Veranstalter abgebrochen. Vor einer Woche war es in Duisburg bei einer Demonstration zu einem vielfach kritisierten Vorfall gekommen, als Polizeikräfte eine Wohnung aufbrachen, um zwei israelische Staatsflaggen aus dem Fenster zu entfernen. graa

Reaktionen auf den Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Visionen der Künstler

Den Prado auf den Bildschirm holen: Was Google Earth heute möglich macht, gab es als Idee schon vor 80 Jahren

Über ein Google Earth Programm gelangt man auf diverse Bilder im Madrider Prado ("Lupenrein" - Google Earth holt Meisterwerke aus dem Prado ins Wohnzimmer, 14. Januar) . Und diese sind so präzise dargestellt, dass es ein "lupenreiner Genuss" ist. Da nun alles seine Mütter und Väter hat, seine Traditionen und Vordenker, ist es nützlich, sich daran zu erinnern, wie Friedrich Kiesler (1890 - 1965), der schon früh nach USA emigrierte Allround-Künstler, sich 1929 - vor genau 80 Jahren also - an ein Manuskript machte, das 1930 veröffentlicht wurde. Unter dem Titel "Zeitgenössische Kunst, angewandt im Schaufenster und dessen Displays" beschreibt Kiesler sein New Yorker, 1929 eröffnetes Film-Guild-Cinema als plastisches Medium der Licht-Kunst (nicht nur der Filmprojektion), und imaginiert ein "Tele-Museum" mit fernübertragenen Bildern auch aus dem Prado folgendermaßen:

"Ebenso wie heute (das heißt 1929) Opern drahtlos übertragen werden, so wird dies mit Bildergalerien geschehen. Aus dem Louvre, aus dem Prado zu Ihnen, von überall zu Ihnen. Sie werden das Vorrecht genießen, jene Bilder auszuwählen, die zu Ihrer Stimmung passen oder die den Bedürfnissen irgendeiner bestimmten Situation entsprechen. Mit Hilfe der Wahlscheibe an Ihrem Teleset werden Sie zum Teilhaber an den größten Schätzen der Welt." Die Archive der Kunst sind voller Antizipationen. Wer Visionen hat, sollte also keineswegs zum Arzt gehen, wie das uninspirierte Diktum unseres Ex-Kanzlers Helmut Schmidt lautete, sondern diese festhalten. Manche künstlerische Vision wird spät, aber nicht zu spät eingelöst.

Prof. Dr. Jürgen Claus

München

Über den Unterschied

von Leistung und Energie

Grundsätzlich ist es angebracht, über den Stromverbrauch von Rechenzentren und folglich auch über Einsparpotentiale in diesen Bereichen nachzudenken ( "Klimakiller Google", 13. Januar ). Doch dann müssen auch die naturwissenschaftlich-technischen Überlegungen stimmen. Nur allzu oft, wie auch in vorliegendem Artikel, werden die physikalischen Größen Energie und Leistung verwechselt. 10,1 Terawattstunden ist die Energie, die jährlich zum Betrieb der Rechner aufgewendet wird. Ein mittelgroßes deutsches Kohlekraftwerk verfügt über eine Leistung von knapp zwei Gigawatt und erzeugt damit (ganz korrekt kann Energie nicht erzeugt, sondern nur umgewandelt werden) jährlich etwa zwölf Terawattstunden Strom. Folglich entspricht der "Stromverbrauch" der Rechenzentren in Deutschland nicht der Leistung von vier mittelgroßen Kohlekraftwerken, sondern der von einem. Gleichwohl sollte die gewaltige elektrische Gesamtleistung der Rechenzentren von über einem Gigawatt Anlass genug für den ansonsten durchaus aufschlussreichen Artikel sein.

Rüdiger Mrasek

Cuxhaven

Lächerliche

15 Gramm CO2

Zwei Suchanfragen bei Google setzen 15 Gramm CO2 frei. Nicht mehr? Klimaschonender geht es doch gar nicht. Wenn der Redakteur 20 Kilometer von seiner Wohnung in die Redaktion fahren, verbraucht er etwa 1,5 Liter Sprit und hat damit 3,7 Kilogramm CO2 produziert. Es sei denn, er führe aus Sorge ums Klima mit dem Rad. Doch wie viel CO2 setzt jede israelische Artilleriegranate frei? Oder wie viel der Aufklärungsflug eines deutschen Tornados in Afghanistan? Gemessen an dem überflüssigen Militär dieser Welt mit einem gigantischen CO2-Rucksack, den kein Journalist in Frage stellt, kann sich unser Weltklima sicher viele Google-Suchmaschinen leisten. Ich bin für Googeln statt Bomben.

Emmo Frey

Dachau

Integrativer Unterricht

ist nicht immer besser

Der gemeinsame Unterricht für alle Kinder ( "Behinderte Schüler schlecht integriert", 13. Januar ) ist sicher ein sehr positives und anzustrebendes Ziel. Als Pastorin für Schwerhörigenseelsorge befürchte ich dennoch, dass die Grünen mit der Forderung nach Abschaffung der Förderschulen das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn beispielsweise für hörgeschädigte Kinder würde eine Schließung des Förderbereiches Hören bedeuten, dass sie von Lehrern unterrichtet werden, die nicht im Umgang mit ihrer Behinderung ausgebildet sind. Der bei integrativer Beschulung notwendige Förderunterricht wird nicht in der unerlässlichen Stundenzahl gegeben, da die Zahl der Förderlehrerinnen und -lehrer mit dem entsprechenden Spezialwissen zu gering ist. Die Klassenstärken sind in den Regelschulen zudem größer als in den Förderschulen.

Eine individuelle Betreuung der hörgeschädigten Kinder ist nicht in dem Maße möglich wie in den Förderschulen. Weiterhin sind in Regelschulen die zwingend erforderlichen technischen Hilfen nicht vorhanden. Nicht zuletzt sind Klassenräume in Förderschulen "Hören" oft zur Verringerung des Lärmaufkommens schallgedämpft. Eine Besserung all dieser Nachteile ist wegen der hohen Kosten auf lange Sicht nicht erreichbar. Hier wird nach meiner Einschätzung aus Kostengründen mit einer Schein-Integration argumentiert, die in Wahrheit hörgeschädigte und insbesondere stark schwerhörige Kinder noch mehr als heute benachteiligt.

Cornelia Kühne

Hannover

Wenn Schwerhörige

zur Kasse gebeten werden

Das Informationsfreiheitsgesetz enthält Ausnahmen, die dazu führen, dass unberechtigt Informationen verweigert werden ( "Bürger als lästige Fragensteller", 31.Dezember ). Dies führt sicher nicht selten zu Nachteilen von Bürgern, die diese Informationen zur Durchsetzung ihrer Interessen benötigen. Schwerhörige Menschen mit Hörgeräten und deren Interessenvertreter, der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB), sind ebenfalls Opfer eines solchen Missbrauchs des Informationsfreiheitsgesetzes. Im Jahre 2004 haben die Spitzenverbände der Krankenkassen einen einheitlichen Festbetrag in Höhe von 421,28 Euro für ein Hörgerät festgelegt, ungeachtet der Schwere der Hörschädigung und des Umfanges der notwendigen Hörgeräteversorgung. Für das zweite Hörgerät wurde ein sachlich unbegründeter, nicht nachvollziehbarer Abschlag von 20 Prozent festgelegt.

Festbeträge sollen nach dem Gesetz eine ausreichende, zweckmäßige, wirtschaftliche und in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten. Der Festbetrag von 421,28 Euro deckt jedoch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten, den überwiegenden Kostenanteil - laut einer Erhebung des DSB im Durchschnitt etwa 1600 Euro pro hörgeschädigtem Patient - hat der Versicherte selbst zu tragen. Hörgeräteträger werden wie kaum eine andere Behindertengruppe zur Kasse gebeten!

Der DSB versucht daher seit langem zu erfahren, auf welche Weise dieser völlig unzureichende Festbetrag ermittelt worden ist. Das wird blockiert mit Hinweis auf die Ausnahmeregelungen im Informationsfreiheitsgesetz. Angeblich seien Geschäftsgeheimnisse berührt, wird behauptet. Dabei könnten alle bestimmten Betrieben eventuell zuordnungsfähigen Dateien problemfrei anonymisiert werden. Auf diese Weise wird Transparenz vermieden und eine Überprüfung des Festbetrages vereitelt.

Rolf Erdmann

Hannover

Jedes Opfer ist eines zu viel

- auch in Gaza

Auch wenn für die jüdischen Gemeinden Israel als Lebensversicherung gilt und deshalb Kritik an der Politik Israels an dieser Versicherung rührt, wie Matthias Drobinski anführt ( "Ein Verhältnis voller Komplikationen", 10. Januar ), ist es schwer hinnehmbar, wenn nach den schrecklichen Ereignissen im Gaza-Streifen die Solidarität mit den unter den mörderischen Bombenterror geschundenen Menschen in den Verdacht gerät, als antisemitisch diskriminiert zu werden. Wie anders sollte der Aufruf des Zentralrates der Juden in Deutschland als Antwort auf die weltweite Empörung über das entsetzliche Gemetzel zu interpretieren sein? Als Rechtfertigung der militärischen Führung Israels kann er kein Beitrag zur Lösung des Konfliktes sein, der ja nicht erst seit der Hamas das Nah-Ost-Szenarium bestimmt. Es sollte - bei aller Ursachenforschung - nicht verdrängt werden, dass Hunger und Verzweiflung, gnadenlose Erniedrigung von Menschen sich zu einem explosiven Sprengstoff verdichten können.

Im Übrigen muss nicht stereotyp wiederholt werden, dass die Solidarität mit dem Staat Israel Teil der deutschen Staatsräson ist. Aber seit dem Ende der Naziherrschaft gilt in unserem Land auch der moralische Imperativ, aufzubegehren, wenn Unrecht geschieht. Denn auch durch Schweigen kann man schuldig werden, wie wir aus unserer tragischen Geschichte gelernt haben sollten. Es ist Zeit, sich zu Wort zu melden, wenn selbst UN-Resolutionen skrupellos missachtet werden. In Fragen der Menschenrechte sollte es keine Tabus geben! Die Lebensbedingungen im Gaza-Streifen, die Drangsalierung der dort Eingeschlossenen mit der Hilflosigkeit in einem Konzentrationslager zu vergleichen, wie es der Präsident des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, Kurienkardinal Renato Martino, getan hat, lässt sich nicht - wie geschehen - mit Hamas-Propaganda gleichsetzen. Schließlich heißt es auch in dem Aufruf des Zentralrates der Juden, dass jedes Menschenleben zählt, jedes Opfer eines zu viel ist. Dann sollte auch beherzigt werden, dass Krieg und Hass kein Problem löst.

Dr. Hermann Beck

95028 Hof

Liebling

Israel

Typisch deutsch. Da tritt der sattsam bekannte Oberlehrer zutage, allenfalls durch historisch bedingte Beißhemmungen irritiert, wie Matthias Drobinski in einer ziemlich mutigen Selbstanalyse offenbart hat (möchte er von der Androhung des Liebesentzuges zügig zur körperlichen Züchtigung übergehen?). Gegenüber dem selbsterklärten Liebling Israel ist der moralische Oberstudienrat D. schon aus pädagogischer Sicht gern besonders streng. Den US-Amerikanern gestanden wir nach dem 11. September 2001 grundsätzlich durchaus noch so etwas wie ein Recht auf Reaktion zu. Bei Israel fordert der Mainstream gleich gerne kategorisch das katholische Prinzip der totalen Vergebung: von wegen die andere Wange hinhalten und so. Noch besser wäre natürlich Selbstgeißelung! Militärs moderner Prägung, gleich welcher Religion oder Nation, lassen sich bei einem Waffengang ungern in die Karten schauen. Bestenfalls Propaganda bekommen Journalisten in einem Krieg (der also bedauernswerter Weise nicht das ideale Feld für Glasnost, Perestroika oder demokratische Transparenz ist!) zu sehen. Eigentlich Binsen. Nur bedingt glaubhaft ist daher jetzt die beleidigte Überraschung, dass hier eine ganz normale Armee zu Werke geht und keine Herz-Jesu-Bruderschaft .

Frederik Birghan

Ottobrunn

Adenauer

sei Dank

Die Nähe zu Israel sei deutsche Staatsraison, schreibt der Autor - dem ist zuzustimmen und auch den Begründungen. Konrad Adenauer, der dieses Fundament deutscher Außenpolitik eher subversiv und gegen viele seiner Wähler und andere Bürger in der postfaschistischen Bundesrepublik durchgesetzt hat, muss man dafür noch heute öffentlich rühmen.

Heinz Klunker

Berlin

Auch Mexiko

gehört zu Amerika

"In einem mexikanischen Dorf können Touristen für 14 Euro die Flucht nach Amerika durchspielen" heißt es in dem interessanten Bericht "An der Grenze" (12. Januar) . Das wäre wie hierzulande aus einem deutschen Nest "nach Europa" abzuwandern. Jeder Ort Mexikos ist Teil von Amerika. Die ständige Identifizierung der USA, gegen die ich keine Ressentiments hege, mit dem gesamten Kontinent oder gar Doppel-Kontinent ist eine sprachliche Sünde zugunsten der ohnehin vorhandenen Dominanz

Hans-Ulrich Knies

Unna

Wie viel Strom benötigt eine Anfrage mit der Internet-Suchmaschine Google? Das ist schwierig abzuschätzen. Foto: Reuters

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Deutschkurse ohne Nutzen

Kindern hilft derzeitige Form der Sprachförderung nicht

Von Felix Berth

München - Manche Vorschläge sind so überzeugend, dass niemand sie in Frage stellt. Zum Beispiel den Plan, ausländischen Kindern bereits im Kindergarten besseres Deutsch beizubringen: Das soll verhindern, dass sie schon mit Defiziten in die Grundschule starten und kaum Chancen auf eine passable Schulkarriere haben. Deshalb kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem "Bildungsgipfel" im Oktober 2008 an, dass "die Sprachförderung vorangebracht wird"; der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich nickte und ergänzte, "dass bei der Sprachförderung die Länder in die Verantwortung gehen". Baden-Württemberg zum Beispiel plant nun Kurse für alle Kinder mit Sprachdefiziten.

Problematisch ist, dass diese Sprachkurse offenbar wirkungslos sind. Das jedenfalls zeigt die erste umfassende Analyse, die im Auftrag der baden-württembergischen Landesstiftung entstand. Demnach ist es völlig egal, ob ein Kind an den Kursen teilnimmt oder nicht: „Die Sprachförderung ist einer Förderung, wie sie im üblichen Kindergartenalltag erfolgt, nicht überlegen", lautet die Bilanz der Professoren Jeanette Roos und Hermann Schöler von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Das Forscherteam der beiden Entwicklungspsychologen hat knapp fünfhundert Kinder mehrere Jahre lang beobachtet. Ein Teil hatte im Kindergarten spezielle Sprachkurse erhalten; andere bekamen diese Förderung nicht, obwohl sie schlecht Deutsch sprachen; eine dritte Gruppe konnte passabel Deutsch. Das Ergebnis: Die Kinder aus den Spezialkursen waren danach nicht besser als jene, die trotz Sprachdefiziten nur im regulären Kindergarten waren. Und: Kinder mit Sprachproblemen konnten den Vorsprung der guten Schüler nicht aufholen. Selbst am Ende der ersten und zweiten Klasse hatte sich an all dem nichts geändert, stellten die Psychologen fest.

Die Wirkungslosigkeit der Kurse hat mehrere Gründe. "Manche Erzieherin wurde bei der kurzen Vorbereitung zum ersten Mal auf analytische Weise mit Grammatik konfrontiert", sagt Jeanette Roos. Andere Trainerinnen, die an der Universität "Deutsch als Fremdsprache" studierten, hatten keine Ahnung vom Umgang mit kleinen Kindern. Häufig entstand in den wenigen Stunden dann eine Art Schulunterricht, von dem Fünfjährige aber nicht profitieren: "In dem Alter müssen Kinder zum Reden gebracht werden und wahrnehmen, wie Sprache korrekt verwendet wird", sagt Roos. Manche seien in den Kursen so wenig zum Sprechen gekommen, "dass sie wahrscheinlich besser eine Stunde gespielt hätten".

Wichtiger als Sprachkurse wäre, dass Problemkinder mehr Gelegenheiten zum Sprechen bekommen und im "Sprachbad" erleben, wie das Deutsche funktioniert. Doch dafür bräuchte es erstens mehr und zweitens akademisch ausgebildetes Personal - was erheblich teurer als die simplen Kurse wäre.

Die Landesstiftung Baden-Württemberg erhielt kürzlich trotz der hauseigenen Forschungsergebnisse den Auftrag, die Kurse auf ganz Baden-Württemberg auszuweiten. Das beschloss der Aufsichtsrat der Stiftung, den der baden-württembergische Ministerpräsident Günter Oettinger leitet. Er kann dafür mit Beifall rechnen.

Kindergärten in Deutschland Migranten-Schüler in Deutschland Deutschkurse für Ausländer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die grüne Seite

"Ein Stück Leben verloren": Jasmins Wut in Ramallah

Jasmin Srouji, 26, ist die Tochter eines Palästinensers und einer Deutschen. Sie wuchs in Freiburg zweisprachig auf und studierte dann in Bayreuth Medienwissenschaften. Seit einem Jahr lebt Jasmin in Ramallah, wo sie mit der Jugendorganisation Pyalara (Palestinian Youth Association for Leadership and Rights Activation) eine wöchentliche TV-Diskussionssendung für Jugendliche sowie die Zeitung The Youth Times produziert, die man im Westjordanland, im Gazastreifen und auf pyalara.org lesen kann.

jetzt.de: Jasmin, du kommst gerade von einer Demo, oder?

Jasmin: Ja, seitdem der Krieg begonnen hat, wird in Ramallah fast jeden Tag gegen die israelischen Angriffe protestiert.

jetzt.de: Es ist nur ein paar Monate her, da standen die Palästinenser noch vor einem Bürgerkrieg und jetzt seid ihr wieder solidarisch miteinander?

Jasmin: Natürlich haben die Fatah im Westjordanland, wo ich lebe, und die Hamas im Gazastreifen komplett unterschiedliche politische Vorstellungen davon, wie der Staat Palästina - der hoffentlich irgendwann existiert - aussehen soll. Aber jeder im Westjordanland kennt jemanden aus Gaza. Meine Organisation Pyalara hat zum Beispiel hat fünf feste Mitarbeiter dort, mit denen wir alle paar Tage eine Videokonferenz hatten - bis Israel ihnen jetzt den Strom abstellte. Und wenn ich dann höre, dass drei von ihnen aus ihren Häusern raus mussten und in einer Schule campieren, fühl' ich natürlich mit. Wir leiden auf beiden Seiten unter der Besatzung Israels.

jetzt.de: Die Hamas hat den seit Juni herrschenden Waffenstillstand nicht einen Tag eingehalten. Kannst du es nicht nachvollziehen, dass Israel reagiert?

Jasmin: Jeder weiß, dass Israel militärisch überlegen ist. Strategisch gesehen scheint es für Israel von Bedeutung zu sein, einmarschieren zu können, ohne dass die Weltgemeinschaft ihnen Einhalt gebietet. Insofern hat der Raketenbeschuss seine Funktion. Es ist bekannt, dass die Israelis ein Raketenabwehrsystem haben. Wenn sie wollten, könnten sie die Raketen abfangen und noch in der Luft sprengen. Es gibt auf jeden Fall andere, bessere Möglichkeiten, um die Hamas zu stoppen.

jetzt.de: Die Leute in deinem Alter haben beide Intifadas 1987 und 2000 miterlebt. Was bedeutet es, latent immer einen Krieg vor Augen zu haben?

Jasmin: Es nimmt einem ein Stück Leben weg. Glücklichsein, sich Verlieben, diese alltäglichen Dinge, kommen nicht in Frage. Die Menschen planen ihr Leben von einer Minute zur anderen. Vor allem die Leute in Gaza fühlen sich durch die Mauer total isoliert. Man hat das Gefühl, die Welt hat einen vergessen.

jetzt.de: Hat man da überhaupt noch einen Nerv für Dinge, die "normale" Jugendliche machen: Uni? Job? Weggehen?

Jasmin: Seit dem 27. Dezember hat keiner meiner Freunde mehr richtig gelacht, und das tut mir weh. So etwas kann ein Volk zerstören. Wenn in Deutschland irgendetwas passiert und ein Kind stirbt, redet man schon darüber, ob die Familie sich je von dem Verlust erholt, ob man so etwas verarbeiten kann. Hier gibt es hunderte Familien, aus denen jemand herausgerissen wurde. Unzählige zerstörte Biographien. Das ist einfach belastend.

jetzt.de: Seid ihr ein traumatisiertes Volk?

Jasmin: Die Leute haben Angst. Und diese Dauerangst ist etwas, was die Seele tief verletzt. Es gab hier noch nie Frieden. Immer wieder werden einfach so Menschen gefangen genommen, aber da redet niemand drüber. Dass israelische Soldaten einfach mal so in die Uni einfallen und irgendwelche Leute festnehmen, weil sie glauben, die würden zu einer terroristischen Gruppe gehören. Da wird so ein Hass geschürt.

jetzt.de: Hass, aus dem potenziell Terroristen werden?

Jasmin: Nein, die sind ja nicht doof hier. Die Leute sind gebildet und man glaubt an die Demokratie. Aber obwohl das Westjordanland ein autonomes Gebiet ist, werden die meisten Gesetze von Israel bestimmt und aufgezwungen. Niemand glaubt so richtig daran, dass es in absehbarer Zeit einen Staat Palästina geben wird, mit Demokratie und einer Rechtsordnung. Die meisten Jugendlichen denken, dass Politik nichts bringt und resignieren.

jetzt.de: Halten dich deine Freunde für bekloppt, dass du bleibst, obwohl du nach Deutschland zurück könntest?

Jasmin: Die meisten Palästinenser lieben ihr Land und ich tu's auch. Und ich glaube, es macht manchen Mut, wenn sie sehen, dass man hier sein will - weil es einfach ein besonderes Land ist.

Interview: rebecca-lucke.jetzt.de

Das ausführliche Interview mit Jasmin liest du online auf www.jetzt.de.

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Bush bittet um Nachsicht

Der Präsident verabschiedet sich: Ich habe getan, was ich für richtig hielt

Von Reymer Klüver

Washington - In einer letzten Fernsehansprache hat sich Präsident George W. Bush von den Amerikanern verabschiedet. Wie bei anderen öffentlichen Auftritten in den vergangenen Wochen mühte er sich, dem negativen Image seiner Präsidentschaft eine positive Note zu verleihen. In Anspielung auf seine schlechten Umfragewerte bat er seine Landsleute, in ihrem Urteil seine guten Absichten zu berücksichtigen. Er gab zu verstehen, dass er hoffe, in die Geschichte nicht als die Fehlbesetzung im Weißen Haus einzugehen, die er in den Augen der meisten Amerikaner heute darstellt. "Ich bin meinem Gewissen gefolgt und habe getan, was ich für richtig hielt", sagte Bush vor einem handverlesenen Publikum in der aus dem East Room des Weißen Hauses übertragenen gut 13-minütigen Fernsehansprache.

"Wie viele, die dieses Amt vor mir innehatten, habe ich Rückschläge erlitten", sagte Bush, ohne sie genauer zu benennen. Der Präsident hinterlässt seinem Nachfolger zwei Kriege - im Irak und in Afghanistan - , ein Haushaltsdefizit, das vergleichbar hoch nur während der beiden Weltkriege und im amerikanischen Bürgerkrieg war, und eine Wirtschaftskrise, die als die schwerwiegendste seit der Großen Depression vor 80 Jahren gilt.

Bush räumte indes durchaus Fehler ein, allerdings ebenfalls ohne sie konkret zu benennen. "Es gibt Dinge, die ich, wenn ich könnte, heute anders machen würde", sagte er. Bei anderer Gelegenheit hatte der Präsident etwa seinen triumphalen Auftritt auf einem Flugzeugträger kurz nach dem erfolgreichen Einmarsch im Irak genannt. Damals war hinter dem Oberbefehlshaber, der in Fliegermontur auftrat, ein großes Plakat zu sehen: "Mission Accomplished", etwa: Auftrag ausgeführt. Das sollte sich bekanntermaßen als kostspieliger Irrtum erweisen. Dennoch, sagte er in seiner Fernsehrede weiter, "habe ich immer mit den besten Absichten für unser Land gehandelt".

Offensichtlich mit Blick auf die breite Antipathie ihm gegenüber im ganzen Land bat er die Amerikaner, ihr Urteil zu überdenken: "Sie werden mit einigen meiner harten Entscheidungen nicht übereinstimmen", sagte Bush, "aber ich hoffe, Sie werden mir zustimmen, dass ich bereit war, harte Entscheidungen zu treffen." Zugleich gab er zu verstehen, dass sich seine Weltsicht nicht geändert hat: "Oft habe ich zu Ihnen über Gut und Böse gesprochen. Das hat einige unbehaglich gemacht. Aber Gut und Böse sind da in dieser Welt, und zwischen ihnen gibt es keine Kompromisse." Er bat seine Landsleute, "moralische Klarheit" zu bewahren. Mit keinem Wort erwähnte er in diesem Zusammenhang die von ihm gebilligten sogenannten "harten Verhörmethoden", die der künftige amerikanische Justizminister Eric Holder am selben Tag als "Folter" bezeichnete.

In Teilen der Abschiedsrede war durchaus spürbar, was Kritiker Bush seit langem vorwerfen, wenn sie von einer grundsätzlichen Haltung von Selbsttäuschung und Verleugnung sprechen. So nannte Bush die Wirtschaftskrise in den USA beschönigend eine "Herausforderung für unseren Wohlstand". Den Irak, den das US-Militär mit knapper Not vor einem Abgleiten in den offenen Bürgerkrieg hat abhalten können, charakterisierte er als "arabische Demokratie im Herzen des Nahen Ostens". Afghanistan, wohin sein Nachfolger wegen der anhaltenden Attacken von Taliban und al-Qaida Tausende zusätzlicher US-Soldaten schicken will, feierte er ebenfalls als "junge Demokratie". Auffällig war auch, dass er Hurrikan Katrina nur indirekt erwähnte, als er einen extra eingeladenen Zuhörer seiner Rede kurz vorstellte, der im zerstörten New Orleans eine neue Schule gegründet hatte. Die unzureichende Reaktion seiner Administration auf die Katastrophe wird allgemein als die größte innenpolitische Fehlleistung Bushs gesehen. Davon war indes keine Rede. Im Gegenteil: Erst Anfang der Woche hatte er die Arbeit der staatlichen Nothilfe damals vehement verteidigt.

Zweimal erwähnte Bush seinen Nachfolger und nannte die Amtsübergabe am kommenden Dienstag "einen Moment der Hoffnung und des Stolzes für unsere gesamte Nation". Barack Obamas Aufstieg in das höchste Amt des Landes würdigte er als Ausdruck der "anhaltenden Verheißung unseres Landes".

"Es gibt Dinge, die ich, wenn ich könnte, heute anders machen würde."

Abgang im Weißen Haus: "Ich bin meinem Gewissen gefolgt und habe getan, was ich f r richtig gehalten habe", sagte George W. Bush in seiner Abschiedsrede an die Nation. Foto: Reuters

Bush, George W.: Zitate Bush, George W.: Rücktritt Bush, George W.: Medienauftritte SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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100 statt 200 Euro Bonus

Bei der Koalitionsrunde ist entgegen der ursprünglichen Einschätzung im Regierungslager doch kein Kinder-Bonus in Höhe von 200 Euro vereinbart worden. Auf Drängen der Union wurde am Abend der Bonus auf 100 Euro nach unten korrigiert. Dies geschah nach Redaktionsschluss der ersten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Deshalb war in der Dienstagsausgabe zunächst noch von einem Bonus in Höhe von 200 Euro die Rede. SZ

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"Sport muss ausfallen"

Schulleiter Ulrich Thuleck über nötige Bauvorhaben in Duisburg

Nicht nur die Aula des Duisburger Landfermann-Gymnasiums ist in die Jahre gekommen, vor allem die Turnhalle muss dringend von Grund auf saniert werden. Schulleiter Ulrich Thuleck bemüht sich deshalb um Geld aus dem beschlossenen Konjunkturprogramm von Bund und Ländern.

SZ: Wird über Ihnen nun ein Füllhorn ausgegossen?

Tholuck: Der Eindruck ärgert mich sehr. Man tut plötzlich so, als ob Investitionen in Bildung hier auf hohem Niveau stattfänden. Tatsächlich sind die jetzt in Aussicht gestellten Gelder höchstens ein Beitrag zur Grundausstattung, die an öffentlichen Schulen kaum noch angeschafft werden kann. Mit dem Geld können wir uns höchstens dem geforderten Standard annähern.

SZ: Was werden Sie denn konkret beantragen?

Tholuck: Wir werden die Renovierung der Aula sowie die dringend benötigte Ergänzung unserer Physikausstattung beantragen. Weil beispielsweise von unseren 15 Strom-Transformatoren nur noch fünf funktionieren, können unsere Schüler viele Versuche nicht mehr machen. Bei anderen Experimenten arbeiten sie mit selbstgebastelten Konstruktionen aus Drähten und Lampenbatterien. Vor allem muss aber unsere Sporthalle grundsaniert werden. Wir brauchen einen neuen Boden und neue Wände, außerdem neue Toiletten und Duschen. Das alles kostet 600 000 Euro.

SZ: Sind das Wünsche, die das Konjunkturpaket erst geweckt hat?

Tholuck: Keiner davon. Für die Sanierung von Aula und Turnhalle haben wir 2002 bereits einen Antrag gestellt. Sie ist dann jedoch nicht erfolgt, weil das Geld ausgegangen ist. Über die Sportgeräte, die zum Teil 40 Jahre alt sind, redet schon keiner mehr.

SZ: Wie kommen Sie an das Geld?

Tholuck: Ich schildere der Stadt Duisburg, dem Träger der Schule, in einem Brief, was wir machen müssen. Daraufhin werden Vertreter der Stadt Turnhalle und Aula besichtigen und einen Zeitplan erstellen, der erfahrungsgemäß nicht eingehalten wird, weshalb ich die Stadt an ihre Zusagen erinnern muss. Vom ersten Brief bis zum Beschluss vergeht mindestens ein Vierteljahr.

SZ: Und bis tatsächlich gebaut wird?

Tholuck: Mindestens nochmal so lang. Alles muss europaweit ausgeschrieben werden. Ein langer, bürokratischer Weg. Das dauert sicher bis Herbst.

SZ: Die Sanierungen könnten also nicht in den Sommerferien erfolgen.

Tholuck: Das stimmt. Die Grundsanierung einer Turnhalle dauert allerdings ohnehin drei bis fünf Monate. Egal, ob wir in den Ferien beginnen oder nicht, der Sportunterricht hätte darunter immer zu leiden.

SZ: Wo findet er ohne Halle statt?

Tholuck: Wir versuchen, Ersatzhallen zu finden. In Duisburg gibt es da aber leider viel zu wenig Möglichkeiten, in die wir ausweichen könnten. Wahrscheinlich müssen wir Ersatzunterricht anbieten, Physik beispielsweise.

Interview: Jakob Biazza

Schulleiter Ulrich Thuleck Foto: privat

Schulwesen in Nordrhein-Westfalen Unterrichtsfach: Sport SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Volkseigene Betriebe"

Düsseldorf - Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) trifft mit seiner Forderung nach einem Staatsfonds zur Beteiligung an in Not geratenen Unternehmen auf heftige Kritik bei seinem Koalitionspartner FDP. Fraktionschef Gerhard Papke nannte es am Sonntag in Düsseldorf bedauerlich, dass Rüttgers seinen "Verstaatlichungsfonds" noch einmal aufgewärmt habe. "Wer unsere Zustimmung zum Konjunkturpaket möchte, soll uns nicht mit dem Vorschlag volkseigener Betriebe kommen", sagte Papke. dpa

Rüttgers, Jürgen Papke, Gerhard: Zitate Regierung Rüttgers 2005 - , Nordrhein-Westfalen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Staatsgläubigkeit ist Vergangenheit

Hundert Jahre nach der Gründung zeichnet sich der Richterbund durch seine radikal-liberale Einstellung aus

Von Helmut Kerscher

Karlsruhe - Johannes Heesters war fünf Jahre alt, als auf Betreiben von königlich-bayerischen Richtern zum Jahresanfang 1909 der Deutsche Richterbund gegründet wurde. Anders als "Jopie" (jetzt 105) schaffte es der Verband aber bisher nicht, 100 Jahre alt zu werden. Er feiert das Jubiläum zwar an diesem Montag in Berlin mit einem Festakt, doch in Wirklichkeit fehlen ihm 16 Lebensjahre. Der damals stramm nationale Verband ließ sich nämlich Ende 1933 bereitwillig von den Nazis auflösen und wurde erst 1949 wieder gegründet. An das Versagen der Richter unter Hitler, für den sie 32 000 Todesurteile fällten, wird im Maxim-Gorki-Theater ebenso erinnert werden wie vor 25 Jahren beim Festakt in Bonn. Damals sprach der Vorsitzende Helmut Leonardy von Schande und kritikloser Autoritätsgläubigkeit.

Die Rede stand am Beginn des Wandels eines konservativen Lobby-Vereins zu einem liberalen, weltoffenen Verband. Ohne die klassischen Forderungen nach Unabhängigkeit und mehr Geld zu vergessen, machte der Richterbund unter seinem langjährigen Vorsitzenden Rainer Voss das Thema Menschenrechte zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit. 1991 wurde ein Menschenrechtspreis für mutige Juristen eingerichtet. Aktueller Preisträger ist der iranische Rechtsanwalt Nasser Zarafshan. Und bis heute leistet die von Voss betriebene "Kolumbienhilfe" viel Gutes zugunsten von Opfern und ihren Angehörigen.

Wahrscheinlich würden sich die Gründungsrichter in ihren Gräbern umdrehen, wenn sie wüssten, was ihre Nachfolger so umtreibt: Die Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Denken zu einer geradezu radikal-liberalen Einstellung. Nichts weniger als die Selbstverwaltung der Justiz fordern beharrlich die Spitzen des "Verbandes der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte", wie der Richterbund mit seinen 14 000 Mitgliedern offiziell heißt. Diese rebellische Forderung gegen die Herrschaft der Justizministerien über Kosten und Posten zeigt erste Früchte, vor kurzem etwa in Hamburg und Schleswig-Holstein. Für den amtierenden Vorsitzenden, den eher gemütlichen Freiburger Oberstaatsanwalt Christoph Frank, steht die Befreiung der dritten Gewalt von der Verwaltung an oberster Stelle seines Programms und wohl auch seiner Ansprache bei der 100-Jahr-Feier.

