Gefangen in einem kleinen Stück Dschungel

Sri Lankas Armee hat die Tamil Tiger fast besiegt - nun jagt sie den Chef der Rebellen

Von Oliver Meiler

Singapur - Lebend ergeben würde sich Velupillai Prabhakaran wohl nie. Der Chef und Gründer der Tamil Tiger, ein 55-jähriger Guerillakämpfer von gedrungener Gestalt und mit unbedingtem Kampfeswillen, trägt in seiner Tasche immer eine Kapsel mit Zyankali. Sollte ihn die srilankische Armee stellen, würde er sich wahrscheinlich umbringen. Viele Kader seiner Rebellenorganisation zogen in den vergangenen 25 Jahren des Bürgerkriegs den Selbstmord der Schmach einer Verhaftung vor. Die meisten von ihnen nahmen Zyankali. Sie taten es auf Geheiß von Prabhakaran, dessen Befehle nie viel Raum für Interpretationen offenließen.

Nun macht es den Anschein, als stehe Velupillai Prabhakaran, der von Militärexperten als gescheiter Stratege und Taktiker beschrieben wird, selber am Ende. Glaubt man dem srilankischen Armeechef, Sarath Fonseka, ist die militärische Offensive zu 95 Prozent abgeschlossen. Und für die restlichen fünf Prozent, so der General, genügten einige Monate. Das Militär hat die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) mit seiner massiven, brutalen, einjährigen Offensive am Boden, aus der Luft und vom Meer zusehends in die Enge getrieben.

Viele zivile Opfer

Die Tiger sind umzingelt, geschwächt wie nie zuvor in dem Konflikt und fast ohne konventionelle militärische Optionen. Von ihrem früheren Hoheitsgebiet bleibt nur noch ein kleines Stück Dschungel im Norden der Insel übrig, etwa 30 auf 50 Kilometer, aus dem sie höchstens noch als Guerillakämpfer operieren können. In den vergangenen Tagen hat die Armee auch die letzte Hochburg der Tiger eingenommen, die Küstenstadt Mullaitivu, das militärische Hauptquartier der Rebellen. Als die Armee in die Stadt eindrang, waren die Tiger schon weg, ihre Büros verlassen. Auch viele tamilische Zivilisten waren geflüchtet.

Ihnen gehört nun die ganze Sorge der internationalen Hilfsorganisationen. Ungefähr 250 000 Menschen gelten als gefangen zwischen den Fronten, dem Kreuzfeuer ausgesetzt. Von den Rebellen werden sie angeblich als menschliche Schutzschilde missbraucht - und von den Regierungstruppen offenbar beschossen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dessen Leute seit Beginn der Militäroperation als einzige internationale Helfer ohne Unterbrechung im Kriegsgebiet vertreten sind, berichtet von "Hunderten Toten und von Scharen von Verwundeten" und warnt vor einer humanitären Krise. Es mangelt an allem, vor allem aber an der medizinischen Versorgung der Opfer. Die Vereinten Nationen evakuierten am Donnerstag Hunderte Verletzte aus dem Kriegsgebiet, unter ihnen fünfzig Kinder in einem kritischen Gesundheitszustand.

Beide Kriegsparteien weisen die Anschuldigungen, die gegen sie erhoben werden, scharf zurück. Die Regierung in Colombo behauptet, sie stelle im Gegenteil sicher, dass die Zivilisten geschützt würden, indem sie ihnen eine Sicherheitszone zugewiesen habe und sie vor jedem Bombardement mit Flugblättern warne. Die Tiger wehren sich gegen den Vorwurf der Gegenseite, sie feuerten selber Raketen auf die Zivilbevölkerung ab und hinderten Krankenwagen daran, Verletzte in die Krankenhäuser zu bringen. Es steht Propaganda gegen Propaganda. Verifizieren lässt sich wenig. Unabhängigen Berichterstattern ist der Zutritt zu den nördlichen Bezirken verwehrt. Und srilankische Journalisten werden verfolgt, verprügelt oder gar getötet, wenn sie sich kritisch gegen die Militärstrategie der Regierung äußern.

So sind viele Fragen offen. Die militärisch wichtigste scheint derzeit diese zu sein: Wo versteckt sich Velupillai Prabhakaran? Sri Lankas Präsident Mahinda Rajapakse sagte unlängst in einem Interview mit dem indischen Nachrichtenmagazin India Today: "Dieser Krieg endet erst, wenn wir Prabhakaran haben." Er sagte nicht, ob er ihn tot oder lebendig fassen will. Wird Prabhakaran getötet, ist die Gefahr groß, dass sein Tod von den seinen als Martyrium verklärt und seinen Mythos stärken würde. Der Rebellenchef wird von seinen Anhängern wie ein Volksheld gefeiert, der alleine fähig sei, Sri Lankas Tamilen, etwas mehr als 15 Prozent der Bevölkerung und mehrheitlich hinduistisch, aus der Unterdrückung der singhalesischen, hauptsächlich buddhistischen Mehrheit zu lösen und ihnen einen eigenen Staat zu geben.

Flucht im Fischerboot

Nun gibt es aber Spekulationen, wonach der Rebellenchef das Land verlassen haben könnte. Genannt werden gleich mehrere mögliche Ziele, so etwa Indonesien, Thailand und Malaysia. Die LTTE brauchten in den vergangenen Jahren Südostasien als Drehscheibe für den Waffennachschub. Malaysias Regierung jedenfalls wies die Polizei vorsorglich an, nach Prabhakaran Ausschau zu halten. Die LTTE haben noch immer zwei oder drei Flugzeuge, die sie für Flüge dieser Art brauchen könnten.

Einem anderen Gerücht zufolge ist Velupillai Prabhakaran mit einem Fischerboot in den indischen Bundesstaat Tamil Nadu geflohen, der nur einige Dutzend Seemeilen von Sri Lanka entfernt ist und wo ungefähr 55 Millionen Tamilen leben. Er hatte dort einmal eine große Anhängerschaft. Die indischen Tamilen sympathisierten in den achtziger Jahren mit dem Kampf ihrer "Brüder". Doch nachdem die LTTE 1991 den früheren indischen Premierminister Rajiv Gandhi bei einer Wahlkampfveranstaltung in Tamil Nadu umgebracht hatten, erlahmte die Sympathie. Indien drängt seither auf eine Auslieferung von Velupillai Prabhakaran.

Wo ist Velupillai Prabhakaran? Die Tamil Tiger erteilten Spekulationen, wonach ihr Anführer Sri Lanka verlassen haben könnte, eine Absage: Die Gerüchte um Prabhakarans Flucht seien nur billige Propaganda. Der Chef lasse sein Volk nicht im Stich. Foto: AFP

Prabhakaran, Velupillai Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) Bürgerkrieg in Sri Lanka SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Koch als Terrorhelfer

Washington - Ein US-Bezirksrichter hat am Mittwoch den Antrag eines jemenitischen Guantanamo-Häftlings auf Haftentlassung abgelehnt. Der Koch Ghaleb Nassar Al Bihani wird seit mehr als sieben Jahren auf dem US-Stützpunkt in Kuba festgehalten. Nach eigenen Angaben arbeitete er als Küchenhilfe bei den Taliban in Afghanistan und gab selbst nie einen Schuss aus einer Waffe ab. Richter Richard Leon entschied jedoch, Al Bihani habe dennoch die Taliban unterstützt. Schon Napoleon habe schließlich gesagt, dass jede Armee auf ihrem Magen marschiere. Die Entscheidung der US-Regierung, ihn als feindlichen Kämpfer einzustufen, sei daher gerechtfertigt. AP

Washington

- Ein US-Bezirksrichter hat am Mittwoch den Antrag eines jemenitischen Guantanamo-Häftlings auf Haftentlassung abgelehnt. Der Koch Ghaleb Nassar Al Bihani wird seit mehr als sieben Jahren auf dem US-Stützpunkt in Kuba festgehalten. Nach eigenen Angaben arbeitete er als Küchenhilfe bei den Taliban in Afghanistan und gab selbst nie einen Schuss aus einer Waffe ab. Richter Richard Leon entschied jedoch, Al Bihani habe dennoch die Taliban unterstützt. Schon Napoleon habe schließlich gesagt, dass jede Armee auf ihrem Magen marschiere. Die Entscheidung der US-Regierung, ihn als feindlichen Kämpfer einzustufen, sei daher gerechtfertigt.

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Leuchtschrift für Brandt

Erfurt - Erfurt bekommt ein Willy-Brandt-Denkmal. Der Bauantrag für die Leuchtschrift "Willy Brandt am Fenster" auf dem Dach des ehemaligen Hotels Erfurter Hof sei genehmigt worden, bestätigte am Dienstag eine Sprecherin der Stadt . Die Buchstaben sollen in den kommenden drei Monaten hergestellt und montiert werden, sagte der Berliner Künstler David Mannstein. "Ich glaube jedoch nicht, dass wir eine Übergabe an dem historischen Termin 19. März schaffen." Mit dem Denkmal an dem Gebäude, das mittlerweile ein Geschäftshaus ist, will Erfurt an das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen von 1970 erinnern, als sich der damalige Bundeskanzler Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph traf. Begeisterte Menschen stürmten damals vor den Augen der Staatssicherheit den Bahnhofsvorplatz, um Brandt zu sehen, der sich daraufhin kurz am Fenster des Erfurter Hofs zeigte. ddp/dpa

Der damalige Kanzler Willy Brandt besuchte 1970 Erfurt. Archivfoto: Simon

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Kunstverkauf

Brandeis University vor rechtlichen Problemen

Ganz so einfach wird die Brandeis University den Plan nicht umsetzen können, ihr Kunstmuseum zu schließen und die Sammlung zu verkaufen, um ihre Finanzen zu sanieren. Seit die Universität das Vorhaben am Montag angekündigt hat, brandet ihr nicht nur ein donnernder Proteststurm entgegen. Auch eine Fülle rechtlicher Problem erwartet sie. Kunsthistoriker Robert Storr meint, der Verkauf könne einen "schlimmen Präzedenzfall schaffen." Auch wirtschaftlich sei er unsinnig: "Es ist der schlechteste Moment, Kunst zu verkaufen." David Alan Robertson vom Verband der Universitätsmuseen erklärte: "Das wird die Schleusentore öffnen. Es schadet allen unseren Institutionen." Jasper Johns, selbst mit einem Gemälde in der Sammlung vertreten, sagte: "Ich finde es erstaunlich. So etwas habe ich noch nicht gehört." Bevor die Universität die Sammlung abstoßen kann, erwartet sie eine Flut von Prozessen. Gemeinnützige Institutionen wie die Universität sind beim Verkauf ihres Besitzes an strikte Auflagen gebunden. Noch schwieriger wird es bei Schenkungen, vor allem wenn bestimmte Klauseln ausgehandelt wurden. Die Staatsanwaltschaft von Massachusetts hat angekündigt, das nun für jedes einzelne Werk zu prüfen. Jonathan Novak, ein Kunsthändler aus Los Angeles, der dem Museum viele Werke geschenkt hat, meinte: "Hätte ich gewusst, dass sie diese Sachen eines Tages verkaufen würden, ich hätte sie ihnen nie gegeben." jhl

Brandeis University Massachusetts Museen in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Staunen über Kissins Kunst

Immer noch auf der Suche: Der russische Pianist entwaffnet und irritiert mit Prokofjew und Chopin in der Münchner Philharmonie

Die technische, die manuelle Sicherheit dieses weltweit gefeierten russischen Star-Pianisten hat etwas Entwaffnendes. Manche vertrackten Chopin-Passagen, bei denen bereits die berühmtesten Flügelmänner patzten, legt er derart unangefochten selbstverständlich hin, als ob Einstein sich belustigte, das kleine Einmaleins aufzusagen.

