Der gute Ruf

Braucht München einen neuen Konzertsaal?

München braucht einenen neuen Konzertsaal. Mit diesem Mantra auf den Lippen zieht Dirigent Mariss Jansons seit seinem Amtsantritt als Chef der Rundfunk-Symphoniker durch die Stadt. Alle hören ihn gern, diesen Spruch, alle sind von dessen Wahrheit überzeugt: wir Musikkritiker sowieso, das Publikum, die Konzertveranstalter, die Musiker, Rundfunkmanager. Und nach einem Gespräch mit Jansons zeigte sich jetzt sogar Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer davon überzeugt, dass München einen neuen Konzertsaal braucht. Aber braucht München einen neuen Konzertsaal? Jansons' Hauptargument ist, dass keiner der Münchner Säle - Philharmonie (2400 Plätze) und Herkulessaal (1450 Plätze) - eine Spitzenakustik besäße. Eine bittere Wahrheit, die niemand bezweifeln wird.

Seit Jahren schon werden überall in der Welt neue Konzertsäle gebaut, Tendenz steigend. Besonders in Städten, die gar kein eigenes oder allenfalls ein zweitklassiges Orchester ihr eigen nennen, und die deshalb auf den großen Klassik-Reisezirkus angewiesen sind. München aber mit seinen drei Top-Orchestern soll tatenlos zuschauen, wie sich all diese Möchtegernklassikstädte oft gar nicht so schlecht klingenden Tonhallentempel hinstellen? Soll riskieren, wegen seiner schlechten Säle vom internationalen Klassikmainstream abgehängt zu werden? Nie und nimmer.

Das dachte sich zumindest der mittlerweile aus dem Amt geschiedene bayerische Finanzminister Kurt Faltlhauser, und so schob er, der treueste Verbündete Jansons, vor zwei Jahren einen Ideenwettbewerb für einen neuen - dritten! - Münchner Konzertsaal an, der hinter der Residenz beim Marstall entstehen soll. Das ist städtebaulich ein verlockender Plan, denn dieses wüstenähnliche Areal in zentraler Lage kann ins städtische Leben nur dann zurückfinden, wenn man im Marstall eine Institution installiert, die viele Menschen anlockt. Ob das ein vorwiegend am Abend genutzter Konzertsaal sein muss, sei dahingestellt. Auch wenn er zugegeben recht gut in das auf Hochkultur spezialisierte Ensemble der Residenz passen würde.

Viel wichtiger: Orchester

Die Gewinner des Ideenwettbewerbs, Axel Schultes & Charlotte Frank, würden das Marstallgebäude als Foyer und Mehrzwecksaal nutzen und dahinter einen zweiten Bau mit etwa den gleichen Abmessungen errichten, in dem ein Konzertsaal und ein Theater Platz fänden. So wäre man gezwungen vom Marstall aus in die Neubauwelt der Künste vorzudringen. So recht begeistern kann das nicht. Zweifel werden auch daran laut, ob der Neubau nicht allzu schmal ist, ob dem historischen Klenze-Marstall nicht allzu seltsam Gewalt angetan wird. Aber das war ja nur ein Ideenwettbewerb - sollte es hier je einen Konzertsaal geben, so kann er auch ganz anders aussehen, ganz anders situiert werden.

Das wichtigste Argument für einen dritten Konzertsaal ist die eingangs erwähnte Spitzenakustik. Es ist aber zugleich das fragwürdigste. Dass man gern etwas Vergleichbares zu Amsterdams Concertgebouw oder zu Wiens Großem Musikvereinssaal in München hätte, versteht sich. Aber solche Akustikwunder sind nicht einfach kopierbar. Kein Akustiker der Welt kann garantieren, dass ein Neubau automatisch diese gewünschte Spitzenakustik mit sich brächte. Das bedeutet natürlich ein Risiko, das sich durch physikalische Berechnungen und durch Erfahrungen im Saalbau zwar minimieren, aber eben nicht aus der Welt schaffen lässt.

In Städten, die wie Paris keine Philharmonie haben, wird man dieses Risiko billigend in Kauf nehmen. In Hamburg, das eine Konzerthalle hat und sie auch nicht aufgeben möchte, liegen die Gründe für den Neubau der Elbphilharmonie vor allem im Spektakulären begründet. Man will ein städtisches Wahrzeichen, und das bedeutet in diesem Fall eine spektakuläre Architektur in wenig hochkulturtauglicher Lage, garniert mit Hotel und Luxuswohnungen. In München allerdings, wo ein Neubau allein aus akustischen Gründen angedacht wird, wagt man mehr als in anderen Städten: Sollte der neue Saal nur durchschnittlich klingen, gäbe es lange Gesichter, klänge er gar schlecht, dann müssten Köpfe rollen. Ungeklärt auch die Frage, ob selbst eine so klassikbegeisterte Stadt wie München drei Konzertsäle füllen kann.

Über 100 Jahre lang, bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, hatte München mit Klenzes Odeon einen zwar kleinen (1445 Plätze), aber akustisch hervorragenden Saal, seit 1895 spielten die späteren Philharmoniker in der ebenfalls im Krieg zerstörten Tonhalle. Seither wird in akustisch unterschiedlich schlechten Sälen gespielt, zu denen man auch das Nationaltheater und den vor Jahren aufgegebenen Kongresssaal rechnen muss. Das aber hat dem Ruf der Musikstadt München nichts anhaben können. Denn wichtiger als die Räume sind die hiesigen Spitzenorchester, die die großen Musiker zwangsläufig nach München locken. Sowie ein Publikum, das erlesen hausgemachte Klassik schätzt, hohe Preise dafür bezahlt und mühelos mehrere Theater-, Konzert- und Opernhäuser pro Tag füllt. Hamburg mit seinen B-Orchestern kann da nicht mithalten.

Kulturklingelbeutelmentalität

Mittlerweile zeichnet sich eine Alternative zu einem dritten Konzertsaal ab, denn die Philharmonie im Kulturzentrum Gasteig ist 20 Jahre nach ihrer Eröffnung ein Sanierungsfall. Gasteig-Chefin Brigitte von Welser sieht da nun die große Chance, nicht nur dringend nötige Sanierungsmaßnahmen und Umbauten durchzuführen, sondern auch die vermaledeite Akustik des Saales zu verbessern. Bei fünf Akustikern hat sie Expertisen eingeholt, und alle sind davon überzeugt, dass sich der Klang im Saal verbessern ließe. Umbauten, Sanierung und Akustikverbesserungen beliefen sich auf etwa 50 bis 80 Millionen Euro, zu denen sich die Stadt bisher noch nicht geäußert hat.

Im Zuge dieser Umbauten könnten auch für die BR-Symphoniker eigene Garderoben geschaffen werden, so dass dieses bisher obdachlos durch die Säle der Stadt irrende Orchester endlich heimisch werden könnte - ein von Rundfunkseite schon oft geäußerter Wunsch. Allerdings müsste das für den Rundfunk so leidige Vorgriffsrecht der Philharmoniker bei der Terminplanung dann abgeschafft werden: Partnerschaft statt Hierarchie.

Doch die Gasteig-Pläne sind bisher genauso wenig ausgereift wie es die Marstall-Planungen sind. Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Zwar wird die Stadt nicht darum herumkommen, den Gasteig zu sanieren. Ob sie aber in diesen wirtschaftlich kriselnden Zeiten noch Lust und Reserven hat, zusätzliche Investitionen in Sachen Akustik zu tätigen, ist fraglich, auch wenn gerade dieser Saal nichts dringender braucht. Mit Sicherheit wäre es die beste Lösung, die Philharmonie zu entkernen und einen ganz neuen Saal einzubauen.

Die finanzielle Situation des Freistaats, dessen Landesbank sich um Milliarden verspekuliert hat, macht es andererseits auch nicht gerade wahrscheinlich, dass der Marstall-Konzertsaal sofort gebaut wird. 150 Millionen soll das Ding, zu dem es noch nicht einmal konkrete Pläne gibt, kosten. Aber Faltlhauser wird sicher für sein Projekt sammeln, auch wenn er sicherlich nicht jene Kulturklingelbeutelmentalität mitbringt wie der in diesen Dingen unnachahmliche August Everding.

Und so ist es mehr als wahrscheinlich, dass München auch noch in 20 Jahren einen neuen Konzertsaal braucht, während das Musikleben der Stadt blüht wie eh und je. REINHARD J. BREMBECK

Theater im Marstall Musikszene in München Kulturpolitik der Stadt München SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Klavier Kaiser Nr. 4

Genius poetischer Phantasie

Alfred Cortot spielt Chopin, Saint-Saëns und Schumann

Alfred Cortot (1877-1962) war mehr als der berühmteste französische Pianist seiner Epoche: ein poetischer Feuerkopf, ein Musikschriftsteller von Rang. Er hat sich mit Liebe, Passion und innerer Freiheit zwei Kulturen gewidmet: der französischen wie der deutschen. Dass dieser Germanophile in Vichy zum "Kollaborateur" wurde, brachte ihm nach 1945 ein einjähriges Berufsverbot ein. Dann begann die Spätkarriere.

In seinem Chopin-Buch hatte sich Cortot gegen süßliche Verweichlichung von Chopins Kunst ausgesprochen. Dafür bietet die Einspielung des 2. Klavierkonzerts in f-Moll Op. 21 ein vehementes Beispiel. Cortot artikuliert jedes Crescendo, jedes dynamische Anwachsen mit flammender, oft sogar unmerklich beschleunigender Kraft. In diesem Konzert findet sich, an zentraler Stelle, eine gewaltige Mozart-Anspielung. Der langsame Satz beginnt nach kurzer Orchestereinstimmung mit einer reich inspirierten, pianistisch erlesen ausgeschmückten, innig schönen Melodie. Nach drei, vier Minuten raffen sich das Orchester (mit punktierten Forte-Akzenten) und das Klavier (mit rasend donnernden Fortissimo-Läufen) zu einer gewaltigen Steigerung auf, die mit einem As-Moll-Doppelpunkt schließt. Dann beginnt etwas vollkommen Neues. "Appassionato" spricht das Klavier zur Orchesteruntermalung ein erregtes, seelisch wild ansetzendes Rezitativ! Nur langsam gewinnt der aufgewühlte Sprechton wieder ruhigere Fassung. Was für ein Ausnahmemoment! Noch mysteriöser erscheint das, wenn man die Anfangstöne des Rezitativs ins Auge fasst: Mit genau denselben Tönen erzählt im "Don Giovanni" Donna Anna ihrem Verlobten, wie sie in der tragischen Nacht ein Unhold überfiel. Cortot wagt da eine theatralische Entflammtheit, eine ekstatische Attitüde, als wolle er andeuten, wie weit Instrumentalmusik hier über die gewohnten Ausdrucksgrenzen hinausgeht. Die Mischung aus Eleganz, subtilem Zögern und polnischer Bravour im Finale meistert er exemplarisch.

Wenn Cortot in Schumanns "Davidsbündlertänzen" Op. 6 das sarkastische "Mit Humor" (Nr. 12) pointiert und das "Zart und singend" (Nr. 14) so spielt, als sei es ihm gelungen, die Blaue Blume deutscher Romantik mit sanftem Zauber zu gewinnen - dann begreift man gut, warum selbst der so kühl motorische Friedrich Gulda Cortot geliebt, ja vergöttert hat. Die "Kinderszenen", vielleicht gerade weil sie pianistisch nichts allzu Aufregendes, Anspruchsvolles verlangen, mögen eben deshalb schwer zum Klingen zu bringen sein. Schon in der ersten Nummer, ganze 22 Takte lang, die erste Gebärde wiederholt sich wieder und wieder, vermag Cortot durch Tempoveränderung, Neubelebung und innige Nachdenklichkeit, die vermeintliche Monotonie in innige Fülle zu verwandeln. Cortot scheint immer ausdrucksvoll, abwechslungsvoll und reich zu sprechen, wenn er Chopin oder Schumann interpretiert. Für ihn war Musik nie etwas Neutrales, gar Totes. JOACHIM KAISER

Alfred Cortot Foto: Roger Viollet/Getty Images

Cortot, Alfred Klavier Kaiser SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Transatlantische Frühlingsgefühle

Eine Schau in New York schwärmt von der alten Freundschaft zu Frankreich

Es ist nur ein paar Jahre her, da wurden in Amerika die Fritten, "french fries", in "Freedom Fries" umbenannt, um die kriegsunwilligen Franzosen währen des Irakkriegs zu kränken. Nun ist diese Ära auch offiziell vorbei, ein neuer transatlantischer Honeymoon kündigt sich an. Dass sich die amour fou wiederholt, die zwischen den beiden Ländern in den zwanziger und dreißiger Jahren herrschte, ist allerdings kaum vorstellbar. Das Museum of the City of New York illustriert nun in der kleinen, aber sehr gut gemachten Ausstellung, wie sich die zwei Länder damals in ihrem Traum von einer ultraeleganten, atemberaubenden Modernität gegenseitig beflügelten.

Paris war natürlich von jeher Synonym für Stil und Luxus, und dem protestantischen, wenn auch ambitionierten New York daher suspekt. Doch nach dem Ersten Weltkrieg trat das Verhältnis der beiden Länder und Städte in eine neue Phase aneinander begeisterter Konkurrenz um die kühneren Visionen. Ein Grund war der gemeinsam gewonnene Erste Weltkrieg. Ein anderer die danach in Paris etablierte ex-pat-Kolonie aus Schriftstellern wie F. Scott Fitzgerald und Gertrude Stein. Ein weiterer der New Yorker Bauboom der zwanziger Jahre, in dem nach Bildern und Formen für eine neue Ära gesucht wurde.

Diesen Hunger nach Neuem stillte die 1925 in Paris eröffnete Exposition Internationale des Art Décoratifs et Industriels Modernes. Die Delegation des amerikanischen Handelsministeriums, die die Ausstellung in Paris besuchte, kam mit einem völlig neuen Stil nach Hause: Art Déco. Und man zögerte keine Sekunde, ihn für das Rockefeller Center, das Chrysler Building und etliche andere hochfahrende Gebäude der Zeit zu adaptieren. Selbst französische Künstler wurden angeheuert. Alfred Auguste Janniot und Fernand Léger etwa fanden in New York Arbeit.

Titel der Welthauptstadt

Der Modernitätsschub der zwanziger Jahre ließ auch die Franzosen über den Atlantik sehen. Manhattans Wolkenkratzer, zuvor als klobige Riesen abgetan, faszinierten die Pariser, die sich nach der Befreiung aus dem Gefängnis ihrer Haussmannschen Pracht sehnten. Als 1931 die Champs Elysées von der Place de l'Etoile bis La Defense zur "Voie Triomphale" ausgebaut werden sollte, reichten viele der am Wettbewerb teilnehmenden Architekten Spaliere gigantischer Türme ein. Vier Jahre später bemerkte Le Corbusier dann nach einem Besuch in New York, die Wolkenkratzer dort seien "zu klein".

Zum Symbol des im gleichen, schnellen Rhythmus schlagenden Pulses der beiden Städte wurde die "Normandie", der seit 1935 zwischen Le Havre und New York pendelnde Luxusliner, der in Amerika als "Das schwimmende Frankreich" beworben wurde. Das Schiff, das auf See dieselbe Rolle spielte, die später die "Concorde" übernahm, war nicht nur das schnellste, größte und modernste seiner Zeit, auch die Pracht seiner Innenräume stellte alles Dagewesene in den Schatten.

Kaum jemand war auf dem Schiff mehr zu Hause als Josephine Baker, die 1925 in der "Revue nègre" ihr triumphales Pariser Debüt gab und sofort zu einer Ikone der Paris-New-Yorker Fernbeziehung wurde. Die Pariser waren fasziniert von ihrer Fremdheit und von der Modernität des Jazz. Dass die neue amerikanische Musik in Europa so gefeiert wurde, legitimierte sie dann endlich auch zu Hause.

Den letzten großen Höhepunkt dieser Beziehung stellte die New Yorker Weltausstellung von 1939 dar, als Frankreich dem staunenden New Yorker Publikum mit maßlosem Pomp Mode, Möbel und Cuisine vorführte. Hauptstadt der Eleganz blieb Paris auch nach dem Krieg. Doch den Titel der Welthauptstadt hatte ihr nun New York abgenommen.

JÖRG HÄNTZSCHEL

"Paris/New York" im Museum of the City of New York, bis 22. Februar. Info: www.mcny.org. Der Katalog kostet 50 Dollar.

Vom Broadway an die Champs-Elysées: Josephine Baker, hier auf einem von dem Designer Jean Chassaing entworfenen Plakat von 1931, war der erste Popstar, den Amerika exportierte - per Schiff nach Frankreich. Dass Josephine Baker schwarz war, machte sie in europäischen Augen nur noch aufregender. Die Bewunderung und Verehrung, die ihr und dem Jazz in der damaligen Weltkulturhauptstadt Paris zuflogen, halfen wiederum, die hartnäckigen Ressentiments zu Hause in den USA zu zerstreuen. Abb.: Courtesy the Rennert Collection, New York City

Museum of the City of New York Ausstellungen in New York SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Der Scheich reicht, um den Markt zu verändern"

Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge über die Politik des FC Bayern in der Finanzkrise und die Nachfolge von Manager Uli Hoeneß

SZ: Herr Rummenigge, prüfen Sie zurzeit häufiger die Kurse Ihrer Aktien?

Karl-Heinz Rummenigge: Ich schaue da nicht ständig nach. Ich war nie ein großer Spekulant und bin es auch heute nicht. So gesehen bin ich entspannt.

SZ: Aber als Vorstandsvorsitzender des Unternehmens FC Bayern hat die Finanzkrise Ihren Alltag doch sicher verändert. Fahren Sie zurzeit mit einem anderen Gefühl ins Büro?

Rummenigge: Wenn ich mich unter meinen europäischen Kollegen so umhöre, stelle ich fest, dass die Finanzkrise im deutschen Fußball noch gar nicht richtig angekommen ist. Ich höre, dass es nicht nur in England, sondern auch in Spanien und Italien ganz massive Probleme gibt; weniger bei den absoluten Topklubs, aber eine Stufe darunter.

SZ: Beim FC Valencia zum Beispiel.

Rummenigge: Es scheint zahlreiche Klubs zu geben, die ernsthaft bankrottgefährdet sind. Ich habe den Eindruck, dass Deutschland und auch Frankreich von den sogenannten Big-Five-Ländern am besten dastehen. Dort gibt es eben relativ strikte Lizenzierungsverfahren. Die zwingen einen, Verluste zu vermeiden.

SZ: Spürt Bayern die Krise gar nicht, beim Sponsoring oder Merchandising?

Rummenigge: Die Verträge mit unseren Sponsoren laufen noch länger, im Moment wäre keine gute Zeit für Verhandlungen. Und das Merchandising ist in diesem Jahr leicht rückläufig, aber das war erwartet, weil wir im letzten Jahr Franck Ribéry und Luca Toni verpflichtet hatten - die beiden alleine waren für 50 Prozent der Trikotverkäufe verantwortlich. Das lässt natürlich automatisch nach . . .

SZ: . . . und Podolski läuft wohl auch kaum noch . . . ?

Rummenigge: Da muss man eines klar sagen: Ein Lukas Podolski hat da nie eine bedeutende Rolle gespielt, da lag selbst ein Bastian Schweinsteiger stets weit vor ihm. Lukas war auch bei den Fans offensichtlich nie vorne platziert.

SZ: Wie reagieren Sie, wenn Sie hören, dass ein Scheich aus der Königsfamilie von Abu Dhabi im Namen von Manchester City 120 Millionen für den Mailänder Mittelfeldspieler Kakà bietet?

Rummenigge: Um das zu bewerten, muss man ein paar Jahre zurückgehen: Damals gab's nach dem Crash des Neuen Marktes schon mal eine globale Finanzkrise, und in der Fußballbranche gab es eine Tendenz zur Vernunft: Gehälter und Ablösesummen gingen zurück - bis Herr Abramowitsch zum FC Chelsea kam.

SZ: Er hat die Preise verdorben?

Rummenigge: Ja, der Transfermarkt funktioniert doch nach einfachen Gesetzen: Einer geht volles Rohr in den Markt - und kaum ist das Geld im Markt drin, verändert es den Markt völlig. Alles schaukelt sich hoch, und diese Dynamik schlägt bis nach unten durch.

SZ: Manchesters Scheich ist jetzt also der Abramowitsch der Gegenwart?

Rummenigge: Ja. Es steht zu befürchten, dass das schöne Geld vom Scheich die Finanzkrise überdeckt. Denn Spieler und Berater wissen: Einen gibt's immer, der unsere horrenden Forderungen erfüllt. Dieser Scheich allein reicht, um den Markt zu verändern. Das Geld, das er in den Markt pumpt, verschwindet ja nicht. Es bleibt im Markt und treibt ihn nach oben. Wissen Sie, was ich für den absurdesten Transfer halte?

SZ: Welchen?

Rummenigge: 120 Millionen für Kakà wären Wahnsinn gewesen, aber er ist immerhin einer der drei, vier besten Spieler der Welt. Viel schlimmer finde ich den Transfer von Nigel de Jong . . .

SZ: . . . der soeben vom Hamburger SV für 20 Millionen Euro zu Manchesters Scheich gewechselt ist.

Rummenigge: Im Sommer hätte de Jong aufgrund einer Vertragsklausel noch zwei Millionen Euro gekostet. Ein Zehntel! Mit anderen Worten: Da ist jemand bereit, für vier Monate 18 Millionen zu zahlen. Bis zu dieser Woche hatten wir, die Vertreter der großen europäischen Klubs, den Eindruck, dass sich der Markt seitwärts bis rückwärts entwickelt, dass eine gewisse Mäßigung einzieht. Aber nach den letzten zehn Tagen, fürchte ich, können wir das vergessen.

SZ: Haben Sie eine Idee, wie sich der Markt beherrschen lässt?

Rummenigge: Ich hatte vorige Woche ein Gespräch mit Michel Platini (Präsident des europäischen Fußballverbandes Uefa; Anm. d. Red), und dabei haben wir die Idee eines Lizenzierungsverfahrens für die Champions League geboren. Das würde bedeuten, dass die 32 Teilnehmer gewisse Bedingungen erfüllen müssten.

SZ: Zum Beispiel?

Rummenigge: Man würde verfügen, dass nur 50 Prozent der Gesamteinnahmen eines Klubs in Gehälter investiert werden dürfen. Dann würde es keine so große Rolle mehr spielen, ob ein Klub ein eingetragener Verein ist, oder ob er einen Scheich hat. Zumindest könnten dann einige Auswüchse auf ein gesünderes Maß zurückgeführt werden. Ich sehe bereits eine breite Basis für diesen Vorschlag - bis auf die Engländer, die sind gegen alles, was die Ausgaben der Premier League begrenzen würde. Wenn die EU zustimmt, könnte diese Lizenzierung bis 2010 stehen.

SZ: Wird der FC Bayern seine Politik in der Finanzkrise verändern? Kommen einstweilen nur noch ablösefreie Spieler wie im Sommer Ivica Olic vom HSV?

Rummenigge: Zunächst einmal: Olic wäre auf jeden Fall gekommen. Dass er ablösefrei ist, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Aber wir sind einfach der Meinung, dass er sportlich perfekt zu Luca Toni und Miroslav Klose passt.

SZ: Heißt das auch, dass sich ein Transfer des von Ihnen bisher heftig umworbenen Stuttgarters Mario Gomez im Sommer erledigt hat?

Rummenigge: Davon gehe ich aus, ja. Wir kennen ja die Höhe seiner Ausstiegsklausel . . .

SZ: . . . sie soll bei etwa 30 Millionen Euro Ablöse liegen . . .

Rummenigge: . . . und wir sind nicht im Ansatz bereit, in solchen Größenordnungen zu investieren. Wir sind überzeugt, dass das ein guter Spieler ist, aber diese Preiskategorie kann man der Öffentlichkeit im Moment nicht vermitteln.

SZ: Werden Sie im Sommer überhaupt investieren?

Rummenigge: Grundsätzlich gilt, dass wir schon jetzt eine Klassemannschaft haben. Wir werden unser Pulver erstmal trocken halten und den Markt beobachten - um reagieren zu können, wenn sich irgendeine sinnvolle Gelegenheit ergibt. Wir werden punktuell etwas verbessern - aber nichts Dramatisches.

SZ: Kommt der Ukrainer Anatoli Timoschtschuk aus St. Petersburg?

Rummenigge : Ja, ich bin optimistisch, dass wir da einen Transfer zum Sommer hinkriegen.

SZ: Was heißt das für Mark van Bommel, der die gleiche Position spielt? Sie haben ihm nur ein Angebot über ein Jahr unterbreitet. Besteht die Chance, dass das Angebot noch modifiziert wird?

Rummenigge: Wir wollen hier einfach keine längere Laufzeit haben. Wenn Mark das Angebot annimmt und gut spielt, dann kann er ja auch darüber hinaus bleiben. Theoretisch kann man einen Einjahresvertrag auch fünfmal um ein Jahr verlängern. Er hat doch eigentlich genügend Selbstvertrauen - zumindest tut er das in Interviews immer kund.

SZ: Wie sicher können Sie sein, dass Ribéry Ihnen erhalten bleibt? Er hat zuletzt auffällig oft mit einem Wechsel kokettiert, angeblich hätte Mailand im Fall eines Verlusts von Kakà für ihn geboten.

Rummenigge: Uns hat keiner angerufen. Und soll ich Ihnen was sagen? Das interessiert mich auch alles nicht! Wir haben einen Vertrag mit Franck bis 2011. Unsere Aussage steht: Wir werden ihn bis dahin nicht abgeben. Ich sehe keine Summe, die uns schwach werden lässt. Wir werden uns vielmehr bemühen, mit ihm vorzeitig zu verlängern.

SZ: Derlei Dinge entscheidet derzeit ein bewährtes Team, doch es steht nun der vielleicht größte Einschnitt in der Klubgeschichte bevor - Manager Uli Hoeneß will zum Jahresende aufhören und in den Aufsichtsrat wechseln. Manche Menschen fragen sich bereits: Gibt es den FC Bayern ohne Hoeneß überhaupt noch - oder hat Hoffenheim die Tabellenspitze künftig für sich allein?

Rummenigge: Nun, ich kann mich noch gut erinnern, als Franz Beckenbauer 1977 zu Cosmos New York gewechselt ist: Die gesamte Welt war darauf vorbereitet, dass der FC Bayern in den nächsten Monaten beerdigt wird. Die Saison 77/78 war dann auch nicht die beste (Rang zwölf; d.Red.), aber danach ging's wieder aufwärts.

SZ: Der FC Bayern ist also doch größer als jeder Einzelne, selbst wenn dieser Einzelne Uli Hoeneß heißt?

Rummenigge: Ja, Sie können doch auch mich als Beispiel nehmen. Als mein Wechsel zu Inter Mailand bekannt wurde, hatte ich gerade eine Saison mit 29 Toren hinter mir. Die Leute haben gesagt: Den FC Bayern kannst du jetzt vergessen. Und was war? Der FC Bayern wurde Meister! Und zwar ziemlich deutlich.

SZ: Das Leben beim FC Bayern geht vermutlich wirklich weiter - aber mit welchem Nachfolger von Uli Hoeneß?

Rummenigge: Vor einer personellen Entscheidung müssen wir erst eine strukturelle treffen. In Ulis Ressort fallen die erste Mannschaft und die Nachwuchsabteilung, das Scouting und das Thema Lizenzen/Sponsoring. Da müssen wir erst diskutieren, ob wir weiter eine Struktur mit drei Vorständen haben wollen (bisher: Rummenigge, Hoeneß und Finanzchef Karl Hopfner) - oder ob zwei reichen und wir die Ressortzuschnitte ändern.

SZ: Ob man also Uli Hoeneß' Job aufteilt und künftig einen echten Sportdirektor ohne Vorstandsposten beschäftigt.

Rummenigge: Das wäre eine Möglichkeit, ja. Denn den wichtigsten Part, den der Uli hier erfüllt, sehe ich im fußballerischen Bereich. Er ist nah an der Mannschaft dran, am Trainer, hat dort die Akzeptanz und die Autorität, das fußballerische Knowhow - das ist der wichtigste Part, den wir zu ersetzen haben.

SZ: Sie tendieren zu einem Sportdirektor. Muss es für einen Neuen aber nicht wie eine Drohung klingen, wenn Hoeneß jetzt ankündigt, der präsenteste Aufsichtsrat der Klubgeschichte zu werden?

Rummenigge: Davor muss doch niemand Angst haben. Auch jetzt haben wir trotz manchmal unterschiedlichen Meinungen eine harmonische Zusammenarbeit. Außerdem ist der Uli nicht aus der Welt, sondern nur auf einer anderen Position, und wenn er zwei-, dreimal die Woche in der Geschäftsstelle ist, wäre das doch eher die Gewähr dafür, dass der Übergang fließend abläuft. Uli ist keiner, der öffentlich dazwischengrätscht.

SZ: Aber ein starker Mann sollte der Neue schon sein.

Rummenigge: Natürlich, wir reden hier über die zentrale Aufgabe beim FC Bayern: die sportliche Verantwortung. Das ist die Schlüsselstelle. Deshalb spricht vielleicht mehr für die Notwendigkeit eines starken Sportdirektors. Man braucht jemanden, der einem Spieler auch mal sagt: ,Was du spielst, ist ein Mist!'. Der Uli stellt sich schon mal in die Kabine und sagt zu einem Spieler: ,Was ist mit dir eigentlich los? Du musst langsam mal Gas geben!'

SZ: So jemand müsste vermutlich von außen kommen?

Rummenigge: Über Namen möchte ich zu diesem Zeitpunkt nichts sagen. Aber schauen Sie sich mal um: Der Kandidatenkreis ist zwangsläufig sehr limitiert.

SZ: Uli Hoeneß hat andererseits angedeutet, vielleicht weiterzumachen, falls die Finanzkrise dies erfordern würde. Sehen Sie diese Notwendigkeit?

Rummenigge: Stand jetzt sehe ich keine Finanzkrise auf den FC Bayern zukommen. Aber in turbulenten Tagen kann niemand sagen, wie es übermorgen aussieht.

SZ: Wenn Uli Hoeneß im Vorstand aufhört, rückt er im Aufsichtsrat an die Stelle Franz Beckenbauers. Was macht Sie so sicher, dass Beckenbauer da mitspielt?

Rummenigge: Der Uli und der Franz haben sich vor etwa anderthalb Jahren mal darüber unterhalten und diese Lösung vereinbart.

SZ: Wird Franz Beckenbauer dem Verein trotzdem erhalten bleiben?

Rummenigge: Ich glaube, wir sind gut beraten, Franz weiter im Boot zu haben. Es gibt ja das Amt des Ehrenpräsidenten, der hat aber bisher keinen Sitz und keine Stimme im Präsidium. Uns müsste daran gelegen sein, das vielleicht zu ändern und Franz als wichtige Persönlichkeit zu behalten. Er ist einer, der Input gibt.

SZ: Für den Manager Hoeneß und den Aufsichtsratschef Beckenbauer wäre es im Mai die letzte Meisterschaft. Darf man Ihnen eigentlich schon gratulieren?

Rummenigge: Nein, warum?

SZ: Alle Nachrichten, die die Winterpause produziert hat, sprechen doch für den FC Bayern: Bei Hoffenheim hat sich Vedad Ibisevic schwer verletzt und Chinedu Obasi leicht, zusätzlich wird Eduardo gesperrt, ebenso wie Hamburgs Olic, während Bremen disziplinarische Probleme hat und Schalke sein Chaos pflegt.

Rummenigge: Wir haben das alles zur Kenntnis genommen, aber wirklich ohne jeden Anflug von Schadenfreude. Speziell Ibisevic' Kreuzbandriss bedauere ich sehr. Er hat 18 Tore gemacht, da tut es mir besonders für den Spieler leid.

SZ: Ist Hoffenheim jetzt überhaupt noch ein Konkurrent um den Titel?

Rummenigge: Sicher, davon gehe ich aus. Wir wissen, dass wir 17 stabile Spiele brauchen, um Meister zu werden.

SZ: Sind Sie auch gespannt, wie Hoffenheim auf Ibisevic' Ausfall reagiert? Einerseits brauchen sie einen gestandenen Spieler, andererseits würde das ihrer Talent-Philosophie widersprechen.

Rummenigge: Mir gefällt es, wenn jemand eine klare Philosophie hat, bei der es um Nachhaltigkeit geht, das finde ich sehr sympathisch. Sie werden keinen Eto'o holen, auch wenn sie das finanziell vielleicht könnten. Dann kämen sie aber wie ein Abramowitsch rüber, der das Geld raushaut, und das wollen sie ja nicht. Ich glaube nicht, dass sie großes Geld investieren. Das können sie sich schon aus Imagegründen nicht erlauben.

SZ: Diese Nischenpolitik: Besteht bei Bayern kein Interesse an diesem Trend?

Rummenigge: Unsere Philosophie hat doch schon zwei Säulen. Die eine sind die Ribérys, Kloses, Tonis, und die andere besteht aus einem Rensing, einem Lell, einem Lahm, einem Ottl, einem Schweinsteiger. Das sind ja nur einige, die aus dem eigenen Stall kommen, wir bilden diese jungen Spieler selbst aus. Das wird in der Öffentlichkeit manchmal vergessen, vielleicht müssen wir das Image in dieser Richtung auch mal pflegen.

SZ: Die Hoffenheimer sagen: Der Tabellenplatz ist für uns nicht entscheidend. Nehmen Sie ihnen das ab?

Rummenigge: Natürlich wollen die Meister werden! Sie machen eben auf Understatement, das würde ich an ihrer Stelle auch tun. Aber ich bin überzeugt, dass sich die Hoffenheimer oben etablieren und ein dauerhafter Konkurrent von uns bleiben werden.

SZ: Wo steht der FC Bayern nach einem halben Jahr mit dem Trainer Jürgen Klinsmann? Ist es immer noch so, dass er erst im Mai zu bewerten ist?

Rummenigge: Wir haben mit ihm eine stabile Phase zum Ende der Hinrunde gehabt, aber jetzt ist der Moment gekommen, wo du in die entscheidenden Phasen einer Saison kommst. Wir müssen jetzt ernten, und das heißt: nachlegen, nicht nachlassen. Jürgen ist auf einem sehr guten Weg, aber ohne Frage wird beim FC Bayern alles am Erfolg gemessen und natürlich an Titeln.

Interview: Andreas Burkert

und Christof Kneer

INTERVIEW DER WOCHE

"Ich bin optimistisch, dass wir Timoschtschuks Transfer

bis zum Sommer hinkriegen."

"Man braucht jemanden,

der Spielern auch mal sagt:

Was du spielst, ist Mist!"

"Hoffenheim macht auf

Understatement. Das würde ich an ihrer Stelle auch tun."

Wie, Hoffenheim will wirklich Meister werden!? Karl-Heinz Rummenigge in prächtiger Laune an der Seite des Kollegen Uli Hoeneß, über dessen Nachfolge die Münchner derzeit diskutieren. Rummenigge, 53, seit Februar 2002 Vorstandschef der FC Bayern AG, schwebt "ein starker Sportdirektor" vor. Foto: sampics

Rummenigge, Karl-Heinz: Interviews Hoeneß, Uli FC Bayern München Abt. Fußball: Finanzen FC Bayern München Abt. Fußball: Personal Transfers von Fußballspielern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DFB verhängt Sperre für zwei Spiele

Ohne Olic und Eduardo

Ausgerechnet im Spiel gegen seinen künftigen Arbeitgeber Bayern München am nächsten Freitag wird Hamburgs Stürmer Ivica Olic den ersten Teil einer vom Sportgericht verhängten Zwei-Spiele-Sperre absitzen. Der DFB ahndete damit die Handgreiflichkeit des kroatischen Stürmers mit dem Brasilianer Carlos Eduardo im Testspiel gegen 1899 Hoffenheim. Der Hoffenheimer Eduardo wurde ebenso wie Olic für jeweils zwei Liga- und drei Freundschaftsspiele gesperrt.

Hamburg und Hoffenheim akzeptierten das Urteil. Olic dagegen hält die Strafe für zu hart: "Eine Sperre für die Liga ist nicht in Ordnung. Passiert ist die Sache in einem Testspiel. Und es war nicht so schlimm wie es auf den Fotos aussieht." Fotos und TV-Bilder vom Test im spanischen La Manga waren dem 29-Jährigen zum Verhängnis geworden - erst ihre Deutlichkeit veranlasste den DFB zum Handeln. Beim 2:0 gegen Hoffenheim waren Olic und Eduardo aneinander geraten und hatten sich mit Schubsern und Schlägen ins Gesicht malträtiert. Beide sahen daraufhin Rot. Nach Ansicht der TV-Bilder hatte der DFB-Kontrollausschuss einen Sonderbericht des spanischen Unparteiischen angefordert und ein Verfahren eröffnet.

Nur für drei Freundschaftsspiele wurde dagegen Bremens Nationalspieler Torsten Frings gesperrt. Der 31-Jährige hatte in einem Test gegen Galatasaray Istanbul im türkischen Belek die rote Karte wegen Schiedsrichter-Beleidigung gesehen. sid

Olic, Ivica Eduardo, Carlos SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Tränen des Falken

Der reisende Show-Kämpfer Bruce Özbek war immer da, wenn das Boxgeschäft einen Verlierer brauchte - bis er an Demenz erkrankte

Hamburg - Auch heute warten sie wieder auf ihn in der "Ritze", der legendären Boxer-Kneipe auf der Hamburger Reeperbahn, in der es immer nach Schweiß riecht und Bier, egal um welche Zeit. Um fünf Uhr wollte er da sein, nun ist es bald sechs, "vielleicht hat er es ja einfach vergessen", sagt einer, und niemand lacht. Ein Handy klingelt. Bruce sei auf dem Weg, heißt es. Einen Kaffee wird er sich bestellen, mit Milch und Zucker, "ich trinke ja keinen Alkohol mehr", sagt Bruce Özbek, als er angekommen ist, ein Mann mit breiten Schultern und grauen Haaren im einfachen Anzug. Müde sieht er aus. Das machen die Medikamente. Er muss sie einnehmen, um ein Leben zu führen, das er leben kann, so wie er ist. Eines, in dem niemand sagen soll, er sei ein Verlierer.

Denn zu verlieren hat Bruce Özbek, der Blitz aus Stade, schon lange nichts mehr. Über hundert Kämpfe hat er in seinem Leben gekämpft und die wenigsten davon gewonnen. Dafür war er da. Jederzeit konnte man ihn anrufen, Bruce Özbek war immer verfügbar. "Wenn kurzfristig ein Gegner ausfiel, konnte man sicher sein, dass Bruce als Ersatz bereit steht", sagt Klaus-Peter Kohl vom Profiboxstall Universum. Auch wenn der Gegner zu dünne Handschuhe trug und sich dessen Knochen Runde um Runde in Özbeks Gesicht bohrten, als er selbst 85 Kilogramm wog und sein Gegner 120. Unzählige Male wurde er um den Sieg betrogen. Er lieferte trotzdem einen guten Fight. "Nie habe ich aufgegeben, nie war ich feige", sagt Özbek, der Journeyman.

Journeyman - so nennen sie einen wie ihn im Boxgeschäft. Dreißig Jahre lang ist er von Kampf zu Kampf gereist, sein Blick schweift über die Galerie der vielen Champions in einer Ecke der "Ritze", Eckhard Dagge und Jürgen Blin hängen hier, Axel Schulz und der Tiger, und während er von ihnen erzählt, ist es manchmal, als würden sie mit am Tisch sitzen. "Als Weltmeister abzutreten, das war immer mein Traum", sagt Özbek, sein Auge zuckt, eine Narbe zieht sich bogenförmig über die linke Braue. 1988 wurde Özbek in Ankara Weltmeister im Kickboxen, einer Sportart, mit der sich noch immer wenig Geld verdienen lässt. Er sattelte auf Boxen um, obwohl er wusste, dass die Beine seine größte Stärke waren.

Jetzt ist Özbek 44 Jahre alt, und am Samstag soll Schluss sein mit Bruce, dem Journeyman. Dann findet in Buxtehude seine Abschiedsgala statt, das Ende einer Karriere, die nie Glamour hatte, sondern immer nur Kampf war, und doch auch Show. Unvergessen sein Kampf 2002 im Münchner Cirkus Krone, als er seinen Gegner aus dem Ring boxte und seinen Sieg anschließend mit einem Spagat in der Luft feierte. Weil er mal durfte. Die Zeitungen druckten sein Foto auf der ersten Seite. So hätte es immer sein sollen. Doch ob das Leben so für ihn vorgesehen war oder sich in jedem Moment neu entschied, weiß heute niemand mehr so genau. Er hätte ja gehen können, nach jedem verlorenen Kampf. Er tat es nicht. Aber ist das heute noch wichtig?

An vieles wird sich Bruce Özbek bald nicht mehr erinnern können. Im Sommer vergangenen Jahres hatte er so starke Gleichgewichtsstörungen, dass er in der Innenstadt seiner Heimatstadt Stade zusammenbrach."Ich habe die Gullydeckel gezählt, um nach Hause zu finden", sagt er. Er fuhr nach Berlin, und die Diagnose war eindeutig, sie bestand aus einem Wort: Demenz. Sollte er noch einen einzigen Profikampf machen, könnte er sterben. Wenn er auf seiner Gala gegen andere Kämpfer antritt, dann sind es seine Freunde. Sie wissen um seinen Zustand, sie werden nicht zuschlagen. Sie wollen dem Boxer Özbek danken, der seinen Körper gegeben hat, damit andere unterhalten wurden. Bis der Vorhang fällt.

Tausend Karten hat er schon verkauft für seine letzte Gala, darauf ist er stolz, er lacht, seine Fäuste liegen vor ihm auf dem Tisch wie zwei Klumpen Ton. Einzelne Knöchel zeichnen sich kaum noch ab, sie sind verknorpelt und verwachsen. "Ich habe kein Gefühl mehr darin. Kommt vom vielen Schlagen, alles kaputt", sagt er, und haut die Hand auf die Tischplatte. Seine Nase lässt sich verformen wie Kinderknete. Er hat sich das Nasenbein entfernen lassen, seitdem kann er besser atmen. Deutschland hat ihn als Frührentner anerkannt, dafür ist Özbek sehr dankbar. Der reisende Mann ist sesshaft geworden. "Im Ring war ich immer auf Jagd", sagt er und breitet die Fäuste aus, so dass seine Arme wirken wie mächtige Schwingen, "die Beute habe ich nach Hause gebracht. Ich bin doch aufgewachsen im wilden Kurdistan, wo die Falken noch fliegen." Wild war er schon immer, und fast wäre der Sohn eines Gastarbeiters in die Halbwelt abgerutscht, vier Monate saß er wegen verschiedener Gewaltdelikte im Jugendknast. Sein Idol hieß Bruce Lee. Doch als er zu Hause in Manier seines Vorbilds die Kerzen aus dem Leuchter kickte, brach ihm der Vater mit seinen Schlägen den Kiefer. Erst dann wurde aus Bahattin, dem wilden Falken, Bruce Özbek.

Seit zehn Jahren hat er nun selbst Kinder. Sie heißen Bruce Lee und Muhammed Ali, sind zehn und zwei Jahre alt, und natürlich werden sie am Ring sitzen bei seiner Abschiedsgala, auch wenn sie ihn dann weinen sehen. Seine Frau war schließlich auch dabei, als ein Arzt in Berlin die Demenz feststellte und Özbek die gesamte Heimfahrt geweint hat. Jeden Tag achtet sie nun darauf, dass er seine Tabletten nimmt. Ohne sie würde er nicht einmal geradeaus laufen können.

Doch heute ist ein guter Tag, es gibt kaum ein Wort, das er nicht trifft, nur die Enden ducken sich manchmal weg. Dann beginnt er Sätze, von denen er nicht weiß, wo sie mit ihm hinwollen. Gäbe es einen Ringrichter in diesem Moment, er würde den Kampf abbrechen, so angeknockt sieht Özbek aus. Doch die Gabe der Rede rettet darüber hinweg. Er war schon immer ein Showman und großer Erzähler, der doch nie beschönigen musste, was er ist. "Hey Mann, dafür sind wir doch Boxer, dass wir ehrlich sind", sagt er und sein Blick ist ganz klar für einen Augenblick. So klar, dass man sich fragt, warum ihm der Abschied so schwer fällt. Er weiß nicht, wie das gehen soll, ein Leben ohne sein Boxen. Er will ja damit aufhören, nur das Boxen nicht mit ihm.

Der Kaffee ist ausgetrunken, Bruce Özbek geht hinab in den Keller der "Ritze", ein altes Boxgym, das man in zwanzig Schritten durchmessen kann. Noch immer fährt er jeden Tag von Stade nach Hamburg, um hier zu trainieren, es ist das Einzige, was seinen Tagen Struktur gibt. In der Mitte des Gyms steht ein Ring, es riecht nach Schweiß und Leder und Duschgel. Von der Decke hängen Sandsäcke, Sportler mit jungen Körpern springen Seil oder hämmern auf Sandsäcke ein, aus den Lautsprechern dröhnt AC/DC: TNT, I'm Dynamite, TNT, I'll win the fight. Özbek hat sich umgezogen, im Vorbeigehen zeigt er auf ein Poster mit seinem Gesicht darauf. "Das war mal der Blitz", sagt er.

Er spricht von sich in der Vergangenheit, und doch wirkt sein Körper nicht alt, im Ring bewegt sich Özbek ganz weich. Er schlägt ein paar Kombinationen in die Luft, dann gleiten seine Beine in den Spagat, ansatzlos, einfach so. Er legt seinen Kopf vor sich auf die Matte, ein fest umrissener Körper, wie von geraden Linien gezogen. Er sieht glücklich aus. Und ruhig, ganz bei sich selbst ist. Da ist kein Gegner, der ihn stört.

Am Samstagabend steigt er zum letzten Mal in den Ring. Danach wird sein Kampf ein anderer sein. Vielleicht der größte seines Lebens. Iris Hellmuth

"Als Weltmeister abzutreten,

das war immer

mein Traum"

"Nie habe ich

aufgegeben, nie

war ich feige"

30 Jahre lang ist er von Kampf zu Kampf gereist, am Samstag nimmt er Abschied: Bruce Özbek, 44 Jahre alt Foto: Hamburger Abendblatt

Özbek, Bruce: Beruf Özbek, Bruce: Karriere Profiboxen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hoffenheim weiht neue Arena ein

Schnuckelig, ohne Etikett

Sinsheim - Neuerdings ist es branchenüblich, große Sportstadien nach Handyanbietern, Versicherungsgruppen oder Brauereien zu benennen. Es wirkt daher beinahe anachronistisch, wenn Bundesliga-Herbstmeister 1899 Hoffenheim an diesem Samstag seine Rhein-Neckar-Arena einweiht. Hoffenheim liegt zwar an keinem der beiden Flüsse, sondern im Tal der Elsenz. Doch Mäzen Dietmar Hopp versteht seinen Heimatklub als Integrations-Lokomotive für die "Metropolregion Rhein-Neckar" mit 2,4 Millionen Menschen. So war es für den Bauherren Hopp eine symbolische Geste, dem neuen Stadion im Nachbarort Sinsheim den Namen jenes Sammelbeckens zu geben. Und kein Etikett eines Alleinsponsors.

Das "Dietmar-Hopp-Stadion" in Hoffenheim selbst war mehrere Nummern zu klein geworden, als 1899 im Sommer in die Bundesliga aufstieg. Nach einem furiosen Halbjahr im Übergangsasyl Mannheim ist nun die neue Heimspielstätte bezugsfertig. Die Bauskizzen der Rhein-Neckar-Arena wurden mutig schon zu Regionalliga-Zeiten gezeichnet, nach dem ersten Spatenstich im Frühjahr 2007 kamen die Bulldozer. In nur eineinhalb Jahren Bauzeit entstand für 60 Millionen Euro direkt neben der Autobahn A6 ein schnuckeliger, moderner Fußballtempel: 30 000 Besucher (internationale Spiele: 27 500) finden auf steil emporragenden Tribünen Platz, ein Membrandach bietet Wetterschutz. Im Inneren dominiert die Klubfarbe blau, außen umhüllt eine edle Glasfassade die Haupttribüne. Die erste neue Bundesliga-Arena seit dem 2006er-WM-Bauboom wird im Sommer 2011 auch Spielort der Frauen-WM sein. "Das Stadion", schwärmt Hausherr Hopp, "ist noch schöner geworden, als ich dachte." Einziges Ärgernis auf der Baustelle: Diebe stahlen rund 20 Flachbildfernseher.

Logen bis 2011 ausgebucht

Getauft wird die Arena am Samstag (15.30 Uhr) mit einem Freundschaftsspiel gegen - passend - eine Rhein-Neckar-Regionalauswahl. Hoffenheims Profis beziehen ihre neue 100-Quadratmeter-Umkleide, mit allerlei Hightech und einem Aufwärm-Kunstrasen. Einige Etagen höher stehen der zahlungskräftigen Kundschaft 1400 Business-Seats, 40 Logen (ausgebucht bis 2011) und eine Piano-Bar zur Verfügung. Nach dem Spiel am Samstag folgt ein Multmedia-Showprogramm - Überraschungsgäste inklusive.

Den Fans wäre es am liebsten, wenn bei dieser Party ein neuer Stürmer aus der Torte stiege. Denn getrübt wird das Weihefest von personellen Widrigkeiten, die den erfolgsverwöhnten Herbstmeister auf eine harte Probe stellen: Neben dem schwer verletzten Torjäger Vedad Ibisevic (Kreuzbandriss) versäumen auch Chinedu Obasi (Faserriss) und Carlos Eduardo (Sperre) den Rückrunden-Start. Trainer Ralf Rangnick sagt: "Es wäre naiv zu glauben, dass wir ohne diese Drei weiter so zaubern wie in der Vorrunde." Außer Demba Ba hat er im Angriff nur noch den bisher kaum berücksichtigten Brasilianer Wellington im Kader. Guter Ersatz für Ibisevic ist auf die Schnelle schwer zu finden. Eren Derdiyok vom FC Basel hat abgesagt, er steht bei Leverkusen im Wort. Weitere kolportierte Kandidaten wie der Däne Nicklas Bendtner, 21, vom FC Arsenal und der Ibisevic Österreichs, Mark Janko (Salzburg, bisher 30 Saisontore), erhalten offenbar keine Winter-Freigabe.

Sicher dabei sind beim RückrundenAuftakt 20 000 Dauerkartenbesitzer, 1899 hat nach einem riesigen Ansturm auf die letzten Abo-Tickets einen Verkaufsstopp verfügt. Treffpunkt der Stehplatz-Anhänger in der neuen Arena ist die Südtribüne. Diese Fankurve ist indes nach einer Brauerei benannt. Moritz Kielbassa

Weitere Bilder zum neuen Stadion unter www.sueddeutsche.de/hoffenheim

Platz für 30 000 Zuschauer in Sinsheim: die Rhein-Nackar-Arena dpa

TSG 1899 Hoffenheim Sportstätten in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Des Lebens Hälfte

Ein Film zum Leben des DDR-Stars Jenny Gröllmann

Eine Frau allein am weiten Strand, in der Ferne eine Kette Felsbrocken, zum Schutz gegen die Brandung des Meers. Ein Bild, in dem Einsamkeit und Furchtlosigkeit, Trauer und Trotz zugleich sich entfalten. Ein Bild aus dem letzten Sommer von Jenny Gröllmann, die ein kleiner Liebling des DDR-Kinos war (Foto aus "Dein unbekannter Bruder", Verleih), die sich nach der Wende im Fernsehen etablieren konnte - als Anwältin Isenthal in der Serie "Liebling Kreuzberg" - und die schließlich den Verdacht bekämpfen musste, sie sei als Stasi-Spitzel aktiv gewesen - ein Vorwurf, den ihr Ex-Ehemann Ulrich Mühe rigoros erhob, als er für seinen großen Erfolg, "Das Leben der Anderen", sich engagierte.