Frank schweben zwei für Deutschland neue Gremien vor, die den Rahmen für die Justiz gestalten und ihre Unabhängigkeit verbessern sollen: ein Justizwahlausschuss und ein Justizverwaltungsrat. Ersterer soll wegen der demokratischen Legitimation zur einen Hälfte aus Abgeordneten bestehen, zur anderen aus Richtern und Staatsanwälten; dem für Ernennungen und Beförderungen sowie für die Verteilung der Gelder zuständige Justizverwaltungsrat sollen nur noch gewählte Richter und Staatsanwälte angehören. Die Justizministerien wären damit eines großen Teil ihres Einflusses auf die Justiz beraubt. Nur so könne die strukturelle Unabhängigkeit der Justiz gesichert werden, sagt Frank. Sein bestes Argument in der vom Richterbund geschürten Debatte: Deutschland wäre mit der Selbstverwaltung der Justiz nicht die Ausnahme von der Regel, sondern würde sich im Gegenteil der Praxis in 23 von 27 EU-Staaten anpassen. Es kann durchaus sein, dass Jopie Heesters den Schritt in die Selbstverwaltung noch erlebt.

Das Bild hat sich gewandelt: Früher meist konservativ und staatsgläubig, fordern Richter heute die Unabhängigkeit von den Justizministerien. Foto: Ostkreuz

Frank, Christoph: Zitate Deutscher Richterbund: Historisches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Milliarden-Wagnis

Höchste Zeit, die Unis zu sanieren - doch die Sorge wächst, dass das Geld des Konjunkturpakets versickert

Von Birgit Taffertshofer

Der Weg zum Hörsaal führt in Bochum über kaputte Bodenplatten und bröckelnde Betontreppen. Überall auf dem Hochschulgelände mahnen Warnschilder zur Vorsicht. Wer an der Ruhr-Universität studiert oder lehrt, dem fallen auf Anhieb gleich mehrere Bauvorhaben ein, die dringend angegangen werden müssten. Das Konjunkturprogramm des Bundes soll nun dabei helfen: Rissige Fassaden sollen saniert, Fenster isoliert und Labore modernisiert werden. In den kommenden beiden Jahren sollen deshalb etwa 8,7 Milliarden Euro nicht in Straßen, sondern in Hochschulen, Schulen und Kindergärten investiert werden. Von "neuen, nachhaltigen Zukunftsinvestitionen" ist die Rede. Doch es sieht nicht so aus, als hätten die Politiker diese auch sorgfältig geplant. Deshalb wächst in den Hochschulen die Sorge, dass der unverhoffte Geldregen wirkungslos versickert.

"Wenn das Milliarden-Paket die Konjunktur ankurbeln soll, dann muss es wirklich in zusätzliche Bauvorhaben fließen", betont Wedig von Heyden, Generalsekretär des Wissenschaftsrats, der Bund und Länder in hochschulpolitischen Fragen berät. Die beabsichtigte Wirkung sei nur zu erzielen, wenn nicht bereits fest verplante Mittel der Länder ersetzt werden. Von Heyden schätzt, dass die Hochschulen in den nächsten beiden Jahren problemlos drei Milliarden vor allem in kleinere Bauprojekte  stecken könnten, um immer wieder aufgeschobene, aber dringende Investitionen umzusetzen.

Der Hochschulbau in Deutschland ist seit Jahrzehnten vernachlässigt worden. In vielen Gebäuden tropft, zieht und bröckelt es - und die Sanierung kostet Milliarden. Gerade Nordrhein-Westfalen plagt sich mit einem gewaltigen Sanierungsstau. Während der Bildungsexpansion in den sechziger und siebziger Jahren wurden an Rhein und Ruhr die Universitäten erweitert oder gleich neue gegründet. Die Bausünden der damaligen Architekten und den jahrelangen Sparkurs beim Bauunterhalt müssen die Länder nun teuer büßen.

Alleine an der Ruhr-Universität in Bochum, an der 32 000 Studenten lernen, belaufen sich die Sanierungskosten auf eine Milliarde Euro. Oft gehe es schlichtweg darum, Leib und Leben zu schützen, sagt Uni-Kanzler Gerhard Möller, der auch Sprecher der nordrhein-westfälischen Kanzler ist. Doch die Hoffnung, dass mithilfe des Geldes aus Berlin verhindert werden kann, dass an Hochschulen Fassadenteile auf Passanten fallen oder diese auf löchrigen Böden stürzen, dämpft er. "Es hilft ja nicht, ein paar Bodenplatten auszuwechseln, wenn die ganze Konstruktion darunter kaputt ist."

Kosmetische Korrekturen

Noch weiß Möller nicht, wie viel Geld seine Uni aus dem Konjunkturpaket erhalten wird, aber so viel ist sicher: Selbst wenn eine Hochschule, wie ursprünglich von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) angestrebt, 500 000 Euro bekäme, würde das nicht einmal ausreichen, um die Fassade eines einziges Gebäudes in Bochum zu sanieren.

Wie viel Geld nötig wäre, damit alle Hochschulen wieder eine würdige Heimat für die Wissenschaft sind, kann heute niemand mehr sagen. Denn seit der Föderalismusreform sind alleine die Länder für den Hochschulbau zuständig. Eine bundesweite Übersicht über den Sanierungs- und Modernisierungsbedarf fehlt seitdem. Lediglich einige Bundesländer haben sich zuletzt dazu geäußert: Bayern will in den nächsten zehn Jahren vier Milliarden Euro in Hochschulgebäude investieren, Baden-Württemberg immerhin zwei und Nordrhein-Westfalen sogar acht Milliarden Euro. Geht man von dieser Basis und Erfahrungen aus der Vergangenheit aus, schätzt von Heyden, dass bis 2020 bundesweit 30 Milliarden Euro nötig wären, um die Hochschulen zu sanieren.

Angesichts solcher Dimensionen vermischt sich die Freude über das Geldgeschenk aus Berlin schnell mit Ärger. "Hier werden keine nachhaltigen Lösungen angestrebt, sondern nur öffentlichkeitswirksame Schönheitsreparaturen", meint der Regensburger Rektor Alf Zimmer. Natürlich könne auch er jeden Cent gut gebrauchen - obwohl Bayern im nächsten Jahrzehnt ohnehin fast 400 Millionen Euro in den altersschwachen Betonkomplex in Regensburg stecken will. Von Programmen, bei denen der Bund mit der Gießkanne Geld für Bauvorhaben verteilt, hält Alf Zimmer aber nichts: "Der Bund steigt damit wieder da ein, wo er noch nie Kompetenz bewiesen hat ."

Aus Sicht des Regensburger Rektors wäre es ganz einfach gewesen, "aus dem kurzatmigen Milliardenpaket ein echtes Zukunftsprogramm" zu machen. Zum Beispiel indem der Bund den Bonus für die Infrastruktur drittmittelfinanzierter Forschungsprojekte ausbaut. Der Bonus, "Overhead" genannt, soll sicherstellen, dass forschungsstarke Hochschulen nicht auf den Kosten für Labore, Rechenzentren und Bibliotheken sitzen bleiben, wenn sie im Wettkampf um Fördermittel bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) besonders erfolgreich sind. Der Bonus entspricht derzeit 20 Prozent der Fördersumme. Das ist zwar mehr als früher, aber noch immer müssten arme Hochschulen Forschungsmittel ausschlagen, weil sie das Geld für die Infrastruktur nicht haben, sagt Zimmer.

In den meisten anderen Hochschulen hält man sich mit so deutlicher Kritik lieber zurück. Stattdessen bastelt man eifrig an Wunschlisten und freut sich, dass die große Koalition auch etwas gegen die lähmende Bürokratie unternehmen will. Geplant ist ein vereinfachtes Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge. Mit wie viel Geld einzelne Unis rechnen können, ist aber noch unklar. "Die Hochschulrektorenkonferenz wird darauf drängen, dass die Hochschulen in einem angemessenen Umfang partizipieren", sagt Präsidentin Margret Wintermantel.

Blockierende Bürokratie

Doch auch die Vertreter der Schulen und Kindergärten melden nun Ansprüche an. Mancher stellt sich bereits die Frage, ob die Hochschulen nicht schon genug aus den Länderkassen erhalten. Einige Unis können sich mittlerweile tatsächlich nicht mehr über einen Mangel an Investitionen beklagen. In Frankfurt wird ein großer Teil der Goethe-Universität ganz neu gebaut. Das Land Hessen zahlt dafür fast zwei Milliarden Euro. Auch Hamburg denkt derzeit darüber nach, die Uni nicht mehr zu sanieren, sondern an anderer Stelle neu zu errichten.

"Am wichtigsten ist, dass die Hochschule selbst das Geld bekommt", sagt Kanzler Möller. Nur sie wisse, welche Investition sinnvoll sei. In Bochum möchte die Uni-Leitung eine zentrale Servicestelle für Studenten einrichten. Momentan sind die Büros auf drei Gebäude verteilt, und die wartenden Studenten versperren regelmäßig die Flure.

Viele Hochschulen sind marode. An der Uni Bochum müssen aus Sicherheitsgründen immer wieder Wege gesperrt werden (links oben). In Regensburg sind Gebäude eingezäunt, um Passanten vor herabfallenden Fassadenteile zu schützen (links unten). Auch Baustellen machen das Studieren mühsam: Hörsäle bleiben oft wochenlang geschlossen. Einige Bundesländer wollen jetzt Milliarden in Sanierungen stecken. Dass sie überfällig sind, zeigt auch ein Blick in die Toiletten der Uni Hamburg. Fotos: dpa, actionpress

Finanzen im deutschen Hochschulbereich Universitäten in Deutschland Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erzieher werden Akademiker

Sachsen will die Ausbildung der Erzieher aufwerten. Zusätzlich zu bestehenden berufsbegleitenden Bachelor-Programmen sollen von Herbst 2009 an Studiengänge für angehende Erzieher in Dresden und an der Hochschule Zittau/Görlitz starten. Die TU Dresden bietet außerdem einen Masterstudiengang an, bei dem die wissenschaftliche Erforschung der Frühpädagogik im Zentrum steht. Erzieher wurden in Deutschland bisher nicht in Hochschulen, sondern in Fachschulen ausgebildet. SZ

Erzieherinnen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Reform der Reform

Hamburg will den Wechsel zur Primarschule flexibel gestalten

Die Hamburger Pläne sind ambitioniert: Die schwarz-gr n Koalition will das Schulsystem komplett umbauen. Die Schüler sollen künftig in sogenannten Primarschulen sechs Jahre gemeinsam lernen, nicht mehr nur vier. An neuen "Stadtteilschulen" sollen die Schüler später den Hauptschul- oder Realschulabschluss oder auch das Abitur nach 13 Jahren machen können. An den Gymnasien müssen Abiturienten bereits nach der zwölften Klasse zur Prüfung antreten. Die Koalition will mit den Reformen das Schulsystem gerechter gestalten und Kinder aus armen Familien und Migranten besser fördern. An den Hauptschulen in Hamburg scheitern laut Pisa-Studie bis zu 75 Prozent der 15-Jährigen an einfachsten Lese- und Rechenaufgaben.

Die Reform, die die CDU mit der Grünen Alternativen Liste (GAL) in der Hansestadt vereinbart hatte, stößt aber inzwischen auf kräftigen Widerstand. Kritiker werfen Bürgermeister Ole von Beust und seiner grünen Schulsenatorin Christa Goetsch vor, sie würden die Schulen überfordern. Ende vorige Woche kündigte Goetsch an, dass sie die Reform zwar nicht verschieben wird, aber zumindest die Umstellung auf die Primarschule flexibler gestalten will. Ursprünglich war geplant, dass bereits 2010 keine Schüler mehr nach der vierten Klasse die Grundschule verlassen sollen. Jetzt will Goetsch den Schulen freistellen, ob sie zu diesem Zeitpunkt schon Primarschule sein wollen oder nicht. Verbindlich eingeführt werden soll diese Schulform nun erst ein Jahr später.

Obwohl viele Eltern und Lehrer begrüßen, dass die Schulen Zeit gewinnen, um die Reform besser vorzubereiten, stößt die Schulsenatorin mit ihrer Korrektur auch auf Kritik. Die SPD-Fraktion warf ihr vor, sie schiebe einmal mehr den Schwarzen Peter den Schulen zu. "Jetzt ist die Unklarheit perfekt. Was sie jetzt macht, ist nichts Halbes und nichts Ganzes", sagt der SPD-Abgeordnete Thies Rabe. Der Hamburger Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Klaus Bullan, sieht durch den flexiblen Übergang Planungsprobleme auf die Schulen zukommen. "Es ist nicht vorherzusehen, wie sich Schulen und Eltern entscheiden", warnt er. taff

Grundschulen in Hamburg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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FDP will Präsenz in Europa stärken

Koch-Mehrin mit 96 Prozent zur Spitzenkandidatin gewählt

Berlin - Die FDP will ihre Präsenz im Europäischen Parlament nach der Europawahl am 7. Juni ausbauen. Angesichts ihrer steigenden Umfragewerte rechnen sich die Liberalen gute Chancen aus, künftig, statt bisher sieben, bis zu zwölf Abgeordnete stellen zu können. Sollte die CSU die bundesweit erforderlichen fünf Prozent nicht schaffen, könnten sogar noch zwei oder drei Mandate mehr für die FDP herausspringen. Am vergangenen Samstag stellte die Partei in Berlin ihre Kandidatenliste für die Europawahl auf. Spitzenkandidatin wurde wie schon 2004 Silvana Koch-Mehrin. Sie erhielt 95,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auf Platz zwei der Liste bekam Alexander Graf Lambsdorff, 42, sogar noch einen Prozentpunkt mehr.

Die promovierte Volkswirtin Koch-Mehrin, Mutter von drei Töchtern, gilt als das Gesicht der FDP im Europa-Parlament. Die hochgewachsene 38-Jährige macht vor allem durch freimütige Äußerungen immer wieder von sich reden. So beklagte sie, dass viele Europa-Abgeordnete während der Sitzungswochen die Dienste von Prostituierten in Anspruch nähmen. Eines ihrer Lieblingsthemen ist der "Wanderzirkus" des Parlaments zwischen Straßburg und Brüssel. 200 Millionen Euro jährlich kosteten allein die Reisen der Parlamentsverwaltung, rechnete Koch-Mehrin in ihrer Parteitagsrede vor. Auch die Regelungswut der EU-Bürokraten vom Verbot der Glühbirne bis zu Richtlinien für das Aufstellen von Leitern geißelte Koch-Mehrin. "Wir Liberale wollen die EU nicht als Öko-Diktatur. Wir wollen die EU nicht als den Alltag regulierendes Bürokratiemonster." Die FDP wolle ein starkes Europa, das sich auf das Wesentliche konzentriere.

FDP-Chef Guido Westerwelle bezeichnete das geeinte Europa als "historisches Glück". Bei aller Kritik an den bürokratischen Auswüchsen in Brüssel gelte doch: Selbst wenn Europa nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen Frieden in Freiheit und Wohlstand, hätte es sich schon gelohnt. In Westerwelles Parteitagsrede nahm die Innenpolitik den größten Raum ein. Das Jahr 2009 mit seinen vielen Wahlen sei auch ein Jahr der Entscheidung darüber, welche Richtung das Land nehmen werde, sagte Westerwelle. Dem "Linksspuk" müsse ein Ende bereitet werden. Peter Blechschmidt

Gratulation: Silvana Koch-Mehrin und Guido Westerwelle. dpa

Koch-Mehrin, Silvana: Karriere Koch-Mehrin, Silvana: Zitate Freie Demokratische Partei (FDP): Spitzenkandidaten Europawahl 2009 in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Unis suchen Partner in Entwicklungsländern

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) will den wissenschaftlichen Austausch mit Entwicklungsländern fördern. Von Mai an sollen an fünf deutschen Hochschulen Kompetenzzentren für Entwicklungszusammenarbeit entstehen, teilte DAAD-Generalsekretär Christian Bode Ende voriger Woche mit. Das Bundesentwicklungsministerium stelle dafür 25 Millionen Euro bereit. Die neuen Zentren sollen mit Partnerhochschulen in Entwicklungsländern zusammenarbeiten und Spitzenwissenschaftler nach Deutschland einladen. Für die Förderung haben sich bereits 44 Universitäten beworben, 13 wurden nun für die Endrunde ausgewählt. Dazu gehören die TU Berlin und die Humboldt-Universität sowie die LMU München und die Fachhochschule Köln. SZ

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) will den wissenschaftlichen Austausch mit Entwicklungsländern fördern. Von Mai an sollen an fünf deutschen Hochschulen Kompetenzzentren für Entwicklungszusammenarbeit entstehen, teilte DAAD-Generalsekretär Christian Bode Ende voriger Woche mit. Das Bundesentwicklungsministerium stelle dafür 25 Millionen Euro bereit. Die neuen Zentren sollen mit Partnerhochschulen in Entwicklungsländern zusammenarbeiten und Spitzenwissenschaftler nach Deutschland einladen. Für die Förderung haben sich bereits 44 Universitäten beworben, 13 wurden nun für die Endrunde ausgewählt. Dazu gehören die TU Berlin und die Humboldt-Universität sowie die LMU München und die Fachhochschule Köln.

Deutscher Akademischer Austauschdienst e. V. (DAAD) SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rad-Szene zittert vor Fuentes

Affäre wieder aufgerollt

Madrid - Gut zweieinhalb Jahre nach ihrem Ausbruch gibt es in der Dopingaffäre "Operación Puerto" eine ungeahnte Wendung. Wie El País am Wochenende berichtete, werden die Verantwortlichen des damals polizeilich zerschlagenen Dopingrings um den spanischen Arzt Eufemiano Fuentes nun doch vor Gericht gestellt. Entgegen der Argumentation von Ermittlungsrichter Antonio Serrano sah ein Berufungsgericht in Madrid sehr wohl Indizien für Delikte gegen die öffentliche Gesundheit. Serrano hatte dies bislang bestritten und den Fall bereits zweimal zu den Akten gelegt, zuletzt im Oktober vorigen Jahres.

Offen ist, wann der Prozess zustande kommen kann. Spaniens Justiz versinkt im Chaos, zum Jahresende waren mehr als 2,5 Millionen Verfahren anhängig. Vorerst angeordnet worden ist erstens, dass Serrano die Ermittlungen nicht ein drittes Mal einstellen darf und - zweitens - ein verkürztes Verfahren zwingend ist. Sollte einer der Nebenkläger auf einer mündlichen Verhandlung bestehen, würde es zu einer mutmaßlich öffentlichen Verhandlung kommen. Laut El País ist davon auszugehen. Unklar ist, ob dann alle acht ursprünglich Beschuldigten und Festgenommenen - unter anderen Doktor Fuentes, seine Schwester Yolanda, der Blutexperte José Luis Merino Batres und der Radsportdirektor Manolo Saiz - angeklagt werden. Sportler können keinesfalls angeklagt, allenfalls als Zeugen geladen werden.

Besonders interessant würde ein Prozess vor allem dann, wenn Fuentes vollumfänglich auspackt. Bislang hat er stets erklärt, nicht nur Radprofis, sondern auch Berufssportler aus anderen Disziplinen betreut zu haben. Seine Gattin, die frühere Leichtathletin Cristina Pérez, sagte jüngst, Spaniens Sport würde zusammenbrechen, wenn sie alles offen lege, was sie wisse. US-Radprofi Lance Armstrong erklärte am Samstag, dass "die Medien die Verantwortung haben, sich zu vergegenwärtigen, dass die Operación Puerto keine Rad-, sondern eine Sportkontroverse ist". Wer über Radsport spreche, müsse "über Fußball, Tennis, über jeden sprechen, der (in die Affäre/d. Red.) verwickelt ist."

Laut El País könnte die Neuaufnahme des Falls auch sportrechtliche Konsequenzen haben. So könnten die sichergestellten Asservate, unter anderem 200 Blutproben und Trainingspläne, nach einem Urteil auch von Sportverbänden ausgewertet werden. Zwar waren in den Fuentes-Unterlagen die Namen von 50 Radprofis zu finden, darunter auch Decknamen, die spanischen Radgrößen wie Alberto Contador oder Alejandro Valverde zugeordnet werden können. Aber nur in Italien und in Deutschland wurden insgesamt vier Radprofis gesperrt. Einige Sportler haben ihre Karriere beendet, unter ihnen der Deutsche Jan Ullrich. Andere dürften es bis zu einem Urteil noch tun. Javier Cáceres

Doping-Skandal in Spanien 2006 Rechtsprechung in Spanien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Geldstrafe nach Datenklau

Berlin - Mit einer Geldstrafe von 900 Euro ist ein früherer Mitarbeiter eines Call-Centers davongekommen, der dem Bundesverband der Verbraucherzentralen illegal sechs Millionen Datensätze verkauft hatte. Das berichtet der Spiegel. Die Verbraucherschützer hatten sich im Sommer vergangenen Jahres auf das Geschäft eingelassen, um zu beweisen, wie einfach selbst sensible Konto-Informationen auf dem Schwarzmarkt erworben werden können. Die Strafanzeige des Verbandes gegen den 22-jährigen Mann, der inzwischen arbeitslos ist, führte zu einem Strafbefehl des Amtsgerichts Münster. dpa

Handel mit Personendaten in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Küsse für das System

Von Andreas Burkert

Australien ist ein schönes Land, daran werden auch die Tonnen Ungeziefer und Insekten nichts ändern, mit denen sich dort deutsche Fünftliga-Promis in einem sogenannten TV-Dschungelcamp übergießen oder füttern lassen. Und auch Lance Armstrong dürfen sie diese Woche down under bis zur Besinnungslosigkeit zujubeln, die Australier lieben eben den Sport, und ein Sportler ist Armstrong ja jetzt doch wieder, irgendwie. Im Grunde muss man dem 37-jährigen Fitnessfreak sogar dankbar sein für das dreisteste Comeback, das der Sport bisher sah. Denn es soll ja zuvor doch Menschen gegeben haben, die wirklich an ein Umdenken im Radsport glaubten.

Niemand behauptet, dass Armstrong zurzeit dopt, denn das ist fast einerlei. Wertvoll genug ist das Signal, das seine Branche aussendet, indem sie vor einem mutmaßlichen Großmeister des Mobbings und medizinischen Betrugs kuscht und ihn feiert, als verlöre man beim Strampeln nicht nur Kalorien, sondern auch Hirn. Armstrongs allseits goutierte Rückkehr belegt eindrucksvoll, wie intakt das alte System ist, ein System, das selbst die Puerto-Affäre um den Madrider Arzt Fuentes überstanden hat. Dass jetzt ein Madrider Berufungsgericht diesen Skandal und damit die entlarvenden Ermittlungsergebnisse der eigenen Guardia Civil wieder thematisieren möchte, mag einige Drahtzieher der Blutbank beunruhigen. Aber Armstrongs Radsport?

Nein, dieser Radsport zittert jetzt bestimmt nicht, denn zu weit reichen seine Arme. Denn Claqueure sitzen ja nicht nur im Weltverband, sondern angeblich sogar in Laboren und ganz sicher, siehe Spanien, in der Regierung: Jaime Lissavetzy ist dort ein Sportminister, der sich nicht etwa vom aktenkundigen Fuentes-Kunden Alberto Contador fernhält - sondern dem Landsmann nach Erfolgen bei der Tour oder im Giro küssend um den Hals fällt. Lissavetzky besitzt zudem die Exlusivsicht, nur Radler wie Ullrich, Basso, Hamilton oder Schleck hätten sich von Fuentes flottmachen lassen - spanische Tennis- und Fußballidole entgegen Fuentes' Hinweisen aber nicht, Ehrenwort! Folgerichtig wurde Lissavetzky soeben - kein Scherz – zum europäischen Vertreter in der Weltantidoping-Agentur ernannt. Präsident der Wada ist übrigens John Fahey. Seine Empfehlung fürs Amt: War mal Finanzminister. In Australien.

Armstrong, Lance Doping-Skandal in Spanien 2006 Sport in Australien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Harsche Töne im Tarifkonflikt

Bundesländer und Verdi geben sich noch unvers hnlich

Von Detlef Esslinger

München - Der Mann scheint sich nicht verändert zu haben. Auf jede Frage antwortet er in genau einem Satz. Und könnte ein Mensch allein mit seiner Stimme eine Telefonleitung kappen, dann würde sie keine seiner Antworten überstehen; so schneidend spricht er. Wird es Lohnerhöhungen geben? "Acht Prozent sind ausgeschlossen", sagt er, "das geht nicht." Will er wirklich im Wahljahr lange Streiks riskieren? "Wer unter Zeitdruck verhandelt, der verhandelt schlecht." Wird er einen Schlichter . . . ? Hartmut Möllring (CDU), Finanzminister Niedersachsens, unterbricht: "Ein Schlichter kommt überhaupt nicht in Betracht."

An diesem Montag beginnen in Berlin die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der Länder, und Möllring gibt sich wieder harsch. So hatte er als Verhandlungsführer der Länder vor knapp drei Jahren die Gewerkschaften bis aufs Äußerste gereizt. Dreieinhalb Monate dauerte ihr Streik, und doch holten sie am Ende nicht viel mehr als Einmalzahlungen für die Jahre 2006 und 2007 sowie ein Plus von drei Prozent für das Jahr danach heraus. Jetzt fordern sie acht Prozent. Wird Möllring darauf mit einem Angebot antworten? "Nicht am Montag." Wann dann? "Weiß ich nicht." Warum? "Zuerst müssen wir den Gewerkschaften ihre acht Prozent ausreden. Dann können wir vernünftig miteinander reden."

Drei Verhandlungstermine sind vereinbart, auf diesen Montag folgen der 26. Januar sowie der 14. Februar. "Weitere wird es kaum geben", sagt wiederum Achim Meerkamp, Verhandlungsführer von Verdi. Die Materie sei nicht besonders komplex, alle Argumente seien bekannt. Gebe es auch nach dem 14. Februar kein Ergebnis, "muss der Konflikt ausgetragen werden". Mit anderen Worten: Dann gibt es nicht nur Warnstreiks.

Beide Seiten behaupten, aus dem Arbeitskampf von 2006 gelernt zu haben - der Minister Möllring, dass er recht hat ("Dass wir einen Streik aushalten können, hat die Gewerkschaften beeindruckt"), die Gewerkschaften, dass sie den Streik anders anlegen müssen als damals, wollen sie die Länder wirklich treffen. Sie sind dort nicht so gut organisiert wie bei den Kommunen, also müssen sie es machen wie die Techniker bei der Lufthansa. Die legten im Sommer mit wenigen Streikenden das ganze Unternehmen lahm. Könnten die Arbeiter in den Kfz-Meistereien der Polizei nicht genau so effektiv deren Apparat treffen? Wären die Angestellten in den Rechenzentren der Länder nicht imstande, die Kfz-Zulassungsstellen, die Landeskriminal- oder die Finanzämter zu blockieren? Ganz abgesehen von den Lehrern im Osten und an den bayerischen Berufsschulen, die überwiegend Angestellte sind.

Enger, aber warmer Rock

Der Gewerkschafter Meerkamp sagt, die Beschäftigten der Länder dürften nicht schlechter bezahlt werden als die des Bundes und der Kommunen, und sowieso werde es für den Staat immer schwieriger, guten Nachwuchs zu gewinnen, so schlecht sei dort die Bezahlung. Aber dem Finanzminister Möllring fällt auch dazu eine knappe Antwort ein. In Niedersachsen hätten sich neulich 4000 Bewerber für 500 Stellen bei der Polizei beworben. Das heißt, in Möllrings Diktion: "Des Kaisers Rock ist eng, aber warm."

Möllring, Hartmut: Zitate Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hohlmeier gewinnt - und Seehofer siegt

Die Strauß-Tochter und Kandidatin des Ministerpräsidenten schafft es auf einen sicheren Platz der CSU-Europaliste

Von Kassian Stroh

München - Trotz heftigen parteiinternen Widerstands hat sich die frühere bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier den sicheren sechsten Platz auf der Europaliste der CSU erkämpft. Bei der Delegiertenversammlung am Samstag setzte sie sich in einer Kampfabstimmung durch und erhielt 165 Stimmen; ihre Gegenkandidatin Gabriele Stauner, EU-Abgeordnete und Vorsitzende der CSU-Arbeitnehmerunion, bekam nur 115 Stimmen. Damit ersparten die Delegierten Parteichef Horst Seehofer eine Blamage. Er hatte die Kandidatur Hohlmeiers eingefädelt und sich im Vorfeld stark für sie eingesetzt.

Nach wie vor gebe es "viel Gegrummel" wegen Hohlmeier, berichteten Delegierte. Doch eine Niederlage bei der Listenaufstellung wäre auch für Seehofer fatal gewesen. Die Oberfranken-CSU hatte die Strauß-Tochter im Dezember auf Wunsch Seehofers nominiert. Seitdem gibt es in der CSU Proteste, die sich vor allem aus zwei Quellen speisen: Die einen erinnern an Hohlmeiers unglückliche Schulpolitik und ihre Verquickung in diverse Affären, deretwegen sie 2005 zurücktreten musste. Vor allem in Franken protestieren CSU-Mitglieder, weil eine Oberbayerin für sie antreten soll. Dort gab es auch Parteiaustritte.

Seehofer, der vor der Versammlung auf die "kollektive Intelligenz" der 300 Delegierten gesetzt hatte, warb nicht direkt für Hohlmeier. Er mahnte jedoch Geschlossenheit an und forderte, alle Regionen Bayerns bei der Vergabe der Spitzenplätze ebenso zu berücksichtigen wie die Frauen. Ansonsten sei die Delegiertenverssammlung "souverän". Sie werde "nicht bevormundet, nicht unter Druck gesetzt, nicht überfahren". Unter Seehofers Leitung hatte die Parteispitze einen Vorschlag für die vorderen Listenplätze vereinbart, der Hohlmeier auf Platz sechs vorsah. Er bestritt jedoch erneut, dass er Hohlmeier anfangs gar zur Spitzenkandidatin machen wollte.

Dass sie eine Kampfabstimmung überstehen musste, werteten nicht wenige Parteistrategen als ihr Glück: Hohlmeier hätte auch ohne Gegenkandidatin kaum ein besseres Ergebnis erhalten, hieß es. So aber seien 60 Prozent nicht blamabel. Auch Seehofer sagte: "Es ist gut, dass abgestimmt wurde." Hohlmeier lobte er für ihre ungeheuren Nerven: "Ich bewundere dich", sagte er. Gleichwohl verließen bei ihrer Rede Vertreter der mit ihr zerstrittenen Münchner CSU demonstrativ den Saal, nach der Bekanntgabe des Ergebnisses rührte sich bei den fränkischen Delegierten kaum eine Hand.

Seehofer freute sich dennoch: "Unsere Partei ist schon super." Dabei stand die Versammlung eine gute halbe Stunde zuvor noch auf der Kippe. Bei der Abstimmung um Platz fünf musste sich Parteivize Ingo Friedrich dem Landwirt Albert Deß geschlagen gegeben. Wäre Friedrich nun gegen Hohlmeier angetreten, hätte er nach Einschätzung mehrerer CSU-Führungsleute wohl gewonnen. "Dann wäre alles ins Rutschen geraten", hieß es hinterher. Hohlmeier wäre unter Umständen mehrere Plätze nach hinten durchgereicht worden. Doch Friedrich verzichtete. So konnte die Versammlung ähnlich reibungslos weiterlaufen, wie sie begonnen hatte: Die ersten vier Kandidaten Markus Ferber, Angelika Niebler, Anja Weisgeber und Manfred Weber erzielten alle Ergebnisse jenseits der 90 Prozent, Spitzenkandidat Ferber bekam 96,5 Prozent der Stimmen.

Zehn Jahre lang habe die Partei versäumt, sich zu erneuern, das habe er jetzt auf einen Schlag gemacht, lobte sich Seehofer selbst mit Blick auf sein junges Kabinett und die relativ jungen Europakandidaten: "Das ist eine Revolution, die hier seit zehn Wochen stattfindet. Wir haben die CSU um 180 Grad gedreht." Sein Ziel sei, eine Truppe von Nachwuchskräften zwischen 30 und 40 Jahren aufzubauen, ehe er seinen Hut nehme: sechs männliche, sechs weibliche. "Die zwölf Apostel" nennt Seehofer sein Projekt. Dazu zählt er Hohlmeier - auch wenn sie schon 46 Jahre alt ist. (Bayern)

"Wir haben die CSU um 180 Grad gedreht"

Horst Seehofer

Sie ist wieder da: Wegen ihrer Schulpolitik und diverser Polit-Affären musste die damalige bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier 2005 zurücktreten, sie gehört auch nicht mehr dem Bayerischen Landtag an. Trotz erheblicher Widerstände in der Partei wurde sie jetzt mit Unterstützung des CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer als Europakandidatin nominiert. Foto: dpa

Hohlmeier, Monika: Karriere Seehofer, Horst: Zitate Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU): Spitzenkandidaten Europawahl 2009 in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Protest gegen Rechts

Magdeburg/Ludwigshafen - Mehr als 5000 Menschen sind am Samstag in Magdeburg und Ludwigshafen gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen. Anlass des Protestes in Magdeburg war ein Aufzug von Rechtsextremen, die aus Anlass der Zerstörung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg vor 64 Jahren demonstrierten. Auch in Ludwigshafen versammelten sich zahlreiche Gruppen gegen Rechtsradikale. Der Protest eines "Bündnisses Ladenschluss Ludwigshafen" richtete sich gegen Läden, die unter anderem Neonazi-Kleidung verkaufen. dpa

Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Transparenz bei Bußgeld

Düsseldorf - Nordrhein-Westfalens Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) will die Vergabe von Bußgeldern an gemeinnützige Einrichtungen veröffentlichen. Die Ministerin sei bereit, dem Landtag eine Liste mit den begünstigten Einrichtungen auszuhändigen, teilte das Ministerium mit. Die bisher interne Verteilung war in die Kritik geraten, weil die frühere Bochumer Ermittlerin Margrit Lichtinghagen dabei private Interessen verfolgt haben soll. Die Pläne gelten nur für von Staatsanwaltschaften verhängte Geldbußen. dpa

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Tremolo der Bigotten

Nach dreieinhalb Jahren gibt Lance Armstrong ein umstrittenes Comeback - viele Australier und etliche Rivalen freuen sich darüber

Adelaide - Bevor es losging, kam das Pathos. "Wenn sie Ali nie Boxen gesehen haben und nie dabei waren, als Pelé ein Tor schoss - hier ist ihre Chance, Sporthistorie zu erleben", rief Mike Rann, der Ministerpräsident von Südaustralien, als er die 133 Radprofis am Sonntagabend in Adelaide auf 30 Runden durch einen der Parks der Stadt schickte. Ganz vorne an der Startlinie hatte sich im milden Licht der tiefstehenden Sonne Lance Armstrong aufgebaut. Drahtig, fit, mit einem Lächeln im Gesicht. Die Down Under Classics sind als Rennen nicht allzu ernstzunehmen. Sie zählen noch nicht einmal zu der nicht allzu ernstzunehmenden Tour Down Under, die an diesem Dienstag beginnt. Aber sie sind ein Profi-Rennen, und die Ausgabe 2009 wird deshalb tatsächlich einen kurzen Eintrag in die Historie des Sports finden: Als erster Auftritt des siebenmaligen Tour-de-France-Siegers Lance Armstrong nach dreieinhalb Jahren Pause. Als der Auftakt seines zweiten Comebacks. Im Alter von 37 Jahren. Mit dem Sieg hatte der Ali auf Rädern an diesem Abend nichts zu tun. Armstrong rollte weit hinter dem Tagessieger Robbie McEwen als 64. ins Ziel. "Das hat Spaß gemacht", beschied Lance Armstrong trotzdem. Um das Ergebnis ging es an diesem sonnigen Sonntag nicht. Es ging um eine Botschaft - und die war angekommen.