Was freilich die Gestaltung großer, bedeutungstiefer Werke angeht, so scheint Jewgenij Kissin immer noch - und das muss wahrlich kein Nachteil sein - auf der Suche. Für's Träumerisch-Leise, Verdämmernde findet er herzbewegend schöne, vollkommen authentische Töne. Mit dem großen Schwung aber, mit männlich klar und unforciert gegliederten Stellen indessen hat er manchmal noch Probleme. Das lehrte vor ein paar Jahren seine Interpretation der Beethovenschen Klavierkonzerte. Und das ließ sich auch in seinem Münchner Prokofjew-Chopin-Abend am vergangenen Mittwoch nicht ganz überhören. Erstaunlicherweise wirkte dieser genialische Künstler musikalisch-interpretatorisch am überzeugendsten als er, nachdem er in Moskau als Wunderkind begonnen hatte, einst 18jährig hier in München so delikat und aufregend artikulierte, wie eine Mischung aus jungem Rubinstein und jungem Arrau . . .

Der vorgestrige Auftritt, der Münchens Klavier-Freaks in überfüllter Gasteig-Philharmonie mit einem Künstler von nach wie vor genialischen Fähigkeiten konfrontierte, zerfiel ein wenig. Und zwar in zwei recht ungleiche Teile: am Anfang durchaus effektbedacht, die achte Klaviersonate sowie drei Stücke aus der "Romeo und Julia"-Ballett-Suite von Sergei Prokofjew. Nach der Pause eine Gruppe von 12 Chopin-Nummern, die mit Ausnahme der "Polonaise-Fantasie" kurz waren. Mazurkas, Etüden. Es fehlte da doch das gewichtige Hauptwerk: eine Sonate, Ballade etwa oder die f-Moll-Fantasie.

Dem Publikum mag die Bravour, mit welcher Kissin Prokofjew besiegte, durchaus imponiert haben. Trotzdem legte sich der Eindruck nahe, dass die melodiöse, zugleich etwas aufgedonnerte Kunst Prokofjews mittlerweile doch ein wenig gealtert ist. In den Fünfziger oder Sechziger Jahren, als Svjatoslav Richter und Gilels diese riesige achte Sonate meisterten, wirkte sie wie fabelhaft erregende, russisch-zeitgenössische Musik. Heute erscheint manches gestrig, sehr forciert. Russische Seele, die manchmal zur Red-Seele tendiert.

Ob Kissin das alles unbewusst oder bewusst spürte, lässt sich nicht entscheiden. Immerhin neigte er im ersten Satz der Prokofjew-Sonate - einem melodischen Andante dolce - doch auffällig zu unmäßigem Über-Nuancieren. Er mystifizierte ein quasi-natürliches Andante zum hochempfindsamen Adagio, raubte der Musik ausdruckssüchtig alle Verhaltenheit. Dafür spielte er die raschen Verläufe rückhaltlos wild, ohne jene Bändigung, wie sie seinen großen russischen Vorgängern da notwendig schien. Die "Romeo und Julia"-Stücke pointierte Kissin glänzend. Doch dass es sich um Ballett-Musik handelt, um hübsche Orchester-Nummern, die in Prokofjews Klavier-Fassung viel von ihrer Originalität verlieren, war offenkundig. Man wurde einmal mehr daran erinnert, wie sehr sich im Lauf der vergangenen Jahrzehnte der tiefsinnige Schostakowitsch vor den ehedem überlegen scheinenden Prokofjew geschoben hat . . .

Die Entscheidung über den interpretatorischen Rang des Konzertes fiel also nach der Pause, bei Chopin. Mit einem gewichtigen Spätwerk, der Polonaise-Fantasie Op. 61, begann Kissin. Chopin gibt hier keine Polonaise mehr, sondern er meditiert über den charakteristischen Rhythmus. Man erlebt das träumerische Erwachen und Versickern des ritterlichen Polonaise-Stolzes. Doch nun schien es, als ob Kissin, allzu sensibel für Zartes, Verwehendes, der Fantasie ihre Dialektik raubte. Wo sie sich stolz doch zur Idee des polnischen Tanzes bekennt, gibt Kissin zu wenig schwungvollen Nachdruck, zu wenig Artikulation. Gewiss haftet dem strahlenden Sich-Aufbäumen des todkranken Komponisten auch etwas Überhitztes an - nur muss das eben gleichfalls herauskommen! Vor dem Schluss-Accellerando gibt Chopin 14 hinreißende "sempre fortissimo"-Takte: eine herbe, krönende melodische Steigerung. Es ist der gewaltige Affekt-Höhepunkt des ganzen Werkes. Kissin hebt es nicht als majestätisches Ereignis heraus, wie es die großen alten Chopin-Spieler alle ganz selbstverständlich taten. Stattdessen findet nur ein manuell virtuos gemeisterter Abschluss statt.

In den Mazurken war dann die lyrische Sensibilität des Künstlers zu bestaunen, etwa in der vielgespielten cis-Moll Mazurka Op. 30, 4. Aber auch da schien Kissin weit mehr die abgeblendete Melancholie des Hauptthemas zu interessieren als der "con anima" Schwung aus Eigensinn und Stolz während des zweiten Themas.

Alles das könnte den Schluss nahelegen, es gehe Kissin mittlerweile doch hauptsächlich um jene träumerischen Zartheiten, die er unvergleichlich beherrscht. Doch einem solchen Fazit widerspräche die Auswahl jener acht Etüden aus Opus 10 und Opus 25, mit denen Kissin schloss. Da wählte er nämlich durchaus die schwersten, dramatischsten, manchmal an der Grenze zur Unspielbarkeit verharrenden Stücke. In der grausam heiklen a-Moll Etüde Op. 10, 2, wo dem Ringfinger und dem kleinen Finger Fürchterliches zugemutet wird, entdeckte er zarten, balladesken Zauber. Chopin verlangt da mehrfach "sempre legato", weil er jenes klirrende spitze Non-Legato, in welches sich die meisten Pianisten flüchten, unbedingt vermeiden möchte. Kissin zeigte, dass er die Mittel besitzt, eine solche Forderung sinnvoll zu erfüllen. Die Presto-Etüde Op. 10, 4 spielte Kissin so wild und stürmisch, wie es selbst Rubinstein nicht besser konnte. Und am allerschönsten gelang der "Più lento"-Mittelteil der e-Moll-Etüde Op. 25, 5. Da zauberte Kissin. Während er leider am Schluss, in der "Großen Sturm"-Etüde, nur brillierte. - So brachte er ein begeistertes Publikum mit seiner Kunst zum Staunen, auch zu heftigen Ovationen. Wer weiß, wohin ihn sein Weg noch führt. JOACHIM KAISER

Genialische Fähigkeiten: der russische Pianist Jewgenij Kissin Foto: Obs, dpa

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Schäfer-Gümbel gewählt

Frankfurt - Die neue SPD-Fraktion im hessischen Landtag hat Thorsten Schäfer-Gümbel einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat für die Landtagswahl vor eineinhalb Wochen erhielt in der Fraktionssitzung am Dienstag die Stimmen aller 28 anwesenden Abgeordneten; eine Abgeordnete war krank und fehlte. Schäfer-Gümbel tritt damit die Nachfolge Andrea Ypsilantis an. Sie war am Wahlabend als Landes- sowie Fraktionsvorsitzende zurückgetreten und hatte angekündigt, Schäfer-Gümbel den SPD-Gremien für beide Spitzenpositionen vorzuschlagen. Zum SPD-Landeschef soll Schäfer-Gümbel Ende Februar gewählt werden. Während die Hessen-CDU ihn als "Teil des Systems Ypsilanti" bezeichnete, gratulierte FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn zur Wahl und wünschte "insbesondere Kraft und Gesundheit". hick

Frankfurt

- Die neue SPD-Fraktion im hessischen Landtag hat Thorsten Schäfer-Gümbel einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat für die Landtagswahl vor eineinhalb Wochen erhielt in der Fraktionssitzung am Dienstag die Stimmen aller 28 anwesenden Abgeordneten; eine Abgeordnete war krank und fehlte. Schäfer-Gümbel tritt damit die Nachfolge Andrea Ypsilantis an. Sie war am Wahlabend als Landes- sowie Fraktionsvorsitzende zurückgetreten und hatte angekündigt, Schäfer-Gümbel den SPD-Gremien für beide Spitzenpositionen vorzuschlagen. Zum SPD-Landeschef soll Schäfer-Gümbel Ende Februar gewählt werden. Während die Hessen-CDU ihn als "Teil des Systems Ypsilanti" bezeichnete, gratulierte FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn zur Wahl und wünschte "insbesondere Kraft und Gesundheit".

Schäfer-Gümbel, Thorsten SPD-Landesverband Hessen: Führungskraft SPD-Landesverband Hessen: Nachfolge SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Umweltgesetz scheitert

Berlin - Das geplante Umweltgesetzbuch ist nach Auffassung von SPD-Fraktionschef Peter Struck so gut wie gescheitert. "CSU und CDU sind nicht bereit. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel kann sich nicht durchsetzen", sagte Struck am Dienstag in Berlin. Das Umweltgesetzbuch hatte breite Zustimmung auch in der Opposition gefunden. Es sollte Genehmigungsprozesse bundesweit vereinheitlichen und vereinfachen. Die CSU allerdings wollte es nicht mittragen. Am Montag war Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nach München gereist, um CSU-Chef Horst Seehofer umzustimmen. Sie gaben sich eine letzte Frist bis Ende der Woche.miba

Berlin

- Das geplante Umweltgesetzbuch ist nach Auffassung von SPD-Fraktionschef Peter Struck so gut wie gescheitert. "CSU und CDU sind nicht bereit. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel kann sich nicht durchsetzen", sagte Struck am Dienstag in Berlin. Das Umweltgesetzbuch hatte breite Zustimmung auch in der Opposition gefunden. Es sollte Genehmigungsprozesse bundesweit vereinheitlichen und vereinfachen. Die CSU allerdings wollte es nicht mittragen. Am Montag war Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) nach München gereist, um CSU-Chef Horst Seehofer umzustimmen. Sie gaben sich eine letzte Frist bis Ende der Woche.