Am 9. August 2006 ist Jenny Gröllmann gestorben. Petra Weisenburger begleitet sie in ihrem Film "Ich will da sein" die letzten Monate, zeigt die Krankheit, die Empörung. Der Film ist ein Plädoyer für eine Frau unter Verdacht - unter dem generell das ganze Land nach der Wende zu stehen schien. Ein Verdacht, der krankhaft war . . . Ich spürte, wie die Metastasen sich wieder regten, als diese Geschichte hochkam, sagt Jenny Gröllmann im Film. Ohne die Vorwürfe, sagen ihre Freunde, hätte sie sicher ein halbes Jahr länger leben können. Der Film fängt den Zauber einer Frau ein über die Huldigungen der Männer, ihre Vergleiche mit Romy und Cardinale und Signoret. Sie war eine Prinzessin, sagt der eine, sie war immer Geliebte, der andere, immer verliebte sie sich bei den Dreharbeiten. Das ist naiv, manchmal ein wenig peinlich, und wird durch die Ausschnitte aus den Filmen doch immer bestätigt - auch die repressive DDR kannte Lebenslust, Nouvelle Vague, den tourbillon de la vie. Einen blinden Fleck nur gab es, das Verhalten von Ulrich Mühe. 1984 spielte das Traumpaar der Defa in "Hälfte des Lebens" Hölderlin und Suzanne. Und die Verbitterung zeigte sich, über die Deutschen, "dumpf und harmonielos wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes . . . Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre . . ." FRITZ GÖTTLER

ICH WILL DA SEIN - JENNY GRÖLLMANN, INFO ] LINKS ] KOMMENTARE ]D 2008 - Regie, Buch: Petra Weisenburger. Kamera: Thomas Mauch, Martin Gressmann, Wojtek Szepel, Max Zaher. Ton, Schnitt: Klaus-Peter Schmitt. Defa-spektrum, 95 Minuten.

/ KOMMENTARE ]/ LINKS ]/ INFO ]

Gröllmann, Jenny Weisenburger, Petra Ich will da sein-Jenny Gröllmann SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Geschlagen in der 97. Minute

"Heute war Super-G", sagte der norwegische Skirennfahrer Aksel Lund Svindal (Foto: AFP) am Freitag in Kitzbühel, "darauf konzentriert man sich und denkt nicht an das, was auf der Abfahrt passierte." 24 Stunden zuvor im Abschlusstraining, als der Schweizer Daniel Albrecht bewusstlos abtransportiert wurde. Der Tag danach begann mit einem Bulletin des Schweizer Teamarztes Menetrey: Albrecht habe eine ruhige Nacht verbracht, sein Zustand sei stabil. "Heute war es einfacher für uns, wie wir wussten: Dani ist o. K., und es sieht gut aus für seine Zukunft", sagte Albrechts Teamkollege Ambrosi Hoffmann. Er wurde Dritter hinter Svindal. Lange sah es danach aus, dass niemand die beiden überholen könne, und Österreichs Speedpiloten eine Woche nach dem Desaster vom Lauberhorn die nächste Niederlage kassieren würden. Dann geschah aber das, was ÖSV-Alpinchef Hans Pum umschrieb mit dem Vergleich, ". . . wie wenn man im Fußball in der 97. Minute Ausgleich und Siegtor schießt". Das gelang mit Startnummer 26 Klaus Kröll, der 1. noch nie ein Weltcuprennen gewonnen hatte, 2. in Wengen eine Handverletzung erlitt, die zuerst als Prellung diagnostiziert wurde, sich später als Bruch herausstellte, und zwar als dreifacher. Der Steirer zu Punkt 1: "Ich dachte immer: Wenn das mal passiert, wäre Kitzbühel der richtige Ort dafür." Es passierte mit 22/100 Sekunden Vorsprung. Punkt 2 wurde mithilfe einer Carbonschiene erledigt. Kröll, 28: "Ich kann die Stöcke halten und bin im Rennen schmerzfrei." Ganz Österreich war erleichtert, desgleichen Andreas Strodl (Partenkirchen) - weil er als 24. seine ersten Weltcuppunkte im Super-G holte und weil er "viel besser fuhr als im Abfahrtstraining, als ich eine Menge Glück hatte". Da überstand er wie Albrecht den Zielsprung nicht, kam aber unverletzt davon. "Da habe ich ziemlich viel falsch gemacht", war die Selbsterkenntnis des 21-Jährigen. Am Freitag machte er ziemlich viel richtig. gä

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Platz sieben im Sprint von Antholz

Greis' Rückkehr

Antholz (dpa) - Doppel-Weltmeister Emil Hegle Svendsen hat mit seinem vierten Saisonsieg die Gesamt-Weltcup-Führung ausgebaut, Michael Greis mit dem siebten Platz in die Weltspitze zurückgefunden. "Ich bin super zufrieden", sagte der dreimalige Olympiasieger aus Nesselwang nach dem Biathlon-Weltcup-Sprint über 10 Kilometer in Antholz. Der Norweger Svendsen traf vor 14 000 Zuschauern alle zehn Scheiben und siegte in 24:52,5 Minuten mit 3,6 Sekunden Vorsprung vor dem Laufschnellsten, dem Schweden Björn Ferry. Mit Platz drei und 6,7 Sekunden Rückstand verteidigte der Pole Tomasz Sikora die Führung im Sprint-Weltcup. Greis büßte als Drittschnellster in der Loipe nur 3,9 Sekunden auf Ferry ein, musste aber als einziger der ersten Neun in die Strafrunde.

Im Ziel verschwand der Allgäuer für einige Zeit im Umkleidezelt, behielt aber immer Blickkontakt zur Anzeigetafel. "Ich war vor dem Start etwas unsicher, wusste nicht, wo ich stehe. Der Ausfall wegen der Knieprobleme war alles andere als eine optimale Vorbereitung", sagte er. "In einer solchen Situation bist du auch vom Kopf her nicht richtig frei. Umso wichtiger war das gute Ergebnis." Greis lobte auch die Skitechniker: "Ich hatte heute einen Top-Ski. Das ist enorm wichtig für den Kopf. Wenn du weißt, dass du vom Ski her voll dabei bist, hält das die Motivation auf der letzten Runde hoch." Wie Greis haben auch Christoph Stephan (Oberhof) als Zwölfter und Arnd Peiffer (Clausthal-Zellerfeld) auf Platz 23 sowie Staffel- Olympiasieger Michael Rösch (Altenberg) auf Position 26 solide Ausgangspositionen für das Verfolgungsrennen am Samstag.

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Löw holt Frings zurück

Torsten Frings erhält offenbar im ersten Länderspiel 2009 der deutschen Nationalelf eine neue Chance. "Ich gehe davon aus, dass Torsten gegen Norwegen dabei ist. Ich habe schon vor der Winterpause einen Formanstieg bei ihm gesehen, er hat sich ordentlich präsentiert. Und ich denke, dass ihm die Winterpause gut getan hat", sagte Bundestrainer Joachim Löw in Bild über den Mittelfeldspieler von Werder Bremen. Löw, 48, wird wohl am 5. Februar sein Aufgebot für den Test gegen die Norweger (11.2., Düsseldorf) bekannt geben. Frings hatte im Herbst mit Rücktritt gedroht, nachdem ihn Löw nach der EM zum Reservisten degradierte. Für das England-Spiel im November (1:2) war Frings, 31, nicht nominiert worden. In Berlin hatte sich Löw mit Frings aber zu einer Aussprache getroffen und den Streit beigelegt. sid

Torsten Frings erhält offenbar im ersten Länderspiel 2009 der deutschen Nationalelf eine neue Chance. "Ich gehe davon aus, dass Torsten gegen Norwegen dabei ist. Ich habe schon vor der Winterpause einen Formanstieg bei ihm gesehen, er hat sich ordentlich präsentiert. Und ich denke, dass ihm die Winterpause gut getan hat", sagte Bundestrainer Joachim Löw in Bild über den Mittelfeldspieler von Werder Bremen. Löw, 48, wird wohl am 5. Februar sein Aufgebot für den Test gegen die Norweger (11.2., Düsseldorf) bekannt geben. Frings hatte im Herbst mit Rücktritt gedroht, nachdem ihn Löw nach der EM zum Reservisten degradierte. Für das England-Spiel im November (1:2) war Frings, 31, nicht nominiert worden. In Berlin hatte sich Löw mit Frings aber zu einer Aussprache getroffen und den Streit beigelegt.

Frings, Torsten Fußball-Nationalspieler SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Angst vorm Frack nehmen

Stefan Blunier ist neuer Generalmusikdirektor in Bonn

Manche Dirigenten lieben den Frack als eine Uniform, die ihnen auf dem Podium automatisch Haltung und Autorität verleiht. Bei Stefan Blunier wirkt der Schwalbenschwanz eher wie eine Verkleidung - ein ironisches Zitat aus Zeiten, in denen die unumschränkte Autorität in der Musik so selbstverständlich war wie im staatstragenden Militär. Seit dieser Spielzeit ist Blunier, der in seiner Verkleidung auf dem Podium fast tänzerische Eleganz ausstrahlt, Generalmusikdirektor der Stadt Bonn. Aber der gebür-tige Berner aus liberalem Elternhaus assoziiert den "General" im Titel eben nicht mit Feldherren und Machtmenschen, sondern mit der "generellen" Verantwortung fürs Theater.

Dass er schon kurz nach seinem Amtsantritt für dieses Haus vor und hinter den Kulissen schuftet, sieht man ihm an, wenn er vor der Probe von Richard Strauss' "Elektra" auf einen Kaffee erscheint: in Wolljacke, mit einen Dreitagebart, die mächtige Partitur mit eingeklemmten Taktstock unterm Arm. Am Sonntag ist Premiere, auf Tag und Stunde genau einhundert Jahre nach der Uraufführung der "Elektra" am Dresdner Opernhaus im Januar 1909. Obwohl die Bonner Premiere in der Inszenierung des Intendanten Klaus Weise ursprünglich später angesetzt war, hat Blunier für den symbolträchtigen Termin gekämpft. Er ist ein geschickter Marketingtaktiker, der schon als Musikchef am Staatsthea-ter Darmstadt wusste, wie man dem Bildungsbürger sperrige Programme verkauft und der Jugend die Angst vor Fräcken nimmt. Wie sein Kölner Kollege Markus Stenz hat Blunier die Neugier des Publikums als "basic instinct" (Stenz) erkannt, der immer wieder herausgekitzelt werden will: durch Überraschungszugaben, Raritäten, Filmprojekte und ein "Hardcore-Programm bei Jugendkonzerten", wie Blunier ganz unironisch anmerkt. "Wenn wir danach nur ein Prozent der Jugendlichen für die klassische Musik gewonnen haben, bin ich glücklich."

Die Chancen stehen gut - Blunier gehört mit 44 Jahren einer jüngeren Generation an als sein 72-jähriger Vorgänger Roman Kofman, der vor fünf Jahren seinen ersten Anstellungsvertrag im goldenen Westen unterschrieb. Die Tücken hiesigen Musiklebens ereilten den aus Kiew stammenden Kofman gleich im ersten Jahr, als die Geiger des Beethoven-Orchesters ihre Noten und Armbewegungen zusammenzählten und vor dem Arbeitsgericht eine bessere Bezahlung als ihre weniger oft spielenden Kollegen forderten. Solche Kabarettnummern haben den Ruf der Beamtenstadt Bonn zementiert und dem Ansehen des Orchesters dauerhaft geschadet. Die ersten Konzerte mit dem neuen Musikchef verrieten, dass es dem Beethoven-Orchester nicht an Klangkultur, wohl aber an Disziplin und Lust im Zusammenspiel mangelt.

Hier kann Blunier mit seiner ruhig-feinsinnigen Art und handwerklichen Kompetenz mehr fordern. Er tut es schon mit einem Repertoire, das den finanziell nötigen "Gemischtwarenladen" (Blunier) in der Oper durch Raritäten wie Karol Szymanowskis Bekenntnisoper "König Roger" bereichert. In dramaturgisch gewitzten Konzertprogrammen werden Ligeti und Strauss, Busoni und Liszt, Mahlers Siebte Sinfonie und Madrigale von Carlo Gesualdo kombiniert. Für die künftige "Verdichtung des deutschen schweren Repertoires" sollen dann Opern von Zemlinsky, Schreker und Schönberg sorgen. Und wenn Blunier mit Werken wie den nationalsozialistisch missbrauchten "Les Préludes" von Franz Liszt ungute Assoziationen im Publikum weckt, beruft er sich gern auf seine Neutralität als Schweizer, für den nicht die Geschichte, sondern die musikalische Qualität entscheide.

Natürlich wird auch der Namenspatron des Orchesters nicht vergessen. Neben dem Beethovenfest und der BeethovenNacht am Geburtstag des Meisters (16. Dezember) trägt auch ein Bonner Traum seinen Namen: das "Festspielhaus Beethoven", das nach einem Ratsbeschluss die akustisch und atmosphärisch problematische Beethovenhalle ersetzen soll. Hier will Blunier bei der Akustik und Logistik mitreden; und vielleicht erlebt er ja mit der Eröffnung der (finanziell noch ungesicherten) Halle dereinst seinen größten Triumph in Bonn.

Der neue "General" weiß also recht gut, was auf ihn an Arbeit zukommt. Dennoch würde Blunier, der 1984 zum Studium nach Essen kam und dann zielstrebig im deutschen Stadttheater aufstieg, nicht auf die eigene Mitgestaltung von den Spielplänen bis zu den Anstellungsverträgen verzichten wollen. Für den Jetset bleibt dann später noch Zeit. "Wissen Sie, Dirigenten werden meist so alt - da kann man schon mal langfristig planen."

MICHAEL STRUCK-SCHLOEN

Stefan Blunier, neuer Generalmusikdirektor in Bonn Foto: oh

Blunier, Stefan Dirigenten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Sündenfall des Papstes

Benedikt XVI. lässt einen Holocaust-Leugner wieder Bischof werden - ein beschämendes Signal

Von Stefan Ulrich

Vor genau 50 Jahren ging ein Ruck durch die katholische Kirche: Johannes XXIII. kündigte ein Konzil an. Es sollte als Zweites Vatikanisches Konzil Geschichte machen. Papst und Kirche öffneten ihre Tore zur modernen Welt. Sie bekannten sich zur Religionsfreiheit und zum Gespräch mit anderen Glaubensgemeinschaften und Religionen. Die Priester wandten sich bei der Messe dem Volk zu und redeten, statt auf Lateinisch, in dessen Sprachen. Sehr viele Katholiken fühlen sich heute in ihrer Kirche heimisch, weil diese vom offenen Geist und weiten Herzen des Konzils geprägt ist.

Nun fährt wieder ein Ruck durch die Kirche, doch es ist ein Ruck zurück. Benedikt XVI., einst reformfreudiger Konzils-Theologe, geht weit auf die Anhänger des verstorbenen Kirchenspalters Marcel Lefebvre zu. Er tut dies, obwohl die Lefebvristen den Geist des Konzils verneinen und die Kirchengeschichte um hundert Jahre zurückspulen wollen. Benedikt hebt dennoch die Ex-Kommunikation von vier erztraditionalistischen Bischöfen auf und sichert ihnen "väterliche Barmherzigkeit" zu. Einer der heimkehrenden Hirten verharmlost seit Jahren den Holocaust und leugnet die Gaskammern, zuletzt bei einem Besuch in Bayern vor wenigen Wochen. Gegen ihn ermittelt inzwischen die Justiz. Aber das schert den Heiligen Stuhl nicht.

Die Aussöhnung des Papstes mit einem widerwärtigen Antisemiten ist bestürzend. Benedikt beruft sich darauf, die Tiraden des Bischofs hätten nichts mit dessen Kirchenausschluss vor mehr als 20 Jahren zu tun. Dabei verkennt der Papst, dass das Oberhaupt von mehr als einer Milliarde Katholiken nicht im luftleeren Raum der Dogmen und des Kirchenrechts operiert. Mit der Rehabilitierung des Bischofs sabotiert Benedikt XVI. vielmehr den christlich-jüdischen Dialog und bestätigt diejenigen, die sein Pontifikat zum Teil hart kritisieren.

Doch auch ohne den Holocaust-Leugner wäre die Versöhnung mit den Lefebvristen ein falscher Schritt. Gewiss muss dem Papst an der Einheit der Kirche gelegen sein. Doch was Benedikt XVI. am rechten Rand zurückgewinnt, könnte er in der Mitte verlieren. Viele Katholiken sehen es als Aufgabe ihrer Kirche, sich mit Andersgläubigen für eine menschenwürdige Welt einzusetzen. Sie wünschen, dass ihr Pontifex Brücken baut, etwa zu den reformierten Kirchen und zum Judentum. Doch hierbei lässt Benedikt oft den Großmut vermissen, mit dem er nun Reaktionäre umarmt.

Die Päpste seit Johannes XXIII. haben viel getan, ihrer Kirche Härte und Hochmut auszutreiben und sie mit der Moderne zu versöhnen. Johannes Paul II., einem konservativen Mann, war besonders an der Versöhnung mit dem Judentum und am Gespräch der Religionen gelegen. Seine Friedensgebete in Assisi belegen dies ebenso wie sein Auftritt an der Klagemauer in Jerusalem. Nun wirkt es, als wollte Benedikt XVI. diesen Kurs korrigieren. Sein Zugehen auf die Erztraditionalisten ist ein Sündenfall.

Benedikt 16, Papst Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum Leugnen des Holocaust Katholische Bischöfe SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Haas chancenlos gegen Nadal

Bittere Erkenntnisse

Melbourne - Es begann gut. Vielversprechend. Nach zehn Minuten leuchteten die Ziffern "2" und "0" an der Anzeigetafel der Rod Laver Arena. Von den ersten 16 Punkten, die im letzten Drittrunden-Match des Samstags gespielt worden waren, hatte Tommy Haas zehn gewonnen. Gleich bei erster Gelegenheit war ihm ein Break gegen Rafael Nadal geglückt. Die Filzkugel flog mit Wucht durch die kühle Abendluft. Hin und her. Je länger sie aber flog, desto deutlicher wurde, auf welcher Seite des Netzes die aktuelle Nummer eins der Weltrangliste stand. Die Schwäche im ersten Aufschlagspiel blieb Nadals einzige. Nach zwei Stunden und vier Minuten hatte er 6:4, 6:2, 6:2 gewonnen - und Haas sagte: "Er war heute einfach besser." Das war er wirklich. Ohne viel Übertreibung gab Nadal an: "Das war mein bestes Match, das ich bislang in Australien bestritten habe."

Mit gemischten Gefühlen trat Tommy Haas folglich die Heimreise nach Bradenton/Florida an. Einerseits haben ihm die Australian Open 2009 gezeigt, dass er auch nach monatelanger Pause aus dem Stand noch ganz gut mithalten und sich auch im Alter von 31 Jahren auf dem Center Court sehen lassen kann. Andererseits bescherten sie ihm eine bittere Erkenntnis: Den Szenegrößen wird er wohl nicht mehr gefährlich werden können, auch wenn er noch so klug Stopps und Lobs in sein Spiel streut. Seinen Traum, einen Grand-Slam-Titel zu gewinnen, muss er wohl aufgeben. Was überwiegt, das Gefühl der Genugtuung oder der Ernüchterung? "Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden", sagt Haas: „Ich muss mehr spielen, um in solchen Matches in den entscheidenden Momenten wieder zu wissen, was ich zu tun habe."

Heikles Thema Davis Cup

Erst einmal will er sein Leben als Tennis-Profi neu ordnen. Einen Trainer hat er nicht, die Zusammenarbeit mit Dean Goldfine ging über die jüngste Schulterverletzung zu Bruch. In Melbourne standen Haas der Schwede Thomas Högstedt und Patrik Kühnen zur Seite. Beim Davis-Cup-Chef hatte Haas kurz vor Weihnachten erst angefragt. Eine langfristige Liaison ist nicht geplant. Vom 9. Februar an will Haas in San Jose spielen, in der Woche darauf steht das Turnier in Memphis auf seinem Plan. Nach den großen Veranstaltungen in Indian Wells und Miami will er schauen, wie sich seine Weltranglisten-Notierung entwickelt.

Im Moment wird er an Nummer 79 geführt. Bei den großen Sandplatzturnieren in Monte Carlo, Rom und Madrid wird er damit nicht ins Hauptfeld kommen. Auf die Qualifikation hat Haas auf dem ungeliebten, langsamen Untergrund, der seine ausgeleierte Schulter besonders stark strapaziert, keine Lust. Bei den BMW Open in München (ab 4. Mai) wird er wohl aus Pflichtbewusstsein antreten. Bei den German Open in Hamburg, die in diesem Jahr erst im Juli gespielt werden, wird er dagegen nicht zu sehen sein. "Mit der Kälte und den Bällen - das geht für mich gar nicht mehr. Damit habe ich seit Jahren abgeschlossen", sagt Haas. Statt in seiner Geburtsstadt wird er wohl in Indianapolis spielen. Glücklich ist er darüber nicht: "Ich würde mir wünschen, dass es in Deutschland wieder ein Hallenturnier gäbe. Vielleicht in Stuttgart, in der Porsche-Arena, in der auch die Frauen spielen."

Das Thema Davis Cup ist ebenfalls ein heikles. Anfang März steht in Garmisch-Partenkirchen die Erstrunden-Partie gegen Österreich an. Der Gegner ist nicht zu unterschätzen. Stefan Koubek hat in Melbourne in der ersten Runde den Russen Michail Juschni bezwungen. Jürgen Melzer kam in Runde drei, wofür er unter anderem den Ravensburger Andreas Beck 5:7, 7:6, 6:4, 6:3 niederrang. Melzer und Julian Knowle bilden zudem ein eingespieltes Doppel. Ein rein deutsches Duo trat dagegen in Melbourne nicht an. Ohne Haas könnte es in Garmisch spannend werden, zumal Philipp Kohlschreiber nach seinem Ausscheiden in Runde zwei gegen Fabrice Santoro seine Aversion gegen Matches kund tat, in denen er womöglich fünf Sätze spielen muss. Teamchef Patrik Kühnen haben diese Aussagen "überrascht und gewundert". In den nächsten Wochen will er mit dem 25-Jährigen ein ernstes Gespräch führen. Thema: Wo will ich als Tennisspieler hin. Was bin ich bereit, dafür zu tun?

Mit Haas hat Kühnen über den Davis Cup noch nicht gesprochen. Er wollte ihm "erst einmal Zeit lassen, sich wieder einzufinden". Ebenfalls ungewiss sind die Aussichten für Nicolas Kiefer. Der 31-Jährige laboriert an einem doppelten Bänderriss. Wann er wieder Tennis spielen kann, ist ungewiss. Um sich alle Optionen offen zu halten, will Kühnen das Team für das Duell mit Österreich kurzfristig berufen. Der letzte Termin ist zehn Tage vor der Auslosung. Die findet am 5. März statt. René Hofmann

Das war's dann: Tommy Haas ist in Melbourne ausgeschieden. Foto: AP

Haas, Thomas: Leistung Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Weißwürste und Spiele

Die Finanzkrise belastet, Abfahrer Albrecht liegt im Koma - und Kitzbühel inszeniert manch bizarren Auftritt

Kitzbühel - "Das ist das Highlight im Weltcup", sagt der österreichische Michael Walchhofer über die Kitzbüheler Hahnenkammrennen. Das Highlight hat schon mal heller geleuchtet, was nicht nur an dem Schatten liegt, den der Unfall des Daniel Albrecht im Abfahrtstraining über das Skifest warf. Es gibt diesmal keine einzige Präsentation der alpinen Sportartikelbranche, die sich noch vor einem Jahr derart hochfrequent ins Zeug legte, dass der Interessent stark ins Schleudern kam beim Koordinieren der Termine. Die Ausrüster lassen sich ihr sportliches Engagement genug kosten, die Abverkäufe der Skibranche sind weiter schleppend, und auch an dieser Sparte geht eine Entwicklung nicht schadlos vorbei, die auf dem Titel des örtlichen Immobilien Lookbook angerissen wird: "Die Finanzkrise - Auswirkungen auf den Kitzbüheler Immobilienmarkt." Es folgt aber sogleich Entwarnung. Besagte Auswirkungen gebe es nicht, sondern 3500 Euro pro Quadratmeter könnten in der Gamsstadt durchaus noch erzielt werden. Das beruhigt den Investor.

Das Highlight des Weltcups ist die Sause am Hahnenkamm immer noch, der Mythos lebt und hat neue Nahrung bekommen vergangenes Wochenende in Wengen, wo die Österreicher Pranger und Herbst zwar im Slalom die Plätze eins und zwei belegten, aber tags zuvor ihre Kollegen auf der Abfahrt eine Niederlage skihistorischer Dimension beigebracht bekamen. Darüber witzelte das Schweizer Massenblatt Blick in Anspielung an die Stelle, an der einst für die Favoriten Toni Sailer und Anderl Molterer das Rennen ein abruptes Ende nahm, 2009 sei das Österreicherloch viereinhalb Kilometer lang gewesen. So bedauerlich das Abschneiden von Wengen für die Downhiller von Team Austria einerseits war, so perfekt eignet es sich für die Kitzbüheler Kampagne: Es ist eine General-Revanche ausgerufen. "Das war die erste Meldung nach Wengen", sagte Walchhofer nach dem Auftakttraining, in dem er der Schnellste war. "Aber die wahre Antwort kann nur ein Ergebnis sein von der Art, dass den Schweizern das Lachen vergeht."

Eine Gala weniger

Bei denen hat schon vor dem Rennen niemand mehr gelacht aus anderem, ernsterem Grund: Der Sorge um Daniel Albrecht, der noch in der Uniklinik Innsbruck im künstlichen Koma liegt. Es soll nicht verschwiegen werden, was der Betroffene am Tag vor seinem Sturz angekündigt hatte: "Ich bin hier, um den Österreichern die Party zu verderben."

Als er im Rettungshubschrauber abtransportiert war, hat der DJ im Zielraum das Thema vorgegeben, indem er The Show Must Go On von Queen auflegte. Für die Show sind sie bestens gerüstet, nicht nur sportlich mit einer Streifabfahrt, die nach einhelligen Urteil so gut präpariert sei wie seit Jahrzehnten nicht mehr: Hart, aber ganz ohne Wellen und Schläge (wodurch freilich das Tempo steigt), gesellschaftlich sowieso.

Zwar war es ein leichter Schock, dass die Privatbank, die mit ihrer Gala im Rasmushof traditionell den Reigen der Festivitäten eröffnet, diesmal stornierte, aber ansonsten wird zu den üblichen Amüsements geladen - zur Kitz Night in den Sonnbergstub'n der jodelnden Wirtin Rosi Schipflinger, zur KitzRaceParty, zur Weißwurstparty beim Stanglwirt nahebei in Going, bei der sich vergangenes Jahr Fiona Pacificio Griffioni-Grasser (vormals bekannt als: Swarovski) darüber aufregte, dass sie fotografiert wurde. Der Ingolstädter Autohersteller, der den Generalsponsor macht, hat wie üblich und für Freitagnacht das Hotel Tenne angemietet. Da wird der lange rote Teppich ins Zentrum von Kitz gerollt, und der deutsche Showmaster Thomas Gottschalk mit seiner Thea lange im Blitzlichtgewitter stehen. "Unsere Partner planen langfristig", sagt Harti Weirather, 1982 Abfahrtsweltmeister, heute stark positioniert im Sportmarketing, der die Hahnenkammrennen vermarktet, "es wurden keine Events gestrichen", und zur Garnitur seines Vip-Zeltes hat er überschlagsweise eine halbe Christbaumplantage abräumen lassen.

Es ist angerichtet für die Show, in der einen der frühen Acts Mathias Lanzinger mit einem bizarren Auftritt lieferte: Der Salzburger, dem nach einem schweren Sturz im Super-G von Kvitfjell vergangenen März der linke Unterschenkel amputiert werden musste, zelebrierte seine Rückkehr auf Ski nach 326 Tagen ausgerechnet am Hahnenkamm, bei der Besichtigung vor dem Abschlusstraining unter beträchtlicher Medienaufmerksamkeit.

Kommt Mausi Lugner?

Der Sponsor wird sich gefreut haben, der Prothesenbauer war ein gefragter Gesprächspartner im Zielraum. Eine Stunde später erhielt Daniel Albrecht an gleicher Stelle die Notversorgung nach seinem Flug, der nicht nur fatal war, sondern auch außergewöhnliche Fotostrecken lieferte. So was nährt den Mythos des Ereignisses. Die Show geht weiter, die nächste brennende Frage ist, ob man Mausi Lugner Samstag auf der Vip-Tribüne sehen wird. Aus dem Dschungelcamp wurde sie rechtzeitig für Kitz freigelassen. Wolfgang Gärner

Abfahrt Männer im Alpinen Ski-Weltcup Kitzbühel SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Traum - schier unerreichbar

Die Grünen beschwören sich selbst, doch zurück zur Macht führt derzeit kein direkter Weg

Von Daniel Brössler

Wenn man in Hessen gerade das beste Ergebnis aller Zeiten erzielt hat, fühlt es sich naturgemäß gut an, grün zu sein. Das SPD-Desaster vom 18. Januar hat den Grünen Wellness-Wahlen beschert. Davon zehren sie, weshalb sie ihren Europa-Parteitag in Dortmund in ungetrübter Harmonie inszenieren konnten. Wellness wirkt entspannend. In schwierigen Zeiten mag das angenehm sein. Es kann aber auch einlullen. Im Superwahljahr wäre das gefährlich. Parteichefin Claudia Roth hat die Parole ausgegeben, die Grünen müssten zur dritten Kraft in Deutschland werden. Spätestens hier stößt grünes Wohlgefühl auf missliche Realität.

Diese Realität wird zunächst geprägt von der schweren Wirtschaftskrise, die für alle Parteien Risiken birgt - also auch für die Grünen. Entstanden im Protest gegen die Umweltvergessenheit einer Wohlstandsgesellschaft, haben sie es nun mit einem Wahlvolk zu tun, das im Laufe des Jahres immer stärker getrieben sein wird von der kollektiven Angst vor dem Abstieg. Ökologische Umkehr preisen die Grünen nun auch an als Schlüssel zur Lösung der Probleme in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Wollen sie vor ihrer Kernklientel bestehen, bleibt ihnen dazu auch gar keine Alternative.

Die eigentliche Herausforderung der Partei aber wird darin bestehen, Wähler außerhalb dieser Klientel zu gewinnen. Das erfordert einen Spagat, der auch in Dortmund deutlich geworden ist. Groß ist die Sehnsucht der Grünen nach klarer Profilierung gerade in schwieriger Zeit. Groß aber auch der Wunsch, niemanden durch zu radikale Positionen zu verprellen. Das mit Verve vorgetragene Nein zum unpopulären Konjunkturpaket im Bundestag vereint beides: deutliche Abgrenzung von der großen Koalition und die dringend nötige Selbstdarstellung in der Disziplin seriöse Wirtschaftspolitik.

So weit die Theorie. In der Praxis nehmen es die Grünen in Kauf, mit gespaltener Zunge zu sprechen. Das voraussichtliche Ja zum Konjunkturpaket im Bundesrat mit den Stimmen der grün mitregierten Stadtstaaten Hamburg und Bremen fordert das ganze dialektische Geschick der Grünen. Man verhindere, heißt es nun trotzig in einem Beschluss des Dortmunder Parteitages, dass Murks noch weiter vermurkst werde. So vereitele man die von der FDP betriebenen Steuersenkungen.

Zu dieser Doppelzüngigkeit bietet sich den Grünen letztlich keine vernünftige Alternative. Zunächst einmal, weil sich die verarmten Bremer ihr Ja zum Konjunkturpaket ohnehin nicht hätten verbieten lassen. Zum anderen aber, weil von Guido Westerwelle und seinem nach der Hessen-Wahl unbescheiden vorgetragenen Machtanspruch die größte Bedrohung für die Grünen ausgeht. Bisher gibt es allen Wünschen von Parteichefin Roth zum Trotz nämlich keine Anzeichen dafür, dass aus dem Wettkampf der drei Kleinen im Fünf-Parteien-System ausgerechnet die Grünen als Champion hervorgehen könnten. Weil das so ist, relativieren sich die jüngsten Erfolge der Grünen. Sie weisen, geschieht nichts Unwahrscheinliches, zumindest keinen direkten Weg zurück zur Macht. Zu weit hat sich wegen der Schwäche der SPD eine Wiederaufführung von Rot-Grün zum unerreichbaren Traum entfernt.

Andere Optionen bleiben zwar, aus grüner Sicht aber haben sie sämtlich eher das Zeug zum Albtraum. In jeder denkbaren Konstellation bliebe ihnen voraussichtlich nur die Rolle des Junior-Junior-Partners nach der FDP - in der schlimmsten aller Varianten als Mehrheitsbeschaffer Angela Merkels, wenn es für Schwarz-Gelb nicht reicht. Die Partei muss daher das Kunststück vollbringen, ihre Wählerschaft zu mobilisieren angesichts von Perspektiven für eine Regierungsbeteiligung, die wahlweise unscharf oder unerfreulich sind. In Entscheidungsjahr 2009 starten die Grünen aus keiner aussichtslosen Position. Die Zeiten für Wellness aber sind vorbei.

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Kommentare

Bittere Enttäuschung

China verliert an Kraft und die Weltwirtschaft ihr Zugpferd

Von Catherine Hoffmann

Seit kurzem ist es bestätigt: In der Rangliste der stärksten Wirtschaftsnationen zog China an Deutschland vorbei. Nachdem die Regierung das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts für 2007 von 11,9 auf 13 Prozent nach oben korrigierte, steht die Volksrepublik an dritter Stelle auf der Liste der Wirtschaftsmächte hinter den USA und Japan. In Peking wurde die Nachricht gefeiert.

Doch die Freude war verfrüht. Die chinesische Wirtschaft kann sich dem Abwärtssog der Weltkonjunktur nicht entziehen. Dabei kämpfen die Politiker aus Furcht vor sozialen Unruhen um jedes Prozent Wachstum. Für dieses Jahr haben sie sich acht Prozent zum Ziel gesetzt. Es könnte zu ehrgeizig sein.

Kaum hat sich die Welt an den Gedanken gewöhnt, dass von den enormen Gewinnen der Banken nicht mehr bleibt als von zerplatzten Seifenblasen, wartet schon der nächste Schock: ein Einbruch des Wachstums in China. Es wäre eine wirklich böse Überraschung, denn das Reich der Mitte war in der Vergangenheit stärkster Wachstumsmotor der Weltwirtschaft. Jetzt steckt das Land in einer Rezession, auch wenn die offiziellen Zahlen anderes behaupten: Im vierten Quartal wuchs die Wirtschaft nur noch um 6,8 Prozent, halb so stark wie 2007. Doch selbst diese Zahl dürfte noch geschönt sein. Im Vergleich zum Vorquartal jedenfalls sei das chinesische Wachstum nahe null oder sogar negativ gewesen, schätzen unabhängige Ökonomen. Im ersten Quartal 2009 sähe es noch düsterer aus.

Schon warnt der Internationale Währungsfonds, das Wachstum könnte in diesem Jahr nur noch fünf Prozent betragen. Was in Deutschland eine phantastische Zahl wäre, ist viel zu wenig, um die Millionen Chinesen zu beschäftigen, die jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängen. Vielleicht reicht die chinesische Wachstumskrise tiefer und dauert länger, als es sich die kommunistischen Politiker und vom Staat bestellten Statistiker wünschen. Der Frühindikator der OECD für China jedenfalls steht deutlich tiefer als der für Spanien - und das Mittelmeerland steckt bekanntermaßen tief im Schlamassel.

Sollte Asien nicht immun sein gegen den globalen Abschwung? Die Idee von der Abkoppelung erweist sich als Illusion - aus einem einfachen Grund: Die Region ist mehr denn je abhängig vom Handel mit dem Rest der Welt. Exporte machen beinahe die Hälfte der Wirtschaftsleistung aus, deutlich mehr als vor zehn Jahren. Doch die Nachfrage aus den USA und Europa ist weggebrochen, seit die Finanzkrise dort Verbraucher und Unternehmer zum Sparen zwingt.

Aber das ist nur ein Grund für die Misere. Der andere ist hausgemacht: Chinas Wirtschaftsleistung stieg vor allem auch deshalb so kräftig, weil Staatsbetriebe und private Firmen enorm viel Geld in Gebäude und Straßen investiert haben. Seit Mitte vergangenen Jahres lassen die Investitionen der asiatischen Unternehmen kräftig nach - und auch die Verbraucher zögern, Geld auszugeben.

Es ist offenkundig, dass die reichen Industrienationen Asien nicht vor dem Absturz der Konjunktur bewahren können. Asien kann sich nur selber helfen. Kann es wirklich? China versucht es mit noch mehr staatlichen Infrastrukturprojekten: Brücken, Straßen, Flughäfen sollen gebaut werden. Doch selbst das fast 600 Milliarden Dollar schwere Konjunkturprogramm dürfte kaum reichen, um den Abschwung aufzuhalten.

Die Verbraucher sind nicht dumm. Wenn heute großzügig Geld verteilt wird, werden sie die Geschenke morgen mit höheren Steuern bezahlen müssen. Das wissen auch die Chinesen. Die meisten leben ohnehin sparsam und halten ihr Geld zusammen, weil es keine vernünftige Sozialversicherung gibt. Seit China die Krise spürt, haben Tausende Fabriken geschlossen und Millionen Arbeiter ihre Stelle verloren. Die Chinesen selbst werden kurzfristig kaum Käufer all der Produkte sein, die im Westen gerade keiner mehr haben will. Jetzt zeigt sich, dass ein Wirtschaftswachstum, das vor allem auf billigen Löhne, boomendem Export und staatlichen Investitionen beruht, nicht von Dauer ist. Und der Weltwirtschaft fehlt das Zugpferd.

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Die Nummer eins geht in die Lehre

Jelena Jankovic' frühes Aus in Melbourne beschert dem Frauen-Tennis eine neue Unübersichtlichkeit

Melbourne - Jelena Jankovic versuchte alles. Als es im zweiten Satz eng wurde, bekreuzigte sie sich. "Ich hätte wirklich ein bisschen Hilfe gebrauchen können", gab die 23-Jährige an. Der Beistand blieb aus. Nach 82 Minuten stand es 6:1 und 6:4 - für die Französin Marion Bartoli, der damit zum Ende der ersten Woche der Australian Open eine Überraschung glückte, die noch für einige Diskussionen sorgen wird. Bartoli ist die Nummer 17 der Weltrangliste, Jankovic wird vom Computer seit dem 11. August 2008 als Branchenführende ausgewiesen. Ein Grand-Slam-Turnier hat die Serbin noch nicht gewonnen, weshalb sie in Melbourne viel Zeit damit verbrachte, zu erklären, warum sie trotzdem die Beste sei. Ihr überzeugendstes Argument: "Ich fühle mich so." Das könnte sich bald ändern.

Im Frauen-Tennis ist einiges durch- einander geraten. Der Favoriten-Status ist nichts mehr wert. Egal, welche Ziffer hinter dem Namen steht - auf dem Spielfeld herrscht Ungewissheit. An Bartolis Auftritt war das gut zu beobachten. Die Tochter eines Arztes umschließt den Schläger bei der Rück- und bei der Vorhand mit zehn Fingern. 2007 hat sie mit der Technik in Wimbledon als Finalistin schon einmal für Furore gesorgt. Trotzdem zog sie als Außenseiterin ins Duell mit Jankovic. Als die im zweiten Satz aber Probleme mit ihrem ersten Aufschlag bekam, rückte Bartoli beim zweiten Aufschlag frech drei Meter ins Feld. Als sich Bartoli beim Stand von 5:4 und 40:0 drei Matchbälle boten, versuchte sie wiederum ihren zweiten Aufschlag ins Feld zu hämmern wie den ersten. So sieht demonstrative Unerschrockenheit aus. "Natürlich wusste ich, dass ich eine Chance gegen sie habe, wenn ich gut spiele", gab Bartoli nachher an.

Drei Frauen haben Chancen, Jankovic in dieser Woche die Nummer eins abzujagen: Serena Williams, Jelena Dementjewa und Dinara Safina. Die 22 Jahre alte Schwester von Marat Safin trat an diesem Sonntag unmittelbar nach Jankovic in der Rod Laver Arena an. Der Auftritt war alles andere als überzeugend. Gegen die Französin Alizé Cornet, die noch kein Grand-Slam-Viertelfinale erreicht hat, musste Safina zwei Matchbälle abwehren. Erst nach mehr als zwei Stunden hatte sie sich zum 6:2, 2:6, 7:5-Erfolg gezittert. "Heute war ich nur ein Schatten meiner selbst", sagte sie selbst.

Stagnierendes Spiel

Drei ehemalige Nummer-eins-Trägerinnen sind bereits ausgeschieden. Venus Williams unterlag in Runde zwei der 1,62 Meter kleinen Spanierin Carla Suarez Navarro, die Weißrussin Victoria Asarenka schickte Amélie Mauresmo zum Flughafen, die Siegerin von 2006. Ana Ivanovic, von der eine Uhrenfirma in ganzseitigen Zeitungsanzeigen behauptet, sie sei "schön - und auf dem Platz unwiderstehlich", scheiterte in Runde drei an der Russin Alisa Kleibanowa. Seit ihrem Sieg bei den French Open im vergangenen Frühjahr, hat Ivanovic kein Grand-Slam-Achtelfinale mehr erreicht. In ihrem Abschieds-Blog aus Melbourne stimmte sie das Lied an, dass alle Früh-Gescheiterten gerne singen: Gut, dass es nächste Woche schon wieder ein Turnier gibt, bei dem ich mich verbessern kann.

Verbessern. Das ist das große Thema der Frauen-Tour. Deren Marketing-Abteilung gibt sich alle Mühe, die neue Unübersichtlichkeit als Stärke zu verkaufen. Seht her, wie ausgeglichen und damit gut unser Spiel geworden ist! Die aktuelle Kampagne, die in TV-Spots beworben wird, heißt "Looking for a hero?" - sinngemäß: Auf der Suche nach einer Heldin? Als Beispiel wird unter anderem Maria Scharapowa angeboten. Die Titelverteidigerin ist in Melbourne gar nicht am Start. Sie ist verletzt und wird in der kommenden Woche auf der Weltrangliste nicht mehr unter den besten Zehn geführt werden.

Der häufige Wechsel auf dem begehrtesten Platz ist ein Symptom für das Dilemma, in das die Disziplin gerutscht ist: Das Frauen-Tennis stagniert. Die Letzte, die dem Spiel etwas Neues gebracht hat, war Justine Henin. Die zierliche Belgierin beherrschte eine Rückhand wie zuvor noch keine. Aus vollem Lauf schlug sie die Filzkugel ihren Rivalinnen um die Ohren. So war sie in der Lage, gegen körperlich übermächtige Gegnerinnen zu bestehen. Zuvor hatten die Williams-Schwestern dem Spiel um die Jahrtausendwende ein neues Element gebracht: eine Wucht, wie sie zuvor nur die Männer praktizierten, und welche Künstlerinnen wie Martina Hingis aus den großen Arenen vertrieb. Auf solche Errungenschaften können Jankovic, Ivanovic oder Safina nicht verweisen. Sie spielen alle ähnlich: geradlinig, und an guten Tagen beeindruckt ihre Entschlossenheit. An schlechten Tagen bricht ihr Spiel beim ersten Lüftchen zusammen wie ein Kartenhaus. Ivanovic schied in Melbourne aus, weil ihr in drei Sätzen 50 vermeidbare Fehler unterliefen. Jankovic versprach zum Abschied: "Ich werde versuchen, daraus meine Lehren zu ziehen und besser zu werden." Die Szenengrößte als Lehrling. Seit 1997 ist die topgesetzte Spielerin bei den Australian Open nicht mehr so früh nach Hause gereist.

Auffallendes Übergepäck

Das Ergebnis passt zu einer Diskussion, die in den örtlichen Medien bereits in der vergangenen Woche hitzig geführt wurde. Seit die Frauen das gleiche Preisgeld bekommen wie die Männer, wird bei ihnen besonders genau hingeschaut. Roger Rasheed, dem Trainer des Franzosen Gael Monfils, ist dabei aufgefallen, dass unter anderem die Australierin Casey Dellacqua einiges "Übergepäck" mit sich herumschleppe. Die Antwort kam umgehend. Der Mann habe keine Ahnung, konterte Dellacqua, die nach eigenen Angaben 1,65 Meter misst und 68 Kilogramm wiegt. Auch Margaret Court, die 1960 die Australian Open gewann und 1970 den Grand Slam schaffte, bekam einiges zu hören, als sie behauptete: "Ich glaube nicht dass die Spielerinnen heute so fit sind wie wir damals." Eine kühne These. Das Frauen-Tennis mag gerade einiges an Dynamik verloren haben. Beschaulich wie zu Zeiten der Holzschläger ist es aber nicht. René Hofmann

Ein Bild des Jammers: Die Weltranglisten-Erste Jelena Jankovic weiß sich gegen die Französin MArion Bartoli nicht mehr zu helfen. Foto: AP

Williams, Serena: Leistung Jankovic, Jelena Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Anfang, der nie aufgehört hat

Das Theater hatte sie 1993 in München zusammengeführt - was wurde aus den Helden von "Romeo und Julia"?

Anne-Marie Bubke sieht gut aus und vor allem gesund. Ihre Wangen sind ein wenig gerötet, ihr braunes Haar trägt sie offen, ihre Augen sind sehr hell und wach. Sie trägt eine Barbour-Jacke, in der sie ein wenig verschwindet. Sie fühle sich wohl hier draußen am Starnberger See, wo sie seit ein paar Jahren lebt. Seit dem Zusammenbruch. Seit dem Tag, an dem sie in den Spiegel schaute und ein Mädchen sah, das nicht mehr ganz jung war und deutlich zu dünn und das viel zu viel Theater gespielt und sich dabei verloren hatte.

Bei Leander Haußmann klingt es, als sei sie eine Blume, die er am Wegesrand gefunden hat und die zum ersten Mal bei ihm blühte und noch ein paar Jahre weiter blühte und dann welk wurde. Wolfgang Maria Bauer erzählt es so, als habe sie vielleicht zu viel riskiert, weil sie immer der Mensch war, den sie gerade spielte, weil sie immer alles gab und weil sie kein Netz hatte. Schließlich stürzte sie ab. Und als Guntram Brattia von ihr spricht, leuchten seine Augen, und er ist wieder Ende zwanzig. Jeder sah also vor allem sich selbst in ihr.

Es ist eine merkwürdige Verbindung, die sich zwischen diesen vier Theatermenschen spannt seit 16 Jahren, und im Gespräch über das, was damals und was seither passiert ist, verändert sich der Tonfall, wenn sie von Shakespeares "Romeo und Julia" am Münchner Residenztheater sprechen. Haußmann führte Regie, Bubke war die Julia, Brattia der Romeo, und Bauer spielte den Mercutio. Premiere war im Januar 1993. Es war eine der schönsten und folgenreichsten Inszenierungen jener Jahre - ein Anfang für vieles. Wobei ein Anfang, der nicht endet, auch ein Problem sein kann.

Damals schwebten sie. Man sieht es in ihren Gesichtern, wenn man sich die Inszenierung noch mal auf DVD anschaut. Man merkt es, wenn Brattia davon erzählt, wie er "direkt von der Alm ins Resi" kam und das Leben für ihn ein einziger "Honigtopf" war. Man spürt es, wenn Bauer sich auf seinem Stuhl aufrichtet und wieder etwas von der Energie hat, die ihn damals Runde um Runde laufen ließ in Mercutios wildem Todestaumel. Man fühlt es, wenn Bubke durch den oberbayerischen Wald läuft wie früher durchs M nchner Glockenbachviertel, ein paar Zentimeter über dem Boden. "Wir dachten, uns gehört die Welt", sagt Bauer und grinst wie jemand, der weiß, wie lächerlich so ein Gedanke im Grunde ist. "Und es war ja auch kurz so."

Das rote Herz pocht weiter

Und heute? Leander Haußmann hat sich gerade für 20 000 Euro eine neue Küche gekauft. Besonders begeistert ihn der Vorratsschrank, der sich öffnet wie eine riesige Schublade. Haußmann hat einen Deal mit der Bavaria, für die er zwei Filme drehen wird, er schreibt an einem Drehbuch über Hitler und Stalin und das Hotel Lux in Moskau, "eine bittere Komödie", wie er sagt. Sein nächster Film handelt von Alten und Dementen und der DDR-Show "Ein Kessel Buntes". Er wohnt mit seiner Freundin und zwei Kindern in einer großen Altbauwohnung in Friedrichshagen bei Berlin, direkt am Müggelsee. Vom Schlafzimmer aus kann er den Sprungturm sehen, von dem er als Junge seine Köpfer gemacht hat.

"Ich stell' mir schon so Fragen", sagt er. "Was habe ich in meinem Leben geleistet, was bleibt von mir?" Haußmann trägt ein braunes T-Shirt und um den Hals einen kleinen Totenschädel. Seine Haare sind grau und struppig, das Lächeln gütig und etwas besiegt. Er benutzt immer noch das Briefpapier aus Bochum, das mit dem pochenden roten Herzen. Von 1995 bis 2000 war er dort Intendant, "wegen ,Romeo und Julia' haben die mich damals überhaupt geholt", sagt er. Und wenn er davon erzählt, wird klar, dass diese turbulente Bochumer Zeit für ihn nicht vergangen ist.

Haußmann war der erste Intendant einer neuen Generation, er hat dem Theater einen Drall in Richtung Jugend und Gegenwart gegeben, und dazu gehörte auch, dass für ihn Theater ein Ort ist, "wo man Leute traf, die sich anschrien und prügelten vor Leidenschaft". Aber was konnte ihnen schon passieren, sie waren doch die Größten. "Ich bin demütiger geworden", sagt Haußmann heute. "Wenn man so will, ist das alles eine Geschichte von Niederlagen. Ich habe doch auch deshalb aufgehört, Theater zu machen, weil ich schlechter wurde."

Was vielleicht ehrlich ist, vor allem aber kokett. Wenn man sich heute den Prolog von "Romeo und Julia" anschaut, wie leicht der hingewischt ist, mit Slapstick, Sprachverwirrung, Spielerei und Andeutungsfülle, wie gut gebaut der ist und wie viel von dem, was im Theater immer noch so gemacht wird, dort bereits in fast ironischer Vollendung freigegeben wurde - dann zeigt sich Haußmanns Können, zu dem sich sein Hochmut gesellte, was bei einem Künstler nicht unbedingt ein Vorwurf ist. Und Anne-Marie Bubke, die ja tatsächlich manchmal wirkt, als sei sie gerade aus dem Nest gefallen, schwärmt so vom Regisseur Haußmann, dass das eigentlich ein anderer Mensch sein muss als der, von dem Wolfgang Maria Bauer erzählt.

"Nein, nein, nein", ruft Bubke mit dieser Stimme, die immer noch so charmant brüchig ist, was ihrer Julia etwas fast Verruchtes gab, "er war wunderbar, alles war so wunderbar. Wenn man das einmal erlebt hat, dann ist das schon ein sehr großes Glück. Aber natürlich ist es auch schwer, weil man das immer wieder sucht". Haußmanns damalige Freundin Christina Paulhofer hatte Bubke entdeckt, im kleinen Münchner Teamtheater, und Haußmann holte sie gleich auf die große Bühne und gab ihr, wenn man so will, die größte mögliche Rolle. Für ihn war sie sein Geschöpf, und so behandelte er sie gut.

Ganz anders gingen die Männer miteinander um, und die Kämpfe von damals wirken teilweise weiter bis heute. Wolfgang Maria Bauer, der eine rote Lederjacke trägt und etwas Heiter-Tragisches an sich hat, sagt über die Zeit von "Romeo und Julia": "Am glücklichsten war ich nach zwei, drei Flaschen Rotwein, ein paar Schachteln Zigaretten und einer eingeschlagenen Wand nachts um halb vier." Die wunderbare Verblendung und Verschwendung der Jugend eben und ein Elan, der Bauer zum Stückeschreiben führte und zur Regie, ihn zum Oberspielleiter in Heidelberg machte und schließlich zum Fernsehkommissar Siska. "Es gibt zwei Menschen, die mich gebrochen haben", sagt er, "einer davon ist Leander Haußmann."

Die Spannungen begannen schon auf den Proben. Bauer war der Außenseiter bei dieser Produktion, in der Romeo und Julia nicht nur auf der Bühne ein Paar waren. "Vögelt lieber erst nach der Premiere" - an diesen Satz Haußmanns erinnert sich Bauer noch. Haußmann wiederum spielte seine Macht aus, ließ Bauer auf einer Probe laufen und laufen, obwohl der eine schwere Nebenhöhlenentzündung hatte. Bis heute gibt er Haußmann nicht die Hand. Fünfzigmal rannte er als Mercutio im Kreis und starb, dann flog er am Residenztheater raus, weil er sich weigerte, in einer anderen Inszenierung schon wieder zu fechten.

Dass er fast immer den meisten Applaus bekam, führte, so Bauer, zum Bruch mit Guntram Brattia, "dem einzigen Mann, den ich wirklich geliebt habe". Natürlich erinnert sich Brattia anders. Es ging, sagt er, um Bauers Ex-Frau, mit der er während einer Produktion von "Kabale und Liebe" etwas angefangen hatte. "Das war dann das Ende", sagt Brattia. "Gunti ist zum Verlieben unberechenbar", sagt Bauer. Brattia ist der Einzige der vier, der dem Theater treu geblieben ist. Berlin, Frankfurt, Essen, Düsseldorf. Zwei Falten teilen sein Gesicht, er trägt einen schmalen Schnurrbart und eine karierte Kappe auf dem Kopf. Als seine Frau kommt, nimmt er kurz die Mütze ab, seine Haare sind spärlicher geworden. Sein kleiner Sohn sitzt neben ihm im Café und spielt mit einem Dinosaurier. Hier, im Arbeiterviertel Berlin-Wedding, hat Brattia sich vor ein paar Jahren eine Wohnung gekauft.