Krieger mit Armbändchen

"Unterstützen sie Livestrong!", hatte es unmittelbar vor dem Startschuss aus den Lautsprechern geschallt. "Unterstützen sie Lance bei seinem Kampf gegen den Krebs!", hatte der Conférencier die Zuschauermenge bei der Präsentation des Astana-Teams aufgefordert, und Armstrong selbst hatte mit ernster Stimme zwei Zahlen erklärt, die er sich auf sein Rad hatte lackieren lassen: 1274 - so viele Tage sind seit seinem letzten Rennen vergangen -, und 27,5. So viele Millionen Menschen seien seitdem weltweit an Krebs gestorben.

Armstrong, das ist schon oft erzählt worden, hatte selbst Krebs. Metastasiert, im fortgeschrittenen Stadium. Doch er überlebte, kam zurück und kämpfte bei der Tour alle nieder. Sieben Mal nacheinander. Nun führt er einen anderen Kampf. Der Krebs ist sein Gegner, gegen den er mit einer Stiftung antritt. Die "Livestrong-Armee" nennt die sich selbst. Zu erkennen sind die Krieger an gelben Gummi-Bändern am Handgelenk. Armstrong gibt den Oberbefehlshaber. Gut möglich, dass ihn der Kampf eines Tages in die Politik führt.

Aber so weit ist es noch nicht. Im Sommer will er bei der Tour de France antreten, zuvor schon den zweiten großen Klassiker bestreiten, den Giro. "Die Aufmerksamkeit ist jetzt schon größer, als ich gedacht habe", sagt er: "Das ist gut für den Radsport und gut für die Krebs-Kampagne. Es ist gut für all die Gründe, wegen denen ich zurückgekommen bin." Nicht wenige sehen das ein wenig anders.

Tyler Hamilton, Floyd Landis, Ivan Basso, vielleicht auch Alexander Winokurow - in diesem Jahr kehren viele Radfahrer zurück, die als Betrüger entlarvt wurden. Dazu Armstrong, ein in Nachtests überführter, aber nicht verurteilter Doper. 1999 hatte eine Probe des Amerikaners bei der Tour de France einen ungewöhnlichen Kortikoid-Wert aufgewiesen. Mit Verweis auf ein nach dem Test eingereichtes Rezept blieb das folgenlos. Aus dem gleichen Jahr sind sechs Urinproben dokumentiert, die Epo-Spuren zeigten. Diese wurden allerdings erst Jahre später bei Nachtests gefunden und von der Zeitung L'Équipe enthüllt. Armstrong bezeichnete das als "Hexenjagd" und versicherte: "Ich habe nie leistungssteigernde Mittel genommen." Der Radsport-Weltverband UCI glaubte ihm. Sanktionen blieben aus. Beim Comeback jetzt ist die UCI Armstrong behilflich. Obwohl er sich ein paar Tage zu spät für das Kontrollprogramm angemeldet hat, darf er in Australien starten. Den Sportgewaltigen ist er offenbar hochwillkommen. Die vergangenen Jahren waren fatal für ihre Show: Reihenweise purzelten die Helden, Sponsoren sprangen ab, in Deutschland stiegen die öffentlich-rechtlichen Sender aus. Armstrong braucht mit derlei allerdings keiner kommen. Ob er sich schon einmal Gedanken über die moralischen und wirtschaftlichen Folgen des Dopings gemacht habe? Die Antwort kommt schnell und mit fester Stimme: "Nein." Wirklich nicht? "Nein."

Für den Absturz, den der Sport im Kernmarkt Deutschland erlebt, hat Armstrong eine einfache Erklärung, eine rein kapitalistische: "Die Sponsoren haben mit einem bestimmten Ziel in den Sport investiert. Sie wurden enttäuscht. Deshalb ziehen sie sich jetzt zurück. Mit dem Fans ist es genauso. Sie haben Emotionen investiert und wurden enttäuscht. Deshalb wenden sie sich ab." Er selbst hat noch nie enttäuscht. Deshalb sei die Aktie Armstrong ein lohnendes Investment. Immer noch. Fritz Pleitgen, dem Präsident der Europäischen Rundfunkunion, der die Tour in diesem Jahr nicht live in der ARD sehen will, habe er das auch so erklärt: "Ich habe ihm gesagt: Ich fahre. Ich fahre, weil ich einen mächtigen Grund habe. Und es ist mir egal, was sie oder ihr Land darüber denken." Ein freundliches Gespräch kann das nicht gewesen sein. "Ich finde es interessant, dass es einige Länder gibt, die gegen mein Comeback sind", hat Lance Armstrong in Adelaide gesagt, "und hier ist das ganz anders."

Antrittsgage in Millionenhöhe

Die Bigotterie der Australier beim Thema Doping ist kaum zu übertreffen. Einerseits wird der Fairplay-Gedanke gehegt und gepflegt und jede außergewöhnliche Leistung mit Argusaugen betrachtet, andererseits schwemmt die Sportbegeisterung alle Zweifel fort, sobald irgendwie die Heimat im Spiel ist. Und bei Armstrongs Auftritt war das Land mächtig mit von der Partie. Die Tour Down Under gehört dem Bundesstaat South Australia. Ausrichter ist die Tourismusbehörde. Armstrong kam nicht umsonst. Angeblich kassierte er für sein Gastspiel eine Millionen Euro. Als Gegenwert gab es Aufmerksamkeit. Seit die Formel 1 nach Melbourne zog, dürften auf einen Schlag nicht mehr so viele ausländische Journalisten nach Adelaide gefunden haben wie am Wochenende. 2008 waren 200 für die Tour Down Under akkreditiert, dieses Mal doppelt so viele. Zum ersten Mal wurden die TV-Rechte international verkauft. Statt wie im vergangenen Jahr 75 000, säumten bei der Stadtrundfahrt dieses Mal mehr als 120 000 Menschen die Straßen. Sie hießen Armstrong mit warmem Jubel willkommen, was bei dem Jubel-Tremolo der Medien auch nicht anders zu erwarten war.

Im Radio liefen Armstrongs Lieblingshits, der Adelaide Advertiser legte eine Posterserie auf. Ein Kolumnist forderte, Armstrongs Biographie "It's not about the bike", in der schon auf den ersten zehn Seiten 198 Mal das Wort "ich" vorkommt, sollte zur Pflichtlektüre in den Schulen erhoben werden. Das Testosteron-Blatt Alpha schwärmte über "die zwei Laserstrahler, die er Augen nennt", das Bicycling-Magazin geißelte böse "Gruppen, die aus egoistischen Gründen Schmutz auf ihn geworfen haben", und brav wurde überall die Versicherung der Sportministerin wiedergegeben, das Anti-Doping-Programm bei der Rad-Veranstaltung sei das strengste, das es in ihrem Land je gegeben habe. Dass viele Mittel gar nicht nachzuweisen sind, wurde dagegen selten geschrieben. Etwas unter ging auch, dass aus Armstrongs groß angekündigtem Versprechen, er werde sich vom Mediziner Don Catlin regelmäßig durchleuchten lassen und die Ergebnisse im Internet veröffentlichen, bisher noch nichts geworden ist. Catlins Aufsicht begann offenbar erst in Australien, was sie reichlich entwertet.

Rechtzeitig begonnen haben dagegen die Aufnahmen für die Dokumentation, die der nicht uneitle Armstrong über seinen Comeback-Versuch fertigen lässt. Viele Kollegen, so hatte es am Sonntag den Anschein, würden darin gerne eine Nebenrolle spielen. Der Australier Stuart O'Grady bewarb sich mit der Aussage, Armstrongs Rückkehr sei "phänomenal": "In jeder Zeitung steht auf jeder Seite etwas darüber." Oscar Pereiro, spanischer Tour-de-France-Sieger 2006, sprach von einem "sehr mutigen Schritt", der das Peloton wieder zurück in die Aufmerksamkeit rücke. Selbst Neil Stephens, als Manager des Caisse-d'Epargne-Teams eigentlich ein Gegner, sagte: "Als Radsportfan finde ich es großartig, dass in diesem Jahr so viele zurückkehren. Das wird eine spannende Tour de France." Fürwahr. René Hofmann

Astana leuchtet: Lance Armstrong, der neue alte Mann im Pulk, führt die Farben seines Teams vor. Foto: dpa

Armstrong, Lance Doping im Radsport Sport in Australien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wie eine Schachtel Pralinen

Die Leistung der deutschen Mannschaft zum Auftakt der Handball-EM gegen Russland gibt Rätsel auf: Ist das Team jugendlich frisch oder doch nur naiv?

Varazdin - Die gute Nachricht für Freunde des Handballs im Land: Der Weltmeister muss nun doch nicht zu den Zwergen gerechnet werden, wie die Pessimisten vermutet hatten; es finden sich im größten Handballverband der Welt doch noch einige Spieler, die einigermaßen mit der Kugel umgehen können. Die weniger gute Nachricht: Zwar sind die Deutschen keine Zwerge, aber was sie stattdessen sind, das ist nach dem ersten Wochenende der Handball-WM in Kroatien schwer zu sagen (das zweite Spiel gegen Tunesien war bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht beendet). Eine junge, schwungvolle Mannschaft, die auf dem Feld mit Begeisterung und Wucht zu Werke geht? Eine naive Auswahl, die blind in die Fallen des Gegners rennt? Eine Mannschaft mit toller Abwehr und müdem Angriff oder doch eher eine mit kraftvoller Attacke und löchriger Defensive? Die Antwort ist: Sie sind das alles, und noch viel mehr. Und deshalb ist überhaupt nicht vorherzusagen, was sie in diesem Turnier noch alles anstellen werden.

Auch Bundestrainer Heiner Brand weiß nicht so genau, was er von der Mannschaft halten soll. Er selbst hat diese Auswahl zusammengestellt, er hat ein paar Etablierte nicht mehr berücksichtigt und ein paar Neulinge dazugebeten. Und nun schaut er auf sein Werk und sieht - nun ja, dass es wächst, immerhin. "Wenn man sieht, wie die Mannschaft kämpft, dann gibt das Zuversicht für die nächsten Spiele", brummt er zufrieden. Bei den Olympischen Spielen hatte Brand den Eindruck gewonnen, dass nicht alle an ihre Grenzen gegangen waren. Diesen Eindruck erweckt die jetzige Mannschaft nicht mehr. Aber hat sie die Nerven für dieses Turnier? Die Erfahrung hat sie nicht, das ist klar, und deshalb sagte Brand am Samstagabend nach dem 26:26 gegen Russland: "Wenn mir vorher jemand das Unentschieden angeboten hätte, dann hätte ich es vielleicht angenommen." Was er aber auch sagte: "Wenn man sich den Spielverlauf ansieht, kann man mit den Ergebnis nicht zufrieden sein." Was wiederum daran liegt, dass die Deutschen das Spiel hätten gewinnen können und mit mehr Erfahrung auch gewonnen hätten.

Mit fünf Toren Vorsprung führten sie neun Minuten vor dem Ende; zwar ist Handball ein Sport, in dem Rückstände schnell aufgeholt sind, aber in dieser Phase dominierte die deutsche Auswahl die Partie; die Abwehr arbeitete hervorragend, den Russen fiel kein Mittel ein, den Verbund zu knacken, und vorne trafen Spieler wie Michael Müller, ganz neu dabei und eine große Hoffnung im rechten Rückraum. In dieser Phase lief es für die Deutschen wie im Traum, alles klappte, und es bestand Anlass zu der Hoffnung, dass hier überraschend etwas Großes entstehen könnte: eine neue Mannschaft, die fehlende Erfahrung mit Freude und Energie überspielt. Dann aber verloren die Deutschen die letzten neun Minuten der Partie 1:6, so dass es am Ende ein Unentschieden wurde. "Ich weiß, was Sie fragen wollen", sagte Pascal Hens, "war es ein Punktgewinn oder ein Punktverlust?" Er beantwortete die Frage dann auch, indem er ausführte: Es war ein bisschen was von beidem. Das Ergebnis passte also gut zu einer Mannschaft, die ein bisschen was von allem ist.

Bei allen Unwägbarkeiten gibt es auch einige Konstanten im Team; die wichtigste ist die Hamburger Fraktion um Hens. 17 von 26 Toren gegen die Russen gingen auf das Konto von Torsten Jansen (sieben), Stefan Schröder (eins) und eben Hens, der neun Treffer erzielte. Dazu kommt Torwart Johannes Bitter, der zum Spieler des Spiels gewählt wurde - eine etwas übertriebene Ehrung vielleicht, da Bitter einige Fehler unterliefen, die er allerdings mit einer ganzen Reihe von spektakulären Paraden ausglich. An diesem Kern vom HSV Hamburg kann sich der Rest der Mannschaft orientieren. Selbst der mit Lob traditionell sparsame Brand sagte am Samstag: "Man hat gesehen, welche Bedeutung Pascal Hens für die Mannschaft hat.An ihm richten sich die anderen auf."

Dass nun auch der Hamburger Rechtsaußen Schröder ein bedeutender Spieler fürs Team ist, liegt daran, dass sich mal wieder ein Spieler schwer verletzt hat: Der Magdeburger Christian Sprenger erlitt einen Innenbandriss am Knie und reiste am Sonntag ab. Ob auch das Kreuzband beschädigt ist, wird sich in Deutschland zeigen. "Das ist ein Schock für uns", sagte Dominik Klein, "wir müssen das jetzt als Mannschaft auffangen." Damit immerhin haben sie alle bereits Erfahrung, denn dass sich deutsche Nationalspieler bei großen Turnieren verletzen, ist mittlerweile so selbstverständlich wie die drei großen Tatsachen des Lebens: Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben Geheimnisse. Es bestünde für Brand die Möglichkeit, den erfahrenen Lemgoer Florian Kehrmann nach der Vorrunde nachzunominieren, doch erst einmal wird er abwarten, wie sich Schröder macht.

Die Rechtsaußen-Position ist also eine weitere Unwägbarkeit in einer Mannschaft, die sich ausprobiert. Schröder hat nun die Chance, zu einer Größe aufzusteigen, wie die ganze Mannschaft die Chance hat zu wachsen. Im Hollywood-Film "Forrest Gump" zitiert die Titelfigur mehrmals eine Art Weisheit: "Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt." Wenn man nun in diesem Satz "Das Leben" ersetzt durch "Die deutsche Handball-Nationalmannschaft", dann hat man die unberechenbare Auswahl von 2009 trefflich beschrieben. Christian Zaschke

Pascal Hens wollte sich über die Härte der Russen gar nicht beschweren, als er sagte: "Da sind einige Ochsen drin." Er wollte das nur festhalten. AFP

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"Ich habe über die Ukraine die reine Wahrheit gesagt"

Bei seiner Deutschland-Visite gibt Russlands Premier Putin den Krisenmanager, der weiß, wo im Gasstreit die Schuldigen sitzen

Wladimir Putin wirkt müde, abgespannt. Seine Gesichtsmuskel sind ständig in Bewegung, es zuckt um die Mundwinkel, die Zunge fährt hastig über die Lippen. Nervös und ungeduldig spielt er mit einer Büroklammer, dreht sie ständig zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Ein langer Tag liegt hinter dem russischen Ministerpräsidenten: Am Morgen wirbt er bei Angela Merkel im Kanzleramt um Verständnis für die russische Position im Gasstreit, dann beruhigt er beim Besuch der "Grünen Woche" einige ums Gas besorgte Berliner: "Wir haben aufgedreht." Am Abend erscheint er im Smoking beim vierten Semperopernball in Dresden, wo ihm Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich den "Sächsischen Dankorden" überreicht. Den bekommen Menschen, die "gegen den Strom schwimmen" und "unbeirrt und voller Mut" etwas Besonderes für Sachsen geleistet haben. Putin war 1985 bis 1990 als Agent des sowjetischen Geheimdienstes KGB in der DDR im Einsatz, vorwiegend in Dresden. Und sorgte dann nach dem Mauerfall dafür, dass drei im Zweiten Weltkrieg geraubte Gemälde in die Staatlichen Kunstsammlungen nach Dresden zurückkehrten. Etliche Kunstwerke fehlen allerdings noch.

Es ist später Freitagabend, neun Minuten vor Mitternacht. Putin, wieder in Zivil, hat eine kleine Schar deutscher Journalisten ins "Kempinski" im Dresdner Taschenbergpalais gebeten, weil er am nächsten Morgen nach Moskau muss, um den Streit um das russische Gas beizulegen. "Es ist ein großer politischer Schaden", sagt der russische Ministerpräsident, "aber wir haben keine Wahl."

Zwei Stunden lang schimpft er auf die Ukraine, den Präsidenten Viktor Juschtschenko und die Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, mit der er sich dann in der darauffolgenden Nacht im Gasstreit einigen wird, zumindest vorläufig.

Putin gefällt sich in der Rolle des Krisenmanagers, auch als Premierminister hält er in Russland die Fäden fest in der Hand. Und sein Schönstes ist es, wenn er die europäischen Regierungschefs gegeneinander ausspielen kann. Darüber klagt auch Kanzlerin Angela Merkel, und sie hat es ihm am Freitag offenbar in aller Deutlichkeit gesagt: "Sie hat mit mir geschimpft", gesteht Putin und schaut dabei so listig verschlagen, dass ihm jeder anmerkt, wie sehr er sich darüber freut. Mit der Kanzlerin hat er sich auf eine Expertengruppe verständigt, die das Gasleitungsnetz der Ukraine überprüfen und überwachen soll, damit es nicht abermalig zu einseitigen Lieferstopps kommt. "Ein Monopol", kritisiert Putin, "ist immer schädlich" und bezichtigt die Ukraine der "technologischen Barbarei", die erst dann überwunden werde, wenn die geplante Ostsee-Pipeline gebaut sei und sich Russland nicht mehr erpressen lassen müsse. Zu Zeiten der Sowjetunion hätten die Russen "nie gegen ihre Verpflichtungen verstoßen, auch im Kalten Krieg nicht". Und dann spricht der Ministerpräsident, als wolle er alle Zweifel endgültig beseitigen, plötzlich deutsch: "Ordnung muss sein."

Für die Deutschen, beruhigt Putin, gebe es "keinen Grund zur Besorgnis", er lasse einen treuen Verbündeten nicht im Kalten sitzen. Und als wolle er das deutsch-russische Verhältnis noch einmal besonders bekräftigen, erteilt er dem anwesenden russischen Regisseur Alexander Sokurov das Wort, der gerade Goethes "Faust" als abendfüllenden Spielfilm dreht - in deutscher Sprache und mit internationaler Besetzung. Deutschland sei "ein nahes Land, ein geliebtes Land", schwärmt Sokurov, auch Nazismus und Stalinismus hätten es "nicht vermocht, uns zu trennen".

Mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama hat Putin noch nicht gesprochen, er sei aber "bereit zu gemeinsamer Arbeit", beim Kampf gegen Massenvernichtungswaffen, im Nahen Osten und bei Iran. Die große Begeisterung der Europäer für Obama resultiere wohl "aus der großen Enttäuschung über die Bush-Ära", meint Putin. Auch auf ihn mache der künftige US-Präsident den Eindruck eines „aufrichtigen und offenen Menschen". Doch: "Ich hatte bisher noch keinen Kontakt."

"Ich weiß ja nicht, was Sie schreiben wollen", sagt Putin, als er kurz vor zwei Uhr nachts die letzte Frage zulässt, "schreiben Sie, was Sie wollen. Aber ich habe über die Ukraine in den vergangenen Wochen die reine Wahrheit gesagt." Putin kommt mit sechs Stunden Schlaf aus. Aber in dieser Nacht, vor dem Aufbruch zum Moskauer Gasgipfel, "werden es nur dreieinhalb Stunden sein." Hans Werner Kilz

Ministerpräsident Stanislaw Tillich zeichnete den russischen Regierungschef Wladimir Putin (links) mit dem "Sächsischen Dankorden" aus. Foto: Reuters

Putin, Wladimir: Dienstreisen Putin, Wladimir: Zitate Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- Beziehungen Deutschlands zu Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bulgaren wollen mehr Atomkraft

Sofia - Angesichts der Gaskrise haben in Bulgarien mehr als 10 000 Menschen am Sonntag den Neustart von Reaktoren im Atomkraftwerk Kosloduj an der Donau gefordert. Die Teilnehmer an der Kundgebung vor dem Regierungssitz in Sofia waren aus dem ganzen Land zusammen gekommen. "Für eine starke bulgarische Wirtschaft" und "Vorwärts zum Hochfahren der Blöcke 3 und 4!", hieß es auf Transparenten. Zu der Demonstration hatten kleinere politische Parteien sowie die Gewerkschaften aufgerufen. Einer der beiden Reaktoren könnte nach Abstimmung mit der Europäischen Union binnen einer Woche wieder ans Netz gehen, erläuterte Kosloduj-Direktor Iwan Genow im Staatsrundfunk. Als Voraussetzung für den EU-Beitritt Bulgariens 2007 waren die beiden 440-Megawatt-Blöcke zuvor wegen Sicherheitsbedenken in Brüssel stillgelegt worden. Doch die Regierung in Sofia bekräftigt immer wieder, dass die Reaktoren sowjetischer Bauart nach einer umfassenden Modernisierung sicher seien. Das zu 95 Prozent von den russischen Gaslieferungen abhängige Land erhält wegen des Streits zwischen Moskau und Kiew seit fast zwei Wochen kein Gas mehr. dpa

Viele Bulgaren sind sauer, weil sie seit zwei Wochen in kalten Wohnungen sitzen. Foto: AP

Atomenergie in Bulgarien Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Auf dem sinkenden Schiff

Ein Reeder soll Real Madrid als Übergangspräsident retten

Madrid - Seine erste Amtshandlung vollzog Vicente Boluda Fos am Samstag, nur die Kameras des vereinseigenen Senders Real Madrid TV waren als Protokollanten zugelassen. Rund 24 Stunden, nachdem der 53-jährige Boluda, Real-Sozius mit der Mitgliedsnummer 47 936, das Präsidentenamt bei Real von Ramón Calderón übernommen hatte, stattete er der Fußballmannschaft einen kurzen Antrittsbesuch ab. Ohne Krawatte, das himmelblaue Hemd unter dem grob karierten Sakko offen, legte er auf dem Trainingsplatz in der Sportstadt Valdebebas, vor den Toren Madrids, den Arm um den erst seit einem Monat amtierenden Trainer Juande Ramos und wünschte ihm und der Mannschaft gutes Gelingen. Um "Einheit" bat er die Belegschaft, um "ein Maximum an Konzentration auf die sportlichen Belange"; für alles andere, also die Beilegung der institutionellen Krise des Vereins, wolle er schon sorgen. "Ich habe mein Berufsleben lang nichts anderes gemacht als sinkende Schiffe zu retten", versicherte Boluda im Interview mit Marca. Er ist Spaniens größter Privatreeder und Kommandeur über Europas zweitgrößte Schlepperflotte.

"Zwei Titel, 1000 Skandale"

Krisen hat Real Madrid nicht wenige erlebt, doch so dermaßen aufgelaufen wie diesmal ist Spaniens Rekordmeister lange nicht mehr. Boluda eingeschlossen hat der Klub seit seiner Gründung 18 Vorsitzende gehabt; allein in den letzten drei Jahren hat der Klub fünf Vorsitzende zerschlissen. Schon jetzt steht fest, dass Reals Fußvolk nach Ende dieser Saison einen presidente número 19 erleben wird. Zwei wichtige Voraussetzungen für eine Kandidatur bringt Boluda mit: Eine zehnjährige Mitgliedschaft sowie ausreichend finanzielle Muskulatur, um eine Bürgschaft über 15 Prozent des Etats vorlegen zu können - rund 60 Millionen Euro. Doch er hat schon ausgeschlossen, sich bei den für Juli angestrebten Wahlen zu stellen. Offenbar ist er schlau genug, sich als bisheriger Vize von Ramón Calderón für verbrannt zu halten.

Somit ist der Weg frei für andere Interessenten, die ersten haben sich schon in Position gebracht. Selbst eine Rückkehr von Bauunternehmer Florentino Pérez (oder eines Strohmannes) wird nicht ausgeschlossen; seinerzeit begründete er mit der Verpflichtung von Ikonen wie Figo, Zidane, Beckham oder Ronaldo die Ära der Galácticos. Vor einigen Monaten wurde spekuliert, dass José María Aznar, von 1996 bis 2004 spanischer Regierungschef, das Präsidentenamt anstrebe. Doch er ist erst seit wenigen Jahren Klubmitglied. Wer auch immer sich um Spaniens heißesten Stuhl bewirbt: Es kommt eine Menge Arbeit auf ihn zu. Denn Real ist in den vergangenen Jahren einer fortschreitenden Diskreditierung ausgesetzt gewesen. Die letzten Monate waren, so die Zeitung Marca, bloß "die Apotheose des Desasters", das vor zweieinhalb Jahren begann. Mit dem Beginn des Mandats des Rechtsanwalts Ramón Calderón, einem Mann aus ultrareaktionärem Hause.

Schon sein Wahlkampf ums Präsidentenamt war schmutzig geraten, die Wahl an sich war es auch. Per Gerichtsbeschluss sorgte Calderón dafür, dass Stimmen für seine Rivalen nicht ins Ergebnis einflossen. Andernfalls wäre er wohl nie Präsident geworden. Als die trägen Ermittler der spanischen Justiz zu Ende gerechnet hatten, war 2008 fast vorüber - und die erste Biographie über sein Wirken erschienen. Ihr Titel: "Der weiße Teufel." Es folgte die instabilste, am meisten angefochtene Präsidentschaft der Vereinsgeschichte. Die Ära Calderón fasste die (allerdings im Feindesland Barcelona) erscheinende Zeitung Sport so zusammen: "Zwei Titel und 1000 Skandale".

Der einstige Adabei aus der spanischen Stierkampfszene verschliss mit Fabio Capello und Bernd Schuster zwei Trainer, die ihm in aufeinanderfolgenden Jahren den Meisterpokal nach Madrid holten. Er verpulverte 300 Millionen Euro in Zukäufe und schaffte es doch nicht, vollmundig versprochene Stars wie Kakà, Cesc Fabregas und vor allem Cristiano Ronaldo nach Madrid zu holen. Zumeist gefiel er sich in eitlen Posen, mal beleidigte er die Spieler der ersten Mannschaft als Ignoranten ("keine Bildung, keine Kultur") und Schnorrer ("die zahlen nirgends"). Das Geraune über angeblich künstlich aufgeblähte Transfers, damit Führungsmitglieder des Klubs an den Kommissionen mitverdienen, konnte Calderón nie verstummen lassen. Doch er stolperte schließlich, weil er die Mitgliederversammlung türkte. "Ramongate", schrieb Marca, dessen Redakteure sich nun fühlen dürfen wie die Watergate-Enthüller.

An sie besonders war die Botschaft der Stärke und Unbeugsamkeit gerichtet, die Calderón am Freitagabend übermitteln wollte. Er sei kein Feigling, sagte Calderón, und er habe auch nichts zu verbergen, und "wenn ich nun dennoch meinen übrigens seit Amtsbeginn so verfolgten Kopf darbiete", dann nur, weil er den Klub befrieden wolle. "Der Erfolg derer, die meinen Abmarsch betrieben haben, ist der Erfolg der Ungerechtigkeit und Bosheit." Dann brach seine Stimme, und seine Augen füllten mit Tränen, als er seiner Familie und seiner Frau Teresa dankte, die in Demut alle Unannehmlichkeiten ertragen hätte, die das Präsidentenamt so mit sich bringe.

Welcher Art diese sind, musste der Übergangsnachfolger Boluda bereits erfahren. König Juan Carlos rief an, um Glück zu wünschen. Und nachdem er am Freitagabend daheim Pizzas für die Familie orderte, ging er, wie immer, an die Tür, und doch war nichts wie sonst: "Der Bote schaute mich an, als wäre ich ein Außerirdischer." Javier Cáceres

Vicente Boluda Foto: Reuters

Fos, Vicente Boluda Real Madrid: Management Real Madrid: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gerichtshof in Den Haag prüft US-Todesurteile

Den Haag - Der Internationale Gerichtshof in Den Haag entscheidet an diesem Montag, ob die USA Todesurteile gegen 51 Mexikaner erneut überprüfen müssen. Ein vorangegangenes Urteil der obersten Rechtsinstanz der Vereinten Nationen war trotz eines Appells von Präsident George W. Bush von mehreren US-Gerichten ignoriert worden. Nach der Hinrichtung eines Mexikaners im US-Bundesstaat Texas im August 2008 hatte Mexiko sich erneut an den Internationalen Gerichtshof gewandt, um die Vollstreckung weiterer Todesurteile zu verhindern. Mexiko hatte bereits 2004 vor dem "Weltgericht" darin Recht bekommen, dass die USA gegen die Wiener Konvention verstoßen haben, indem sie den zum Tod verurteilten Mexikanern den Beistand durch Konsularbeamte verweigerten. Der Internationale Gerichtshof hatte 2004 die USA aufgefordert, angesichts der offenkundigen Verstöße gegen die Konvention die 51 Todesurteile auszusetzen und die Verfahren zu prüfen. dpa

Todesstrafe in den USA Fälle beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Moskau und Kiew beenden Streit um Gastransporte

Russland will von diesem Montag an wieder Energie nach Westeuropa liefern / Ukraine akzeptiert höhere Preise

Von Frank Nienhuysen und Michael Bauchmüller

Moskau/Berlin - Nach dem Ende des Gasstreits zwischen Russland und der Ukraine soll von diesem Montag an erstmals seit fast zwei Wochen wieder Gas nach Westeuropa fließen. Der russische Ministerpräsident Wladimir Putin und seine ukrainische Kollegin Julia Timoschenko einigten sich am Wochenende in Moskau auf ein Abkommen, das von der Ukraine deutlich höhere Gaspreise verlangt. Das Land muss vom nächsten Jahr an jene Weltmarktpreise an Gazprom bezahlen, die schon jetzt auch für die meisten europäischen Staaten gelten. Bisher lag der Preis für die Ukraine bei 179,50 Dollar pro tausend Kubikmeter Gas, von 2010 an muss Kiew etwa 450 Dollar bezahlen. Für dieses Jahr gewährt Moskau einen Abschlag von 20 Prozent; dafür rang Putin Timoschenko jedoch ab, dass die Ukraine in diesem Jahr noch keine höheren Transitgebühren von Russland verlangt. Erst im nächsten Jahr muss Moskau mehr Geld für den Transport des russischen Gases durch die Ukraine in den Westen ausgeben. Die Details wollen der russische Energiekonzern Gazprom und der ukrainische Versorger Naftogaz bis zu diesem Montag klären, dann soll das russische Gas wieder in vollem Umfang in den Westen geliefert werden.

Die ukrainische Regierungschefin Timoschenko sagte, die Verhandlungen seien nicht leicht gewesen seien. Im Dezember hatte Gazprom noch 250 Dollar von der Ukraine gefordert. Unklar war deshalb zunächst, wie der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko auf das Ergebnis reagieren würde. Juschtschenko ist ein Rivale der Premierministerin und hatte sich zunächst gegen das Treffen in Moskau zum Thema Gas ausgesprochen. In Moskau hieß es jedoch, dass Timoschenko von Juschtschenko für die Moskauer Gespräche ein volles Verhandlungsmandat erhalten habe.

Gazprom hat am 7. Januar im Streit mit der Ukraine die Gaslieferung in den Westen gestoppt. Beiden Seiten hatten sich nicht auf die Rückzahlung ukrainischer Schulden sowie auf einen neuen Gaspreis einigen können und mit gegenseitigen Schuldzuweisungen den Konflikt geschürt. Die russische Führung warf der Ukraine vor, Gas für den eigenen Verbrauch zu stehlen. Kiew wiederum behauptete, Moskau blockiere die Gaslieferung, um die Ukraine als unsicheres Transitland darzustellen. Etwa 80 Prozent des für Westeuropa bestimmten russischen Gases fließt durch die Ukraine, die unter Präsident Juschtschenko seit Jahren die Aufnahme in Nato und Europäische Union wünscht.

Die Europäische Union begrüßte das Ende des Gasstreits, blieb aber auch skeptisch. Sie wolle erst abwarten, ob ab Montag auch tatsächlich wieder Gas fließe, sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel. Vor einer Woche hatten Moskau und Kiew schon einmal eine Einigung verkündet, in deren Folge Gazprom begann, russisches Gas in die Pipeline einzuspeisen. Dann aber warf Russland der Ukraine erneut vor, den Weiterfluss Richtung Westen für eigene Zwecke zu blockieren. Kiew wiederum beschuldigte Gazprom, zu wenig Gas in die Leitungen zu pumpen, sodass der Druck nicht ausreiche, um die Energie weiter nach Europa zu schleusen.

Auch die Bundesregierung reagierte zurückhaltend. "So erfreulich die Einigung ist, kommt es jetzt darauf an, dass bei den Kunden tatsächlich Gas ankommt", sagte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos. Auch müssten die Gaslieferungen nun dauerhaft zuverlässig sein. Wann genau das russische Erdgas wieder durch die Ukraine nach Deutschland und Osteuropa geleitet werden kann, blieb zunächst unklar. "Wir gehen davon aus, dass die Wiederaufnahme der Lieferungen jetzt rasch erfolgt", sagte ein Sprecher des Gasversorgers Eon-Ruhrgas. Es werde aber auch dann noch einige Tage dauern, bis das Gas in Deutschland ankomme.

Es wird noch einige Tage dauern, bis das Gas in Deutschland ankommt.