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Lulas Spagat

Brasiliens Präsident ist beim Weltsozialforum umstritten

Von Peter Burghardt

Buenos Aires - Nun versucht sich also auch Brasiliens Präsident wieder bei den Globalisierungszweiflern, für manche ist er da längst ein Fremder. 2001, als das Weltsozialforum als Antwort auf das Schweizer Weltwirtschaftsforum erfunden wurde, da gehörte Luiz Inácio Lula da Silva noch zu den führenden Aktivisten. Nachher machte er als Kämpfer gegen den Hunger den Spagat zwischen Porto Alegre und Davos, den Zentren von Widerstand und Luxus. In den vergangenen Jahren war Lula bei der Gegenveranstaltung dann gar nicht mehr vertreten, und ehemalige Mitstreiter wandten sich ab vom früheren Gewerkschaftsführer aus der Arbeiterpartei PT. Für sie ist der von der Mehrheit so umschwärmte Staatschef des aufstrebenden Riesenreiches zu sehr Freund der Märkte, ihr neuer Held heißt Hugo Chávez. Doch mit der Heimkehr des Alternativentreffens an brasilianische Ufer kommt auch Lula zurück.

Durchweg angenehm wird es nicht für ihn, das macht schon der Tagungsort. Nach Abstechern nach Nairobi, Mumbai, Caracas, Bamako und in andere Städte versammelt sich die Bewegung diesmal in Belém am Amazonas-Delta. Nicht zuletzt soll an dem großen Fluss auf die Zerstörung des wichtigsten Ökosystems der Erde und die Gefährdung seiner Menschen aufmerksam gemacht werden. Zum Start zogen nicht nur Zehntausende Demonstranten mit Sambatrommeln durch die Straßen der Hafenstadt - 1500 indigene Bewohner bildeten zur Begrüßung außerdem ein gewaltiges "SOS Amazonia", der Hilferuf wurde aus Hubschraubern fotografiert und war auch an Lula adressiert.

Aus allen Anrainerländern sind Ureinwohner nach Belém gepilgert, manche kamen aus abgelegenen Dörfern am Amazonas und selbst aus dem bolivianischen Hochland. Die Umwelt- und Ureinwohnerorganisation Amazonas Watch erinnerte daran, dass in den vergangenen vier Jahrzehnten fast ein Fünftel des Regenwaldes abgeholzt worden sei, jährlich zwischen 11 000 und 27 000 Quadratkilometer. Die Zerstörung werde zugunsten von Soja- und Rindfleischexporten wesentlich beschleunigt, erklärte Greenpeace auch bei dieser Gelegenheit. Sogar eine Art Autobahn durch den umfangreichsten Dschungel des Planeten plant die brasilianische Regierung, nachhaltiger Naturschutz ist Lula weniger wichtig als der Aufstieg seiner Nation zur Wirtschaftsmacht. Allerdings steht die geplagte Umwelt jetzt nicht mehr im Mittelpunkt dieses 9. Sozialforums, denn dazwischen kam die schlimmste Finanzkrise der Neuzeit.

Was tun, fragte Lenin. Was tun, fragen sich auch die unterschiedlichsten Kritiker in Belém. Wie immer ist es ein Sammelsurium an Meinungen, einig sind sich alle nur in der Gewissheit, dass es mit diesem Kapitalismus so nicht weitergehen kann. Die einen wünschen sich einen wie auch immer gearteten Sozialismus. Andere wie der Forum-Mitbegründer Oded Grajew regen einen "sozial verantwortlicheren Markt" und "eine Demokratie mit stärkerer Beteiligung" an. Verbrannte US-Fahnen werden anders als in der Bush-Ära nicht mehr gemeldet, auch gibt es viel weniger Parolen gegen das Imperium, Obama sei Dank. Doch fragen sich die Teilnehmer, wo denn all die Milliarden herkommen, mit denen ihre Politiker Banken und Konzerne retten wollen. Fehlt es nicht sonst am Geld für die Ärmsten?

Auch da ist Lula in der Zwickmühle, Brasiliens Einkommen sind trotz Fortschritten weiterhin am ungleichmäßigsten verteilt auf dem Globus. Er unterstützt einerseits Bedürftige mit Sozialprogrammen und stärkt jetzt andererseits mit massiven Interventionen das angeschlagene Finanzsystem. Diese und andere Themen wurden am Donnerstag mit Lula und den Kollegen Hugo Chávez aus Venezuela, Evo Morales aus Bolivien, Rafael Correa aus Ecuador und Fernando Lugo aus Paraguay diskutiert. Bei der Debatte zuvor mit der brasilianischen Landlosenvereinigung Sem Terra (MST), größte Sozialorganisation Brasiliens und einst Lulas Basis, war Brasiliens Präsident ausdrücklich nicht eingeladen.

Die geplagte Umwelt steht nicht mehr im Mittelpunkt - dazwischen kam die Finanzkrise

Bunte Teilnehmer: brasilianische Ureinwohner beim Forum der Globalisierungs-Kritiker in Belém. Foto: AP

Silva, Luis Inácio da (Lula) Wirtschaftspolitik in Brasilien Weltsozialforum Amazonas Natur und Umwelt in Brasilien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Merkel, Steinbrück & Co., Privatbankiers

Ökonomen streiten heftig darüber, ob und wie Finanzinstitute verstaatlicht werden sollen

Von Catherine Hoffmann

München - Kaum eine Woche vergeht ohne neue Rettungsmaßnahmen für Finanzhäuser, Milliarden-Dollar-Verluste und abstürzende Aktienkurse. Die Banken sitzen auf Bergen von verdorbenen Papieren und gammeligen Kreditforderungen, von denen viele wohl auf der Müllkippe landen werden. Sinkt der Wert der Papiere, sind die Banken zu Abschreibungen gezwungen, die Verluste schnellen in die Höhe. Die Finanzkrise trifft die großen Privatbanken mit voller Wucht: Die Deutsche Bank enttäuschte mit einem Quartalsverlust von 4,8 Milliarden Euro, bei der amerikanischen Citigroup waren es 8,3 Milliarden Dollar, und in Großbritannien schockierte die Royal Bank of Scotland (RBS) mit einem Jahresverlust von 28 Milliarden Pfund - dem größten der britischen Firmenhistorie.

Es wird immer deutlicher: Die bisherigen Nothilfen haben die Abwärtsspirale nicht gestoppt, es wird sogar noch schlimmer. Wären Banken eine ganz gewöhnliche, profitorientierte Industrie, die allein den Gesetzen des Marktes gehorcht, müsste man zur Not auch Bankenpleiten zulassen. Weil das aber völlig inakzeptabel ist, bleibt den Politikern nur die Frage, welches die nächste Rettungsmaßnahme ist. Soll der Staat die Banken weiter mit Kapital versorgen? Soll er ihnen riskante Wertpapiere abkaufen und in eine Bad Bank auslagern? Oder soll er die Institute gleich verstaatlichen? Was vor 18 Monaten noch unvorstellbar war, ist heute Realität: Die RBS gehört zu 70 Prozent der britischen Regierung, der amerikanische Versicherer AIG ist zu 80 Prozent in Staatshand, Deutschland besitzt 25 Prozent an der Commerzbank. Und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück schließt nicht aus, die Eigentümer der Hypo Real Estate (HRE ) zu enteignen, um die Bank komplett verstaatlichen zu können.

Pro: Vertrauen kehrt zurück

Das Argument der Retter: Nach Lehman kann sich die Welt eine weitere Bankenpleite nicht leisten. Der Einsturz der Geldhäuser müsse um jeden Preis verhindert werden, weil sonst die Wirtschaft zusammenbricht. Aus diesem Grund haben alle Banken, ob öffentlich oder privat, eine Art Garantie des Staates. Diese Staatsgarantie ist nicht explizit - und doch bewahrt sie die Unternehmen vor dem Untergang. Genau hierin liegt auch das Problem: Die Banken nutzen diese Garantie aus. Sie gehen bedenkenlos hohe Risiken ein. Deshalb war die Branche jahrelang so profitabel, darum haben ihre Manager so viele Millionen verdient.

Aber die Banker haben es übertrieben und dabei ihren Auftrag aus den Augen verloren: Banken sind zuerst und vor allem ein Versorgungsbetrieb. Nur stellen Kreditinstitute eben nicht Strom, Schulunterricht oder Eisenbahnfahrten bereit, sondern Kapital für die Investoren und einen sicheren Hafen für das Geld der Sparer. Deshalb sind die Banken so wichtig für die Wirtschaft, deshalb werden sie so streng reguliert, wenn auch nicht streng genug, wie die Krise zeigt. Nun muss der Staat helfen, denn eine Bank ist kein normales Unternehmen wie jedes andere. Deshalb ist die Vergesellschaftung von Banken auch kein Tabu.

Noch schrecken viele Politiker, Aufseher und Notenbanker vor dem letzten Schritt zurück. Doch einige Ökonomen halten ihn für die einzige konsequente Lösung der Finanzkrise. Der Kapitalbedarf sei so groß, dass die völlige Verstaatlichung des Finanzsektors geboten sei. Selbst der frühere Chef der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, forderte in einem Interview mit der Zeit schon vor Monaten: "Man sollte angeschlagenen Banken keine Garantien geben, sondern sie verstaatlichen. Der Staat übernimmt die Institute, rekapitalisiert sie und kann sie danach wieder privatisieren."

Für eine solche Lösung hegen auch eine Reihe renommierter Volkswirte wie Willem Buiter, Nouriel Roubini und Paul Krugman Sympathie. Ihr Argument: Wenn der Staat nur die faulen Kredite aufkauft, ist das nichts anderes als eine enorme Subvention für die Banken. Der Staat gibt hunderte von Milliarden Euro und Dollar aus, ein gewaltiges Geschenk für die Aktionäre, und ermuntert die Bankmanager damit, künftig genauso riskant und unvernünftig zu arbeiten wie in der Vergangenheit. Da solle er besser gleich die Banken kaufen - und zwar zwangsweise und ohne Ausnahme -, die Aktionäre enteignen, die Banken reparieren und anschließend zu Geld machen. Devise: Geld gegen Aktien. Das sei teuer, aber nicht unbezahlbar. Nach groben Schätzungen würde eine solche Lösung den Steuerzahler am Ende zwischen zehn und 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten. So könne der Staat wenigstens durchregieren, das bestehende Management feuern, Gehälter stutzen, riskante Positionen abbauen und allzu gewagte neue Geschäfte unterbinden.

Verstaatlichung sei der einfachste Weg, die Bilanzen zu säubern. Der Staat könne alle zweifelhaften Wertpapiere und Kreditforderungen der verstaatlichten Banken in eine neue Bad Bank transferieren. Der Aufkauf der faulen Papiere durch die Bad Bank würde durch einen staatlichen Kredit finanziert. Der Staat als einziger Eigentümer der schlechten Bank, kann die Papiere dann ganz nach Wunsch und Möglichkeit verwerten, er arbeitet praktisch wie ein Hedgefonds.