Brattia wirkt nachdenklich, weit weg von seiner Rolle als draufgängerischer Romeo, der artistisch mit einer zerbrechenden Leiter spielte und auf den Balkon kletterte. Er sagt: "Ich bin Schauspieler geworden, weil meine Freundin mit einem Schauspieler weglief." Mit zwanzig kam er aus Innsbruck nach München ans Residenztheater. "Ich wollte gleich wieder weg", sagt er. Und dann hat alles für ihn so funktioniert wie in einem Traum, "und doch nicht". An Jugend und Naivität, sagt er, hat es ihm damals nicht gefehlt - aber der Haußmann war dann doch "ein launischer Hund. Ich hatte sogar ein bisschen Angst vor ihm". Immerhin hielt ihm Haußmann die Rolle frei, als Brattia sich während der Proben verletzte. "Er braucht eben alle Liebe", sagt Brattia. "Und vielleicht habe ich nicht genug Liebe von ihm bekommen." Er sei "ganz oben auf der Welle eingestiegen", wie er sagt, und er ist nicht ganz oben geblieben.

Siska verweht

"Ich könnte nicht sagen, dass ich unglücklich bin", sagt Brattia, der sich mittlerweile auch wieder mit Bauer trifft, seit beide über "Romeo und Julia" gesprochen haben. Sie gehen mit ihren Kindern ins Schwimmbad. "Wir sind schon alte Säcke geworden", hat Bauer gesagt, der 45 ist, also nur ein paar Jahre älter als Brattia, "das alles ist schon ein Leben her." Bauer wohnt seit einer Weile in Berlin, wegen seiner Tochter, die hier bei ihrer Mutter lebt - wobei ihn die Stadt und die Umstände depressiv gemacht haben. Er ist nicht mehr "Siska", er dreht ein wenig und schreibt an seinem ersten Roman. War das nicht alles toll früher? "Nein", sagt er und schüttelt den Kopf. "Ich habe zu wenig genossen. Ich hätte mich auch mal hinsetzen können und lächeln."

Haußmann sagt das so: "Wir waren uns selbst genug." Und obwohl er ein paar sehr erfolgreiche Filme wie "Sonnenallee" und "Herr Lehmann" gedreht hat - irgendetwas in ihm ist noch nicht fertig mit dem Theater. "Wenn man kein Theater mehr macht", sagt er, "dann ist das ja fast, als ob man eine Glaubensgemeinschaft verlässt." Haußmann wird fünfzig in diesem Jahr. In seinem Büro stehen ein Stapel alter Schallplatten und ein Plattenspieler. Man könnte meinen, Haußmanns Leben oder seine Karriere dreht sich und dreht sich und kommt nicht von etwas los, das in der Vergangenheit war. Aber das täuscht wohl.

Anne-Marie Bubke, die zuletzt ein paarmal in Essen spielte, die Ophelia war und Antigone, und die so weg war, dass selbst ihre ehemalige Agentin ihre Telefonnummer nicht mehr hatte - Bubke wirkt heiter und fast befreit, dass sie jetzt, nach all den Jahren, vielleicht wirklich etwas anderes machen wird. Sie will nach Paris, sagt sie, mal sehen. Aber schön ist es auch hier, am Starnberger See, wo sie manchmal sieben, acht Stunden durch die Wälder läuft, einfach so. Was sie dabei macht? "Ich denke nach." Über was? "Über alles." GEORG DIEZ

Ein furioser Aufbruch, von dem sich die Protagonisten nie wieder erholt haben: "Romeo und Julia" mit Anne-Marie Bubke und Guntram Brattia. Foto: Rabanus

Nur einer der vier ist dem Theater bis heute treu geblieben: Leander Haußmann, Wolfgang Maria Bauer (obere Reihe von links), Guntram Brattia, Anne-Marie Bubke (untere Reihe) Foto: Davids/Passig; Sven Simon/pa; ddp; dpa/pa

Bauer, Wolfgang Maria Haußmann, Leander William Shakespeare's Romeo and Juliet SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gefährliches Leben auf Pump

Es ist eine unvorstellbar hohe Zahl mit zwölf Nullen: Auf mehr als eine Billion Euro wird in diesem Jahr erstmals die Verschuldung des Bundes steigen. Und auch die Neuverschuldung könnte mit insgesamt gut 50 Milliarden Euro den höchsten Wert seit Bestehen der Bundesrepublik erreichen. Das ist dramatisch. Trotzdem steht Deutschland besser da als andere EU-Staaten. Die sozialdemokratischen Finanzminister haben in den vergangenen Jahren noch vergleichsweise ordentlich gewirtschaftet. Doch das ist für die Zukunft zu wenig. In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, den Schuldenberg nicht höher werden zu lassen und langsam abzutragen.

Außergewöhnliche Krisen verlangen außergewöhnliche Antworten. Es gibt deshalb im Moment keine Alternative zum Anhäufen von Schulden. Der Staat muss Geld ausgeben, um die Konjunktur anzukurbeln und das marode Finanzsystem vor einem Kollaps zu bewahren. Die Ausnahme darf aber nicht zur Normalität werden. Schuldenrekorde sind nur in Notsituationen zu rechtfertigen. Sonst gefährdet Deutschland seine Kreditwürdigkeit, die im Vergleich zu anderen Industrienationen noch herausragend ist.

Es ist deshalb gut, wenn Bundesfinanzminister Peer Steinbrück seine Kollegen bereits wieder zur Sparsamkeit ermahnt. Auch die Pläne der Bundesregierung, eine im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einzuziehen, sind richtig. Die große Koalition sollte allerdings darüber nachdenken, ob eine strenge Defizitregel in der Verfassung wirklich erst von 2015 an gelten soll oder ob das nicht früher geht.Schon jetzt sind Zinsen und Tilgung der zweitgrößte Posten im Haushalt. Das Leben auf Pump nimmt künftigen Generationen die Luft zum Atmen. tö

Schulden der Öffentlichen Hand in Deutschland Folgen der Finanzkrise in Deutschland Wirtschaftspolitik in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Führungsspitzen

Der Zorn des Büffels

Was wir vom chinesischen Neujahrsfest und vom Einstein-Forum noch lernen können

Normalerweise hat es mit der Wahrsagerei nach Silvester ein Ende. Man kann es aber auch ein wenig hinauszögern, etwa indem man auf die Chinesen verweist, die nach ihrem Mondkalender erst an diesem Montag ins neue Jahr eintreten. Bei den weltweiten wirtschaftlichen und sonstigen Verflechtungen kann uns das nicht gleichgültig sein, und noch viel weniger sollten wir übersehen, wem dies neue Jahr gewidmet ist: dem Büffel, der in einer, wie gesagt, globalisierten Welt auch uns das eine oder andere zu sagen haben dürfte.

Wo immer man in den chinesischen Tierkreisweisheiten nach dem Wesen des Büffels forscht, stößt man auf folgenden Spruch: "Dem Büffel ist das frische Gras lieber als die goldene Futterkrippe." Auf den ersten Blick ist das eine nicht nur ziemlich witzige, sondern auch schlüssige Sentenz, obwohl Leute mit bäuerlichem Hintergrund dagegen einwenden könnten, dass dem Büffel solche Differenzierungen fremd sind. Sein Naturell ist, beim Essen jedenfalls, auf frisches Gras ausgerichtet, und solange das zur Verfügung steht, kümmert ihn die Beschaffenheit der Krippe wenig.

Bei aller fachlichen Richtigkeit gehen solche Einwände am Sinn der Sache vorbei. Das Sprichwort will uns eine Lehre fürs Leben mitgeben, und die kann nach Lage der Dinge nur lauten, dass die Tage der goldenen Futtertröge fürs Erste vorbei sind und dass es ferner noch keineswegs sicher ist, ob frisches Grünfutter nachkommt. Kurioserweise scheint das nicht für die Banken zu gelten, denen vom Staat das frische Gras in verschwenderischer Fülle vorgeschüttet wird. Nach vorherrschender Ansicht ist das gut keynesianisch gedacht und auf lange Sicht so profitabel, wie wenn man mit der Wurst nach dem Schinken würfe. Doch soll man auch hier auf den Chinesen hören, der da sagt: "Roubaozi da gou - you qu wu hui." Das heißt: Wirf nicht mit dem Fleischpastetchen nach dem Hund - du siehst es nie wieder

Geht man im alten Jahr so weit zurück, wie das chinesische Neujahrsfest in unser neues Jahr hineinragt, trifft man auf eine Tagung des Einstein-Forums, die sich mit der Genealogie des Zorns "von Achilles bis Zidane" befasst hatte. In der Presse wurde das unter anderem so referiert, als sei da endlich "eine Kraftquelle für Führungskräfte" aufgetan beziehungsweise wiederentdeckt worden: jener Zorn, der schon den alten Achill dazu befähigte, das vor Troja liegende Belagerungsheer der Griechen an den Rand des Untergangs zu bringen. Heute ist der Zorn Achills hoch zu preisen, weil er Homer dazu animierte, darüber ein ganzes Epos zu schreiben, die "Ilias", und nicht weniger lobenswert ist die Zorneswallung, dank derer Zinédine Zidane bei der Fußball-WM 2006 seinen Kontrahenten Marco Materazzi mit einem meisterhaften Kopfstoß zu Boden schickte.

Wir machen uns nun daran, die uns bekannten Führungskräfte nach ihrem Zorn-Faktor abzuklopfen und neu zu sortieren. Ein flüchtiger Überblick lässt vermuten, dass unter den vielen Zornigen nur wenige sind, die Zidanes oder gar Achills Format haben. Das ist, mit dem sanften Wowereit zu reden, auch gut so, denn trojanische Verhältnisse, ja schon Kopfstöße, sind das Letzte, was wir jetzt brauchen. Nichtsdestoweniger könnte es nützlich sein, sich für das laufende Jahr so "aufzustellen", wie es das chinesische Horoskop und das Einstein-Forum nahelegen: als dann und wann durchaus zornige Büffel. Hermann Unterstöger

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Auslöser Herpes-Infekt

Läufer Herms ist an einer Herzmuskelentzündung gestorben

München - Freitag war ein harter Arbeitstag für Christian Avenarius. Erst wurde eine bei einer Gewalttat lebensgefährlich verletzte 13-Jährige gefunden, wenig später bekam der Dresdener Oberstaatsanwalt den Obduktionsbefund für René Herms auf den Schreibtisch. Der rechtsmedizinische Befund verlautet, dass der 26-Jährige Leichtathlet "eines natürlichen Todes" gestorben sei. "Als Todesursache", gab Avenarius bekannt, "hat der Sachverständige eine durch Viren ausgelöste Entzündung der Herzmuskulatur (Virusmyokarditis) festgestellt. Infolge dieser Entzündung sei es zu einem plötzlichen Herzversagen gekommen." Damit werde das Todesermittlungsverfahren abgeschlossen.

Das viral bedingte, "beidseitige" Herzversagen ereilte den Athleten so überraschend, wie das aus den häufigen Fällen des so genannten "Sekundentodes" im Sport bekannt ist. Die Rechtsmediziner hatten Herms Witwe erklärt, die Herzmuskelentzündung sei durch eine schon länger zurückliegende Herpes-Infektion ausgelöst worden, berichtete der sid unter Berufung auf Herms frühere Managerin Kerstin Pohlers; Ursache könnten Röteln oder eine Gürtelrose gewesen sein.

Herms war am 10. Januar tot zu Hause vor dem Computer aufgefunden worden. Angehörige hatten bei letzten Kontakten mit ihm am Todestag zuvor keine Auffälligkeit bemerkt. Auch hatte der zwölfmalige deutsche 800-Meter-Meister, der zuletzt beim Dresdner SC trainierte, noch am 9. Januar trainiert. Trainer Dietmar Jarosch: "Wir haben uns ganz normal verabschiedet, es gab keine Anzeichen." Gleich nach der Todesbotschaft unterrichtete Herms' Verein LG Braunschweig seine Athleten per Mail, Herms habe einen grippalen Infekt gehabt. Ein LG-Vorständler teilte mit, dass Herms kürzlich einen Laktattest gemacht hatte, "die Werte sollen sehr gut gewesen sein, hat er mir berichtet". Laut Ex-Trainer Klaus Müller hatte Herms vor, am 19. Januar mit Müllers Sportlergruppe ins Trainingslager nach Kienbaum zu gehen.

"Einfach tragisch", kommentierte Clemens Prokop betroffen; der Chef des Deutschen Leichtathletikverbands DLV hat intern bereits die Frage gestellt, "wie gut unser Gesundheitsmanagement ist". An entsprechenden Topteam-Lehrgängen habe Herms über Jahre teilgenommen, es geht dabei um Aufklärung, Betreuung, Prävention. Der Verdacht sei trotzdem, dass sich die "subjektive Gesundheitseinschätzung mancher Sportler öfter mit Leichtsinn paart". Prokop: "Wir müssen versuchen, die Athleten zu größerer Selbstsorgfalt zu bewegen."

Auf Herms traf dies eher nicht zu. Der Mittelstreckler wurde sogar seit Beginn seiner Kaderzugehörigkeit im DLV von Leistungsdiagnostikern am Leipziger Instituts für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) betreut, teilte Sprecherin Kerstin Henschel der SZ mit. Herms sei "drei- bis viermal im Jahr zur Leistungsdiagnostik" gekommen, zudem wurde ihm trainings- und wettkampfdiagnostische Betreuung zuteil. Eine IAT-Publikation von 2004 ("Erfahrungen beim mehrjährigen Leistungs- und Belastungsaufbau eines 800-Meter-Läufers") zeichnete Herms Weg zu Olympia 2004 in Athen nach. Noch im November, so Henschel, habe sich Herms einer Leistungsdiagnostik unterzogen. Dabei müsse der Athlet erst einen Gesundheitscheck durchlaufen, bevor er die Tests unter körperlicher Vollbelastung absolvieren darf.

Der tragische Todesfall gibt den Forderungen vieler Sportmediziner nach intensiveren, die ganze Saison eng begleitenden Gesundheitsprüfungen neuen Schub. "Ein Rennpferd wird medizinisch besser betreut als ein Spitzensportler" - heißt es gern in der Branche. Unter Sportlern nur in Deutschland werden jährlich bis zu 1000 Todesfälle registriert. Der Spitzensport macht gerade besonders von sich reden. In Skandinavien waren um die Jahreswende zwei etwa 40-Jährige Ex-Athleten Herztode gestorben. Frankreich meldete am Donnerstag den Infarkttod des Zweitliga-Profis Clement Pinault, 23. In der Woche zuvor war Rugby-Profi Feao Latu, 28, auf dem Spielfeld gestorben. In der deutschen Bundesliga war August 2008 der Kölner Profi Ümit Özat mit Herzstillstand kollabiert, er konnte aber gerettet werden.

So war die Tragödie Herms auch für Oberstaatsanwalt Avenarius kein Neuland. Schon 2003 war in Dresden der französische Radprofi Fabrice Salanson, 23, vorm Start der Deutschland-Tour 2003 tot neben dem Hotelbett gefunden worden, er hatte ein stark vergrößertes Herz. Monate zuvor hatte Gerolsteiner-Profi Torsten Nitsche seine Karriere nach einem Herzbefund sofort beendet.

René Herms wird am Montag in Pirna beigesetzt. Der DLV will des Athleten bei der Hallen-Meisterschaft im Februar in Leipzig gedenken. Thomas Kistner

René Herms ? Foto: dpa

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Durchgehend unter Polizeischutz

"Das ist kein Sport mehr, das ist Politik": Serbiens Handballer müssen bei der WM in Kroatien mit Pfiffen, Schmähungen und einer Bombendrohung leben

Zadar - Als die serbische Mannschaft am Samstag um 17.08 Uhr das Spielfeld der Sporthalle zu Zadar betritt, beginnen Tausende Menschen zu pfeifen. Es ist nicht die Art von Pfeifen, mit der Fans einen nicht so beliebten Gegner bedenken, es ist ein Pfeifen voller Wut und Hass. Vermutlich gibt es keinen Ort in Kroatien, an dem es anders wäre bei dieser Handball-WM, nirgends würden die Serben beklatscht oder wenigstens ignoriert. Aber in Zadar, an der Küste Dalmatiens, ist es besonders schlimm, weil es erstens ein Zentrum des kroatischen Nationalismus ist und zweitens Kriegsschauplatz war im Balkankonflikt. Die Ablehnung, die den Serben entgegenschlägt, ist körperlich spürbar.

Die serbische Mannschaft bildet einen Kreis, dann stellt sie sich in einer Reihe auf und winkt ins Publikum, es wirkt höflich, nicht provozierend. Als wenig später beim Einwerfen ein Ball auf die Tribüne fliegt, wirft ihn ein kroatischer Fan zurück, die Serben danken mit erhobenem Daumen, doch dieser Moment bleibt die Ausnahme. Die serbische Hymne wird begleitet von Pfiffen und Schmähungen.

Die Gegner der Serben werden bejubelt und angefeuert, an diesem Samstag sind es die Deutschen. Es ist ein seltsames Handballspiel, beide Seiten begehen Unmengen an Fehlern. Erst sieht es aus, als gingen die Deutschen unter, dann sieht es aus, als gewännen sie locker, schließlich erzielen die Serben mit dem letzten Wurf der Partie das 35:35 (16:19). Nach dem Spiel erzählt der Serbe Momir Ilic, der in der Bundesliga beim VfL Gummersbach spielt, wie es ist, als Serbe in Kroatien zu spielen: "Wir stehen durchgehend unter Polizeischutz", sagt er, "zum Training fahren wir immer mit Eskorte, das Hotel verlassen wir sonst gar nicht mehr." Wobei das Hotel auch nicht direkt ein Hafen der Ruhe ist. "Wir können nachts kaum schlafen, weil meistens Leute da sind und Lärm machen", sagt Ilic. Am Freitagabend ging bei einer örtlichen Zeitung eine Bombendrohung gegen das Hotel ein, versehen mit dem Hinweis, viele Serben würden sterben. Auch die deutsche Mannschaft wohnt in dem Hotel, sie bekam aber von der Aufregung nichts mit. "Ich habe so gut geschlafen wie noch nie in diesem Turnier", sagte Bundestrainer Heiner Brand. Dass es überhaupt eine Bombendrohung gab erfuhren die Deutschen eher zufällig. Christian Schönes Heimtrainer bei Frisch Auf Göppingen, Velimir Petkovic, rief seinen Spieler an, um mal zu hören, was es denn mit dieser Bombe auf sich habe.

Schon zuvor hatte es einigen Wirbel in Zadar gegeben. Der Bürgermeister der Stadt hatte die Fahnen aller 24 WM-Teilnehmer abhängen lassen, weil eine davon die serbische war. Die serbische Fahne in Zadar wehen zu sehen, das war einigen Kroaten zu viel. In den kroatischen Medien stieß das Abhängen der Fahnen allerdings auf wenig Verständnis. Momir Ilic sagt: "Es ist traurig, was hier passiert, denn das ist kein Sport mehr, das ist Politik." Während der Spiele der Serben ist tatsächlich immer zu sehen und zu hören, dass es auch um Politik geht. Nicht nur wegen der Pfiffe und Schmähungen. Rund 20 serbische Fans haben sich beim Spiel gegen Deutschland in die Halle getraut. Ilic erzählt, ein Bus sei aufgehalten worden und nicht zur Halle durchgekommen. Die 20 Serben, die da sind, haben zwei Hörner mitgebracht, zwei Trompeten, eine Trommel und drei Fahnen. Eingerahmt werden sie von 18 Polizisten eines Sondereinsatzkommandos, die in schwarzen Monturen stecken, dazu gesellen sich noch sechs Ordner in neongelben Westen. Die Serben spielen Musik, zu hören sind sie kaum in der Halle, die 7000 Menschen Platz bietet.

Immer, wenn die Deutschen ein Tor werfen, wird der Name des Schützen über die Lautsprecher in die Halle gerufen. Immer, wenn die Serben ein Tor werfen, herrscht danach Schweigen. Die Tore werden zwar auf der Anzeigetafel gezählt, durchgesagt werden sie nicht. Die Spieler nehmen es hin, es scheint sie sogar zu motivieren. "Die halten das aus", glaubt der deutsche Rückraumspieler Martin Strobel, "es kann ja auch anspornen, wenn die ganze Halle gegen einen ist." Ilic sagt: "Wir spielen für unsere Landsleute."

Sportlich war die Partie vom Samstag überaus abenteuerlich. Die Deutschen warfen 18 Mal mehr aufs Tor als die Serben, was in normalen Spielen heißt, dass man mit rund neun Toren Vorsprung gewinnt. Es lief aber nicht normal, der zuvor so brillante Schöne erwischte einen Tag von tiefstem Schwarz, er traf mit lediglich einem von zehn Würfen. Mit sechs Toren lagen die Deutschen in der ersten Hälfte zurück, zwei Minuten vor Schluss führten sie bei Überzahl mit zwei Toren Vorsprung. Das 35:35 war beides, Punktgewinn und Punktverlust.

Nach der Partie winken die Serben wieder ins Publikum. Die 20 Fans feiern, wer mit dem letzten Wurf den Ausgleich schafft, der freut sich. Die Halle ist vergleichsweise ruhig, Polizisten halten die Ränge im Auge. Sie sehen einen jungen Mann, Mitte 20, sie rufen ihm eine Warnung zu, doch er stellt sich an eine Balustrade und bespuckt die serbischen Spieler, die in die Kabine gehen. Die Spieler tun, als sei nichts, sie gehen einfach weiter. Christian Zaschke

Abenteuerliche Wurfausbeute: Im deutschen Team traf nur Torsten Jansen (links) zuverlässig, er überwand Serbiens Torleute insgesamt zehnmal. Foto: dpa

Handball-Weltmeisterschaften Männer Sport in Serbien ab 21.05.2006 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ford will Krise ohne Staatshilfen meistern

New Orleans - Trotz der anhaltenden Probleme auf dem US-Automobilmarkt will Ford im Gegensatz zu seinen Konkurrenten General Motors und Chrysler nach Angaben von Konzern-Chef Alan Mulally keine milliardenschweren Staatshilfen. "Wir wollen uns nicht noch mehr Geld leihen", sagte der Ford-Chef in New Orleans. Ford verfüge über genügend Liquidität, um sein Sanierungsprogramm zu finanzieren: "Das bedeutet, dass unser Unternehmen in einer relativ guten Verfassung ist." Die strauchelnden Autobauer GM und Chrysler haben von der US-Regierung Zusagen für milliardenschwere Notfall-Kredite erhalten, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Chrysler bat die Regierung am Wochenende um eine weitere lebenswichtige Kapitalspritze in Milliardenhöhe. Mulally sagte, Ford stehe auch besser da als seine Rivalen. Reuters

Ford Motor Company: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Geld vom Staat

Continental und Schaeffler brauchen die finanzielle Hilfe der Steuerzahler. Mit jeweils einer halben Milliarde Euro sollen das Land Niedersachsen und der Freistaat Bayern die beiden mit insgesamt 22 Milliarden Euro verschuldeten Automobilzulieferer unterstützen. Eine Sprecherin des bayerischen Wirtschaftsministeriums bestätigte Gespräche, nannte jedoch keine Summe. Details über die Staatshilfe stünden noch nicht fest. Möglich sind Bürgschaften, Garantien oder direkte Beteiligung. urit

Continental AG: Finanzen Schaeffler Gruppe Finanzholding: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Strudel

Infineon trägt einen großen Teil der Schuld für die Qimonda-Pleite

Von Caspar Busse

Noch am Tag, an dem der Münchner Chiphersteller Qimonda Insolvenzantrag stellen musste, begannen die Schuldzuweisungen. Die Politiker machten am vergangenen Freitag das Unternehmen und die Europäische Union verantwortlich, die Gewerkschaft beschimpfte das Management, und Qimonda selbst wies alle Vorwürfe zurück. Doch der schlimmste Fall ist jetzt da: Das Unternehmen mit 12 000 Arbeitsplätzen steht am Abgrund.

Und die Gefahr ist groß, dass auch der Mutterkonzern Infineon in den Strudel geraten könnte. Zwar wurde die Beteiligung - der Dax-Konzern hält noch drei Viertel der Qimonda-Anteile - weitgehend abgeschrieben. Doch es könnten Rückforderungen für Fördermittel, für Kartellverfahren oder Abfindungen drohen, das könnte sich auf dreistellige Millionenbeträge summieren. Dabei ist Infineon selbst angeschlagen, kämpft mit Verlusten und der schwierigen Halbleiterkonjunktur, die finanzielle Lage gilt als angespannt.

Jetzt rächen sich für Infineon Managementfehler aus der Vergangenheit. Das Problem, dass das Auf und Ab gerade bei Speicherchips extrem stark ist, besteht schon lange. Immer wieder wurde bei Infineon halbherzig die Trennung von diesem Geschäft diskutiert - und wieder verworfen. Der frühere Infineon-Chef Ulrich Schumacher stürzte auch darüber. Als sich das Infineon-Management dann vor zwei Jahren endlich dazu entschloss, Qimonda auszugliedern und an die Börse zu bringen, war es schlicht zu spät. Schon der Start war holperig, die Chipkonjunktur ging in den Keller, dazu kam jetzt die weltweite Finanzkrise. Jetzt muss verhindert werden, dass auch Infineon in Existenznot gerät. (Seite 20)

Infineon Technologies AG: Unternehmensbeteiligungen Qimonda AG: Konkurs SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Michael Kocab Tschechischer Rock-Star und Menschenrechts-Minister

Roma mag er, schon von der Musik her. Und deshalb freut sich Michael Kocab nach eigenen Worten darauf, dass er künftig viele Roma treffen und sich intensiv mit der problematischen Lage dieser Volksgruppe in Tschechien befassen wird. Der 54-Jährige hat nämlich gerade sein neues Amt als Minister für Menschenrechte und Minderheiten angetreten; die Grünen haben ihn für diesen Posten benannt. Zwar ist Kocab auf der politischen Bühne kein Neuling mehr, doch kennt man ihn vor allem als einen der großen Rock-Stars des Landes.

Solche Grenzüberschreitungen haben in Prag schon eine kleine Tradition. Zur Zeit der kommunistischen Diktatur gelangte die Untergrund-Band The Plastic People of the Universe zu Ruhm. Ihre Verfolgung durch das Regime war einer der Anlässe für die Gründung der Dissidenten-Bewegung Charta 77. Auch Michael Kocab und das von ihm um 1975 ins Leben gerufene Jazzrock-Ensemble Prazsky vyber ("Prager Auswahl") wurden jahrelang behindert. Ihr legendäres Album "Straka v hrsti" ("Die Elster in der Hand") wurde mit kopierten Kassetten im musikalischen Selbstverlag vertrieben. Später füllte die Band ganze Sporthallen, und Michael Kocab hatte im Sommer 1989 die Kühnheit, auf einem live im Fernsehen übertragenen Musikfestival zu sagen: "Jede Nation hat die Regierung, die sie verdient." Als bald danach die November-Revolution das sozialistische Regime hinwegfegte, gehörte Kocab an der Seite Vaclav Havels zu den bekanntesten Protagonisten der Wende.

Kocab wurde Abgeordneter im föderalen tschechoslowakischen Parlament und war als Ausschuss-Vorsitzender mit den Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen befasst. Den Ausstieg aus der Politik feierte er 1991 mit einem Konzert, an dem auch sein Freund Frank Zappa teilnahm. Unentgeltlich diente er danach dem neuen Staatspräsidenten Havel als Berater. Dieser empfing auf der Prager Burg nicht nur Frank Zappa, sondern auch die Rolling Stones.

In jüngerer Zeit reizte den Musiker und Komponisten offenbar die Rückkehr in die Politik. Schon vorigen Herbst kandidierte er - erfolglos - in Prag auf der Liste der Grünen für einen Sitz im Senat. Ins Kabinett ist er nun gemeinsam mit drei neuen Ministern der konservativen Bürgerdemokraten (ODS) und der Christdemokraten eingezogen, die mit den Grünen eine Dreier-Koalition bilden.

Ministerpräsident Mirek Topolanek hatte sich trotz der Belastungen durch die EU-Präsidentschaft im internen Kampf mit eigenen Parteifreunden der ODS und mit dem christdemokratischen Parteichef Jiri Cunek erstaunlich robust gezeigt und durchgesetzt. Er drängte den unter Korruptionsverdacht stehenden Cunek aus der Regierung hinaus und tauschte auch zwei erfolglose ODS-Minister aus.

Die Grünen zogen ihre glücklose Ministerin Dzamila Stehlikova ebenfalls zurück, deren Amt übernimmt nun Michael Kocab. Seine Popularität kann ebenso wie die des ebenfalls von den Grünen benannten Außenministers Karel Schwarzenberg der Partei helfen, ihr derzeitiges Tief zu überwinden. Vielleicht ist das ja auch der tiefere Grund für seine Berufung. Klaus Brill

Foto: Images

Kocab, Michael Regierungen Tschechiens SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Halleluja

Händel-Preis für Jordi Savall

Der spanische Musikwissenschaftler und Gambist Jordi Savall (67) erhält den mit 10 000 Euro dotierten Händel-Preis 2009 der Stadt Halle. Damit werden seine hervorragenden Verdienste um die Pflege des Werkes des Komponisten Georg Friedrich Händel (1685-1759) gewürdigt, wie das Kuratorium am Freitag bekannt gab. Mit seinen außergewöhnlichen Händel-Aufführungen leiste Savall einen großartigen Beitrag zur internationalen Vermittlung der Musik von Halles großem Sohn, so Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados (SPD). Den Preis, der seit 1993 in Halle verliehen wird, bekommt Savall während der Händel-Festspiele im Juni überreicht, die im Zeichen des 250. Todestages des Komponisten stehen. Die Schirmherrschaft haben die englische Königin Elisabeth II. und Bundespräsident Horst Köhler. dpa

Savall, Jordi: Auszeichnung Musikpreise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nach monatelangen Querelen

Schaeffler gewinnt den Machtkampf

In den Aufsichtsrat von Continental ziehen Vertreter des Großaktionärs ein. Die Gummisparte wird für einen Verkauf vorbereitet

Von Uwe Ritzer und Meite Thiede

Hamburg - Im Kampf um die Macht bei Continental haben sich die Kontrahenten auf einen Kompromiss geeinigt. An die Spitze des Aufsichtsrats rückt jetzt ein Schaeffler-Vertrauter. Strippenzieher der Lösung war neben Altkanzler Gerhard Schröder auch Niedersachsens Landeschef Christian Wulff.

Die Aufsichtsräte der Continental AG mussten zusammenrücken, als sie sich am Samstag zur Krisensitzung trafen. Aufsichtsratschef Hubertus von Grünberg hatte nicht nur Altkanzler Schröder nach Hannover eingeladen, der in dem Streit zwischen der Schaeffler-Gruppe und Conti als Vermittler arbeitet, sondern auch die Gegner aus Herzogenaurach. Die Schaeffler-Eigentümer Maria-Elisabeth Schaeffler und ihr Sohn Georg, Firmenchef Jürgen Geißinger und der Düsseldorfer Rechtsanwalt Hans Rolf Koerfer waren angereist. Am Nachmittag zeigte sich: Die vielen Vorgespräche, die Schröder und Niedersachsens Ministerpräsident Wulff in den vergangenen Tagen mit den Zerstrittenen geführt hatten, hatten sich gelohnt. Man habe eine Basis für eine konstruktive Zusammenarbeit auf Grundlage der Investorenvereinbarung gefunden, teilten die Unternehmen mit.

Schaeffler bekommt in Kürze über vier Aufsichtsratsmandate direkten Einfluss auf Continental. Der Familienkonzern verfügt zwar nach einem Übernahmeangebot über 90 Prozent der Conti-Aktien, hat aber bisher keinerlei Einfluss in Hannover ausüben können. Frau Schaeffler und ihr Sohn, Geißinger sowie Koerfer sollen per Gerichtsbeschluss bestellt werden, sobald vier Mitglieder zurückgetreten sind. Wer ausscheidet, steht noch nicht fest. Chef des Aufsichtsrats wird Schaeffler-Berater Koerfer, der bisherige Amtsinhaber Hubertus von Grünberg soll im Aufsichtsrat bleiben. Zudem wechselt Finanzvorstand Alan Hippe zum Stahlkonzern Thyssen-Krupp.

Schaeffler und der Conti-Aufsichtsrat haben auch inhaltlich einen Kompromiss gefunden. So ist von einer Zusammenlegung der Automotive-Sparten jetzt erst einmal nicht mehr die Rede. Der Conti-Vorstand soll aber Konzepte für eine Kooperation erarbeiten. Schaefflers angebliches Drängen auf ein Zusammenlegen der Sparten hatte vor einigen Wochen bei Grünberg heftige Gegenwehr erzeugt und die Fronten verhärtet. Das Reizwort Fusion wurde nun erst einmal ausgeklammert. Contis Reifensparte soll rechtlich und organisatorisch auf eigene Füße gestellt werden. Diesen Prozess soll Grünberg eng begleiten. Von einem Verkauf der profitablen Gummisparte ist zwar nicht die Rede, aber die Verselbständigung dürfte die Vorbereitung dazu sein, heißt es in Konzernkreisen. Schließlich brauche Schaeffler dringend Geld.

Im August 2008 hatten Conti und Schaeffler nach langem Übernahmekampf eine Investorenvereinbarung erzielt. Danach reduziert Schaeffler die Beteiligung an Conti für vier Jahre auf 49,9 Prozent - der Rest wird bei Banken geparkt - und sichert zu, gegen den Willen von Conti keine großen Veränderungen wie Verkäufe anzustrengen. Schröder war damals als Garant dieser Vereinbarung eingesetzt worden. Er hat nun im engen Schulterschluss mit Niedersachsens Landeschef Wulff agiert, heißt es in Hannover. Der CDU-Politiker muss befürchten, dass Niedersachsen infolge der Übernahme Contis durch Schaeffler Arbeitsplätze und Steuergelder verlorengehen.

Der Schwerpunkt einer Automotive-Gruppe läge im Süden: Die Schaeffler-Zentrale liegt in Franken, Contis Automotive-Zentren bei Frankfurt und in Regensburg. Für Hannover böte sich aber wenigstens die Chance, Hauptquartier der Reifensparte zu bleiben. Damit habe sich eine Interessensachse zwischen Grünberg und Wulff ergeben, heißt es. Bei einem späteren Verkauf der Sparte würde sich Niedersachsen möglicherweise auch finanziell beteiligen, um zu verhindern, dass ein ausländischer Wettbewerber den Zuschlag bekommt. Grünberg werden gute Kontakte zu Private-Equity-Firmen nachgesagt, die Interesse an einem Einstieg haben könnten.

In Herzogenaurach vermeidet man Triumphgeheul. Dennoch sagen Beobachter: Schaeffler und Geißinger haben sich in der für sie wichtigsten Personalie durchgesetzt. Der Erfolgsdruck ist groß. Die Automobilkrise macht beiden Zulieferern zu schaffen. Für das bisher unabhängige Familienunternehmen ist vor allem die starke Abhängigkeit von den Banken eine neue Situation. Schaeffler wolle bei Conti nun so schnell wie möglich "Ruhe in den Laden bringen", um zu vermeiden, dass die Banken das Heft des Handelns übernehmen. (Kommentare)

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Motezumas Rache

BGH urteilt über Vivaldi-Oper

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in dem Streit um die Aufführungsrechte an der 2002 entdeckten Vivaldi-Oper "Motezuma" ein Grundsatzurteil von erheblicher Bedeutung für den Kulturbetrieb getroffen. Wie das Gericht mitteilte, können Herausgeber von verschollen geglaubten und wiederaufgetauchten Werken nur dann ausschließliche Verwertungsrechte geltend machen, wenn diese Werke in der Vergangenheit nachweislich nicht erschienen sind. Ein Werk gilt laut BGH als erschienen, wenn Vervielfältigungsstücke "in genügender Anzahl" veröffentlicht wurden.

Damit hat die Berliner Sing-Akademie, in deren Archiven die Oper entdeckt wurde, keine Urheberrechte an dem vom Düsseldorfer Kulturfestival "Altstadtherbst" 2005 aufgeführten Werk. Eine Abschrift der seit 250 Jahren verschollen geglaubten Oper war 2002 im Archiv der Sing-Akademie entdeckt worden. Die Akademie hatte dann 2005 vergeblich versucht, die Opern-Aufführung durch das Düsseldorfer Kulturfestival per gerichtlicher Anordnung verbieten zu lassen und später auf Schadenersatz geklagt. AFP

Fälle beim Bundesgerichtshof Motezuma SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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An die Arbeit

Die Einigung von Schaeffler mit Conti kommt gerade noch rechtzeitig

Von Meite Thiede

Ist nun wieder alles gut zwischen Continental und Schaeffler? Nein. So weit ist es in Hannover noch lange nicht. Nach heftigem Ringen und unter der Vermittlung zweier Politiker wurde lediglich dies geschafft: Zwei hoch verschuldete Konzerne, die jeder für sich ums Überleben kämpfen, aber aufgrund der Eigentumsverhältnisse aneinander gekettet sind, haben ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden. Bis hierher wurde lediglich verhindert, dass die beiden Konzerne in ihrem Kampf gegeneinander gemeinsam zugrunde gehen.

So sieht der Kompromiss aus: Schaeffler besetzt erst mal nur vier statt zehn Sitze im Aufsichtsrat; Hubertus von Grünberg, dessen Kopf Schaeffler geradezu wutschnaubend gefordert hatte, tritt als Aufsichtsratschef zur Seite, verschwindet aber nicht von der Bühne; und um Provokationen zu vermeiden, wird nicht die Patriarchin Maria-Elisabeth Schaeffler die neue Vorsitzende, sondern ein etwas neutraler wirkender Rechtsanwalt - ein Vertrauter Schaefflers, versteht sich. Doch dieser kleinste gemeinsame Nenner ist nicht viel mehr als die Basis, von der aus nun die eigentliche Aufgabe gelöst werden muss. Und die lautet: Aus Conti und Schaeffler einen starken Automobilzulieferer zu zimmern, der die Finanz- und Branchenkrise heil übersteht.

Die externe Lage ist dramatisch genug; hausgemachte Querelen kann sich da nun wirklich niemand leisten. Sowohl Conti als auch Schaeffler haben sich durch ihre Zukäufe höher verschuldet als geplant. Bei der Annäherung dürfte daher der Einfluss der Banken eine Rolle gespielt haben. Und wenn die Manager jetzt nicht ganz schnell praktische Lösungen präsentieren, werden die Geldhäuser noch mehr die Regie führen wollen.

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Münteferings kalkulierte Provokation

Franz Müntefering, der Mann mit den Heuschrecken, hat selbst oft erlebt, wie ein einziges Wort eine Diskussion zuspitzen kann; wie ein einziger Begriff die Aufmerksamkeit für Argumente weckt, die vorher kaum jemand hören wollte. Gerade der SPD-Vorsitzende Müntefering, der aus der Mixtur von kurzem Satz und eigenwilliger Grammatik eine politische Waffe gemacht hat, ist ein Mann mit hoher Sensibilität für Sprache und ihre Wirkung. Deshalb weiß Müntefering auch sehr genau, was er sagt, wenn er der Linkspartei eine "nationale soziale Politik" vorwirft.

Natürlich meint Müntefering nicht nationalsozialistische Politik. Aber er weiß, dass sich beide Begriffe in den Gedanken vieler Zuhörer oder Leser verknüpfen. Müntefering hat den Begriff der "nationalen sozialen Politik" an diesem Wochenende nicht zum ersten Mal benutzt, er will ihn offensichtlich ganz bewusst im allgemeinen Diskurs platzieren. Und dieser Begriff passt ja auch zur gängigen Deutung Münteferings, wonach ganz linke und ganz rechte Parteien zu einfache Antworten auf schwierige Fragen gemeinsam haben, weshalb sich auch die Spektren ihrer Sympathisanten in Teilen überschneiden.

Müntefering möchte provozieren. Der SPD-Vorsitzende macht das geschickter als Oskar Lafontaine seinerzeit mit seinem Wort von den "Fremdarbeitern", weil er keinen Begriff verwendet, dessen historische Belastung sich eindeutig nachweisen lässt. Das Spiel mit der Assoziation aber ist ähnlich wie bei seinem Vorgänger als SPD-Chef. Und es ist falsch. Beides zusammen sollte für Müntefering Grund genug sein, für die notwendige Diskussion mit der Linkspartei ein neues Wort zu schöpfen. nif

Müntefering, Franz: Zitate DIE LINKE SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Rückkehr der verlorenen Tochter

Australien feiert ein Tennis-Comeback: Jelena Dokic hat Depressionen, Übergewicht und ihren schlimmen Vater überwunden

Melbourne - Der Stadionsprecher ließ sich im richtigen Moment Zeit. "Und hier die Siegerin", rief er begeistert: "Jelena Dokic." Gedankenpause. "Australien." Der Applaus explodierte. Kurz darauf betrat Alicia Molik den Centre Court. Molik spielte einst professionell Tennis. Inzwischen arbeitet sie fürs Fernsehen. Sie sollte Dokic interviewen. "Aber bevor ich dir eine Frage stelle", begann Molik, "muss ich dich erst einmal umarmen." Mit festem Griff schloss sie ihr Gegenüber in die Arme, und wieder explodierte der Applaus. Die Szene hatte Symbolcharakter. Jelena Dokic ist angekommen. Nach langer Reise. Und ein ganzer Kontinent reißt sie an sich.

Nüchtern betrachtet hat Jelena Dokic am Freitagabend in Melbourne lediglich ein Tennismatch gewonnen. 3:6, 6:1, 6:2 gegen die Dänin Caroline Wozniacki, die aktuelle Nummer elf der Weltrangliste. Nüchtern betrachtet hat Dokic damit zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder das Achtelfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht. Aber manches Tennismatch lässt sich einfach nicht nur nüchtern betrachten. "Ich war so jung, als ich auf die Tennistour gekommen bin", sagte Dokic den 15 000 Zuschauern, die alle von ihren Sitzen aufgesprungen waren: "Ich habe viele dumme Dinge getan, die ich jetzt bereue. Entschuldigung dafür. Entschuldigung, dass ich ein Kotzbrocken war." Zum dritten Mal explodierte der Applaus.

Die Tennis-Geschichte von Jelena Dokic begann 1999 in Wimbledon. In der ersten Runde warf sie Martina Hingis aus dem Turnier, die Beste der Weltrangliste. Bis ins Viertelfinale brachte es die 16-Jährige Dokic. Die Welt staunte - und wunderte sich. Sie bestaunte den unbekümmerten Teenager, doch der breite, bärtige Mann, der ihr nicht von der Seite wich, befremdete viele: Damir Dokic. Jelenas Vater und Trainer und Manager war aufbrausend, ungehobelt, unberechenbar, und jeder ahnte: Das, was er in der Öffentlichkeit aufführte, dürfte bloß die Spitze des Eisbergs sein.

1994 waren die Dokics aus Jugoslawien nach Australien emigriert. Wenn Jelena Dokic gewann, wurde deshalb die Hymne "Advance Australia Fair" gespielt, in der es heißt: "Unser Land ist reich an Gaben der Natur, von kostbarer und erlesener Schönheit." Mit erlesener Schönheit hatte das, was Damir Dokic bisweilen aufführte, allerdings wenig zu tun. In Wimbledon wurde er von Bobbys abgeführt, nachdem er randaliert hatte. Auch andernorts hatte der Rüpel bald Hausverbot. Die gewissenhaften Australier schockten die Dokics, als sie im Jahr 2001 behaupteten, die Auslosung für die Australian Open sei zu ihren Ungunsten manipuliert worden. Daraufhin verließen sie das Land im Streit.

Jelena Dokic ist ihrem Vater lange brav gefolgt. Bis 2003. Als sie sich von dem Tyrann lossagte, wurde ihr Leben aber nicht gleich besser. Auch die Mutter und der Bruder wandten sich ab. "Das war die Hölle für mich", hat Dokic jetzt verraten. Sie hatte Depressionen, bettete die geschundene Seele in einige Kilogramm, mit denen sich schlecht Tennis spielen ließ. Von Weltranglistenplatz vier 2002 aus stürzte sie ab. 2007 bestritt Jelena Dokic lediglich ein Tennismatch. Sie verlor es. Zehn Monate lang wurde sie vom Tennis-Computer überhaupt nicht mehr registriert. Jetzt ist sie zurück, mit ihrem Freund Tin Bikic und dessen Bruder als Trainer. Es ist das bemerkenswerteste Comeback seit Jennifer Capriatis Sieg in Melbourne 2001.

Dokic ist fit, stark, konzentriert. Ihr Ziel? "Ende des Jahres unter den besten 50 stehen." Das ist bescheiden. Bei den Australian Open tritt sie mit einer Wildcard an. Der australische Tennis-Verband hat ihr eine gewährt, trotz all des Streits in der Vergangenheit. Dokic könnte in dem Turnier noch für einige Aufregung sorgen. Venus Williams ist bereits ausgeschieden, sie stolperte über die Spanierin Carla Suarez Navarro, die erst ihr viertes Grand-Slam-Turnier bestreitet. Ana Ivanovic ist ebenfalls schon draußen. Die Vorjahresfinalistin unterlag der unbekannten Alisa Kleibanowa, Dokics nächster Gegnerin. Im Frauen-Tennis ist einiges durcheinandergeraten, eine feste Hackordnung gibt es nicht mehr. Dokic hat die Zuschauer hinter sich und sagt: "In den letzten Jahren habe ich viele Dinge gelernt, die mir jetzt auch auf dem Platz helfen." René Hofmann

"Das bedeutet mir viel. In den vergangenen Jahren bin ich durch die Hölle gegangen": Jelena Dokic, 25, im Spiel gegen Caroline Wozniacki Foto: dpa

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Wahl zum Ryder-Cup-Kapitän 2010

Olazábal meldet sich

Doha/Katar (dpa) - Der Schotte Colin Montgomerie und der Spanier José Maria Olazábal sind die ersten Anwärter auf das Amt als Ryder-Cup-Kapitän 2010 gegen Titelverteidiger Amerika. Am kommenden Montag will die europäische Professional Golf Association (PGA) die Wahl bekanntgeben.

Der achtmalige Ryder-Cup-Spieler Montgomerie galt bisher als erster Kandidat für das Heimspiel 2014 im schottischen Ort Gleneagles. Olazábal ließ nun bei der Katar Open über seinen Manager erklären, dass er die Rolle akzeptieren würde, wenn sie ihm angeboten werden würde. Der Iberer hat sieben Mal im Team Europa gestanden, war 2008 schon Vizekapitän und wollte sich ursprünglich als Spieler für 2010 qualifizieren.

"Es wäre eine Ehre für mich, ausgewählt zu werden, aber bis jetzt ist mir die Kapitänsrolle noch nicht angeboten worden", hatte zuvor Montgomerie in einem Gespräch mit der englischen Zeitung The Times gesagt. Europa hatte den jüngsten Vergleich im September 2008 unter dem Engländer Nick Faldo in USA mit 11,5:16,5 Punkten überraschend hoch verloren. Dabei war Montgomerie nicht berücksichtigt worden, obwohl er wie Bernhard Langer zu den gewinnreichsten Ryder Cup-Spielern zählt.

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Unter Strom

Der Elektromotor soll die angeschlagene Autobranche retten. Aber verändert er auch Design und Fahrzeugbau?

Jede Zeit berauscht sich an den Symbolen ihres Fortschritts. Das Industriezeitalter feierte den elektrifizierten Eiffelturm, die Computermoderne huldigte dem Chip. Und das anbrechende Öko-Zeitalter? Das blickt lustlos auf Windräder und Elektroautos. Beide taugen nicht zur Identifikation. Erstere gleichen Riesen, die sich idiotisch im Kreise drehen, letztere windigen Kisten. Wer klettert schon freiwillig in ein dreirädriges Ufo namens "Aptera", dessen Gestalter offenbar Automobil- und Flugzeugbau verwechselten, wer jubelt über den Nissan "Pivo 2", wenn der am Nachbarn vorbeikugelt? Und wer steigt in den Tango "T600", einen Beichtstuhl auf Rädern, dem man Kompromiss und Verzicht schon von weitem ansieht?

Verspielte Fahrzeugstudien wie diese verspielen unsere mobile Zukunft, jene einmalige gestalterische und gesellschaftliche Chance, die im Zusammenbruch des Ancient Régime aus Benzinkutschen und Schwerstfahrzeugen liegt. Fahrzeugbau braucht Starkstrom, hohe Emotion und niedrige Emission. Beides liefert der Elektroantrieb. Er kann nicht nur die angeschlagene Autobranche beleben, er kann den Fahrzeugbau insgesamt revolutionieren. Elektro bedeutet mehr als effiziente Motoren in alten Gewändern, Elektro verschiebt die Gewichte im Fahrzeugbau: Vorsprung durch Verzicht, lautet die Devise. Der ultraleichte Elektromotor und seine nicht ganz so leichten Akkus erlauben andere Fahrzeugarchitekturen. Leichter ist besser und billiger. Ein Dutzend Airbags sind natürlich ein Verkaufsargument, Massagesitze ein noch gewichtigeres. Elektro aber steht für eine neue, smartere Effizienz.

Dick und doof

Nächstes Jahr soll er in Serie gehen: Chevrolets "Volt" vertraut auf die Kraft der Konvention, auf männlich-markante Linienführung. Unter der aerodynamisch getunten Hülle summt die neue Energiequelle. Die 180 Kilogramm schwere Batterie aus 220 Lithium-Ionen-Einheiten soll für 60 Kilometer reichen. Bei längeren Fahrten lädt ein kleiner Dreizylinder-Turbo die Zellen wieder auf. Sagenhafte Zahlen kursieren: nur 1,6 Liter Benzin bei einer täglichen Fahrleistung von 100 Kilometern.

Der Spiegel nannte das Fahrzeug das "weltweit zurzeit wohl ambitionierteste Elektroauto-Projekt". Und das mit gutem Grund. 2010 soll der "Volt" vom Band rollen wie einst der Ford T - als Massenfahrzeug und Hoffnungsträger für General Motors. Amerika wandelt sich mit einer Geschwindigkeit, die wir Europäer nicht für möglich hielten. Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger etwa kündigte bis 2012 ein gebrauchsfähiges Netz von Ladestationen an. Man rechnet mit rund zehn Millionen Elektroflitzern bis 2015.

Wenn der "Volt" 2011 endlich Europa erreicht, dürfte sich entschieden haben, ob Design und Öko-Bewusstsein tatsächlich zusammenpassen. Denn obwohl Gestalter wie nie zuvor an seinem Äußeren feilten, das Heck hochzogen sowie den Kühlergrill aerodynamisch wegschmirgelten, bleibt der "Volt" ästhetisch wenig elektrisierend. Genau das könnte ihn zu einem Renner machen in einem Markt verunsicherter Käufer, die ihr gutes altes Auto nicht aufgeben wollen, und verunsicherter Anbieter, die neue Probleme mit alten Rezepten angehen. Sie werden ihre Modelle, in denen Milliarden stecken, ausweiden und den Benziner durch ein Elektroaggregat ersetzen. Das aber wird nicht reichen. "Autohersteller versuchen mit ihrer Modellpalette zu überleben", sagt Lutz Fügener, Professor für Transportation Design an der Fachhochschule Pforzheim. "Für sie heißt die Devise Evolution, wir aber brauchen eine Revolution." Fügener lehrt an der Kaderschmiede deutscher Mobilität. Und geht mit der Branche ins Gericht: "Die letzten Jahrzehnte haben die Automobilentwicklung nicht vorangebracht", sagt er, "der pubertierende Osten hat uns mit viel Chrom und PS zurückgeworfen." Auch wenn für Fügener das Projekt nicht Elektro heißt, sondern generell Energie sparen, sieht er seine Profession durch Elektrofahrzeuge wieder im Aufwind: "Es geht wieder um Design, nicht um Style."