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Die Millionen des Scheichs

Für Nigel de Jong erwartet der HSV die höchste Ablösesumme der Klubgeschichte

Hamburg - Der Fußballtrainer Martin Jol, 53, ist ein Sammler. Er hat Häuser in den Niederlanden, in London, und auch das Haus im feinen Hamburger Stadtteil Othmarschen hat er nicht gemietet, wie es in seinem schnelllebigen Job vielleicht normal wäre. "Meine Oma", erzählt er gern, "hat mir damals gesagt, ich soll in Steine investieren." Auch Gemälde häuft der Coach des Hamburger SV an. Nur mit Spielern klappt das nicht so, wie er es gerne hätte. Jedenfalls nicht, solange Jol bei einem Klub tätig ist, der zwar talentierte Profis beschäftigt, diese aber gern mit großem Gewinn an die reiche internationale Konkurrenz weitergibt.

Der jüngste Fall ist jetzt Nigel de Jong, 24. Eigentlich hatte Sportchef Dietmar Beiersdorfer bereits mündliche Einigung mit dem holländischen Nationalspieler erzielt über die Verlängerung des Vertrages bis 2011. Dann kam Manchester City - jener Klub, der mit dem Geld seines neuen Besitzers Scheich Mansour Bin Zayed Al Nahyan aus Abu Dhabi auf Spielersuche geht und dem großen Rivalen Manchester United alsbald Paroli bieten will. Zu Saisonbeginn luchste man Real für 42 Millionen Euro das brasilianische Ausnahmetalent Robinho ab, derzeit buhlt man mit der Rekordsumme von 120 Millionen Euro um Milans Regisseur Kakà.

Das inzwischen aufgestockte Angebot für de Jong, der im Januar 2006 für 1,5 Millionen Euro von Ajax Amsterdam kam, ist mit knapp 20 Millionen Euro zwar vergleichsweise bescheiden, würde den Hamburgern aber immer noch die höchste Ablöse der Klubgeschichte einbringen, nachdem die Citizens im August schon neun Millionen für den HSV-Profi Vincent Kompany gezahlt hatten. Natürlich hat de Jong den in England derzeit nur auf Tabellenplatz 15 liegenden Verein sofort zum "Kult-Klub" erhoben und seine Entscheidung via Bild schon fast vorweggenommen: "Wenn alles passt, werde ich wechseln." Auch der Vorstand des HSV will sich den Millionen des Scheichs offenbar nicht verschließen.

Es ist immer noch das Konzept der Hamburger, junge Spieler mit internationalen Ambitionen zu verpflichten und später bei einem Transfer ordentlich zu kassieren, um so den eigenen wirtschaftlichen Rahmen Stück für Stück zu erweitern. Deshalb weiß Jol auch, dass man "manchmal einen Schritt zurück gehen muss, um drei Schritte nach vorn machen zu können". Denn natürlich muss sich diese HSV-Mannschaft nach den Verlusten permanent neu erfinden.

Beiersdorfer geht einkaufen

So war es auch, als Kapitän Rafael van der Vaart im August 2008 für 14 Millionen zu Real Madrid wechselte. Plötzlich stand der HSV ohne jenen Mann da, der an 50 Prozent aller Tore Anteil hatte. Und selbst als Sportchef Beiersdorfer innerhalb von 14 Tagen für das van der Vaart- und Kompany-Geld die Bundesliga-Konkurrenz schockte und vier neue, vielversprechende Spieler erstand (Mladen Petric, Marcell Jansen, Alex Silva und Thiago Neves), musste sich das erneuerte Team erst einspielen.

Immerhin: Obwohl der als Spielmacher vorgesehene Neves die Erwartungen bislang nicht erfüllte, hat sich der HSV in der Spitzengruppe festgesetzt. Ganz anders übrigens als 2006. Damals, als das bis dahin überragende Abwehr-Duo Daniel van Buyten und Khalid Boulahrouz für zusammen 5,3 Millionen Euro erworben und für über 20 Millionen Euro zum FC Bayern beziehungsweise FC Chelsea verkauft wurde, geriet die Balance so durcheinander, das der HSV nach der Winterpause Letzter war und Trainer Thomas Doll vom Disziplinfanatiker Huub Stevens abgelöst wurde. Erst Stevens und die Wintereinkäufe Frank Rost und Ivica Olic trugen zur Wende bei, womit man aber auch beim bittersten Personalflop angekommen ist. Beiersdorfer muss sich vorhalten lassen, den Kontrakt mit dem Kroaten Olic nicht schon im Januar 2008 verlängert zu haben. Damals hätte Olic sofort verlängert, nun aber geht er nach Vertragsende im Sommer ohne Ablöse zum FC Bayern.

Mit dem Geld für de Jong aber will Beiersdorfer bis zum Ende der Wechselfrist am 31. Januar erneut einkaufen gehen. Am Freitag brach er schon früh vom Trainingsquartier im spanischen La Manga auf, um irgendwo in Europa zu verhandeln. Womöglich wird er seinem Trainer gleich drei neue Profis mitbringen. Spekuliert wird unter anderem über den früheren Schalker Christian Poulsen, 28, derzeit bei Juventus Turin unglücklich, und den Niederländer Denny de Zeeuw, 25, vom AZ Alkmaar.

Den Namen Mark van Bommel dagegen wird man streichen müssen, Bayern-Manager Uli Hoeneß verweigerte eine sofortige Freigabe. Außerdem passt van Bommel ja auch nicht ins Suchschema des HSV. Er ist 31 Jahre alt. Mit so einem "alten Mann" lässt sich nichts mehr verdienen. Und für einen echten Sammler gibt es, auch wenn Martin Jol seinen Landsmann schätzt, gewiss bemerkenswertere Objekte. Jörg Marwedel

Wer findet schneller den Weg aus dem Hamburger Stangen-Labyrinth? Ivica Olic (links) wechselt im Sommer nach München - Nigel de Jong könnte schon vorher nach Manchester übersiedeln. Foto: Getty

Jong, Nigel de Hamburger SV: Personal SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sperren für Ersatzlizenz

Regierung erschwert Führerscheintourismus

Berlin - Der sogenannte Führerscheintourismus wird für deutsche Autofahrer künftig schwerer. Wer seine Fahrerlaubnis etwa wegen Trunkenheit am Steuer verloren hat, darf von diesem Montag an nicht mehr mit einer Ersatzlizenz aus einem anderen europäischen Land fahren. "Fahrer mit deutschem Wohnsitz, die ihren Führerschein wegen Alkohol- oder Drogenmissbrauch verloren haben, können sich ab Montag den Weg nach Polen, Tschechien oder in ein anderes EU-Mitgliedsland sparen", sagte Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) am Samstag in Berlin. "Dort ausgestellte Fahrerlaubnisse werden für sie hier nicht mehr gültig sein."

Bisher galt der Führerscheintourismus als Ausweg für alle, die nicht nur billig ihren Führerschein wiederhaben wollten, sondern auch die heikle "Medizinisch-psychologische Untersuchung", vulgo: Idiotentest, umgehen wollten. Er wird fällig, wenn Autofahrer wiederholt oder stark betrunken am Steuer angetroffen werden. Allein 2006 mussten Zahlen der Bundesanstalt für Straßenwesen zufolge mehr als 105 000 Autofahrer zu diesen Untersuchungen; mehr als ein Drittel fiel durch und darf kein Auto mehr führen. Die Angst davor wurde für die Anbieter der sogenannten Euro-Führerscheine zum guten Geschäft, die Eignung spielte hier keine große Rolle. Mit dem Verbot werde es deswegen auf deutschen Straßen künftig "deutlich sicherer", sagte Tiefensee.

"Ordentlicher Wohnsitz": Polen

Ob damit der Tourismus ein Ende hat, ist allerdings fraglich. Spezial-Anbieter umschiffen sogar die neuen Regeln, nach denen die "Fahrschüler" etwa ein halbes Jahr lang einen echten Wohnsitz in Polen haben müssen, um einen polnischen Führerschein zu erhalten. Anbieter wie "eurolappen.com" (Slogan: "Legal. Gesetzeskonform. Unantastbar") melden deutsche Autofahrer für ein halbes Jahr in Polen an. "Das ist ein ganz ordentlicher Wohnsitz in Polen, keine Briefkastenadresse", sagt Eurolappen-Mitarbeiter Dirk Schemmel. Ob sie sich dann tatsächlich dort aufhalten, sei eine andere Frage. "Wir haben doch Niederlassungsfreiheit in der EU." Den Führerschein sollen die Prüflinge binnen vier Tagen machen können, die Fahrschule ist in Slubice, also einen Steinwurf von Frankfurt an der Oder entfernt. "Dieser Führerschein wird weiter rechtsgültig und legal sein", beteuert Schemmel. Schließlich handele es sich um ein staatliches Dokument polnischer Behörden. Werde dieses von deutschen Behörden entzogen, sei dies ein Fall für die europäischen Gerichte.

Autofahrer sollten sich den Kurztrip dennoch gut überlegen. "Entscheidend ist, ob der Führerschein hier überhaupt noch anerkannt wird", heißt es im Bundesverkehrsministerium. Das sei nicht der Fall. Nach Auffassung von Verkehrsjuristen könnte die Gültigkeit der Auslands-Führerscheine für deutsche Verkehrssünder künftig sogar an Kriterien gebunden werden - etwa einen bestandenen Idiotentest. Dann nutzt auch der Wohnsitz nichts. Michael Bauchmüller

Führerschein in der EU Führerschein in Deutschland Alkohol im Straßenverkehr in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kiefer reist ab

Knöchel-Verletzung verhindert Start bei den Australian Open

Melbourne (dpa) - Nicolas Kiefer wollte so schnell wie möglich das Land verlassen. "Ich will jetzt ganz schnell weg", sagte Kiefer nach seiner Absage für die Australian Open. Die Hoffnung auf eine Wunderheilung nach seinem doppelten Bänderriss am Knöchel blieb aus. "Ich habe versucht, richtig Tennis zu spielen. Aber das ging nicht", berichtete der 31-Jährige, der sich beim Hopman-Cup zu Beginn des Jahres in Perth verletzt hatte. "Ich kann nicht riskieren, dass sich die Verletzung verschlimmert und ich dann noch länger ausfalle", erklärte der enttäuschte Hannoveraner.

Von Verletzungen waren zuletzt auch Tommy Haas, Rainer Schüttler und Philipp Kohlschreiber geplagt, sie können aber antreten. Kohlschreiber hat das schwerste Los: Er tritt gegen Sam Querrey an (ca. 7 Uhr MEZ, live in Eurosport), am Samstag noch Finalist in Auckland. Haas fehlt nach fünf Monaten Pause Spielpraxis. "Ich muss mich durchbeißen", sagte er vor seinem Match am Dienstag gegen den Argentinier Eduardo Schwank, "das ist immerhin keine haushohe Hürde." Schüttler kommt nach seiner Handgelenk-Entzündung ebenfalls zu Gute, dass er noch nicht am Montag gegen den Israeli Dudi Sela aufschlagen muss.

Gleich 20 deutsche Tennisprofis haben down under den Sprung in das Hauptfeld geschafft - in den Kampf um die erste Grand-Slam-Krone des Jahres werden Haas, Schüttler, Grönefeld & Co. aber kaum eingreifen können. Bei den Männern gilt das Augenmerk vor allem dem Top-Quartett: Rafael Nadal, Roger Federer, Titelverteidiger Novak Djokovic und Andy Murray, der momentan vielleicht am besten in Form ist. "Es wird interessant werden", sagte Federer am Sonntag nach seinem lockeren Sieg im Finale des Einladungsturniers von Kooyong (6:1, 6:3 gegen Stanislas Wawrinka). "Vergangenes Jahr ging es nach meiner Krankheit nur darum, dieses Turnier zu spielen - diesmal will ich es gewinnen."

Noch nicht richtig in Tritt: Venus Williams beim Training am Tag vor dem Beginn der Australian Open Foto: AFP

Kiefer, Nicolas: Gesundheitliches Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Springreiter in Leipzig

Nicht ohne meinen Anwalt

Leipzig - Hat jemand was von Krise gesagt? Finanzkrise? Glaubwürdigkeitskrise des Sports durch Doping- und Medikationsfälle? In den Leipziger Messehallen sind die Katastrophenszenarien weit weg. Beim Weltcupturnier der Springreiter waren alle Plätze fürs Wochenende lange ausverkauft und Turnierleiter Volker Wulff konnte drei neue Sponsoren präsentieren, einen davon aus der Gasbranche. Wulff hat große Pläne: Im Jahre 2011 will er in Leipzig das Weltcupfinale in den drei Disziplinen Springen, Dressur und Fahren ausrichten. Darüber wird im Herbst entschieden, es bewerben sich auch Göteborg, Hertogenbosch, Lyon und Estoril. Au erdem plant Wulff im Juli in Gera ein neues internationales Turnier, das über drei Wochenenden geht, gleichermaßen für zwei- und vierbeinige Youngsters und Routiniers.

Mehr Dopingkontrollen

Die europäische Springreiterelite ist fast wieder vollzählig beisammen. Noch leicht hinkend absolviert der Niederländer Albert Zoer die Parcoursbesichtigung vor dem Weltcupspringen. Der Sieger im Großen Preis von Aachen 2008 und einer der Olympiafavoriten musste wenige Wochen vor den Spielen seine Hoffnungen begraben: Beim Training stürzte der 33-Jährige mit einem jungen Pferd; als er, am Boden liegend, sein Bein in merkwürdigem Winkel abstehen sah, rief er per Handy den Notarzt. Ein 40 Zentimeter langer Nagel wurde eingesetzt, aber die Knochen heilten nicht so wie erhofft, Olympia fand ohne ihn statt. Jetzt will Zoer die nächsten Ziele ansteuern: das Weltcupfinale im April in Las Vegas, die Europameisterschaft in Windsor im August. Mit Sam gewann Zoer das Championat von Leipzig, mit Oki Doki hat er ein zweites Weltklassepferd im Stall. Beide Pferde haben er und sein Vater entdeckt, als sie noch jung und bezahlbar waren. Jetzt sind sie unverkäuflich.

Christian Ahlmann und Denis Lynch aus Irland, zwei der fünf bei den Olympischen Spielen wegen verbotener Medikation aufgefallenen Reiter, saßen nach abgelaufener Sperre in Leipzig wieder im Sattel, wie auch Jessica Kürten, die der Weltverband ebenfalls wegen positiver Dopingprobe vorübergehend zur Fußgängerin gemacht hatte. Alles wie immer also? Nicht ganz. Christian Ahlmann gibt kein Interview mehr ohne einen seiner fünf Anwälte, zu oft fühlte er sich missverstanden und falsch zitiert. Er will erstmal nur reiten, und das machte er gut in Leipzig, gewann auf Cassus das Hauptspringen am Samstagabend. Seine Fans sind ihm ohnehin treu geblieben: Wo er sich blicken lässt, wird er von Autogrammjägern bestürmt, das Publikum beklatscht jeden seiner Ritte. "Die sind der Meinung, jetzt ist die Sperre abgesessen, jetzt muss es auch genug sein", interpretiert Volker Wulff Volkes Stimmung.

Die Veranstalter der großen deutschen Turniere, die sich nach den Dopingdiskussionen um Schadensbegrenzung bemühten, um das Fernsehen bei der Stange zu halten, haben Konsequenzen gezogen: Die Zahl der Dopingkontrollen wurde erhöht, in Leipzig wurden in jedem Springen die ersten drei Pferde getestet. 20 Proben bei 400 Starts, das erscheint auf den ersten Blick immer noch nicht allzu viel. Auch tun mehr Stewards als früher Dienst im Stall und auf dem Abreiteplatz. "Ständig geht einer von uns durch den Stall", versicherte Hans Wallmeier.

Todesfall bei den Vierspännern

Der langjährige Angestellte der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN), bei den Reitern bekannt als wachsamer Kontrolleur, benutzt jedes Mal einen anderen Eingang, um nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Die Pferdedecken vor einer Box ließ er abnehmen, damit auch nicht ansatzweise der Verdacht auf verbotene Machenschaften hinter verhängten Boxenwänden aufkeimt. Allen Pferden wurden nach ihrem Parcours die Gamaschen abgenommen, um die Beine auf Verletzungen und unnatürliche Erwärmung zu kontrollieren. Ein Steward lebt nicht ungefährlich, musste dabei Evi Eisenhardt aus Bayern erfahren. Das Pferd von John Whitaker ließ sich bei der Kontrolle mit dem eisenbeschlagenen Vorderhuf auf ihrem Zeh nieder und war eine halbe Minute nicht zu bewegen, ihn freizugeben.

Einen Todesfall meldeten die Vierspännerfahrer, auch sie fuhren in Leipzig um Weltcup-Punkte. Der 15-jährige Wallach Rambo, der seit elf Jahren brav hinten links die Kutsche des Deutschen Christoph Sandmann zog, brach nach der Prüfung zusammen und starb wenig später. Die Tierärzte vermuteten innere Blutungen infolge einer gerissenen Blutbahn und lie en das Tier in einer Pferdeklinik obduzieren, das Ergebnis wird morgen erwartet. Gabriele Pochhammer

Springreiter-Weltcup Springreiter-Nationalmannschaft Doping im Springreiten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Gewehr als einzige Last

Beim Weltcup von Ruhpolding zeigt sich ein erstarktes deutsches Biathlon-Team

Ruhpolding - Zum Abschluss ist Magdalena Neuner die gewünschte Demonstration doch gelungen. Viel war zuletzt spekuliert worden, wie schnell die Biathletin nun wirklich ist und ob sie das Tempo des vergangenen Jahres rechtzeitig zur WM Mitte Februar wieder aufnehmen könnte. Aber dann waren die letzten Schüsse dieses Verfolgungsrennens abgefeuert worden, und für Neuner hatte sich vor der letzten Schleife eine perfekte Ausgangslage ergeben. 15 Sekunden Rückstand auf die Führende hatte sie nach vier Strafrunden, 15 Sekunden, das ist eigentlich zu viel auf eine wie Ekaterina Iouriewa, die Zweite des Gesamtweltcups. Der Abstand wirkte respektabel und ergab doch eine Gelegenheit für Neuner, sich in Szene zu setzen. Kein echtes Duell war das, ein Duell ist wegen gleicher Mittel meistens fair. Schon zur Hälfte der letzten Runde überholte Neuner die Russin in einer Art, wie eine Radfahrerin eine Spaziergängerin passiert, die hinter einer Biegung auftaucht: höflich, mit gebotenem Abstand, ohne Blick zur Seite. Später sagte sie: "Plötzlich war die Ekaterina schon vor mir."

Neuner ist also wieder in der Verfassung, die ihr erlaubt, einen Fehler mehr als die anderen zu schießen. Beide Einzelrennen gewann sie in Ruhpolding, zudem war sie am Mittwochabend Schlussläuferin beim Staffelsieg. Zur Dominanz der deutschen Biathletinnen trug auch ein zweiter und dritter Platz von Kati Wilhelm bei. Von Tag zu Tag schwollen die Zuschauermassen in Ruhpolding an, bis am Sonntag mehr als 24 000 Gäste kamen und teils etwas unruhig versuchten, einen vernünftigen Stehplatz zu bekommen. Deren Erwartungen haben Neuner und Wilhelm am Ende alleine bedient, was ein Glück war für den anderen Teil der DSV-Mannschaft. In ihrem Windschatten konnten Andrea Henkel, Martina Beck, Simone Hauswald und Kathrin Hitzer an ihrer Form arbeiten. Vor allem aber ermöglichte der Erfolg den Biathleten von Männertrainer Frank Ullrich entspannte Tage mit konzentrierter Arbeit, obwohl ihnen nach Staffelplatz zwei am Mittwoch kein weiterer Platz auf dem Treppchen gelang.

Ullrichs Gruppe ist seit zwei Wochen nicht wiederzuerkennen. In den Tagen von Oberhof und Ruhpolding ist aus einer Mannschaft mit einem Kapitän (Michael Greis) und vier eher unsicheren Kollegen ein starkes Ensemble entstanden, das aus drei Untergruppen besteht. Die erfahrenen Olympiasieger Michael Rösch und Greis dürften für die WM-Staffel gesetzt sein. Ähnlich lange sind die beiden aus Gruppe zwei (Alexander Wolf und Andreas Birnbacher) dabei, weil sie aber im entscheidenden Moment der Karriere bislang nicht zur Stelle waren, müssen sie sich nun mit der dritten Gruppe auseinandersetzen: Christoph Stephan, 22, Arnd Peiffer, 21, und Toni Lang, 26. Wegen der Krankheiten der Läufer aus Untergruppe zwei hatten das junge Trio zuletzt plötzliche Bewährungsproben im Weltcup zu bestehen. Es waren jeweils entscheidende Momente, und alle drei waren zur Stelle.

Im Staffelrennen hatten sie alle Arten von Störfaktoren überstanden, die ihr Sport so bereithält: Lampenfieber, großer Lärm, die Versuchung, sich zu früh zu übernehmen. Der Eindruck, dass es irgendwo in Deutschland eine Art Produktionsstätte junger Biathleten gibt, die erst jetzt entdeckt wurde, täuscht aber. Trotz der Ähnlichkeit im Auftreten gingen die drei bislang unterschiedliche Wege. Christoph Stephan ist noch eines der herkömmlicheren Biathlontalente, auch wenn er aus Rudolstadt stammt, einer Thüringer Kleinstadt, die Stephan als "im Prinzip wintersportlos" bezeichnet. Toni Langs Elternhaus steht in Hauzenberg im bayerischen Wald, der bislang auch nicht bekannt war für seine Biathlonhochburgen. Als solider Langläufer kam Lang nach Ruhpolding, bis er 2006 die dortigen Skijäger bat: "Jetzt lasst's mich auch mal schießen." Seitdem ist er Biathlet. Arnd Peiffer schließlich kommt ursprünglich aus Clausthal-Zellerfeld, einer Stadt im Oberharz, die durchaus von Sportlern geschätzt wird, allerdings mehr wegen des heilsamen Klimas, als wegen der Biathlontradition. Peiffer schaffte es trotzdem irgendwie, ein guter Biathlet zu werden, irgendwann verließ er Clausthal-Zellerfeld ("Die Trainingsgruppe dort bestand aus mir") und schloss sich den großen Biathleten in Oberhof an. Jetzt zählt er zu dem Kreis, der um die WM-Teilnahme kämpft.

Vielleicht sind die drei gerade deshalb so unbeschwert, weil sie aus der Provinz kommen, und über ihr Talent in höheren Zirkeln nie sonderlich oft geraunt wurde. Peiffer, Stephan und Lang laufen drauflos, und die einzige Last, die sie tragen, ist das Gewehr. Die Umstände ihres Auftauchens waren zudem etwas glücklich. Die drei empfahlen sich in einem Moment, als die Zeit der festgezurrten deutschen Männermannschaften gerade vorbei war. Ullrich, der stets in großer Treue zu schwächelnden früheren Titelträgern hielt, hatte plötzlich nur noch Greis und Rösch als WM-Kandidaten, die Tür zum Team stand also offen.

Die Mitglieder aus Untergruppe drei haben unterschiedliche Stärken, aber dass einer wie Stephan nach dem Rennen lange erschöpft im Schnee liegt, gefällt Ullrich besonders: "Der hat ein Kämpferherz." Der Weg aus Rudolstadt, Hauzenberg und Clausthal-Zellerfeld nach Olympia ist noch ziemlich weit, aber er dürfte schon wegen der Unbekümmertheit der drei weniger steinig werden, als bei manch anderer Generation. Und den ersten Schritt haben sie ja bereits geschafft. Volker Kreisl

Mit gewohnter Stärke: Magdalena Neuner läuft in Ruhpolding Kati Wilhelm davon. Foto: dpa

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Entspannt im Eiskanal

Frank Rommel ist Deutschlands erster Skeleton-Europameister

St. Moritz/München - Im Skeletonsport bilden Mensch und Gerät idealerweise eine Einheit, erzählt Frank Rommel, doch am Sonntag musste er sich in St. Moritz von seinem Schlitten trennen. Während das Gefährt nun in einem großen Container mitsamt den Fahrzeugen der Kollegen aus der Bob-Abteilung nach Kanada verfrachtet wird, fuhr Rommel selbst erst einmal heim nach Oberhof, "Kraft tanken für die Übersee-Tournee", wie er sagte. Fünf Wochen lang werden die deutschen Bob- und Skeletonsportler demnächst durch Nordamerika kurven, erst zum Trainieren auf der künftigen Olympiabahn von Vancouver, dann zu Weltcups ebendort und in Park City, dem Olympiaort von 2002, schließlich zur Weltmeisterschaft in Lake Placid. Und für die will sich Frank Rommel noch stärken, denn bei der WM wird er zu den Titelanwärtern zählen. "Das freut und ehrt mich", sagt er, "aber das war klar, dass ich nun als Mitfavorit gehandelt werde."

Am Samstag hat der 24-Jährige in St. Moritz seinen vierten Sieg im fünften Weltcuprennen dieses Winters gefeiert; gleichzeitig holte er dabei als erster Deutscher den Europameistertitel, mit fast einer Sekunde Vorsprung auf Weltmeister Kristan Bromley aus Großbritannien. Nur beim Saisonauftakt in Winterberg kam Rommel nicht in die Punkteränge, da wurde er wegen eines Frühstarts disqualifiziert. Der Start ist ja generell seine Schwäche, "da hat er immer noch ein bisschen Rückstand", sagt Bundestrainer Jens Müller. Auf den ersten Metern verliert Rommel bis zu drei Zehntelsekunden auf den Russen Alexander Tretjakow, den Führenden im Gesamtweltcup, und bis zu zwei auf den Letten Martin Dukurs. "Das Starttempo der beiden ist jenseits von Gut und Böse, das lässt jeden blass aussehen", findet Rommel.

Dafür sei dessen Fahrgefühl "momentan das Nonplusultra", schwärmt Bundestrainer Müller: "Er hat eine sehr, sehr aerodynamische Fahrlage, macht relativ wenige Lenkbewegungen, kommt fast immer an die Ideallinie heran." Der angehende Bankkaufmann, der vor zehn Jahren direkt zum Skeletonsport kam, ohne den üblichen Umweg übers Rennrodeln, sei von jeher "ein begnadeter Fahrer" gewesen, erzählt Müller, der Rodel-Olympiasieger von 1988, "aber jetzt kann er seine Trainingsleistungen im Wettkampf umsetzen und sogar noch steigern."

Rommels Schlüsselerlebnis sei der dritte Platz bei der WM 2008 in Altenberg gewesen, findet Trainer Müller: "Da hat Frank zum ersten Mal über vier Läufe hinweg eine konstante Leistung gezeigt, und dieses Ergebnis hat dazu geführt, dass er optimistisch in diese Saison gestartet ist." Rommel bestätigt: "Das war ein zusätzlicher Motivationsschub - und eine Bestätigung dafür, dass die Arbeit der vergangenen Jahre richtig war." Um beim Skeleton erfolgreich zu sein, erklärt Rommel, müssten viele Faktoren zusammenpassen, wie bei einem Puzzle: "Und im Moment passt alles bei mir."

Athletisch fühle er sich fit, sein Schlitten sei vom Leipziger Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) ideal auf seine Fahrweise zugeschnitten worden, auch privat sei alles im Lot mit Freundin Julia, Schwester des Rennrodlers Jan Eichhorn und bis zu dieser Saison ebenfalls auf dem Skeleton unterwegs, ehe sie ihre Karriere mangels Perspektive beendete.

Maßgeblich ausschlaggebend für seinen internationalen Durchbruch in diesem Winter ist jedoch eine andere Komponente gewesen, die mentale. Sagt Trainer Müller, und sagt auch der Athlet selbst. "Ich bin perfektionistisch veranlagt", gibt Rommel zu, "und bin mir deshalb früher oft selbst im Weg gestanden." Der Athlet habe es immer zu gut machen wollen, erklärt Mü;ller, und sei deshalb oft verkrampft gefahren. "Mittlerweile will ich nicht mehr alles erzwingen", findet Rommel: "Man muss entspannt auf dem Schlitten liegen. Wer mit dem geringsten Aufwand runterfährt, kommt automatisch weit vorne an."

Mit dieser Einstellung ging Frank Rommel also in den Wettbewerb vom Wochenende. Die Bahn in St. Moritz liegt ihm ohnehin, da feierte er im Jahr 2006 als EM-Zweiter seinen ersten größeren Erfolg, dem lange kein zweiter folgte. "Ich habe den Schlitten einfach laufen lassen", berichtete er von seiner Herangehensweise: In beiden Läufen kam er mit der Bestzeit aller Teilnehmer an.

Wie er gedanklich und praktisch an welche Bahn herangeht, bespricht Frank Rommel oft mit Andy Böhm, dem Skeleton-Weltmeister des Jahres 2000. "Schon als ich angefangen habe, habe ich sehr profitiert von seinem Wissen", berichtet Rommel. Der ebenfalls aus Oberhof stammende Böhm ist mittlerweile als Physiotherapeut mit den deutschen Biathletinnen unterwegs, gibt seinem potentiellen Nachfolger aber weiterhin Tipps per Telefon. "Er ist schon auf allen Bahnen dieser Welt gefahren", sagt Frank Rommel, "seine Meinung gibt mir zusätzlich Sicherheit." Joachim Mölter

"Ich bin perfektionistisch veranlagt, und bin mir deshalb früher oft selbst im Weg gestanden": Skeleton-Europameister Frank Rommel Foto: AP

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Ole Einar Björndalen

Er siegt und siegt und siegt

Solche Gesten waren nie die Sache von Ole Einar Björndalen. Der Norweger gilt seit seinen vier Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City als Verkörperung des Siegens im Biathlon. Doch in all den Jahren verlor er nie die Fassung. In exakt geplantem Rhythmus zog er seine Bahnen durch die Biathlonloipen, und egal ob dabei ein Sieg oder eine Niederlage wie bei Olympia 2006 herauskam - weder jubelte er übertrieben, noch schimpfte er, man sah ihn nicht mal abwinken. Björndalen wirkt schon einen Meter hinter Ziellinie, als wäre er gedanklich beim nächsten Rennen, insofern musste die rechte Faust einiges bedeuten, die ihm am Samstag nach dem Sprintsieg in Ruhpolding nicht mehr gehorchte und in die Höhe schoss, kurz und zackig.

Der Name Björndalen begleitete natürlich auch in den bisherigen Weltcups dieses Winters die Biathlonszene, obwohl der fast 35-Jährige nach seiner schweren dreiwöchigen Grippe im Oktober mit zu wenig Grundlagentraining in die Saison gestartet war. Björndalen wurde zuletzt mehr als Experte zitiert, der diesem oder jenem Talent großes Potential bescheinigte, und wenn die Resonanz eines großen Sportlers mal so weit ist, dann wirkt das Ende der Laufbahn nicht mehr weit.

Weltcuperfolge 83 und 84

An diesem Wochenende stellte Björndalen aber mit seinen beiden Siegen klar, dass er noch lange dabei sein wird und dies nicht nur deshalb, weil er nicht loslassen kann. Als einer der Ersten war er in den Sprint gestartet, mit allen Konkurrenten im Rücken gelang ihm dennoch eine Vorstellung wie zu den besten Zeiten. Ole Einar Björndalen traf alles und hatte am Ende fast eine halbe Minute Vorsprung, die er im Verfolgungsrennen am Sonntag gar nicht gebraucht hätte, so klar gewann er auch hier. Die norwegische Staffel hatte er schon am Donnerstag zum Sieg geführt.

Drei Rennen, dreimal Erster, es war durchaus eine fulminante Rückkehr von Ole Einar Björndalen in den Kreis der WM-Favoriten. Doch die Erleichterung darüber verbarg sich bald wieder hinter Björndalens Fassade, wie es eben ist wenn einer seine Weltcupsiege Nummer 83 und 84 verbucht. Björndalen trägt schon seit längerem diese dunkle Spiegelbrille, die während des Rennens das halbe Gesicht schützt, und nach den Siegen von Ruhpolding fand er auch wieder die nüchternen Worte, die seinen inneren Zustand abschirmen: "Der Sieg mit der Staffel hat mir einen Schub gegeben; es war, denke ich, ein perfektes Rennen." vk

Kein bisschen müde: Ole Einar Björndalen, bald 35. Foto: dpa

Björndalen, Ole Einar Biathlon-Weltcup SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schön paradox

Kaum hat die Rallye Dakar Afrika verlassen, gewinnt erstmals ein Afrikaner: Giniel de Villiers - assistiert vom deutschen Co-Piloten Dirk von Zitzewitz

Buenos Aires - Auch auf den letzten Metern von 9754 Kilometern Abenteuer war Wolfsburg picobello. Andere Finalisten auf zwei oder vier Rädern trafen verdreckt, verbeult oder beides ein, als diese Rallye Dakar drei Wochen nach der Abreise am Samstag wieder das Messegelände La Rural des argentinischen Landwirtschaftsverbandes in Buenos Aires erreichte. Manche ließen noch mal die Motoren aufheulen, am lautesten die Amerikaner Robby Gordon und Andy Grider in ihrer furchterregenden Mutation eines schwarzen Hummer mit Aufdruck "Monster Energy". Der metallicblaue Volkswagen Touareg mit der Autonummer WOB - VW 783 und Startnummer 305 dagegen rollte vergleichsweise sauber und ruhig ins Ziel. Den Schalensitzen entstiegen zwei glückliche, aufgeräumte Männer. "Dirk hat uns den Weg gewiesen", lobte Pilot Giniel de Villiers seinen Beifahrer Dirk von Zitzewitz, und de Villiers steuerte geschickter durch Argentinien und Chile als alle Rivalen.

Die Beteiligten dieses Kollektivs zogen souverän ihre Spur, während ein Gegner nach dem anderen verloren ging. Für Volkswagen war es der erste Triumph als Werksteam bei der wahnwitzigen Wettfahrt, obwohl selbst ihr Star Carlos Sainz zu den Opfern gehörte. Gegen den 280 PS starken Diesel Touareg hatte Mitsubishi nach zuvor sieben Siegen in Serie keine Chance. Auch die Zweiten, Mark Miller (USA)/Ralph Pitchford (Südafrika), 8:59 Minuten langsamer, und die Sechsten, Dieter Depping (Wedemark)/Timo Gottschalk (Berlin), saßen in einem VW Touareg. Dirk von Zitzewitz, 40, aus Karlshof war der beste Lotse, eine Art Christian Geistdörfer der Wüste. Und kaum hatte die Dakar im 29. Durchgang Afrika verlassen und war nach Südamerika übergesiedelt, saß erstmals ein Afrikaner am Steuer der Sieger: Giniel de Villiers aus Südafrika. "Schön paradox", schrieb Babacar Ndiaye von Senegals Zeitung Le Soleil, der einzige afrikanische Berichterstatter.