Der Vorteil: Die neuen Banken im öffentlichen Eigentum sind sauber. Sie können, nachdem sie mit genug frischem Kapital versorgt wurden, ihre Aufgabe, Kredite zu vergeben und Spareinlagen sicher zu verwahren, wieder erfüllen. Und später, wenn die Krise endlich ausgestanden ist, kann der Staat seine Banken wieder privatisieren und unter neuen, besseren Regeln arbeiten lassen. Die Steuerzahler würden also nicht nur (wie bislang) die schlechten Risiken tragen, sie (und nicht Aktionäre) würden von allen Chancen profitieren, die eine Gesundung von Banken und Wirtschaft mit sich bringt. Stärkstes Argument der Befürworter: Nur eine Verstaatlichung gibt den maroden Banken ihre Kreditwürdigkeit zurück. Wenn einer in diesen Tagen noch als sicher gilt, dann doch der Staat.

Contra: Mauschelei droht

Trotz der prominenten Befürworter, überwiegt die Skepsis gegenüber einer Verstaatlichung. Ordnungspolitisch gilt sie schlicht als Unding. Eine Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn man auch marktwirtschaftliche Regeln zulässt. Das bedeutet, dass Unternehmer die Früchte ihrer Arbeit ernten dürfen, die Verluste ihrer Fehlentscheidungen aber tragen müssen. Das System wird in dem Moment ausgehebelt, in dem sich der Manager aus der Verantwortung stehlen kann. Und das ist bereits mit den staatlichen Garantien, Kapitalspritzen und Rettungsschirmen geschehen. Bestraft werden dagegen jene Banken, die das Richtige getan und vorsichtig operiert haben. Sie müssen jetzt ohne staatliche Subventionen klarkommen - und haben im Wettbewerb das Nachsehen. Aber ein Sündenfall - das erste staatliche Rettungspaket - rechtfertigt ja nicht den nächsten, die Verstaatlichung.

Zudem hat der Staat keine Erfahrungen als Banker, und dort, wo er als Eigentümer mit an Bord ist, wie bei den Landesbanken, hat er sich blamiert. Die Landesbanken hat die Krise mindestens so hart getroffen wie private Institute. Das allein zeigt schon: Der Staat hat nicht die Kompetenz, Banken zu führen. Die Gefahr ist groß, dass mit den Banken und ihrem Kreditgeschäft Politik gemacht, Wählerinteressen bedient werden und Lobbyisten Einfluss gewinnen. Und schließlich: Selbst, wenn all diese Hürden genommen werden, wird eine spätere Privatisierung hundertprozentiger Staatsbanken nicht einfach sein. Es sei nur daran erinnert, wie mühsam es für den Staat war, sich von Anteilen an ehemaligen Staatsbetrieben wie der Deutschen Telekom zu trennen, wie schwierig der Börsengang der Deutschen Bahn ist.

Wie der Streit um viel, wenig oder gar keine Verstaatlichung auch ausgeht - eines ist klar: Der Steuerzahler wird für die Banken kräftig bluten müssen.

Bundesadler: Hat er bald die Banken unter seinen Fittichen? Foto: AP

Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - Verstaatlichung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neues Studium an der Pleite-Uni

Von Martin Groß

Die Betriebswirtschaftslehre (BWL) in Deutschland steht vor einer Revolution. Im Studium sollen bundesweit gleich zwei neue Pflichtfächer eingeführt

werden: "Bad Banking" und "Pleite machen - und dann einfach irgendwo Fördergeld beantragen". So können Zehntausende BWL-Nachwuchskräfte doch noch auf unerwartete Karrierechancen hoffen, dem üblichen Krisengerede zum Trotz.

Die Privat-Universität Witten-Herdecke, vor einigen Wochen selbst mit Staatsgeld vor dem Untergang bewahrt, soll die beiden neuen Fächer im Auftrag der Kultusministerkonferenz entwickeln. "Wir verfügen bekanntlich über hinreichende Erfahrung im Umgang mit diesen neuen, toxischen Marktkräften", sagt Linus von Bickenfeldt, 24, BWL-Studentensprecher in Witten. Mit traurigem Blick erinnert er sich an das monatelange Drama um das Weiterbestehen seiner Uni. "Es war eine schlimme Zeit, jeder hier musste sich Sorgen um seinen Zweitwagen machen."

Beim Gedanken an die Zukunft hellt sich von Bickenfeldts Gesicht schnell wieder auf. "Vor allem freuen wir uns, dass wir das Lernmodul ,Bad Banking' ganz eigenverantwortlich entwickeln dürfen." Die aktuelle Diskussion um das Thema Bad Bank werde von

wenig Wissen und viel Hektik beherrscht. "Der Staat ist doch mit der Entwicklung einer Bad Bank total

überfordert. Bad Banking sollte von vornherein aus privatwirtschaftlicher Perspektive, also unserer, gesehen werden. Der Staat hat sich da rauszuhalten", sagt er. Seine Uni werde demnächst die Best-Practice-Bad-Bank der Zukunft vorstellen.

Beratung in der Toxic Lounge

Ein Wettbewerb unter den Studenten - von Bickenfeldt: "Bei uns geht gar nichts ohne Wettbewerb" - soll die beste Bad Bank ermitteln. "Wir haben den Wettbewerb auch schon richtig getauft: ,Bad Bank - Billing the Future'. Was so viel heißt wie: Rechnungen der Zukunft." Die studentischen Arbeitsgruppen befassen sich zum Beispiel mit der Frage, wie das Filialnetz einer Bad Bank aussehen könnte. "Und wie soll so eine Bad-Bank-Filiale ausgestattet sein? Wie sollen die Beratungsräume, die wir im Moment Toxic Lounges nennen, aussehen? Holzvertäfelung, Marmor, Chrom, Gemälde, Porzellansammlungen oder doch lieber der schlanke Look, alles nur Resopal und Billigfurnier?", fragt von Bickenfeldt.

Nicht nur in Fragen der Einrichtung erhoffen sich die Studenten Anregungen von Heinz Halde, ehemaliges Vorstandsmitglied der Notenbank der DDR. "War ganz schön schwierig, den zu finden", sagt von Bickenfeldt, und dann lächelt er ein bisschen, als er weiter erzählt. "Wir haben ihn als Verkäufer in einem Baumarkt in Frankfurt/Oder ausfindig gemacht. Wir mussten auslosen, wer ihn von da abholt. Aber wir sind sehr froh, dass wir Halde als erfahrenen DDR-Banker gewonnen haben. Er ist ein wichtiger Berater für unser Projekt. Die DDR-Notenbank war schließlich mal die beste Bad Bank der Welt."

Bild mit Symbolcharakter: Alte Flaschen türmen sich im Osthafen von Frankfurt. Dahinter die Hochhäuser des Bankenviertels. Foto: dpa

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Die Freiheit zum Schmock

Ein Buch über Romy Schneider vor dem Frankfurter Landgericht

Empathie heißt die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und Anteil zu nehmen an ihren Gedanken und Gefühlen. Unsere europäischen Nachbarn beklagen häufig, dass es den Deutschen an dieser Begabung mangeln würde. Ein Bedürfnis nach Empathie muss dennoch vorhanden sein, sonst gäbe es nicht so viele Ersatzschauplätze. Einer davon ist die Literatur. Wahre Urstände feiert da im Genre des Familienromans die grenzenlose Einfühlung in die für die Nachgeborenen sonst unerklärlichen Wege ihrer Vorgänger durch die Gründe und Abgründe des vergangenen Jahrhunderts. Den zweiten Schauplatz, auf dem die Luft noch etwas schwüler ist, liefern die Projektionsflächen eines verpoppten Starkults, der allen nur denkbaren Bedürfnissen Unterschlupf bietet. Aber wehe, wenn beide Schauplätze zusammenkommen. Dann werden Melodramen geschrieben.

Die von schmerzlichen Trennungen und tragischen Verlusten begleitete, im einsamen Herztod endende Lebensgeschichte der Romy Schneider ist dafür ein Paradebeispiel. Umso mehr, als die Gedenktage ihrer Geburt und ihres Todes alle fünf Jahre wieder direkt aufeinanderfolgen - der 25. Todestag wurde 2007 begangen, da schloss sich 2008 der 70. Geburtstag an. Einige Werke aus der begleitenden Bücherschwemme beschäftigen seither auch die Justiz. Der Roman, der am Donnerstag vor dem Landgericht Frankfurt verhandelt wurde, heißt "Ende einer Nacht" und trägt den Untertitel "Die letzten Stunden von Romy Schneider". Er stammt aus der Feder des 1959 geborenen Münchner Film- und Buchautors Olaf Kraemer, Verfasser auch der Uschi Obermaier-Biografie "High Times - Mein wildes Leben".

Wie ein Verliebter steigt da ein Mann mit den Mitteln der Fiktion - andere stehen ihm nicht zur Verfügung - seinem verlorenen weiblichen Objekt hinterher und versucht, in das Innere einer Frau zu schauen: "But where do you go to my lovely, when you're alone in your bed . . .", heißt das alte Lied. Ob das gelungen ist, ob die literarischen Mittel - ein in der dritten Person gehaltener innerer Monolog der Protagonistin - adäquat sind, ob die Fiktion dem vorhandenen Wissen eine neue Erkenntnis hinzufügt, ist eher zweifelhaft, geht aber die Gerichte nichts an.

Geschwärzte Passagen

Es war Horst Fehlhaber, der verwitwete dritte Ehemann von Romys 1996 verstorbener Mutter Magda, einer ebenfalls legendären Schauspielerin, der im vergangenen Herbst Strafanzeige gegen das im Münchner Blumenbar Verlag erschienene Buch gestellt und eine einstweilige Verfügung erwirkt hat. Seither darf der Verlag, der Widerspruch gegen die Verfügung angemeldet hat, das Buch nur in einer durch Aufkleber zur "Collector's Edition" erklärten Fassung mit sieben - auch optisch nicht ganz reizlosen - geschwärzten Passagen vertreiben. Die inkriminierten Stellen beziehen sich allesamt auf Vorwürfe seitens der Protagonistin gegenüber ihrer Mutter zu deren vermeintlichen Verstrickungen in das Nazi-Regime.

"Meine Mutter hatte eine Affäre mit Adolf Hitler!" - so eröffnet die Romy des Kraemer-Romans den Familien-Plot. Es handelt sich dabei um ein Zitat, das vor zwei Jahrzehnten von Alice Schwarzer aufgezeichnet wurde, eine Aussage, die man am besten metaphorisch versteht, oder aber, zumal aus dem Munde einer Wahlpariserin, ganz wörtlich französisch im Sinne von "Geschäften", denn in puncto Engagements und Gagen war Magda Schneider, der Star vieler Durchhaltefilme der NS-Zeit, bestens bedient worden.

Engere Verbindungen Magdas mit dem Regime sind - anders als im Falle von Romys Vater Wolf Albach-Retty, der ein strammer Nazi war - keine bekannt. Als belastend kann höchstens interpretiert werden, dass ein Besuch Magdas auf dem Obersalzberg im Jahr 1941 filmisch dokumentiert ist, ferner dass von Hitler Äußerungen überliefert oder kolportiert sind, wonach er anno 1930 ein glühender Verehrer der damaligen Soubrette des Münchner Theaters am Gärtnerplatz gewesen sei. Ansonsten hatte Magda Schneider, wie die meisten Deutschen, ihren alltäglichen opportunistischen Frieden mit dem System geschlossen.