Automobildesign war bislang ein stockkonservatives Geschäft. Die Hüllen wechselten, der Kern blieb. Die Tür machte plopp, und der Motor röhrte. Elektromotoren hingegen sind leicht und leise, sogar in Radnaben fänden sie Platz. Elektrofahrzeuge besitzen keine Motorbremse. Sie können mit übergroßen, schmalen Reifen auftreten und so den Rollwiderstand minimieren, wie es die Schweizer mit ihrem "Mindset" vormachen. Die weiche Front täuscht. Der ehemalige VW-Chefdesigner Murat Günak gestaltete das 4,20 Meter lange Fahrzeug als flottes, 2+2-sitziges Coupé mit scharfer Abrisskante am Heck. Dank der nur 900 Kilogramm gleicht seine Beschleunigung einem Sportwagen. Klare Konturen und Instrumente bestimmen das Interieur. So kann Zukunft aussehen.

Abschied vom Statussymbol

Oder so: Ein reines Stadtfahrzeug muss nicht aerodynamisch aussehen. Wenn sich Gestalter endlich vom Terror der Geschwindigkeit verabschieden, könnten sie das Interieur wiederentdecken. Wie wäre es mit Wohlfühlambiente und großem Entertainment-Monitor in iTunes-Optik? Über die Zukunft des Automobils können die Menschen mit den Füßen abstimmen: Bleifuß oder runter vom Gas? Einem Volk von Mobilitätsexperten und Formel-1-Weltmeistern aber kann man auf Dauer nichts vormachen. Und genau hier beginnt das Problem. Massenhersteller fürchten das Neue. Sie fürchten, die bislang erfolgreiche Konvention zu verlassen. Das Auto von morgen wird zum Drahtseilakt. Frisch soll es sein und modern, ökologisch und schnittig, ganz anders aussehen und bitte doch vertraut. Herstellern bieten sich einige Wege aus der Krise: extrem kompakte und sparsame Verbrennungsmotoren entwickeln (Downsizing), Hybridfahrzeuge bauen, auf Wasserstofffahrzeuge setzen oder auf reine Elektrofahrzeuge. Allein deutsche Hersteller steckten 2008 rund 18 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Vieles spricht für einen Mix auf der Straße, bis sich eine Technologie durchsetzt.

Erstmals seit einem Jahrhundert automobiler Aufrüstung bietet das Elektrofahrzeug Designern wieder eine echte Aufgabe. So unsicher-tastend der Beginn einer neuen Ära auch ausfällt, am Ende wird das Auto nicht mehr so aussehen, wie es heute auftritt, als vollverchromte Flanierkutsche, Standesvehikel und Familienmitglied. Es könnte ganz einfach wieder Fortbewegungsmittel sein. Leichtes Design fördert bewegliches Denken und erleichtert den Abschied vom Statussymbol. Ein kleiner Schritt für jeden, ein gewaltiger Sprung für die Menschheit. OLIVER HERWIG

Ein Missverständnis ist der "Aptera" (oben). Darunter erinnert der Tango "T 600" an einen Beichtstuhl auf Rädern. Die Blase nennt sich "Pivo 2". Ernst zu nehmen ist nur der "Mindset" (unten). Fotos: Aptera/AFP/Getty/dpa

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Alkoholfreies fürs Champagnerglas

Duprès-Kollmeyer ist die einzige Sektkellerei Norddeutschlands. Mit ihrem prickelnden Apfelsaft haben sich schon die Politiker auf dem G-8-Gipfel zugeprostet.

Von Meite Thiede

Über Apfelsaft redet Jochen Plinke seit einiger Zeit noch viel lieber als über Champagner. Der 53 Jahre alte Unternehmer ist zwar Inhaber von Duprès-Kollmeyer, einer uralten norddeutschen Sektkellerei, aber mit seiner neuesten Erfindung, dem prickelnden Apfelsaft, glaubt er, in Zukunft mehr Geschäft machen zu können als mit den edlen Schaumweinen. Acht Jahre hat Plinke in sein neues Produkt, es heißt Perlmant, investiert, und nun soll dieser erste, nach Secco-Art mit Kohlensäure verperlte Apfelsaft eine Alternative zu Sekt und Champagner bieten. Seine potentielle Kundschaft vermutet Plinke vor allem auf Banketten, wo es besonders stilvoll zugehen soll, aber Alkohol lieber nicht getrunken wird - schließlich befindet man sich ja auf einem Arbeitstreffen. Plinke kann schon einige prominente Adressen aufzählen: Nach Tests im "Sansibar" auf Sylt oder im Hotel "Vier Jahreszeiten" an der Hamburger Binnenalster hatten auch die Politiker aus aller Welt seinen Apfelsaft in den Gläsern, als sie sich 2007 auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm zuprosteten.

Duprès-Kollmeyer ist die einzige Sektkellerei Norddeutschlands. Im kleinen Städtchen Neustadt am Rübenberge, nordwestlich von Hannover, hat die über 200 Jahre alte Firma noch heute ihren Sitz an der Löwenbrücke. Weinberge sucht man in dieser niedersächsischen Region vergebens. In der näheren Umgebung gibt es ein ausgedehntes Moor, und ein paar Kilometer weiter liegt das Steinhuder Meer. Für Reben aber ist das kein geeigneter Standort. Doch die Ursprünge des Familienunternehmens lagen auch nicht im Weinbau, sondern im Handel. Durch die Marktstraße, wo Plinke heute sein Geschäft, die Probierstube und ein Café betreibt, verlief früher die Bundesstraße 6, jene Straße, die schon im Mittelalter wichtiger Handelsweg zwischen Bremen und Hannover war. Für den Weinhandel aber war vor allem die Wasseranbindung an die Leine von Bedeutung. Über mittelalterliche Ackerwege hätte man die Glasflaschen kaum sicher transportieren können.

Erstmals wird der Name Kollmeyer 1650 in den Chroniken erwähnt, als Weinhandlung, Gasthof und Bierbrauerei. Der Handel an der Löwenbrücke florierte über Generationen, aber erst Fritz Kollmeyer, den die Familie heute nur den "alten Fritz" nennt, entwickelte den Familienbetrieb vom Händler zum Produzenten. Und das kam so: Ende des 19. Jahrhunderts reiste Fritz als Perlenhändler durch die Welt und kehrte schließlich als reicher Mann nach Neustadt zurück. Im Gepäck hatte er neben seinen kostbaren Perlen auch noch die Firma Duprès & Co., die er in Reims, mitten im Zentrum der Champagne, gegründet hatte. Das Standbein in Frankreich sollte für die Familie noch nützlich werden: Schaumwein darf sich nur dann den edlen Namen Champagner geben, wenn er auch wirklich in der Champagne hergestellt wurde. 1888 erwarb Fritz in Neustadt außerdem noch die Nutzungsrechte an den Kellergewölben von Schloss Landestrost, um dort neben dem Handel fortan eine Sektkellerei zu betreiben.

Noch heute wird ein Teil des "Niedersachsensektes" in den Kasematten des landeseigenen Schlosses produziert. Herr über die kühlen Gewölbe ist Kellermeister Dietrich Walloschke. Der 73 Jahre alte Experte überwacht nicht nur die Flaschengärung, sondern er schleust über das Jahr auch eine Menge Besuchergruppen durch sein Reich, erzählt ihnen dann Geschichten und Fakten über das perlende Getränk und lädt sie am Kamin zu einer Probierrunde ein.

Von Walloschke kann man lernen, wie das mit der Flaschengärung funktioniert. Der meiste Sekt - bei Duprès wie in der Branche - wird in riesigen Tanks gegärt, und da reichen in der Regel auch sechs Monate bis zur Vollendung. Bei der traditionellen Flaschengärung aber bleibt der Sekt von Beginn der Gärung bis zum Genuss in ein und derselben Flasche. Mindestens neun Monate und bis zu sechs Jahre stecken die Flaschen kopfüber in den schrägen Holzregalen in Walloschkes Gewölben. Am Ende hat sich die Hefe am Korkenboden abgesetzt, und dann wird degorgiert: Walloschke vereist den Flaschenhals, und beim Öffnen der Flasche reißt der Eispfropf die Resthefe mit sich heraus. Mit Grundwein und einer Likördosage wird der Verlust an Menge ausgeglichen, bevor die Flasche verschlossen wird.

Von Walloschke kann man auch lernen, dass ein Plastikkorken nichts Verwerfliches ist - selbst für Champagner nicht. Der Plastikstöpsel kostet nur wenige Cent anstatt - wie der Korken - einen halben Euro. Vor allem aber: Er schimmelt nicht, er mufft nicht, und er bekommt auch keinen Korkwurm. Oder diese Erkenntnis nimmt man mit aus den Kasematten: Champagner soll genossen und nicht ehrfürchtig aufgehoben werden. Allenfalls zwei bis drei Jahre vertrage er, danach könne er altern und diesen Edelfirn genannten, an Sherry erinnernden Geruch und Geschmack bekommen. Für den Kenner nichts Schlechtes, aber jedermanns Sache ist der Edelfirn nicht.

Duprès-Kollmeyer hat es in der Schaumweinbranche mit Giganten zu tun. Während die Neustädter eine halbe Million Flaschen Sekt, Prosecco und Apfelsekt im Jahr produzieren, schafft zum Beispiel Rotkäppchen 300 000 Flaschen Sekt an einem Tag. "Um da als Mittelständler zu überleben, müssen wir gnadenlos rationalisieren", sagt Plinke. So hat er bereits große Bereiche wie die Tankgärung oder das Abfüllen ausgelagert. Das Abfüllen übrigens ist in dem kleinen Örtchen jedes Mal ein Ereignis: Dann kommt die "Rollende Sektkellerei", und auf dem Schlosshof werden zwei, drei Tage lang aus einem riesigen Tankwagen die Flaschen befüllt.

Von der Wirtschaftskrise hat Plinke im vergangenen Jahr noch nichts gemerkt. Auch für 2009 gibt er sich ganz zuversichtlich und fühlt sich in der Nische einigermaßen stabil: "Unsere Kunden konsumieren bewusst und wollen Qualität", meint er. Sein Sortiment bewegt sich im hochpreisigen Segment des Marktes; eine Flasche Duprès-Sekt kostet sechs bis 15 Euro, während man ein Fläschchen Rotkäppchen auch schon mal für 1,50 Euro erstehen kann.

Vom Weihnachtsgeschäft, wie früher, kann Plinke längst nicht mehr leben. Einst war der Dezember der entscheidende Monat, heute steht er nur noch für etwa zehn Prozent des Jahresumsatzes. Üppige Firmengeschenke sind in Deutschland nicht mehr erlaubt, beziehungsweise nicht mehr gern gesehen. "Heute muss ich mir Nischen suchen, die andere nicht bedienen können oder wollen", sagt Plinke. Wie seinen prickelnden Apfelsaft.

"Die Nachfrage nach moussierenden alkoholfreien Getränken ist riesig und das Angebot winzig", weiß er. Und deshalb soll Perlmant die kleine Firma aus Neustadt auch in die Zukunft führen. 2008 machten die alkoholfreien Getränke bereits ein Viertel der Produktion von 500 000 Flaschen aus. Plinke sieht gute Chancen, dass er in diesem Jahr die Perlmant-Produktion verdoppeln kann. Da wüchse dann das dritte Standbein des Unternehmens.

-DYNASTIEN -AUSSENSEITER -NEWCOMER

Profil

Jochen Plinke, Inhaber

Name: Duprès-Kollmeyer

Sitz: Neustadt am Rübenberge

Gegründet: 1888

Umsatz: etwa zwei Millionen Euro

Beschäftigte: 12 Fotos: oh

Duprès bietet auch Sekt an, der bis zu sechs Jahre lang in der Flasche gegärt hat und in einem niedersächsischen Schlosskeller lagerte.

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Tristesse der Städte

Von Joachim Käppner

Als die meisten Deutschen den raschen Wiederaufbau aus den Ruinenlandschaften der alliierten Flächenbombardements wie eine Art Wunder betrachteten, wollte einer an diesen neuen Städten schier verzweifeln: "Es ragt ein Wesensmerkmal auf nahezu allen Ebenen hervor: Lieblosigkeit. Sie ist in den Städten in unzähligen Szenen tagaus, tagein zu beobachten, sie ist schon selbstverständlich geworden." Die beißende Kritik, die der Psychologe Alexander Mitscherlich 1965 veröffentlichte, galt nicht nur der Gestalt der neuen Kommunen - ihren seelenlosen Wohnblocks, der Vorfahrt für Straßen und Autos, der Missachtung der Tradition, der Harmonie, der Geborgenheit; für alles das hatte die alte Stadt gestanden. Nein, Mitscherlich meinte auch die Stadt als politische Einheit, eine geringgeschätzte Größe, ohne Sinn für ihre historische und kulturelle Bedeutung ausgeliefert den Mächten der Wirtschaft, des Bundes, der Staatsbürokratie.

Sicher, das war in den theorieschweren sechziger Jahren; aber vieles von dem, was Mitscherlich beklagte, ist noch immer aktuell. Wenn der Deutsche Städtetag am Dienstag den Gemeindefinanzbericht vorlegt, wird die Botschaft trist genug sein; sie handelt vom jähen Ende der fetten Jahre, von sinkenden Steuereinnahmen, wachsenden Sozialleistungen, der immer größer werdenden kommunalen Unterschicht bankrotter Städte, die faktisch handlungsunfähig werden. Und das ist erst der Anfang. Die Finanzkrise trifft die Städte wegen der vielen Steuervorauszahlungen mit Verzögerung - dann aber mit voller Wucht.

Dabei gibt, paradoxerweise, gerade die Finanzkrise jenen in den Kommunen nachträglich recht, die noch vor wenigen Jahren ein einsames Rückzugsgefecht gegen den Neoliberalismus gefochten haben. Damals wurde das freie Spiel der Marktkräfte von der herrschenden Meinung als Lösung aller Dinge bejubelt und der Anspruch der Städte auf Mitgestaltung als Querulantentum von Provinzpolitikern abgetan, die von Gemeinsinn und Leitbildern faselten. Das Versilbern und Verleasen von kommunalen Betrieben und Besitztümern galt als fortschrittlich. Kommunen, die noch sozialen Wohnungsbau betreiben, die örtliche Wirtschaft und nicht den Bürger besteuern, die ordentlich wirtschaftende Sparkassen bewahren oder Energiepreise mitgestalten wollten, wurden als Staatsgläubige gescholten, Überbleibsel aus lange verschütteten Epochen vor der Shareholder-Value-Zeit. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat all dies als das enthüllt, was es war: als kurzlebige Ideologie.

Wenn die Zeiten nun härter werden, dürfen die Städte nicht erwarten, verhätschelt zu werden. Sie werden ihren Teil zu tragen haben und aufpassen müssen, nicht zu oft nach der helfenden Hand des Bundes zu rufen. Sie werden noch mehr sparen müssen. Nicht jedes neue Rathaus aus Chrom und Glas ist wirklich nötig, nicht jedes Museum über Weg und Wandel der örtlichen Weinpanscherei oder über das Schweinstreiberwesen im Spätmittelalter eine dringend erforderliche Aufwertung des Standorts, nicht jede Stadtverwaltung unterbesetzt.

Das alles ändert nichts daran, dass die Städte in der Finanzkrise wieder gänzlich unverdient den Kürzeren ziehen könnten. Wenn die Länder schon jetzt anfangen, Mittel aus dem Konjunkturpaket zum Stopfen von Etatlöchern abzuzweigen und sich dabei - allen Absprachen entgegen - fast die Hälfte der Fördersumme vorstellen, zeigen sie sich wieder als das, was sie viel zu oft schon waren. Laut Verfassung Anwalt ihrer Kommunen, gleichen sie in Wahrheit einem müden Pflichtverteidiger, der gerne mal während des Verfahrens einschlummert, beim Abrechnen des Honorars aber vor Energie bebt. Nein, das Geld gehört dahin, wo es gebraucht wird: zur Sanierung von Straßen und Schulen, zum Ausbau von Kitas und Krankenhäusern. Wenn einer in großem Stil investieren könnte, ja dringend müsste, sind es die Gemeinden, denen derzeit schon viele Milliarden Euro für solche Aufgaben fehlen.

Es ist wahr, seit Amtsantritt der großen Koalition hat sich für die Städte vieles verbessert. Vor allem die Rettung und sogar der Ausbau der Gewerbesteuer, die Rot-Grün so gern abgeschafft hätte, erwies sich schnell als Erfolgsgeschichte. Während die neue Steuerpolitik städtefreundlich war, ist eine ebenso wichtige Reform unterblieben. Die Städte brauchen mehr verbriefte Rechte.

Einstmals, bis ins 19. Jahrhundert hinein, waren Städte Bollwerke sonst unbekannter Freiheiten und erhoben den Anspruch, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Das Grundgesetz wollte starke Gemeinden, als es ihnen das Recht auf kommunale Selbstverwaltung zugestand. Derzeit haben sie nicht einmal das Recht auf eine verbindliche Anhörung, wenn der Bundestag soziale Wohltaten berät, die dann die Städte bezahlen dürfen.

Letztlich sollte die Verfassung vernünftige und direkte Regelungen zwischen Bund und Gemeinden zulassen und um ein altes und sehr vernünftiges Prinzip, heute grässlicherweise "Konnexität" genannt, ergänzen: Wer bestellt - mehr Kitas, mehr Sozialleistungen -, soll auch bezahlen. Nur so lässt sich, um noch einmal mit Mitscherlich zu sprechen, "die bedrohte städtische Freiheit in die Zukunft retten".

Mitscherlich, Alexander: Zitate Finanzen deutscher Städte und Gemeinden Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Pfiffe wie in dunklen Zeiten

Das 0:1 gegen Juventus Turin erinnert die Offiziellen des AC Florenz an die Moggi-Affäre - in die auch sie verwickelt sind

Rom - Ein 1:0 gegen den AC Florenz und Juventus Turin ist wieder ganz oben. Gleichauf mit Tabellenführer Inter Mailand - und auf jeden Fall der einzige ernstzunehmende Verfolger. Eine Mannschaft, die von den Oldies Alessandro Del Piero, 34, und Pavel Nedved, 36, geführt wird, hat es im zweiten Jahr nach dem Wiederaufstieg aus der zweiten Liga geschafft, den Abstand zu José Mourinhos Team Punkt für Punkt zu verkürzen. Und sich dabei vom Verwaltungsfußball früherer Zeiten zu verabschieden.

Dass die Abwehr schon länger nicht mehr die wichtigste Abteilung ist bei Juventus Turin, wurde gegen die Fiorentina offensichtlich. Im Olympiastadion von Turin erzitterte sich die Juve buchstäblich ihren Sieg unter der etwas naiven Dauerbelagerung der Gegner. Ein wenig mehr Treffsicherheit der jungen Spieler aus Florenz, eine genauere Spielleitung durch Schiedsrichter Massimililano Saccani und seine zerstreuten Linienrichter - und die Alte Dame hätte das Nachsehen gehabt. Tatsächlich aber übersah Saccani im Juve-Strafraum ein klares Foul des Schweden Olof Mellberg an dem Montenegriner Stevan Jovetic und verweigerte dem AC Florenz den Elfmeter. Damit nicht genug, annullierte er noch einen regulären Treffer von Alberto Gilardino wegen angeblichem Abseits.

Diese Fehler führten zu einem finale furioso - nicht nur auf dem Platz, wo der AC Florenz verbissen bis in die Nachspielzeit dem Ausgleich nachjagte. Nach dem Abpfiff schwiegen Trainer Cesare Prandelli und die Mannschaft beleidigt, während ihr Präsident wutentbrannt beim Fernsehen anrief. Das ist, nach Berlusconis Vorbild, bei den Bossen des Fußballs besonders beliebt, weil sie vor großem Publikum unwidersprochen die haarsträubendsten Dinge ausposaunen können. Silvio Berlusconi tat das noch vorige Woche zu den Verhandlungen um seinen Spieler Kakà, um den sich Manchester City vergeblich bemüht hatte. Diesmal ließ sich der Florentiner Andrea Della Valle in eine Sendung von Rupert Murdochs Bezahlfernsehen Sky schalten, um mit vor Wut zitternder Stimme zu verkünden, er sei "empört und angeekelt" und mit ihm die Stadt Florenz, die "mehr Respekt" verdiene, auch von den Schiedsrichtern der Serie A. Ähnlich hatte vor ein paar Tagen schon Della Valles großer Bruder Diego getönt, dem der Klub gehört, seitdem basteln beide an Verschwörungstheorien: "Es ist, als wären wir in dunkle Zeiten zurückgefallen."

Gemeint ist natürlich die Ära Moggi, gemeint sind die Schiedsrichtergeschenke für Juventus Turin, gemeint sind die Spielmanipulationen. Solche Andeutungen kosten nichts, sind aber eigentlich ein bisschen peinlich, wenn man bedenkt, dass derzeit in Neapel nicht nur der einstige Juventus-Sportdirektor Luciano Moggi angeklagt ist, sondern auch Diego Della Valle. Im übrigen wird Fiorentina-Held Adriano Mutu nach wie vor von dem Agenten Alessandro Moggi betreut, obwohl Moggi junior gerade eine Bewährungsstrafe wegen Nötigung kassiert hat. Soviel zu den dunklen Zeiten.

Wenn auch der Sieg für Juve nicht ganz verdient war - der erste Erstligatreffer des 23-jährigen Claudio Marchisio war es bestimmt. Del Piero hatte ihm den Ball wunderbar weich in den Lauf platziert, und Marchisio reagierte prompt. Dass es das einzige Tor blieb, verdankte die Fiorentina ihrem Torwart Sebastien Frey, dessen Paraden den nach langer Verletzungspause noch ungelenken Kollegen Gianluigi Buffon auf der anderen Seite ziemlich blass aussehen ließen. Der lange Buffon umarmte am Ende den bulligen Frey sehr ausführlich und flüsterte ihm nette Sachen ins Ohr. Das sah versöhnlich aus. Vielleicht hatte Buffon Frey gesagt: "Tut mir leid. Ihr wart besser, aber du weißt ja, wie das ist." Damit es ihm die Fernsehkamera nicht von den Lippen lesen konnte, hielt Buffon sich eine Hand vor den Mund. So lässig kann man die kleinen Ungerechtigkeiten des Lebens auch regeln. Birgit Schönau

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Wie Charlie seine Goldbarren rettet

Ein Wettbewerb bringt die Lösung für den Kultfilm "The Italian Job"

Es ist der prototypische Cliffhanger: Am Schluss von Peter Collinsons britischer Gaunerkomödie "The Italian Job" ("Charlie staubt Millionen ab") von 1969 hängt ein Bus über einer Alpenklippe. Im Heck, das über der Schlucht schwebt, befinden sich dreieinhalb Tonnen gestohlener Goldbarren. Im vorderen Teil sitzen die Diebe mit ihrem Chef Michael Caine. Jeder Versuch, an die Barren heranzukommen, lässt das Fahrzeug gefährlich Richtung Abgrund kippen. Die Lage scheint aussichtslos. Da dreht Caine sich um und sagt: "Wartet mal einen Moment, Jungs, ich habe eine tolle Idee!"

Darüber, welche Idee das sein könnte, wurde vierzig Jahre lang spekuliert, denn mit diesem Satz endet der Film. Ein Rätsel, das die Royal Society of Chemistry nicht ruhen ließ. Vergangenen Oktober rief sie dazu auf, eine mathematisch nachvollziehbare Auflösung für die vertrackte Lage zu liefern: Wie könnte man (ohne Hubschrauber) den Bus in dreißig Minuten sicher entladen? Nach Sichtung von rund 2000 Einsendungen steht nun John Godwin, ein 39-jähriger Informatiker aus Surrey, als Sieger fest.

Godwins Lösung sieht vor, zunächst die Fenster des Busses einzudrücken, die hinteren Fenster nach außen, die über der Vorderachse nach innen. Dann müsste ein Mann durch eins der vorderen Fenster hinausklettern und die Luft aus den Vorderreifen lassen, um die Schaukelbewegung des Gefährts zu vermindern. Vor allem müsste der fast volle Benzintank entleert werden, was das Heck des Busses um etwa 140 Kilo erleichtern würde. Weitere Männer könnten aussteigen und den Bus zusätzlich mit Steinen beschweren. So wäre das Gold gefahrlos auszuladen.

John Godwin, der "The Italian Job" nach eigenen Angaben "zig Mal" gesehen hat, spürte zur Detailprüfung einen der letzten existierenden Bedford-VAL-Busse des Typs auf, der im Film verwendet wird. Zur Belohnung darf er nun eine dreitägige Reise zum Filmschauplatz Turin antreten. ALEXANDER MENDEN

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Wolken über dem Leuchtturm

Bundesliga-Tabellenführer Hoffenheim weiht seine Arena in Sinsheim ein, doch den Trainer Ralf Rangnick plagen personelle Probleme

Sinsheim - Es war ein Tag der Danksagungen für den "Mitbürger Dietmar Hopp", wie der aus Stuttgart angereiste Ministerpräsident Günther Oettinger sperrig formulierte. Hopp selbst zog am Samstag an der Kordel, um den Schriftzug Rhein-Neckar-Arena vor dem Haupteingang zu enthüllen; er steckte auch das erste Ticket in die Kontrollschranke - wie es einem Haus- und Bauherren zusteht, der 60 Millionen Euro Errichtungskosten überwiegend aus eigener Tasche bezahlt hat. Der stets zurückhaltende Mäzen war dabei stolz wie ein Kind, das im Sandkasten eine prächtige Burg gebaut hat. Später stand Hopp auf dem Rasen zwischen dem Mitbürger Oettinger, der angemessen subjektiv vom "schönsten Fußballstadion Deutschlands" sprach - und Frau Paula Fischer, die bei Hoffenheims Arena-Weihe ihren 99. Geburtstag feierte.

Ärger über Vip-Gäste

Während die Stehplatzfans auf ihrer neuen, steilen Einrang-Tribüne den Finanzier mit Chören hochleben ließen, sagte Hopp mit weichem Vibrato: "Ich wünsche mir hier in diesem Juwel eine unendliche Fortsetzung des Wunders von Hoffenheim." Das neue schmucke Domizil seines groß gewordenen Dorfklubs geriet nach Hopps Gusto: sanft eingebettet in die Hügel des Kraichgaus, luftig anmutend, mit 30 100 Plätzen gediegen bemessen, von der Piano-Lounge bis zur Fankneipe alle Besucherkreise bedienend: "Die Arena ist ein Leuchtturm für die Region, aber kein Protztempel", sagte Geschäftsführer Jochen A. Rotthaus zur neuen Trutzburg in Sinsheim, Dietmar-Hopp-Straße 1, direkt an der A 6, vis á vis eines Auto- und Technikmuseums, das Concordes und Ferraris ausstellt. Zur Einweihung gab es ein So-la-la-Spiel, das konditionell noch müde Hoffenheimer gegen eine unterklassige Rhein-Neckar-Auswahl 6:2 (2:1) gewannen - und eine famose Musik- und Lichtershow: mit Trommlern, Populärgeiger David Garrett und einem Feuerwerk.

Das 3500-Tonnen-Dach der Arena, das nur dünne Stützen an der umlaufenden Fassade tragen, soll optisch laut Architekten "frei wie eine Wolke schweben". Viel Arbeit hat bis zur Bundesliga-Premiere gegen Cottbus am nächsten Samstag der Greenkeeper, der neue Rasen ist nicht rutschfest, wächst schlecht an. Trainer Ralf Rangnick, gewohnt reibungsfreudig, rüffelte zudem die Krawatten-Kundschaft, denn von knapp 2000 Vips (Business-Seats, 40 Logen) saßen in den ersten zehn Minuten nach der Halbzeit, als drei Hoffenheimer Tore fielen, nur gefühlte 20 auf den Plätzen, die restlichen noch am Buffet: "Vielleicht wurde im Vip-Raum ja auf den Tischen gezaubert", mutmaßte Rangnick spitz, "ich hoffe, das wird gegen Cottbus anders, sonst bekomme ich Probleme mit meinem Gemüt. Da bin ich vielleicht zu sehr Traditionalist. Da täten mir die vielen Fans in der Seele weh, die zurzeit keine Karten mehr bekommen."

Alle Abo-Tickets, 20 000, sind vergriffen, der Hype um den Bundesliga-Tabellenführer hält an. Am Zeitungskiosk liegen erste Hoffenheim-Hochglanzhefte aus, und nur noch selten gibt es in der Republik Wissenslücken wie neulich im TV-Quiz bei Günther Jauch, als ein Telefonjoker nötig war bei der Frage, ob bei Hoffenheim Demba Bi, Ba, Butze oder Mann mitspielt. Ba ist aktuell der einzige Gesunde aus der furiosen Sturmreihe, die 1899 wie im Rausch durch die Vorrunde trug. So ist das neue Arenadach derzeit nicht die einzige Wolke über Hoffenheim, nach Jahren unter stabilem Hochdruck-Einfluss.

Vedad Ibisevic kam auf Krücken zur Stadiontaufe. Der bosnische Torjäger war an 60 Prozent der 42 Hinrunden-Treffer beteiligt, er erzielte achtmal das türöffnende 1:0. Im Trainingslager in La Manga riss sein Kreuzband, an jenem verhängnisvollen Abend, als zudem Spielmacher Carlos Eduardo mit HSV-Stürmer Olic boxte; er ist nun zwei Spiele gesperrt. Als dritter Offensivartist fällt wohl auch Chinedu Obasi (Faserriss) aus. Im Januar 2008 legte Hoffenheim in La Manga die Grundlagen für ein surreales Superjahr - diesmal besteht Gefahr, dass das Camp in Spanien einen Bruch verursacht hat. Die Testspiele sahen eher durchwachsen aus, auch am Samstag, als kein Einheimischer, sondern Christian Bolm von Wormatia Worms das erste Tor in der Arena schoss, bevor 1899 zwei Elfmeter halfen - gegen Kicker aus Sandhausen, Neckarau oder Lauda.

Statt sich ums "Feintuning" kümmern zu können, wie erhofft, bastelt Rangnick nun an Großbaustellen. Ohne Ibisevic/Obasi/Eduardo, das ist wie: ohne Ribéry/Toni/Klose - ohne Auffangnetz im Kader. Vom flotten Dreier- muss 1899 auf einen Zweier- oder Solosturm umstellen, statt Dauerhurrastil wieder etwas mehr Defensive pflegen. Der einzige verbliebene Angreifer neben Ba, der Brasilianer Wellington, ist mit Hoffenheims Pressing und Spieltempo bisher taktisch und läuferisch überfordert. Man erwog sogar eine Ausleihe des Fünf-Millionen-Imports, doch Wellington will und darf bleiben, "er muss aber zulegen", mahnt Rangnick. Offensivroutinier Francisco Copado verabschiedete sich am Samstag - als Torschütze zum 6:2 - zurück nach Unterhaching. Inoffizieller dritter Stürmer ist aktuell der hochveranlagte Marco Terrazzino. Er ist 17.

"Null bis zwei neue Spieler"

An der Transferfront ist laut Manager Jan Schindelmeister "von null bis zwei" neuen Stürmern "noch alles möglich". Doch weil Ablöse, Alter und Charaktermerkmale der Gesuchten zum Leitprofil des Hauses passen sollen, gebe es "keine Panikkäufe". Das eigene Schmerzempfinden sei ohnehin geringer als Außenstehende glauben, sagt Schindelmeiser: "Unsere Erwartungshaltung ist ja keinesfalls die Meisterschaft. Die Ausfälle dürfen allerdings kein Alibi sein." Auch Rangnick stapelt tief, er hofft, dass "endlich das Gequatsche aufhört, wir seien schon Titelkonkurrent der Bayern. Wir haben im Angriff nicht mehr dieselbe Qualität."

Den Hinrunden-Nimbus aus der Übergangsheimat Mannheim kann Hoffenheim in der neuen Arena auf Dauer ohnehin nicht halten. Man blieb dort in allen Spielen unbesiegt. Moritz Kielbassa

Pyrotechnik über dem Wolkendach: Die Arena-Weihe in Sinsheim. Foto: AP

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500 Tage bis zur Südafrika-WM

Zakumi ist kaum zu sehen

Johannesburg (dpa) - In Südafrika erreicht der Countdown für die WM 2010 an diesem Montag die 500-Tage-Marke - in knapp anderthalb Jahren wird in Johannesburgs Soccer City das Turnier angepfiffen. Und nach Ansicht von Joseph Blatter, dem Präsidenten des Fußball-Weltverbandes Fifa, wird der erste WM-Gastgeber aus Afrika die Herausforderung meistern: "Südafrika ist ein organisiertes Land. Sie werden es schaffen."

Allen Zweiflern, gelegentlichen Streiks und Lieferproblemen zum Trotz sehen sich auch die Organisatoren auf Kurs. Die Stadien liegen mit wenigen Ausnahmen im Zeitplan oder sind ihm gar voraus, und auch die übrige Infrastruktur nimmt zunehmend Gestalt an. Im März bereits will der Deutsche Fußball-Bund (DFB) sein WM-Quartier bekanntgeben, obwohl die Qualifikation noch nicht gesichert ist. Gerüchten zufolge liegt es im Naherholungsgebiet der Johannesburger am Hartebeesport-Damm - abgeschieden, aber mitten zwischen den WM- Standorten Johannesburg, Pretoria und Rustenburg.

Dennoch ist in Südafrikas Öffentlichkeit wenig von WM-Begeisterung zu spüren. Das offizielle WM-Maskottchen - der lächelnde Leoparden-Charmeur Zakumi - ist kaum präsent. Dagegen stöhnen die Südafrikaner über lange Staus, die durch die WM-Arbeiten bedingt sind; andere sind froh, dass die Infrastruktur-Erneuerung noch vor der globalen Finanzkrise abbezahlt wurde. Die bisher überschaubaren Kostenüberschreitungen des 2,5 Milliarden Euro teuren Ereignisses würden sonst astronomische Ausmaße annehmen, die den Steuerzahler noch mehr belasten würden als bisher.

Südafrika hat mittlerweile durchaus einige Erfolge vorzuweisen - darunter ein spezielles Visum für WM-Touristen. Innovativ wollen die Südafrikaner zur Vermeidung langer Warteschlangen sogar Beamte der Einwanderungsbehörde an allen wichtigen Flughäfen in Ländern wie Deutschland, Indien oder Großbritannien stationieren. Dort sollen sie den Fluggästen vor dem Einchecken Visa in die Pässe stempeln und ihre Namen mit Listen einschlägig bekannter Fußball-Rowdys abgleichen.

Sorgen bereitet Simbabwe

Problemzonen bleiben die Bereiche Sicherheit und Transport. Das WM-Gastland äußerte sich Ende 2008 besorgt über die hohe Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle. Sie seien 2007 gemeinsam mit krimineller Gewalt die beiden wichtigsten Faktoren für einen unnatürlichen Tod gewesen, hatte der Medizinische Forschungsrat betont. Obwohl es Erfolge bei der Reduzierung der Unfallzahlen gibt, bleiben Experte skeptisch.

Kopfschmerzen bereiten das ehrgeizige Modernisierungsprogramm für die am Kap gebräuchlichen Sammeltaxen sowie das Bus-System, das in Johannesburg f r den Transport der Gäste sorgen soll. Unklar ist, ob es bis zum WM-Start am 11. Juni 2010 fertig wird. Und die Kriminalitätsrate, die trotz Rückganges weit über dem internationalen Schnitt liegt, bleibt ebenso ein Sorgen-Faktor wie die ungelöste Krise im Nachbarland Simbabwe. Sie droht zunehmend auf die Nachbarländer überzugreifen. Die vor allem durch fliehende Simbabwer verbreitete Cholera forderte in Südafrika bereits 34 Tote und mehr als 5000 Erkrankte.

Einen Rückschlag erlitten die Vorbereitungen auch durch den Drogenschmuggel einer südafrikanischen Stewardess, die in London mit rund 55 Kilogramm Cannabis und Kokain aufflog. "Wer unbemerkt solche Mengen Rauschgift durch die Kontrollen am Flughafen schleusen kann, der kann auch andere Dinge an Bord schmuggeln", lautete ein oft gehörter Kommentar in den Medien.

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Washingtoner Realsozialismus

Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe. Jahrelang haben europäische Regierungen aller Couleur versucht, mit schärferen Regeln den Wildwuchs immer neuer Fonds und Finanzierungstricks an den Weltmärkten zu beschneiden. All die Vorschläge mit Absendern aus Paris oder Berlin, aus Brüssel oder Tokyo landeten am Ende stets in Washingtoner Müllcontainern. Denn die Regierung von George W. Bush witterte, wo das Wörtchen "Regulierung" draufstand, sogleich Sozialismus. Und wo das US-Finanzministerium blockierte, da durfte sich auch der in Washington ansässige Internationale Währungsfonds nicht bewegen.

Nun schreiben andere - und sie formulieren fast dieselben Gedanken. Und weil ein Anderer inzwischen im Weißen Haus regiert, besteht eine reelle Chance, dass dem geduldigen Papier nun endlich sehr eilige, unduldsame Reformen folgen. Hedgefonds und Hypothekenhändlern will der neue Präsident Barack Obama mehr auf die Finger schauen, und Großbanken könnte demnächst sogar schier Undenkbares drohen: das strikte Verbot, sich auf übermäßig riskante Eigengeschäfte überhaupt noch einzulassen.

Das nämlich war der wahre und empörende Realsozialismus an der Wall Street. Große Häuser wie Goldman Sachs, Merrill Lynch oder auch Deutsche Bank erspekulierten sich in fetten Jahren eine goldene Nase, um sich dann in Pleitezeiten - und im Namen der Systemrettung - die Verluste vom Steuerzahler bezahlen zu lassen. Dieses höchst einseitige Geschäft will Obama so nicht mehr dulden. Der Wall Street drohen endlich strengere Spielregeln - und dasselbe dürfte auf London und Frankfurt, auf Tokio und Hongkong zukommen. cwe

Finanzpolitik in den USA Regulierung der internationalen Finanzmärkte IWF SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Serben und Bosnier in Melbourne

Prügel auf der Picknick-Wiese

Melbourne - Bei Sportveranstaltungen gibt es in Australien öfter Händel. Polizei-Inspektor Chris Duthie klang deshalb recht unaufgeregt, als er am Freitagabend bei den Australian Open vor die Kameras trat und verkündete, es habe "einen kleinen Stuhl-Werf-Wettbewerb" zwischen zwei Gruppen gegeben, eine Frau sei getroffen und leicht verletzt worden. 30 Menschen seien deshalb der Anlage verwiesen worden. Ein Unruhestifter wurde auf der Stelle mit einer Geldstrafe belegt, zwei andere müssen demnächst vor einem Richter erscheinen, der entscheiden wird, ob es zu einer Anklage kommt. Der Grund für den Zusammenstoß seien "ethnische Rivalitäten" gewesen. Bei der einen Gruppe habe es sich um Serben gehandelt, bei der anderen um Bosnier. Vor den Toren hätten die sich weiter beharkt, bis die Polizei dazwischen ging. "Wir können nicht alles verhindern", sagte Duthy, "aber hier haben wir schnell und effektiv reagiert."

Geplante Aktion

Seit Tagen köchelt die Stimmung auf den Tribünen. Am Mittwoch waren bereits mindestens fünf Fans verbannt worden, nachdem es nach dem Match zwischen dem Kroaten Marin Cilic und dem Serben Janko Tipsarevic Ärger gegeben hatte. An einem Bierstand war es zu einem Handgemenge gekommen. Am Freitag stand ein Match von besonderer Brisanz an: Der Serbe Novak Djokovic traf in der dritten Runde auf Amer Delic. Der lebt zwar bereits seit seinem 15. Lebensjahr in den USA, doch weil er in Tuzla geboren wurde, haben fanatische Bosnier ihn als Liebling auserkoren. Bereits bei Delics erstem Match in Melbourne hatte es Ärger gegeben, weil die Schreier sich nicht an alle Regeln hielten.

Vor der Partie gegen Djokovic hatte Delic seine Anhänger in Interviews aufgefordert, das Match nicht zu stören und seinen Gegner nicht zu beleidigen. Die Bitte platzierte er auch auf seiner Homepage. So lange er Djokovic in der Rod Laver Arena gegenüberstand, blieb es auch weitgehend ruhig. Als Djokovic 6:2, 4:6, 6:3, 7:6 gewonnen hatte, umarmten er und Delic sich am Netz. Der Serbe und der gebürtige Bosnier sind Freunde. Ihre Geste beeindruckte die Gruppen, die sich wenig später auf der Picknick- Wiese vor der Großbildleinwand begegneten, allerdings wenig. Erst flogen Beleidigungen, dann Stühle. Einige Umstände legen die Vermutung nahe, dass die Aktion geplant war. Die Unruhestifter waren nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Die Mehrheit trug keine Fahnen oder Kleider, die auf ihre Herkunft schließen ließen. Alkohol sei auch nicht im Spiel gewesen, teilte die Polizei mit. Somit hatte der Vorfall ganz andere Vorzeichen als jener Zusammenstoß, zu dem es vor zwei Jahren zwischen 150 Fans unterschiedlicher Volksgruppen gekommen war. Das Problem politisch motivierter Unruhestifter verfestigt sich auf der Tennisbühne offenbar.

Delic verurteilte die Vorfälle, als er davon hörte. "Das ist wirklich traurig. So etwas gehört hier einfach nicht hin. Wir spielen hier nur Tennis", sagte der 26-Jährige, der in Jacksonville/Florida wohnt. Djokovic, der im vergangenen Jahr beim Turnier in Indian Wells erklärt hatte, das Kosovo werde immer ein Teil Serbiens sein, war weniger deutlich. "Auf dem Platz war es ein faires Match", sagte der Vorjahres-Champion: "Auf das, was außerhalb passiert, habe ich keinen Einfluss. Ich versuche, mich auf mein Tennis zu konzentrieren." Nach fünf Fragen zu den Vorfällen wehrte der 21-Jährige weitere zu dem Thema ab. Ivan Ljubicic, Kroate und zwei Jahre lang Mitglied des Player Council, hatte vorher gesagt: "Ich habe immer den Eindruck, viele Fans kommen aus politischen Gründen zu diesem Turnier und nicht, um die Spieler anzufeuern. Das gibt es sonst nirgends." René Hofmann

Djokovic, Novak Delic, Amer Australian Open im Tennis Sportfans SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Einer der Ersten

Burkhard Roozinski nahm vor zwei Jahren die Abfindung bei Volkswagen. Er verkauft nun Blumen und mediterrane Spezialitäten

Von Michael Kuntz

Kurzarbeit und Autokrise können ihm egal sein. Burkhard Roozinski, 44, hat die Abfindung von Volkswagen genommen und sich selbständig gemacht. Zusammen mit seiner Frau Simone, die er im Mai geheiratet hat, betreibt er einen Laden mit einer ungewöhnlichen Kombination im Angebot: Floristik und mediterrane Spezialitäten. Das Geschäft "La Rosa" liegt in Meinersen im Westen des Landkreises Gifhorn. An dem ländlichen Ort mit 8900 Einwohnern zwischen Wolfsburg und Hannover fährt man auf der Bundesstraße 188 rasch vorbei. Es gibt eine Umgehungsstraße. Wer nicht nach Meinersen will, muss nicht nach Meinersen. Schlagzeilen machte Meinersen nur einmal. Das war 1975, als fünf Feuerwehrleute bei einem Waldbrand von Flammen eingeschlossen wurden und ums Leben kamen. Ein Denkmal erinnert an sie.

Nach dem Abbiegen auf der neugebauten Kreuzung an der B 188 ist der erste Eindruck von Meinersen kein besonderer: Aldi, Opel und Rewe. Längs der Hauptstraße scheint der Preis das zentrale Verkaufsargument zu sein. Der Marken-Discounter Netto ist da, der Drogist Schlecker, der Textil-Diskont Kik und Hadi - der Schnäppchenjäger mit Postamt und mehr: "Der billigste Bäcker backt hier für Sie!"

Neben dem Kommerz-Krach hält sich heile Welt: Die Pizzeria Localino, die Volksbank. Über dem Augenoptiker Monokel befindet sich die Praxis der Sprachtherapeutin Dorle Brüll. Meinersen liegt an den südlichen Ausläufern der Lüneburger Heide, hier weht ein frischer Wind. Man ist in Niedersachsen, der zentralen Region in der Europäischen Union, dem flachen Land der Pferde, Heidschnucken und Schützenvereine. Manches übertrifft alle Vorurteile. Beim dieser Tage beendeten Preisschießen des Schützenvereins Meinersen von 1853 e.V. war tatsächlich der erste Preis ein Schwein, der zweite Preis ein halbes Schwein und der dritte. . .

Im hinteren Teil der Hauptstraße am Beginn der historischen Gebäude in parkähnlicher Umgebung unweit des Ufers der Oker steht das rote Klinkerhaus mit dem Laden "La Rosa". Links die Blumen, rechts Öl vom Fass, Wein aus Italien, Pastete aus Frankreich, alles, was es Leckeres in den Ländern am Mittelmeer eben so gibt. "Ich war damals einer der Ersten, der unterschrieben hat", erinnert sich Burkhard Roozinski in dem kleinen Büro hinter dem Geschäft an seinen Abschied von Volkswagen. "Das war für mich natürlich auch eine Lebensentscheidung", sagt der stabil gebaute Mann in seiner ruhigen, sehr freundlichen, optimistischen Art.

Seinem zweiten Berufsleben als Einzelhändler in Meinersen war ein erstes bei Volkswagen vorausgegangen. Roozinski war 26 Jahre bei VW, und das schüttelt er nicht mal so eben ab: In der Lokalzeitung schaut er als Erstes, was bei VW los ist. Dort hat der in Mering bei Aichach in Bayern geborene und früh nach Wolfsburg umgesiedelte Sohn eines Karussellbauers mit 16 Jahren angefangen, begonnen mit einer Ausbildung als Werkzeugmacher. Er schaffte den Sprung vom Leistungslohn zum Angestellten zehn Jahre später, nach dem Abendstudium.

Roozinski wurde Einkäufer. Die Beschaffung von Motor- und Getriebeteilen bei Gießereien war stressig, denn oft ging es darum, kurzfristige Spitzen beim Bedarf abzufedern über externe Lieferanten - wenn die Kapazitäten der konzerneigenen Werke nicht mehr ausreichten. Es gab lange und schwierige Besprechungen. "Da hat man viel gelernt", lacht Roozinski heute.

Ursprünglich wollte der VW-Einkäufer sein Leben im Weltkonzern nur für ein Jahr unterbrechen, um das im März 2006 eröffnete Ladengeschäft anlaufen zu lassen. Doch dann kam das Abfindungsangebot, das VW damals seinen Mitarbeitern in den westdeutschen Werken machte. "Bei den Aufhebungsverträgen gab es richtig Geld", und weil er so lange dabei war, "da habe ich das volle Programm gekriegt".

Nach fast drei Jahren weiß Roozinski: Sein Laden läuft. Bei den Blumen gibt es eine Sommerpause, denn dann nehmen die Kunden ihre eigenen aus dem Garten. Das brachte Roozinski auf eine weitere Idee. Während Frau und Angestellte Ölfläschchen und andere Präsente im Laden originell verpacken, kann er sich um etwas anderes kümmern. Im Sommer veranstaltet er nun Ausflüge in Schlauchbooten auf der Oker mit Verkostung von Käse und Wein - seine zweite Firma.

Etwas ins Grübeln kommt der Existenzgründer nach 26 Jahren Zugehörigkeit zu Volkswagen, als es um den Fuhrpark seiner neuen Aktivitäten geht. Anders als bei den Werksrentnern sind für mit Abfindung ausgeschiedene VW-Leute die Zeiten der schönen Mitarbeiter-Rabatte vorbei. Da ist für Jungunternehmer selbst der leicht zu beladende Mini-Van Tiguan vorerst unerschwinglich. Bei Familie Roozinski laufen nun ein uralter Golf, ein Citroën Berlingo und, es ist ihm ziemlich peinlich, ein Toyota Landcruiser. Der war gebraucht so günstig, dass kein Weg an ihm vorbei führte. "Da ist nicht so viel Technik dran, aber er läuft." Bei den Boot-Events gab es schon Diskussionen um das Produkt des Erzrivalen von Volkswagen, und Roozinski schaut jetzt nach mehrjährigen Touaregs. "Ich werde sicher eines Tages den Weg zurückgehen und wieder VW fahren."

Kurzarbeit und Autokrise können Roozinski jetzt egal sein. Das stimmt zwar - aber nicht ganz. Denn in Meinersen und Umgebung wohnen viele Menschen, die bei Volkswagen oder seinen Zulieferern arbeiten. Ihr Wohlstand und ihre Konsumfreude hängen von der Lage bei dem nach Toyota und General Motors weltweit drittgrößten Autohersteller ab. So ist Roozinski nun zwar seit bald drei Jahren nicht mehr bei VW, aber irgendwie ein bisschen doch noch.

MutMacher

In jeder Veränderung steckt eine Chance. Eine SZ-Serie

6000 verließen Volkswagen

Volkswagen verbesserte Mitte 2006 die Bedingungen für ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Unternehmen deutlich. 6000 VW-Beschäftigte gingen, einer von ihnen ist Burkhard Roozinski. Das Angebot richtete sich an die 85 000 tariflich bezahlten Mitarbeiter in den westdeutschen Werken der Jahrgänge 1952 und jünger. Das waren damals etwa zwei Drittel der Belegschaften in Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter, Kassel, Emden und Hannover.

Bei einer Zugehörigkeit zum Betrieb bis zu fünf Jahren begannen die Abfindungen bei 40 680 Euro. Wer mehr als zwanzig Jahre dabei war, konnte bis zu 195 480 Euro bekommen. Für Schnellentschlossene, die der Offerte innerhalb von drei Monaten zustimmten, gab es 54 000 Euro extra. So betrug die maximale Abfindung dann 249 480 Euro brutto. Nach Steuern errechnete die Personalabteilung von VW einen durchschnittlichen Nettobetrag für Bezieher der Höchstsumme von 139 000 Euro.

Das Ziel, auch die Personalkosten spürbar zu senken, wurde erreicht. Allerdings nicht nur durch die Abfindungsaktion, sondern auch über einen neuen Haustarif, bei dem die Mitarbeiter wieder an fünf anstatt bis dahin vier Tagen arbeiteten, freilich für fast das gleiche Geld. Wegen der Sparmaßnahmen und neuer erfolgreicher Automodelle gelang es, die schwächelnde Marke VW zu sanieren. Dann schwappte nach der Immobilienkrise in den USA die Finanzkrise nach Europa und ließ die Nachfrage nach neuen Autos einbrechen.

Nun musste Europas größter Autohersteller für 61 000 Beschäftigte in seinen deutschen Werken Kurzarbeit beschließen, zunächst für die Tage vom 23. bis 27. Februar. mik

Nächsten Montag lesen Sie:

Thimo Schmitt-Lord verteilt Geld des Chemikonzerns Bayer für wohltätige Zwecke

Burkhard Roozinski war Einkäufer bei Volkswagen in Wolfsburg. Mit seiner Abfindung eröffneten er und seine Frau Simone einen kombinierten Laden für Blumen und Mittelmeer-Produkte in Meinersen, einem Dorf bei Gifhorn. Foto: mik

VW AG (Volkswagen AG): Personal Unternehmensgründungen in Deutschland SZ-Serie MutMacher SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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UCI-Chef stützt Armstrong erneut

Sperre für Schumacher

Berlin (SZ) - Pat McQuaid, der Präsident des Radweltverbandes UCI, pflegt selten eine durchgehend konsequente Haltung, wenn es darum geht, Dopingsünder zu sanktionieren oder zumindest zu geißeln. Diese Politik hat er auch am Rande des Berliner Sechstage-Rennens fortgesetzt, bei dem Lokalmatador Erik Zabel, 38, seine finalen Sprints als Profi zeigt. Denn zunächst gab sich der Ire kompromisslos, als er über Stefan Schumacher sprach. Der Nürtinger war in Nachtests von der Tour de France positiv auf die Epo-Variante Cera, dennoch beantragt er nun eine Lizenz, da es gegen ihn noch kein Verfahren gebe. "Es wird eine Verurteilung durch die französische Antidoping-Agentur geben, und der werden wir uns anschließen", sagte McQuaid dazu in Berlin. Das umstrittene Comeback Lance Armstrongs bezeichnete er dagegen erneut als tolle PR für den Radsport - und den 2005 veröffentlichten Nachweis, dass der US-Rekordsieger 1999 mit Epo gedopt hatte, als "Zeitungs-Story". Die spätere Analyse "zu wissenschaftlichen Zwecken" habe keine sportrechtliche Relevanz, findet er. Für Berlins Sixdays sieht das Reglement übrigens insgesamt nur sechs Urintests vor. Nach Epo oder Cera wird erst gar nicht gesucht, so UCI-Mann Alexander Donike: "Zu teuer."