Auf seinem Heimatkontinent hatte es de Villiers, 36, siebenmal vergeblich probiert, zuletzt schon mit von Zitzewitz. Argentinien, wo Österreichs früherer Bundeskanzler Viktor Klima VW vorsteht, brachte mehr Glück. "War eine großartige Idee, hierher zu kommen", fand de Villiers, ein zurückhaltender Zeitgenosse. "Es wurde eine echte Dakar, obwohl sie woanders stattfand." Ohne diesen Umzug hätte es diesen Ritt durch die Wildnis wohl nicht mehr gegeben, Terrorgefahr in Mauretanien und Mali hatte 2008 zur Absage geführt. Pampa, Anden und Atacama-Wüste ersetzten die Sahara ausgezeichnet, jedenfalls für die überlebenden Teilnehmer. An den Pisten standen etwa zwei Millionen Zuschauer, kein Vergleich zur afrikanischen Einsamkeit. Und die Kameras lieferten grandiose Bilder, unbezahlbare Werbung für Argentinien und Chile. Beim Versuch, es ähnlich kompliziert wie auf der anderen Seite des Atlantiks zu machen, übertrafen sich die Veranstalter allerdings selbst.

Drei Tote werden bis jetzt gemeldet, das liegt im Trend der bisweilen selbstmörderischen Prüfung. Der französische Motorradfahrer Pascal Terry starb einsam in der Pampa, ein Lungenödem tötete ihn am Rande der Piste, bei besserer Koordinierung hätte ihn die Rennleitung womöglich retten können. Zwei Peruaner erlagen nach einem Zusammenprall mit einem LKW ihren Verletzungen. Der Spanier Cristóbal Guerrero liegt nach seinem Unfall immer noch im Koma. Insgesamt zählt die Dakar seit ihrer Erfindung 1979 nun offiziell 59 Todesfälle. Außerdem unterstützte die Streckenführung prominente Ausfälle in Serie. Der Franzose Stéphane Peterhansel, Autosieger 2007, und sein Landsmann und Vorgänger Luc Alphand gaben mit ihren überforderten Mitsubishis auf. "Wir haben Peterhansel gereizt, zu schnell zu fahren", berichtete Dirk von Zitzewitz. Der zunächst brillante Kataer Nasser al Attiyah ließ sich disqualifizieren, auch seinem BMW X3 war das Terrain zu schwer. Auf der zwölften und tückischsten Etappe zwischen Fiambal und La Rioja erwischte es dann den Favoriten und Führenden: Carlos Sainz, Spaniens ehemaliger Rallye-Weltmeister, purzelte mit seinem Co-Piloten Michel Périn aus Frankreich im VW Touareg in den Graben eines ausgetrockneten Flussbettes.

Am Wochenende war Sainz bereits in Madrid gelandet und schickte seine Wut zurück. "Kurz vor Schluss hat uns ein Fehler im Streckenbuch aus der Bahn geworfen", klagte der Havarist. Ein Pfeil habe ihn "in die Falle geführt", die Ausrichter hätten es mit den Schwierigkeiten übertrieben. VW-Kollege von Zitzewitz, dessen Duo danach freie Fahrt hatte, sah das anders. "Das war ein Fehler von Fahrer und Navigator, das kommt vor. Die zwei hatten Pech, dass sie neben der Spur waren, hohes Tempo gefahren sind und dann nicht mehr reagieren konnten. Profis wie Sainz und Périn legen sich nicht ohne weiteres aufs Dach." Auch wegen solcher Missgeschicke sei die Dakar nun mal "das härteste Rennen der Welt, das weiß man vorher. Das ist die Mutter aller Rallyes, deshalb kommt jedes Jahr kaum die Hälfte durch, sonst wäre es ja langweilig". Der Norddeutsche hatte sich mit de Villiers auf dem neunten Teilstück von La Serena nach Copiapó in Chile verfahren und danach besonnen statt überhastet auf den Kurs zurückgefunden. "Vernünftig, ohne Harakiri", berichtete von Zitzewitz. Auf der zehnten Etappe durch die chilenischen Sandberge geriet das Tandem sogar in einen Krater, der Touareg hielt durch.

Am Sonntag gab es noch ein Schaulaufen durch Buenos Aires, erneut gesäumt von Menschenmassen, ein galizischer Motorradfahrer erzählte von Freudentränen. Es war wohl nur ein Abschied für ein Jahr, 2010 will die Dakar ihr argentinisch-chilenisches Exil fortsetzen, Afrika scheint der Verlierer zu sein. Für Dirk von Zitzewitz "gehört die Dakar nach Afrika, aber das hier ist ein vollwertiger Ersatz, ich komme gerne wieder". Ihn hat begeistert, was er sehen konnte bei all dem Staub und all der Hektik, "diese Landschaften, diese Weite". Bei Gelegenheit will er mit Muße und Geländewagen durch Argentinien fahren, er wird sich sicher nicht verirren. Peter Burghardt

So werden Sieger bei der Rallye Dakar umjubelt - in diesem Fall der Spanier Marc Coma, Gewinner des Motorrad-Wettbewerbs Foto: Reuters

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Terrordrohung gegen Deutschland nach Anschlag in Kabul

Vermummter kündigt im Internet Gewalttaten an / Selbstmordattentäter reißt in der afghanischen Hauptstadt fünf Menschen mit in den Tod

Von Daniel Brössler

Berlin - Ein Selbstmordanschlag in Kabul und ein im Internet aufgetauchtes Video mit Terrordrohungen haben am Wochenende die Sorge vor islamistischen Angriffen gegen Deutsche genährt. Der Anschlag in Kabul am Samstag richtete sich nach Einschätzung von Regierungskreisen in Berlin allerdings nicht unbedingt gegen die deutsche Botschaft. Der Selbstmordattentäter hatte sich vor der Botschaft in einem Geländewagen in die Luft gesprengt und fünf Menschen mit in den Tod gerissen. Mehr als 30 Menschen wurden verletzt, unter ihnen ein deutscher Diplomat und zwei afghanische Mitarbeiter der Botschaft. Für sie bestand keine Lebensgefahr. Die deutsche Vertretung in Kabul befindet sich in unmittelbarer Nähe eines US-Ausbildungslagers für afghanische Polizisten und Soldaten. Als eigentliches Ziel des Attentäters kommt daher auch dieses Camp in Frage. Ein US-Militärsprecher, Chris Kubik, sagte, die Mauer um das Gelände des Stützpunktes habe der Explosion standgehalten. "Es war ziemlich nahe, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie uns angegriffen haben oder nicht", sagte der Oberstleutnant.

Die Nachrichtenagentur AP zitierte einen Taliban-Sprecher mit den Worten, der Selbstmordattentäter habe zwei Fahrzeuge angegriffen, in denen er deutsche Soldaten vermutet habe. "Die Taliban werden alle Länder zum Ziel machen, deren Truppen in Afghanistan sind", sagte er. Deutsche Soldaten seien im Norden des Landes an der Tötung Unschuldiger beteiligt. Im Rahmen der internationalen Isaf-Truppe sind etwa 3300 Bundeswehr-Soldaten in Afghanistans stationiert.

Trotz massiver Sicherheitsmaßnahmen kam es durch den Anschlag zu Schäden am Botschaftsgebäude in Kabul. Das Auswärtige Amt will nun prüfen, ob die Schutzvorkehrungen noch verbessert werden können. In einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Werner Hans Lauk versprach der afghanische Präsident Hamid Karsai Bemühungen um verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für die Vertretung, die sich an einer belebten Straße befindet. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich entsetzt über den "menschenverachtenden Terrorakt". Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verurteilte "diesen feigen Akt der Barbarei auf das Schärfste". Deutschland stehe auch künftig zu seinem Engagement in Afghanistan. Der Afghanistan-Experte der Grünen im Bundestag, Winfried Nachtwei, warnte vor einer "Distanzierungsspirale" durch Anschläge wie jenen vom Samstag. Bezweckt werde eine Abschottung der Ausländer. "Das Kunststück besteht darin, sich durch solche Anschläge nicht immer weiter von den Afghanen isolieren zu lassen", sagte er. Auch er äußerte aber Zweifel daran, dass sich der Anschlag gegen die Botschaft gerichtet habe.

Am Wohnende tauchte im Internet ein angeblich vom Terrornetzwerk al-Qaida stammendes Video auf, in dem wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr Drohungen gegen Deutschland ausgestoßen werden. Zu sehen ist ein als "Abu Talha, der Deutsche" firmierender vermummter junger Mann, der in fließendem Deutsch mit leichtem Akzent allgemein vor Anschlägen warnt. "Unsere Atombombe heißt Autobombe", droht er. Die Deutschen sollten nicht " leichtgläubig und naiv meinen, als drittgrößter Truppensteller ungeschoren davonzukommen" und "unnötigen Ärger" vermeiden. Den deutschen Sicherheitsbehörden ist das Video nach Angaben des Innenministeriums in Berlin bekannt. "Es wird derzeit ausgewertet. Seine Diktion bestätigt erneut die Einschätzung der Sicherheitsbehörden, dass sich Deutschland im Zielspektrum des islamistischen Terrorismus befindet", sagte eine Sprecherin.

Sollte sich die Echtheit des auf einer arabisch-islamischen Webseite veröffentlichten Videos herausstellen, handelt es sich um die erste ausschließlich an Deutschland gerichtete Botschaft des Terrornetzwerks. Neben stark gestikulierend vorgetragenen Drohungen enthält das Band eine Reihe von Anspielungen auf die deutsche Innenpolitik und zahlreiche Phrasen wie "Wahre Liebe gibt es nur unter Muslimen" und "Wisset: Taliban und al-Qaida sind wie eine Primzahl, die nur durch sich selbst oder durch eins teilbar ist."

Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer erneuerte am Wochenende seine Forderung nach einer gerechteren Lastenverteilung in Afghanistan. "Wir sollten mehr gemeinsame Ansätze in unseren Anstrengungen verfolgen. Das schließt auch ein, die geographischen Restriktionen zu verringern, wo Kräfte hingehen können, um sich zu unterstützen." Wegen des Einsatzes der Bundeswehr ausschließlich im relativ ruhigen Norden war Deutschland wiederholt kritisiert worden. Für die Probleme in Afghanistan machte Scheffer zudem in scharfer Form die Regierung in Kabul verantwortlich. (Seite 4)

Die Explosion war gewaltig, als sich der Selbstmordattentäter am Samstag vor der deutschen Botschaft in Kabul in einem Geländewagen in die Luft sprengte. Nach Angaben von Ärzten wurden zudem mehr als 30 Menschen verletzt, darunter auch Mitarbeiter der Botschaft. Auf dem am Wochenende im Internet aufgetauchten Video droht ein vermummter junger Mann erstmals explizit Deutschland Terroranschläge an. "Unsere Atombombe heißt Autobombe", sagt er in fließendem Deutsch. Fotos: Reuters/AFP

Nachtwei, Winfried: Zitate Steinmeier, Frank-Walter: Zitate Merkel, Angela: Zitate Hoop Scheffer, Jaap de: Zitate Taliban Al-Qaida Anschläge in Afghanistan Anschläge auf Diplomatische Vertretungen Diplomatische Vertretungen Deutschlands Innere Sicherheit in Deutschland Islamistischer Terrorismus im Internet SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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15 Tote in Pakistan

Islamabad - Bei Gefechten im unruhigen Nordwesten Pakistans sind mindestens 15 radikal-islamische Extremisten und ein Regierungssoldat ums Leben gekommen. Wie das Militär am Sonntag mitteilte, griffen die Sicherheitskräfte am Vortag Stellungen der Aufständischen im halbautonomen Stammesgebiet Mohmand an. Die Region im Grenzgebiet zu Afghanistan gilt als Extremisten-Hochburg und Rückzugsgebiet für Taliban-Kämpfer und Al-Qaida-Terroristen. dpa

Islamabad

- Bei Gefechten im unruhigen Nordwesten Pakistans sind mindestens 15 radikal-islamische Extremisten und ein Regierungssoldat ums Leben gekommen. Wie das Militär am Sonntag mitteilte, griffen die Sicherheitskräfte am Vortag Stellungen der Aufständischen im halbautonomen Stammesgebiet Mohmand an. Die Region im Grenzgebiet zu Afghanistan gilt als Extremisten-Hochburg und Rückzugsgebiet für Taliban-Kämpfer und Al-Qaida-Terroristen.

Muslimische Fundamentalisten in Pakistan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Abgeschwungen, umgefallen

Beim Abfahrtssieg des Schweizers Didier Defago am Lauberhorn kassiert Österreichs Ski-Elite eine denkwürdige Niederlage

Wengen/Altenmarkt (SZ) - Etwas wie das, was sich am Samstag am Lauberhorn ereignete, könne man "sicher ein Debakel nennen", sagt Anton Giger. Ihm muss dieses Geständnis extrem schwer gefallen sein, denn er ist Cheftrainer von Österreichs alpinen Skifahrern. Die schnitten in der Weltcup-Abfahrt von Wengen so schlecht ab wie seit 15 Jahren nicht mehr: Dass der Beste der ruhmreichen rotweißroten Equipe an Platz 18 landet wie Georg Streitberger unterm Eiger, kommt tatsächlich nur alle Jubeljahre mal vor, markiert tiefe Einschnitte in der Disziplin, die Österreich so wichtig ist wie nichts sonst im Sport, und war auch nicht getilgt durch den Doppelsieg von Manfred Pranger und Reinfried Herbst am Sonntag im Wengener Slalom. "Was heute passiert ist, tut weh", sagte Alpinchef Hans Pum zum Debakel am Samstag. Dabei hatten sie nicht mal besondere Häme zu ertragen, weil die Gastgeber in Wengen anerkannt zurückhaltend sind und lieber den ersten Abfahrtssieg von Didier Defago, 31, feierten, als sich über die Schlappe der Nachbarn zu amüsieren. Zumal ihnen eine Woche zuvor in Adelboden Ähnliches beschieden war.

Die Verletzten, die Gleitstücke

Während sich der Walliser Defago für seine zwei Zehntelsekunden Vorsprung auf den Amerikaner Bode Miller, den Gewinner in den vergangenen zwei Jahren, feiern ließ, leckte Team Austria die Wunden, suchte nach Gründen dafür, dass sie geschlagen wurden in einem Maß wie zuletzt im März 1994 in Aspen, als Patrick Ortlieb als bester Österreicher 18. war. "Wir haben eben im Moment in der Abfahrt nur zwei Podestfahrer", erklärte Chefcoach Giger. Die zwei sind Michael Walchhofer, immer noch Spitzenreiter im Abfahrts-Weltcup, und der Steirer Klaus Kröll. "Leider sind wir im Moment nur zu zweit", bestätigt Walchhofer.

Dieser Personalstand ergab sich durch eine Verletztenserie, die durchwegs Athleten betrifft, welche die nächste Generation nach Walchhofer und Hermann Maier darstellen: Hans Grugger (Kreuzbandriss vergangene Woche im Training für die Europacup-Abfahrt auf dem Lauberhorn), Andreas Buder (außer Gefecht seit seinem schweren Sturz vergangenen Januar in Kitzbühel), Mario Scheiber (Arthroskopie im Knie nach Sturz im Super-G von Lake Louise). "Einerseits die Verletzten", umschrieb ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel die Situation, "andererseits dieser spezielle Kunstschnee auf den langen Gleitstücken", da komme Hermann Maier nicht mehr richtig in Fahrt, weil er dafür nicht genug Gefühl habe in dem bei seinem Motorradunfall 2001 schwer beschädigten Bein.

"Ein bisschen einarmig"

Dass das für ihn nichts würde am Lauberhorn, ahnte Maier schon nach dem Training, nach dem Rennen meinte er als 26. (zwei Plätze hinter dem Deutschen Stephan Keppler, was auch selten ist) zum zeitgleichen Walchhofer sarkastisch: "Gut bist' gefahren." Walchhofer fuhr als Fünftschnellster in die Schlüsselstelle Brüggli-S ein, aber kam als Geschlagener heraus: "Ich weiß nicht, warum ich dort abgeschwungen habe." Kollege Kröll, der im Training eine schwere Handprellung davontrug, fuhr "ein bisschen einarmig aus dem Starthaus raus, blieb nach zwei Schritten hängen und ist praktisch umgefallen". Platz 41.

"Wir wurden als Mannschaft schwerst geschlagen", gestand der Tiroler Christoph Gruber, einen Rang hinter Streitberger und einen vor Romed Baumann zweitbester Österreicher, "so eine Niederlage kann man nicht stehen lassen." Durch solche Niederlagen müsse man durch, "umso mehr kann man die Siege feiern", beschwichtigte Hans Pum drüben am Zauchensee. Unterstützung erhielt er vom emeritierten Stephan Eberharter, Lauberhorn-Sieger 2002 und '03: So schlecht, wie sie in Wengen aussahen, seien sie nicht. Das Schlusswort sprach Christoph Gruber: "Besser, so was passiert hier als dort." Dort ist: Kitzbühel, kommendes Wochenende.

Zweifelhaftes Erfolgserlebnis: Georg Streitberger war Österreichs bester Abfahrer in Wengen - auf Platz 18. Foto: AFP

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Bombenanschlag in Indien

Delhi - Bei einem Bombenanschlag im ostindischen Bundesstaat Jharkhand sind mindestens fünf Polizisten getötet worden, wie die Nachrichtenagentur IANS am Samstag berichtete. Die Polizei machte maoistische Aufständische für den Anschlag auf einer Fernstraße rund 140 Kilometer nordwestlich der Landeshauptstadt Ranchi verantwortlich. Maoistische Rebellen sind in 13 der 35 indischen Bundesstaaten und Unionsterritorien aktiv. Sie lehnen die parlamentarische Demokratie ab und kämpfen für ein kommunistisches Regime. dpa

Delhi

- Bei einem Bombenanschlag im ostindischen Bundesstaat Jharkhand sind mindestens fünf Polizisten getötet worden, wie die Nachrichtenagentur IANS am Samstag berichtete. Die Polizei machte maoistische Aufständische für den Anschlag auf einer Fernstraße rund 140 Kilometer nordwestlich der Landeshauptstadt Ranchi verantwortlich. Maoistische Rebellen sind in 13 der 35 indischen Bundesstaaten und Unionsterritorien aktiv. Sie lehnen die parlamentarische Demokratie ab und kämpfen für ein kommunistisches Regime.

Maoistische Rebellen in Indien Anschläge in Indien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Riesch scheitert in Superkombination

Der Einfädler

Altenmarkt - Dieses Bild hatte man lange nicht mehr gesehen: Maria Riesch kauernd am Pistenrand, weit über dem Ziel. Im Ziel hebt in diesem Moment Lindsey Vonn ratlos die Arme: Wie konnte das passieren? Wie konnte ihre Freundin ausscheiden im zweiten Teil der Superkombination, ausgerechnet in der Disziplin, die sie seit Ende vergangenen Jahres beherrscht hatte - dem Slalom, in dem sie viermal nacheinander gewonnen hatte? Das passiert meist durch den Fehler, der Einfädeln genannt wird: Eine Torstange gerät zwischen beide Ski. "Ein Einfädler ist schnell geschehen", verlautbarte die Gescheiterte, "es war klar, dass das früher oder später kommt."

Der Einfädler kommt unerwartet und oft in Phasen, in denen man am wenigsten mit ihm rechnet, sich schon eine Aura der Unbesiegbarkeit, Unfehlbarkeit ausgebreitet hat. Es sei ihr klar gewesen, "dass früher oder später wieder ein Ausfall kommt. Ärgerlich", befand Maria Riesch, sei es, ausgerechnet im Slalom auszuscheiden, "in dem ich bisher so sicher und konstant unterwegs war, nicht den geringsten Wackler hatte. Es war nie brutal eng, sondern ich fuhr einfach sicher herunter." Bis zum Samstag in Zauchensee. "Da war es nicht ganz so sicher, ich kann es mir auch nicht erklären."

Da war es vorbei mit ihrer Unfehlbarkeit im Slalom, da hatte Maria Riesch den Kombinations-Weltcup bereits verloren, den sie sich im vergangenen Winter mit einem Sieg und zwei zweiten Plätzen souverän aneignete. Lange blieb sie am Hang, und als sie endlich im Ziel ein-traf, war ihre Freundin Lindsey als ers-te bei ihr und nahm sie tröstend in die Arme, was neuerlich starken Tränenfluss auslöste. "Ich trauere mit Maria, weil ich weiß, wie sich so was anfühlt", sagte die Amerikanerin. Letztes Mal erfuhr sie selbst es im Slalom von Zagreb. "Das wollte ich nicht, dass ich gewinne, und meine Freundin steht im Ziel und weint. Lieber hätte ich sie neben mir auf dem Podest gehabt." Sie gewann aber vor der österreichischen Torläuferin Kathrin Zettel und der schwedischen Titelsammlerin Anja Pärson, versagt blieb Maria Riesch die Erfüllung des Wunsches, "dass wir drei - Anja, Lindsey und ich - es untereinander ausmachen, weil wir die stärksten Kombiniererinnen sind". Diesmal nicht, ebenso wenig wie voriges Mal in St. Moritz. Es gibt aber auch noch eine Kombination bei der WM in Val d'Isere. gä

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Entführer fordern Lösegeld

Manila - Muslimische Extremisten wollen die entführten Rotkreuz-Helfer auf den Philippinen nur gegen ein Millionenlösegeld freilassen. Das verlautete am Sonntag aus Militärkreisen. Die Armee geht davon aus, dass der Schweizer Andreas Notter und seine beiden Kollegen in den Dschungel von Indanan auf der Insel Jolo im Süden des Landes verschleppt wurden. Mehr als 1500 Soldaten suchen nach den Entführten. Das Militär glaubt, dass die Abu Sayyaf-Rebellenführer Albader Parad und Jumdail alias Dr. Abu Pula hinter der Entführung stecken. dpa

Manila

- Muslimische Extremisten wollen die entführten Rotkreuz-Helfer auf den Philippinen nur gegen ein Millionenlösegeld freilassen. Das verlautete am Sonntag aus Militärkreisen. Die Armee geht davon aus, dass der Schweizer Andreas Notter und seine beiden Kollegen in den Dschungel von Indanan auf der Insel Jolo im Süden des Landes verschleppt wurden. Mehr als 1500 Soldaten suchen nach den Entführten. Das Militär glaubt, dass die Abu Sayyaf-Rebellenführer Albader Parad und Jumdail alias Dr. Abu Pula hinter der Entführung stecken.

Entführungen und Geiselnahmen der Abu Sayyaf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bobfahrer André Lange

Freude wie Ärger

St. Moritz/Leipzig (dpa) - An der Wiege des Bobsports hat sich André Lange mit dem siebten EM-Titel fünf Wochen vor der WM im kleinen Schlitten eindrucksvoll zurückgemeldet. Mit Nervenstärke und fahrerischer Extraklasse holte sich der Doppel-Olympiasieger in St. Moritz mit Anschieber Martin Putze den Titel und zog mit dem Rekordchampion Christoph Langen gleich. Im Viererbob musste Lange am Sonntag als Dritter ins Rennen und wurde erneut Opfer der Startnummern-Lotterie. Zudem lief sein Gefährt nicht wie gewünscht. Am Ende landete er im parallel ausgetragenen Weltcup auf Rang neun, was am Ende Platz sieben in der EM-Wertung bedeutete.

Thomas Florschütz, der unmittelbar nach dem Abschlusstraining dank seines Mechanikers noch einen gravierenden Einstellungsfehler im FES-Bob beheben konnte, raste im Viererbob hinter den siegreichen Russen Alexander Subkow auf Rang zwei. Karl Angerer aus Königssee wurde mit zwei Hundertstelsekunden Rückstand auf seinen Teamkollegen Dritter. "Das ist total super. Mein bislang bestes Ergebnis im Vierer", jubelte Florschütz, dessen Trainer Gerd Leopold die Glückwünsche direkt an Mechaniker Bernd Steinecker weitergab: "Er hat unmittelbar nach dem Abschlusstraining einen schweren Einstellungsfehler gefunden. Das war der Schlüssel zum Erfolg." Karl Angerer war mit dem Gewinn seiner ersten internationalen Medaille überglücklich: "Ich hatte zwar zweimal den gleichen Fehler im horse shoe, doch über EM-Bronze bin ich total happy."

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Flüchtlinge ertrunken

Sanaa - Vor der Küste der arabischen Halbinsel sind am Wochenende zahllose Elendsflüchtlinge aus Afrika ertrunken. Im Jemen wurden mehrere Leichen an Land gespült, nachdem ein Boot mit etwa 300 Menschen an Bord gekentert war. Nur 30 konnten gerettet werden, wie die Leiterin des Flüchtlingshilfswerks in Aden, Laila Nassiv, mitteilte. Im Arabischen Meer sank ein weiteres Flüchtlingsboot mit etwa 120 Menschen. Von ihnen erreichten etwa 80 den rettenden Strand. Beide Boote kamen nach Angaben der UN-Organisation aus Somalia. AP

Sanaa

- Vor der Küste der arabischen Halbinsel sind am Wochenende zahllose Elendsflüchtlinge aus Afrika ertrunken. Im Jemen wurden mehrere Leichen an Land gespült, nachdem ein Boot mit etwa 300 Menschen an Bord gekentert war. Nur 30 konnten gerettet werden, wie die Leiterin des Flüchtlingshilfswerks in Aden, Laila Nassiv, mitteilte. Im Arabischen Meer sank ein weiteres Flüchtlingsboot mit etwa 120 Menschen. Von ihnen erreichten etwa 80 den rettenden Strand. Beide Boote kamen nach Angaben der UN-Organisation aus Somalia.

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Geduld mit den langen Brettern

Bei der Umstellung von Slalom auf Abfahrt verliert Maria Riesch ihre Weltcup-Führung an Lindsey Vonn

Zauchensee - Der Weg von Zagreb nach Maribor führte über Garmisch-Partenkirchen und ebenso der Weg von Maribor zum Zauchensee. Wann immer es ging, übten die deutschen Skifrauen Abfahrt und Super-G auf dem Kreuzeck. Nicht nur, weil dort in zwei Wochen der HeimWeltcup stattfindet, sondern ebenso, weil sie im Jahr 2009 praktisch noch überhaupt nicht auf die langen Ski gekommen waren - fast vier Wochen lang folgte ein Torlauf-Derby dem anderen, und Maria Riesch ritt die Slalomwelle in unvergleichlich erfolgreicher Manier mit vier Siegen nacheinander. Die Slalom-Festwochen sind nun zu Ende, in Zauchensee begann eine Speed-Periode, und Maria Riesch musste absteigen von der Welle als Ausgeschiedene in der Kombination und Siebte in der Abfahrt: "Nicht das Traumergebnis", gestand die Erfolgsverwöhnte später.

"Es war eine lange Slalomserie, deshalb bin ich jetzt wirklich glücklich, zurück beim Speed zu sein - denn das ist es, was ich wirklich mag", hatte die Amerikanerin Lindsey Vonn gesagt, die Titelverteidigerin im Weltcup ist, und die in diesem Wettbewerb ihrer Freundin Maria Riesch die Führung wieder abgenommen hat, weil sie das Schnellfahren nicht nur mag, sondern immer noch ausnehmend gut kann und am Zauchensee ebenso Erste (in der Kombination) und Dritte wurde wie die Schwedin Anja Pärson (die sich den Abfahrtssieg mit der Schweizerin Dominique Gysin teilte). "Das Problem ist, dass man das Timing ein bisschen verliert. Es dauert ein bisschen, bis man sich wieder dran gewöhnt hat", sagt Lindsey Vonn. Tatsächlich sei es nicht die ganz normale Routine, von den 1,60 Meter langen Slalombrettern auf die einen halben Meter längeren Geräte für die Abfahrt umzusteigen, bestätigt Andreas Fürbeck, der Speedtrainer der deutschen Frauen.

Rudernd auf Platz sieben

Auch Maria Riesch hatte verkündet, sie freue sich auf die langen Ski, "denn es war wirklich Zeit für die zweite Abfahrt" (die erste hatten sie Anfang Dezember in Lake Louise bestritten). Aber freilich: "Man hatte sich auf die kurzen Ski eingefahren - man kann kein besseres Gefühl haben als für die Ski, auf denen man viermal nacheinander gewonnen hat." Man müsse keine Bedenken haben, hatte Cheftrainer Mathias Berthold beschwichtigt, "Maria ist eine, die den Wechsel sehr gut hinkriegt". Sogar am besten, schätzte Fürbeck, "für sie ist das kein Problem - denn sie hat das ja immer. Wir simulieren das im Training im Herbst, indem wir zwei Disziplinen an einem Tag fahren". Es gebe einige, die das gut können, schränkte die Partenkirchenerin ein und gestand als Dritte der Kombinationsabfahrt am Samstag ihre Überraschung darüber, "dass ich mich so weit vorn platzieren konnte - weil ich Lindsey und Anja auf den langen Ski doch stärker eingeschätzt habe".

Es geht um die Gewöhnung an die Geschwindigkeit, und es geht um die Umstellung auf die langen Radien: "Es braucht Geduld in den Abfahrtskurven", sagt Fürbeck. Maria Riesch bringt diese Geduld nicht immer auf, "aber wir haben keine Probleme, wenn sie sich dessen besinnt, was sie kann", sagte der Cheftrainer. Im gleichen Sinn der Abfahrtscoach: "Was sie kann, das reicht." Noch nicht ganz: Platz sieben ist nicht die Region, in die sich Maria Riesch hineinwünscht. "Auch im Speed ist es mein Anspruch, vorne mitzufahren." Das Podium war für sie am Sonntag aber sechs Zehntelsekunden entfernt.

Das Positive für sie in Zauchensee blieb, ein halbwegs annehmbares Rennen ins Tal gebracht zu haben nach der Enttäuschung in der Kombination am Tag zuvor, "als ich doch ziemlich am Boden war". Zur Einordnung dieses annehmbaren Ergebnisses benötigte sie nicht das Urteil von Mathias Berthold, dies sei einfach skitechnisch keine saubere Fahrt gewesen. Das hatte sie selbst schon unterwegs erfahren: "In den Sprüngen habe ich gerudert und kam in Rücklage, einige Kurven bin ich auch nicht sauber gefahren." Es war noch mal ein Stück finsterer in der Kälberlochpiste, so was hatte sie in früheren Jahren mal als störend erwähnt: Inzwischen ist das kein Thema mehr, Maria Riesch sagte: "Die Sicht war für alle gleich."

Fahren, nicht reden

Die Piste auch: Eine schöne Abfahrt, sagte Maria Riesch, "aber nicht unbedingt nach unserem Geschmack" - nach ihrem und dem von Lindsey Vonn, zu unrhythmisch, zu untypisch die Kurvenradien. Die Amerikanerin hat allerdings schon mehr rausgeholt aus dem Kälberloch. Für die Deutsche dagegen war der siebte Platz vom Sonntag tatsächlich ihr bestes Resultat am Zauchensee bei fünf Starts binnen sieben Jahren. "Das ist nicht unbedingt meine Lieblingsabfahrt", sagt sie. Aber darum geht es nicht, das weiß sie selbst: "Man muss die Ergebnisse auch fahren, nicht nur davon reden. Ich muss noch was tun im Speed. Aber ich habe es drauf, und ich werde mich steigern. Kommendes Wochenende in Cortina geht es bestimmt ein Trumm besser." Die Gewöhnung an die langen Ski geht weiter. Wolfgang Gärner

"Ich bin jetzt wirklich glücklich, zurück beim Speed zu sein": die Gesamtweltcup-Führende Lindsey Vonn (USA) in Zauchensee Foto: AFP

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Olympia-Tests in Vancouver

Logistisch ausbaufähig

Whistler (sid) - Die deutsche Bilanz stimmte bei den Weltcup-Rennen in Whistler: Kombinierer Björn Kircheisen jubelte über die Plätze drei und zwei, Langläufer Josef Wenzl stand als Überraschungsdritter im Sprint zum zweiten Mal in seiner Karriere auf dem Weltcup-Podest, außerdem wurde Stefanie Böhler Fünfte im 15-km-Jagdrennen. Aber um die deutsche Bilanz ging es nur am Rande an diesem Wochenende in Kanada: Wichtiger waren für Teilnehmer und Beobachter die Erkenntnisse über den Schauplatz der nordischen Wettbewerbe bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver. Ergebnis: landschaftlich herrlich, logistisch ausbaufähig.

Langlauf-Bundestrainer Jochen Behle sagte: "Für einen Weltcup mag das gehen, aber für Olympia reicht das nicht. Das ist alles ein bisschen zu klein angelegt, und wenn noch mehr Zuschauer kommen, wird das hier alles sehr kompliziert." John Furlong, Chef des Olympia-Organisationskomitees Vanoc, hatte den Wettkampfort für alle nordischen Disziplinen und Biathlon zuvor als einen der "besten in der ganzen Welt" gelobt.

Vancouver befindet sich allerdings gerade in einer schweren Krise: Ein Baustopp im Olympischen Dorf droht, weshalb die Stadt einen Kredit über 485 Millionen Euro braucht, um den Bau zu sichern. Entsprechende Verhandlungen mit Banken laufen. Bedingung für den Kredit ist die Zustimmung des Provinz-Parlaments von British Columbia, das in den nächsten Tagen in einer Sondersitzung abstimmen wird. Vancouver muss seit Oktober die offenen Rechnungen für den Bau der Athletenwohnungen bezahlen, da die Finanzierungsgesellschaft Fortress ihre Zahlungen an den Bauträger eingestellt hat. Bürgermeister Gregor Robertson hatte unlängst einräumen müssen, dass die Steuerzahler komplett auf den Kosten für das Olympische Dorf sitzenbleiben könnten. Damit droht ein finanzielles Fiasko wie bei Olympia 1976 in Montreal, das mit einem Milliardenverlust endete. Auch Vanoc hatte im letzten Quartal einen Verlust von 39 Millionen Euro geschrieben.

Olympische Winterspiele 2010 in Vancouver Vancouver SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hubschrauber abgestürzt

Paris - Beim Absturz eines Hubschraubers des französischen Militärs vor der Küste des zentralafrikanischen Staates Gabun sind vermutlich acht Soldaten gestorben. Nach Armeeangaben hatte der Transporthubschrauber am Samstagabend an einem Manöver mit den Streitkräften Gabuns teilgenommen. Die Unglücksursache war zunächst unklar. Kurz nach dem Absturz hatten die Rettungskräfte drei Überlebende und einen Toten bergen können. Von den anderen sechs Besatzungsmitgliedern fehlte zunächst jede Spur. dpa

Paris

- Beim Absturz eines Hubschraubers des französischen Militärs vor der Küste des zentralafrikanischen Staates Gabun sind vermutlich acht Soldaten gestorben. Nach Armeeangaben hatte der Transporthubschrauber am Samstagabend an einem Manöver mit den Streitkräften Gabuns teilgenommen. Die Unglücksursache war zunächst unklar. Kurz nach dem Absturz hatten die Rettungskräfte drei Überlebende und einen Toten bergen können. Von den anderen sechs Besatzungsmitgliedern fehlte zunächst jede Spur.