Aber was für ein Stoff, um Romy Schneider in der ihr so verhassten Rolle der ewigen Sissi geradezu in Geiselhaft zu halten: Aufgewachsen als Prominentenmädel auf dem Landgut Mariengrund am Königssee in Sichtweite von Hitlers Berghof, lastet der lange Schatten von Deutschlands Nazi-Vergangenheit auch noch auf der Seele der nach Frankreich Ausgewanderten und verfolgt sie bis in die Nacht ihres Todes. Im eitlen Bestreben, auch noch diesen einsamen Tod zu ergründen, weiß sich Autor Olaf Kraemer mit einem voyeuristischen Publikum einig, das die Schauspielerin schon zu Lebzeiten vampirisierte. Wenigstens die letzten Stunden hätte man Romy Schneider in ihrem alleinigen Besitz lassen sollen.

In Frankfurt sollte es am Donnerstag um ein juristisches Abwägen postmortaler Persönlichkeitsrechte mit dem Kunstanspruch des Romans gehen. Doch wo viel Kunst in Anspruch genommen wird, entsteht oft genug - Schmock. Diese Trennungslinie sollte der gute Geschmack gebieten, nicht aber die Justiz. Das Gericht forderte die Parteien dazu auf, sich gütlich zu einigen. Sollte das nicht gelingen, wird am 13. Februar das Urteil verkündet. VOLKER BREIDECKER

Schneider, Romy: Biographie Persönlichkeitsrechte SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Feuerkopf Senior

Zum Tod des großen Juristen Werner Flume im 101. Lebensjahr

Es gibt einen Traum, den viele ordentliche Universitätsprofessoren träumen. Sie träumen davon, nicht nur Fachbücher und Fachaufsätze zu schreiben, sondern Zeitungsartikel. Sie wollen, weil sie so viel wissen, ihr Wissen nicht nur der Fachwelt vorsetzen, sondern der ganzen Welt. Dafür eignet sich die Zeitung gut. Aber dort sitzen Journalisten, die an der professoralen Darstellungsweise herummäkeln und wiederum von sich selbst glauben, dass sie alles noch viel besser wissen als die Professoren.

Der einzige deutsche Ordinarius, der in einer Zeitung schreiben konnte wann immer er wollte (und er wollte oft), war Werner Flume - Professor für Römisches Recht, Bürgerliches Recht, Steuerrecht und Rechtsgeschichte, von 1949 bis 1953 in Göttingen, dann in Bonn. Er war ein Großmeister seines Faches, ein juristischer Entdecker, ein klassischer Liberaler, ein Feuerkopf - und das nicht nur, wenn er seine legendären Vorlesungen hielt. Die 68er Jurastudenten mochte er nicht und sie ihn auch nicht, aber weder sie noch die nachfolgenden Semester kamen ohne Flume aus, wenn sie selbständiges juristisches Denken lernen wollten.

Werner Flume hat die Kraft des römischen Rechts wieder entdeckt, aus dessen Geist das Zivilrecht interpretiert und das Steuerrecht systematisiert. Sein dreibändiges Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechts ist ein Klassiker, der Band "Das Rechtsgeschäft" stammt zwar von 1965, ist aber immer noch eine juristische Denkschule sondersgleichen. Wer die juristische Kraft der "anderen Meinung" kennenlernen will, der lese dieses Buch. Flume war der Meister der "anderen Meinung", also der juristischen Positionen, die von den Urteilen der Gerichte abweichen. In vielen Fragen, in denen er lange Zeit (nur von den Juristen der Anfängersemester belächelt) Minderheitsmeinungen vertrat, hat er sich durchgesetzt - oft erst, als er schon lange im Ruhestand war.

Aber mit diesen wunderbaren Gaben ist noch nicht erklärt, warum Werner Flume jahrzehntelang jederzeit in einer Tageszeitung schreiben durfte. Seine Zeitung war das Handelsblatt, er hat dieses Blatt geprägt - mindestens so, wie heute Helmut Schmidt die Wochenzeitung Die Zeit prägt. Das kam so: Flume brach 1932/33 seine wissenschafltiche Laufbahn ab, wurde Syndikusanwalt und der juristische Berater und Freund von Friedrich Vogel, dem späteren Verleger des Handelsblattes. Er bestimmte, so hieß es dort zum hundertsten Geburtstags Flumes, "weitgehend den Charakter der Zeitung". Flume war nicht nur der Souffleur des Verlegers, sondern auch respektierter Zensor der Zeitung.

Hans Mundorf, bis 1994 Handelsblatt-Chefredakteur, erinnert sich an ein Erlebnis als junger Redakteur, als er einen eher populistischen Leitartikel zur Steuerreform geschrieben hatte. Am Erscheinungstag klingelte das Telefon: "Hier Flume! Getretener Quark wird breit, nicht stark! Guten Tag!"

Werner Flume ist am Mittwoch in Bonn gestorben, wenige Monate nach seinem hundertsten Geburtstag.

HERIBERT PRANTL

Flume, Werner SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Regen, Tränen, Körpersäfte

Musik zur Stimulanz desorientierter Einzelner: Zum Debüt der hochgehandelten schottischen Band "Glasvegas"

Es ist feucht im Norden. Dauernd regnet es, da sind sich alle einschlägigen Quellen einig. Von "hohem Land" und "harten Regen" sangen schon Aztec Camera in den gloriosen Gründungstagen einer eigenständigen schottischen Pop-Musik um 1980. Ihre noch berühmteren Nachfahren, The Jesus And Mary Chain, wussten von "neun Millionen Regentagen" zu klagen, besangen den, naturgemäß überfeuchten "Aprilhimmel" und bekannten schließlich, sie seien "glücklich, wenn es regnet". Glasvegas, neuestes als dezidiert schottisch vermarktetes Produkt einer immer verzweifelter auf lokale, unbeliebige, unglobale Attribute fixierten Pop-Musik-Kultur, reiht sich gerne in diese nassen Narrationen ein. Auch bei ihnen fließt, glitscht, flutscht und schluchzt es ohne Ende. Regen, Tränen, Körpersäfte.

Eine Besonderheit nicht nur der schottischen, sondern generell jeder nordbritischen Pop-Musik der letzten - mindestens - 30 Jahre, ist die große Nähe zwischen den glamourösen, inszenierten Larger-than-life-Momenten einerseits und den gezielten Peinlichkeiten des Jungmännergewimmers andererseits. Macht man sonst Musik, um entweder größer zu scheinen als man ist oder um alles zuzugeben, versucht man im Norden immer Beides. Angeberei und schuldbewusstes Schluchzen gehen ebenso leicht in einander über wie andere, anderswo getrennte Bereiche des Lebens: der Kultus des pubertären Selbst vor Spiegeln und in Szenelokalen einerseits und bierselige Fußballverbrüderung mit den Lads andererseits. Im Namen der Band, von der hier die Rede ist, erscheint diese spezifische Entdifferenzierung des Pop-Schottentums zum Logo komprimiert.

Glasvegas soll Glasgow, die nasse Metropole mit Las Vegas, der glitzernden Bühnenstadt zusammenzwingen. Eine hübsche Idee: Man denkt zugleich an gläserne Häuserfronten, in denen sich das heiter gespreizte Leben des Narziss spiegeln kann, wie an das tiefsaftige Feuchtgebiet, das die spanischsprachige Welt Vega nennt. Nur leider ist die Balance zwischen Glamour und Depro eindeutig zuungunsten der großen Geste verschoben, im besten Fall wird das Gequengel so aufgedreht und aufgeblasen, dass es von sich aus auf präpotenten Beinen stehen kann. Was gefällt. Häufiger richtet sich dieser Sound aber an Leute, die ihre Ausweglosigkeitsgefühlen ungestört genießen wollen, nicht damit angeben.

So grummelt es denn oft tiefgründelnd bis tieftraurig auf dem unbetitelten Debütalbum (Columbia/Sony, 2009). Meterdicke, obertonreiche Gitarrenschichten werden auf harmoniesatte Keyboardunterlagen gesattelt. Ein gezielt schleppender Rockbeat trabt erdenschwer und nicht zu schnell voran. Selten sind es mehr als zwei Akkorde, wir haben ja auch nur zwei Arme. Vorne ist Platz für warmes Wimmern, für heiße Tränen, Selbstmitleid und Erinnerungen an andere Flüssigkeiten, getrunkene etwa. Doch immer, wenn es zu pubertär wird, fängt dieser wohleingelegte Soundbraten ein bisschen zu funkeln an. Aber immer auch, wenn er zu sehr glitzert, geht das gequälte Gesinge wieder los.

Totales Gequengel

Man kann mit dem Material des schottisch-nordenglischen Rock verschiedene Dinge anstellen: zwei von dreien sind erlaubt. Man darf etwa exzentrisch werden - wie Morrissey. Die emotionale Durchlässigkeit aller Lebensbereiche, der Weg von der strahlendsten Geste und der wächsernsten Maske zum verheultesten Gesicht ist jederzeit möglich. Was für eine Dynamik! Aber diese Durchlässigkeit ist nicht Genre, sie ist vielmehr ein Attribut meiner auserlesenen Persönlichkeit. Nicht jedem ist dies gegeben.

Oder man kann analytisch damit umgehen wie die sensationellen The Jesus And Mary Chain, als sie alle Bestandteile dieses Emo-Quirls zergliederten und einzeln ausstellten: böses Feedback, einfachste Country-Pop-Melodien, nebelhafte Drogenlyrik, eindeutige Slogans, sensationell aggressive Bühnenshows - jedes Element für sich. Beide Techniken haben sich als nie versiegender Quell ebenso selbstreflexiver wie erschütternder Pop-Musik erwiesen. Was man aber nicht darf, ist das Gequengel total werden lassen: die wimmernde, unsicher im Beat vor und zurückwippende Sentimentalitätssuada den Laden übernehmen lassen. Dem sind Glasvegas bei mindestens sechs von zehn Tracks gefährlich nahe.

Dabei orientieren sie sich an diesem Umstand: Pop-Musik entwickelt sich nicht nur nicht mehr, sie steht auch nicht still und sie wiederholt sich auch nicht einfach: Sie optimiert ihre Modelle. Es geht nicht einmal mehr um Revivals, sondern um die Arbeit an den längst nicht mehr als historisch verstandenen, ewigen Einheiten der Emotionsgestaltung. Ein gutes Jahrzehnt lang können wir uns jetzt schon Updates der goldenen britischen Jahre von Punk und Post-Punk anhören, in denen jedes Detail durchdachter und punktgenauer gebaut ist als in den Originalen - nur nicht mehr von einer auch nur annähernd vergleichbaren, sozialen Welt handelt. Aus Musik zu Verständigung zwischen prekären Existenzen ist eine Musik zur Stimulanz von desorientierten Einzelnen geworden. Optimierungslogik heißt also nicht mehr künstlerisch soziale Probleme in einer bestimmten historischen Lage lösen zu wollen, sondern einmal herumliegende Problemlösungen immer wieder und immer weiter hochzutunen.