Schumacher, Stefan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Intel-Verwaltungsratschef geht

Der Verwaltungsratschef des weltweit größten Chipherstellers Intel, Craig Barrett, zieht sich im Mai zurück. Der 69-jährige Barrett war Intel-Konzernchef von 1998 bis 2005. Seine Nachfolgerin an der Spitze des Verwaltungsrates werde die ebenfalls 69-jährige Jane Shaw, wie Intel mitteilte. Sie war jahrelang Chefin des Medizintechnik-Spezialisten Aerogen. Barrett betonte in einem Interview mit dem Wall Street Journal, sein Rückzug habe nichts mit den aktuellen Problemen von Intel in der weltweiten Wirtschaftskrise zu tun. Der Abschwung des Computermarktes macht auch dem Chipkonzern zu schaffen. Der Gewinn des Unternehmens war im vergangenen Quartal um 90 Prozent eingebrochen. Intel kündigte deshalb die Schließung mehrerer älterer Fabriken und den Abbau von bis zu 6000 Arbeitsplätzen an. Intel habe schon zehn solcher Krisen überstanden, so Barrett. "Ich denke nicht, dass wir je wettbewerbsfähiger waren. Sie brauchen mich nicht mehr." Er werde sich unter anderem mehr um seine Luxus-Hotelranch in Montana kümmern. dpa

Craig Barrett Foto: Reuters

Barrett, Craig R.: Karriere Intel Corp.: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wilde Erdbeeren in Colorado

Wie die Rechte an Bergmans Filmen nach Aspen kamen

Wer sich auf die Spur Ingmar Bergmans begeben will, der wird dies wohl in Schweden tun, in Uppsala, wo der große Regisseur geboren wurde, in Stockholm, wo er Theater machte, oder auf der Ostseeinsel Fårö, wo er viele Filme drehte und 2007 starb. Wer sich freilich für die Rechte an Bergmans Filmen interessiert, der muss neuerdings weiter reisen - an einen unvermuteten Ort, der Kinoprominenz eigentlich nur als sonnenbebrillte Skihasen kennt: nach Aspen, Colorado.

Wie kommt Bergman in die Rocky Mountains? Die ehrenwerte Bezirksrichterin Denise K. Lynch hat ihn hingebracht. Eine Tochterfirma der Svensk Filmindustri, der größten Produktionsgesellschaft Skandinaviens, hatte in den 90er Jahren in amerikanische Kleinstadtkinos investiert. Als die Tochter pleite ging, weigerte sich Svensk, die Finanzierungszusagen aufrechtzuhalten. Die Betreiber des Isis-Kino in Aspen klagten auf Schadensersatz. Sieben Millionen Dollar wurden ihnen 2003 zugesprochen.

Die Schweden weigern sich aber seither zu zahlen, weshalb Richterin Lynch nun die Pfändung des mithin wertvollsten Svensk-Besitzes verfügte: die Rechte an mehr als 200 Filmen, darunter das komplette Werk Bergmans, von "Wilde Erdbeeren" bis "Fanny und Alexander", aber auch andere bekannte Titel wie Lasse Hallströms "Mein Leben als Hund". Während Svensk nach Angaben des Branchenmagazins Variety das Urteil ignoriert, widmen sich die Aspener Kinobetreiber dem Geldverdienen: Sie bieten die Rechte auf einer Internetseite (www.swedishclassicfilms.com) feil, die aussieht, als hätte der Webdesigner 1996 die Arbeit eingestellt. Weil Svensk die Originalkopien nicht herausgibt, haben sie sich, sofern erhältlich, DVDs besorgt.

Es ist ein harter Winter für das Bergman-Erbe, nicht nur in den Bergen Colorados. Auch die Errichtung eines Museumszentrums auf Fårö, das Bergmans Namen tragen soll, geht nicht voran. Ein wichtiger Finanzier ist abgesprungen, berichtet das Svenska Dagbladet. Der Bauunternehmer Joachim Kuylenstierna teilte mit, er verfüge nicht mehr über die nötigen Mittel. Kuylenstierna wartete mit einer recht einleuchtenden Erklärung für seine Geldnot auf: Eine Verurteilung wegen Drogenmissbrauchs und Körperverletzung habe ihn etwas aus der Bahn geworfen. ROMAN DEININGER

Bergman, Ingmar Kultur in Schweden SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Täglich predigt Heiner Brand

Im neuformierten Handballteam steht das Wort "WM-Halbfinale" auf dem Index

Zadar - Seltsam: keine neuen Hiobsbotschaften bei den Handballern. Die Verletzten und Kranken genesen, die Neuen zeigen Klasse, die Alten spielen auf hohem Niveau, in jeder Partie wird es ein wenig besser, und am Freitag hatte Bundestrainer Heiner Brand sogar Ausschlafen angeordnet. Und immer noch: keine neuen Hiobsbotschaften. Das gab es nie in den vergangenen Jahren bei großen Turnieren, irgendetwas war immer, aber diesmal, da die Erwartungen so niedrig waren, läuft alles rund. Doch wer Erfahrung mit dem Pech hat, der misstraut solchen Phasen des Glücks, und also sagt Torsten Jansen, 32, ältester Spieler des Teams: "4:0 Punkte sind trügerisch."

Gemeinsam mit Mazedonien und Polen sind die Deutschen in die Hauptrunde der WM in Kroatien eingezogen, und da nur die gegen diese Gegner erspielten Punkte aus der Vorrunde mitgenommen werden, hat das Team die optimale Ausgangsposition. An diesem Samstag gegen Serbien und am Sonntag gegen Norwegen (jeweils 17.30 Uhr/RTL) wird es nun schwieriger als bisher, am Dienstag wartet der ebenfalls verlustpunktfreie Europameister Dänemark. Die beiden Gruppenersten ziehen ins Halbfinale ein. Wobei das Wort "Halbfinale" im deutschen Team derzeit auf dem Index steht. "Heiner unterbindet das", sagt Abwehrchef Oliver Roggisch.

Niemand hätte gedacht, dass es da etwas zu unterbinden geben könnte. Das neuformierte Team wurde belächelt. Wenn schon die alte Mannschaft bei Olympia 2008 in der Vorrunde gescheitert war, was sollte dann diese hier zeigen, mit all den jungen Spielern? Und sie begann ja auch wacklig, als sie gegen Russland im ersten Spiel in der Schlussphase einen Fünf-Tore-Vorsprung verspielte. Dann aber fand sie allmählich ihren Weg ins Turnier, beim 30:23 gegen Polen am Donnerstagabend zeigte sie nach zerfahrenem Beginn phasenweise richtig guten Handball, so dass Brand jetzt sagt: "Natürlich hätte ich gern, dass die anderen Mannschaften ein wenig überheblich gegen uns zu Werke gehen, aber es lässt sich wohl kaum verheimlichen, dass wir als Gruppenerster weitergekommen sind." Er trug diesen leisen Witz mit einigem Stolz vor, denn dass es so gut läuft, damit hätte auch er nicht gerechnet.

Exzellente Perspektive

Das Halbfinale - Index hin oder her - ist jetzt in Sicht, Serbien und Norwegen sind zwar äußerst unangenehme Gegner, unbesiegbar sind sie jedoch nicht. Torsten Jansen, Linksaußen und Skeptiker, sagt freilich: "Es ist Quatsch, jetzt schon vom Halbfinale zu reden." Und weil der Eindruck entstehen könnte, das sei nicht deutlich genug, schiebt er hinterher: "Das wäre fatal." Er sagt das, weil er weiß, dass diese Mannschaft durchaus auch alle Spiele der Hauptrunde verlieren kann. Sie ist noch vollkommen unberechenbar, und so, wie es bisher fast optimal gelaufen ist, kann es auch ebenso plötzlich einen Rückschlag geben.

Ganz gleich, wie es nun weitergeht: Es ist etwas entstanden in dieser ersten Woche der WM. Brand hat viel riskiert, indem er einen Umbruch einleitete, mit dem Ziel, bei Olympia 2012 wieder ganz vorne mitspielen zu können. Jetzt sagt er: "Da wächst etwas in der Mannschaft. Das sieht man daran, wie die Spieler miteinander umgehen. Und auch sportlich entwickeln sie sich." Immer schon war ihm der Teamgeist das Wichtigste, auch die größten Könner mussten sich ins Gefüge ordnen. "Die, die jetzt da sind", sagt er, "die können auch 2012 spielen." Es ist in der Tat eine Mannschaft mit exzellenter Perspektive. Um nur einige zu nennen: Mittelmann Michael Kraus ist 25, sein Ersatz Martin Strobel ist 22, Linksaußen Dominik Klein und die Rückraumspieler Holger Glandorf und Michael Müller sind 25. Alle spielen bereits auf hohem Niveau, und alle lernen sie noch dazu. Brands größte Aufgabe bei der WM ist es nun, dafür zu sorgen, dass die Mannschaft nach den ersten Erfolgen nicht abhebt. "Heiner predigt täglich, dass wir einen Schritt nach dem anderen machen sollen", sagt Oliver Roggisch.

Der 30 Jahre alte Routinier gehört zu den Stützen des Teams. Wenn er über die neue Auswahl spricht, gerät er jedes Mal in Begeisterung. "Wir sind alles Arbeiter", sagt er, "wir haben nicht die absoluten Superstars, und die Mannschaft ist sehr, sehr geschlossen." Am Donnerstag haben sie immerhin die Neuauflage des WM-Endspiels von 2007 gewonnen, und Roggisch weiß warum: "Die Polen sind erschrocken vor unserem Willen."

Wieder einmal bilden die Handballer eine verschworene Gemeinschaft, was sich auch daran zeigt, dass sie die weiteren Perspektiven im Turnier fast wortgleich beschreiben. "Wir sind super damit gefahren, keine Pläne zu machen", sagt Torwart Johannes Bitter. "Es ist der beste Weg, von Spiel zu Spiel zu denken", sagt Dominik Klein. "Mit der Taktik, von Spiel zu Spiel zu denken, sind wir bisher super gefahren", sagt Michael Kraus. Natürlich ist es eine uralte Floskel des Sports, dieses Reden vom Denken von Spiel zu Spiel, aber bei dieser Auswahl ist tatsächlich jedes Spiel wie der Überraschungsfilm im Kino. Man weiß vorher nie, ob's Horror, Thriller oder Schnulze wird. Christian Zaschke

Alles läuft rund: Michael Kraus mit seinem liebsten Gefährten, dem Ball Foto: Getty

Handball-Nationalmannschaft Männer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kirch nimmt neuen Anlauf

Zwei Monate nach der gescheiterten Milliardenklage von Leo Kirch, 82, gegen die Deutsche Bank nimmt der Medienunternehmer einen neuerlichen Anlauf, um seine Schadenersatzforderungen zu beziffern. Für den Verlust seines Aktienpakets am Axel-Springer-Verlag, das durch seine Insolvenz im Jahre 2002 an die Deutsche Bank ging, fordert Kirch nun mindestens 879 Millionen Euro, wie ein Sprecher sagte. Auf diesen Wert kommt den Angaben zufolge das Gutachten eines Münchner Wirtschaftsprüfers, das Kirchs Anwälte beim Landgericht München eingereicht haben.

Ursprünglich hatte die Kanzlei das Springer-Paket etwa hundert Millionen Euro teurer bewertet, dabei jedoch eine Schlappe erlitten. Die genaue Schadenshöhe hatten die Anwälte vom Kurs der Springer-Aktie am Tag der mündlichen Verhandlung abhängig gemacht. Zwischen dem Einreichen der Klage im Mai 2007 und der Verhandlung am 25. November 2008 verlor das Springer-Papier jedoch fast 70 Prozent an Wert. Kirch hätte damit eigentlich keinen Schaden gehabt. Das Landgericht will nun am 10. März über den Fortgang des Verfahrens entscheiden, wie der Kirch-Sprecher mitteilte. AP

Kirch, Leo: Rechtliches Schadensersatzklage von Leo Kirch gegen Rolf-Ernst Breuer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neureuther scheidet aus

Attacke bis zur Stange

Kitzbühel - "Das ist die schönste Woche des ganzen Winters für einen Slalomfahrer mit den Klassikern Kitzbühel - Schladming - Garmisch-Partenkirchen hintereinander weg", hatte Felix Neureuther noch vor wenigen Tagen geschwärmt. Doch die schönste Woche des ganzen Winters begann schlecht für ihn: Am Sonntag schied er im Kitzbüheler Torlauf aus. Zum fünften Mal in dieser Weltcupsaison kam er damit in seiner Spezialdisziplin nicht in die Wertung, und während der Franzose Julien Lizeroux den ersten Weltcupsieg überschwänglich mit seinem Landsmann Jean-Baptiste Grange (Zweiter mit acht Hundertstelsekunden R ckstand) feierte, resümierte der Partenkirchner: "Dieser Slalom war ein Spiegelbild der ganzen Saison."

Mit einem Rest Zuversicht war er zur Halbzeit noch versehen, als Neunter mit einer Sekunde Abstand zum Podest: So was sei aufzuholen, und war er nicht in Adelboden sogar von Platz 15 noch auf drei vorgestoßen? Wieder mal kam er nicht nach Plan ins Rennen, wollte attackieren, "bin es trotzdem ein bisschen zu vorsichtig angegangen, dazu kamen ein paar kleine Fehler". Die zweiten Durchgänge seien stets seine aggressiveren, darauf baute er: "Da wird nichts mehr hergeschenkt." Zum Vorbild hatte er sich den Österreicher Reinfried Herbst, 30, genommen, für den ebenfalls die beiden ersten Slaloms des Winters Streichresultate waren. Aber der hatte diese Erlebnisse unbeeindruckt weggesteckt und war zum Topfahrer avanciert, beherrschte zuletzt mit seinem Teamkollegen Manfred Pranger die Szene: In Adelboden siegte Herbst vor Pranger und Neureuther (der dort sein bisher einziges Spitzenresultat dieser Saison verbuchen konnte), in Wengen Pranger vor Herbst. "Wenn ich sehe, wie Herbst die Situation handhabt, da kann ich nur draus lernen", hatte Neureuther geschwärmt, "bei ihm und Pranger geht alles wie von selbst."

Extra ärgern

In Kitzbühel scheinbar auch wieder, da legte Herbst einen ersten Durchgang hin, über den er selbst schwärmte: "Das war es, worauf ich die ganze Zeit gewartet hatte - dass mir mal einer auskommt." Soll heißen: Ein fast perfekter Lauf. "Ich konnte an Stellen attackieren, wo normal daran nicht zu denken ist", das brachte ihm zur Halbzeit eine halbe Sekunde Vorsprung auf Grange ein. Neureuther: "Es wäre auch ohne Fehler schwer gewesen, Herbst nahe zu kommen." Später waren sie sich unfreiwilligerweise doch wieder sehr nahe - im Niemandsland. Denn erst scheiterte der Deutsche beim Versuch seiner Aufholjagd ("gut losgekommen, aber gleich ein leichter Fehler", dann ein schwerer: "Einfädeln ist eine Sache von Zentimetern"), dann schied auch Herbst aus wie zuvor seine Landsmänner Pranger und Mario Matt, Vierter und Fünfter zu Pause. Angesichts dessen konnte sich Neureuther extra ärgern, welche Chance er vergeben hatte, zumal Ivica Kostelic auf Platz sieben zurückfiel. Dafür löste der Kroate als Zweiter der Hahnenkamm-Kombination (hinter Silvan Zurbriggen/Schweiz) Benjamin Raich an der Spitze der Weltcupwertung ab. Da steht der ehemalige Slalom-Weltmeister zum ersten Mal und findet das ganz spannend.

"Gut, dass wir in zwei Tagen in Schladming schon wieder fahren", sagte Felix Neureuther zum Abschied. Keine Zeit zum Grübeln: "Es geht weiter mit Schladming und Garmisch-Partenkirchen." Das kann für Slalomfahrer die schönste Woche des ganzen Winters sein. gä

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Vom Handball lernen

Von Christian Zaschke

Vor der Handball-WM 2007 haben Heiner Brand und Joachim Löw gemeinsam ein Interview gegeben, und es stellte sich heraus, dass beide, der Bundestrainer der Handballer und der Bundestrainer der Fußballer, in vielem ähnlich denken. Sie lieben es, sich in das Spiel des Gegners zu vertiefen, es bis ins Kleinste zu analysieren und dann eine Taktik zu entwickeln. Sie schätzen Mut ebenso sehr wie Geduld, und sie stellen die Belange der Mannschaft über die Wünsche der Starspieler. Nun hat Löw gesagt, dass er Torsten Frings zurück in die Nationalelf hole, und hier ergibt sich ein interessanter Unterschied zwischen den beiden Trainern.

Zunächst hatte Brand sich dazu entschieden, diese WM ohne den verdienten Linksaußen Florian Kehrmann zu spielen. Dann aber verletzte sich der eine Linksaußen, Christian Sprenger, und bald lag der zweite, Stefan Schröder, mit Grippe im Bett. Es wäre nun das Nächstliegende gewesen, Kehrmann nachzunominieren, doch Brand hat einen weiterreichenden Plan entworfen. Er will die Mannschaft neu aufbauen und entwickeln, mit Kehrmann wäre aber ein wesentlicher Teil der alten Struktur zurückgekehrt, umgehend hätten sich die Hierarchien in der jungen Auswahl verschoben. Also blieb Brand seinem Plan treu und nominierte den international unerfahrenen Christian Schöne von Frisch Auf Göppingen, der es ihm mit zwei exzellenten Partien dankte. Das Team nahm Schöne begeistert in seiner Mitte auf.

Löw möchte mit Blick auf die Zukunft im defensiven Mittelfeld statt mit Frings mit Thomas Hitzlsperger oder Simon Rolfes planen. Rolfes wirkte jedoch beim 1:2 im Länderspiel gegen England im vergangenen November überfordert. Löw war ein wenig erschrocken über diese Leistung, auch das dürfte ein Grund dafür sein, dass er nun wieder an Frings denkt. Er muss sein defensives Mittelfeld jedoch kurz- bis mittelfristig erneuern, da Frings 32 Jahre alt ist und seit der WM 2006 dreimal am Knie operiert wurde. Er könnte also Rolfes eine weitere Chance geben oder den Umbau mutiger und konsequenter betreiben, was bedeuten würde, den Stuttgarter Sami Khedira oder den Hoffenheimer Tobias Weis einmal im Zentrum auszuprobieren.

Brand hat sich in seiner Sportart für die konsequente Variante entschieden. Sicherlich wird Schöne auch noch schlechte Spiele zeigen, aber der Beginn dieser WM zeigt, dass Brand auf dem richtigen Weg ist. Nun lassen sich Erkenntnisse aus einer Sportart nicht unmittelbar auf eine andere übertragen, aber der grundsätzliche Gedanke, nämlich früh genug und vor allem konsequent zu erneuern, der schon.

Brand, Heiner Löw, Joachim Handball-Nationalmannschaft Männer Fußball-Nationalspieler SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Jenseits der Studiomauern

Animationsfigur entdeckt das Leben: "Bolt" von Byron Howard und Chris Williams

Längst sind die Zeiten vorbei, in denen die Welt für Animationshelden noch in Ordnung war, in der sie eins sein durften mit sich und ihrem überschaubaren Universum. Schon 1995 erschütterte John Lasseter in "Toy Story" das Selbstverständnis seines Protagonisten Buzz Lightyear mit der Erkenntnis, dass er kein strahlender Superheld war, sondern nur ein schlichtes Kinderspielzeug. Ein gutes Jahrzehnt später setzt er jetzt in seiner ersten Disney-Produktion einen kleinen weißen Hund einer wesentlich profunderen Existenzkrise aus - indem er Platons Höhlengleichnis sozusagen in das Zeitalter der modernen Medien überträgt.

Unermüdlich setzt sich Bolt, dessen Name nicht zufällig an den berühmten britischen Agenten erinnert, in waghalsigen Rettungsaktionen für sein Frauchen Penny ein (der Miley Cyrus neben der Stimme auch den Disney-Serien-Appeal von "Hannah Montana" verleiht). Wie in Peter Weirs "Truman Show" steht er im Mittelpunkt einer Fernsehwelt, als deren Hauptdarsteller er gar nicht weiß, dass er Schauspieler ist. So hat Bolt keine Ahnung, dass er keine Superkräfte besitzt, dass sein Laserblick und sein Donnerbellen sich nur der Manipulation von Spezialeffekt-Tüftlern, Kulissenschiebern und Stuntmen verdanken. Eines Tages findet sich das loyale Tier nach einem besonders perfiden Cliffhanger plötzlich in der realen Welt wieder - und stellt mit einiger Verwunderung fest, dass jenseits der Studiomauern ganz andere Gesetze herrschen. Wie viele Disneyhelden vor ihm muss er auf eine abenteuerlichen Reise quer durch Amerika gehen, um hinter den Illusionen die wahren Werte des Lebens zu finden.

Wunder der Wirklichkeit

Unterstützt wird er dabei von einem devoten Hamster, der seltsamerweise in einer Plexiglaskugel unterwegs ist und der ihn als eingefleischter Fan der Serie in den Himmel lobt. Außerdem ist noch eine abgebrühte Straßenkatze mit von der Partie, die Bolt mit ihren zynischen Bemerkungen immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. In fast photorealistisch anmutenden Landschaften entdeckt Bolt mit dem Kopf im Fahrtwind nicht nur die Defizite der Wirklichkeit, sondern auch ihre Wunder - und dazu noch den Zauber einer Freundschaft, die nicht mehr vom Drehbuch seiner Fernsehserie vorgegeben ist. Die jüngeren Zuschauer werden den gewitzten Charme des Helden mögen und ihren Spaß an den brillanten Farben und sinnlichen Oberflächen haben - besonders schön sind zum Beispiel die schillernden Federn eines Taubentrios. Den Erwachsenen könnte das raffinierte Spiel zwischen künstlicher und echter Welt gefallen. Noch vor Jeffrey Katzenbergs "Monsters und Aliens" ist "Bolt" auch der erste komplett in stereoskopischem 3D gedrehte Disneyfilm, in dem sich die dritte Dimension auf einigen ausgewählten Leinwänden nicht als anstrengendes Gimmick präsentiert, sondern als logischer Schritt des Kinos auf dem Weg zur immer perfekteren Simulation der Wirklichkeit. ANKE STERNEBORG

BOLT, USA 2008 - Regie: Byron Howard, Chris Williams. Buch: Dan Fogelman, Chris Williams. Musik: John Powell. Schnitt: Tim Mertens. Im Original mit den Stimmen von John Travolta, Miley Cyrus und Malcom McDowell, deutsch mit Christian Tramitz, Luisa Wietzorek, Axel Stein, Lutz Riedel. Verleih: Walt Disney Studios, 96 Minuten.

Eine zynische Straßenkatze, ein devoter Hamster und ein gewitzter Filmhund - dieses Trio geht in Byron Howards und Chris Williams'"Bolt - Ein Hund für alle Fälle" auf eine erkenntnisstiftende Reise durch Amerika. Foto: image.net

Bolt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Österreichs Skirennfahrerinnen

Ende einer harten Zeit

Cortina d'Ampezzo - Eine rührende Szene war das: Die Österreicherin Elisabeth Görgl bremste im Zielraum, ihre Arme hingen nach unten, da kamen ihre beiden Teamkolleginnen Kathrin Zettel und Michaela Kirchgasser herangeeilt und umarmten sie, eine Gruppenumarmung in rot-weiß-rot. Elisabeth Görgl war die letzte Fahrerin des zweiten Riesenslalom-Durchgangs gewesen, mit Bestzeit unterwegs - als sie am vorletzten Tor stürzte, mit den Armen ruderte und irgendwie über die Ziellinie rutschte. Sie wurde Dritte, Zettel gewann, Kirchgasser wurde Zweite.

Es wäre Görgls erster Sieg in dieser Saison gewesen, weshalb sie natürlich schon enttäuscht war. "Klar", sagt die 27-Jährige aus der Steiermark unverblümt, "was sonst, wenn ma da so an Scheiß zammfahrt." Andererseits war sie auch erleichtert: Weil es trotzdem zum dritten Platz gereicht hatte - und weil den Österreicherinnen mit diesem Dreifachsieg nun endlich mal ein erfolgreicher Renntag gelungen war. Noch der Samstag "war für uns ein großer Misserfolg", wie Görgl sagt: Keine Österreicherin auf den vorderen Plätzen, Ingrid Rumpfhuber als Beste auf Rang zwölf. Österreich ist eine erfolgsverwöhnte Skination, Rang zwölf ist da geradezu beschämend.

Es mag wohl ein paar deutliche Worte gegeben haben im österreichischen Teamhotel am Samstagabend - wenngleich die bislang eher mäßige Saison ja auch mit begründet liegt in den schweren Verletzungen der Topfahrerinnen Marlies Schild und Nicole Hosp, die beide diese Saison nicht mehr starten werden. Die Trainer hätten ihnen also abschließend sinngemäß Folgendes gesagt: "Dass wir einfach locker Ski fahren sollen" (Michaela Kirchgasser); "dass wir Österreicherinnen eine gute Technik haben und dass wir uns darauf besinnen sollen" (Görgl). Das funktionierte. "Es ist eine harte Zeit für uns", sagte Görgl am Sonntag, nach dem Rennen, dann korrigierte sie sich: "Es war eine harte Zeit."

Im ersten Lauf hatten die sterreicherinnen den Rest des Feldes derart deutlich distanziert, dass etwa die Deutsche Kathrin Hölzl ratlos im Zielraum stand und staunte: "Keine Ahnung, wie die das gemacht haben." Es lag wohl auch ein wenig am Material, das, wie Kathrin Zettel feststellte, "für diese Bedingungen offenbar gut ist". Es war eine weiche Piste in Cortina, mit wenig Eis und viel Kunstschnee.

Bei Elisabeth Görgl war es auf jeden Fall das Material, das half: Sie war mit neuen Skiern und Schuhen in die Saison gestartet, hatte dann gewechselt auf ihre alten Sachen - und war nun, vor Cortina, wieder umgestiegen auf die neuen. "Das war super", sagte Görgl. Sie wird daran nun nichts mehr ändern, ganz bestimmt nicht. min

Ideales Material für die Bedingungen: Österreichs Kathrin Zettel, Riesenslaom-Siegerin von Cortina. Foto: AP

Österreichische Ski-Alpin-Nationalmannschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Herunter gestochen

Der unerschrockene Hahnenkammsieger Didier Defago wird zum Anführer des Schweizer Abfahrtsteams

Kitzbühel - "Wir betreiben einen Individualsport", erklärt der Schweizer Skirennfahrer Didier Defago, 31, "und jeder macht seinen Job". Sie betreiben einen Risikosport, und Unfälle wie der von Daniel Albrecht wären nur dadurch auszuschließen, "indem wir überhaupt keine Abfahrten mehr starten", sagt Günther Hujara, Renndirektor des Weltverbandes Fis. Natürlich starteten sie vor 43 000 Zuschauern zwei Tage nach Albrechts fatalem Sturz das Hahnenkammrennen von Kitzbühel, das größte denkbare Abfahrtsspektakel, und es gewann Albrechts Teamkollege Defago. Der teilte mit, im Ziel habe er wieder an den Kumpel in der Innsbrucker Neurologie gedacht, am Start eher nicht. Denn wer das tut, tritt besser gar nicht an.

Albrecht weiter im Koma

Defago war tatsächlich überhaupt nicht abgelenkt, sondern ganz bei sich, und die Gegnerschaft lobte einhellig seine Entschlossenheit. Hermann Maier, Streif-Sieger 2001, an Platz zehn gelandet: "Unglaublich, der Defago - bei dem ist es dahingegangen wie bei keinem sonst, und den Zielhang fuhr er gewaltig." Klaus Kröll, der Dritte: "Wo ich schaute, einigermaßen über die Traverse zu kommen, ist Defago einfach frech rüber gestochen". Der um 17 Hundertstel Sekunden auf Platz zwei verwiesene Michael Walchhofer, Gewinner von 2006: "Ich war auf Sieg programmiert, aber am Hausberg gab ich nicht das Allerletzte wie Defago. Normal ist er dann schnell, wenn man nichts von ihm erwartet, aber heute hat er das Gegenteil bewiesen."

Der Walliser Defago hatte die Erwartungen selbst geschürt indem er, bislang ausschließlich in Super-Gs auf dem Podest vorstellig geworden, sieben Tage vor seinem Kitzbüheler Triumph die Lauberhornabfahrt gewann. Derlei Wiederholungstäter gab es zuvor schon zehn, und der elfte reiht sich in eine Genealogie des Weltcups ein mit Größen wie Jean-Claude Killy, Karl Schranz, Roland Collombin, Ken Read. "Mit diesem Double ist Defago im Olymp der Abfahrer angekommen", schwärmte der Schweizer Verbandspräsident Urs Lehmann, Weltmeister von 1993. "Es ist nicht nur dieser eine Sieg - er hat den entscheidenden Schritt nach vorne gemacht."

Die Schweizer Mannschaft hat schwere Tage hinter sich nach Albrechts Trainingssturz. Seit Donnerstag liegt er im künstlichen Koma, sein Zustand wurde als "sehr stabil" bezeichnet, dennoch haben die Ärzte "den Beginn der Aufwachphase am Sonntag noch einmal verschoben", so eine Mitteilung der Innsbrucker Uni-Klinik. Der Schweizer Verbandschef Lehmann berichtete: "Wir führten Einzelgespräche mit allen, und zögerten lange, ob wir zum Beispiel Carlo Janka in der Abfahrt starten lassen", weil ihn der Unfall des Kollegen besonders stark mitgenommen hatte. Janka fuhr und kam ordentlich ins Ziel, als 20. Für das Team sei der Sieg des Individualsportlers Defago extra wertvoll gewesen, sagte der Chef von SwissSki, "ganz wichtig für die Zukunft: Man hat einen neuen Leader, und man orientiert sich nach vorne."

Voraus liegt die Weltmeisterschaft in Val d'Isere (3. bis 15. Februar). "Die würde ich gerne sausen lassen, wenn ich derjenige wäre, dem eben das Double Wengen - Kitz gelungen ist", witzelte der Liechtensteiner Seniorenfahrer Marco Büchel, 37. Dass er in Kitzbühel nur an Rang zwölf landete, lag auch daran, dass er sich bei der Materialabstimmung verspekulierte: "Ich wollte ein bisschen Grip auf dem Eis und trotzdem gut gleiten". Ein bisschen Grip war aber zu wenig auf dem Eisplatz von der Seidlalm bis zum Hausberg.

Lanning im Fangnetz

Bei solchen Pistenverhältnissen gebe es keine Überraschungssieger, sagte der Steirer Klaus Kröll, erneut auf dem Podest einen Tag nach seinem Sieg im Super-G trotz seines dreifachen Handwurzelbruches ("meine Hoffnung war, hier einmal unter die ersten Fünf zu kommen"). Das Geläuf war härter, glatter, unruhiger, die Querung von der Hausbergkante zum Zielschuss empfand die Mehrzahl der Konkurrenten als besonders kritisch. Bloß Hermann Maier war wieder mal ganz anderer Meinung: "Es war ein Traum - wunderschön zu fahren." Für den Amerikaner T.J. Lanning mit Startnummer 3 war es nicht ganz so wunderschön, er wurde mit dem Rettungshubschrauber vom Hausberg abgeholt, nachdem er aus der Traverse ins Fangnetz rutschte. Diagnose: Keine nennenswerten Verletzungen. Michael Walchhofer gestand, dass er in der Kompression stark schockiert worden sei, als es ihn in Rücklage drückte. "Ich habe alle Anstrengungen unternommen, um das zu korrigieren - in dieser Position über den folgenden Zielschuss zu gehen, wäre absolut fatal gewesen". Genau der Fehler, den Walchhofer eben noch vermied, hatte Daniel Albrecht schwer zu Fall gebracht.

Die perfekte Fahrt sei an diesem Tag auf der Streif keinem gelungen, mutmaßte der Sieger. Diese perfekte Fahrt werde auf der Streif vermutlich nie irgendjemandem gelingen, pflichtete Stephan Keppler bei, der als einziger deutscher Starter sein Ziel, unter den 20 Besten zu landen, um acht Plätze verpasste. Die bisher wohl beste Hahnenkammabfahrt gelang 2004 Stephan Eberharter, der Qualität dieser Vorführung kam Didier Defago am Samstag im Steilhang und vom Hausberg abwärts ziemlich nahe. Er hoffe, "dass das, was wir als Team in Kitzbühel erreichten (Ambrosi Hoffmanns dritter Rang im Super-G und sein Abfahrtssieg, Anm.) Daniel Albrecht Kraft geben", sagte der Sieger von der Streif. Eine andere Hoffnung ist, dass der Intensivpatient Albrecht sich möglichst bald dessen bewusst werden könne, was am Wochenende in Kitzbühel geschah. Wolfgang Gärner

"Dahingegangen wie bei keinem sonst." - Didier Defago springt unbeeindruckt von dem Unfall seines Teamkollegen Daniel Albrecht zu Tal. Foto: dpa

Defago, Didier: Leistung Skisport in der Schweiz SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Tag der Tränen

Biathlet Stephan gewinnt seinen ersten Weltcup, Neuner erleidet ihre bitterste Niederlage

Antholz (SZ/dpa) - Beim letzten Wettkampftag vor der WM in zweieinhalb Wochen bekam die deutsche Biathlonmannschaft nochmal die beiden Extreme ihres Sports zu spüren. Die so genannte Generalprobe, der Weltcup in Antholz, hatte schon in den drei Tagen zuvor Trainingsfortschritte aber auch kleinere Rückschläge für den DSV ergeben, am Sonntag indes inszenierte sich das Biathlon, als wäre die Probe hier der Höhepunkt: Mit einem Absturz, einem Überraschungssieg nach spannendem Finish und reichlich Tränen.

Christoph Stephan, Weltcup-Neuling in diesem Winter, hatte im Massenstart seinen ersten Weltcupsieg errungen - auf durchaus spektakuläre Weise. Stephan, 23, hatte sich in vier Schießeinlagen nur einen Fehler erlaubt, war in einer Sechsergruppe in die Schlussrunde aufgebrochen und schob nach klug eingeteilter Kraft, geschickt gesetzten Attacken und einem aufreibenden Schlussduell gegen den Österreicher Dominik Landertinger seinen rechten Fuß eine Idee schneller über die Ziellinie. Die Zeitnahme maß 0,2 Sekunden Vorsprung, Bundestrainer Frank Ullrich standen Freudentränen in den Augen, Stephan selbst vergaß seine Erschöpfung. Sonst bleibt er nach solchen Kraftakten sekundenlang im Zielraum liegen, diesmal schwang er Ski und Stöcke. "Auf der Zielgeraden macht mir keiner etwas vor", sagte anschließend der tätowierte Biathlet, "ich wusste, dass ich beim Spurt gut dabei bin."

Magdalena Neuner dagegen musste die wohl bitterste Niederlage ihrer noch jungen Laufbahn verarbeiten. Die 21 Jahre alte sechsmalige Weltmeisterin hatte beim letzten Schießen im Gegensatz zu Stephan ihren greifbar nahen 14. Weltcup-Tagessieg verschenkt. "Ich begreif's nicht", war die einzige Reaktion von Neuner, deren sonstige Fröhlichkeit weggeblasen war. Bei Kaiserwetter im Massenstartrennen über 12,5 Kilometer lief Neuner scheinbar einem ungefährdeten Start-Ziel-Sieg entgegen, ehe sie nach drei fehlerfreien Schießeinlagen beim vierten Mal alle fünf Scheiben verfehlte und auf Platz sieben zurückfiel. Anschließend verschwand sie zunächst wortlos im Umkleidezelt. Mit versteinerter Miene ließ sie die Siegerehrung über sich ergehen und stapfte unter Tränen ins Mannschafts-Hotel.

Sogar Bundestrainer Uwe Müssiggang konnte Neuners Missgeschick kaum fassen. "Das ist bitter für sie. Vier der fünf Fehler waren sehr knapp. Wäre die erste Scheibe gefallen, hätte sie auch gewonnen", sagte er. Der Tagessieg fiel so der russischen Weltcup-Spitzenreiterin Ekaterina Iouriewa vor Helena Jonsson (schweden/+28,2) und Mäkäräinen (Finnland/+ 28,2) in den Schoß. Kati Wilhelm unterlag wie am Samstag in der Verfolgung auch beim Massenstart der Finnin im Zielspurt und wurde mit 28,2 Sekunden Rückstand Vierte.

Das Ende einer fulminanten Schlussrunde: Dominik Landertinger (links) gerät ins Straucheln, Christoph Stephan schiebt seinen Fuß vor - und gewinnt. Foto: AP

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Allein im Mondschein

Der israelische Sänger Aviv Geffen, Stimme einer Generation

Er sei, sagt er, ein Hippiekind. Einer, der Musik auf der Straße gemacht habe, lange bevor er bekannt wurde. Fast klingt er wie ein Nostalgiker, dabei ist er gerade mal 35 Jahre alt. Heute, sagt er, säßen so viele von seiner Generation allein in ihren Zimmern und spielten mit ihren neuesten technischen Wundergeräten und schrieben sich SMS und meinten tatsächlich, sie seien mittendrin im Leben. "Ich bin ein Romantiker", sagt Aviv Geffen, "und diese Zeit ist kalt. Und sie wird immer kälter."

Dies ist wahrlich nicht seine Zeit. Aber seine Zeit scheint es sowieso nicht wirklich zu geben. Vor Jahren, als er bereits ein Superstar war in Israel, damals schon sang Aviv Geffen vor allem von der Traurigkeit und einer Generation, die verloren schien. Jetzt bringt er ein neues Album auf Englisch heraus, tourt durch Deutschland, spielt in München, und auf seinen Konzerten singt er wieder, oder immer noch, von der "fucked up generation", von Traurigkeit und Verlorenheit. Das, sagt er, sei eben seine Grundbefindlichkeit. Und es scheint tatsächlich, als habe sich kaum etwas verändert seit jenem Tag, der das Leben des Aviv Geffen und einer ganzen Generation veränderte - und die Geschichte des Nahen Ostens.

Damals, am 4. November 1995, hatte Aviv Geffen gerade auf einer großen Friedensdemonstration in Tel Aviv gesungen, "Livkot Leha" hieß das Lied, "Ich weine für dich", er hatte es Itzhak Rabin gewidmet, dem damaligen Premierminister, der mit ihm auf der Bühne stand und den er gerade umarmt hatte. Es war die Zeit des Friedensprozesses mit den Palästinensern, und Geffen, der androgyne schmale Jüngling mit den kohlschwarz umrahmten Augen, Geffen, der nicht zur Armee gegangen war in einem Land, das sein Militär geradezu vergöttlichte, und der von Liebe und Verzweiflung, von Tod und Selbstmord sang, Geffen also war bereits die Integrationsfigur der weniger martialischen, weltoffeneren jungen Israelis. Ein Teil der disziplinierten, geradezu spartanischen Gesellschaft des Landes schien sich verabschieden zu wollen vom Drill und von der Enge und der Angst.

Sekunden später wurde Rabin auf der Bühne erschossen und "Livkot Leha" zu einer Art inoffizieller Nationalhymne für diese Generation junger Israelis. Sie trauerten öffentlich, hockten beieinander an den Straßenecken, sie klimperten auf der Gitarre und stellten Kerzen auf und streuten Blumen. Die "Mondscheinkinder" der Jahre nach 1995 wurden das israelische Äquivalent zur Blumenkinderbewegung. Ein Vierteljahrhundert später allerdings, als ob sich das Land das Zurschaustellen seiner eigenen Sensibilität und den Luxus des angedachten Pazifismus erst jetzt leisten konnte, in dem Moment, in dem dieser Luxus bereits wieder bedroht war.

Denn heute, viele palästinensische Bomben auf Israel und ein paar Kriege gegen die Palästinenser später, könnte man sich fragen, wohin diese Generation verschwunden ist. Einige aus der Linken, zu der Geffen sich zählt, gibt es wohl noch, nicht wenige sind vermutlich immer weiter nach rechts gerückt in den Jahren danach, zermürbt von der zweiten Intifada zu Beginn des Jahrtausends und vom unablässigen Raketenbeschuss der Hamas. Und viele, viele tausend junge Israelis sind ins Ausland gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Wie Geffen selbst, der kurz nach Rabins Tod nach London übersiedelte. Der in Israel aneckt wegen seiner liberalen Einstellung und der gleichzeitig die Einseitigkeit der internationalen Meinung gegenüber Israel nicht teilt. Was, sagt er, wenn die Bomben hier herunterfallen würden, täglich, jede Nacht?

Bisher, sagt er, seien die Konzerte gut gelaufen, es kamen viel mehr Menschen, als man erwartet habe. Aviv Geffen möchte sich gern sehen als einer, der für alle da draußen singt, die so fühlen wie er, weltweit. Aber er wird für dieses Ziel wohl immer zu sehr Symbol eines ganz bestimmten israelischen Lebensgefühls bleiben, das seinen kurzen Moment in der Geschichte hatte, aber eben nur diesen einen. PETRA STEINBERGER

Mit 35 schon Nostalgiker: Aviv Geffen Foto: Kevin Westenberg

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In der Schneewolke

Viktoria Rebensburg wird Siebte, die anderen deutschen Alpinen erleben eine Woche voller Ärger

Cortina d'Ampezzo - Viktoria Rebensburg fuhr über die Ziellinie, sie streckte den Arm nach vorne, so weit sie konnte, jedes Hundertstel kann ja entscheidend sein in so einem Skirennen. Dann leuchtete die Zeit auf der Tafel auf, 2:49,37 Minuten, und Viktoria Rebensburg riss die Arme hoch und jubelte. 2:49,37 Minuten, das war im Riesenslalom von Cortina am Sonntag zwar 2,24 Sekunden langsamer als die Siegerin Kathrin Zettel aus Österreich (siehe Text oben), aber es bedeutete doch: Platz sieben, die Wiederholung der besten Weltcup-Platzierung ihrer Karriere, die sie schon in Zwiesel im März 2007 erreicht hatte, und zugleich die direkte Qualifikation für die Weltmeisterschaft Anfang Februar in Val d'Isère. "Das ist super" sagte Chef-Trainer Mathias Berthold, aber es schien, als müsse er sich zwingen zu diesem Lob. Berthold war alles andere als zufrieden. Rebensburgs Erfolg nämlich schönte ein Wochenende, das ansonsten, nun, man sagt: durchwachsen war.

Zuerst schneite es fortdauernd in Cortina, Trainings- und Rennläufe mussten abgesagt werden, und als dann am Samstag endlich das erste Rennen stattfand, war nur noch Maria Riesch als DSV-Starterin übrig. Die zweite Abfahrerin im Team, Gina Stechert, lag krank zuhause im Bett, und bei Viktoria Rebensburg entschieden die Trainer nach offensichtlichen Problemen im Training tags zuvor, sie solle sich lieber voll auf den Riesenslalom konzentrieren.

Die einzige Starterin zu sein, das fand Riesch "schon irgendwie komisch", das war nett ausgedrückt. Sie wurde Fünfte, hinter Dominique Gisin/Schweiz, Lindsey Vonn/USA, Anja Pärson/Schweden und Tina Maze/Slowenien. Platz fünf, "das ist okay", fand Riesch, aber es sei eben auch nicht mehr. Am Sonntag, sagte sie, wie Skirennfahrerinnen immer so schön sagen: Da wolle sie wieder voll angreifen.

Am Sonntagmorgen also startete Maria Riesch mit der Nummer 17 in den ersten Durchgang des Riesenslaloms, doch als die Uhr bei etwa 15 Sekunden angekommen war, verschwand sie in einer großen Schneewolke. Sie war über den Innenski zu Boden gefallen, zum vierten Mal in dieser Saison konnte sie ein Weltcup-Rennen nicht beenden. Sie blieb dann ziemlich lange oben, bei Andreas Fürbeck, einem der Disziplintrainer der deutschen Skirennläuferinnen, sie saß auf dem Boden, und aus der Ferne konnte man gut erkennen, dass sie sauer war. "Ärgerlich", sagte sie, als sie schließlich im Zielraum angekommen war, und dann noch mal: "Echt ärgerlich."

Luft im Ski

Kathrin Hölzl erging es nicht anders. "Das ist nervig", sagte die Riesenslalom-Spezialistin, ihr Blick unterstrich das. Hölzl war nach einem ordentlichen ersten Lauf im zweiten mit ebenfalls ordentlicher Zeit unterwegs, als sie am drittletzten Tor vorbeifuhr, bremsen musste, um noch regelgerecht ins Ziel zu kommen - und Vorletzte wurde. Sie war vor dem Schwung ein wenig abgehoben, "ich habe Luft im Ski bekommen", so formuliert Hölzl das, und dann konnte sie den Schwung nicht mehr zu Ende fahren. Die Tatsache, dass an eben diesem Tor mehrere Läuferinnen - etwa auch die Schwedin Anja Pärson - Probleme hatten, ließ Berthold aber nicht gelten. "Das ist ein einfaches Tor, wenn man mit Hirn fährt", sagte er. Diesen Montag, immerhin, können die Deutschen noch einmal voll angreifen: Da findet in Cortina der Super-G statt.

Cortina ist ein wichtiges Wochenende im Renn-Kalender: Es folgen unmittelbar danach die beiden Höhepunkte der Saison - das Weltcupwochenende von Garmisch-Partenkirchen, und danach die Weltmeisterschaft. Vermutlich wirkte Berthold deshalb so angespannt. Was nun überwiege, die Freude über Rebensburgs Abschneiden oder der Ärger über Rieschs Ausscheiden und Hölzls Fehler? "Gar nichts überwiegt", sagte Berthold, sonst sagte er nicht viel.

Noch am Samstagabend hatte er angekündigt, dass sich in der Abteilung Speed wohl einiges ändern werde. Schließlich ist es insbesondere die Abfahrt, in der das DSV-Team seit langem große Schwächen offenbart. "Wir haben im Speed völlig den Anschluss verloren", Mathias Berthold ist da ganz ehrlich. Er überlegt nun, an der Trainingsgruppierung Wechsel vorzunehmen: Bislang gab es im DSV-Team keine spezielle Speed-Gruppe, im Grunde trainierten immer alle alles.

Und sonst? "Wir machen sonst im Großen und Ganzen so weiter wie bisher", sagt Berthold. Die verbandsintern ausgerufene WM-Norm - zweimal mindestens Fünfzehnte oder einmal mindestens Achte in einem Weltcup-Rennen - haben nun ja immerhin fünf Fahrerinnen erfüllt: Maria Riesch, Kathrin Hölzl, Gina Stechert, Susanne Riesch und eben Viktoria Rebensburg. Mehr werden es allerdings wohl nicht werden, Athletinnen wie Fanny Chmelar oder Barbara Wirth (die beide in Cortina im Riesenslalom starteten, sich aber nicht für den zweiten Durchgang qualifizierten) sind zu jung und entsprechend weit entfernt von den vorderen Platzierungen.

Er will den Jungen Zeit geben und geduldig sein, sagt Mathias Berthold, und das ist ja auch richtig so. Zumal er in Cortina nun wieder gesehen hat: Zeit und Geduld - das können die deutschen Skirennläuferinnen gut gebrauchen. Michael Neudecker

Deutsches Nationalteam Ski Alpin Frauen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine perfekte Familie

Das schwarze Amerika diskutiert über eine präsidiale Ausnahme: Können die Obamas wirklich Vorbild sein?

Die wenigsten Amerikaner, behauptet Tracy Sharpley-Whiting, Professorin für African American Studies an der Vanderbild University, würden eine schwarze Familie wie die Obamas kennen. "In den Mainstream-Medien werden unsere Familien meist als zerrüttet dargestellt, und wir selbst werden eher als Zahlenfutter denn als Menschen betrachtet".

Tatsächlich wirkt die Statistik erschreckend: Mehr als 40 Prozent der schwarzen Männer und Frauen in Amerika, doppelt so viele wie in der weißen Bevölkerung, waren nie verheiratet. 70 Prozent aller afroamerikanischen Kinder werden unehelich geboren. Mal ganz abgesehen von der unverhältnismäßigen Häufigkeit, mit der sie als Jugendliche die Schule abbrechen, keine Arbeit finden oder ins Gefängnis kommen.

In dieser Situation müssen der neue US-Präsident Barack Obama und seine perfekte Kleinfamilie wie eine Anomalie wirken: Zwei hochklassig gebildete Eltern, die sich gegenseitig unterstützen und ihren zwei Töchtern viel Zeit und Verständnis widmen. Ein Grund für kontroverse Debatten in afroamerikanischen Medien: Setzt die Präsidentenfamilie nicht einen falschen Standard und ein vollkommen unrealistisches Ideal? Verheißt sie gar eine Rückkehr zur muffigen Familien-Ethik der Fünfziger Jahre?

Andere Stimmen verteidigen die Obamas als leuchtendes Ideal einer afroamerikanischen Familie. "Das Mainstream-Image der schwarzen Familie ist im Umbruch", prophezeit etwa die Chicago Tribune. "Denn die Präsidentenfamilie präsentiert Obamas Botschaft vom Wandel auf eine Art und Weise, mit der sich viele Afroamerikaner identifizieren können". Man erwarte nun eine "neue Ära für die schwarze Familie": Beide Eltern und eine Oma, die mit den Kindern unter dem Dach des weißen Hauses lebten - das setze neue Standards in punkto Generationenzusammenhalt. Und: Welche schwarze Familie würde in Zukunft nicht die Beziehung zwischen Barack und Michelle Obama, deren Mutter sowie den Töchtern Malia und Sasha in ihre Tischdiskussion aufnehmen?

Robin Wright-King, die Autorin des Buches "Papa Was A Rolling Stone: A Daughter's Journey To Forgiveness" kämpfte selbst mit der Abwesenheit ihres Vaters in ihrer Jugend. "Es ist für mich wohltuend, Barack Obama so liebevoll über seine Töchter reden zu hören. Möglicherweise werden ihn viele afroamerikanische Mädchen als idealen Fantasievater adoptieren. Besser noch: Er könnte ein so notwendiges Vorbild für den respektvollen Umgang mit Frau und Kindern abgeben." Wie hatte Obama in einer viel diskutierten Ansprache zum Vatertag gepredigt: "Zu viele Väter fehlen in zu vielen Leben und Heimen. Sie haben ihre Verantwortung vernachlässigt, benehmen sich wie Jungen statt wie M nner. Und schwächen damit letztlich die Fundamente unserer Gesellschaft."

Es war diese Bemerkung, die Jesse Jackson dazu reizte, Obama als arroganten Besserwisser zu kritisieren. Schließlich sei eine intakte Familie nicht nur eine Frage des guten Willens. Sondern auch eine der wirtschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen. Es ist unter Soziologen inzwischen anerkannt, welche verheerende Auswirkung die Sklaverei auf die schwarze Familie hatte und immer noch hat. Familienmitglieder wurden damals auseinander gerissen und an verschiedene Plantagen verkauft. Schwarze Männer, sofern sie überhaupt eine Ehe führen durften, blieben als Familienoberhäupter ohnmächtig. Dazu kommen laut dem Wirtschaftswissenschaftler Thomas Sowell die Auswirkungen eines kaum auf Vorsorge ausgerichteten Lebensstils der weniger gebildeten Schichten, sowie der historisch begründete Mangel an Wohlstandsanhäufung in schwarzen Familien.

So bleiben manche Afroamerikaner skeptisch. Wie Carla Ba, eine in The Press aus New Jersey zitierte alleinerziehende Mutter: "Was die Obamas repräsentieren, schön und gut. Aber es ist in der heutigen Welt für viele nicht realistisch, ihnen nachzufolgen. Für mich wirkt der Anblick ihrer Familie eher wie ein Werbespot." Schließlich dürfe man nicht vergessen, dass die Entwicklung der letzten 50 Jahre unverheirateten Frauen auch Freiheiten gebracht hätten: Man müsse sich nicht mehr schämen, unverheiratet zu leben. Trotzdem sehe sie sich die Obamas gerne im Fernsehen an: "Sie präsentieren eine andere Perspektive, was für Menschen wir Afroamerikaner sein können. Etwas, was seit der Cosby-Familie in den 1980er-Jahren gefehlt hat." JONATHAN FISCHER

Obama, Barack Soziales Leben in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Blickpunkt

Notarzt in der Chefetage

Insolvenzverwalter Michael Jaffé soll Qimonda retten

Der Anruf, der Michael Jaffé voraussichtlich über Jahre neue Arbeit einbringen wird, dauerte nur ein paar Minuten. Ob er das Amt des vorläufigen Insolvenzverwalters beim Chiphersteller Qimonda übernehme, wollte ein Münchner Richter am Freitagvormittag wissen. Für den Anwalt war die Antwort klar, denn Pleiten dieses Kalibers gibt es in normalen Zeiten nur ein- oder zweimal im Jahr. Da darf man nicht lange fackeln.