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In die Ecke gedrängt

Die Hamas steht als Verlierer da - und muss der Bevölkerung in Gaza nun den Sinn ihres Leidens erklären

Von Tomas Avenarius

Kairo - Die erste Hamas-Erklärung nach dem Beginn des Waffenstillstands macht wenig Hoffnung auf ein dauerhaftes Ende der Kämpfe im Gaza-Streifen: "Dem Feind ist es nicht gelungen, unsere Raketenangriffe zu stoppen. Unsere Geschosse schlagen weiter tief im Zionisten-Gebiet ein." Hamas-Kämpfer hatten wenige Stunden nach Ende der Kämpfe noch mindestens fünf Raketen abgefeuert. Vier davon schlugen nahe dem südisraelischen Sderot ein. Die Israelis schickten sofort Flugzeuge, die den Abschussplatz bombardierten. Kurz darauf lenkten die Hamas-Führer ein: Auch sie wollen nun die Waffen schweigen lassen - für eine Woche. Bis dahin müsse die israelische Armee aus Gaza abgezogen sein. Sonst werde man den Kampf wieder aufnehmen "und Widerstand leisten".

Offenbar fühlt sich die Islamisten-Miliz an den von Israels Premierminister Ehud Olmert einseitig ausgerufenen Waffenstillstand nicht gebunden. Der Taktiker Olmert hat die Hamas aber fürs Erste ausgespielt: Die Islamisten drohen als Verlierer des Drei-Wochen-Kriegs um Gaza dazustehen. Während Israel die Spielregeln bestimmt, müssen die Islamisten irgendeinen Erfolg für das enorme Leiden der Bevölkerung vorweisen: mehr als 1200 Tote, 5500 Verletzte und ein verwüstetes Land.

Militärisch hat die israelische Armee mit ihren Jets und Panzern die Oberhand im Gaza-Streifen, auch wenn diese offenbar Schwierigkeiten hatte, gegen die Untergrundkämpfer der Hamas vorzugehen. Die Drohungen der Hamas können derzeit aber kaum überzeugen: Die Miliz ist zwar nicht vernichtet, aber sie ist schwer gebeutelt. Und sie hat der israelischen Armee kaum Verluste zufügen können. Noch weniger konnte sie diese ernsthaft bedrohen: Die Militärführer der Israelis haben auf ihre überlegene Feuerkraft gesetzt und den für sie gefährlicheren Häuserkampf vermieden. Sollten Israels Truppen in Gaza bleiben, obwohl Hamas ihren Abzug fordert, ist unklar, wie sie diese erfolgreich attackieren will.

Auch politisch hat Olmert die Hamas in die Ecke gedrängt. Er hatte sich vor seinem Waffenstillstand nur mit Ägypten, den USA und den Europäern abgesprochen. Die Hamas wurde - offiziell zumindest - nicht gefragt. Natürlich wurde die Führung der radikal-islamischen Gruppe über ihre Unterhändler in Kairo informiert. Mehr geschah aber nicht. An den internationalen Verhandlungsbemühungen über ein Ende der Kämpfe waren die Islamisten ohnehin nie direkt beteiligt. Ägypten und die Regierung von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas sprechen für die international isolierte Führung der Gaza-Palästinenser. Auch das zeigt die Schwäche der Miliz.

Immer klar waren die Kriegsziele der Hamas, die den offenen militärischen Konflikt mit ihrem Raketenbeschuss provoziert - und dabei die Entschlossenheit der Israelis unterschätzt hatte. Die Islamisten wollen ein Ende der Wirtschaftsblockade im Gaza-Streifen und die Öffnung aller Grenzübergänge durchsetzen. Die Grenzen nach Israel und Ägypten sind seit mehr als einem Jahr geschlossen. Es mangelte schon vor dem Krieg an Lebensmitteln, Strom, Medikamenten und vielem anderen, die Bevölkerung hatte erwartet, dass die Hamas-Regierung die Not lindert. Jetzt, nach all den Toten und der Zerstörung der Infrastruktur, wird der Druck steigen.

Obwohl die Versorgungslage in Gaza nach dem dreiwöchigen Bombardement absolut desolat ist, wird Israels Premier Olmert die Blockade kaum aufgeben. Die Führung in Jerusalem will erreichen, dass der wichtige Grenzübergang nach Rafah wieder von den Ägyptern, den Palästinenser-Polizisten von Präsident Abbas und einem europäischen Beobachterteam kontrolliert wird, wie dies früher der Fall war. Hamas-Grenzer, die Pässe stempeln, will Olmert in Rafah nicht sehen. Auch die Schmugglertunnel als wichtige Versorgungslinie sollen zerstört werden: Durch die unterirdischen Gänge zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen kamen in den vergangenen Monaten nicht nur Waffen, sondern auch immer mehr Lebensmittel, Benzin und Medikamente ins Palästinensergebiet.

Auch bei einem dauerhaften Waffenstillstand wird sich Hamas also schwer tun, die 1,5 Millionen Menschen im Gaza-Streifen zu versorgen. Und sie hat ein weiteres Problem: Israelische Soldaten stehen jetzt im Gaza-Streifen. Sie werden erst abziehen, wenn die politische und militärische Führung in Israel dies für vorteilhaft hält. Solange israelische Soldaten in Gaza sind, können sich die Hamas-Führer kaum sicher fühlen: Israel dürfte wenig Hemmungen zeigen, gegen Hamas-Politiker wie Mahmud Zahar, Ismail Haniyje oder die Militärführer der Miliz vorzugehen, wenn es ihrer habhaft werden kann. So könnte Hamas versucht sein, doch weiter zu kämpfen - um am Ende bessere Waffenstillstandsbedingungen zu erreichen.

Die Versorgungslage ist absolut desolat

Hamas Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neuer Anlauf in Simbabwe

Oppositionsführer Morgan Tsvangirai kehrt an Verhandlungstisch zurück / Mugabe schließt Zugeständnisse aus

Harare/Johannesburg - Der Oppositionsführer Simbabwes, Morgan Tsvangirai, am Samstag nach zweimonatigem Exil in seine Heimat zurückgekehrt. Der Chef der Bewegung für Demokratischen Wandel (MDC) will an diesem Montag mit Präsident Robert Mugabe zu erneuten Verhandlungen über eine Koalitionsregierung zusammenkommen. Vier Monate nach dem bisher erfolglosen Abkommen zur Machtteilung soll das Treffen unter der Vermittlung des südafrikanischen Präsidenten Kgalema Motlanthe, seines Vorgängers Thabo Mbeki sowie Mosambiks Staatschef Armando Guebuza stattfinden. Motlanthe ist Vorsitzender des regionalen Staatenbundes SADC, Mbeki dessen offizieller Vermittler.

Tsvangirai hatte im März 2008 mit seiner oppositionellen Bewegung die Parlamentswahlen gewonnen und auch den Sieg der gleichzeitig abgehaltenen Präsidentschaftswahl beansprucht. Mugabe ließ jedoch im Juni einen international umstrittenen zweiten Wahlgang abhalten, den Tsvangirai aus Protest gegen die massive Einschüchterung seiner Anhänger boykottierte. Im September einigten sich die Rivalen auf die Bildung einer Einheitsregierung, die aber bisher nicht umgesetzt wurde. Das Abkommen scheiterte unter anderem am Streit über die Besetzung der Ministerposten. Das Land befindet sich nach jahrelanger Misswirtschaft am Rande des Kollapses.

Tsvangirai äußerte am Wochenende in Harare die Hoffnung, dass das geplante Treffen mit seinem Rivalen einen Ausweg aus der monatelangen politischen Krise bringen werde. Er machte allerdings deutlich, dass seine Bewegung MDC sich nicht in eine Vereinbarung zwingen lassen werde, die nicht den Erwartungen des simbabwischen Volkes entspreche. Außerdem forderte er als Voraussetzung für neue Gespräche die Freilassung von mehr als drei Dutzend seiner Anhänger, die nach seinen Angaben verschleppt und gefoltert wurden.

Der simbabwische Präsident Robert Mugabe hat mit einem Ende der Gespräche über eine Machtteilung gedroht, sollte Tsvangirai bei dem Treffen am Montag eine Einigung ablehnen. "Das ist die Gelegenheit, bei der sie entweder zustimmen, oder bei der es zum Abbruch kommt", sagte Mugabe der staatlichen Sonntagszeitung Sunday Mail. Seine Seite habe alle Zugeständnisse gemacht, die sie habe machen können, fügte der Staatschef hinzu.

Die Lage in dem verarmten südafrikanischen Land wird erschwert durch eine Cholera-Epidemie mit mehr als 2200 Toten und 42 000 Erkrankten, die auch Nachbarländer erfasst hat. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef kündigte am Samstag Hilfe in Höhe von fünf Millionen US-Dollar für das Gesundheitssystem des Krisenstaates an. Unicef-Direktorin Ann Veneman hat bei einem Besuch in Harare am Wochenende in drastischen Worten vor einer humanitären Katastrophe gewarnt. "Die Cholera-Epidemie ist nur die Spitze des Eisbergs", sagte Veneman. Die Hälfte der Bevölkerung sei auf Lebensmittelhilfe angewiesen, Gesundheitszentren würden geschlossen, und auch der Schulbetrieb drohe vollends zusammenzubrechen. dpa/AFP/AP

Hoffnungsvoller Heimkehrer: Simbabwes Oppositionsführer Morgan Tsvangirai ist nach zweimonatigem Exil wieder in seiner Heimat und will mit seinem Rivalen Robert Mugabe verhandeln. Foto: AFP

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Rebellen auf dem Rückzug

Colombo - Die Regierungstruppen in Sri Lanka haben die tamilischen Rebellen nach eigenen Angaben weiter zurückgedrängt. Sie nahmen einen Stützpunkt der Befreiungstiger von Tamil Eelam im Dorf Maruthampuvel ein, wie ein Militärsprecher am Sonntag mitteilte. Eine unabhängige Beurteilung der Lage ist unmöglich, da Journalisten die Einreise in das Gebiet verwehrt wird. Die Regierung will die Rebellen militärisch bezwingen und den seit 25 Jahren andauernden Bürgerkrieg so beenden. AP

Colombo

- Die Regierungstruppen in Sri Lanka haben die tamilischen Rebellen nach eigenen Angaben weiter zurückgedrängt. Sie nahmen einen Stützpunkt der Befreiungstiger von Tamil Eelam im Dorf Maruthampuvel ein, wie ein Militärsprecher am Sonntag mitteilte. Eine unabhängige Beurteilung der Lage ist unmöglich, da Journalisten die Einreise in das Gebiet verwehrt wird. Die Regierung will die Rebellen militärisch bezwingen und den seit 25 Jahren andauernden Bürgerkrieg so beenden.

Bürgerkrieg in Sri Lanka SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Südkorea in Alarmbereitschaft

Seoul - Südkorea hat nach Drohungen aus dem Norden seine Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Aus Kreisen des Verteidigungsministeriums in Seoul verlautete am Sonntag, es gebe keine ungewöhnlichen Truppenbewegungen in Nordkorea. Trotzdem seien die Streitkräfte auf alles vorbereitet. Nordkorea hatte den Süden am Samstag vor einer militärischen Konfrontation gewarnt. Die Koreanische Volksarmee bezeichnete den südkoreanischen Präsidenten Lee Myung Bak als Verräter und warf ihm vor, eine militärische Provokation zu planen, wie die amtliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA meldete. Außerdem bekräftigte der kommunistische Norden, er werde eine umstrittene Seegrenze mit dem Süden nicht anerkennen. Lee und seine "Kriegstreiber" müssten erkennen, dass sie einen hohen Preis für den von ihnen gewählten Weg der Konfrontation bezahlen müssten.

Beobachter gingen davon aus, dass die Äußerungen aus Pjöngjang eher an den künftigen US-Präsidenten Barack Obama als an Südkorea gerichtet waren. "Nordkorea will Obamas Aufmerksamkeit erringen", sagte Professor Kimg Yong Hyun von der Dongguk-Universität in Seoul. Offenbar wolle das nordkoreanische Regime seinen Forderungen nach einem Friedensvertrag und diplomatischen Beziehungen zu Washington auf diese Weise Nachdruck verleihen.

Südkorea hat die Anschuldigungen aus dem Norden zurückgewiesen und wiederholt zum Dialog aufgerufen. Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel haben sich verschärft, seit Lee vor fast einem Jahr sein Amt antrat und eine härtere Haltung gegenüber Pjöngjang ankündigte. Ein US-Wissenschaftler vom Zentrum für internationale Politik in Washington sagte nach einem Besuch in Nordkorea, Nordkorea verfüge über waffenfähiges Plutonium für vier bis fünf Sprengköpfe. AP

Drohungen aus dem Norden: Diktator Kim Jong Il. Foto: Reuters

Beziehungen der USA zu Nordkorea Beziehungen Südkoreas zu Nordkorea SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Tutsi-Miliz lenkt ein

Nairobi - Führende Offiziere der ostkongolesischen Tutsi-Miliz CNDP haben einen Waffenstillstand mit den Regierungstruppen angekündigt. Die diesen Offizieren unterstehenden Streitkräfte wollten sich künftig den Regierungstruppen anschließen, berichtete der britische Rundfunksender BBC am Samstag nach einem Treffen von Tutsi, die gegen ihren bisherigen Führer General Laurent Nkunda rebellieren, mit dem kongolesischen Innenminister und dem ruandischen Armee-Stabschef in Goma. dpa

Nairobi

- Führende Offiziere der ostkongolesischen Tutsi-Miliz CNDP haben einen Waffenstillstand mit den Regierungstruppen angekündigt. Die diesen Offizieren unterstehenden Streitkräfte wollten sich künftig den Regierungstruppen anschließen, berichtete der britische Rundfunksender BBC am Samstag nach einem Treffen von Tutsi, die gegen ihren bisherigen Führer General Laurent Nkunda rebellieren, mit dem kongolesischen Innenminister und dem ruandischen Armee-Stabschef in Goma.

Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo 1998 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Abgründe einer Idylle

In Perugia müssen sich zwei Austauschstudenten für den Mord an ihrer britischen Kommilitonin verantworten

Von Stefan Ulrich

Wer Amanda Knox warten sieht auf der Anklagebank, im Ringelpulli, mit ihrem blassen, ebenmäßigen Gesicht, den glattgekämmten langen Haaren und dem zaghaften Lächeln, der fragt sich, wie die hübsche Amerikanerin, die fast noch wie eine Schülerin aussieht, in all das hineingeraten konnte. Warum sie am Freitag im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes von Perugia sitzt und nicht, ein paar Schritte weiter, in einer Aula der Fremden-Universität. Warum sie am Ende dieses ersten Verhandlungstages wieder abgeführt und in eine Zelle gesperrt wird, anstatt mit ihren Kommilitonen um den Brunnen der Piazza IV Novembre zu bummeln oder in einer Bar auf dem Corso Vannucci einen Cappuccino zu trinken.

Auch die 21 Jahre alte Amanda scheint sich das zu fragen, den Eindruck macht sie jedenfalls. Vor Prozessbeginn sagte sie: "Ich bin unschuldig und werde das beweisen. Ich war die Freundin von Meredith und habe sie nicht getötet." Meredith Kercher, das ist die andere junge Frau in dieser Studentengeschichte. Polizisten fanden die Britin am 2. November 2007 halbnackt und mit durchgeschnittener Kehle auf dem Bett ihres Zimmers in einem Häuschen nahe der Uni von Perugia liegen. 22 Jahre war Mez, wie sie genannt wurde, damals alt. Amanda Knox, die sich gern Foxy Knoxy rufen lässt, soll sie ermordet haben, gemeinsam mit zwei jungen Burschen. Einer von ihnen, der Italiener Raffaele Sollecito, sitzt nun mit ihr in dem freskengeschmückten Gerichtssaal. Der zweite, der aus Afrika stammende Rudy Guede, wurde im Oktober in einem abgekürzten Verfahren zu 30 Jahren Haft verurteilt.

Die Schöne oder eher das Biest?

Der Mordfall erregt in Italien, Großbritannien und in den USA ungeheueres Aufsehen. Schließlich gilt das pittoresk auf einem Hügelrücken gelegene Perugia als Ort, an dem junge Leute aus aller Welt fern von Eltern und sonstigen Zwängen Italien und das Studentenleben erkunden können. Lachen, Liebe und lange Nächte, das scheint zu Perugia zu passen, aber doch nicht gewalttätiger Gruppensex, Drogenrausch und Mord. Und dann ist da noch diese Angeklagte, die all die Widersprüche in sich zu vereinen scheint: die blauäugige Amanda Knox, "das Engelsgesicht", wie die italienischen Zeitungen schreiben, die unschuldige Schöne - oder doch das Biest?

Die Angeklagte hat sich seit ihrer Festnahme zu einer Art Pop-Phänomen entwickelt, als sei sie die Heldin einer Fernsehserie. In Amerika werden T-Shirts und Teddys mit dem Aufdruck "Free Amanda" angeboten. Im Internet fällen zahlreiche Blogger ihre Urteile - schuldig oder unschuldig. Amanda Knox selbst bekommt Unmengen Fanbriefe und Heiratsanträge ins Gefängnis geschickt. Die Zuschauer eines italienischen Privatsenders wählten sie zur weiblichen TV-Persönlichkeit des Jahres 2008. Erste Bücher über ihren Fall kommen auf den Markt. Außerdem durfte Amanda Knox in der Haft als Schauspielerin an einem Film mitwirken.

Die Angeklagte selbst verkraftet die Amanda-Manie offenbar recht gut. Sie studiert im Gefängnis Fremdsprachen, auch Deutsch, spielt Gitarre, schreibt Geschichten und setzt auf einen baldigen Freispruch. "Ich habe keine Angst vor der Wahrheit und hoffe, dass sie am Ende herauskommt", sagt sie.

Die Staatsanwälte aber sind überzeugt, den Angeklagten Mord und sexuellen Missbrauch nachweisen zu können, auch wenn es an einem Geständnis fehlt und die Motive mysteriös wirken. Nach Ansicht der Ankläger hat sich die Tat am Abend des 1. November 2007 so zugetragen: Unter Einfluss von Drogen und Halloween-Fantasien wollen Amanda, Raffaele und Rudy ihre Bekannte Meredith - die mit Amanda in dem Häuschen lebt - zu Sexspielen zwingen. Meredith weigert sich. Rudy versucht, sie zu vergewaltigen. Meredith wird gewürgt. Dann halten sie die Männer fest, während ihr Amanda ein Messer in den Hals sticht. Die Täter schrubben die Wohnung, um Spuren zu beseitigen, und schlagen ein Fenster ein, um einen Raub vorzutäuschen.

DNS-Spuren auf dem Messer

War es so? Die Fahnder stellten in Raffaeles Wohnung ein 31 Zentimeter langes Küchenmesser sicher. Darauf fanden sich DNS-Spuren Amandas und Merediths. Außerdem gelang es ihnen, auf dem Boden der Wohnung die Abdrücke nackter, blutverschmierter Füße wieder sichtbar zu machen. Sie sollen zu Amanda passen. Weitere Fußspuren rechnen die Staatsanwälte Raffaele und Rudy zu. Zudem entdeckten sie DNS-Spuren Rudys, unter anderem auf einem Tampon Merediths. Raffaele soll einen "genetischen Fingerabdruck" auf dem Büstenhalter der Toten hinterlassen haben. Hinzu kommt, dass Amanda zunächst einen Unschuldigen der Tat verdächtigte. Die Ermittler halten die Amerikanerin für "unbefangen und durchtrieben" zugleich, während sie Raffaele als enthemmt, unreif und von Gewaltpornos angezogen beschreiben.

Die drei jungen Leute beteuern jedoch ihre Unschuld. Der bereits verurteilte Rudy behauptet, er sei in der Tatnacht zwar in der Wohnung gewesen, habe mit dem Mord aber nichts zu tun. Den hätten die beiden anderen begangen. Die Verteidiger Amandas glauben dagegen, ein großer Unbekannter habe die Britin getötet. Sie verweisen auf weitere Spuren, die in dem Häuschen gefunden wurden, aber nicht zu den Angeklagten passen. Die Rechtsanwälte Raffaeles verfechten die These, Meredith habe einen Einbrecher überrascht und sei von diesem getötet worden. Sie forderten am Freitag, die Untersuchungshaft wegen schwerer Verfahrensfehler aufzuheben.

Die Verteidiger kritisieren, die Justiz habe schlampig ermittelt und Spuren verwechselt. Solche Vorwürfe wurden von angelsächsischen Blättern aufgegriffen. Ob sie zutreffen, müssen nun die zwei Berufs- und sechs Laienrichter bewerten. Der Prozess dürfte viele Monate dauern. Es wird erwartet, dass mehr als 200 Zeugen und Dutzende Sachverständige aussagen. Danach wird man - vielleicht - wissen, wer Amanda Knox wirklich ist.

"Ich bin unschuldig und werde das beweisen": Die italienischen Medien nennen die Angeklagte Amanda Knox "Engelsgesicht", die Ermittler halten sie für "durchtrieben" und den mitangeklagten Raffaele Sollecito (li.) für "enthemmt". Reuters

Mordfälle Kriminalität in Italien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vorwürfe gegen Thailand

Bangkok - Menschenrechtsgruppen haben Thailand für seinen unmenschlichen Umgang mit Flüchtlingen aus Birma scharf kritisiert. Die Tatsache, dass hunderte illegale Einwanderer auf dem Meer ausgesetzt wurden, sei "völlig inakzeptabel", sagte der Birma-Experte von Human Rights Watch, David Mathiesona, am Sonntag. Er forderte eine Untersuchung des Vorfalls durch die Vereinten Nationen und die thailändische Regierung. Premier Abhisit Vejjajiva will an diesem Montag mit Menschenrechtlern über die Vorwürfe sprechen. AFP

Bangkok

- Menschenrechtsgruppen haben Thailand für seinen unmenschlichen Umgang mit Flüchtlingen aus Birma scharf kritisiert. Die Tatsache, dass hunderte illegale Einwanderer auf dem Meer ausgesetzt wurden, sei "völlig inakzeptabel", sagte der Birma-Experte von Human Rights Watch, David Mathiesona, am Sonntag. Er forderte eine Untersuchung des Vorfalls durch die Vereinten Nationen und die thailändische Regierung. Premier Abhisit Vejjajiva will an diesem Montag mit Menschenrechtlern über die Vorwürfe sprechen.

Regierungen Thailands Beziehungen Thailands zu Birma Sozialstruktur in Thailand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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BGH bestätigt Urteil im Fall "schwarze Witwe"

Göttingen - Die Verurteilung der sogenannten "schwarzen Witwe" wegen vierfachen Mordes an älteren Männern ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof (BGH) habe die Entscheidung des Landgerichts Göttingen bestätigt und die Revision der 69-jährigen Lydia L. verworfen, teilte eine Justizsprecherin in Göttingen mit. Die ehemalige Prostituierte aus Bodenfelde an der Oberweser hatte einen vermindert schuldfähigen Gehilfen, ihren Bekannten, angewiesen, die Opfer zu töten, um an deren Geld und Vermögen zu kommen. Laut Urteil hatte sie die Senioren über Anzeigen kennengelernt, zunächst umgarnt und dann finanziell ausgenommen. Anschließend ließ sie die Opfer umbringen. dpa

Bundesgerichtshof (BGH) Mordfälle in Deutschland Einzelfälle Fälle beim Bundesgerichtshof SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bochum sagt Loveparade ab

Stadt findet keinen geeigneten Platz in der Nähe des Zentrums

Düsseldorf - Der Rave im Revier fällt aus: Die Loveparade kann 2009 nicht wie geplant in Bochum stattfinden. Die Infrastruktur reiche einfach nicht, teilte die Stadt mit. Die Bochumer, die sich vor zwei Jahren noch voller Tatendrang um die Ausrichtung beworben hatten, stellten offenbar plötzlich verwundert fest, dass ihnen sowohl ein geeignet großer Platz in Zentrumsnähe als auch ein genügend großer Hauptbahnhof fehlt. Zudem sei "nun erst bekannt geworden, dass umfangreiche Gleisbauarbeiten der Deutschen Bahn zur Konsequenz haben, dass nur ein Teil der Besucher zur Veranstaltung gelangen würde". Am Ende soll also Hartmut Mehdorn wieder mal die (Mit-)Schuld haben. Ein alternativer Austragungsort, so die Veranstalter, sei nicht vorgesehen.

Die Absage ist ein Debakel - sowohl für die Stadt als auch die Veranstalter, die erst 2007 mit dem Konzept "Loveparade Metropole Ruhr 2007-2011" gestartet waren. In Essen (2007) und Dortmund (2008) hatte die Veranstaltung, die 1989 in Berlin einst mit 150 Teilnehmern gestartet war, zuletzt mit 1,6 Millionen Zuschauern eine neue Rekordmarke aufgestellt. Für die Jahre 2010 (Duisburg) und 2011 (Gelsenkirchen) waren die weiteren Austragungsorte bereits bestimmt. Man werde aber jetzt "die kommenden Städte eingehend prüfen", sagte Veranstalter Rainer Schaller. Skepsis ist angebracht: Denn wenn bereits das 380 000 Einwohner zählende Bochum vor dem Ansturm der Raver kapituliert, dürfte insbesondere das nochmals um ein Drittel kleinere Gelsenkirchen beim Gedanken an die Massenveranstaltung arg ins Schwitzen geraten. Ganz ohne Beats. graa

Love Parade Bochum SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DIE FRAGE

Leiden Hunde unter der Globalisierung?

Durch den wachsenden Personen- und Güterverkehr werden häufig auch Parasiten eingeschleppt. Vergangenes Jahr starben in Deutschland etwa 2000 Hunde an der "Hundemalaria" Babesiose.

Heinz Mehlhorn, Zoologe an der Universität Düsseldorf: "Die Zahl der Hunde, die an Babesiose erkranken, nimmt jedes Jahr zu. Unbehandelt endet das in den meisten Fällen tödlich. Die Krankheit wird von der Auwaldzecke übertragen, die sich in Deutschland immer weiter verbreitet, ursprünglich aber hier gar nicht heimisch war. Insgesamt beobachten wir eine immer stärkere Durchmischung der Erreger, was sicher mit dem steigenden Reiseaufkommen in Verbindung steht. Auch die Klimaerwärmung ist für die Parasiten günstig, um ihr Verbreitungsgebiet auszudehnen."

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Das Streiflicht

(SZ) Gegensätze ziehen sich an, sagen die Leute, aber das bedeutet nicht, dass Frauen im Allgemeinen so scharf darauf sind, das Bett mit einem Frosch zu teilen. Ausnahmen bestätigen die Regel, sagen die Leute auch, aber die Königstochter im Grimm'schen Märchen machte keine Ausnahme und warf den Frosch, der Zugang zu ihrem Lager begehrte, mit all ihrer Kraft an die Wand. Das Glitschetier verwandelte sich daraufhin in einen Königssohn mit schönen und freundlichen Augen, aber darauf sollten Frauen, die sich mit vergleichbaren Offerten konfontiert sehen, lieber nicht vertrauen. Es könnte sein, dass sich so ein Frosch in einen Stiesel verwandelt, der feuchte Augen, aber ein kaltes Herz hat, was sich leider erst nach einiger Zeit herausstellt. Dann ist es zu spät, denn ein ausgewachsener Mann lässt sich nicht an die Wand werfen wie ein Frosch. Gegensätzlicher hätten die gar nicht sein können, meinen die Leute nun auf einmal, und überhaupt sei doch klar gewesen, dass das nie im Leben gutgehen konnte.

Es ist nämlich ein Märchen, dass sich ganz verschieden gestrickte Menschenwesen auf Dauer anziehen. Menschen sind keine Magneten, mit einem Nordpol und einem Südpol ausgestattet, denen sie sich wechselweise zuwenden könnten, und überhaupt ist das Leben kein Märchen. Die Königssöhne sind so rar geworden wie die Königstöchter, die Goldesel scheiden höchstens faule Wertpapiere aus, und Schneewittchen wird im Wettbewerb um Deutschlands Supermodel kübelweise mit Pech übergossen. "Die Schöne und das Biest" - das funktioniert nur, weil das Biest den Keim der Metamorphose in sich trägt. In der Realität aber bleibt das Biest meist ein Biest, auch dann, wenn es andersherum gewendet wird: "Der Schöne und das Biest."

Also ist es kein Märchen, wenn die Leute sagen: "Gleich zu Gleich gesellt sich gern." Der Satz ist nicht immer gut gemeint, muss aber niemanden kümmern, der sich mit seinem Partner einig weiß. Längere Beziehungen, so berichtet das Magazin Psychologie Heute, basieren auf der Übereinstimmung in wichtigen Merkmalen der Persönlichkeit, zum Beispiel der Neigung, sich an bestimmte Regeln zu halten. Niemand hat das besser dargestellt als Loriot in seinen Szenen einer Ehe, gerne überschrieben mit dem Satz: "Männer und Frauen passen eigentlich nicht zusammen." Eigentlich. Uneigentlich ist aber offenkundig, dass diese Dialoge, wiewohl streitbar geführt, nach einem fein austarierten, lange erprobten Regelwerk ablaufen, das keiner der Partner missen will. Mehr Konkordanz ist schwerlich denkbar, es sei denn, man glaubt noch an Märchen und daran, eines schönen Tages einem Frosch zu begegnen, der im tiefen Brunnen nach einer goldenen Kugel taucht. Wer darauf setzt, sollte sich aber nicht wundern, wenn er mit einem Frosch das Lager teilt.

Märchen und Fabeln Geschlechtsunterschiede SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Merkel verlangt schnelle Einigung im Gas-Streit

Kanzlerin warnt Russland und Ukraine vor "Verlust an Reputation und Verlässlichkeit" / EU will Beziehungen prüfen

Von Daniel Brössler

Berlin - Im seit Wochen andauernden Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist die Geduld von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erkennbar erschöpft. Bei einem Treffen mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin am Freitag in Berlin verlangte sie, den Konflikt rasch beizulegen. Die Kanzlerin erwarte, dass "Russland und die Ukraine ihren vertraglichen Verpflichtungen uneingeschränkt nachkommen", sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg kurz vor der Begegnung. Der "Verlust an Reputation und Verlässlichkeit" sei für Russland und die Ukraine gravierend. Vor der Begegnung mit Putin ließ sich Merkel durch Vertreter der Energiewirtschaft unterrichten.

Auch die Europäische Union verschärfte ihren Ton. Sollte das russische Gas Anfang der kommenden Woche nicht wieder nach Europa fließen, "so müssten wir Punkt für Punkt unsere Beziehungen zu Russland und der Ukraine überprüfen und in jedem Einzelfall entscheiden, ob wir unter diesen Umständen wie bisher weitermachen können", sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel. Man betrachte dies als Testfall, um zu beurteilen, ob Moskau und Kiew "glaubwürdige Partner sind".

Die russische Darstellung, wonach die Verantwortung für die ausbleibenden Gaslieferungen allein die Ukraine trage, wird in Berlin zurückgewiesen. "Aus Sicht der Bundesregierung ist es so, dass beide Seiten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Im Moment fehlt es auf beiden Seiten am Willen, das Problem zu beseitigen", sagte Steg. Russland und die Ukraine trügen ihren Konflikt um Gaspreise und Durchleitungspreise auf Kosten europäischer Staaten aus, in denen daher Menschen frieren müssten. "Das ist im 21. Jahrhundert und im Kontext des Zusammenlebens der Nationen und Völker eine inakzeptable Situation", fügte er hinzu.

Der vom russischen Staat kontrollierte Gazprom-Konzern verwahrte sich gegen die Kritik aus Deutschland. Den Vorwurf der Mitverantwortung werde man "nie akzeptieren", sagte Gazprom-Vizechef Alexander Medwedjew in einer Telefonkonferenz. "Es ist an der Zeit klarzustellen, wer hier was tut", betonte Medwedjew. Im Gegensatz zu Russland unternehme die Ukraine keinen Lösungsversuch. Gazprom bemühe sich hingegen derzeit um die Bildung eines Konsortiums internationaler Energiekonzerne wie Eon Ruhrgas, GdF Suez und Eni. Das Konsortium soll die Wiederinbetriebnahme der Pipelines finanzieren.

Vertreter der Abnehmerländer und der Transitstaaten für russisches Gas wurden für Samstag in Moskau erwartet. Auch die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko hat ihre Teilnahme an den Gesprächen zugesagt. Auf Einladung von Präsident Viktor Juschtschenko findet in Kiew indes ein Gegentreffen statt, an dem sich Vertreter Polens, Moldawiens, der Slowakei und Litauens beteiligen, nicht aber Russland.

Gas-Importeure und Stadtwerke in Deutschland stellten klar, die Bürger müssten vorläufig keine Engpässe fürchten. Die Situation in den Gasspeichern stelle sich "im Moment noch entspannt" dar, teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit. Europas größter Erdgasspeicher bei Bremen sei gut gefüllt, versicherte das Unternehmen Wingas. Drei Viertel von 4,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas lagerten dort noch. (Seite 8, Wirtschaft)

Merkel, Angela Gazprom-Aktiengesellschaft Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- Beziehungen der EU zu Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zerbrechliche Waffenruhe

Drei Wochen nach Kriegsbeginn sind immer noch viele Israelis der Ansicht, die Offensive müsse fortgesetzt werden

Von Thorsten Schmitz

Israel/Berlin - Als der Krieg im Gaza-Streifen zur besten Sendezeit im israelischen Fernsehen zu sehen war, rief er am Wochenende erstmals auch Mitleid in Israel hervor, Mitleid mit den Palästinensern. In der Hauptnachrichtensendung des Senders "10" schlug Korrespondent Schlomi Eldar dem Moderator vor, man wolle nun, wie fast jeden Abend, live von Issaldin Abu al-Aisch hören, wie die Lage im Norden des Gaza-Streifens sei. Al-Aisch ist Gynäkologe und arbeitet im Krankenhaus von Gaza-Stadt sowie in der Tel-Haschomer-Klinik nahe Tel Aviv. Al-Aisch verfügt über hervorragende Kontakte bis in Israels Regierung. Es gibt Filme, die ihn mit Verteidigungsminister Ehud Barak zeigen, der sich bei einem Besuch in Tel Haschomer gewundert hatte, dass in der Klinik ein Palästinenser aus Gaza arbeitet.