Diese Optimierungslogik greift etwa auf die Fähigkeit zu starken, analytisch ausgebauten, emotionalen Kontrasten, die die erklärte Vorbild-Band The Jesus And Mary Chain entwickelt hat, zurück. So beginnt "Geraldine" zwar wie ein idealtypisch verregneter, reaktionärer Zwei-Akkord-Depro-Rocker, präzise schiebt sich die genremäßige Beatarchitektur drunter und der junge Mann beginnt nicht minder genretypisch zu klagen. In dieses akkurat gebaute Elend werden dann aber extrem kluge, helle Backing Vocals gesetzt, die nun aus einer Welt ohne Regen, aus einem Reich der chromblitzenden Theken, der Atomversuche und Wüstensonnenuntergänge zu kommen scheinen. Naive amerikanische Freiheitsversprechen brechen die geschlossene sentimentale Männlichkeit. Dieser Helligkeitseinbruch ist als Effekt ganz der scharfen Intelligenz der Reid-Brüder nachempfunden, denen wir eben jene The Jesus And Mary Chain verdankten. Doch die Optimierung hat die Ausgestelltheit der Mittel, den aggressiven Stolz auf die Smartness und den alles hinwegfegenden Auftritt der Vorbilder zugunsten eines knalligen Funktionalismus in die zweite Reihe gedrängt. Das Emo-Universum darf keine Risse kriegen. Es darf sich aufhellen, aber das Publikum will nicht mehr selber die "Mauern des Herzschmerzes niederreißen", wie es ein alter Soul-Klassiker formulierte. Es will den holistischen Emo-Film, ohne Unterbrechungen und V-Effekte. Dass bei aller Geschichtslosigkeit dann doch noch so viel Benennbares erkennbar ist, liegt bei Glasvegas zum einen daran, dass sie einen absoluten Allerweltsjungmännerock spielt, so dass einem eh alles bekannt vorkommt.

Stechende Signale

Zum anderen aber auch daran, dass ein prominenter Fürsprecher alles unternimmt, um sie in die glorioseren Kapitel der schottisch-nordenglischen Post-Punk-Geschichte nachträglich einzutragen, so hartnäckig bis sie ihm glauben und ein wenig nacheifern. Alan McGee, einem größeren Publikum als Oasis-Förderer bekannt, einem älteren aber als unermüdlicher, schon seit den frühen achtziger Jahren aktiver knarziger Lokalpatriot, ein Herbert Wehner verregneter Seelenzustände und ihrer Kneipenrockverarbeitung, ist der größte Fan von Glasvegas. Auch wenn er selbst mal als Sixties-Fan angefangen hat und sowohl seine Band Biff Bang Pow als auch sein Label Creation einer Zeit gewidmet waren, in der es um scharfe stechende Signale und grelle Farben, nicht um tränenverhangene Bierseligkeit ging, lässt er zur Zeit kein Mikro aus, um ihr Lob zu singen. Doch alle Argumente und starken Bilder, die er jetzt auffährt, wenn er die Band preist und mit Frontman James Allen gemeinsam vor die Presse tritt, stammen eben genau aus der Zeit als nordbritische Arbeiterkultur in erster Linie auf ihre Geschichte stolz war, nicht auf ihre Ethnizität und das schlechte Wetter.

DIEDRICH DIEDERICHSEN

Arbeit an den längst nicht mehr als historisch verstandenen, ewigen Einheiten der Emotionsgestaltung: "Glasvegas" Foto: Steve Gulick

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Ewig Zweite

Jelena Dementjewa scheitert auch bei ihrem 41. Versuch, ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen

Melbourne - Jelena Dementjewa ist eine beeindruckende Erscheinung. Nicht nur auf dem Tennisplatz. Vor ihrem Halbfinale gegen Serena Williams bei den Australian Open besuchte die 27-Jährige einen Streichelzoo. Bei der Gelegenheit tätschelte sie ein Kängurus. Dem Männchen hat das gefallen. Es sonderte umgehend eine deutliche Duftmarke Pheromone ab, wie Dementjewa an dem Geruch erkannte, der sie an "gewürzten Kaffee" erinnerte. Die Russin achtet auf die Wirkung, die sie macht. Nicht nur auf dem Tennisplatz. Sie ist die einzige Spielerin, die sich immer erst gewissenhaft die Haare föhnt und schminkt, bevor sie sich nach den Matches den Fragen der Presse stellt. Meist antwortet sie dann freundlich und milde. Meist. Die Tradition endete an diesem Donnerstag.

Als Dementjewa nach ihrem 3:6 und 4:6 gegen Serena Williams das kleine Theater betrat, in denen die Spieler in Melbourne über ihre Auftritte reden sollen, sah noch alles aus wie immer. Ihre Augen leuchteten, die langen Haare waren sauber zu einem Zopf gerafft. "Ohne das Dach", sagte Dementjewa, "hätten wir heute nicht überlebt." 44,3 Grad Außentemperatur - da kommen selbst Kängurus ins Schwitzen. Vielleicht war es die Hitze. Vielleicht war es die Enttäuschung. Auf jeden Fall überraschte Dementjewa gleich zu Beginn mit einer merkwürdigen Einschätzung: "Ich fand, es war ein gutes Match. Serena hat wirklich gut gespielt." Es klang harmlos, wie die Schilderung einer Begegnung im Kuschelzoo. Was umgehend kritische Fragen provozierte. Acht Doppelfehler, Frau Dementjewa, sind das nicht ein bisschen viele? Hat der große Druck Ihren Arm zittern lassen? War das Ihre schlechteste Leistung in diesem Jahr? Dementjewa war konsterniert. "Das war keine schlechte Leistung", insistierte sie. "Einen besonderen Druck habe ich nicht gespürt. Das war nicht das erste Turnier, vor dem ich zwei andere gewonnen hatte." Binnen weniger Sekunden stürzte die gefühlte Temperatur in dem kleinen Theater ins Frostige. Nach zehn Antworten war die Fragerunde vorbei. Dementjewa fliegt jetzt zum Fed Cup nach Moskau, in die Kälte. Vermutlich wird sie dort weit wärmer empfangen, als sie in Melbourne verabschiedet wurde.

Jelena Dementjewa ist ein gutes Beispiel dafür, was im Sport passiert, wenn jemand viel Talent mitbringt und viel erreicht, das ganz große Ziel aber doch immer wieder verfehlt. Erst wird er bestaunt und bewundert. Irgendwann kommt das Belächeltwerden dazu. Jelena Dementjewa ist eine großartige Tennisspielerin. Sie hat tolle Grundlinien-Schläge. Sie bewegt sich schnell und anmutig. Aber sie hat eine große Schwäche: Ihr Aufschlag ist ungefährlich und unzuverlässig. Würde sie den ersten Schlag besser beherrschen, hätte sie ihr ganz großes Ziel vermutlich schon erreicht. Im Jahr 2004 stand sie im Finale der French Open in Paris ihrer Landsfrau Anastasia Myschkina gegenüber. Sie verlor in zwei Sätzen. Das gleiche Resultat erlebte sie im gleichen Jahr bei den US Open gegen Swetlana Kusnezowa. Bei den Australian Open hätte sie nun zum dritten Mal in einem komplett russischen Finale auftreten können, denn im zweiten Halbfinale setzte sich Dinara Safina mit 6:3, 7:6 (4) gegen Wera Swonarewa durch.

Dementjewa spielt seit elf Jahren professionell Tennis. Diese Australian Open waren das 41. Grand-Slam-Turnier, an dem sie teilnahm. Mehr Anläufe für einen Grand-Slam-Titel hat bislang erst eine Grand-Slam-Siegerin gebraucht: Jana Novotna war 29, als sie in Wimbledon ihre erste große Trophäe bekam. Vier Jahre zuvor hatte sie sich dort nach einem verlorenen Finale gegen Steffi Graf weinend in die Arme der Herzogin gestürzt. "Die ewige Zweite" - so wurde Novotna genannt. Den Ruf hat auch Dementjewa. Im vergangenen Jahr hat sie bei den Olympischen Spielen in Peking Gold gewonnen. Die erste Frage, die sie nach dem Triumph gestellt bekam: "Frau Dementjewa, warum wechselt die Nummer eins im Frauentennis gerade so häufig?"

Natürlich ist es ungerecht, Jelena Dementjewa für all die Unzulänglichkeiten verantwortlich zu machen, die das Frauentennis zurzeit aufweist. Aber sie bietet eben viel Angriffsfläche: Seit fünf Jahren in der Weltspitze. Nie ganz oben. Dazu einen lächerlichen Aufschlag. Dagegen lässt sich schwer etwas setzen. In Melbourne hätte sich Jelena Dementjewa die Gelegenheit dazu geboten. Weil Jelena Jankovic früh ausgeschieden ist, geht es nicht nur um den Titel und viel Preisgeld. Bei den Frauen geht es auch darum, wer die Nummer eins der Rangliste wird. Dementjewa, die so oft schon die Nummer zwei war, hätte sich die Chance geboten aufzurücken. Ganz nach oben. Das wäre für sie eine Genugtuung gewesen. Williams hat sie ihr genommen. Nun können Safina oder sie die Nummer eins werden. Für die Amerikanerin wäre es das dritte Mal. René Hofmann

Chancenlos (II): Jelena Dementjewa, am Donnerstag von Serena Williams bezwungen, wartet weiter auf ihren ersten Grand-Slam-Titel. Foto: AP

Williams, Serena Dementjewa, Jelena Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mit dem stillen Eifer eines Tüftlers

Dänemarks Handballer zerlegen gerne Favoriten - im WM-Halbfinale soll es Frankreich treffen

Zadar - Im Grunde ist es vollkommen überflüssig, die Halbfinals dieser Handball-WM auszuspielen, da sich sämtliche Experten darüber einig sind, dass Gastgeber Kroatien und Olympiasieger Frankreich sich locker durchsetzen und am Sonntag zum Traumfinale in Zagreb aufeinandertreffen. Die meisten dieser Experten gehen davon aus, dass Kroatien das Endspiel gewinnt. Zu den Ausnahmen gehört der deutsche Bundestrainer Heiner Brand, der auf die Frage, wer Weltmeister werde, eine Denkpause einlegte, über seinen Schnäuzer strich, die Denkpause ausdehnte, und schließlich brummte: "Frankreich." Wie er zu dieser Ansicht gelange? "Die sind einfach noch besser", beschied Brand, und in der Tat: Die Franzosen sind furchterregend gut besetzt, angeführt werden sie vom 24 Jahre alten Nikola Karabatic, der sagt: "Ich habe jedes Jahr einen großen Titel gewonnen. 2006 die EM, 2007 die Champions League mit Kiel, 2008 Olympia, und jetzt zählt der WM-Titel." Neben dem genialischen kroatischen Spielmacher Ivano Balic gilt er als bester Handballer der Welt.