Noch am Nachmittag übernahm der 45-Jährige in der Qimonda-Zentrale am Rande Münchens mit sieben Kollegen seiner Kanzlei als vorläufiger Insolvenzverwalter das Ruder. Er habe sich für mehrere Stunden mit Vorstandschef Kin Wah Loh und weiteren Spitzenmanagern zu einer Krisensitzung zurückgezogen, heißt es. Seitdem brüteten die Insolvenzexperten beinahe pausenlos über der Bilanz des zahlungsunfähigen Chipherstellers und über den Perspektiven für die mehr als 12000 Mitarbeiter, verlautete aus dem Unternehmen.

Der Jurist mit dem lichten Haar gilt als Spezialist für knifflige Fälle. Im April 2002 erhielt er den ersten großen Job: Das Medienimperium von Leo Kirch ging damals in die Insolvenz, und Jaffé wurde Insolvenzverwalter; das beschäftigt ihn bis heute. Er ist inzwischen einer der prominentesten Köpfe der Branche. Gut 1400 Firmenpleiten - vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum Milliardenkonzern - hat er als Insolvenzverwalter oder Gutachter bislang betreut. Doch Routine, sagt ein Vertrauter, gebe es bei Jaffés Job nicht. Denn die Notärzte der Chefetagen müssen sich innerhalb von Tagen und Wochen in fremde Welten einarbeiten.

Ob ein großer TV-Hersteller, ein Medienunternehmen oder ein Spielwarenkonzern: Unternehmen, an denen sich zuvor Top-Manager die Zähne ausgebissen haben, brauchen rasch neue Strategien. Da zählt oft jede Woche. Insolvenzkanzleien bestehen deshalb aus hochspezialisierten Teams, die über Nacht ganze Abteilungen von Konzernen wie Buchhaltung oder Personal kontrollieren können.

Wie es um die Zukunft von Qimonda steht? Oberstes Ziel sei es, weite Teile des Chipkonzerns zu erhalten, heißt es aus dem Qimonda-Management. Das wolle Jaffé versuchen. Zwar hält sich dieser bislang mit Prognosen zur Überlebensfähigkeit des Konzerns zurück. Doch Jaffé versteht sich nicht als Abwickler, sondern als Sanierer. Ihm geht es darum, den gesunden Kern zu retten.

Erste Aufgabe des Verwalters sei es nun, bei Kunden und Gläubigern schnell wieder Vertrauen aufzubauen. Dann muss Jaffé mit den Banken verhandeln. Der schwierigste Job aber, sagt ein Kollege, sei es wohl, die Mitarbeiter in äußerst schwerer Phase zu neuer Höchstleistung zu motivieren. Markus Balser

Michael Jaffé Foto: dpa

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Politik kann Qimonda nicht retten

Chip-Konzern pleite - 12000 Stellen in Gefahr

Allein in Dresden und München fast 5000 Mitarbeiter betroffen / Rückschlag für Technologiestandort Deutschland

Von Caspar Busse

München - Der Münchner Hersteller von Speicherchips, Qimonda, hat am Freitag Insolvenz angemeldet. Die Tochtergesellschaft von Infineon beschäftigt weltweit 12200 Mitarbeiter, davon fast 5000 in Deutschland, vor allem in Dresden und München. Hauptgrund für die Pleite ist der Preisverfall bei Halbleitern. Hinzu kommt die weltweite Finanzkrise. Politik und IG Metall kritisierten das Management.

Schon seit Monaten kämpft Qimonda ums Überleben. Zum einen gingen die Preise für Speicherchips, die beispielsweise in Mobiltelefonen, Computern und in der Unterhaltungselektronik eingesetzt werden, in den vergangenen Monaten stark zurück. Zum anderen erhielt Qimonda auf den weltweiten Finanzmärkten kein frisches Kapital mehr. Der Konzern unterhält große Produktionsstätten in Dresden und München sowie in Porto im Norden Portugals. Zuletzt wollten das Land Sachsen, die portugiesische Regierung sowie der Mutterkonzern Infineon Finanzhilfen von 325 Millionen Euro bereitstellen. Am Donnerstag wurde dann jedoch bekannt, dass sich die Lage überraschend verschlechtert hat und Qimonda weitere 300 Millionen Euro benötigt. Krisengespräche im Bundeskanzleramt Anfang der Woche führten zu keinem Ergebnis.

Am Freitag sah sich Qimonda gezwungen, beim Amtsgericht München Insolvenzantrag zu stellen. Der Zeitpunkt der Pleite kam trotz der Probleme überraschend. Zum Insolvenzverwalter wurde der Münchner Anwalt Michael Jaffé bestellt, der unter anderem auch die Pleite des Kirch-Konzerns betreut hat. Qimonda-Chef Kin Wah Loh hofft, in der Insolvenz die begonnene Sanierung beschleunigen zu können"und das Unternehmen wieder auf eine solide Basis zu stellen". Ob das gelingt und ob sich schnell ein möglicher Investor sowie frisches Kapital finden, gilt aber als zweifelhaft.

Die Pleite ist ein herber Rückschlag für den Technologiestandort Deutschland. Vor allem in Dresden hat die sächsische Regierung seit der Vereinigung mit hoher Förderung einen Halbleiterstandort aufgebaut. Im Dresdner Qimonda-Werk arbeiten etwa 3200 Beschäftigte, dazu kommen Zulieferbetriebe. In München hat Qimonda 1400 Mitarbeiter.

Infineon hatte im Frühjahr 2006 das Geschäft mit Speicherchips unter dem Kunstnamen Qimonda ausgegliedert und an die Börsen in Frankfurt und New York gebracht. Infineon, selbst eine Abspaltung aus dem Siemens-Konzern, konzentriert sich nun auf Logikchips, also auf intelligente und höherwertige Halbleiter. Der selbst in Problemen steckende Dax-Konzern hält heute noch 77,5 Prozent an Qimonda und könnte von der Insolvenz betroffen sein. Zwar ist die Beteiligung weitgehend abgeschrieben, es könnten jedoch Rückzahlungen von Fördermitteln drohen. Infineon muss die Rückstellungen deutlich erhöhen. "Alle Beteiligten hatten bis zuletzt dafür gekämpft, Qimonda zu retten," sagte Infineon-Chef Peter Bauer.

Kurz nach der Insolvenz begannen bereits die Schuldzuweisungen. Die Politik sah die Verantwortung dafür bei Qimonda. Es sei kein tragfähiges Finanz- und Fortführungskonzept vorgelegt worden, teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit. Die IG Metall warf der Führungsspitze "beispielloses Managementversagen" vor. Der bayerische IG-Metall-Vorsitzende Werner Neugebauer kritisierte, Qimonda sei schon bei der Gründung zu klein und nicht überlebensfähig gewesen. Die Suche nach einem Partner ist schon lange erfolglos verlaufen. Qimonda betonte dagegen die Zukunftschancen seiner selbst entwickelten Technologie. (Seiten 2 ,4 und München)

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Vivacon mit neuem Chef

Die Kölner Immobilienfirma Vivacon hat ihren neuen Chef im eigenen Aufsichtsrat gefunden. Der Aufsichtsrat habe Eckhard Rodemer mit sofortiger Wirkung zum Vorstandschef bestellt, teilte Vivacon mit. Der 48-Jährige werde unter anderem für Finanzen und die Strategie verantwortlich sein. Rodemer verfüge über mehrjährige Führungserfahrung bei internationalen Banken- und Immobilienkonzernen. Er war seit 2001 Aufsichtsrat von Vivacon und führte bis vor einem Jahr die Berliner IMW Immobilien AG. Der frühere Vorstandschef Michael Jung war zum Jahresende aus dem Vorstand ausgeschieden. Finanzvorstand Michael Ries und Frank Zweigner sollten das Ruder übernehmen. Welche Aufgaben sie nun haben, war zunächst nicht zu erfahren. Reuters

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Das Streiflicht

(SZ) Nun hat also die bayerische Staatsregierung das Rauchverbot gelockert, in der Hoffnung, die Lufthoheit über den Stammtischen zurückzugewinnen. Was in der Staatskanzlei als taktisch geschickter Lungenzug gefeiert wird, könnte sich bald als Schnapsidee erweisen. Selten nämlich stand der Raucher glänzender da als in den Zeiten des strikten Rauchverbots. Mit einem Mal umwölkte ihn, der eben noch als Paffer und Stinker gebrandmarkt war, der aufregende Duft des Abenteurers, der in Komplizenschaft mit dem Wirt seines Vertrauens die staatlichen Vorschriften listenreich umging. Solche Renitenz gegenüber der Obrigkeit kommt an in Bayern, wo seit je auch Wilderer und edle Räuber verehrt werden, die wie der Raucher das Leben für ihre Sache aufs Spiel setzen. Selbst gesetzestreue Qualmer, die für eine Freiluftfluppe vor die Tür gingen, fühlten sich als verfolgte Minderheit und durften hoffen, als solche von einem Fernsehteam interviewt zu werden.

Musikalisch gebildete Raucher stimmten bei dieser Gelegenheit die betörende Arie "Selig sind, die Verfolgung leiden" aus Wilhelm Kienzls Oper "Der Evangelimann" an. In dem Stück geht es zwar nicht direkt um ein Raucherschicksal, aber immerhin spielt ein Großbrand eine wichtige Rolle, sodass man durchaus von einer kunstvoll verfremdeten Bearbeitung des Rauchermotivs sprechen kann. Jedenfalls wird den Verfolgten in besagter Arie das Himmelreich versprochen, dem man ja auch mit der Zigarette Zug um Zug näher kommt. Letzteres gilt zwar unabhängig von der Gesetzeslage, aber so richtig selig wird der Raucher erst, wenn er mit seiner Sucht den Ruf eines Rebellen erwirbt. Dann, so hofft er zumindest, fliegen ihm die Herzen zu, dann gleicht er den verwegenen Outlaws im Film, die mit einer Kippe im Mundwinkel die Polizei narren und schöne Frauen erobern.

Mag sein, dass diese Seligkeit von anderer Art ist als die der verfolgten Unschuld im Evangelimann. Wenn man's genau nimmt, hat der Raucher ja nicht nur Verehrer, sondern es gibt auch Menschen, sogenannte Nichtraucher, die an seinem Treiben Anstoß nehmen. In alten Zeiten haben sich fromme Leute sogar bekreuzigt, wenn einer mit der qualmenden Tabakspfeife daherkam. Ein Mensch, der Rauchwolken ausstößt - das hatte was Dämonisches. Aber macht nicht gerade das ihn wieder interessant? Hebt es ihn nicht heraus aus der Masse der Spießer und Pfahlbürger? Womöglich wäre der bayerische König Ludwig I. niemals der Pseudospanierin Lola Montez verfallen, hätte sie nicht, wie ein Zeitzeuge schreibt, Tabak gequalmt "wie ein Bootsknecht". Lange haben die Historiker gerätselt, was ihn an dieser sonderbaren Dame fasziniert haben könnte. Jetzt legt sich der Dunst: Es war die Zigarette danach.

Nichtraucherschutz in Bayern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Der Staat zahlt zu wenig für Kinder"

Hessische Sozialrichter rufen das Bundesverfassungsgericht an und wollen die staatlichen Leistungen für den Nachwuchs überprüfen lassen

Von Marc Beise

München - Das Bundesverfassungsgericht soll die staatlichen Sozialleistungen an Familien überprüfen. Einen entsprechenden Antrag hat das Hessische Landessozialgericht in Darmstadt soeben nach Karlsruhe überstellt. Damit schert das Gericht in Aufsehen erregender Art und Weise aus der Phalanx der bisherigen Urteile von hohen Sozialgerichten aus, die die neuen gesetzlichen Regelungen stets abgenickt hatten, und fordert eine letztinstanzliche Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts.

In ihrem Vorlagebeschluss mit dem Aktenzeichen L6AS336/07, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, äußern die fünf Sozialrichter ihre Überzeugung, dass das im Rahmen der Hartz-Gesetzgebung abgesenkte Sozialgeld für Familien verfassungswidrig ist. Vorsitzender des betreffenden 6. Senats ist der bekannte Sozialrechtsexperte Jürgen Borchert. An diesem Dienstag befasst sich auch das Bundessozialgericht in Kassel mit dieser Sache. Geprüft werden soll ebenfalls, ob die Begrenzung des Hartz-IV-Satzes für Kinder auf 60 Prozent gegen das Grundgesetz verstößt. Nach der bisherigen Rechtsprechung dieses Gerichts ist eher nicht damit zu rechnen, dass eine Verfassungswidrigkeit festgestellt wird.Dieser Meinung aber sind explizit die Darmstädter Richter.

Mit Hilfe von vier Sachverständigen haben Borchert und seine vier Kollegen das Verfahren und das Ergebnis der Bestimmung der Regelleistungen am Beispiel einer Familie mit einer elfjährigen Tochter überprüft, deren Sozialgeld sich auf 207 Euro monatlich belief. Sie kommen zu dem eindeutigen Ergebnis: Die Leistungen für Familien reichen vorn und hinten nicht. Die Rede ist von "vielfältigen, teils stigmatisierenden Einschränkungen der Eltern". Der Zugang zu sportlichen, kulturellen und anderen Freizeitaktivitäten sei der Tochter wegen fehlender Geldmittel verschlossen gewesen. Dies habe sogar für schulische Veranstaltungen und das Schulessen gegolten. Familienausflüge hätten ausfallen müssen. In der Summe sei die Unterschreitung des Existenzminimums klar verfassungswidrig.

Die Gewährleistung eines soziokulturellen Existenzminimums ist verfassungsrechtlich durch den Schutz der Menschenwürde (Artikel 1 des Grundgesetzes) und das Sozialstaatsprinzip (Artikel 20) garantiert. Dieses soziokulturelle Existenzminimum ist der Dreh- und Angelpunkt zwischen Steuer- und Sozialrecht. Das, was der Staat Bürgern, die sich nicht selbst helfen können, zu leisten hat, darf er bei anderen auch nicht besteuern.

Seit 1990 gilt das auch für Kinder. Allerdings kann hier statt des Freibetrags auch Kindergeld gewährt werden. Wie hoch dieses Existenzminimum und damit auch die Steuerfreibeträge sein müssen, hat das Bundesverfassungsgericht selbst noch nicht entschieden, sondern es hat sich immer an der alten Sozialhilfe orientiert, die seit 2005 im Zuge der Hartz-IV-Reformen durch das Arbeitslosengeld II abgelöst wurde. Schon zu Zeiten der Sozialhilfe wurde in Fachkreisen moniert, dass das Existenzminimum, das bei der alten Sozialhilfe aufgrund einer Verordnungsregelung von der Bundesregierung festgelegt wurde, immer weiter hinter den Einkommen der unteren Schichten zurückblieb. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte jedoch stets, dass das im Prinzip in Ordnung sei; erst in den letzten Jahren deutete es an, dass wohl bald die Grenze der Verfassungswidrigkeit erreicht sein würde.

Seitens der Jurisprudenz werden die Stimmen immer lauter, dass es bei einer so entscheidenden Normsetzung wie der Festlegung der Armutsgrenze nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, diese der Exekutive zu überlassen, vielmehr falle sie unbedingt in den Verantwortungsbereich des Parlaments.

Nach geltendem Recht wurde vom Gesetzgeber das Arbeitslosengeld II mit einem Betrag von pauschal 345 Euro festgelegt. Von diesem sogenannten Eckregelsatz soll der gesamte Lebensunterhalt einschließlich der früher extra gewährten einmaligen Leistungen (etwa Kleidung, Waschmaschinenreparatur etc.) für einen Monat bestritten werden, Kostenträger ist der Bund. Kosten der Unterkunft werden extra übernommen: Kostenträger sind hier die Länder und die Kommunen. Individuelle Sonderfälle werden nicht mehr wie früher berücksichtigt. Für Kinder gelten nur noch zwei Altersgruppen: 0 bis 14, 15 bis 18 Jahre. Die jüngere Gruppe erhält 60 Prozent des Eckregelsatzes als Sozialgeld.

Zweifel in der Fachwelt

In der Fachwelt wurden die Methode und das Ergebnis der Ermittlung des Eckregelsatzes von Anfang in Zweifel gezogen. Dabei verdichtete sich zuletzt der Verdacht, dass insbesondre die Regelleistungen für Kinder vollkommen unzureichend seien. Das Bundessozialgericht allerdings hat in einer Reihe von Urteilen die Sätze für Erwachsene bisher stets gebilligt und das Problem bei Kindern noch nicht gesehen. Jetzt schert der 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts aus der Geschlossenheit der Sozialgerichte aus und hat das Bundesverfassungsgericht angerufen. Die Entscheidung in Karlsruhe, die einige Jahre auf sich warten lassen kann, wird in der Fachwelt mit Spannung erwartet.

Ein kleines Kind an einem Tisch: Die Verfassungsrichter sollen nun die Höhe von Sozialleistungen für Familien überprüfen. Foto: vario images

Arbeitslosengeld 2 in Deutschland Sozialhilfe in Deutschland Kinderarmut in Deutschland Fälle beim Bundesverfassungsgericht SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ach, diese rote, rote Rose

Auf, Ihr Ceilidh-Tänzer und Dudelsackspieler: Zum 250. Geburtstag des schottischen Nationaldichters Robert Burns

Während unzähliger "Burns Suppers" werden an diesem Sonntag überall auf der Welt wieder die Dudelsäcke geblasen, und bei Burns-Gesellschaften von Edinburgh bis Rio, von Jakarta bis Hawaii senken sich Messerklingen in pralle Schafsmägen. An deren dampfendem Inhalt, einem Gemisch aus Innereien und Haferbrei, dürfen sich die Supper-Gäste allerdings erst laben, nachdem die "Address to a Haggis" deklamiert worden ist: "Fair fa' your honest, sonsie face, / Great Chieftain of the Puddin-race!" Als Robert Burns 1786 sein achtstrophiges Loblied auf Schottlands Nationalgericht verfasste, rechnete er sicher nicht damit, dass es zu einem seiner meistzitierten Werke avancieren würde. Und doch ist das Gedicht, das neben dem zum Jahreswechsel angestimmten "Auld Lang Syne" und dem Liebeslied "A Red, Red Rose" das Bild von "Rabbie" Burns geprägt hat.

In diesem Jahr fallen die Supper-Feierlichkeiten noch üppiger aus als sonst, da am Sonntag der 250. Geburtstag des Robert Burns begangen wird. Die "Burns Night" stellt den Auftakt zum sogenannten "Homecoming Year" dar, das der schottische First Minister Alex Salmond ausgerufen hat: Ein Jahr angefüllt mit Whiskyverkostungen, Ceilidh-Tänzen und sonstigen tourismustauglichen caledonischen Spezialitäten, eine riesige PR-Veranstaltung für ein Schottland, das von der britischen Zentralverwaltung wegstrebt. Galionsfigur des Ganzen ist Robert Burns. Doch seit 1801 - fünf Jahre nach Burns' Tod im Alter von nur 37 Jahren - erstmals eine handvoll seiner Bewunderer zu einem einfachen Gedenkessen zusammenkam, haben sich die "Burns Suppers" zu einem gesellschaftlichen Ereignis entwickelt, bei denen der Gefeierte und sein Werk vielfach zu folkloristischen Arabesken schrumpfen.

Jenseits der Tartan-Tümelei

"The Bard" schmückt die whiskyseligen Suppers, wie er künftig die neue schottische 10-Pfund-Banknote schmücken wird. Über zwei Jahrhunderte hat sich ein bukolisches Klischee etabliert von Rabbie, dem erdverbundenen "Pflüger-Poeten" ohne formale Bildung, dem geselligen Trinker und stürmischen Liebhaber, dem Wahrer der schottischen Zunge und Fackelträger schottischen Nationalbewusstseins.

Obwohl er diesem Zerrbild selbst Nahrung gab, wird dieser Burns-Kult mit seiner gemütlichen Tartan- und Rabbietümelei der komplexen Figur des ehrgeizigen Dichters nicht gerecht, der sich selbst als "langgesichtiger Sohn der Enttäuschung" bezeichnete, und der sich für unterschätzt hielt, trotz seines publizistischen Erfolges noch zu Lebzeiten. Eines leidenschaftlichen Familienmenschen, der die "faithfu' wives" der Landbevölkerung pries und mehrere Kinder in außereheliche Affären zeugte. Eines politischen Denkers, dessen Werk im 19. Jahrhundert sozialistischen wie nationalistischen Ideen Nahrung geben sollte.

Am 25. Januar 1759 im südwestschottischen Alloway als ältester Sohn des Farmers William Burnes geboren, genoss Robert Burns entgegen der herkömmlichen Ansicht eine überdurchschnittlich gute Bildung: Zunächst in der von John Murdoch gegründeten Dorfschule, wo er Latein und Französisch lernte, später dann in Hugh Rodger's School in Kirkoswald. Zugleich arbeitete Robert auf den Farmen seines Vaters, zunächst in Mount Oliphant, später in Lochlea. Der Bankrott und spätere Tod des Vaters in Armut werden nicht zu unrecht als wichtige Auslöser für Robert Burns' Rebellion gegen den in Schottland herrschenden Kalvinismus und seine Hinwendung zur Freimaurerei gewertet. In seiner Bewunderung republikanischer Ideen - De Quincey bezeichnete als "Jakobiner" - und seiner Wut über die Thronübernahme durch die Hannoveraner war Robert Burns allerdings beileibe nicht allein. Er bewegte sich vielmehr wie Mary Wollstonecraft und William Roscoe im Mainstream des zeitgenössischen Freidenkertums.

Was ihn bedeutend macht - zum bedeutendsten Dichter, den Schottland je hervorbrachte - ist die Meisterschaft, mit der er Ton und Themen des Volksliedes in formvollendete Gedichte zu fassen verstand. Und obwohl sein Image als "Simple Bard, unbroke by Rules of Art", dem Burns in erlauchten Edinburgher Kreisen Vorschub leistete, irreführend ist, verdankten seine Werke ihre Authentizität zweifellos seiner einfachen Herkunft, von der er sich nie löste. Lange war Burns hin- und hergerissen zwischen seinem krisenreichen Leben als Farmer, das er erst 1789 zugunsten eines Postens als Zollinspektor in Dumfries aufgab, und seinen literarischen Ambitionen.

Mit seinen 1786 erschienenen "Poems, Chiefly in the Scottish Dialect", traf Burns den Nerv der Zeit. Die "erdige" Sprache der sogenannten Kilmarnock-Gedichte begeisterte ein Literatur-Establishment, das im Volksliedton das Antidot zum überfeinerten Gros zeitgenössischer Lyrik sah. Zugleich versprach er der angeschlagenen schottischen Nationalidentität literarisch auf die Beine zu helfen: Der Proto-Romantiker Burns befriedigte - und zwar viel glaubwürdiger - jene Sehnsucht, die schon James Macphersons "Ossian"-Fälschungen zu Erfolg verholfen hatten. Besonders die 1791 erschienene Hexen-Ballade "Tam o'Shanter", als narratives Gedicht eine Besonderheit in Burns' Oeuvre, fasst die Welt des schottischen Aberglaubens in eine derart farbige, saftige Sprache, dass A.F. Tytler ihm in einem Brief versicherte: "Hättest Du nie eine weitere Silbe geschrieben, dieses Gedicht hätte deinem Namen in der Nachwelt den besten Ruf eingebracht."

Die Ehe von Liebe und Freiheit

Liest man Burns heute, so fällt es bisweilen nicht leicht, den Ballast des postumen folkloristischen Überbaus abzuwerfen. Über patriotischen Gesängen, wie etwa dem im ironischen Bibelton gehaltenen "Scotch Drink" ("Thou clears the head o' doited Lear,/ Thou cheers the Heart o' drooping Care"), hängt der Dunst tausender "Burns Nights". Doch seine Liebeslyrik rührt noch immer ganz unmittelbar. Robert Burns' Ruf als Sänger wahrhaft empfundener Liebe verbreitete sich schon im 19. Jahrhundert weit über Schottlands Grenzen hinaus. (Selbst ein hartleibiger Prosaiker wie Bismarck soll seine spätere Frau Johanna Puttkammer eines kalten Abends mit einer Strophe aus "Oh wert thou in the cauld blast" umworben haben.)

Burns' Herzensergießungen wirken immer aufrichtig, ganz gleich, ob sie sich an Elizabeth Paton, die Mutter seines ersten Kindes richten, an seine - von ihm oft vernachlässigte - Frau Jean Armour, oder an eine der zahlreichen anderen Liebschaften. Die Zeile "My love is like a red, red rose" ist zurecht eine seiner berühmtesten. Durch die einfache Wiederholung eines Adjektivs stellt Burns nicht nur seine metrische Virtuosität unter Beweis, er erfüllt auch einen vermeintlich ausgelaugten Vergleich mit schwellender Intensität.

Walter Scott, der Burns als junger Mann in Edinburgh getroffen hatte, sagte, in vier Zeilen aus dem Abschiedsgedicht "Ae fond kiss" an seine - ausnahmsweise platonische - Geliebte Nancy McLehose, habe der Dichter die Essenz tausender unglücklicher Liebesgeschichten gefasst: "Had we never lov'd sae kindly,/ Had we we never lov'd sae blindly,/ Never met - or never parted,/ We had ne'er been broken-hearted."

"Meine beiden Lieblingsthemen sind Liebe und Freiheit", sagte Robert Burns einmal. Die brillante Behandlung dieser Themen durch einen außergewöhnlichen Dichter lässt sein Werk bis heute alle Kultur-, Klassen- und Glaubensgrenzen überwinden. Und letztlich ist es Universalität von Liebe und Freiheit, welche Burns zu jenem globalen Phänomen macht, das an diesem Sonntag gefeiert wird. ALEXANDER MENDEN

Der schottischer Dichter Robert Burns 1786 in seinem Cottage beim Verfassen des Gedichtes "The Cotter's Saturday Night". Wie der Heilige Hieronymus im Gehäuse hat Robert Burns einen Hund. Doch der Löwe des Hieronymus hat sich in die Brust des rebellischen Dichters zurückgezogen, der die Liebe und die Freiheit als seine Lieblingsthemen bezeichnete. So hohe Ansprüche hatte Robert Burns an die Welt, dass er von sich sagte: "ich bin der langgesichtige Sohn der Enttäuschung". Foto: Hulton Archive/ Getty Images

Burns, Robert SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hiebe für Hilflose

Pflegebedürftige leiden oft unter der Gewalt ihrer Angehörigen

Ich weiß, dass es unverzeihlich ist", berichtete die Frau unter Tränen. "So etwas tut man nicht". Sie tat es trotzdem immer wieder: Sie schlug ihre alte, verwirrte Mutter, wenn diese widersprach oder nicht gehorchen wollte; oder wenn sie wieder in Schlappen und Morgenmantel beim Bäcker nebenan gewesen war. Immer dann, wenn sie noch stärker überfordert war als üblich mit der Betreuung der kranken Frau.

Schläge gegen Menschen, die eigentlich Pflege brauchen, sind ein großes, viel zu wenig beachtetes Problem. Der Missbrauch von Kindern ist hierzulande ein Thema geworden. Häusliche Gewalt gegen Alte dagegen ist nach wie vor Tabu. Dabei sind pflegebedürftige Alte ihren Angehörigen meist ebenso hilflos ausgesetzt wie Kinder, und die Pflegenden kommen aus der Spirale von Überlastung, Verzweiflung und Aggression kaum von allein heraus. Auch in Pflegeheimen sei Gewalt ein ernstes Problem, "in der häuslichen Pflege aber ist es oft richtig schlimm", sagt der Münchner Sozialarbeiter Claus Fussek, der sich seit Jahren für das Thema engagiert.

Harte Zahlen gibt es kaum, und so blickt eine Umfrage aus Großbritannien nun wenigstens für einen Moment in das Leben der betroffenen Familien. Drei Psychiater vom University College London haben sich mit anderen Kollegen zusammengetan, um 220 Angehörige, die einen demenzkranken Partner oder ein Elternteil zu Hause betreuten, nach ihren Erfahrungen mit Gewaltausbrüchen zu befragen. Alte Menschen, die an Demenz leiden, werden besonders leicht zu Opfern von Gewalt. "Die emotionale Herausforderung ist hier noch größer", sagt Gabriele Tammen-Parr vom Berliner Verein Pflege in Not - einer der wenigen Anlaufstellen für Pflegende und Gepflegte.

Die britische Studie ist noch milde ausgegangen. Man könnte fast sagen: Die Gesellschaft ist mit einem blauen Auge davongekommen. Denn nur drei der 220 Pflegenden gaben zu, auch körperlich gewalttätig zu werden. Die Hälfte von ihnen aber räumte ein, verbale und psychische Gewalt auszuüben. Dass die wahren Zahlen viel höher liegen, glauben auch die Psychiater, die ihre Studie im British Medical Journal veröffentlicht haben. Wer mag schon zugeben, dass er seine alte Mutter anschreit, einsperrt oder auf grobe Art wäscht?

"Es ist aber gar nicht so, dass es manche gewalttätige Pflegende gibt, die von Natur aus unmoralisch sind, während andere niemals so handeln würden", betonen die Psychiater. Jeder könne in diese Situation geraten. "Im Durchschnitt werden alte Menschen zehn Jahre lang betreut. Das ist eine unendlich lange Zeit", sagt Tammen-Parr. "Darauf kann sich niemand vorbereiten." Viele Angehörige seien von dem Gefühlscocktail, den sie erlebten, völlig überrascht. "Aber Pflege bedeutet nun einmal, dass man sich körperlich und emotional so nahe kommt, wie es oft von beiden Seiten nicht gewünscht wird." Zündstoff sei dann all das, was nie verziehen und verarbeitet worden sei. Auch die Gepflegten hätten durchaus ihren Anteil an Eskalationen.

Ungeachtet dessen wird die häusliche Pflege immer noch als Ideal gepriesen. "Wir brauchen viel mehr bezahlbare Entlastung und so etwas wie Krippen für Ältere", fordert Claus Fussek. Pflegenden würde es schon helfen, wenn sie wüssten, dass sie mit ihren Aggressionen nicht allein gelassen werden. Der Verein Pflege in Not hat vor einiger Zeit eine Informationskampagne gestartet. Der Titel ist provokant, aber oft wahr: "Manchmal möchte ich zuschlagen." Christina Berndt

Ambulante Pflege in Deutschland Gewalt in der Familie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kritik an Steinbrück

Wirtschaftsverbände warnen vor Gesetz gegen Steueroasen

Von Thomas Öchsner

Berlin - Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft haben die Pläne von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) scharf kritisiert, härter gegen Staaten vorzugehen, die Steuerhinterziehung fördern oder begünstigen. Die Regelungen in dem Entwurf für ein "Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz" seien zum Teil europarechtlich und "rechtsstaatlich bedenklich", heißt es in einer Stellungnahme der Verbände, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Die Wirtschaftslobbyisten fürchten gravierende Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten des Standorts Deutschland, wenn das Finanzministerium sich im Kampf gegen Steueroasen nicht mit der EU und den G-20-Staaten abstimme. Das Schreiben an das Finanzministerium ist unter anderem vom Bundesverband deutscher Banken, vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft und vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) unterzeichnet.

Steinbrück hatte vergangene Woche einen Gesetzentwurf "zur Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken" vorgelegt. Danach könnte jedes Unternehmen Probleme bekommen, das in Ländern aktiv ist, die sich nicht an die Mindeststandards der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) über den Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten halten. So ärgert sich Steinbrück schon lange darüber, dass zum Beispiel die Schweiz keine Amtshilfe leistet, wenn ein deutscher Steuerzahler direkte Steuern hinterzieht. Im Oktober 2008 drohte der Finanzminister deshalb bereits dem Nachbarland mit der "Peitsche". Das geplante Gesetz ist nun die Folge. Darin ist unter anderem vorgesehen, dass der Fiskus deutschen Firmen im äußersten Fall den Steuerabzug von Betriebsausgaben verweigern darf. Voraussetzung: Die Zahlungen gehen an das Unternehmen eines Staates, mit dem "kein Auskunftstausch entsprechend den Standards der OECD durchgeführt werden kann".

Sorgen ums Geschäft

Die Union will diese Pläne auf jeden Fall verhindern, weil sie den Geschäftsverkehr mit der Schweiz gefährdeten. Auch das von dem CSU-Politiker Michael Glos geführte Bundeswirtschaftsministerium soll bereits erhebliche Bedenken geäußert haben. Eine Sprecherin von Glos wollte sich dazu nicht äußern. "Die Abstimmung innerhalb der Ministerien läuft", sagte sie am Sonntag.

Die Spitzenverbände der Wirtschaft machen sich offenbar ebenfalls Sorgen um die Geschäfte deutscher Unternehmen in der Schweiz, aber auch in anderen Staaten, mit denen der behördliche Datenaustausch nicht reibungslos funktioniert. Es sei unverhältnismäßig, beliebige Schwierigkeiten bei der Amtshilfe durch andere Staaten zum Anlass zu nehmen, "einen Steuerpflichtigen, dem keine schuldhafte Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann, rechtlos zu stellen", heißt es in ihrem Schreiben an das Bundesfinanzministerium.

Steinbrück, Peer: Angriffe Steuerpolitik in Deutschland Steueroasen Wirtschaftsverbände in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der goldene Schlüssel

Von Thomas Kistner

Das Bemerkenswerte am Fall Vuckovic: Es gibt einen Königsweg aus der Affäre. Vuckovic bräuchte nur die Ärzte in Bayreuth, die 2001 den mit lebensgefährlichem Organversagen ringenden Triathleten behandelten, von der Schweigepflicht zu befreien. Und nur in einem Punkt: Hat er ihnen damals den Konsum von Epo gebeichtet?

Der Triathlet tut das nicht. Das ist sein Recht. Richtig ist aber auch, dass diese Weigerung in der hitzigen Gemengelage langsam entlarvend wirkt. Er braucht sich nicht zu rechtfertigen? Gut. Warum tut er es dann, indem er sogar Briefe von Anwalt und Ärzten ins Netz stellt - die nicht das Geringste zur Klärung der Kernfrage beitragen? Mäßig überzeugend sind zudem die Attacken gegen die Deutsche Triathlon-Union: Die Epo-Vorwürfe des Ehrenpräsidenten Engelhardt allein sind es ja nicht, die Nada und DTU alarmiert haben. Da ist vor allem die faszinierende Frage, warum Vuckovics damaliger Lauftrainer Springstein, verurteilter Doper, mit einem Dopingarzt aus dem Madrider Fuentes-Kreis einschlägige Mails zum deutschen Silberhelden von Sydney austauschte - dies Indiz ist mindestens so gravierend. Auch dazu lieferte Vuckovic, der Doping abstreitet, bis heute keine griffige Erklärung.

Abstreiten ist in dieser Gesamtlage nicht überzeugend. Zumal, wenn einer den goldenen Schlüssel zur Wahrheit besitzt - die Zeugenschaft der Bayreuther Ärzte - ihn aber nicht rausrücken will. Das bringt des Athleten Position zunehmend in Schieflage. Vuckovic lamentiert über Intrigen, Rufmord, über den teuren Verlust der Glaubwürdigkeit für künftige Aktivitäten in der Nachwuchsarbeit und anderswo. Alles gut nachvollziehbar. Aber wieso beendet er nicht mit leichter Hand das Dilemma, wieso erledigt er die Angreifer nicht mit einem einzigen Schlag?

Der Fall zieht nun größere juristische Kreise. Der ehemalige DTU-Chef Müller-Ott, der nie ausgeplaudert haben will, was Engelhardt behauptet, legte gar eine eidesstattliche Erklärung vor, er hat im ersten Schritt verloren und zieht zum Oberlandesgericht. Das ist gut, denn Engelhardts Partei sagt, sie habe weitere Zeugen für Müller-Otts Aussagen. So wächst der Druck auf alle. Und wenn Nada/DTU die neuen Zeugen anhören, könnte die Affäre um Engelhardts Mail einen dramatischen Richtungswechsel erfahren.

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STARBUCKS

1000 Stellen weniger

Los Angeles - Die US-Kaffeehauskette Starbucks will wegen der Wirtschaftskrise weitere 1000 Stellen streichen. Der Abbau betreffe Arbeitsplätze in der Zentrale in Seattle, Bezirksleiter sowie Außendienstmitarbeiter, so die Seattle Times. Starbucks, das am Mittwoch Quartalszahlen vorlegt, war nicht zu erreichen. Starbucks hatte 2008 die Schließung von 600 Filialen und die Streichung von bis zu 12 000 Arbeitsplätzen angekündigt. Die US-Kette leidet darunter, dass immer weniger Menschen Geld für vergleichsweise teure Kaffee-Getränke ausgeben. Führende Starbucks-Manager und Firmenchef Howard Schultz erhielten 2008 keine Boni und verzichten 2009 auf höhere Gehälter. Reuters

Starbucks: Sparmaßnahmen Starbucks: Personalabbau SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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MCDONALD'S

240 neue Filialen

London - Die US-Fastfood-Kette McDonald's will nach einem Zeitungsbericht in diesem Jahr etwa 240 neue Filialen in Europa eröffnen und dabei 12 000 Stellen schaffen. Der ehrgeizigste Expansionsplan seit fünf Jahren sehe vor allem Neueröffnungen in Spanien, Frankreich, Italien, Russland und Polen vor, berichtete die britische Wirtschaftszeitung Financial Times. Bei den neuen Arbeitsplätzen handele es sich vor allem um Teilzeitstellen. Die Umsätze seines Unternehmens zeigten keine Anzeichen von Schwäche, zitierte das Blatt Europa-Chef Denis Hennequin. An diesem Montag will McDonald's die Konzernzahlen für das vierte Quartal des Geschäftsjahres 2008 vorlegen. AFP

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Die Familie bleibt unter sich

Trotz historischer Siege: Keine Spur von Hockeyboom bei deutschen Hallenfinals

Duisburg - Es war eine fast schon paradoxe Situation zwischen den beiden Finalspielen um die Deutsche Hallenhockey-Meisterschaft. Die Frauen vom Club an der Alster Hamburg hatten nach einem deutlichen 7:2 (5:1) gegen den Rüsselsheimer RK gerade ihren Titel verteidigt und sprangen glücklich durch die Halle, als Stephan Abel ein paar ernste Worte in den Sinn kamen. "Wir sind seit Jahren der erfolgreichste Verband unter den Spielsportarten und stellen mit unseren Olympiasiegern die Mannschaft des Jahres", hob der Präsident des Deutschen Hockey-Bundes an, "da würde ich langsam mal erwarten, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen das goutiert."

Beim Finalturnier um die Deutschen Meisterschaften der Männer und der Frauen spielten insgesamt neun Olympiasieger mit, und in Rot-Weiß Köln gab es die vielleicht spektakulärste Klubmannschaft zu bestaunen, die das deutsche Hockey je hervorgebracht hat. Doch die Hockeyfamilie blieb mal wieder unter sich. "Was sollen wir denn noch mehr bieten?", fragte Abel, schließlich sahen die 2100 Zuschauer nicht nur hochklassigen Sport, sie feierten auch noch ein lautes Fest in der Duisburger Rhein-Ruhr-Halle. Den TV-Anstalten seien die Produktionskosten zu hoch, vermutet Abel. "Wir haben ja noch nicht einmal das Gefühl, dass wir quotenmäßig etwas Fernsehpräsenz abbekommen", sagte Abel, "das ist wirklich traurig." Aus Duisburg berichteten nur private Lokalsender. Dabei war Deutschlands Hockeysport nie erfolgreicher als in der Gegenwart. Im Jahr 2002 wurden die Männer erstmals Weltmeister, zwei Jahre später gewannen die Frauen die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen, 2006 richtete der Deutsche Hockey-Bund die Männer-WM aus, und der Gastgeber verteidigte seinen Titel, wurde dann 2008 in Peking sogar Olympiasieger. Zudem ist Hallenhockey erheblich rasanter als die Variante auf dem Feld. Aus ihrem Nischendasein weit hinter Disziplinen wie Handball, Basketball oder Eishockey kommt die Sportart aber einfach nicht heraus.

Titel für Köln und Hamburg

Dabei war genau das der Plan gewesen, als der Verband 2002 mit der Champions-Trophy seine "Veranstaltungsoffensive" begann. Seither richtete der DHB Weltmeisterschaften in der Halle und im Freien aus, brachte bei den Männern die erfolgreichste Hockeygeneration seiner Geschichte hervor und verkündete regelmäßig ansteigende Mitgliederzahlen. Ohne die Hilfe der großen Fernsehanstalten lässt sich das öffentliche Interesse am Hockeysport offenbar nicht einmal in dieser goldenen Ära beleben.

Den Siegern war das am Ende aber egal. Die Hamburgerinnen vergnügten sich längst mit Kaltgetränken, und Rot-Weiß Köln, der neue Meister der Männer, hat auch ohne große mediale Präsenz einen märchenhaften Aufstieg hinter sich gebracht. Der Traditionsklub feierte nach dem 5:3 (1:2)-Finalsieg seinen ersten Titel seit 1995, und dieser Erfolg soll nur der erste Gipfel gewesen sein. Denn seit dem Sommer 2007 hat der damalige Zweitligist einige der besten Hockeyspieler an den Rhein gelockt. Geld brauchten sie dazu nicht, allein maßgeschneiderte Berufsperspektiven haben die Kölner ihren insgesamt acht Nationalspielern geboten. Stürmer Christopher Zeller, eine internationale Spitzenkraft, hat sogar einen hoch dotierten Profivertrag beim holländischen Spitzenklub HC Bloemendaal gekündigt.

"Der Aufstieg war Pflicht, aber dass wir so schnell einen Titel gewinnen, das ist ein Traum", sagte Zeller nach dem aufregenden Endspiel, das von den meisten als würdiger Schlusspunkt eines stimmungsvollen Hockeywochenendes empfunden wurde. "Spannend, dramatisch, das ist der Hammer", fasste Kölns Co-Trainer Wolfgang Kluth, der schon beim letzten Titel dabei war, zusammen. Zwar brauchte das Kölner Ensemble mit den Brüderpaaren Timo und Benjamin Wess sowie Phillip und Christopher Zeller lange, bis es ins Spiel fand. Zweimal lag das Team zurück, aber die größere individuelle Klasse setzte sich durch, und am Ende feierte die Halle ein karnevalistisches Hockeyfest. Nur in der Ecke mit den vielen Rüsselsheimern flossen auch ein paar Tränen. Daniel Theweleit

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DTU leitet Verfahren ein

Triathleten suchen Klarheit im Fall Vuckovic / Neue Zeugen

München - Seit Monaten brodelt es hinter den Triathlon-Kulissen. Nun drängte es Stephan Vuckovic zum Handeln. Auf seiner Homepage verbreitet der Triathlet aus Reutlingen seine Sichtweise auf die eigene Causa, die er für eine "miese sportpolitische Intrige" hält. Verlinkt damit hat er ein gepfeffertes Schreiben seines Anwalts Michael Lehner an Claudia Wisser, Chefin der Deutschen Triathlon-Union (DTU), sowie einen Arztbrief der Tübinger Uni-Klinik. Dieses soll belegen, dass eine Legionella-Erkrankung Vuckovics lebensgefährlichen Kollaps 2001 bei der EM in Karlsbad verursacht hatte.

Ein Vorfall, der ihm viel Ungemach bereitet, seit DTU-Ehrenpräsident Martin Engelhardt im Oktober verbandsintern via Mail ein Gedächtnisprotokoll in Umlauf brachte (SZ 29.11.08). Darin erklärt der Orthopäde aus Osnabrück, Vuckovic habe 2001 mit Epo gedopt und dies zugegeben, als er mit Leber-Nierenversagen in eine Bayreuther Klinik gebracht und von den Ärzten befragt wurde, die tagelang um sein Leben rangen. Engelhardt benannte den damaligen DTU-Chef Klaus Müller-Ott und Verbandsarzt Andreas Marka als Zeugen, diese bestreiten seine Schilderung. Ohne Folgen blieb die Anschuldigung trotzdem nicht. Engelhardt wollte damit Vuckovis Kür zum baden-württembergischen Verbandschef im Oktober 2008 vereiteln, was gelang, weil der Athlet wegen der verbandsintern kursierenden Vorwürfe die Kandidatur zurückzog. Und auch die Zeugen hielten anfangs still, sie wandten sich erst gegen Engelhardt, als die Mail öffentlich wurde. Zu viel Ungereimtheiten für die neue DTU-Spitze. "Wir leiten formal ein Ermittlungsverfahren ein", sagt Wisser. Das will auch die Nationale Antidopingagentur. "Wir haben dazu aufgefordert", sagt Nada-Sprecherin Ulrike Spitz.

Dies veranlasste Vuckovic zur Offenlegung vertraulicher Papieren. "Drei Ärzte", so der Triathlet, "haben mir unabhängig voneinander bestätigt, dass ich im Sommer 2001 eindeutig an Legionellose erkrankt bin." Auch Anwalt Lehner beharrt darauf, er warnt die DTU davor, das am 27. August 2001 erstellte Tübinger Gutachten anzuzweifeln. Er sähe darin einen Rufmord "nicht nur meines Mandaten". Des Anwalts Schlüsse: Die DTU habe mit Engelhardts Vortrag keine Basis für ein Verfahren, es gäbe ja keine "anderen greifbaren Ansatzpunkte für ein Epo-Doping meines Mandaten". Zugleich hält es Lehner für "unsinnig", die Ärzte in Bayreuth von der Schweigepflicht zu befreien. Das wünscht aber die DTU, das würde auch die Nada interessieren - denn es war in Bayreuth, wo sich Vuckovic offenbart haben soll.

Dass er nun einen kompletten Arztbrief ins Netz stellt, aber nicht die Kernfrage an Bayreuth zulassen will, wird in DTU und Nada skeptisch bewertet. Zumal selbst der klarste Beweis, dass Vuckovics Kollaps von Legionellen herrührte, unerheblich für die Frage ist, ob es in Bayreuth eine Epo-Beichte gab. Als er dort mit Organversagen um sein Leben rang, war der Auslöser unbekannt, er wurde verzweifelt gesucht. Zudem zweifeln Experten nicht den Tübinger Befund an, wohl aber, ob daraus eindeutig Legionella als Auslöser des Organversagens abzuleiten sei. Sogar im Arztbrief heißt es: "Als Erreger (...) darf mit einiger Sicherheit ein Bakterium aus der Legionellen-Gruppe angenommen werden."

"Das ist keine knallharte Kausalkette", sagt Christian Lück vom Konsiliarlaboratorium für Legionellen an der Uni-Klinik Dresden, "das kann, muss aber kein Beweis sein." Auch der Heidelberger Zellforscher Werner Franke, eine von ihm gegründete Firma stellt Legionellen-Erkennungsmittel her, sieht "da keine eindeutige Bestimmung". Er verweist auf Pikantes: "Legionella ist meldepflichtig. Alles mündet in die Frage, ob im Sommer 2001 ein Legionella-Fall von Bayreuth oder Tübingen gemeldet wurde?"

Der Verdacht von Nada und DTU in der Affäre gründet indes nicht nur auf Engelhardts Aussagen. Die Gremien irritiert, dass Vuckovic 2000/2001 bei Thomas Springstein trainierte - das brachte ihn schon einmal in Erklärungsnot. 2006 war im Dopingprozess gegen den Trainer auch dessen Mailverkehr mit dem Arzt Miguel Peraita publik geworden, der als eine Schlüsselfigur des internationalen Dopingnetzwerks in Madrid gilt. Laut Gerichtsakten bedankte sich Springstein für die "kreativen Ideen" bezüglich des Schützlings Vuckovic, nachdem dieser in Sydney überraschend Silber gewonnen hatte. Peraitas Antwort: "Wir wussten schon von Vuckovic und den Mädchen. GROSSARTIG. Für das nächste Jahr haben wir neue Sachen, um das Material zu ersetzen, sehr interessant." Vuckovic bestritt gegenüber der DTU alle Vorwürfe. Auf SZ-Anfrage im November sagte er, er habe "damals alles gesagt, ich schaue nicht zurück und lebe im Jetzt".

Vuckovic erwirkte eine Unterlassungserklärung von Engelhardt. Hart blieb Engelhardt, als ihn nun Amtsnachfolger Müller-Ott ebenfalls in die Knie zwingen wollte. Das Landgericht Kiel lehnte Müller-Otts Antrag auf Einstweilige Verfügung im Dezember ab. Auch Müller-Otts eidliche Erklärung, die Epo-Äußerungen nie getan zu haben, überzeugte den Richter nicht: Engelhardts Behauptung sei "als wahr zu behandeln". Jetzt zieht Müller-Ott zur nächsten Instanz, sagt: "Das bedeutet noch gar nichts. Engelhardt hat den Beweis anzutreten, nicht ich."

Engelhardts Anwalt Stefan Felsner bleibt gelassen. Und hat eine für alle Beteiligten brisante Neuigkeit: "Bei uns haben sich weitere Zeugen gemeldet, die behaupten, damals von Herrn Müller-Ott über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt worden zu sein und den Sachvortrag von Herrn Engelhardt bestätigen. Auf die werden wir uns im Bedarfsfall beziehen." Thomas Kistner/Frank Ketterer

Stephan Vuckovic Foto: ap

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Die Folklore muss warten

Beim ersten Basketball-Derby in Köln gegen Düsseldorf geht es weniger um rheinische Rivalitäten

Otto Reintjes ist erst gar nicht hingefahren nach Köln, er kränkelt etwas, "und außerdem wollte ich ja jetzt kürzer treten - dann mach' ich das auch". Gesellschafter ist Reintjes, 58, inzwischen bei den Giants Düsseldorf, jenem Nachfolgeteam von Rekordmeister Bayer Leverkusen, der sich aus der Basketball-Bundesliga zurückziehen musste nach dem Ausstieg des Konzerns. Spieler, Trainer und viele Jahre Manager ist Reintjes bei Bayer gewesen, und wenn es ehedem nach Köln ging, erinnert er sich, "dann brannte der Baum richtig". Legendär sind heute noch die Duelle in der Müngersdorfer ASV-Halle, sie fasste offiziell 1600 Menschen. Aber wenn dort in den 80er Jahren der BSC Saturn den Rivalen von der anderen Rheinseite empfing, waren es doch ein paar Hundert mehr. "Die kamen mit Bierkästen", sagt Reintjes, "damit sie überhaupt irgendetwas sahen."

Diesen Samstagabend sind 3007 Zuschauer am Girlitzweg gewesen, damit war der EnergyDome fast ausverkauft beim ersten Duell in Köln mit dem neuen Rivalen Düsseldorf. Auch die Stimmung war prächtig, vor allem bei den Kölnern, sie gewannen das Derby hauchdünn 80:78. Den abstiegsbedrohten 99ers tat dieser Sieg gut, weil es erst ihr sechster Erfolg im 18. Saisonspiel gewesen ist. "Das war heute Werbung für den Basketball". sagte Trainer Drasko Prodanovic hinterher. Von einer lokalpatriotischen Bedeutung sprach er nicht, dafür fehlt dem Duell wohl einfach die Tradition. Giants-Trainer Achim Kuczmann als vieljähriger Leverkusener erlebte das ehedem noch anders, wie auch 99ers-Manager Stephan Baeck, 43; er holte als Spieler sowohl mit Bayer 04 als auch mit Köln Meisterschaften.

Doch die Zeiten haben sich eben geändert im Rheinland, wo der BBL-Zweite des Vorjahres aus Bonn auch diesmal vom ersten Titel träumen darf. Köln, 2008 fast pleite gegangen, kämpft dagegen ums Budgets und die Klasse. Düsseldorf ist wiederum noch etwas davon entfernt, eine Basketballhochburg zu sein, der Schnitt liegt bei 2500 Fans und damit unter den Vorgaben. Und nicht einmal der Express hatte sich jetzt Mühe gegeben mit ein paar Sticheleien, obwohl Düsseldorf in Köln noch unbeliebter ist als Leverkusen. "Jeder ist momentan auf andere Sachen konzentriert", sagt Reintjes. Für rheinische Folklore haben die Rivalen derzeit keinen Sinn. abur

Stephan Baeck Foto: oh

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Mutmaßlicher Massenmörder in Ruanda verhaftet

Tutsi-Rebellenchef Laurent Nkunda soll schwerste Kriegsverbrechen im Kongo begangen haben

Goma - Soldaten aus Ruanda und dem Kongo haben den wegen Kriegsverbrechen gesuchten kongolesischen Rebellenchef Laurent Nkunda gefangen genommen. Er sei bei einem gemeinsamen Militäreinsatz in Ruanda gefasst worden, teilten die Streitkräfte beider Länder am Freitag mit. Nkunda ist Chef des Nationalkongresses zur Verteidigung des Volkes (CNDP), einer im Osten der Demokratischen Republik Kongo operierenden Tutsi-Miliz. Den Kämpfern des CNDP werden Massenmorde und -vergewaltigungen vorgeworfen. Der Rebellenführer wird außerdem beschuldigt, Kindersoldaten einzusetzen. Nach Informationen von Amnesty International haben Nkundas Truppen sogar zwölfjährige Kinder entführt und für ihren Bürgerkrieg verpflichtet.