Als Eldar die Nummer wählte und al-Aisch antwortete, bekamen die Fernsehzuschauer herzzerreißendes Geschrei des Gynäkologen zu hören. Kurz vor der Live-Schaltung hatten israelische Soldaten das fünfstöckige Wohnhaus des Arztes bombardiert und drei seiner acht Töchter, eine Nichte und seinen Bruder getötet. Der israelische Journalist konnte kaum eine Frage stellen, so sehr war er vom Leid des Doktors erfasst. Abwechselnd auf Hebräisch und auf Arabisch schrie und weinte der Arzt, im Hintergrund war das Wehklagen seiner Frau zu vernehmen: "Warum nur? Gebt mir einen Grund!" Versteinert vor Erschütterung appellierte der Fernsehkorrespondent an die Armee, die Verletzten zu behandeln.

Am Samstag sprach der Arzt dann auf einer Pressekonferenz in Israel über das Unglück und sagte, er hoffe, dass seine drei Töchter die letzten sinnlosen Opfer eines sinnlosen Kriegs sein würden. Bis er von einer Mutter, deren drei Söhne zur Zeit im Gaza-Streifen kämpfen, unterbrochen wurde. Sie schrie, das Krankenhaus solle sich schämen, dem palästinensischen Arzt eine Plattform für "anti-israelische Propaganda" zur Verfügung zu stellen. "Wer weiß, welche Waffen er in seinem Haus versteckt gehalten hat?"

Mehr als drei Wochen nach Beginn der Gaza-Offensive herrscht in weiten Teilen Israels noch immer die Ansicht vor, der Krieg sei gerechtfertigt und müsse fortgesetzt werden, solange Hamas nicht einer zeitlich unbefristeten Waffenruhe zustimme. Das Unglück des Gynäkologen aus Gaza schaffte es zwar auf die Titelseiten der israelischen Zeitungen. Es vermochte aber nicht, den Zusammenhalt der israelischen Bevölkerung zu brechen oder Zweifel am Sinn der Operation "Gegossenes Blei" zu säen. Jüngsten Umfragen zufolge sind noch immer mehr als 85 Prozent der Israelis für den Krieg gegen die Hamas. Selbst Jossi Alpher, Ko-Autor des israelisch-palästinensischen Internetforums "bitterlemons", glaubt: "Israel ist jetzt in einer stärkeren Position und hat Hamas so schwere Verluste zugeführt, dass sie künftig keine Raketen mehr auf uns feuert."

Mit der brüchigen Waffenruhe hat auch der Wahlkampf wieder begonnen, der wegen des Krieges ausgesetzt worden war. Avigdor Lieberman von der russischen Emmigrantenpartei "Unser Haus Israel" sagte, die Waffenruhe sei "eine Todesfalle". Hamas würde sie nutzen, um sich wieder zu bewaffnen. Der rechte Likud, dessen Chef Benjamin Netanjahu Umfragen zufolge vom 10. Februar an die kommende Regierung stellt, ließ verlauten, da Hamas im jetzigen Krieg nicht zerstört worden sei, "droht uns in naher Zukunft ein neuer Krieg".

Viele Israelis finden, die Armee solle noch im Gaza-Streifen bleiben. Einige fordern gar, Israel möge eine Sicherheitszone nach dem Vorbild jener im Süden Libanons einrichten, um den Beschuss von Raketen aus dem Gaza-Streifen heraus zu verhindern. Der Gaza-Krieg gegen Hamas wird in Israel auch im Zusammenhang mit dem Westjordanland interpretiert. Jariv Oppenheimer von der israelischen Friedensgruppe "Peace now", die gegen jüdische Siedlungen kämpft, sagte, solange Israelis die Befürchtung hegten, die Hamas könnte im Westjordanland wie im Gaza-Streifen die Herrschaft an sich reißen, wenn Israel die jüdischen Siedlungen auflöst, "solange wird das Westjordanland besetzt bleiben". Der Kampf gegen die Besatzung von "Peace now" werde durch den Gaza-Krieg auch erschwert: "Die Menschen fragen sich, was passiert, wenn Israel das Westjordanland aufgibt. Hamas feuert schließlich Raketen auf Israel ab, nicht auf jüdische Siedlungen", sagte Oppenheimer. Solange die Gefahr bestehe, dass Hamas und andere palästinensische Terrorgruppen vom Westjordanland aus Israel angreifen, gäbe es in der israelischen Bevölkerung keine Mehrheit für die Aufgabe jüdischer Siedlungen. (Seite 4)

Der Zusammenhalt ist ungebrochen

Furcht um das Westjordanland

Israelische Soldaten verließen am Sonntagmorgen nach ihrem Kampfauftrag den Gaza-Streifen. Kurz darauf lenkten die Hamas-Führer ein. Foto: Reuters

Zivile und militärische Opfer im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Reaktionen auf den Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Westjordanland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Holzklotz-Werfer gestand drei Mal

Oldenburg - Der mutmaßliche Holzklotz-Werfer von Oldenburg hat einem Haftrichter demonstriert, wie er den Klotz gehalten und von einer Autobahnbrücke fallen gelassen hat. Warum er ihn runter warf, "konnte er mir nie wirklich erklären", sagte der Richter als Zeuge vor dem Landgericht Oldenburg. Insgesamt habe der wegen Mordes angeklagte 31 Jahre alte Drogenabhängige die Tat vom 21. Mai 2008 drei Mal gestanden - zunächst Polizisten, dann dem Haftrichter. "Ich glaube, es war ihm wichtig, darüber zu reden und es abzuschließen", so der Zeuge. Erst später hatte der Verdächtige sein Geständnis widerrufen. Der Holzklotz tötete Ostersonntag eine 33 Jahre alte Frau aus Nordrhein-Westfalen. dpa

Anschläge auf Verkehrsteilnehmer in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kardelen wurde Opfer eines Sexualtäters

50-köpfige Mordkommission ermittelt in dem Fall des ermordeten Mädchens aus Paderborn / Hinweise zum Täter und seinem Auto

Von Dirk Graalmann

Düsseldorf - Die achtjährige Kardelen K. aus Paderborn ist einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen. Das ergab die Obduktion der Leiche, die in der Nacht zum Freitag vorgenommen wurde. Demnach wurde das Mädchen, das seit Montag vermisst worden war, nach Angaben der Staatsanwaltschaft Paderborn sexuell missbraucht und erstickt. Einen Tatverdächtigen gäbe es noch nicht.

Der Leichnam des Mädchens war am Donnerstag im knapp 70 Autokilometer von Paderborn entfernten Möhnesee im Sauerland von Polizei-Spürhunden in einer Schonung am Südufer des Sees entdeckt worden. Die nackte Leiche war unter Tannenzweigen versteckt. Es ist weiter unklar, ob es sich bei dem Fundort auch um den Tatort handelt. Bereits am Mittwoch waren mehrere Kleidungsstücke von Kardelen in der Nähe der Talsperre gefunden worden.

Die gut 50-köpfige Mordkommission geht derzeit etwa 300 Hinweisen nach. Darunter seien "einige sehr greifbare Spuren", sagte Polizeisprecher Peter Schneider der SZ. "Es ist kein Stochern im Nebel", sagte er. Man sei "guter Hoffnung", die Suche nach dem Täter schnell vorantreiben können, sagte Oberstaatsanwalt Ralph Vetter. Beispielsweise sollen Hinweise auf ein mögliches Fahrzeug des Täters vorliegen. Hoffnungen setzen die Ermittler auch auf die Aussage eines Zeugen, der am Dienstag im Bereich der Staumauer einen unbekannten Mann mit einem Mädchen beobachtet hatte. Der Zeuge wird derzeit erneut befragt, um zu einer detaillierteren Personenbeschreibung des Mannes zu kommen und daraus möglicherweise ein Phantombild zu erstellen.

Das Düsseldorfer Landeskriminalamt ist in die Ermittlungen eingeschaltet und prüft auch Zusammenhänge mit anderen Fällen. Einen womöglich wichtigen Hinweis erhielten die Ermittler am Freitag aus Hannover. Die Polizei habe Parallelen zum Fall der seit September 2007 verschwundenen Jenisa entdeckt, sagte die dortige Oberstaatsanwältin Irene Silinger. Auch Jenisa war acht Jahre alt, beide Mädchen haben langes schwarzes Haar und braune Augen. Zudem hat der Täter in beiden Fällen die Kleidung des Opfers aus einem Auto geworfen. Es "werde derzeit geprüft, ob sich daraus neue Ermittlungsansätze ergeben", sagte Silinger. Im Fall Jenisa saß der Lebensgefährte ihrer Tante kurz wegen dringenden Tatverdachts in Untersuchungshaft. Später sei er nach Nordrhein-Westfalen verzogen, bestätigte ein Polizeisprecher der SZ.

In Paderborn verabschiedete sich die Bevölkerung am Freitag mit einer bewegenden Trauerfeier von Kardelen. Der Sarg mit der Leiche des Mädchens wurde anschließend zum Düsseldorfer Flughafen gebracht. Von dort wird er in die Türkei geflogen, wo die Achtjährige bestattet werden soll.

Trauer um Kardelen: Die Familie der getöteten Achtjährigen aus Paderborn nimmt Abschied. Foto: AP

Morde an Kindern in Deutschland Sexualmorde in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kettensägen-Prozess: Elf Jahre Haft

Magdeburg - Im zweiten Prozess gegen einen 25-Jährigen, der seine Ex-Freundin erwürgt und mit einer Kettensäge zerstückelt hat, hat das Landgericht Magdeburg den Mann zu elf Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Im Dezember 2007 lautete das Urteil: lebenslange Haft wegen Mordes. Diesen Spruch hatte der Bundesgerichtshof (BGH) nach einer Revision aufgehoben, weil der Schuldspruch nicht ausreichend begründet war. An der Täterschaft des 25-Jährigen hatte das BGH jedoch keinen Zweifel gelassen. Als Begründung für das mildere Urteil gab das Gericht an, dass Mordmerkmale wie Heimtücke, Habgier und niedrige Beweggründe nicht eindeutig festzustellen gewesen seien. dpa

Morde an Kindern in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erfolg für Sri Lankas Armee

Colombo - Im Kampf gegen tamilische Rebellen hat die Armee Sri Lankas am Freitag die Kontrolle über den strategisch wichtigen Elefanten-Pass übernommen. Präsident Mahinda Rajapakse sprach von einem "historischen Sieg", nachdem seine Truppen den Pass erobert hatten, der der einzige landseitige Zugang zur Halbinsel Jaffna ist. Tamilische Rebellen kämpfen seit 36 Jahren für einen eigenen Staat im Norden Sri Lankas.

Die Befreiungstiger von Tamil Eelam seien vollständig vom Elefanten-Pass vertrieben worden, sagte Rajapakse in einer Fernsehansprache. AFP

Bürgerkrieg in Sri Lanka SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Merkel will FDP als Partner

Berlin - Angela Merkel hat für die Bundestagswahl eine klare Koalitionsaussage der Union für die FDP angekündigt. "Unser Wahlprogramm wird selbstverständlich auch eine klare Aussage für eine Koalition mit der FDP enthalten", sagte die Kanzlerin der Bild am Sonntag. Mit der FDP gebe es die größten Schnittmengen. Sie habe immer gesagt, dass die Union eine Koalition mit der FDP anstrebe. Gleichzeitig habe die Union aber keine Stimme zu verschenken. "Wir wollen so stark wie möglich werden, das ist die Voraussetzung für die Wunschkoalition mit der FDP." Merkel stellte zudem ein gemeinsames Wahlprogramm von CDU und CSU in Aussicht. dpa

Merkel, Angela Verhältnis der CDU zur FDP SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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LEUTE

Madonna , 50, Sängerin, zeigt ihre weichere Seite. Kurz nach der Trennung von ihrem Ehemann Guy Richie lasse sie sich jetzt in einem Kurs beraten, um in Liebesangelegenheiten künftig weniger tyrannisch zu sein, schreibt der Daily Mirror. Die privaten Sitzungen finden dem Blatt zufolge bei Rabbi Berg im Kabbalah-Zentrum in New York statt. Madonna, die eine Anhängerin dieser mystischen Tradition des Judentums ist, wolle über den spirituellen Weg das Ziel erreichen, in ihrer nächsten Beziehung nicht mehr so beherrschend zu sein.

Boy George , 47, Sänger, muss ins Gefängnis. Weil er einen Callboy in seiner Wohnung mit Handschellen an eine Wand gefesselt hat, muss er für 15 Monate hinter Gittern. Der Richter des Londoner Gerichts sprach von einem "Akt grundloser Gewalt". Das Gericht hatte den Sänger bereits im Dezember wegen Freiheitsberaubung schuldig gesprochen, damals aber noch nicht das Strafmaß festgelegt. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass der ehemalige Culture-Club-Sänger den 29-jährigen Norweger in seiner Wohnung in London gefesselt hatte. Dieser hatte Boy George beschuldigt, ihn damals nach Aufnahmen von Nacktfotos angekettet und mit einer Metallkette geschlagen zu haben. Foto: AFP

Tom Phillips , australischer U-Boot-Kommandant, hat mit seiner Idee, wie die Marine Personalengpässe umschiffen könnte, für Entsetzen bei Frauenverbänden gesorgt. Wenn weibliche Matrosen Bikinis tragen würden, gäbe es kein Rekrutierungsproblem mehr, sagte er dem Männermagazin Ralph. Die australische Navy musste in den vergangenen zwei Monaten ihre Schiffe im Hafen lassen, weil sich zu wenige in der Navy verpflichten wollen. Die Opposition fordert nun Phillips' unehrenhafte Entlassung. Der australische Verteidigungsminister Warren Snowden hält die Ausfälle des Kommandanten für "absolut unakzeptabel". Er wolle Konsequenzen ziehen.

Gerald Asamoah , 30, Fußballprofi, muss sich wegen zu schnellen Fahrens erneut vor Gericht verantworten. Das bestätigte das Dorstener Amtsgericht. Asamoah war im Februar 2007 mit 190 Stundenkilometern in einer Autobahnbaustelle geblitzt worden, wo nur 80 Stundenkilometer erlaubt waren. Er war zu seiner schwangeren Ehefrau ins Krankenhaus nach Marl gerast, bei der die Wehen eingesetzt hatten. Das Amtsgericht hatte wegen der damaligen Ausnahmesituation von einem Fahrverbot abgesehen und eine Geldbuße von 1000 Euro verhängt. Nach einer Beschwerde der Essener Staatsanwaltschaft gegen das Urteil hatte das Oberlandesgericht Hamm den Fall an das Amtsgericht Dorsten zurückgewiesen. Nun droht Asamoah ein Fahrverbot.

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Piraten geben saudischen Supertanker frei

Für das Schiff wurden angeblich drei Millionen Dollar Lösegeld bezahlt

Von Peter Blechschmidt und Judith Raupp

Berlin/München - Afrikanische Piraten haben den gekaperten saudi-arabischen Supertanker Sirius Star aus ihrer Gewalt entlassen. Das bestätigte am Freitag das saudische Ölministerium. Andrew Mwangura, Leiter des ostafrikanischen Seefahrerverbandes in Nairobi, sagte: "Das Schiff ist in sichere Gewässer unterwegs." Es sei ein Lösegeld bezahlt worden, so Mwangura. Vermutlich habe es etwa drei Millionen Dollar betragen. Somalische Piraten hatten den Tanker mit 25 Besatzungsmitgliedern am 15. November vor der kenianischen Küste gekapert und vorHarardhere, 400 Kilometer nördlich der somalischen Hauptstadt Mogadischu, festgehalten. Das Schiff hat Öl im Wert von 100 Millionen Dollar geladen. Es war die wertvollste Beute, die Piraten bisher geraubt haben.

Mwangura sagte, nach seinen Informationen sei die Crew unversehrt. Sie werde eventuell im kenianischen Hafen Mombasa ausgewechselt. Die Besatzungsmitglieder aus Großbritannien, Kroatien, Saudi-Arabien, Polen und von den Philippinen sollten möglichst bald medizinisch untersucht werden und mit ihren Familien telefonieren können. In Mombasa könne die Sirius Star allerdings nur auf offenem Meer ankern, da sie für den Hafen zu groß sei. Der Tanker werde später voraussichtlich im südafrikanischen Durban oder Kapstadt anlegen. Nachdem er Treibstoff und Vorräte aufgenommen habe, werde er wie ursprünglich geplant in die USA fahren.

Mwangura sagte, dass der internationale Marine-Einsatz, den die Welle von Piratenattacken 2008 ausgelöst hatte, nur eine kurzfristige Lösung sein könne. "Die jungen Männer in Somalia müssen wieder eine Zukunft als Fischer oder Bauern bekommen", sagte er. Es müsse dringend eine politische Lösung für das zerrüttete Land gefunden werden.

Auch wenn die Überfälle andauern, reklamieren EU und Nato doch Erfolge für ihre Anti-Piraten-Mission "Atalanta". Erst am Donnerstag habe die Fregatte Karlsruhe einen Konvoi von neun Schiffen sicher durch den Golf von Aden eskortiert, hieß es im Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam. Das Piracy Reporting Center in Kuala Lumpur meldet, dass in den vergangenen Tagen mehrere Piratenangriffe durch die Bordhubschrauber westlicher Kriegsschiffe vereitelt worden seien. Dessen ungeachtet werden die Piraten nach den Beobachtungen der Marine immer aggressiver. Allerdings attackieren sie inzwischen wieder vermehrt kleinere Schiffe. Außerdem operieren sie verstärkt in jemenitischen Hoheitsgewässern, die nicht zum Atalanta-Einsatzgebiet gehören. Hintermänner versuchen auch, die Internet-Kommunikation von EU und Nato durch virenverseuchte E-Mails zu stören und Schiffe mit falschen Anweisungen in ihren Einflussbereich zu lotsen.

Fast zwei Monate in der Gewalt von Lösegelderpressern: Der Tanker "Sirius Star" ist nun unterwegs in einen sicheren Hafen. Foto: dpa

Piraterie in Somalia SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Dickicht der Lager

Die detailreichen Bände der Reihe "Der Ort des Terrors" - ein schon jetzt unentbehrliches Nachschlagewerk

In Fred Zinnemanns Verfilmung von Anna Seghers' Roman "Das siebte Kreuz" aus dem Jahr 1944 verkündet - während die Kamera über das "Konzentrationslager Westhofen" schweift - eine Stimme aus dem Off: "Deutschland im Jahr 1935. Die Konzentrationslager sind überfüllt." So stellte man sich in Exilkreisen die Lage und Lager im Dritten Reich vor. Fragt man heute Geschichtsstudenten unterer Semester, wie viele KZ-Häftlinge es denn 1935 gegeben habe, so bekommt man Zahlen zwischen 100 000 und einer Million genannt. In Wirklichkeit waren es zu diesem Zeitpunkt "erst" dreieinhalbtausend.

Denn 1935 war das Jahr, in dem die frühen, spontan eingerichteten Lager, in denen meist politische Gegner eingesperrt waren, geschlossen wurden und die SS mit der Errichtung eines Lagersystems betraut wurde, das unter rassepolitischen und "rassehygienischen" Vorzeichen stehen und bis Ende des Krieges sich über nahezu ganz Europa erstrecken sollte. Zu diesem Lagersystem gehörten völlig unterschiedliche Typen von Lagern, vom "Jugendschutzlager" bis zum Vernichtungslager. Sie wiesen zwar gewichtige Gemeinsamkeiten wie die exzessive Gewalt oder die Zwangsarbeit auf -, dass allerdings eine Massenvernichtungsstätte wie Auschwitz eine qualitativ andere Dimension hatte als das SS-Sonderlager/KZ Hinzert im Hunsrück liegt auf der Hand.

Einen systematischen und vergleichenden Überblick über Konzeption und Praxis, Entwicklung und Funktionswandel des Lagersystems im Ganzen wie der einzelnen Lager selbst bietet die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager von Wolfgang Benz und Barbara Distel leider nicht. Die auf neun Bände angelegte Reihe "Der Ort des Terrors" ist mittlerweile bei Band 8 angekommen, und man muss schon den ersten Band in die Hand nehmen, um die Konzeption zu verstehen: Die Herausgeber folgen der Chronologie der Entstehung der Lager und nicht etwa seiner Funktion.

So kommt es eben, dass das bereits 1943 aufgelöste Lager Niederhagen neben dem Vernichtungslager Lublin-Majdanek oder Auschwitz zusammen mit Hinzert abgehandelt werden, denn das Konzentrationslager Auschwitz wurde bereits im Mai 1940 errichtet und war zunächst eine Haft- und Folterstätte für oppositionelle Polen, ehe es im Sommer 1941 zu einem zentralen Lager des Massenmordes an Juden und "Zigeunern" wurde. Die äußerst knappen Einleitungen sind ebenfalls wenig geeignet, Orientierung im Dickicht der Lager zu bieten. Immerhin: Je später die Bände, desto klarer werden die verschiedenen Lagertypen, die sich zwischen zwei Buchdeckeln vereinen, kenntlich gemacht und herausgestellt. Die Herausgeber haben damit der seit Entstehung der Reihe schon häufig geäußerten Kritik in Fachpublikationen Rechnung getragen.

Das lexikalisch angelegte Projekt hat ohnehin eigene Stärken. Die Topographie der Konzentrationslager beeindruckt durch akribische Recherche und Detailfülle, vor allem durch seine Konzentration auf die vielen KZ-Außenlager, die nicht selten mitten in den deutschen Städten lagen. Manch ein sich gut informiert glaubender Bürger wird verwundert zu Kenntnis nehmen, dass auch seine Heimatstadt in das Netz der Lager eingebunden war. Es ist vor allem Geschichtswerkstätten und anderen lokalen Initiativen zu verdanken, dass nun in lexikalischer Form die manchmal üppigeren, manchmal schmaleren Informationen über die Außenlager gebündelt werden konnten. Ein Orts- und Lagerregister ermöglicht dem gezielt Suchenden hier schnelle Rechercheerfolge.

Gerne hätte man mehr über den Kontakt zwischen Lagergesellschaft und der sie umgebenden "Volksgemeinschaft" erfahren, zumal die Orte des Terrors eben nicht nur in abgelegenen Moorlandschaften wie Westhofen lagen. Immerhin spielt der Faktor Zwangsarbeit eine tragende Rolle in allen Beiträgen. Und hier waren nicht nur die in der Rüstungsindustrie engagierten Großunternehmen an der brutalen Ausbeutung von KZ-Häftlingen beteiligt, sondern auch lokal verankerte mittelständische Unternehmen. Mit Band 8 sind alle Konzentrationslager im nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet erfasst und vorgestellt, einschließlich der Vernichtungslager Chelmno, Belzec, Sobibór und Treblinka, die formell nicht im KZ-System integriert waren. Der abschließende Band 9 soll einen Überblick über die anderen Lagerwelten bieten: Ghettos, Gefängnisse, "Arbeitserziehungslager", "Zigeunerlager".

Die Forschung, aber auch das an Detailfragen interessierte Publikum ist mit der Reihe um ein unentbehrliches Nachschlagewerk reicher, auf dessen Grundlage nun eine strukturgeschichtliche Analyse der NS-Konzentrationslager in Europa entstehen kann. Der quantitative Zugriff ist schon deshalb sinnvoll, weil es insgesamt nicht weniger als 24 Hauptlager mit rund 1000 Außenlagern gab, in denen nicht weniger als zwei Millionen Menschen gelitten haben, von denen wiederum 800 000 bis 900 000 ums Leben kamen - die Unzähligen nicht eingerechnet, die in den Vernichtungslagern ohne Registrierung direkt ermordet wurden. Das siebte Kreuz, das für den aus Westhofen entflohenen Georg Heisler bestimmt war, blieb anders als in Seghers' Roman in der Regel nicht leer. JÖRG SPÄTER

WOLFGANG BENZ/BARBARA DISTEL (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. 591 Seiten, 59,90 Euro. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof. 840 Seiten, 69,90 Euro. Band 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek, Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora. 360 Seiten, 59,90 Euro. Band 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Plaszów, Kulmhof/Chelmno, Belzec, Sobibór, Treblinka. 464 Seiten, 59,90 Euro. C. H. Beck, München 2007 und 2008.

In dem fiktiven Konzentrationslager "Westhofen", das an die realen Lager in Osthofen, aber auch in Dachau erinnert, spielt der Ro- man "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers. Das Buch, das später Pflichtlektüre in der DDR wurde, hat der aus Österreich emigrierte amerikanische Regisseur Fred Zinnemann 1944 verfilmt - hier ein Bild mit den Baumkreuzen, an die nach ihrer Flucht gefasste Häftlinge gebunden wurden. Foto: Cinetext

Benz, Wolfgang: Veröffentlichung Distel, Barbara: Veröffentlichung NS-Konzentrationslager SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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MITTEN IN . . .

Rom

Berlin

Tel Aviv

Sofia

Flachbildschirme, schwer loungeverdächtige Designermöbel, Markenespresso. Der bulgarische Finanzexperte hat die Besucher aus dem Westen in eine Bar auf dem Vitosha Boulevard geladen: "Wie bei Ihnen zuhause." Nur am Service, das gebe er zu, gebreche es in seiner Heimat noch. Aus den Lautsprechern dudelt Popmusik. Ob man kurz mal leiser machen könnte, fragt eine Radioreporterin, bloß wegen des Tonmitschnitts: "Bitte!" Die hübsche junge Kellnerin guckt recht kryptisch. Dann geht sie zur Stereoanlage und dreht die Musik lauter. Der Experte unternimmt einen zweiten Anlauf. Die Kellnerin verzieht keine Miene - und dreht lauter. Man muss sich jetzt ins Ohr schreien, um sich zu verstehen. Er kenne da noch ein anderes tolles Café, schreit der Experte. Auf dem Weg nach draußen hören die Besucher, wie die Musik leiser wird. Roman Deininger

Gut, dass wenigstens noch einer aufpasst in Rom. Sonst wäre ausgerechnet auf dem Petersplatz der gute Brauch gebrochen worden, Krippen erst an Mariä Lichtmess, also am 2. Februar, abzubauen. Was aber musste Papst Benedikt XVI. erblicken, als er diese Woche ein Fenster seiner Wohnung im Apostolischen Palast öffnete, um etwas frische Luft zu schnappen? Der Arbeitstrupp da unten auf dem Petersplatz räumte nicht nur den 33 Meter hohen Christbaum aus Niederösterreich ab, sondern auch gleich noch die Krippe am Obelisken mit ihren überlebensgroßen Figuren. Benedikt war entsetzt und beschwerte sich sofort an höchster Stelle. Nein, nicht ganz oben, aber immerhin bei seinem Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone. Der Kardinal befahl, die Krippe sofort wieder vollständig aufzubauen. Und so geschah es. Stefan Ulrich

Immer wenn's am schönsten ist, muss man gehen. Dann ist das Taxi da und aus dem Absacker wird nix mehr. Wohl dem, der in solch misslicher Situation nachts in Berlin unterwegs ist und auf Hans-Jürgen trifft. Dessen Droschke ist nämlich eine Art verlängerte Theke, was man jedoch erst dann merkt, wenn man am Ziel angekommen ist - und Hans-Jürgen gute Laune hat. Dann kramt er unter seinem Sitz eine Wodkaflasche hervor und eine Stange mit Einweg-Schnapsgläsern und schenkt ein, bei Bedarf auch reichlich. Der Gast trinkt, der Fahrer nicht und Geld für die Extrarunde will er auch keines. "Denkt beim nächsten Mal an mich", sagt er und reicht seine Visitenkarte herüber. Darauf trägt Hans-Jürgen eine Clownsnase, in der Hand hält er eine Wodkaflasche, Grasovka, der mit den Büffeln. Auf der Karte steht: "Immer voll für Sie da." Ab jetzt nur noch Wodkataxi. Claudia Fromme

Die Oper in Tel Aviv ist am Abend ausverkauft, ein Gastspiel der kanadischen Tanztheatertruppe "La La La Human Steps". In der Zeitung war zu lesen, dass einige Tänzer Furcht hatten, bis man ihnen erklärt habe, dass Tel Aviv nicht im Gaza-Streifen liegt. Neben uns nimmt ein älteres Ehepaar Platz, vor uns ein junges. Das ältere Ehepaar blättert im Programm, der junge Mann vor uns checkt die Nachrichtenlage auf seinem iPhone. Der Saal wird dunkel, alle haben ihre Handys ausgestellt, nur der junge Mann vor uns nicht. Während auf der Bühne der Schwanensee auf moderne Weise abgewandelt interpretiert wird, schaut er immer wieder auf das Display. Neben mir hat Müdigkeit den älteren Herr erfasst, er schnarcht. Das famose Stück endet mit lauten Knallern, der ältere Mann schreckt hoch und fragt verwirrt: "Wer hat geschossen?" Thorsten Schmitz

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Kuba des Mittleren Ostens

Die schwierige Umgang mit den nuklearen Ambitionen Irans

Wie kompliziert der Fall ist, bringt Volker Perthes am Ende seiner Studie auf den Punkt: Es geht um Sicherheit für Iran und um internationales Vertrauen in die Absichten des Landes. Aber es geht gleichzeitig auch um Sicherheit für die Nachbarn und um iranisches Vertrauen in die internationale Gemeinschaft. Das eigentliche Problem liegt also in der prekären Balance von Sicherheit und Vertrauen.

Wie lässt sich dieses Problem lösen? In naher Zukunft kaum, lautet die ernüchternde Antwort des Leiters der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: Barack Obama ist noch damit beschäftigt, die Minister und hohen Beamten seiner Regierung vom Kongress bestätigen zu lassen. Dann wird noch eine umfangreiche Positionsbestimmung folgen, bevor die neue US-Regierung größere außenpolitische Schritte unternimmt. Außerdem sind die iranischen Präsidentenwahlen im Sommer 2009 abzuwarten. Auch wenn die innenpolitische Position von Mahmud Ahmadinedschad gegenwärtig geschwächt erscheint, warnt Perthes davor, eine weitere Wahl des im Westen so unbeliebten Iraners auszuschließen. Erst danach könne ein neuer oder der wiedergewählte Präsident sich darum bemühen, einen Neuanfang mit den Vereinigten Staaten zu suchen.

Eine Schlüsselfunktion bei diesem Neuanfang misst Perthes einem Staat zu, der bislang nicht als Verhandlungspartner im Fall Iran aufgetreten ist - Südafrika. Diese Idee hat in der Tat einen gewissen Charme: Als einer der wichtigsten blockfreien Staaten und als Führungsmacht auf seinem eigenen Kontinent genießt Südafrika in Teheran großen Respekt. Vor allem aber wäre Pretoria, das sein eigenes militärisches Nuklearprogramm freiwillig aufgegeben hat, ein besonders glaubwürdiger Gesprächspartner bei weiteren Atomverhandlungen. Denn südafrikanische Diplomaten verstehen nach Perthes Einschätzung häufig besser als amerikanische und europäische, wie wichtig es bei Vorschlägen an Iran ist, zum Ausdruck zu bringen, dass seine Souveränität respektiert wird.

Leider verzichtet Perthes in diesem Zusammenhang darauf, die Ironie der Geschichte, die seiner Idee innewohnt, zu benennen: Mit Südafrika erhielte ausgerechnet das Land eine Schlüsselrolle im Nahen Osten, dem Irans offizieller Gegner Israel die Entwicklung seiner eigenen Nuklearstreitmacht nicht ganz unmaßgeblich verdankt. Teheran hat das sicherlich nicht vergessen. Die Verhandlungsgruppe soll mit Teheran eine Übereinkunft herbeiführen, in welcher die internationale Gemeinschaft die technologischen Errungenschaften Irans anerkennt und dieser auf eine eigenständige Urananreicherung oder Plutoniumproduktion verzichtet. Der Reiz eines solchen Abkommens liegt auf der Hand: Der UN-Sicherheitsrat könnte es zu einem internationalen Modellabkommen erklären und die dauerhafte Versorgung von Staaten mit Nuklearbrennstoffen garantieren. Damit erhielte der in den letzten Jahren oftmals verletzte Atomwaffensperrvertrag eine neue Relevanz.

Perthes ist jedoch kein Träumer. Daher hält er dieses Szenario gegenwärtig für wenig realistisch. Auch schließt er einen regionalen Krieg nicht aus. Als wahrscheinlicher sieht er ohnehin, dass der Nuklearkonflikt auf einige Zeit ungelöst bleibt und sich Iran und die internationale Gemeinschaft in einem Zustand der Stagnation wiederfinden werden - einem Zustand der gegenseitigen Blockade und Nichtkooperation, an dem sich auch durch wiederholte Versuche, die Verhandlungen in Gang zu bringen, wie durch Drohungen und gegenseitige Vorwürfe wegen der Situation im Irak und auf anderen Konfliktfeldern nichts Grundlegendes ändern wird.

Iran könnte nach Perthes' Analyse so etwas wie ein Kuba im Mittleren Osten werden - ein Kuba mit nuklearem Brennstoffkreislauf, mit Mittelstreckenraketen und einigem Einfluss im Irak und in anderen Staaten der Region. Gleich, ob Teheran sich dann offen Nuklearwaffen zulegen würde - was, wie Perthes glaubt, eher unwahrscheinlich ist -, sich mit einer militärischen Nuklearfähigkeit begnügte oder dem israelischen Beispiel nuklearer Zweideutigkeit folgte: Die USA und ihre Alliierten würden nach Perthes' Prognose alle im Kalten Krieg erprobten Instrumente des Containment und der Abschreckung einsetzen. Wie richtig Perthes mit dieser Vorhersage liegen könnte, zeigen Medienberichte aus den USA: Obama soll Israel einen Pakt anbieten wollen, um Iran vor einem atomaren Angriff abzuschrecken. Das Versprechen eines amerikanischen Gegenschlages könnte in der Tat die entscheidende Garantie für einen nuklearen Frieden in Nahost sein. THOMAS SPECKMANN

VOLKER PERTHES: Iran - Eine politische Herausforderung. Die prekäre Balance von Vertrauen und Sicherheit. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. 160 Seiten, 9,00 Euro.