Da aus Gründen der Vollständigkeit die Halbfinals an diesem Freitag allerdings doch ausgespielt werden, sehen sich die Franzosen noch einer kleinen Unwägbarkeit gegenüber, die den Namen Dänemark trägt und sich erlaubt hat, im vergangenen Jahr Europameister zu werden. Im Finale nahmen die Dänen die Kroaten mit dem stillen Eifer eines Tüftlers auseinander, der jedes alte Auto, dessen er angesichtig wird, umgehend zerlegen muss. Die Kroaten wussten gar nicht, wie ihnen geschah, sie standen dem Tempospiel der Dänen hilflos gegenüber, wieder und wieder wurden sie von den Außenspielern Lars Christiansen und Hans Lindberg überrannt, und was sie besonders überraschte: Die Dänen hielten das bis zum Ende durch. Sie werden jetzt nicht mehr nervös.

"Dieser Sieg hat uns einen Schub gegeben", erzählt Lars Christiansen vor dem Halbfinale gegen die Franzosen, "wir können jetzt auch den letzten Schritt über den Berg machen." Bewiesen hatte er das 2008 persönlich, als er im EM-Halbfinale gegen Deutschland in der letzten Aktion zum Siebenmeter antrat. Es stand unentschieden, und Christiansen war dafür bekannt, dass er Siebenmeter nach Belieben ins Tor setzte - nur nicht, wenn es um alles ging. Diesmal aber traf Christiansen, die Deutschen waren raus, die Dänen übern Berg. "Wir bleiben immer cool und spielen unser Spiel weiter", sagt Christiansen, "wir wissen, dass es sechzig Minuten dauert."

Zuvor waren die Dänen dafür bekannt, mit der Leidenschaft eines Insektensammlers dritte Plätze anzuhäufen, wobei ihnen ihre Fähigkeit zupass kam, in Halbfinals aufs Schönste zu scheitern. "Wir können jetzt das, was die Deutschen früher konnten", sagt Christiansen, "wir sind ruhig bis ganz zum Schluss und wissen, dass wir gewinnen werden. Das muss man sich erarbeiten." Die neue, junge Mannschaft der Deutschen muss sich diese Fähigkeit erst wieder aneignen; sie scheiterte bei ihrer Niederlage gegen die Dänen am Mittwoch in der Schlussphase nicht nur an den Schiedsrichtern, sondern auch an der Konsequenz des Gegners.

Neben den brillanten Außen Lindberg und Christiansen verfügen die Dänen über einen exzellenten Torwart. Kaspar Hvidt wirkt in seiner schwarzen Torwartmontur wie ein Mann, der eine Vorliebe für öffentliche Auftritte in übergroßen Schlafanzügen pflegt. Hinter dem harmlosen Äußeren verbirgt sich ein Muskelmann mit den biegsamen Gelenken einer Ballerina, der bisweilen Bälle in Schulterhöhe mit dem Fuß abwehrt. Sein Gegenüber an diesem Freitag, der Franzose Thierry Omeyer, gilt seiner Konstanz wegen als bester Torwart der Welt. An seinen wirklich guten Tagen ist Hvidt jedoch unvergleichlich.

Auch Kreisläufer Michael Knudsen gehört zu den Besten seines Fachs, bei der WM 2007 wurde er ins All-Star-Team gewählt. Um diese vier herum hat Trainer Ulrik Wilbek eine Mannschaft gebaut, die tatsächlich insofern an die deutsche Auswahl erinnert, als dass sie nur als Team funktioniert. Karabatic kann für die Franzosen ein Spiel mehr oder weniger allein entscheiden, "wir aber haben keine Stars", sagt Christiansen, "wir arbeiten immer als Kollektiv."

Seinen Spielern hat Trainer Wilbek immer wieder erklärt, dass sie die Besten sind, und es hat lange gedauert, bis sie ihm glaubten. Große Töne sind im Land verpönt; als das Team 2008 mit dem ausdrücklichen Ziel zur EM fuhr, Erster zu werden, sagte Wilbek: "Das ist nicht normal in Dänemark." Mittlerweile erscheint es allerdings normal, dass Christiansen trotz der vermeintlichen Übermacht der Franzosen sagt: "Es wird hart, aber wir wollen in dieses Finale." Es ist nicht wahrscheinlich, aber gut möglich, dass die Dänen alle Experten eines Besseren belehren, Heiner Brand eingeschlossen. Christian Zaschke

Der Däne Lars Christiansen Foto: dpa

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Sand im Auge des Betrachters

Blick, Körper, Raum: Das Festival Temps d'Image im Tanzhaus NRW widmete sich den blinden Flecken der Bildkultur

Ein dunkler Raum. Als es hell wird, sitzt ein Mensch dort, der das Gesicht der Betrachterin trägt und einen unentwegt anblickt. Wer ist dieses Gegenüber? Zu dieser merkwürdigen Erfahrung mit einem Fremden lud der amerikanische Künstler Davis Freeman beim Festival Temps d'Images in Düsseldorf ein. Das Projekt "Reflection" steht, in seiner bestrickenden Einfachheit, für eine Zeit, in der Bilder Realität bedeuten und das Verhalten prägen. All das Gefilmte und Fotografierte ist eben nicht bloß virtuelles Beiwerk oder Abbildung der vermeintlich realeren Wirklichkeit.

Dass Künstler diesem Mit- und Ineinander der Sphären verblüffende Aspekte abgewinnen, ist nicht neu; die Zeiten medialer Bühnenberauschung sind längst einer Videogewöhnlichkeit gewichen. Aber gerade deswegen hat ein solches Multisparten-Festival Entdecker-Potential. Mit unterschiedlichem Programm findet es in neun europäischen Städten sowie in Montréal statt. Bereits zum vierten Mal war es in Düsseldorf im Tanzhaus NRW zu sehen.

Der diesjährige Untertitel "Zwischen Wirklich" weist auf einen Abstand hin. Alle zwanzig gezeigten Tanzstücke, Performances und Installationen nahmen sich diese Schwelle in besonderer Weise vor: Blick, Körper, Raum. Hiroaki Umeda aus Japan zeigte in seinem Solo "While going to a condition", wie sich eine einzelne schwarz gekleidete Menschenfigur vor einer Wand mit sich wiederholenden Linien und Mustern erst belebt, dann behauptet, um schließlich zu verlöschen. Während die Balken hinter Umeda immerzu hochwandern, Quadrate erscheinen, jedes graphische Ding sich wiederholt und von einem scharfen Geräusch begleitet wird wie eine lärmende Maschine, bewegt er sich lange nicht. Dann zunächst nur eine Fußspitze. Nervöse Wellen gehen schließlich durch Umeda, der nun auch seinen Platz verlässt, ohne je wirklich menschlich zu wirken. Als ob die maschinellen Bilderwelten zwar bewegliche, tanzende Figuren generierten, diese aber gefangen hielten in ihrer kalten Einsamkeit. Der Spannungsbogen und die bildliche Überwältigung lassen einen deshalb zwar optisch beeindruckt, aber auch fröstelnd zurück.

Ausweglosigkeit schien die Grundstimmung der meisten Werke beim Festival zu sein. Tarek Halaby, Amerikaner palästinensischer Herkunft, verschachtelt in seinem Solo "Finally, I am no one" projizierte Bilder aus Kellerräumen mit Live-Aufnahmen seines Tanzes hinter einem Vorhang aus Fäden. Die Kellerbilder werden allmählich erkennbar als zerschnipselte Handlungsabläufe. Ein gefesselter Gefangener, ein Bombenbastler, ein Bewacher im Tarnanzug: Ihre kurzen Geschichten werden zerdehnt und zeitlich verkehrt, ihre Gesichter sind unkenntlich. Kein Wort fällt, nur Popmusik tönt ununterbrochen wie aus einem Nebenraum. Alles scheint "zwischen" zu sein, zu dauern bis zur Erschöpfung. Diese Botschaft über Lebenswirklichkeiten in gepeinigten Weltgegenden vermittelt Halaby mit seiner etwas überladenen Komposition aus Raum und Kamerablick und dem Kontrast zwischen kleinen Bewegungen und ausgreifendem Tanz.

Auch im Stück "The Corner" des Düsseldorfer Künstlerkollektivs Ludica, der ersten Festival-Premiere, klingt Musik von nebenan, als sei das Leben anderswo. Immer wieder öffnet sich die Tür in der Wand einen Spalt, gibt einen Lichtstrahl frei; aufdringlich muntere Musik und eine aufgedrehte italienische Stimme ertönt, Applaus. Die Tür aber ist nur eine Projektion auf der grauen Bühnenwand. Alle Aktionen der drei Darsteller auf der Bühne oder mit dem Publikum laufen ins Leere. Fragebögen werden verteilt, ausgefüllt, aber nicht eingesammelt. "What do you feel" sagt eine Stimme hundertmal, doch es ist keine Frage. Adjektive wie "happy" und "sweet" ploppen in altmodisch knalliger Werbeschrift auf die Rückwand. Die Darsteller in schwarzer Vermummung tun geschäftig; nichts passiert. Eine behördenartige Digitalanzeige zählt langsam und macht "ping". Das Dumpfe, Leere, das über der Lockerheit liegt, fühlt sich wie eine Art Blindheit an. Woanders hin zu wollen, aber nicht zu können - das macht diese Bühneninstallation auf verstörende Weise erfahrbar. Als Kritik am eigenen Medium Bühnen- und Bildunterhaltung ist "The Corner" konsequent unoriginell.

Die Skepsis gegenüber dem Bilderzauber und den medialen Wirklichkeitstapeten in kluger Weise produktiv umzusetzen, ohne dabei die vermeintlich erlösende Authentizität des Körpers zu glorifizieren, gelang vielen Künstlern bei Temps d'Images, zuletzt der Kölner Choreographin Stephanie Thiersch mit ihrer humorvollen Premiere von "Blind questions: I see you me neither". "Ich behalte die Tassen mit den blauen Blumen", ist der erste Satz. Man trennt sich, zieht aus. Es geht um Liebe: Vorstellungen von Glück sind auch Bilder. Vier großartige Darsteller auf der Bühne sprechen Dialoge der Hoffnung und des Streits, verschieben drei tapezierte Wände, eine Matratze, einen Stuhl, "Hier kommt die Lampe hin". Sie lehnen sich aneinander, ziehen, zerren und tanzen. Ein weiteres Paar, im Film, hat nur eine verlotterte Bruchbude. Sätze wiederholen sich, Bewegungen, Stille, Straßenlärm, Umarmung. Man richtet sich ein. Man treibt die Liebe in die Ecke. Die Zeit der Bilder steht nicht still. Unsere Zeit. MELANIE SUCHY

Die Quadratur des Menschen: Szene aus Hiroaki Umedas Tanz-Solo Foto: ALEX

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Champions-League-Sieger Zürich

Schweiz auf Eis

Kommt Putin? Das war am Mittwochnachmittag die bange Frage am Ostufer des Zürichsees, jedenfalls, wie der Blick lästere, für die "tapferen St. Galler Kantonspolizisten", die seine Sicherheit hätten gewährleisten müssen - obwohl sie doch "schon ihre gesamte Kampfkraft mit der Jagd nach einer aus dem Kinderzoo ausgerissenen Biberratte verpufft" hätten. Doch der russische Ministerpräsident blieb in Graubünden - beim Davoser Weltwirtschaftsforum - unter seinesgleichen. Und im Seestädtchen Rapperswil wurde ohne ihn Geschichte geschrieben. Keineswegs im Sinne Russlands.