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurde Nkunda knapp 100 Kilometer nördlich der kongolesischen Stadt Goma auf ruandischem Boden verhaftet. Die Führung eines ruandisch-kongolesischen Militäreinsatzes teilte in einer schriftlichen Erklärung mit, Nkunda habe zuvor erfolglos versucht, einen Angriff in der Nähe der Grenzstadt Bunagana abzuwehren.

Der kongolesische Informationsminister Lambert Mende Omalanga sagte, seine Regierung bemühe sich um die Auslieferung Nkundas. "Es gibt einen kongolesischen Haftbefehl gegen ihn, er ist Kongolese, und er hat seine Verbrechen im Kongo begangen - sein Fall muss eindeutig im Kongo verhandelt werden", sagte Lambert Mende im französischen Auslandsrundfunk RFI. Der Informationsminister bezeichnete die Festnahme Nkundas als "gut für Frieden und Sicherheit in der Region". Der Sprecher der UN-Mission im Kongo, Jean Paul Dietrich, reagierte dagegen zurückhaltend auf die Festnahme. Laurent Nkunda sei zumindest einschätzbar gewesen, sagte er dem britischen Rundfunksender BBC. "Jetzt müssen wir abwarten, wer nach Nkunda kommt und hoffen, dass die versprochene Niederlegung der Waffen auch wirklich stattfindet."

Ende des vergangenen Jahres hatten sich Nkundas Rebellen und Regierungstruppen heftige Gefechte in der Provinz Nord-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo geliefert. Mehr als 250 000 Menschen wurden innerhalb weniger Wochen vertrieben. Etwa 3500 Soldaten aus Ruanda hatten sich daraufhin den dortigen Regierungstruppen angeschlossen, um den Frieden in dem Krisengebiet wiederherzustellen und die Tutsi-Rebellen von Nkunda zu entwaffnen. Laurent Nkundas Aufstand begann vor vier Jahren. Die Gründe für seine Rebellion liegen in ungelösten ethnischen, wirtschaftlichen und politischen Fragen.

Der gemeinsame Einsatz ruandischer und kongolesischer Soldaten ist bislang ohne Beispiel. Beide Länder hatten einander vorgeworfen, regierungsfeindliche Kräfte zu unterstützen. Ruanda half Nkunda lange Zeit im Kampf gegen die Hutu-Kämpfer im Osten des Kongos. Diese waren nach dem Völkermord, dem 1994 mehr als 800 000 Tutsi in Ruanda zum Opfer fielen, ins Nachbarland geflüchtet.

Das oberste Militärgericht des Kongo hatte 2005 wegen Ungehorsams und Kriegsverbrechen einen Haftbefehl gegen Nkunda erlassen. Anders als weithin vermutet, liegt gegen ihn bisher kein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes vor, wie eine Sprecherin des Gerichts am Freitag in Den Haag sagte. Die Kongo-Ermittlungen seien aber noch nicht abgeschlossen. (Seite 4) SZ

Nkunda, Laurent: Haft Nkunda, Laurent: Straftat CNDP Congrès national pour la défense du peuple Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo 1998 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Armstrong auf Rang 29

Zweck erfüllt

In den USA verstehen immer noch nicht alle etwas vom Radsport, und womöglich sind diese Menschen jetzt doch etwas enttäuscht von Lance Armstrong: Als 29. hat er die Tour Down Under und damit sein Comeback nach dreieinhalb Jahren Rennpause hinter sich gebracht - ist das nicht ein sportliches Debakel für einen, der siebenmal die Tour de France gewann?

Ist es natürlich nicht, Armstrongs Rückkehr verlief wie erwartet und geht somit in Ordnung, rein sportlich. Die Sternfahrt rund um Adelaide bedeutete eine bessere Trainingseinheit für den Amerikaner, er hat andere Ziele. Die Flandernrundfahrt Anfang April etwa, der 37-Jährige würde zu gern mal einen Klassiker gewinnen; noch wichtiger ist ihm freilich der Giro im Mai, der ihm als Vorbereitung für die Tour durch Frankreich im Juli dienen soll. "Hier geht es nur um einen langsamen Formaufbau", sagte Armstrong in Adelaide; die Tour durch Südaustralien ist vom Profil her sowieso nichts für echte Klassement-Fahrer, und wie im Vorjahr, als der Rostocker André Greipel siegte, gewann im Australier Allan Davis ein Sprinter; er holte sich drei Etappensiege und lag am Ende 49 Sekunden vor Armstrong, der eher locker mitrollte.

Wie viele andere ist auch Davis' Name in den Polizeiakten zur Fuentes-Affäre zu finden; behelligt wurde er nicht. Und so hat die Tour Down Under nicht nur für Armstrong einen anderen, übergeordneten Zweck trefflich erfüllt: die Vergangenheit auszublenden. "Es interessiert nicht, was einmal war", sagte etwa Greipel über Armstrong, "er wurde nie positiv getestet." Und der Berliner Jens Voigt fasste auf seine spezielle Art jene Realität zusammen, die, nicht nur sportlich, nicht jedem behagen mag: "Lance ist der Patron, der er immer war." abur

Armstrong, Lance: Leistung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Pharmafusion fast perfekt

Pfizer bietet womöglich knapp 70 Milliarden Dollar für Wyeth

New York - Der Branchenführer Pfizer legt nach Angaben aus Kreisen möglicherweise rund 67 Milliarden Dollar für den US-Rivalen Wyeth auf den Tisch und stemmt damit erneut einen der größten Zukäufe aller Zeiten in der pharmazeutischen Industrie. Wie Reuters erfuhr, könnte Pfizer etwa 50 Dollar pro Wyeth-Aktie zahlen. Der Preis könne sich jedoch noch verändern, da die Verhandlungen das ganze Wochenende anhalten sollten. Die Fusion könnte jedoch schon innerhalb von wenigen Tagen besiegelt werden, hieß es weiter. Pfizer wolle mehr als die Hälfte des Kaufpreises in bar bezahlen und den Rest mit eigenen Aktien. Der Konzern habe sich bereits eine Finanzierung über 25 Milliarden Dollar gesichert, um die Übernahme zu besiegeln.

Pfizer und Wyeth führten seit Monaten Gespräche über einen Zusammenschluss, sagten mehrere mit dem Vorgang vertraute Personen. Eine Transaktion sei aber noch nicht unter Dach und Fach. Sowohl Pfizer als auch Wyeth lehnten einen Kommentar zu dem Bericht ab. Mit der Übernahme von Wyeth würde Pfizer die Branche erneut aufmischen und möglicherweise eine neue Fusionswelle unter den Unternehmen einleiten.

Pfizer-Chef Jeff Kindler hatte unlängst gesagt, der Konzern sei offen für Großübernahmen. Hierzulande wurde Pfizer zuletzt als einer der Kandidaten für eine Übernahme des Ulmer Arzneimittelherstellers Ratiopharm gehandelt. Mit einer weiteren Megaübernahme würde Pfizer kein Neuland betreten. Seine gegenwärtige Führungsposition in der Pharmaindustrie verdankt Pfizer milliardenschweren Zukäufen. Dazu gehört der Kauf des US-Rivalen Warner-Lambert im Jahr 2000 für etwa 88 Milliarden Dollar - die bislang teuerste Übernahme in der Branche. Drei Jahre später war es der US-Konzern Pharmacia für etwa 60 Milliarden Dollar. Pfizer kam 2007 nach eigenen Angaben mit rund 85 000 Beschäftigten auf einen Jahresumsatz von 48,4 Milliarden Dollar. An der Börse ist Pfizer gegenwärtig rund 118 Milliarden Dollar wert. Wyeth ist mit einem Umsatz 2007 von 22,4 Milliarden Dollar nicht einmal halb so groß wie Pfizer. Wyeth hat etwa 47 500 Beschäftigte.

Pfizer ist nach Jahren an der Spitze der Branche in jüngster Zeit arg ins Wanken geraten. Ende 2008 hatte der Kurs der Pfizer-Aktie an der Wall Street die tiefsten Stände seit zehn Jahren markiert. Probleme mit dem Medikamentennachschub und die schärfere Konkurrenz durch Nachahmerhersteller setzen dem New Yorker Konzern, der 2007 ein Forschungsbudget von 8,1 Milliarden Dollar hatte, gegenwärtig zu. Reuters

Pfizer Inc.: Fusion Pfizer Inc.: Kauf Wyeth Pharmaceuticals: Fusion Wyeth Pharmaceuticals: Verkauf SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aktuelles Lexikon

Tuareg

Die Sahara ist gar nicht so einsam, wie manche Touristen aus Europa denken. Es kann vorkommen, dass plötzlich ein Fremder vor dem Zelt liegt und Kamele ums Lager kreisen. Bei näherer Betrachtung stellt man dann fest: Der Fremde ist eigentlich der Hausherr und man hat sein Zelt mitten in den Weidegrund eines Targi-Nomaden gestellt. Die Sache geht in der Regel friedlich aus, ein paar gemeinsame Gläser Tee und schon ist man gut Freund, Gastfreundschaft zählt viel bei den Tuareg. Das Volk stammt von den Berbern ab und wurden einst von den Arabern aus der libyschen Provinz Fezzan vertrieben. Sie wichen mit ihren Kamelherden nach Westen und Süden aus. Eine Million Tuareg ziehen heute noch durch die Sahara und die Sahelzone. Sie leben vom Viehhandel und davon, dass sie für Händler Waren zum Markt transportieren. Immer mehr werden aber sesshaft, einige arbeiten als Touristenführer, Silberschmiede oder Musiker. Das Markenzeichen der Tuareg ist der Gesichtsschleier der Männer. An Feiertagen tragen sie Indigo-gefärbte Kleidung, weshalb sie als "blaues Volk" bezeichnet werden. Sie selbst nennen sich "Imuhag", die Freien. Unter den Tuareg gibt es allerdings auch militante Gruppen, besonders im Grenzgebiet von Mali und Niger, wo gerade europäische Touristen entführt wurden. Die Rebellen fordern mehr Selbstbestimmungsrechte für die Tuareg und Teilhabe am Rohstoffgeschäft. jth

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Verführerische Scheichs

Die europäische Golftour zieht prominente US-Spieler an - ein Zeichen, dass Amerikas Dominanz bröckelt

München - Mit einer blitzsauberen Runde von 68 Schlägen beendete Golfer Martin Kaymer am Sonntag das Turnier der europäischen Profi-Tour in Doha/Katar. Vier Birdies, kein Bogey, mit einer derart soliden Vorstellung über vier Tage hätte er auch in Doha um den Sieg mitspielen können. Vergangene Woche war Kaymer mit seinem zweiten Rang von Abu Dhabi auf Rang 19 der Weltrangliste geklettert, im Vergleich dazu wirkte nun der 31. Platz mit 282 Schlägen (71/72/71/68) fast unter Plan. Andererseits befand er sich in guter Gesellschaft auf diesem Rang im vorderen Mittelfeld, schlaggleich zum Beispiel mit dem südafrikanischen Superstar Ernie Els. Und schon nach zwei Runden, gescheitert am Cut, hatten sich ja die beiden vielbeachteten Gäste aus den USA verabschieden müssen, Brandt Snedeker und Boo Weekley. Und sie wurden auf ihren Heimflügen nach Florida respektive Nashville/Tennessee durchaus begleitet von ein wenig Häme aus der europäischen Szene.

Anthony Kim als Global Player

Brandt Snedeker, 28, wurde im Jahr 2007 als der Aufsteiger der US-Tour gefeiert und gilt als eines der größten amerikanischen Talente. Sein Landsmann Boo Weekley, 35, hat die Herzen seiner Landsleute erobert als bekennender Jäger, Fischer, Partygänger, der, bevor er vergangenes Jahr eine Karriere als Ryder-Cup-Sieger krönte, auch einige Jahre als Reinigungskraft in einer Chemiefabrik gearbeitet hatte. Die beiden Amerikaner haben sich durch Zahlung einer Gebühr von 2000 Pfund für die aktuelle Saison der European Tour angemeldet, und nicht nur sie, sondern auch der 23-jährige Anthony Kim, den sie in den USA schon als Nachfolger von Tiger Woods feiern. Kim, Weekley und Snedeker auf der europäischen Tour: Das bedeutet nun nicht, dass die Drei nicht mehr in den USA spielen; die heimische PGA-Tour ist weiterhin ihr Revier. Aber die Amerikaner versuchen jetzt, auch an die Preisgeldtöpfe zu kommen, die das neue Race to Dubai der Europa-Tour bietet.

Mit zehn Millionen Dollar, dem höchsten Preisgeld der Golfwelt, ist das in diesem Jahr erstmals im Programm stehende Saisonfinale der European Tour in Dubai dotiert, garniert mit weiteren zehn Millionen an Bonusgeldern. Startberechtigt sind die Top 60 der Saison, vorausgesetzt, sie haben zwölf Turniere der European Tour gespielt. Zu denen zählen die vier Major-Turniere und die drei Turniere der World Golf Championship (WGC), die allesamt in den USA gespielt werden. Von den restlichen fünf müssen zwei auf dem europäischen Festland gespielt werden, das ist wohl die höchste Hürde für die Amerikaner - abgesehen von der deutlich gestiegenen Qualität der Europa-Turniere. So nebenbei, das erfuhren Snedeker und Weekley in Katar, lassen sich die Millionen nicht abräumen.

In den USA wächst die Sorge, die Dominanz der heimischen Tour könne bald verloren gehen. Das Turnier in Doha etwa war deutlich stärker besetzt als die gleichzeitig ausgetragene, 50. Ausgabe der Bob Hope Classic in La Quinta/Kalifornien, es gab deshalb dort mehr Weltranglistenpunkte zu gewinnen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise wird demnächst auch die PGA Tour treffen, die ihre Preisgelder im Sog des Booms um Tiger Woods in bizarre Dimensionen aufblasen konnte. Jetzt fehlt der Tour die Strahlkraft von Tiger Woods. Der hat wegen seiner Knieoperation seit Sommer kein Turnier mehr bestritten, und ob er sein Comeback tatsächlich wie angekündigt im April beim US Masters feiern kann, weiß niemand. Ohnehin gilt sein Augenmerk weniger der US-Tour als vielmehr den Majors - und natürlich den Turnieren mit dem höchsten Preisgeld.

In jedem Fall rückt die Golfwelt dank der verführerischen Finanzkraft der Scheichs von Dubai und generell arabischer Investoren zusammen. Er wolle ein "Global Player" werden, so begründete Anthony Kim seinen Schritt Richtung Europa. Es sei schön, sich jetzt jede Woche mit den stärksten Spielern messen zu können, sagt der Schwede Henrik Stenson, Nummer elf der Welt, der auf beiden Touren beheimatet ist und damit bereits ein Global Player ist, wie viele andere Europäer. Am Sonntag scheiterte Stenson knapp im Kampf um den Sieg in Doha, als Zweiter nach 272 Schlägen gleichauf mit dem Südafrikaner Louis Oostenhuizen. Die Siegprämie von 314 000 Euro trug mit drei Schlägen Vorsprung der 26-jährige Spanier Alvaro Quiros davon. Quiros feierte damit im dritten Jahr auf der Tour seinen dritten Sieg, machte sich aber bislang vor allem einen Namen als Weitenjäger, im Golfjargon: Longhitter. 2007 und 2008 gewann er die Wertung der besten Abschläger. Ein weiterer spektakulärer Europäer also, der Ansprüche anmeldet auf die dicken Prämientöpfe.

Der europäische Treck zieht von Doha umgehend weiter zum Turnier der regulären Saison in Dubai, wo Martin Kaymer am kommenden Wochenende anknüpfen will an das vergangene Jahr, als er Rang zwei hinter Tiger Woods und vor Ernie Els belegte. Auf die Amerikaner werden Kaymer und Kollegen Ende Februar wieder treffen, beim ersten WGC-Turnier des Jahres in Arizona. Es geht dort um acht Millionen Dollar. Josef Kelnberger

Großer Pokal, große Prämie: Alvaro Quiros aus Spanien kassiert als Turniersieger in Doha 314 000 Euro. Foto: Reuters

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Moderne Wunderkammer

Das Foire des Antiquaires in Brüssel heißt jetzt Brafa und kann zur Vernissage gute Verkäufe vermelden

Belgien versteht sich aufs Paradoxe: Die traditionsreichste Antiquitätenmesse des Landes geht verjüngt in ihr 54. Jahr und hat sich einen neuen Namen zugelegt: Aus der angesehenen "Foire des Antiquaires de Belgique" ist "Brafa" geworden, die "Brussels Antiques & Fine Art Fair", die es geschafft hat, von einer nationalen Veranstaltung zum international wahrgenommenen Ereignis zu mutieren. In den lichten Industriehallen des ehemaligen Verladebahnhofs der Thurn & Taxis bleibt sie mit 130 Ausstellern angenehm überschaubar. Und dass mehr als die Hälfte aus dem Ausland anreist - überwiegend aus Frankreich, aber auch aus Deutschland, Holland, Italien oder Portugal und den USA, aus Ungarn und Russland - bestätigt ihr Renommee.

Brüssels Erfolg ist die geglückte Melange der Spezialisten und eine ungebrochen Freude an Objekten, die Geschichten erzählen. Die Messe belohnt auch eklektische Sammler mit außergewöhnlichen Stücken. Beispielsweise einem Sarkophagfragment, das die Ägyptologin Eberwein (Göttingen) zu ihren Prunkstücken zählt, oder die rare Altmeistertafel einer "Bauernkirmes" von David Vinckboons, die, worauf die Pariser Händlerin Voldère verweist, in den Dresdner Gemäldesammlungen ihr Pendant hat.

Barometer für die ganze Saison

Bester flämischer Sammlertradition entspricht die Auswahl asiatischer Werke und das ebenso exzellente Spektrum afrikanischer Skulpturen. Belgische Spezialisten wie Claes haben eine früh gesammelten Luba-Maske aus Zaire mit 45 000 Euro ausgezeichnet, während der Galerist Axel Verwoordt mit seinen Interieurs zweifellos als Vorreiter der Stil- und Epochenmixturen gilt. Heute pflegen auffallend viele Händler der Messe ein erfrischendes Crossover, wie die moderne Wunderkammer der Londoner Firma Finch & Co., in der Jahrtausende alte neolithischen Flintsteinen und osmanischen Löffeln des 19. Jahrhunderts in einen Dialog treten, barockes Elfenbein und ein bärtigen Männerkopf, den die Kelten aus hartem Stein schlugen (28 000 Euro).

Brüssel bietet ausgezeichnete Qualität, bleibt aber für Sammler erschwinglicher als die Tefaf in Maastricht. Das bedeutet für die Abteilung Malerei allerdings, dass die Händler mit kleinen Formaten anreisen: Die Neuaussteller aus Budapest und Moskau huldigen der heimischen Avantgarde mit Blättern aus den späten Zwanzigern von Laszlo Moholy-Nagy und Natalia Gontscharowa für 90 000 und 60 000 Euro und die New Yorker Galerie Sophie Scheidecker hat eine hervorragende Portraitzeichnung von James Ensor auf Lager.

Die Brüsseler Messe gilt als ausgezeichnetes Marktbarometer für die künftige Saison: Wer die bestens frequentierte Eröffnung erlebte, konnte von der Krise nichts entdecken. Den Optimismus der Händler, die eine Rückkehr zu den stabilen Werten Alter Kunst prophezeien, rechtfertigen die Verkäufe der ersten Stunde: Beim Modern Design des Brüsselers Vincent Colet griff ein belgischer Sammler bei einem Schreibset von Willi Guhl zu, ein mehrteiliges Ensemble holländischer Möbel im Stil des französischen 18. Jahrhunderts verkaufte der Niederländer Mischo van Kollenburg an einen mexikanischen Sammler. Und die erwarteten 40 000 Besucher sollten auch noch ein paar Wünsche mitbringen. DOROTHEA BAUMER

Bis 1.Februar. Geöffnet täglich von 11 bis 19 Uhr, donnerstags bis 22.30 Uhr. Eintritt 20 Euro, Katalog 10 Euro.

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Außenansicht

Die Geschäfte mit der Wahrheit

Warum der sogenannte Deal in Strafverfahren viele Fürsprecher hat - und doch sehr problematisch ist

Von Winfried Hassemer

Die Strafsache Hartz wurde von der Strafjustiz und einer professionellen Verteidigung still und schonend beigelegt: eine milde Strafe innerhalb kurzer Frist. In der Strafsache Zumwinkel liest man nun, dass der Richter sich bemüßigt fühlte zu erklären, es gebe zwischen den Prozessparteien keine irgendwie gearteten Vereinbarungen zu einer konkreten Strafhöhe. Beide Strafsachen haben die interessierte Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt. Dadurch wurde ihr ein Problem nahegebracht, das die Strafrechtler in Theorie und Praxis schon lange aufregt und das weit gespannt ist: von den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Strafprozessrechts bis hin zur konkreten Pragmatik vieler Strafverfahren. Böswillige nennen es "Mauschelei", Abwiegler nennen es "Absprachen", Rechtssoziologen nennen es "Handel mit Gerechtigkeit", und die meisten anderen nennen es "Deal". Alles zusammen genommen deutet an, wohin diese Reise geht: in einen abgekürzten Strafprozess, der sich nicht mehr mit einer langwierigen Suche nach der Wahrheit aufhält, sondern dem Beschuldigten das Angebot einer Straferleichterung macht, das der kaum ausschlagen kann. Geldstrafe anstelle von Freiheitsstrafe; Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung; kräftige Strafmilderung.

Das sieht doch gut aus: Erleichterungen für den Straftäter, Einsparungen für die Strafjustiz. Vor allem Praktiker weisen darauf hin, dass komplizierte Strafverfahren insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, Steuern, organisierte und gewerbsmäßige Kriminalität angesichts immer neuer Strafbestimmungen und der andauernd knappen Ressourcen der Justiz heute überhaupt nicht mehr abgewickelt und ordnungsgemäß zu einem Ende gebracht werden könnten. Daher wäre man verpflichtet, den Beweisanträgen der Verteidigung, wie es das Gesetz befiehlt, nachzugehen und eine umfassende Aufklärung zu betreiben. Es sei doch viel ver-nünftiger, auf die Zustimmung des Beschuldigten zu setzen; der wisse schließlich, was wirklich passiert ist, und wenn er mit einer bestimmten Strafe einverstanden sei, dann sei dieses Ergebnis doch durch einen allgemeinen Konsens gerechtfertigt. Im Übrigen gebe es funktionierende Prozessordnungen etwa im anglo-amerikanischen Rechtskreis, wo das Einverständnis des Beschuldigten mit einem bestimmten Urteil mit Recht viel gewichtiger sei als bei uns.

Alles nicht so ganz falsch im Ansatz, sagen die meisten Wissenschaftler (und einige Praktiker wie etwa die Generalbundesanwältin), aber in den Folgen für unser Strafverfahren und die von ihm Betroffenen verheerend: Bei uns sei eben der Richter nicht bloß ein Schiedsrichter über die streitenden Parteien wie in den USA, und das aus gutem Grund. Er müsse sein Urteil am Ende verantworten als wahr in den tatsächlichen Feststellungen und als gerecht im strafenden Ergebnis. Seine Überzeugung von Täterschaft und Schuld stütze sich auf den "Inbegriff der Verhandlung", wie es so schön in der Strafprozessordnung heißt, und diese Verhandlung müssten alle vom Anfang bis zum Ende miteinander durchmachen. Es sei gerade die menschenfreundliche und lebensnahe Pointe unseres Prozessmodells, dass Verurteilung und Bestrafung eines Menschen nicht auf dessen Einverständnis bauten, sondern auf Wahrheit und Gerechtigkeit; Wahrheit und Gerechtigkeit aber ließen sich nicht aushandeln, sondern nur suchen und finden. Unser strafrechtliches Verfassungsrecht sehe in einem Beschuldigten keinen autonom agierenden Verhandlungspartner, sondern einen Menschen, der unter Zwang stehe, der angesichts der scharfen Instrumente der Strafjustiz belehrt, beraten und verteidigt werden müsse. Damit vertrage sich ein Deal nicht.

Überdies gelte bei uns von Verfassung wegen das Schuldprinzip, und das verbiete jedenfalls eine Verurteilung ohne eine feste und stabil gewachsene Überzeugung des Strafgerichts von der Schuld des Verurteilten. Dass er sich für schuldig bekenne, könne viele falsche und dem Gericht verborgene Gründe haben - beispielsweise die, dass er das belastende Verfahren nicht mehr ertrage oder dass sein Arbeitgeber ihm bedeutet habe, nun sei aber langsam Schluss mit den Presseberichten über den Strafprozess mit Namen und Fotos. Auch das für einen Rechtsstaat grundlegende Prinzip der Öffentlichkeit leide unter dem Deal, der auf dem Flur, im Hotel oder im Dienstzimmer ausgehandelt werde und von dem nur Partikel in die Hauptverhandlung gelangten.

Wer hat recht? Das hängt am Ende davon ab, wie man im Spannungsverhältnis von der Effizienz staatlichen Handelns und der Freiheit der Betroffenen, zwischen praktischen Zwängen und rechtlichen Garantien votiert. Dieses Votum ordnet sich ein in fundamentalere Optionen, die sich heute vor uns auftun und unter denen das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit die prominenteste ist. Ein paar Haltepunkte aber gibt es, wenn man sich eine Meinung bilden will.

Der Deal hat nicht erst seit heute eine gewaltige Schubkraft. Die hat er von der Orientierung unserer Gesellschaft auf Sicherheit und Risikobeherrschung, auf Ausweitung des Strafrechts und sonstiger kontrollierender Eingriffe des Staates - eine Orientierung, welche die Politik der inneren Sicherheit seit Jahrzehnten bestimmt. Den meisten unter uns leuchtet nicht mehr ein, dass jemand das Recht zu schweigen haben soll, wenn er nichts zu verbergen hat, dass man die Daten aus der Überwachung des Straßenverkehrs zur Mautberechnung nicht auch zur Strafverfolgung nutzen sollte, dass die Justiz an ein Beweisantragsrecht gebunden sein sollte, mit dessen Hilfe ein Strafverteidiger sie bisweilen an der Nase herumführen kann. Auch halte ich für unbestreitbar, dass viele Strafprozesse - und zwar gerade gegen solche Beschuldigte, die man nach unserem schönen Sprichwort laufen lässt, während man die anderen hängt - ohne die Praxis des Deals nicht stattfinden würden. Hier also marschieren die stärkeren Bataillone.

Die sind aber nur quantitativ stärker (obwohl sie praktisch verhindern werden, dass der Gesetzgeber es schafft, den Deal wieder vollständig zu entfernen). Mich überzeugen nicht nur die Argumente, die ich gerade gegen den Deal vorgebracht habe. Mir macht überdies Angst, was ich aus der Praxis höre: dass es mittlerweile Strafverteidiger gibt, die mit ihren Mauschel-Fähigkeiten werben, oder Strafrichter, die dem nicht verhandlungsbereiten Angeklagten mit sieben Jahren Freiheitsstrafe drohen und ihn mit zwei Jahren Bewährungsstrafe locken. Das sind Schritte in eine andere Welt - und zwar nicht in eine gute.

Der Strafrechtswissenschaftler Winfried Hassemer war von 2002 bis 2008 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. In den neunziger Jahren war er auch als Datenschützer tätig. Foto: dpa

Hassemer, Winfried: Gastbeiträge Strafprozeßrecht in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Pierer: "Mich trifft keine Schuld"

Der frühere Vorstandschef weist die Vorwürfe im Korruptionsskandal vor der Hauptversammlung von Siemens zurück

Von Klaus Ott

München - Heinrich von Pierer, 68, hat lange geschwiegen. Mit keinem Wort äußerte sich der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Siemens AG in den Medien bislang zu den Vorwürfen, die sein ehemaliger Arbeitgeber im Korruptionsskandal gegen ihn erhebt. Jetzt aber, kurz vor der Hauptversammlung an diesem Dienstag in München, erklärt sich Pierer in einer schriftlichen Stellungnahme für die Süddeutsche Zeitung erstmals öffentlich - zu einer bei Siemens als "streng vertraulich" gekennzeichneten Akte.

Über seinen Anwalt Winfried Seibert aus Köln äußerte der frühere Konzernchef, er habe während seiner Amtszeit im Unternehmen "unmissverständlich klargestellt, dass etwaige Missstände abgestellt werden müssen". Er habe nicht gesagt, "Vertrauen sei besser als Kontrolle", wie ihm das nun von Siemens unterstellt wird. Vielmehr habe er die Voraussetzungen für eine strengere Aufsicht im Unternehmen über die dort getätigten Geschäfte geschaffen. Ihn treffe keine Schuld am Korruptionsskandal, der den Industriekonzern bislang gut zwei Milliarden Euro an Geldbußen und anderen Ausgaben gekostet hat.

Nicht "über die Medien"

Siemens verlangt sechs Millionen Euro Schadenersatz von Pierer. Der Kernvorwurf: Der ehemalige Vorstandschef und weitere Top-Manager sollen nicht streng genug kontrolliert haben, was im Unternehmen vor sich ging, und so das weltweite Schmiergeldsystem möglich gemacht haben. Auch von Vertuschung ist die Rede.

Pierers Stellungnahme ist eineinhalb Seiten lang. Bislang hatte er immer nur pauschal erklärt, er weise alle Anschuldigungen "mit Nachdruck" zurück; jetzt wird er konkret. Pierer betont, er habe nicht vor, die Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Arbeitgeber "über die Medien" zu führen. Adressat seiner Einlassungen seien die "zuständigen Gremien der Siemens AG". Er wolle sich zu Details nicht äußern, was er dann aber an einigen Stellen doch macht. Allerdings erst, nachdem ihn die SZ zu solchen Details aus der internen Siemens-Akte über die Ex-Vorstände befragt hat.

Einer der Hauptvorwürfe von Siemens gegen Pierer lautet, dieser habe Ende 2003 einen Reformvorschlag für ein besseres Compliance-System abgelehnt. Compliance steht für interne Kontrollen, mit denen Unternehmen Gesetzesverstöße wie etwa Schmiergeldzahlungen verhindern beziehungsweise selbst aufklären wollen. Der Reformvorschlag von Ende 2003 stammte laut Siemens-Akte vom damaligen Justitiar Albrecht Schäfer. Er sagte der Akte zufolge aus, Pierer habe vor allem das Ansinnen verworfen, die Compliance-Funktion in einer Zentralstelle zusammenzufassen. Pierer habe bei einem Vier-Augen-Gespräch mit ihm, Schäfer, die damit verbundene "Außenwirkung" abgelehnt und solche Maßnahmen als unnötig dargestellt. Der damalige Vorstandschef sei für eine "diskrete" Arbeit der Compliance-Abteilung gewesen und habe gesagt, "Unruhe im Unternehmen" müsse verhindert werden. Vertrauen sei besser als Kontrolle, soll Pierer Schäfers Aussage zufolge seinerzeit geäußert haben. Pierer teilte dazu mit, das entspreche "nicht den Tatsachen". Eine derartige Äußerung von ihm habe es in diesem Zusammenhang nicht gegeben.

Im Gegenteil: Zu Beginn des Geschäftsjahres 2004/2005 sei das Compliance-System neu geordnet worden. "Dabei wurde eine gestärkte zentrale Compliance-Kompetenz geschaffen." Die Compliance-Beauftragten der einzelnen Konzernsparten und Regionalgesellschaften seien damals dem Compliance-Chef bei Siemens - zu dieser Zeit Albrecht Schäfer - fachlich zugeordnet worden. Das seien über 800 Mitarbeiter gewesen, "die weltweit auf dem Compliance-Gebiet für Siemens tätig waren".

Pierer weist auch die Anschuldigung zurück, er habe nach einem ihm Mitte 2003 bekannt gewordenen Schmiergeldverdacht in Italien keine interne Untersuchung des Vorgangs veranlasst und es zudem unterlassen, den Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats zu informieren. Der Ausschuss soll Gesetzesverstöße verhindern beziehungsweise abstellen. Pierer entgegnet, der Vorgang in Italien sei mehrmals mit einem bei Siemens tätigen Wirtschaftsprüfer erörtert und auch mehrmals dem Prüfungsausschuss vorgetragen worden. Beim nächsten Vorwurf gegen Pierer geht es um einen weiteren Korruptionsfall in Italien, der dem damaligen Zentralvorstand von Siemens bekannt geworden war. Ein Großauftrag für die Lieferung von Gasturbinen an den Staatskonzern Enel war mit Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe erkauft worden. Zwei Siemens-Mitarbeiter wurden in Italien wegen Bestechung verurteilt. Die beiden Beschäftigten seien aber nicht entlassen, sondern lediglich freigestellt worden und hätten hohe Abfindungszahlungen erhalten, steht in der Siemens-Akte über Pierer. Die beiden Angestellten hätten jeweils 150 000 Euro für "Sonderaufgaben" erhalten.

Schonende Behandlung

Pierer sei Ende April 2004 in einer Notiz über die "schonende Behandlung" der beiden unterrichtet worden. Der seinerzeitige Aufsichtsratschef Karl-Hermann Baumann hat laut Aktenlage bei Siemens inzwischen ausgesagt, die von ihm und Albrecht Schäfer geforderte Entlassung der beiden Mitarbeiter sei "am Widerstand von Pierer" und einem weiteren damaligen Vorstand gescheitert.

Auch dieser Vorwurf sei falsch, erklärte Pierer. Aufsichtsratschef Baumann und der Vorstand seien damals "in etwa zeitgleich" über diese Vorgänge informiert worden. An den mit den beiden Mitarbeitern getroffenen Vereinbarungen sei "zu diesem Zeitpunkt nichts mehr zu verändern" gewesen. Der ehemalige Vorstandschef schreibt weiter, gegenüber Siemens sei er "allen Vorwürfen ausführlich entgegengetreten", die das Unternehmen gegen ihn erhebe. Der von Siemens bislang ermittelte Sachverhalt sei "an vielen relevanten Stellen nicht zutreffend".

Das waren noch schöne Zeiten: Heinrich von Pierer (Mitte) im März 2001 beim Börsengang in New York mit dem damaligen Siemens-Aufsichtsratschef Karl-Hermann Baumann (re.) und Börsenchef Richard Grasso. Foto: AP

Pierer, Heinrich von: Rechtliches Pierer, Heinrich von: Zitate Siemens AG: Vorstand Bestechungsaffären bei Siemens 2006 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Karikatur

Von wegen Abschiebung . . . SZ-Zeichnung: Schopf

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Karikatur

SZ-Zeichnung: Schopf

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Die Krise der Chip-Industrie

Noch vor kurzem sah es so aus, als könnte die Chip-Branche eine zweite industrielle Revolution auslösen. Besonders Deutschland glaubte, von einem stetig wachsenden Markt profitieren zu können. Heute aber haben fast alle großen Chip-Hersteller ernsthafte finanzielle Probleme. Denn nicht nur das jetzt insolvente Unternehmen Qimonda leidet unter dem Preisverfall bei Speicherchips für Handys und Computer.

Ungeschützt im Schutzanzug: Angestellte der Chip-Industrie - hier im Reinraum eines Dresdner Gemeinschaftsprojekts, an dem Qimonda beteiligt ist. momentphoto

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Jetzt stellt sich die Geldfrage

Eine Tagung in Basel über Kunstmarkt und Bildwissenschaft

In krisengeschüttelten Zeiten fragen sich viele Kunstsammler: Wie kann es sein, dass ein und dasselbe Werk vor wenigen Monaten noch einen so viel höheren Preis erzielt hätte als heute? Schließlich ist es exakt diesselbe Arbeit wie zuvor. Die Logik des Marktes mag die Preise für viele Kunstwerke zurückgestuft haben, aber sind diese deshalb auch weniger wert? Vieles spricht für eine deutliche Trennlinie zwischen der Logik des Marktes und bildimmanenten Fragen. Die Bildwissenschaft interessierte sich für den Kunstmarkt denn auch lange Zeit nur dort, wo er von der Kunst selbst thematisiert wurde. Das wachsende Spannungsverhältnis zwischen Kunstwissenschaft und Kunstmarkt, neue künstlerische Strategien und die interdisziplinäre Öffnung der Bildwissenschaft in den vergangenen Jahren lassen diese Trennlinie aber fraglich erscheinen.

Dass der Ruf nach einem Paradigmenwechsel längst auf fruchtbaren Boden gefallen ist, hat eine Tagung am Institut Eikones in Basel nun zu zeigen versucht. Unter dem Titel "Bild, Ökonomie. Der wirtschaftliche Blick" luden die Organisatorinnen Sylwia Chomentowska und Francesca Falk ein. Die Zusammenführung der Beiträge gestaltete sich schwierig. Dies lag vor allem daran, dass unter den Schlagworten Bild und Ökonomie unterschiedliche methodische Ansätze gefasst werden können, wie Nicolaj van der Meulen von der Basler Hochschule für Gestaltung und Kunst zu bedenken gab. Einmal kommt dem Bild in der Ökonomie selbst ein wachsender Stellenwert zu. Angesichts sich ins Virtuelle verflüchtigender Prozesse auf den internationalen Märkten steigt die Nachfrage nach Illustration eben dieser Vorgänge; die Sichtbarkeit wirtschaftlicher Prozesse wird zunehmend zu einem Thema für die Bildwissenschaft. Auch bleibt die für die Kunstgeschichte seit jeher wichtige Frage nach der Ökonomie im Bild wichtig. Die Börsen-Fotografien von Andreas Gursky sind dafür ein sprechendes zeitgenössisches Beispiel.

Wer lernt von wem?

Martina Dobbe von der Universität der Künste Berlin eröffnete den Reigen disparater, aber ausnahmslos interessanter Beiträge mit einer Betrachtung über das Serielle in Pop Art und Minimal Art. Christian Spies von der Universität Basel ging der Frage nach der Ökonomie filmischer Bilder nach. Holger Kuhn, der an der Ruhr Universität Bochum promoviert, legte dar, wie die junge Fotografie im 19. Jahrhundert Vergleiche zum monetären System beflügelte: Beide zeichnen sich durch einen bestimmten Abstraktionsgrad aus. Kathrin Busch, ebenfalls von der Universität der Künste Berlin, wagte sich an eine Adaption von Jacques Derridas Theorie der Gabe für die Kunstwissenschaft, was in der Diskussion nicht unumstritten blieb.

Der abschliessende Roundtable, moderiert von Emmanuel Alloa aus Basel, brachte divergierende Standpunkte zusammen: Es sprachen Michael Hutter vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, der Kunsthistoriker Philip Ursprung von der Universität Zürich, der Kulturwissenschaftler Olav Velthuis und der Philosoph Ludger Schwarte. Die spannende Diskussion machte nochmals deutlich, dass das Denken über eine Ökonomie der Bilder nicht mit der Frage gleichgesetzt werden kann, wie Bilder auf dem Kunstmarkt ihre Preise erzielen.

Und doch steht das, was man unter dem Begriff des Schauwertes vielleicht am schlüssigsten bezeichnen kann, in einer noch näher zu bestimmenden Beziehung zur Logik des Marktes. Auch wenn die Kulturwissenschaften sich weiterhin gern von allen marktwirtschaftlichen Überlegungen absetzen, scheint der Forschungsbedarf erkannt zu sein. Die Wirtschaft lernt auch von der Kunst. Ein Seitenblick in die umgekehrte Richtung ist gerade in schwierigen Zeiten angebracht. RETO THÜRING

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Auch in ungeheuren Fällen

Klaus Gerrit Friese vom Bundesverband der Galerien glaubt, dass die Krise künstlerische Neuerungen hervortreibt

Dass die Finanzkrise Auswirkungen auf den Kunstmarkt hat, wurde während der Auktionen im Herbst sichtbar. Dennoch geben die wenigsten Galeristen zu, dass sie unter Umsatz-Einbußen leiden: Vor allem die Händler zeitgenössischer Kunst, die in den vergangenen Jahren zu hohen Preisen gehandelt wurde, fürchten, dass die gerade erst etablierte Ware an Wert verliert. Dass weniger verdient wird, räumt Klaus Gerrit Friese, der Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Galerien und Editionen (BVDG) ein. Doch sieht der Stuttgarter Galerist in der Krise die Chance, Sammler, denen der Rummel der Messen und Auktionen fremd war, wieder für das Geschehen in den Galerien zu gewinnen.

SZ: Was hat sich verändert seit dem vergangenen September?

Klaus-Gerrit Friese: Es wird wieder möglich, darüber nachzudenken, dass Galerie-Arbeit auch anders aussehen kann, dass es nicht allein darum geht, Kunst teuer zu verkaufen, sondern als solche zu vermitteln. Die Museen sind auch von der Krise betroffen - es kommt wieder auf Konstellationen an, in denen man eine Wirkung erzielen kann, die nicht unmittelbar das Kapital betrifft.

SZ: Gibt es denn den Sammler, der weniger kauft, aber ernsthafter?

Friese: Es ist wieder notwendig, eine künstlerische Existenz aus sich heraus zu rechtfertigen. Die künstlerische Vita muss durch Ausstellungen abgesichert sein. Die Szene, die Werte durch eingepreiste Phantasie generierte, ist abgeschrieben. Aber wer jetzt Dinge macht, die ungewohnt und riskant sind, kann Überraschungen erzielen - in den vergangenen Jahren waren oft nur die Preise die Überraschung. Viele Akteure des Kunstmarktes sind in ihrer Existenz bedroht. Gleichzeitig scheint, "alles seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiel steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre" - so hat Goethe das formuliert. Aber die Frage kann ja nicht sein, wen es erwischt. Gerade wer mit junger Kunst handelt, hat wenig Instrumente, um den Wert den Sammlern gegenüber zu begründen. Sicher sehe auch ich ein Bild schräg an, das viel Geld gekostet hat und dessen Preis sich verzehntelt hat. Die Enttäuschung über nicht realisierte Ansprüche junger Kunst muss erst einmal überwunden werden - so werden wir es zwangsläufig mit günstigeren Preisen zu tun haben.

SZ: Kommen denn überhaupt noch Sammler, die man ansprechen kann?

Friese: Wer als Galerist Arbeiten hat, die sich nicht nur auf Preis-Spekulationen begründen, bleibt interessant. Wer an zehn Kunstmessen im Jahr teilnahm, kann in seinem Umfeld an nichts anknüpfen. So haben natürlich nur wenige Kollegen gearbeitet; das hat jedoch einen Gutteil unserer Außenwahrnehmung bestimmt.

SZ: Kann ein Galerist eine Durststrecke von ein, zwei Jahren verkraften?

Friese: Der Boom hat verdeckt, dass viele Galerien unterkapitalisiert arbeiten. Es gibt keine Finanzdecke, die einem erlaubt, ein Jahr durchzuhalten, das schlecht läuft. Galerien sind auf unmittelbaren Verkauf angewiesen. Natürlich können in Berlin 500 Galerien nicht auf Dauer bestehen. Man wird Mitarbeiter entlassen, den Mietzins aussetzen, Schulden anhäufen. Dass der Kunstmarkt sich gesundschrumpft, ist Unfug, dieser Reinigungsgedanke - sobald es wieder besser wird, entstehen neue Galerien, die dasselbe Abenteuer noch einmal wagen. In den zurückliegenden drei, vier Jahren hat sich in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein von Kunst entwickelt, das nicht verschwinden wird, nur weil das Geld weniger geworden ist. Ich glaube, wenn man darauf setzt, hat man eine gute Chance.

Interview: Catrin Lorch

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RADAR

Toulouse-Lautrec gefälscht

Der Kunstauktionator Reinhard Blank hatte Anfang 2007 eine angeblich auf den französischen Plakatkünstler Henri de Toulouse-Lautrec zurückgehende Kreidezeichnung in seinen Auktionskatalog aufgenommen; erworben hatte er diese aus dem Nachlass eines Restaurators. Wenige Monate nachdem Blank das Werk zur Versteigerung aufgerufen hatte, wurde die Echtheit von einem Galeristen aus Hannover angezweifelt. Es kam zu einer Beschlagnahmung durch die Staatsanwaltschaft. Ein Gutachten über das mysteriöse Werk wurde letztendlich aus Frankreich, vom Comité Toulouse-Lautrec angefordert, die Sachverständigen sollten das Werk anhand von Fotos zuordnen. Da das Portrait ein Monogramm des Künstlers trägt, wurde Blank vor dem Frankfurter Amtsgericht am Mittwoch nicht nur des Betruges, sondern auch der Dokumentenfälschung bezichtigt. Gegen eine Geldstrafe von 1000 Euro, die der Auktionator an den Städelschen Museumsverein zahlen soll, wurde der Prozess eingestellt und das Werk ging zurück an die Witwe des Restaurators. irup

Bronzen aus der Sammlung von Yves Saint-Laurent sollen zurück nach China - diese Forderung wurde in Peking laut, nachdem Christie's die Versteigerung der Sammlung des Modeschöpfers und seines Lebensgefährten Pierre Bergé für den 23. bis 25. Februar ankündigte. In Paris werden dann unter anderem zwei wertvolle Tierbronzebüsten, eine Ratte und ein Kaninchen aufgerufen, die den Tierkreiszeichen-Brunnen im Sommerpalast des Kaisers Qianlong (1736-1795) schmückten; entworfen hat sie Giuseppe Castiglione, ein Jesuitenpater. Die Bronzen gehören zu den Plünderungsobjekten, die im Jahr 1860 während der Belagerung durch englische und französische Truppen entwendet wurden. Da das Auktionshaus bis jetzt von der chinesischen Regierung noch keine konkrete Rückforderung erhalten hat- der Hinweis wurde von chinesische Rechtsanwälten angeregt - und die Herkunft der Skulpturen sicher nachvollziehbar und mit Garantien belegt ist, wird das Auktionshaus die Tierköpfe wohl nicht zurückziehen müssen. irup

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Tanz der Tempelnymphen

Umfangreich wie immer: Die Auktionen der Alten Meister bei Sotheby's und Christie's in New York mit Turner und Constable

Ende Januar sind in New York die Sammler Alter Meister wieder unter sich: Präsentationen in den 20 Galerien der "Master Drawings New York" locken in diesen Tagen ebenso wie die abschließenden Auktions-Gefechte bei Christie's und Sotheby's um Handzeichnungen, Gemälde und europäisches Kunsthandwerk. Das Angebot ist in diesem Bereich - der Finanzkrise zum Trotz - so umfangreich wie gewohnt.

Star der Auktionswoche ist William Turner - in beiden Häusern. Gleich drei seiner begehrten Landschaftsaquarell finden sich unter den 97 Posten bei Christie's am 28. Januar, darunter als Hauptwerk das Schweiz-Motiv "Brünig Pass, von Meiringen aus" (1847-48), dem Erwartungen von 1,5 bis 2,5 Millionen Dollar gelten. Wie die Ölskizze "View of Salisbury" des Zeitgenossen John Constable (die auf 500 000 Dollar taxiert wurde) stammen die Arbeiten aus der amerikanischen Sammlung Wood Prince. Höhepunkte der italienischen Malerei werden mit einer furiosen Kopfstudie Johannes des Evangelisten von Federico Barocci und dem prachtvoll inszenierten "Tod der Kleopatra" von Sebastiano Ricci aufgerufen (Taxpreise: 400 000 beziehungsweise 500 000 Dollar).

Eine Soldatenlager-Szene, "Escorte d'equipe" von Antoine Watteau, soll 800 000 Dollar erzielen, ein beeindruckend schlichtes Küchenstillleben von Chardin 1,2 Millionen Dollar. Ungehobene Schätze warten zudem im Nachlass des 1934 in die USA emigrierten deutschstämmigen Kunsthistorikers und Sammlers Julius Held: Unter anderem bedeutende Handzeichnungen und eine"Allegorie der Torheit" von Quentin Massys.

Die griechische Ideallandschaft "Temple of Jupiter Panellenius Restored", ein Hauptwerk von William Turner aus dem Besitz des New Yorker Kunsthändlers Richard Feigen wird am 29. Januar bei Sotheby's aufgerufen. Das 116 mal 177 Zentimenter große Ölgemälde, das 1816 erstmals in der Royal Academy ausgestellt wurde und über das John Ruskin schrieb, war zuletzt in der Retrospektive in den Museen von Washington, Dallas und New York zu sehen (Schätzpreis: 12 bis 16 Millionen Dollar).

Neben einem Spätwerk Tizians sorgen vor allem die Niederländer für Glanz in der Offerte. Zwei Frans-Hals-Porträts eines anonymen Paares, der Mann etwas teurer als die Frau (8 und 7 Millionen Dollar), ein Blumenstillleben von Ambrosius Bosschaert mit königlicher Herkunft, (4 bis 6 Millionen Dollar) und nicht zuletzt das an die Erben von Herbert von Klemperer restituierte Gemälde "Dudelsackspieler" (4 bis 6 Millionen) von Hendrick Ter Brugghen aus dem Wallraf-Richartz-Museum in Köln. DOROTHEA BAUMER

Soll 12 bis 16 Millionen Dollar erzielen: William Turners "Temple of Jupiter Panellenius Restored" (1816) Sotheby's

Sotheby's New York Christie's New York SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nomaden in der Wüste

Mit Milliarden hat Deutschland eine eigene Chip-Produktion aufgebaut, doch nach der Qimonda-Pleite droht das Aus

Von Markus Balser

Gerade mal zwei Monate ist es her, da lud Qimonda junge Menschen zur "Nacht der Ausbildung" in die Dresden Chip Academy - ein modernes Hightech-Ausbildungszentrum in Sachsen. Vier Stunden machten Politiker und Manager damals Jugendlichen zahlreiche Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten schmackhaft. Nach Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) trat Wolfgang Schmid ans Pult. Der Geschäftsführer von Qimonda in Dresden lobte den wichtigsten deutschen Branchenstandort über den grünen Klee und tönte: "Spitzencluster brauchen Spitzenleute".

Nicht erst seit diesem Freitag ist klar: Die Veranstaltung war eine Farce. Denn die Zukunftsaussichten der Branche in Deutschland sind finster; monatelang kämpfte der deutsche Qimonda-Konzern vergeblich ums Überleben. Am Freitag meldete das Unternehmen mit wichtigen Standorten in Dresden und München Insolvenz an - eine der größten Pleiten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und eine der folgenschwersten dazu. Denn mit Qimonda droht eines der ehrgeizigsten Modellprojekte deutscher Industriepolitik zu scheitern.

"Die Pleite könnte der Anfang vom Ende der Chipindustrie in Deutschland sein", warnte am Freitag ein Mitglied der Infineon-Konzernspitze. Denn auch die Qimonda-Mutter Infineon, letzter deutscher Branchenvertreter von Weltrang, strauchelt nach Milliardenverlusten. Und für die vielen Zulieferer hat das Qimonda-Aus verheerende Folgen.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Vor fast genau 25 Jahren fiel in der Siemens-Zentrale in München eine weitreichende Entscheidung. Am 6. Februar 1984 beschloss der Vorstand, zusammen mit europäischen Partnern und mit Hilfe gewaltiger Staatssubventionen in die kleinen elektronischen Alleskönner zu investieren. Weil Deutschland es versäumt hatte, eigene Kompetenzen aufzubauen, folgte eine teure Aufholjagd. Sie sollte verhindern, dass sich die Industrie in die riskante Abhängigkeit von amerikanischen und asiatischen Hersteller begeben musste. Anfangserfolge schienen die gewaltigen Anstrengungen zu rechtfertigen. Zwei Milliarden Euro hat der Staat seit den neunziger Jahren an Fördermitteln ausgeschüttet. Allein in Dresden, schon zu DDR-Zeiten Sitz des VEB-Forschungszentrums Mikroelektronik, entstanden nach der Wende 44000 Jobs im "Silicon Saxony". Doch nicht nur Deutschland lockte. Hohe Gewinnaussichten ließen weltweit die Investitionen in neue Chipwerke nach oben schnellen - ein globaler Wettlauf um Fabriken begann, von dem sich die Branche bis heute nicht erholt hat.

Als das Siemens-Geschäft 1998 ein erstes Milliardenloch in die Konzernbilanz riss, verlor Ex-Chef Heinrich von Pierer die Geduld und gliederte den Bereich unter dem Kunstnamen Infineon aus. Doch auch die Nachfolger wurden mit der Altlast nicht glücklich. Die Zellteilung ging weiter. Nach hohen Verlusten brachte Infineon die angeschlagene Tochter Qimonda vor zwei Jahren an die New Yorker Börse. Gedacht als Befreiungsschlag, entpuppte sich der Schritt als Fehler. Auf sich allein gestellt konnte die Tochter die schlechten Zahlen nicht schultern.