Perthes, Volker: Veröffentlichung Grundsätzliches zum Atomkonflikt mit dem Iran SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mitarbeiter wollen "Wintergarten" retten

Berlin - Die Mitarbeiter des traditionsreichen Varietés "Wintergarten" in Berlin wollen die Schließung des Hauses Ende Januar mit einem eigenen Rettungsplan abwenden. Der Leiter der Casting-Abteilung, Kaspar Denker, sagte, er sei im Gespräch mit allen Künstlern, die schon im Wintergarten gespielt hätten, um ein Notprogramm auf die Beine zu stellen. Nach der Insolvenz soll das Varieté mit seinen 68 fest angestellten Mitarbeitern Ende Januar schließen. Denker sagte, die Mitarbeiter hätten auch den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, um aktive Unterstützung gebeten. AP

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Karikatur

Amerikas neuer Präsident Barack Obama bei seiner bevorstehenden Amtseinführung. Mit Innen- und Außenpolitik sowie der Wirtschafts- und Finanzkrise warten große Aufgaben auf ihn. Illustration: Kevin Kallaugher

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WIE FÜHLT SICH DAS AN?

Sturz in einer Monsterwelle

Der 37-jährige Surfprofi Darryl Virostko aus Kalifornien hat den Ruf, vor keiner Welle zurückzuschrecken. Fehler in den Riesenbrechern können tödlich sein. Doch einmal blieb Virostko hängen - an einem Wellenkamm in der Waimea Bay der hawaiischen Insel Oahu.

"Der Wasserberg rollt auf mich zu. Er wächst immer höher. Sofort drehe ich mein Surfboard Richtung Strand. Ich paddle mit kräftigen Armzügen. Seit Wochen habe ich auf diesen Tag gewartet: Heute startet der Eddie Aikau Surf Contest auf Hawaii. Die Brecher sind mehr als zehn Meter hoch. Meine Welle gehört zu den Größten. Ein Augenblick noch, und die blaue Wand wird sich nach vorne überschlagen. Ich springe auf, um den Ritt zu beginnen.

Aber nichts passiert. Der Wind bläst mir heftig entgegen. Er hält mich oben auf der brechenden Wellenkante fest und lässt mich nicht los. Ich kann die Wasserwand nicht auf meinem Board hinabrasen. Hilflos blicke ich auf die Wasseroberfläche 15 Meter unter mir und begreife, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Mit einem Ruck wirft das Ungetüm seine brechende Lippe nach vorne, auf der ich noch immer tänzle. Spuckt mich in die Tiefe. Und ich stürze. Wie in Zeitlupe nehme ich jedes Detail wahr - sogar wie mein drei Meter langes Board in zwei Teile gebrochen wird. Zum Glück tauche ich mit den Füßen voran ein. Dann knallt die tonnenschwere Wellenlippe auf die Oberfläche. Selbst tief unten im Wasser hört sich der Aufschlag wie eine Bombenexplosion an.

Der Sog packt mich sofort. Wie im Schleudergang einer Waschmaschine werde ich umhergerissen. Ich mache wilde Überschläge und versuche dabei ruhig zu bleiben. Es hat keinen Sinn, gegen die Kraft des Wassers zu kämpfen. Aber der Waschgang nimmt kein Ende. Schon brennt meine Lunge und schreit nach Luft, da entlässt mich die Welle plötzlich aus ihrem Griff. Nur noch ein paar Meter bis zur Oberfläche und ich fülle gierig meine Lunge, endlich. Zurück am Strand greife ich mir ein neues Board. Nach so einem Sturz darf man keine Pause machen. Sonst bekommt man Angst."Protokoll: Stephan Bernhard

Ein Mensch im Schleudergang: Gegen solche Riesenwellen kommt niemand an. Foto: Karen Wilson/Tostee.com

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KURZ GEFAHREN

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Mut zur Lücke

Hyundai setzt mit dem Winzling i10 offenbar auf das richtige Modell

Hyundai i10 1.1: 49 kW (67 PS); max. Drehmoment: 98 Nm bei 2800/min;

0-100 km/h: 10,7 s; Vmax: 151 km/h;

Testverbrauch: 5,3 l Super (lt. Werk:

5,0 l, CO2: 119 g/km); Euro 4; Grundpreis: 9990 Euro.

Mut hat er, der Hyundai i10, denn er will nicht weniger als die Kleinstwagen-Klasse aufmischen. Das heißt: Er will nicht nur, er hat es bereits getan. Schon im November 2008 hat er nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes mit 3107 verkauften Modellen im Segment die Führung übernommen und dort den Smart abgelöst. Kein Wunder: Mit einem Listenpreis unter 10 000 Euro ist die koreanische Kurzware (3,56 Meter lang) das richtige Angebot in Zeiten krisenbedingter Sparsamkeit. Immerhin: Dreieinhalb Meter Auto treffen auf fünf Türen und fünf Plätze. Der Innenraum ist sauber aufgeräumt, das Plastik der Oberflächen versucht, gut auszusehen und es gibt allerlei Ablagen und einen Cup-Holder. Die Sitze fallen zwar etwas zierlich aus, dennoch ist selbst auf der Rückbank für Erwachsene erfreulich viel Platz. Die hinteren Lehnen lassen sich simpel und flott umlegen und vergrößern den Laderaum von 225 auf immerhin 910 Liter.

In der Stadt erweist sich der i10 als Wiesel - quirlig und recht leise. Der Vierzylinder-Motor wirkt nie angestrengt. Weil der Fahrer im Vergleich zu anderen Kleinwagen höher sitzt, steigt er nicht nur leichter ein, sondern freut sich außerdem über eine gute Übersicht. Auch der höhergelegte Schalthebel ist eine prima Angelegenheit. Die etwas zu leichtgängige Lenkung arbeitet ausreichend präzise, das gutmütige Untersteuern in rasch durchfahrenen Kurven nimmt man gerne hin. Selbst Überland-Fahrten sind dank des etwas längeren Radstandes einigermaßen erträglich. Allerdings: Das komfortablere Autofahrer-Leben beginnt erst mit der Style-Ausstattung (11 990 Euro). Nur ESP gibt es für den kleinen Benziner nicht.gf

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Das Schlimmste kommt noch

Die Lehren aus der Autoshow in Detroit sind klar: Mögen amerikanische Zeitungen noch so viel von Öko-Revolution und Elektro-Zukunft schwärmen, in Wahrheit fahren viele US-Kunden mit Vollgas in die Sackgasse und ziehen die dortigen Hersteller mit ins Verderben. General Motors, Ford und Chrysler gebärden sich im Blitzlichtgewitter als Green Companies, doch die Messe-Studien und der reale Flottenmix könnten gegensätzlicher nicht sein. Statt Kleinwagen, Diesel oder Hybridautos wollen die meisten Kunden weiterhin Dreitonner mit V8-Motor. Fords F150-Serie führt seit 27 Jahren die Zulassungsstatistik an. Trotz eines Absatzeinbruchs um 25 Prozent eroberten die riesigen Pritschenwagen zum Preis eines VW Golf erneut den Spitzenplatz.

Die dicken Pick-ups kamen nur kurz aus der Mode, als die Gallone Benzin mehr als vier Dollar kostete. Als der Spritpreis zum Jahresende um mehr als die Hälfte fiel, zogen die Verkäufe wieder an. Dabei sind die Tage des American Way of Drive gezählt, die US-Regierung unter Barack Obama will schärfere Verbrauchslimits durchsetzen. Die Branche geht nun davon aus, dass die kalifornischen Richtlinien zur Reduzierung von Treibhausgasen, die Präsident Bush vor einem Jahr blockiert hatte, bald in allen 50 Bundesstaaten Gesetz werden.

GM, Ford und Chrysler steht das Schlimmste also noch bevor. Bis März müssen sie zukunftsfähige Geschäftspläne vorlegen, um weitere Regierungskredite zu bekommen. Dann werden sie auch detailliert zeigen müssen, wie sie den Flottenverbrauch bis 2012 um 22 Prozent und bis 2016 um 30 Prozent verringern können. Am Ende dieser Maßnahmen dürfen Personenwagen 2020 im Schnitt nur noch 5,4 Liter statt aktuell 8,5 Liter Benzin verbrauchen, auch bei den Light Trucks müssen mehr als 40 Prozent gespart werden. Wie die US-Hersteller ihren Kunden den Verzicht auf die Spritschlucker schmackhaft machen wollen, bleibt ein Rätsel. Die meisten Amerikaner halten Diesel für Stinker, außerdem ist dieser Kraftstoff teurer als Benzin.Joachim Becker

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Der Mensch in der Mitte

Ein neues Einrichtungssystem für Lkw-Kabinen soll das Leben der Fahrer leichter machen

Ob mitdenkende Getriebe, Abstandsradar oder ESP: Die quer durch Europa rollenden Schwerlastwagen werden mit immer mehr Hightech-Komponenten aufgerüstet, doch einer bleibt oftmals auf der Strecke - der Fahrer. Denn die Lkw-Kabinen, Arbeitsplatz und Lebensraum zugleich, sind trotz aller Bemühungen der Hersteller recht spartanische Kammern, die in der Hauptsache auf das Fahren hin optimiert sind. Viele Betten sind schmal und hart, eher eine Pritsche, Kaffeemaschinen werden notdürftig auf dem Armaturenbrett verzurrt und der Proviant irgendwo hinter einer Außenklappe gelagert. In der maximal 2,35 Meter langen Kabine hat sich hinsichtlich Komfort und Funktionalität während der vergangenen Jahrzehnte vergleichsweise wenig getan. Durch ein neues modulares System namens Motis soll künftig die Kabine komfortabler, funktionaler und ästhetischer werden.

Denn die Leistungsanforderungen an die Fahrer sind dramatisch gestiegen: "Heute sind 90 Prozent allein unterwegs, zum Teil auf Touren, die 5000 Kilometer quer durch Europa führen", erläutert Johann Tomforde vom Pforzheimer Designbüro hymer idc. Der Designer, der als Vater des Smart gilt, widmet sich mit seinem Team unterschiedlichsten Mobilitätsprojekten - beispielsweise neuen Elektrofahrzeugen, Wohnmobilen oder eben auch Lkw-Kabinen. Human Drivestyle nennt er das, was hinter diesen Projekten steht: eine menschlichere Mobilität, die mit scheinbar fixen Rahmenbedingungen bricht und neue Konzepte umsetzt. Damit unterscheidet er sich von den meisten Autodesignern, die schicke Hüllen entwerfen, an des Autos Kern aber nicht rütteln dürfen. Das ist beim Lkw ähnlich, wobei für die Designer hier anscheinend auch das Interieur tabu ist - wie sonst wären mangelnde Ästhetik und Funktionsdefizite zu erklären?

Von diesem Jahr an stehen die Chancen auf Besserung gut. Dann nämlich startet die Serienproduktion des Motis-Modulsystems, mit dem auch bereits laufende Fahrzeuge nachgerüstet werden können. Und bei den Spediteuren, so ist in der Branche zu hören, ist das Interesse groß. Denn viele der Unternehmer setzen zunehmend wieder auf gut ausgebildete und zuverlässige Fahrer. "Die aber sind nicht nur mit PS zu locken, sondern schauen auch auf andere Dinge", erläutert Tomforde.

Motis besteht im Prinzip aus zwei Türmen, einer hinter dem Fahrersitz, der andere hinter dem Beifahrersitz. Die Basis bildet ein Aluminium-Spaceframe-System, in das die einzelnen Module eingesetzt werden können - beispielsweise ein ausfahrbares Waschbecken, eine Mikrowelle, ein ausgewachsener Kühlschrank, eine Kochgelegenheit mit Kaffeemaschine und ein Klapptisch. In der Premiumversion darf sich der Fahrer sogar über eine Toilette freuen und ist damit nahezu autark unterwegs; in Zeiten überfüllter Parkanlagen ein wichtiges Argument. Über all dem befindet sich dann noch ein großes, herabfahrbares Bett mit echtem Lattenrost. Motis bildet also viele Funktionalitäten auf kleinstem Raum ab - so wie bei den Wohnmobilen, die Tomforde ebenfalls entwirft. Aus diesem Bereich kommen folgerichtig auch viele der Komponenten und Module, beispielsweise die von außen ver- und entsorgbare Toilette. Das System ist so dimensioniert, dass es in alle gängigen Kabinen passt. Ein Testtruck ist seit einem Jahr unterwegs, die ersten Pilot-Umrüstungen sind abgeschlossen. Alle Module werden dezentral produziert und dann bei Dirks in Hannover montiert; später kann die Ausrüstung neuer Kabinen auch direkt beim jeweiligen Hersteller erfolgen.

Dirks ist eines von vier Unternehmen, die 2007 gemeinsam die Mo.T.I.S. GmbH gründeten. Die Hymer Cab Interior GmbH, die Remis GmbH, die Bauer Kunststoffe GmbH und Dirks Automotive bringen jeweils ihre spezifischen Kompetenzen in das System und die Firma ein. "Alles mittelständische Firmen mit vergleichbaren Kulturen, konkreten Realisierungsabsichten und kurzen Entscheidungswegen", so Tomforde über das neue Unternehmen und den Verzicht auf einen Konzern als Partner. Motis ist also mehr als ein interessantes Designprojekt; es steht auch für ein unternehmerisches Modell.Armin Scharf

Infos unter www.motis.org

Turm-Bau: ausklappbares Waschbecken im Aluminium-Rahmen.

Schöner wohnen: In den zwei Modulen hinter den Sitzen findet sich alles, was das Leben in einer Lkw-Kabine angenehmer macht. Dazu gehören auch Mikrowelle, Kaffeemaschine und selbst eine Toilette ist an Bord.

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Grün ist alle Theorie

Auf der Autoshow in Detroit reden viele vom Technik-Wandel, die Japaner sind schon wieder einen Schritt weiter

Wie viel Töne hat die Farbe Grün? Die amerikanische Autoindustrie hat sich bisher mit Vorliebe in Military- und Jagdgrün gekleidet. Mit Offroad-Tarnanstrich und Ethanol im Tank sollten selbst riesige Trucks naturverbunden wirken. Jetzt stehen die Hummer und Pick-ups auf Halde. Von der nationalen Euphorie mit Buy-American-Parolen der letzten Jahre ist nichts mehr zu sehen. Gibt es tatsächlich eine neue Bescheidenheit und den Wandel zur Elektromobilität, die alle US-Hersteller plötzlich verkünden? Chrysler-Vize Jim Press verspricht eine Revolution, die äußerlich alles beim Alten lässt: "Keine Kompromisse", wiederholt er unermüdlich, "unsere Kunden werden weiter die Autos bekommen, die sie wollen und lieben." Von Kosten, Gewicht und technischen Problemen spricht er nicht. Dodge Viper, Jeep Patriot oder der Familienvan Chrysler Town & Country sollen auch als Elektrofahrzeuge ihre Markenidentität behalten. Deshalb bleiben sie so groß und schwer wie eh und je (siehe Kommentar).

Auf der Autoshow in Detroit predigen alle den (Klima-)Wandel, General Motors will sogar ein Batteriewerk in der Nähe von Detroit bauen. Wo die Kunden dafür herkommen sollen, bleibt ein Rätsel: "Beim derzeitigen Spritpreis sind die Amerikaner nicht bereit, in sparsame Technologien zu investieren", bekennt GM-Vize Bob Lutz. VDA-Chef Matthias Wissmann kann das Gerede von der Elektro-Revolution daher nicht mehr hören: "Wir dürfen keine falschen Erwartungen wecken, auch 2020 werden wir noch lange nicht alle elektrisch fahren." Audi- Motorenchef Wolfgang Hatz warnt ebenfalls vor zu viel Euphorie: "Das Thema Lithium-Ionen-Batterien ist viel komplizierter, als viele denken. Wir lernen jeden Tag dazu, niemand ist vor Überraschungen sicher." Nachhaltig seien nur kontinuierliche Fortschritte, betont auch Daimler-Chef Dieter Zetsche und gibt sich verhalten optimistisch: "Wir werden jetzt nicht unser Saatgut verzehren und die Ausgaben für Forschung und Entwicklung reduzieren, sondern gestärkt aus der Krise hervorgehen!"

Wer kann seinen Kunden die nötigen Effizienzfortschritte verkaufen? Die deutschen Hersteller beantworten diese Frage in Detroit mit emotionalen Fahrzeugkonzepten und sauberen Dieselmotoren. Audi zeigt ein Sportback Concept auf Basis des künftigen A6: Eine 1,40 Meter flache Karosserie samt rahmenlosen Türen kombiniert die Eleganz eines Coupés mit dem Praxisnutzen einer großen Heckklappe. Während der Skoda Superb mit einem ähnlichen Konzept der traditionellen Limousinenform treu blieb, wollen Audi und BMW künftig einen betont progressiven Stil in der Oberklasse durchsetzen. Berichten zufolge werden die Münchner im März auf dem Genfer Automobilsalon eine seriennahe Version ihres Progressive Active Sedan auf BMW-Fünfer-Basis vorstellen. Bescheiden sind diese neuen Viersitzer mit Edel-Interieur nur beim Spritverbrauch: Audi gibt für den fast fünf Meter langen A7-Vorläufer mit V6-Clean-Diesel (165 kW/225 PS), der die Grenzwerte aller US-Bundesstaaten erfüllt, einen Verbrauch von 5,9 Liter an.

Keine Kompromisse beim Fahrspaß ist auch die Devise des VW Concept BlueSport. Hinter den Sitzen des knapp vier Meter langen Mittelmotorsportwagens lauert ein 132 kW (180 PS) starker Clean Diesel auf den Kick mit dem Gaspedal. Die Wolfsburger Flunder bleibt trotz Selbstzünder unter 1200 Kilo und spurtet in 6,6 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Der Verbrauch soll nur 4,3 Liter je 100 Kilometer betragen, auch der geplante Einstiegspreis von rund 25 000 Euro klingt attraktiv. "Die Serien-Chancen für dieses Konzept stehen gut", so Projektleiter Ralf Willner, "viele Teile stammen aus dem neuen, modularen Querbaukasten, aus denen sich auch der nächste Polo und Golf bedienen werden." Beim abendlichen Messerundgang erweisen selbst die Entwicklungs-Chefs von Audi und BMW dem bildhübschen VW-Konzept ihre Referenz. Klaus Draeger hätte auch schon einen Namen für eine solche Spaßmaschine aus München: "Z2 natürlich. Für die Zeit nach der Krise können wir uns vieles vorstellen."

1999 hatte der erste BMW X5 in Detroit den Trend zu sportlichen Geländewagen eingeläutet. Mit dem BMW X6 ActiveHybrid wird zehn Jahre später der erste Hybrid aus München antreten. Bis Jahresende soll der Achtzylinder-Benziner mit Elektro-Assistenz verfügbar sein - und rund 20 Prozent weniger Kraftstoff verbrauchen als der Benziner allein. Kooperationspartner Mercedes rollt währenddessen den ML Hybrid an den Start: "Wir kommen später als die Japaner, dafür werden wir zeigen, was bei Hybridfahrzeugen heute technisch machbar ist", sagt der verantwortliche Manager Neil Armstrong. Dank eines variablen Two-Mode-Getriebes können die Hybrid-Allradkraxler aus München und Stuttgart auch schwere Lasten ziehen - bisher ein Manko bei den seriellen Hybriden aus Japan. Toyota und Honda treiben mit dem neuen Prius und Insight derweil die Demokratisierung der aufwendigen Technik voran: "Wir wollen von 2010 an vom neuen Prius weltweit 400 000 Stück pro Jahr verkaufen", so Bob Carter, Toyota-Markenchef USA.

Der Hybrid-Weltmarktführer möchte mit seinen Antriebs-Mischwesen keine Revolution mehr lostreten, sondern nach zehn Jahren endlich Geld verdienen. Der neue Prius ist dem alten deshalb zum Verwechseln ähnlich. Er soll beim Fahren aber mehr Spaß machen und außerstädtisch noch effizienter werden. Auffallend unauffällig ist auch der neue Lexus HS 250h: Mit einem 2,4-Liter-Vierzylinder und einer Systemleistung von 187 PS wird die Mittelklasselimousine knapp mehr als sieben Liter verbrauchen. Das Hybrid-Einstiegsmodell der Marke soll in den USA rund 32 000 Dollar kosten, eine Version für Europa ist nicht geplant. Nur zum Vergleich: Der neue Chevrolet Silverado Two-Mode-Hybrid wird rund 50 000 Dollar kosten, obwohl die Standardversion des Pick-ups bereits für die Hälfte zu haben ist.

Während Amerikaner und Europäer also noch darüber nachdenken, wie sie ihren Kunden alternative Antriebe kostendeckend verkaufen können, sind die Japaner schon längst im Massenmarkt angekommen.Joachim Becker

Show-Stücke: Die europäischen und asiatischen Autohersteller zeigen in Detroit bemerkenswerte Neuheiten. So erregt Audi mit einer Studie Aufmerksamkeit, die den neuen A7 vorwegnimmt und ein verändertes Design der Marke andeutet (großes Foto). Konzernmutter VW wiederum will mit der Roadster-Studie (rechts) der Marke ein sportlicheres Image verpassen. Voll auf Hybridtechnik setzen dagegen der neue Toyota Prius, der dank Benzinmotor mit Elektro-Unterstützung 134 PS leistet. Der neue Lexus HS 250h soll mit 187 PS etwas mehr als sieben Liter verbrauchen - kein Rekordwert allerdings.

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KOMMENTAR

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Am 1. März erhöht BMW die Preise. Den Einstieg markiert die Einser-Baureihe mit mindestens 22 000 Euro für den 116i als Zweitürer. Teuerstes Modell ist das 507 PS starke M6 Cabrio, das unverändert mit 121 700 Euro Grundpreis zu Buche schlägt.

Basierend auf der 308-Plattform stellt Peugeot den 3008 vor, der eine Mischung aus Van, SUV und Limousine mit flacher Frontscheibe, zweigeteilter Heckklappe, hoher Gürtellinie und erhöhter Sitzposition ist. Zum Start im Sommer wird es zwei Diesel und zwei Benziner mit Leistungen zwischen 80 kW (110 PS) und 110 kW (150 PS) geben. Im Herbst sollen je ein stärkerer Diesel und Benziner folgen, 2011 eine Hybrid-Variante. Die Preise stehen noch nicht fest, dürften aber mit rund 25 000 Euro beginnen.

Der Allradantrieb 4Motion lässt sich im VW Golf nun mit 103 kW (140 PS) starkem 2,0-Liter-TDI und Sechs-Gang-Getriebe kombinieren. Damit vergehen von null auf 100 km/h 9,4 Sekunden, die Höchstgeschwindigkeit ist bei 206 km/h erreicht, der Verbrauch wird auf 5,5 Liter im Durchschnitt beziffert. Das Modell kostet 25 750 Euro.

Mit einer Reichweite von 64 Kilometer im rein elektrischen Betrieb wartet das Concept Car 200C EV von Chrysler auf, das derzeit auf der Detroit Motorshow gezeigt wird. In der 4,9 Meter langen Limousine arbeitet ein Elektromotor, gespeist von einer Lithium-Ionen-Batterie. Der Hecktriebler soll in weniger als sieben Sekunden von null auf 100 km/h beschleunigen, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 193 km/h. Ein Verbrennungsmotor mit Generator produziert zusätzlich Ladestrom für die Batterie. Damit kann die Reichweite auf 644 Kilometer erhöht werden. Chrysler plant, bis 2010 ein Elektromodell auf den US-Markt zu bringen.

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Kuscheln in der Krise

Bei der "Nacht der Süddeutschen Zeitung" in Berlin stärkt sich die Kanzlerin mit Blutwurst, und die SPD hält Seehofer für einen Sozi

Das Tagesprogramm von Angela Merkel würde die meisten Menschen wohl an den Rand bringen. Zum Beispiel dieser Donnerstag im kalten Berliner Winter: Frühmorgens Besprechung im Kanzleramt, erste Telefonate und jede Menge Meldungen; morgendliche Stippvisite des britischen Premiers Gordon Brown in Berlin und gemeinsame Pressekonferenz vorm Bundesadler; danach Auftritt im Archiv der Stasi-Unterlagen, Fototermin mit der Bundesbeauftragten Marianne Birthler; mittags Treffen mit dem malischen Präsidenten Toumane Toure; abends Abflug nach Frankfurt zum CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch; Jubel, Trubel, Wahlkampfrausch und rasch zurück in den Flieger nach Berlin.

Der letzte Termin der Kanzlerin an diesem Donnerstag ist, wenn man ihre Gelassenheit richtig interpretiert, angenehmer Natur: Angela Merkel ist zu Gast bei der "Nacht der Süddeutschen Zeitung" im Deutschen Historischen Museum. Zum dritten Mal hat die SZ zu einer Party geladen, bei der das politische Berlin stark vertreten ist. Merkel ist gerade im Anflug, als SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz die Gäste im Schlüterhof mit einer optimistischen Botschaft begrüßt: Trotz der Krise gebe es noch Verleger, die Zeitungen kaufen, weil sie an die Zukunft des gedruckten Wortes glauben. "Heuschrecken haben in Verlagshäusern nichts zu suchen", sagt Kilz mit Blick auf den Eigentümerwechsel bei der Berliner Zeitung, und dafür gibt es spontanen Applaus bei den 900 Gästen.

Es ist kein schlechter Zeitpunkt für einen Meinungsaustausch zwischen Ministern, Abgeordneten, Medienmachern, Unternehmern und Kulturleuten: Acht Monate vor der Bundestagswahl sind die Gemüter noch nicht so erhitzt, dass die Gesprächskultur leidet, aber richtige Politik-Freaks sind längst in einem Zustand fiebriger Erwartung. Joschka Fischer diskutiert leidenschaftlich über die Politik in seinem Stammland Hessen, wo der Koch ja weg soll, aber nicht weg will. Der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach prognostiziert schon mal vor der Kamera einen SPD-Sieg bei der Bundestagswahl im September, während die Unionsleute sich selbst weit vorne sehen. Finanzminister Peer Steinbrück widmet sich der Krise vor der Tür bei ein paar Zigarillos. Ganz anders sein Kollege Wolfgang Tiefensee: Der Verkehrsminister gönnt sich auch in entbehrungsreichen Wahlkampfzeiten gerne eine Trainingseinheit "auf dem Trimm-dich-Pfad", wie er sagt. Dass Politiker Prioritäten setzen, zeigt CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer: Er hat gerade das Neujahrskonzert in der Bayerischen Landesvertretung geschwänzt, aus lauter Liebe zu den Journalisten. Angesichts der immer neuen CSU-Initiativen kann sich der sozialdemokratische Innensenator von Berlin Erhardt Körting eine Spitze nicht verkneifen: "Der Seehofer ist eigentlich einer von uns - und die CSU die bayerische Form der SPD." Seine Genossen in München dürften entzückt sein.

Blitzlicht, Hektik am Eingang, Merkel ist da. Nach einem langen Tag stärkt sich die Kanzlerin mit der westfälischen Spezialität "Himmel & Erde" - gebackene Blutwurst mit Kartoffelstampf. Bei einem Glas Rotwein berichtet sie von endlosen Telefonaten mit Wladimir Putin, um den leidigen Gasstreit mit der Ukraine endlich zu beenden. Sie lässt sich in kleiner Runde nicht mal durch die Kurznachrichten auf ihrem Handy aus der Ruhe bringen - keine noch so kleinste Wendung im Nahost-Konflikt entgeht ihrem Blick, und falls doch, hat Regierungssprecher Ulrich Wilhelm sofort den Daumen drauf. Mit Schauspieler Mario Adorf scheint sich Merkel gut zu verstehen. Beide sind vermutlich auch in der Hoffnung einig, dass die große Koalition in Berlin bald Geschichte sein möge: "Das ist ja nur eine Notlösung, keine Dauerlösung", sagt Adorf.

Die Protagonisten der Notlösung sind beim Schokoladensoufflee noch ganz gut auf sich zu sprechen, wie es aussieht. Unternehmensberater Roland Berger glaubt, dass sich die Koalitionäre "bis zum Sommer aneinanderkuscheln und im Herbst aufeinander einhauen." Die Zeitungen werden also gebraucht, im Superwahlkampfjahr 2009, selbst wenn sie es nicht ganz leicht haben, mit dem Terminkalender von Angela Merkel Schritt zu halten. Christian Mayer

Politik mit Bellheim-Faktor: Angela Merkel an der Seite von Mario Adorf und SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz, dahinter Regierungssprecher Ulrich Wilhelm. Fotos: Alessandra Schellnegger, Eventpress

SV-Aufsichtsratschef Oliver C. Dubber und Geschäftsführer Karl Ulrich.

Nord-Süd-Gefälle: Peter Ramsauer und Peer Steinbrück.

Hessen im Herzen, auch in Berlin: Ex-Außenminister Joschka Fischer.

Mitten in Berlin: Der festlich erleuchtete Pei-Anbau des Deutschen Historischen Museums.

Italiens Botschafter Antonio Puri Purini, Landesbischof Wolfgang Huber und Isa Gräfin von Hardenberg.

SZ-Veranstaltungen Prominente Personen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Komischer Vogel

In Stockholm hat ein Hostel in einem ausrangierten Jumbojet eröffnet

Steuer, Schubregler und Schalter sind noch da, aber die Sitze für Pilot und Copilot fehlen. Stattdessen füllen zwei bequeme Betten das Cockpit der Boeing 747-200. Künftig sollen in dieser Suite Frischvermählte ihre Hochzeitsnacht verbringen können. Das "Jumbohostel", eine Herberge im Bauch eines Jets, ist die neue Attraktion am Stockholmer Flughafen Arlanda. Seit Donnerstag können Gäste einchecken.

Oscar Diös betreibt seit Jahren eine Jugendherberge in Uppsala. Er plante schon länger, auch ein preiswertes Hostel im nahegelegenen Arlanda zu eröffnen. Denn am Stockholmer Flughafen gab es bisher nur Hotels für Geschäftsreisende, sparsame Rucksacktouristen mussten in der City übernachten. Ende 2006 hörte Diös von einem alten Jumbojet, der zu verkaufen war. Die ursprünglich einmal für Singapore Airlines gebaute 747 ist mehr als 30 Jahre alt. Sie war nach der Pleite ihres letzten Besitzers einfach in Arlanda stehen geblieben. Einige Jahre wartete das Wrack am Rand des Rollfelds auf sein Ende. Da hatte Diös den Einfall mit der Herberge. Diös überzeugte das Bauamt von dem Projekt und schon ein gutes Jahr später begannen Arbeiter damit, 450 Stühle aus dem Rumpf des Riesenvogels zu montieren. Diös ließ Wände einziehen und Etagenbetten einbauen. 85 Menschen können nun dort übernachten. Die meisten Zimmer bieten Platz für drei bis vier Gäste, die sich Gemeinschaftsduschen teilen. Frühstück serviert die Herberge in einer Cafeteria im vorderen Teil des Fliegers. Im Obergeschoss liegt neben der Cockpit-Suite noch ein Konferenzraum, in dem das Publikum auf breiten Businessclass-Sesseln aus den 70ern Platz nehmen kann.

Vor einigen Monaten ist das Jumbohostel auf seine letzte Parkposition an einer Autobahnausfahrt gerollt und hat dabei eine Menge Aufsehen erregt: Sogar Fernsehreporter aus Brasilien und Japan waren zu Besuch. Diös denkt schon über den Export seiner Idee nach. "Man könnte solche Herbergen auch an anderen Flughäfen eröffnen", sagte er. Es gebe weltweit viele alte Jumbojets, die bald ausrangiert werden. Erst mal will er aber abwarten, wie das Geschäft in Stockholm läuft. Gunnar Herrmann

85 Personen können im "Jumbo Hostel" übernachten. Foto: AP

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Ein Fährenkönig verschwindet

Die Entführung des kranken Reeders Periklis Panagopoulos heizt in Griechenland die Debatte um die öffentliche Sicherheit weiter an

Istanbul - In Griechenland wächst die Sorge um den am Montag entführten Reeder Periklis Panagopoulos. Der 74-jährige Panagopoulos ist krank und braucht täglich Medikamente. Am Freitagmorgen hatte die Presse berichtet, die Freilassung des prominenten Reeders stehe kurz bevor. Am Nachmittag dann allerdings meldete das Staatsfernsehen ERT, die Verhandlungen stockten. Unter anderem habe man Schwierigkeiten, genügend gebrauchte Banknoten aufzutreiben: Die Entführer wollen das Lösegeld in kleinen Scheinen von höchstens 50 Euro. Unbestätigten Berichten zufolge fordern sie 40 Millionen Euro.

In Griechenland hat der Fall die Debatte um die öffentliche Sicherheit befeuert - Panagopoulos ist schon das dritte prominente Entführungsopfer in nur sechs Monaten. Die Entführer haben ihre Tat offenbar bis ins kleinste Detail geplant. Panagopoulos wurde in der Nähe seines Hauses im Athener Vorort Kavouri gemeinsam mit seinem Fahrer entführt, den Fahrer setzten die Täter später aus und fesselten ihn an einen Baum. Die Polizei geht davon aus, dass die Entführer von den Gesundheitsproblemen ihres Opfers wussten. ERT zufolge haben die Beamten auch deshalb große Schwierigkeiten, ihnen auf die Spur zu kommen, weil diese all ihre Telefongespräche von öffentlichen Kartentelefonen aus führen, welche sie dann nach jeweils einem einzigen Gespräch zerstören. Panagopoulos ist einer der bekanntesten Geschäftsleute des Landes. Er gründete 1971 die Royal Cruise Line und 1993 die "Attika Group", die zunächst schnelle Fähren im Fährverkehr zwischen Italien und Griechenland einsetzte. Er war meist ohne Leibwächter unterwegs.

Bereits im Juni 2008 war der Vorsitzende des nordgriechischen Industrieverbandes, Giorgos Mylonas, entführt worden. Die Entführer wurden einige Wochen später gefasst: Es war eine Gruppe um Vassilis Palaiokostas, einen der meistgesuchten Verbrecher Griechenlands. Palaiokostas hatte erst im Sommer 2006 Schlagzeilen gemacht, als er aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Piräus ausgebrochen war - mit einem Hubschrauber, den sein Bruder Niko gesteuert hatte. Zwar gab es bei der Entführung von Mylonas Spekulationen um die Verbindungen von Palaiokostas' Komplizen zu einer Anarchistengruppe in Thessaloniki, doch geht die Polizei bis heute bei den Fällen des letzten halben Jahres von einem rein kriminellen Hintergrund aus. Weiteres Opfer war Anfang Dezember ein prominenter Herzchirurg aus Varkiza südlich von Athen. Er ist bis heute verschwunden.

Die Entführungen kommen zu einer Zeit, da die griechische Öffentlichkeit ohnehin über eine vermeintlich zunehmende Gesetzlosigkeit debattiert und Regierung und Polizei in der Kritik stehen. Die konservative Zeitung Kathimerini konstatierte nach der neuerlichen Entführung einen "alarmierenden Mangel an Sicherheit". Die Zeitung erinnerte an die Ausschreitungen von Athen und Terroranschläge und forderte, der Staat solle "der Pflicht nachkommen, seine Bürger zu schützen". Kai Strittmatter

Periklis Panagopoulos. Foto: AP

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