Die Finanzkrise habe zuletzt wie ein Brandbeschleuniger auf die hiesige Branche gewirkt, klagt ein hochrangiger Infineon-Manager. Seit Banken kaum noch Geld in die kapitalintensive Branche stecken wollten, liegen die Nerven blank. Als sich Mitglieder der Konzernspitze von Infineon Ende Oktober zum informellen Krisengipfel in der futuristischen Konzernzentrale Campeon in München trafen, wurde es ziemlich schnell laut, erinnern sich Teilnehmer. Der Existenzkampf der Tochter sei schon damals absehbar gewesen, heißt es. Die Spitzenfunktionäre schickten Aufsichtsratschef Max Dietrich Kley und Vorstandschef Peter Bauer zum Bittgang nach Berlin.

In der Vergangenheit konnten die Chipfabrikanten stets auf das Interesse der Politik zählen. Die Akquise von öffentlichen Fördermillionen gehörte in der Branche zum Alltag. Doch am Donnerstag zog die Politik die Reißleine: Zu groß sei die Sorge vor einem Fass ohne Boden gewesen. Mit dem Bekanntwerden eines neuen Millionenlochs endete die Hilfsbereitschaft.

"Nun wird die Karawane weiterziehen", warnt Infineon-Aufsichtsrat Wigand Cramer. Höhere Subventionen lockten die Branche aus Deutschland weg - und hinüber in Subventionsoasen in denUSA und Asien. Während die EU Zuschüsse bei neuen Fabriken auf 27 Prozent beschränkt, geben Staaten in Fernost bis zu 100 Prozent. "Die Chipfabriken der nächsten Generation entstehen anderswo", sagt Cramer. Dabei habe sich die Situation nicht grundlegend verändert: "Deutschland hat die Wahl: finanziell noch mal nachlegen oder endg ltig in der Abhängigkeit landen."

Infineon Technologies AG Qimonda AG: Konkurs Halbleiter-Fertigung in Deutschland Halbleiter-Fertigung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Abos für 18-Jährige

Nicolas Sarkozy schenkt jungen Franzosen ein Jahr lang Zeitungen

Wer in Frankreich 18 Jahre alt wird, soll fortan ein Jahr lang gratis eine Tageszeitung seiner Wahl bestellen dürfen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy sagte am Freitag, er wolle dieses Gratisabonnement für Volljährige probeweise einführen, als eine von mehreren Maßnahmen im Kampf gegen die Pressekrise im Land, und zwar schon von Februar an. Bezahlen sollen das Frei-Abo die Verlage, die wiederum, falls sie zur Informationspresse (und nicht zur Unterhaltungspresse) zählen, vom Staat subventioniert werden. Die Vertriebskosten will die Regierung übernehmen. Entsprechend sollen die staatlichen Zuschüsse für die Auslieferung von Zeitungen und Magazinen von acht auf 70 Millionen Euro steigen.

Sarkozy hofft, so nebenbei 18 000 neue Stellen für Zeitungsausträger schaffen zu können. Mit dem Gratisabo für 18-Jährige griff er einen von 90 Vorschlägen auf, die Medienvertreter Anfang Januar in einem "Grünbuch" zur Überwindung der Krise aufgelistet hatten. "Die Gewohnheit, Zeitung zu lesen, nimmt man im jungen Alter an", sagte Sarkozy. Das habe ihn dazu bewogen, den Vorschlag aufzugreifen, wenngleich er gezögert habe. Denn die meisten Jugendlichen nutzten eher das Internet als die Zeitung, um sich zu informieren. Wenn sie das Angebot nicht annehmen, stelle er das Gratisabo wieder ein.

Sarkozy fügte hinzu, er wünsche sich in Verbindung mit dieser Maßnahme, dass die Zeitungen gleichzeitig ihr Internetangebot verbesserten und insgesamt interessanteren Lesestoff für Jugendliche böten. "Die Zeitungen müssen junge Leser am Ende nicht wegen der Subventionen gewinnen, sondern aufgrund der Qualität ihrer Berichterstattung."

Die Zeitungskrise, die noch von einer Finanzkrise überlagert werde, rechtfertigten die Staatszuschüsse, die auch in Form von Anzeigen, Steuernachlässen und Investitionen in Druckereien fließen, sagte Sarkozy. Fast alle Journalisten, Gewerkschafter und Verleger begrüßten die Staatsintervention in einer ersten Reaktion. MICHAEL KLÄSGEN

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MALEV

Russische Bank übernimmt

Budapest - Die staatliche russische Bank Wnescheconombank (VEB) übernimmt die angeschlagene ungarische Luftfahrtgesellschaft Malev. Das Geschäft solle binnen Tagen abgewickelt werden, teilte Russlands stellvertretender Ministerpräsident Viktor Subkow in Budapest mit. Vorgesehen sei eine strategische Partnerschaft mit der russischen Aeroflot. VEB ist einer der größten Gläubiger von Malev. Die Entscheidung sei wegen der schlechten Lage von Malev und der globalen Wirtschaftskrise beschleunigt worden, sagte Subkow. Ungarns Finanzminister Janos Veres nannte den Verkauf an VEB notwendig, weil der russische Geschäftsmann Boris Abramowitsch als Haupteigner von Malev die bei der Privatisierung vereinbarten Bedingungen nicht erfüllt habe. Reuters

Die ungarische Malev ist schwer angeschlagen. Foto: Caro

Malév Vneshekonom Bank VEB SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Soundtrack des Lebens

Auch in der siebten Staffel hält die rasante Serie "24" ihr hohes Niveau und ist erfolgreich, weil sie den digitalen Lifestyle der Zeit ästhetisiert

Wie man die Zeit darstellt, zeigt, ob man auch in sie passt. Das Heute-Journal zum Beispiel mit dem gemütlichen Zifferblatt steht für eine Fernsehkultur, in der Sendungen wie eine Schulstunde um "viertel vor" und zur vollen Stunde beginnen. Die Thriller-Serie 24 hingegen hat die Zeitnot der Gegenwart zum Prinzip erhoben: Immer wieder taucht eine Digitaluhr auf dem Bildschirm auf. Jede der 24 Folgen einer Staffel stellt eine Stunde eines Tages dar, die rot glühenden Ziffern rasen in Echtzeit dahin, die Dynamik der Digitaluhr allein scheint die Handlung voran zu treiben. Da ist auch kein Ticken, sondern ein piepender, pochender Ton, als sei die Technologie bis ins Lebendige vorgedrungen.

Das Format der deutschen Fernsehnachrichten stammt aus der stabilen Zeit des Wirtschaftswunders, in der das Leben in verlässlichen Bahnen verlief. Die fiebernde Uhr von 24 aber ist das Produkt einer Zeit, in welcher der Tagesverlauf immer mehr zum Countdown wird.

Seit dem 20. Januar 2009, seit Amtseinführung von Barack Obama als 44. US-Präsident, sieht man im TV ein neues Amerika, und auch die neue, siebte Staffel von 24 hat einige Modifikationen vorgenommen. Jack Bauer und seine Agenten-Kollegen verteidigen nun nicht mehr Los Angeles vor einem ABC-Waffen-Anschlag, sie sind jetzt in Washington, D. C. tätig, wo sich Jack für seine verschärften Verhörmethoden, die Folter als legitimes Mittel beinhalteten, vor dem Senat rechtfertigen muss. Wieder einmal wirkt die fiktionale Serie wie ein Seismograph des realen politischen Systems.

24 startete zwei Wochen nach 9/11, am Beginn der "Ära der Angst", wie der Produzent und Regisseur Jon Cassar die zurückliegenden Jahre seit 2001 nennt. "Ein außergewöhnliches Timing", sagt Cassar, und ist offensichtlich zufrieden über die ökonomischen Effekte dieses Zufalls. In der zweiten Staffel (2002) wurde der junge, farbige Senator David Palmer zum Präsidenten gewählt. 2009 scheint die Serie wieder ihrer Zeit voraus zu sein. Diesmal regiert eine Frau im Oval Office.

Der eigentliche Reiz von 24 geht über das Politik-Orakel, die Action-Choreographien und formalen Innovationen hinaus. Die Serie zeigt eine zuweilen überdrehte Version des "War on Terror", lässt uns aber vor allem nachvollziehen, wie kompliziert das eigene Leben ist.

Actionhelden erledigen ihren Job mit fiktiven Waffen und Fahrzeugen. In 24 aber wird die eigentliche Arbeit mit dem Computer erledigt. Die Serie zeigt die Displays, Gadgets und Web-Tools, die jeder täglich im Büro erlebt und verwendet, und wird so zum Teil unserer digitalisierten Lebenswelt. Oder anders: Das Zeitgemäße an 24 ist nicht das Thema Terror, sondern die vermutete Höhe der Telefonrechnung von Jack Bauer und seine Multitasking-Fähigkeiten, welche die Serie auch dem Zuschauer abverlangt.

Die erste Episode der neuen Staffel beginnt in einer Limousine. Der Vater sitzt auf dem Fahrersitz, hinten spielt die Tochter mit dem Mobiltelefon. "Du sollst das Handy doch nur im Notfall benutzen", herrscht er seine Tochter an. Das Mädchen schreibt weiter an der SMS: "Aber das ist ein Notfall."

Wenig später explodiert das Auto und der Vater wird entführt (eine Terrorgruppe will ihn zwingen, einen Computer zur Waffe umzubauen). Mit dem Mobiltelefon nehmen Agent Bauer und seine FBI-Kollegen die Spur der Terroristen auf, führen pro Folge etwa 25 Anrufe durch, laden sich "alle relevanten Daten" aufs Handy und hacken sich auch mal in den Computer der eigenen Regierung. 24 ist ein Werbespot der IT-Industrie. Der Präsident führt seine Videokonferenz mit der deutlich erkennbaren Software Cisco Telepresence durch, die FBI-Analysten arbeiten mit Nextel und Dell, und ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass alle Figuren von der Präsidentin bis zum Kleinganoven das identische Klapphandy besitzen? Das Product Placement der Serie ist evident - und in gewissen Maßen auch zu begrüßen. Marken und Geräte dienen als Realitätseffekt und machen den zuweilen hysterischen Plot - in Staffel vier sprengt ein Terrorist innerhalb von Stunden ein AKW, schießt die Air Force One ab und schickt eine amerikanische Atomrakete auf eine amerikanische Stadt - glaubwürdiger.

Der Palm Pilot ist für Geheimdienste und Soldaten längst wichtiger geworden als die Barretta oder die AK-47. Jack Bauer ist seit Jahren auf dem virtuell-surrealen Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts zu Hause, er scannt Fingerabdrücke, lädt Karten herunter, analysiert, ortet, berechnet. Er weiß, dass er und seine Gegner im Feld von Maschinen beobachtet werden, Radar, Infrarot-Scanner, Satelliten in der Umlaufbahn, die sehr viel schneller und in höherer Auflösung sehen, hören, spüren als der eigene Wahrnehmungsapparat.

Der digitale Agent muss deshalb mehr tun als sich dem Gegner entgegenstellen. Er muss die Geschwindigkeit des Sehens der des Handelns seines Gegenüber anpassen. Richtig bei sich ist 24 also nicht in den Actionszenen. Die wilden Telefonkonferenzen und Hacker-Wettbewerbe, das synchrone Handeln ohne geteilte Präsenz ergeben den Nukleus der Serie. Jack Bauer ist ein guter Verkäufer der neuesten Software-Anwendungen, Datendienste und smarten Geräte.

Die moderne Medienwelt beeinflusst nicht nur das Produktionsdesign der Serie. Für 24 wird jede Szene mit vier oder fünf Kameras gefilmt, die wie beteiligte Personen im Raum stehen, schwanken und schnaufen oder atemlos neben den Figuren her laufen. Reißschwenks und hektische Handkameras vervollständigen die Atmosphäre des War Room. Dem Zuschauer bleibt ein fester Blickwinkel verwehrt, er sieht die Welt immer wieder mit anderen Augen und muss sich in der Agentenwelt mit geheimen Operationen und mehrfach getarnten Figuren immer wieder fragen: Ist das alles echt?

Die Ikone der multiplen Perspektive ist der "Splitscreen", der geteilte Bildschirm also, den 24 ausgiebig verwendet, um die verschiedenen Handlungsstränge zumindest manchmal auf einen Blick zu vereinen. 24 ist eine Show für Menschen, die mit Videospielen und Browserfenstern aufgewachsen sind. Das menschliche Auge bewegt sich schließlich bis zu drei oder vier Mal in der Sekunde, das Gehirn braucht aber nur ein Fünftel oder Zehntel einer Sekunde, um ein Bild wahrzunehmen.

Auf dieses visuelle Potential baute vermutlich auch schon Abel Gance 1927 bei seinem Splitscreen-Klassiker Napoleon. Seinen Kritikern hielt er damals lässig entgegen: "Tut mir den Gefallen, und glaubt mir, dass eure Augen noch nicht die visuelle Ausbildung haben, um die erste Form der Lichtmusik wahrzunehmen."

Diese Musik des Lichts ist längst zum Soundtrack unseres Lebens geworden. In Videospielen und auf Webseiten, im Glitzern des medialen Multitasking können wir sie hören. Das Bildschirm-Mosaik der Nachrichtensender sieht manchmal so aus, als sei die Welt explodiert, sei zerfallen in Börsenkurse, Nachrichtenticker, Wetterberichte, Live-Bilder und den Studio-Feed. Der auseinander strebende Bildschirmaufbau behandelt mehrere Themen gleichzeitig, produziert vielfältige Botschaften, auch die, dass es in Zeiten des Internet unmöglich geworden sei, den Zustand der Welt mit nur einem Bild, dem Vollbild nämlich, zu erklären. Die Lektion, die man aus dem zersplitterten Bildschirm von 24 lernen kann, ist, dass der begrenzte Mensch ein Szenario nie vollständig überblicken und die Folgen seines Handelns deshalb nicht abschätzen kann.

Vor diesem Hintergrund muss man auch die Debatte um die Folterszenen in 24 sehen. Jack Bauer verwendet in den Verhören alle Mittel von Faustschlag (Steinzeit) bis zum Neurotoxin (Brave New World), die sich der Mensch im Laufe der Zivilisationsgeschichte angeeignet hat, um andere Menschen zu brechen. 24 erschien vielen Kritikern als Kultserie eines Amerika, das seine Ideale verrät, um seine Sicherheit zu beschützen.

In einer Folge in der vierten Staffel kommt zum Beispiel ein Anwalt der fiktiven Organisation "Amnesty Global" in das Hauptquartier und verbietet die Befragung eines Terroristen - nur der Zuschauer weiß, dass die NGO von seinen Komplizen benachrichtigt wurde. Bauer rettet die Situation, in dem er sich über das Gesetz hinwegsetzt, dem Terroristen ein paar Knochen bricht und so an die wichtigen Information gelangt. Immer wieder meint man die Spurenelemente einer irritierenden Ideologie zu spüren.

In 24 werden aber auch Unschuldige mit Elektroschocks und Reizentzug gefoltert, die Abartigkeit der Aktionen also keineswegs verschwiegen. Produzent Cassar träumt dann auch davon, "dass sich die Menschen auf dem Sofa über unsere Show streiten". "Die Leute wollen nicht wissen, wie wir an das Öl kommen", rechtfertigt ein Lobbyist in einer der neuen Folgen seine kriminellen Handlungen, "sie wollen ein warmes Haus und eine Doppelgarage."

Es ist unvermeidlich, dass man beim Konsum von 24 mal auf die digitale Zeitanzeige seines Fernsehgeräts blickt und dort eine schwerfällige Spiegelung des 24-Timecodes entdeckt. Während man einen Tag im Leben des Jack Bauer verfolgt, ihm beim Schwitzen-Schnaufen-Schlagen zuschaut und nebenbei mal eben nachrechnet, ob das überhaupt hinzukriegen wäre, die ganzen Bewegungen über Staubpisten, Highways und durch Lufträume hindurch, auch wenn man wie Jack Bauer die Nummer des Oval Office im Schnellwahlspeicher einprogrammiert und den Fuhrpark einer Weltmacht zur Verfügung hat, während man also die fiktive Uhr rasen sieht und die eigene langsam blinken, muss man sich für einen Moment die Frage stellen: Was habe ich heute eigentlich alles erreicht? TOBIAS MOORSTEDT

Der Palm Pilot ist im Krieg heute wichtiger als die AK-47

Der Splitscreen lehrt: Keiner kennt die Folgen seines Tuns

Pünktlich zum Amtsende von George W. Bush als US-Präsident muss sich Jack Bauer in der mittlerweile siebten Staffel von 24 für seine rüden Methoden der Vergangenheit verantworten. Die Serie startete kurz nach den 9/11-Anschlägen. Nun soll ein neuer Geist herrschen. Schwitzen und Schießen muss der Agent aber immer noch. Foto: Twentieth Century Fox

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Giftige Geister

Ein "Tatort" über den Horror, der in Krankenhäusern gedeiht

Irgendwann fängt der Psychologe an, seine Patientin zu duzen. Dann sagt er: "Ohne deine Probleme hätten wir uns nie so gut kennen gelernt." Da weiß man: Das endet nicht gut mit diesem Tatort, der in einem katholischen Kölner Krankenhaus spielt. So ein Hospital muss doch für einen Drehbuchautoren das Fünf-Sterne-Hotel sein. Wenn man erst einmal da ist, läuft alles von alleine - im Krankenhaus verdichten sich schließlich die Probleme schon vor der Notaufnahme: Schmerz, Angst, Tod, Unmenschlichkeit und Medikamentenschränke voll von allerlei Giften. Alles da. Und im Keller liegen immer Leichen.

In diesem Köln Tatort also wurde ein Oberarzt vergiftet, ausgerechnet auf der Geburtsstation. "Ich mag das ja nicht, wenn das Schicksal ironisch wird", lästert Kommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrendt), und das war es dann auch mit der Ironie. Denn dieses Mal wird gelitten. Ballauf leidet an Bauchschmerzen, die Kranken am Krebs, die Schwestern am Stress, der Psychologe an der Liebe und Freddy Schenk daran, dass ihm der Doktor-Mörder seinen Stadionbesuch beim Fußball-Länderspiel vermasselt.

Ein Motiv hat aber keiner, so herzensgut war dieser Arzt. Selbst jene Ehemänner, deren Gattinnen auf der Geburtsstation verstarben, verkünden nur Nettes. So hält sich Ballauf, der Krankenhaus-Allergiker, den schmerzenden Bauch und schaut stundenlang Verhör-DVDs im Büro an, während Freddy Schenk (Dietmar Bär) zur Recherche im Hospital jobbt. Dort lernt er Maria kennen, eine Krankenschwester, die so katholisch wie übersinnlich talentiert ist.

Fünf-Sterne-Gesicht  

Maria wird von Anna Maria Mühe gespielt, die ja normalerweise ein Glück für jeden Film ist. Man braucht nur eine Großaufnahme ihres Gesichts - sozusagen das Fünf-Sterne-Hotel jedes Kameramanns - oder ihren Gang. Die Schultern hochgezogen, die Hände in den langen Ärmeln versteckt, die Schritte trippelklein, schon sieht man die Verstockung, ahnt den Konflikt, in dem sich ihre Figur befindet. Doch Regisseur Torsten C. Fischer, der mit "Rabenherz" seinen dritten Kölner Tatort drehte und gerade die Lebensgeschichte von Romy Schneider mit Jessica Schwarz verfilmte, vertraute seinem formidablen Ensemble nicht richtig und trug zu viel Pathos auf.

Klar, es geht ihm und Drehbuchautor Markus Busch um Phänomene, die man nicht erklären kann. Glaube, Liebe, Handauflegen. Aber in diesem Tatort bimmelt beim kranken Ballauf zu Hause stets Memento-mori-mahnend der Kölner Dom hinein, hängt Nebel in kahlen Herbstbäumen, tropft Regen poetisch ins Wasser, und die Krankenschwester mit den besonderen Fähigkeiten tapert nicht nur barfuß durch Krankenhaus-Korridore und verloren durch einsame Wälder, nein, sie muss auch noch kurzzeitig schweben. Dazu schleicht sich die Kamera heran wie ein Geist. Mit Pathos verhält es sich wahrscheinlich wie mit dem Betäubungsmittel, an dem der Oberarzt verschied: Die Dosis macht das Gift.

EVA ROSE RÜTHLI

Tatort - "Rabenherz", ARD, Sonntag,

20.15 Uhr.

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Streit um Qimonda-Pleite eskaliert

Manager: "Insolvenz war vermeidbar". Portugal wirft Deutschland mangelndes Engagement vor. Infineon muss zahlen

Von Markus Balser

München - "Die Verzweiflung in der Belegschaft ist groß", sagt ein Qimonda-Betriebsrat am Sonntag leise und mit tiefer Stimme. "Fast alle Kollegen fürchten die Arbeitslosigkeit." Trotz dramatischer Lage seien viele Mitarbeiter des Chipkonzerns aber auch am Wochenende ins Büro gekommen. "Wir müssen sicherstellen, dass Spediteure weiter an- und abliefern und wir die Produktion am Montag wieder aufnehmen können", sagt ein Sprecher von Insolvenzverwalter Michael Jaffé. Denn Ziel sei es, den Betrieb des Konzerns mit seinen 12 000 Beschäftigten aufrechtzuerhalten.

Nach der folgenschweren Pleite des letzten deutschen Speicherchipherstellers am Freitag eskaliert der Streit um die Hintergründe. Das Management wehrte sich erstmals offen gegen Vorwürfe, Qimonda habe mit einer 300-Millionen-Nachforderung das geschnürte Hilfspaket zu Fall gebracht. "Die Insolvenz war vermeidbar", hieß es in Konzernkreisen. Der zusätzliche Bedarf sei nur entstanden, weil die Politik geplante Zahlungen nicht wie vorgesehen Ende Dezember geleistet habe: "Wir wurden über Monate hingehalten." Zudem sei der Finanzbedarf geringer gewesen. "Wir brauchten nur eine Bürgschaft über 200 Millionen Euro, kein Kapital", sagte ein hochrangiger Manager. Weitere 100 Millionen Euro habe Qimonda selbst finanzieren können.

Auch Portugal warf der Bundesregierung und dem Freistaat Sachsen vor, nicht genug für die Rettung des Chipkonzerns getan zu haben. Seine Regierung habe alles zur Rettung der Firma versucht, "die anderen Parteien haben dies aber leider nicht mit demselben Nachdruck getan", sagte Portugals Wirtschaftsminister Manuel Pinho. Ministerpräsident José Socrates kündigte an, er werde das portugiesische Qimonda-Werk mit seinen 2000 Beschäftigten nicht im Stich lassen.

Die Pleite der Tochter bringt darüber hinaus auch den Chipkonzern Infineon in Bedrängnis. Nach Angaben aus Konzernkreisen drohen Belastungen in dreistelliger Millionenhöhe etwa für Abfindungen, Kosten von Kartellverfahren und die Rückzahlung öffentlicher Fördermittel. Vor allem wegen hoher Verluste bei der Tochter war das Eigenkapital von Infineon im vergangenen Geschäftsjahr bereits um mehr als die Hälfte auf knapp zwei Milliarden Euro geschrumpft. Nach Angaben eines Sprechers muss der Konzern zudem bis 2010 zwei Anleihen zurückzahlen, die zusammen knapp 700 Millionen Euro ausmachten. "Die Belastungen treffen uns, sie sind aber nicht bedrohlich", betonte ein Infineon-Sprecher.

Insolvenzverwalter Michael Jaffé habe derweil die Arbeit an einem Restrukturierungskonzept zur Zukunft des insolventen Chipherstellers aufgenommen und wolle es spätestens im März vorlegen. Die Mitarbeiter in München sollen an diesem Montag, in Dresden am Dienstag auf Betriebsversammlungen informiert werden. Jaffé wolle wieder Ruhe in die Belegschaft bringen, sagte ein Sprecher des Insolvenzverwalters. (Kommentare, Seite 18)

Manchmal denkt man, alles drehe sich im Kreis: Qimonda wehrt sich gegen Schuldzuweisungen. Der Mutterkonzern Infineon wiederum hat Belastungen durch die Insolvenz. Foto: dpa

Infineon Technologies AG: Finanzen Qimonda AG: Konkurs Wirtschaftsraum Portugal Beziehungen Deutschlands zu Portugal SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spiel ohne Gewinner

Eine Branche ruiniert sich selbst

Von Thorsten Riedl

Die Chiphersteller, sagt Nam Hyung Kim, lieferten sich gerade eine gefährliche Mutprobe. Alle Konzerne versuchten gleichzeitig, ihre Produktion auszuweiten, um so Anteile von den Rivalen zu erobern, erklärt der Analyst des amerikanischen Marktforschungsinstitutes iSuppli. "Das ist, als ob zwei Autos aufeinander zurasen und jeder Fahrer Gas gibt. Wer nicht genug Nerven hat und ausweicht, verliert". Bislang hat keiner gebremst. Und es sieht so aus, als ob die ganze Branche bald nur Verlierer kennt. Den einzigen Ausweg aus dem mörderischen Spiel sehen die Anbieter in Zusammenschlüssen oder staatlicher Hilfe.

Besonders schlimm sieht es für Hersteller von Speicherchips aus - wie Qimonda. Wie dramatisch die Lage ist, kann jeder nachvollziehen, der die Angebote der Elektronik-Discounter verfolgt. Beinahe im Monatsrhythmus werden die angebotenen Computer mit mehr Arbeitsspeicher ausgerüstet - obwohl die Preise für die Geräte weiter sinken. Anbieter von Logikchips, die in jedem PC als zentrale Recheneinheit den Takt angeben, leiden weniger. Intel und AMD, die wichtigsten Anbieter in diesem Bereich, müssen zwar auch gegen den Preisverfall kämpfen, in Logikchips steckt aber mehr Know-how, diese Halbleiter werden nicht wie Speicherchips als Massenware feilgeboten.

Die Preise für Speicherchips liegen inzwischen unter ihren Herstellungskosten. Unternehmen der Branche arbeiten zum Teil schon seit Jahren mit Verlust. Der Grund für die Misere sind die Überkapazitäten. Die Hersteller überschwemmen den Markt mit billiger Ware. Doch wer trägt für die ruinöse Fertigungsstrategie die Verantwortung? Einige Analysten sehen als Auslöser der gesteigerten Produktion Windows Vista. Das jüngste Betriebssystem von Microsoft läuft auf so gut wie jedem neuen Rechner und stellt hohe Anforderungen an die Hardware. Bevor Vista 2007 auf den Markt kam, haben die Chipproduzenten deshalb ihre Kapazitäten erhöht - doch Vista war ein Flop. "Der Speicherchipmarkt ist in einer so miesen Lage", sagt Gartner-Analyst Andrew Norwood, "dass die Zulieferer ihren Bestand entweder reduzieren müssen, oder schwächere Spieler fusionieren werden oder pleitegehen." Frühestens 2010 laufe es wieder besser.

Bis dahin wird kein Stein auf dem anderen bleiben in der Industrie. In Fernost, wo das Gros der Hersteller seinen Sitz hat, ist das schon sehr deutlich zu erkennen. So lotet derzeit der japanische Hersteller Elpida einen Zusammenschluss mit den drei kleineren, taiwanischen Produzenten Promos, Powerchip und Rexchip aus. Daraus könnte der nach Samsung weltweit zweitgrößte Speicherchipproduzent entstehen.

Die koreanischen Unternehmen Samsung und Hynix kommen auf einen Anteil am Weltmarkt von fast 50 Prozent. Doch die Chip-Sparte von Samsung hat gerade den ersten Verlust seit sieben Jahren eingefahren; Hynix musste eine Kapitalspritze von der Hausbank beantragen. Und in Taiwan soll jetzt die Politik den einheimischen Herstellern gegen die Konkurrenz helfen. Die Regierung in Taipeh hat Staatshilfen in Höhe von zwei Milliarden Dollar in Aussicht gestellt. Das könnte das tödliche Spiel noch weiter in die Länge ziehen.

Halbleiter-Fertigung Einsatz von Mikrochips SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Konvertitten im Karneval

Lukas Podolski hasst ihn, WDR-Hörer lieben ihn - nun fängt Jan Böhmermann bei RTL an

Wenn man Jan Böhmermann zum ersten Mal gegenüber sitzt, fällt es schwer, ihn zu durchschauen. Einen sehr gleichförmigen Ausdruck trägt er zur Schau, der es unmöglich macht, herauszufinden, ob dieser Mann etwas sehr ernst meint oder ob er sich einen Spaß erlaubt. "Ich lache sehr wenig und sehr ungern", sagt der 27-jährige Kölner, was ein bisschen seltsam klingt, denn sein Geld verdient der Schlacks mit Aktionen, die landläufig in der Abteilung Comedy kategorisiert werden. Aber vielleicht ist seine Weigerung, sich auch nur annähernd einer Grimasse hinzugeben, gerade Böhmermanns große Stärke und Grund für manche, ihm noch eine große Karriere im intelligenten deutschen Spaßgeschäft zu prophezeien. Er bietet sein Gesicht an als Benutzeroberfläche, auf die jeder projizieren kann, was ihm einfällt. Und natürlich gelingt es leichter, andere hinters Licht zu führen, wenn man im Gedränge nicht weiter auffällt. Dann geht man als türkischer Karnevalsfan ebenso locker durch wie als seriöser Journalist, und notfalls kann man auch mal in einen Telekom-Laden marschieren und dort nachfragen, ob es gerade ein paar private Daten der Kunden zu kaufen gibt, ohne gleich als Privatfernsehprovokateur vor die Tür gesetzt zu werden.

Böhmermann könnte auch beim Geheimdienst arbeiten, so harmlos wirkt er auf den ersten Blick. Aber wenn man ihn eine Weile beobachtet, lernt man, dass man ihm besser mit Vorsicht begegnet, denn der gebürtige Bremer hat es dick hinter den Ohren. Insofern ist es als Warnung zu verstehen, wenn er seine nächste Fernsehaktivität mit Worten ankündigt, die nur bedingt als Werbung durchgehen. "RTL-Zuschauer werden erblinden, wenn sie unsere Sendung sehen", formuliert er eine Art Beipackzettel und meint damit TV Helden, jene halbstündige Show, die sich der Kölner Kommerzkanal an den beiden kommenden Samstagen kurz vor Mitternacht leistet. Gemeinsam mit den Kollegen Pierre M. Krause vom SWR und Caroline Korneli von MTV tummelt er sich in kurzen, flott geschnittenen Einspielern im Mediengeschäft und will all jenen auf die Zwölf geben, die sich eine Spur zu sicher fühlen. Da lässt er als Rache aller Verspätungsopfer einen Bahnsprecher mal eine geschlagene Stunde warten, und Kollegin Korneli demonstriert, wie bereitwillig Menschen den größten Quatsch ins Mikrofon blubbern, Hauptsache, sie kommen ins Fernsehen.

"Ich bin ja Journalist"

Für bundesweite Aufregung sorgte gerade die Pressekonferenz der Drei, bei der sie in Köln die Gründung eines türkischen Karnevalsvereins verkündeten. "Dass es so klappt, hätte ich nie gedacht", sagt Böhmermann, der kein Türkisch spricht, was eigentlich zu seiner frühzeitigen Aufdeckung hätte führen können. Tat es aber nicht, und etliche, auch seriöse Medien gingen dem Trio auf den Leim. Die meisten reportierten brav, was verkündet wurde, und mussten später als Korrektur nachschieben, dass alles nur ein Spaß von RTL gewesen sei.

Wer nun meint, RTL entwickle subversive Strukturen, um das Mediengeschäft zu unterwandern, liegt nicht ganz richtig. Treibende Kraft hinter den TV Helden ist Friedrich Küppersbusch, einst Moderator von ZAK, inzwischen Hersteller des RTL-Hits Raus aus den Schulden. Er bringt die Quoten und darf sich daher auch mal etwas leisten, was abseits des Mainstreams rauscht. "Es ist nicht Zapp in lustig, aber es trifft schon oft die Medien - auch RTL", sagt Böhmermann. Man merkt ihm an, dass er dem neuen Standort noch nicht ganz traut: "Ich bin ja ein WDR-Kind und hätte zu aller letzt gedacht, dass ich mal zu RTL komme."

Beim WDR ist er ein bisschen berühmt geworden, weil er 2005 die Radio-Rubrik Lukas' Tagebuch erfunden hat. Die tut so, als reflektiere sie die Gedanken des Fußballers Lukas Podolski. Oft täuschend echt: "Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel", war ein Zitat, das die halbe Sportwelt dem echten Podolski zugeschrieben hat. Der zeigte sich wenig begeistert und belegte die ARD zur Strafe auch mal mit einem Interview-Boykott. Doch der WDR dachte gar nicht daran, Böhmermann einen Maulkorb zu verhängen. Werktäglich plaudert Lukas nun auf der jungen Welle 1Live, auch beim MDR, HR und SWR war und ist er zu hören. Böhmermann selbst wollte schon aufhören. Doch der WDR habe ihn "mit Geld und verlogenen Komplimenten gezwungen, weiter zu machen". Schließlich verkündet der falsche Lukas, was dem Parodierten wie eine Verheißung erscheinen dürfte: "Ich höre am Ende der Bundesliga-Saison damit auf. Großes Howard-Carpendale-Ehrenwort."

Böhmermann kann gut ernst gucken. Das ist ein Vorteil, wenn er zu TV-Gesprächen mit Politikern antritt. Mit denen will er in der Regel lustige Interviews führen, was die Interviewten allerdings nicht erfahren, weder vorher noch hinterher. Erst wenn sie auf dem Sender erscheinen, dürfte ihnen ein Licht aufgehen. Wie etwa Günther Beckstein. Der saß vor geraumer Zeit einem brav beschlipsten Journalisten gegenüber, mit dem er über Islamismus sprechen sollte. Der CSU-Politiker redete von Konvertiten, sagte aber als Franke immer Konvertitten und wunderte sich, als sein Gegenüber glatt der Contenance verlustig ging.

Böhmermann hat das Ergebnis auf seinem Notebook gespeichert und nutzt es zur Stimmungsaufhellung. Dass ihn Politiker oft nicht für voll nehmen, stört ihn nicht. Er fühlt sich nicht gemeint: "Ich bin ja Journalist in dem Moment. Die halten mich also bestenfalls für einen absoluten Trottel."

Als Medienkritiker darf man Böhmermann wohl nicht bezeichnen, aber auf seine Art ist auch er auf der Suche nach Wahrheit. Nur sieht die oft anders aus als gewohnt. Wo das alles noch hinführen soll, weiß er selbst am wenigsten. Im März bekommt er eine Radioshow bei 1Live. Auch ein Buch will er veröffentlichen, und es gibt durchaus Menschen, die ihm noch Großes im Fernsehen voraussagen, auch wenn sie es für unwahrscheinlich halten, dass RTL den TV Helden genug Zeit gibt. Böhmermann selbst ist in der Frage unentschieden. "Bis ich 30 bin, ist das alles Ausbildung", sagt er. Und schaut ganz ernst. HANS HOFF

TV Helden, RTL, Samstag, 23.30 Uhr

Ein Medienazubi auf der Suche nach Wahrheit: Jan Böhmermann. Foto: Thorsten Neuhaus

Böhmermann, Jan Unterhaltungsshows im Fernsehen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Porzellanindustrie in der Krise: Die Traditionsmarke Rosenthal kämpft ums Überleben

Die Suche nach der Zukunft

Billig-Angebote aus dem Osten und ein Geschmackswandel der Kundschaft machen den deutschen Herstellern zu schaffen

Von Uwe Ritzer

Selb - Vielleicht wäre alles gut geworden, wenn Stefan Schörghuber nicht gestorben wäre. Der Milliardär aus München hatte zeitlebens ein Faible für die Marke Rosenthal. Und kränkelnde Firmen flottzumachen, empfand Schörghuber als Herausforderung. Bis zu seinem Tod am 25. November vorigen Jahres verhandelte der Unternehmer nach Informationen der Süddeutschen Zeitung über eine Übernahme der ebenso berühmten wie defizitären Porzellanfirma aus dem oberfränkischen Selb, in deren Aufsichtsrat er früher sogar einmal saß. Es heißt, die Verhandlungen seien bereits sehr konkret gewesen. Mit Schörghubers Tod brachen sie ab.

Und Rosenthal meldete vor gut zwei Wochen Insolvenz an. Dass diese glamouröse Marke, Inbegriff für Noblesse bei Tisch, ums nackte Überleben kämpft, macht die gesamte Porzellanbranche nervös. "Negative Nachrichten über einen solchen Leuchtturm sind für keinen gut", sagt Peter Frischholz, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Keramischen Industrie (VKI). Für Hartmuth Baumann von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ist Rosenthal "ein Kernunternehmen und ein ganz wichtiges Symbol für die gesamte Branche". Sollte eine Rettung misslingen, drohe ein Sog, der andere Porzellanfirmen mit sich reißen könnte.

Als hätte man es nicht schon schwer genug. Seit 20 Jahren steckt die Porzellanindustrie in einem tiefgreifenden Umbruch. Kaum war der Eiserne Vorhang gefallen, setzte ihr eine Flut von Billigporzellan aus Osteuropa zu. Als dann auch noch Handelsschranken fielen, kam chinesisches Billigporzellan hinzu. "Plötzlich waren Überkapazitäten ohne Ende am Markt, und dementsprechend verfielen dann die Preise", sagt VKI-Hauptgeschäftsführer Frischholz. Doch das waren nicht die einzigen Gründe, weshalb in der Folgezeit eine ehedem stolze Porzellanmarke nach der anderen ins Trudeln geriet oder gar unterging.

Auch die Tischkultur veränderte sich gravierend. Die Deutschen geben immer weniger Geld für Geschirr und Tischdekoration aus. Ihr Lebensstil hat sich grundlegend verändert. Eine Aussteuer junger Frauen, zu deren Grundausstattung edles Porzellan gehört, gibt es nicht mehr. Porzellangeschirr wird nicht mehr über Generationen vererbt und ist vor allem für jüngere Menschen kein Symbol mehr für Lebensstil. Zuletzt musste dies die oberfränkische Firma Goebel schmerzhaft erleben. Sie produzierte jene kunstvollen Hummelfiguren, die jahrzehntelang das Herz von Sammlern höher schlagen ließen. Junge Leute empfinden sie als teuren Kitsch. 2008 gab Goebel auf.

Keine Aussteuer mehr

Dabei schien sich die Porzellanbranche zuletzt einigermaßen stabilisiert zu haben, wenn auch auf einem - gemessen an den sechziger und siebziger Jahren - sehr niedrigen Niveau. 6200 Menschen arbeiten hierzulande in Porzellanfirmen, im Jahr 2000 waren es noch 10 000. Nach neun Jahren Schrumpfung verzeichneten die Hersteller 2007 wieder einen winzigen Absatzzuwachs um 0,5 Prozent. Der Umsatz legte um 6,7 Prozent zu, dank starker Auslandsgeschäfte. Der Exportanteil liegt bei fast 54 Prozent. Auch 2008 liefen die Geschäfte ordentlich, aber nur mehr in Deutschland. "Vor allem in den Ländern, die von der Finanzkrise besonders gebeutelt sind, brach der Umsatz zweistellig ein", sagt VKI-Experte Frischholz. Man fiel wieder hinter den Zuwachs des Jahres 2007 zurück. Doch die Krise trifft nicht alle Hersteller gleichermaßen. "Verlierer waren oder sind vor allem die Firmen, die in günstigen Preissegmenten, im Discountgeschäft oder im Mengengeschäft unterwegs sind", sagt Peter Frischholz.

Hingegen würden "vor allem jene am Markt bestehen, die auch in schwierigen Jahren ihre Marken gepflegt und klar definiert haben." Dazu gehört die BHS tabletop AG (1300 Mitarbeiter, 90 Millionen Euro Umsatz). Die Abkürzung steht für Bauscher, Hutschenreuther, Schönwald, wobei man Hutschenreuther bereits vor Jahren wieder verkauft hat und die Marke heute zu Rosenthal gehört. BHS konzentriert sich weitgehend auf das Geschäft mit Hotels, Kantinen, Krankenhäusern und anderen Großabnehmern. Nach eigenem Bekunden ist man "Weltmarktführer für Profi-Porzellan." Zur Kundschaft gehören unter anderem feinste Hotels, darunter das Burj Al Arab in Dubai. Die BHS tabletop AG verkauft jährlich Millionen von Tassen und Tellern. Sie hat einen Weltmarktanteil von rund zehn Prozent und scheint ihren Platz auf dem Markt gefunden zu haben.

Rosenthal sucht noch. Vorstandschef Ottmar C. Küsel ist übrigens Chef des VKI. Dessen Hauptgeschäftsführer Frischholz sagt, es sei trotz der Insolvenz überflüssig, das Überleben von Rosenthal in Frage zu stellen. "Das ist eine Marke, die so stark ist und soviel Potential in sich birgt, dass ich vom Überleben absolut überzeugt bin." Und wenn nicht? Dann, sagt Peter Frischholz, wäre dies sehr schlimm, jedoch "nicht gleichbedeutend für das endgültige Aus der deutschen Porzellanindustrie."

Das Stapelgeschirr war ein Klassiker des Porzellanherstellers Rosenthal, der Insolvenz anmelden musste. Gerade in den großen Kantinen ist hierzulande mittlerweile oft nur noch Billigware aus dem Ausland zu finden. Patrick von Faber Castell, im Bild mit Ehefrau Mariella Ahrens, hat Interesse an Rosenthal angemeldet. Fotos: Phoenix/SWR, ddp

Rosenthal AG: Konkurs Keramikindustrie in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Faber-Castell muss warten

Insolvenzverwalter verhandelt angeblich mit italienischem Unternehmen

Von Uwe Ritzer

Selb - Patrick von Faber-Castell ist verschnupft. "Schade und skurril" findet es der Neffe des bekannten Bleistift-Grafen Anton-Wolfgang von Faber-Castell, wie mit ihm seitens der Rosenthal AG und ihres Insolvenzverwalters umgesprungen wird. Mit einer vom Schreibgeräteunternehmen unabhängigen Investorengruppe möchte Patrick von Faber-Castell den angeschlagenen Porzellanhersteller übernehmen. Unmittelbar nachdem dieser vor gut zwei Wochen Insolvenz anmeldete, hatte er bei Rosenthal sowie beim vorläufigen Insolvenzverwalter Volker Böhm sein Interesse angemeldet. "Die Rückmeldungen klangen sehr positiv, aber seitdem habe ich nichts mehr gehört", wundert sich Faber-Castell. Auf Nachfragen sei er ständig vertröstet worden. Ein konkretes Gespräch habe es bis heute nicht gegeben. "Es ist ärgerlich, dass Rosenthal sich so komplett verschlossen hat und man nicht einmal eine Absage bekommt", sagt Faber-Castell.

Insolvenzverwalter Böhm wiegelt ab und sagt, es gebe viele Interessenten für das weltberühmte Markenunternehmen und ständig würden sich neue melden. "Wir müssen aber erst einmal bei Rosenthal die Strukturen schaffen, um vernünftige Gespräche zu führen", sagt er. Eine Aussage, die verwundert. Schließlich bestätigt Böhm andererseits, dass seit Wochen bereits sehr intensiv und konkret mit einem möglichen Übernehmer verhandelt werde und diese Gespräche weit gediehen seien. Dem Vernehmen nach ist es die italienische Firma Sambonet Paderno Industria, die bislang hochwertige Töpfe, Schüsseln und Besteck aus Edelstahl fabriziert. Ob sie den Zuschlag erhält oder andere Interessenten wie Faber-Castell zum Zuge kommen, ist offen.

Komplizierte Lage

Die anfänglichen Hoffnungen vor allem von Rosenthal-Vorstandschef Ottmar C. Küsel auf einen schnellen Verkauf von Rosenthal scheinen sich nicht zu erfüllen. Dass auch die irische Muttergesellschaft Waterford Wedgwood pleite ist, kompliziert die Lage. Es gilt, deutsches und irisches Insolvenzrecht in Einklang zu bringen. Völlig unklar ist, was passiert, wenn ein etwaiger Übernehmer von Waterford Wedgwood auch die Tochter Rosenthal übernehmen möchte.

In dieser schwierigen Phase will der Freistaat Bayern das Unternehmen abstützen. Diese Woche trifft sich im Wirtschaftsministerium eine Runde aus Experten des Hauses, dem vorläufigen Insolvenzverwalter Böhm, Vorstandschef Küsel, sowie Bankvertretern. Der Wirtschaftsausschuss des Landtages hat die Staatsregierung einstimmig dazu aufgefordert, alles zu tun, um Rosenthal vor dem Ruin zu retten. Von den etwa 1500 Arbeitsplätzen bei Rosenthal sind 1300 in Deutschland angesiedelt, die meisten am Firmensitz in Selb und einem Werk in Speichersdorf bei Bayreuth.

Graf von Faber-Castell, Patrick Rosenthal AG: Konkurs Waterford Wedgwood plc: Konkurs Faber-Castell AG SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wie Du mir, so ich Dir

Die USA erhöhen die Zölle für den Roquefort-Käse, weil die EU deren Hormon-Rindfleisch nicht will

Von Michael Kläsgen

Paris - Als ob die Welt im Moment keine größeren Probleme hätte, sieht es ganz so aus, als müsste sich der neue US-Präsident Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit dem scharfwürzigen Roquefort-Käse widmen. Die Regierung seines Vorgängers George W. Bush hatte Mitte Januar eine Verdreifachung des Zolls für den Schafsmilchkäse aus Frankreich beschlossen - als eine ihrer letzten Amtshandlungen und als Reaktion auf die ausbleibende Lockerung des EU-Importverbots für "Hormon-Rindfleisch" und "Chlor-Hühnchen" aus den USA. Frankreich stiftete daraufhin die EU dazu an, in der Causa Roquefort vor die Welthandelsorganisation (WTO) zu ziehen.

Ein langwieriger Handelskonflikt steht nun bevor. Sein gegenwärtiger Wortführer auf europapolitischer Ebene ist der französische Landwirtschaftsminister Michel Barnier, der demnächst zwar aus der Regierung ausscheidet, aber für das EU-Parlament kandidieren will und daher Stimmen braucht. Er gibt vor, einerseits die Gesundheit der Europäer vor hormonbehandeltem US-Fleisch schützen zu wollen. Aber natürlich geht es ihm auch um die Roquefort-Produzenten und die Bauernschaft im eigenen Land. Barnier will in dem Konflikt kein bisschen nachgeben.

Die USA sind hinter Spanien und Deutschland die drittgrößte Importnation für den häufig als Blauschimmelkäse verkannten Grünschimmelkäse. Tatsächlich verzehren die Amerikaner aber nur zwei Prozent der Gesamtproduktion. Den allermeisten Roquefort essen die Franzosen selbst. Die in die USA exportierte Menge (420 Tonnen) halbierte sich sogar binnen eines Jahrzehnts. Denn schon heute kostet er dort etwa doppelt so viel wie in Europa. Der Grund: Bereits vor zehn Jahren verhängten die USA für mehrere europäische Produkte einen Strafzoll von 100 Prozent, darunter den Roquefort, schon damals wegen des EU-Importverbots von hormonbehandeltem Fleisch. Verdreifacht sich der Roquefort-Preis nun, so fürchtet der Vorsitzende des Verbandes der Roquefort-Hersteller, Robert Glandières, dann verschwinde der Käse ganz aus den USA. "Für uns ist das de facto ein Embargo", sagt er. Auch der Direktor der Roquefort-Gesellschaft, Thierry Zurcher, meint: "Kein Mensch wird ein Kilo Käse für 100 Dollar kaufen. Wir werden uns aus den USA zurückziehen müssen." Und so sechs Millionen Euro Umsatz verlieren.

Auf amerikanischer Seite führt man an, es sei nun an den Europäern, aktiv zu werden. Die Welthandelsorganisation hatte den USA vor zehn Jahren erlaubt, Strafzölle auf EU-Importgüter zu erheben, weil die EU nicht belegen konnte, dass das US-Fleisch krebserregend ist. Bis heute. Aus Protest demolierten damals aufgebrachte Demonstranten die Baustelle einer McDonald's-Filiale im südfranzösischen Millau, in der Nähe des Ortes Roquefort. Zu der Aktion hatte der Bauernführer und Globalisierungskritiker José Bové aufgerufen, wodurch er über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde.

Protest bei McDonald's

Auch im neu aufgeflammten Handelsstreit spielt er eine herausragende Rolle: Er übergab dem US-Botschafter in Paris sieben Kilogramm Roquefort-Käse mit der Bitte, diesen Obama auszuhändigen. Bové meint, die USA hätten gezielt das Traditionsprodukt Roquefort-Käse als "Geisel" genommen, um den Verkauf ihres Rindfleisches in Europa erzwingen zu können. Der Abgeordnete Philippe Folliot aus der Roquefort-Region fordert gar eine EU-Sondersteuer auf Coca-Cola, als Revanche. "Symbol gegen Symbol", sagt er. Und die Schafsmilchhersteller wollen den zehnten Jahrestag der McDonald's-Aktion gebührend feiern. So erleben die leicht reizbaren, aber populären Agrarrebellen Frankreichs dank der letzten Amtshandlung der Bush-Regierung eine Wiederauferstehung. Dabei kommt der allergrößte Teil des Roqueforts längst aus genau jener standardisierten Industrieproduktion, welche die Bauernführer vorgeben zu bekämpfen.

Bauernführer José Bové (Mitte) hat vorige Woche vor der US-Botschaft in Paris gegen die hohen Zölle für den Roquefort-Käse protestiert. Foto: AFP

Bové, José Handelsbeziehungen der USA mit der EU Käse Agrarwirtschaft in Frankreich Zollwesen in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Modernes Geschirr wirkte stilprägend wie kaum etwas anderes

Die Moderne war besessen von der eigenen Heilslehre. Flache Dächer, weiße Wände und sprossenlose Fenster waren im 20. Jahrhundert zwar zu keiner Zeit jedermanns Sache - aber die Apologeten des Neuen Bauens träumten gerade deshalb davon, ihre Formvorstellungen vor allem auch im Alltag zu verankern. Den Modernisten ging es nicht allein um eine neue Ästhetik, sondern auch um einen gesellschaftlichen Aufbruch. Befreit von aller Tradition, wollte man "bei Null anfangen". Alles auf Anfang: Das gehörte zum Credo der Moderne im 20. Jahrhundert. Um das zu illustrieren und zu begründen, wurden aufsehenerregende Bauwerke entworfen, die ganz der Gegenwart und Zukunft verpflichtet sein sollten. Dazu spektakuläre Möbel und eine Menge Theorie.

Aber nichts davon war jemals so massenwirksam wie der Hausrat. Das Geschirr etwa von Rosenthal, beispielsweise die seit 1954 in der Nachkriegsmoderne weit verbreitete Kollektion "Form 2000", dürfte vermutlich populärer sein und selbstverständlicher in den Alltag gefunden haben als viele andere Moderne-Bemühungen. Wenn der bekannte Satz, wonach man ist, was man isst, stimmt: Dann wird das Bewusstsein nicht nur vom Essen, sondern auch von der Esskultur bestimmt. Rosenthal, eines der Unternehmen, die sich in Deutschland mit der Moderne-Ästhetik zum Nutzen ihrer Produkte auseinander gesetzt haben, war womöglich einflussreicher als so manche Gropius-Theorie.

Deshalb ist es umso interessanter, dass sich der Bauhaus-Begründer, der Architekt Walter Gropius (1883 - 1969), so schwer tat mit dem Werben von Rosenthal. Gropius, schon an die 80 Jahre alt und einer der berühmtesten Architekten der Welt, sollte für die legendäre "Rosenthal Studio Linie" gewonnen werden. Er ließ sich sehr lange bitten. Diese Serie, für die Designer wie Bjørn Wiinblad, Tapio Wirkkala, Raymond Loewy, Hans Roericht und Künstler wie Victor Vasarely oder Henry Moore seit den sechziger Jahren als Gestalter gewonnen werden konnten, gab dem ausgeprägt klassischen Design-Verständnis von Philip Rosenthal einen angemessenen und zunächst sehr erfolgreichen Rahmen.

Der Firma gelang es auf diesem Weg, das großbürgerliche Markenimage vom feinen Porzellan für die gute Stube ohne Qualitätsverlust zu dynamisieren. Anders etwa als dem britischen Wedgwood-Porzellan (zuletzt als britisch-irische Gruppe Waterford Wedgwood mehrheitlich an Rosenthal beteiligt), gelang der Firma in Selb die Symbiose von bürgerlichen Idealen und solchen der Avantgarde nahezu bruchlos. Das Design spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Das Gropius-Teegeschirr für Rosenthal ("TAC 1") oder das Kaffeeservice "TAC 2" sind auch heute noch, 40 Jahre nach ihrer Entwicklung, von zeitloser, formal eigenständiger Präsenz. Und die Produkte der "Form 2000", die im Lauf der Jahre in mehr als 300 Dekoren produziert wurden, zählen bis heute in ihrer Klassizität und zugleich in ihrer radikalen, expressiv-modernen Formsprache zu den Höhepunkten deutscher Stilgeschichte. Gerhard Matzig

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