Denn nicht der HK Metallurg aus dem Stahlzentrum Magnitogorsk im Südural hat die neue Champions Hockey League gewonnen, den nochmals aufgewerteten Titel als bester Eishockeyklub Europas. Nicht der hochofenhohe Favorit also - sondern der Außenseiter aus der Schweiz: der ZSC Lions aus Zürich, angeleitet vom ehemaligen Münchner Meistertrainer Sean Simpson, angefeuert von 6000 völlig euphorisierten Eidgenossen. Schon das 2:2 im Hinspiel war eine Überraschung gewesen, das Rückspiel wurde zur Demütigung: 5:0 stand es, als um 21.57 Uhr die Schlusssirene ertönte - der größte Erfolg einer Schweizer Eishockey-Vereinsmannschaft seit Erfindung des Eishockeys (um 1850) und der Schweiz (1291) war perfekt. Den Vorgängerwettbewerb namens Champions Cup hatten ausschließlich russische Mannschaften gewonnen.

"Dieser Erfolg ist für mich das Größte", jubelte Sean Simpson, "wir haben die Chance bekommen, Sportgeschichte zu schreiben - und haben es getan." Was auch deshalb erstaunlich ist, weil bei den Lions vor allem Schweizer auf dem Eis stehen, Männer die Blindenbacher, Schnyder und Grauwiler heißen, und die man nun auf der Rechnung haben muss, wenn im April die Eishockey-WM stattfindet. In der Schweiz. Im Herbst steht den Lions noch die Freude bevor, gegen ein amerikanisches NHL-Team um den Victoria Cup zu spielen. Dann aber nicht mehr in Rapperswil, sondern womöglich in ihrem eigenen Zürcher Hallenstadion. Das war am Mittwoch belegt gewesen. Mit einer Gala namens "Art on Ice". Claudio Catuogno

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SZ Wochenende

bringt morgen:

Großschauspieler

Die Berlinale wird es wieder zeigen: Es gibt so tolle Mimen! Leider halten sich die meisten für zu bedeutend. Eine Tragödie. Von Tobias Kniebe

Kleinkünstler

Der Maler Werner Hoeflich kam oft schon um ein Haar ganz groß raus. Aber immer kam was dazwischen. Eine Komödie. Von Jan Brandt

Nobelpreisträgerin

Aktivistin Shirin Ebadi im großen Interview. Über das Leben im Iran 30 Jahre nach der Revolution in Teheran. Von Anne Ameri-Siemens

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Hoffnung für eine geprügelte Anlage

Zwangsverkäufe durch Hedgefonds führten bei Wandelanleihen zu hohen Verlusten. Nun bieten sich Investoren Chancen

Von Markus Zydra

Frankfurt - Die jüngste Geschichte lehrt, dass ein von Hedgefonds kontrollierter Markt wenig Vertrauen verdient. So sind die Preise für Wandelanleihen im vergangenen Jahr völlig eingebrochen, weil Hedgefonds rund 75 Prozent der auch Convertibles genannten Wertpapiere handelten. Denn im Zuge der Finanzkrise mussten viele Fonds die meist auf Pump finanzierten Anleihen zwangsweise verkaufen, weil die Banken den Kredithahn zugedreht hatten. Die Folge waren rapide Kursverluste. Selbst die besten Publikumsfonds büßten ihre Profite der letzten Jahre vollständig ein (siehe Tabelle). "Zeitweise waren die Anleihenpreise stärker gefallen als die Aktien desselben Unternehmens, was eigentlich nicht passieren darf", sagt Bert Flossbach, Partner der Kölner Vermögensverwaltung Flossbach & von Storch. Schließlich seien bei Finanzproblemen eines Konzerns zunächst die Aktionäre betroffen, dann nachrangige Gläubiger und schließlich erst die Zeichner von Wandelanleihen.

Investoren wie Flossbach sammeln nun die besten dieser Wertpapiere für ihre Fonds wieder ein. Die Renditechancen sind bemerkenswert. "Ein Beispiel ist die Wandelanleihe von Heideldruck. Das Papier wirft rund 32 Prozent Rendite auf ein Jahr ab", sagt Flossbach. Der Grund für den schnellen Euro: Wandelanleihen müssen selten bis zur Endfälligkeit gehalten werden - Investoren haben meist eine Verkaufsoption. Bei Heideldruck kann diese Option im Februar 2010 ausgeübt werden. "Wir können die Anleihe fällig stellen, und Heideldruck muss uns dann auszahlen", sagt Flossbach.

Was jedoch bleibt, ist das gerade in dieser Wirtschaftslage nicht zu unterschätzende Ausfallrisiko der einzelnen Anleihe, das auch Grund für die hohe Rendite ist. Deshalb werden in den Fonds viele Wandelanleihen verschiedener Emittenten gemischt. Investments in Wandelanleihen sind generell nur über Fonds sinnvoll, da die minimale Stückelung der Einzelpapiere oft zwischen 50 000 Euro und 100 000 Euro liegt.

Wandelanleihen sind eine Kombination aus einer Unternehmensanleihe und dem Recht, die Obligation während der Laufzeit in Aktien zu umwandeln. Anleger wandeln nur dann um, wenn der Aktienkurs innerhalb der Wandlungsfrist entsprechend hoch ist. Das Unternehmen hat dann den Vorteil, die Anleihe in Aktien statt in Bargeld begleichen zu können. Diese Kombination aus Anleihe und Aktie ändert ständig ihren Charakter, je nach Zinsniveau, Aktienkurs, Schuldnerbonität und den Kursschwankungen (Volatilität). "Wenn der Aktienkurs fällt, verliert auch die Wandelanleihe an Wert", sagt Ulf Becker, Partner der unabhängigen Vermögensverwaltung Lupus Alpha. "Denn damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Investor das Wandlungsrecht in der Frist ausübt und damit der potenzielle Mehrwert gegenüber dem Anleihezins." Preisbestimmend für die Wandelanleihe ist auch die Bonität des Emittenten. Je schlechter die ausfällt, desto niedriger notiert das Wertpapier. Viele Investoren isolieren deshalb beide Risiken, indem sie eine Kreditausfallversicherung (CDS) zeichnen und die Aktie auf Termin verkaufen.

Diese verhältnismäßig hohe Komplexität der Produkte macht Wandelanleihen zu einem Spezialmarkt, der - gerade jetzt - wenig liquide ist. Das Emissionsvolumen von Wandelanleihen erreichte 2007 laut der Londoner Fondsgesellschaft F&C Management mit rund 200 Milliarden Dollar ein Rekordhoch. Emittiert wurden Wandelanleihen vor allem in den USA von Banken und Immobilienunternehmen, Sparten also, die im Zentrum der Finanzkrise stehen.

In den letzten Jahren sind viele Neuemissionen auch an Hedgefonds verkauft worden, die zum Beispiel im Rahmen von Arbitrage-Strategien Preisungleichgewichte zwischen Wandelanleihen und Aktien genutzt haben. "Arbitragegeschäfte wurden gemacht, weil die Wandelanleihe nach Isolierung der Einzelrisiken zu günstig war", sagt Becker. Doch das sei nur am Anfang gelungen. "Als immer mehr Akteure in den Markt kamen, wurden diese Ineffizienzen immer kleiner. Also musste man entweder mehr auf Kredit spekulieren, dass es sich lohnt, oder die Aktien und Kreditrisiken offen lassen", so Becker. Diese erhöhte Risikobereitschaft der Hedgefonds brachte den Markt schließlich in diese Turbulenzen, die zu Verlusten von 30 Prozent und mehr führten.

Nun herrscht Optimismus für eine gebeutelte Anlageklasse mitten in der Krise. "Die Durchschnittsrendite unserer Anleihen beträgt rund 13 Prozent", so Flossbach. "Selbst wenn fünf Prozent der Anleihen ausfallen, ergibt sich immer noch eine ordentliche Rendite."

Quelle: Morningstar

Die besten Wandelanleihe-Fonds (in Euro)
NameISINFondsgesellschaftRendite auf 5 Jahre (in %)
LODH Invest Convertible BondLU0159201655Lombard Odier Darier Hentsch & Cie1,01
MAT Euro Plus IncDE0008484098Maintrust KAG0,91
H.A.M. Global Convertible Bd FdLI0010404585IFM Independent Fund Management AG0,87
Nordinvest Nordcumula AccDE0008484957Pioneer Investments KAG mbh0,47
Deka-Wandelanleihen CF IncLU0158528447Deka International S.A.0,37
LiLux Convert AccLU0069514817LRI Invest S.A.0,31
Jefferies Europe Convertible BondsLU0114352973Jefferies Umbrella Fund-0,02
cominvest Wandelanleihenfonds IncDE0006372527cominvest-0,09
Warburg Oswa-Fonds AccDE0008488834Warburg Invest-0,28
CAAM Funds European ConvertibleLU0119108826Crédit Agricole-0,35
E. Rothschild Europ Conv Bds A AccLU0112675722Edmond de Rothschild Asset Managem.-0,35
CS BF (Lux) Convert Europe B AccLU0125128057Credit Suisse-0,40
RMF Convertibles Europe AccLU0114314536RMF Investment Management-1,47
Bayern LB Convertible Bond AL IncLU0153288435BayernInvest Luxembourg S.A.-1,48
JPM Global Convertibles (EUR) A EURLU0129412341JPMorgan Asset Mgt (Europe) S.à r.l.-1,59
FvS Wandelanleihen Global F AccLU0097335235Wallberg Invest S.A.-1,64
Parvest European Convertible Bond LU0086913042BNP Paribas-1,81

Die besten Wandelanleihe-Fonds (in Euro)

Name

ISIN zyd

Mitarbeiter in einem Werk von Heidelberger Druckmaschinen: Die Wandelanleihe des Unternehmens wirft auf ein Jahr rund 32 Prozent Rendite ab. Foto: dpa

Unternehmensanleihen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DekaBank unter Beschuss

Sparkassen fürchten zu riskante Geschäfte

Frankfurt - Die Sparkassen ärgern sich über ihren zentralen Fondsdienstleister DekaBank. Deren Chef Franz Waas will in Deutschland das zweitgrößte Geschäft mit Derivaten hinter der Deutschen Bank aufbauen. Derivate sind Finanzinstrumente, mit denen einerseits Geschäfte abgesichert, aber auch Spekulationen betrieben werden. Dazu gehören etwa Zertifikate oder Optionen. "Waas fährt einen heißen Reifen", hieß es bei einer Tagung der Sparkassen. Sparkassen-Präsident Heinrich Haasis griff Waas nicht öffentlich an. Er sagte aber, die Sparkassen wollten keine höheren Risiken als sie tragen können. Dies gelte auch für die DekaBank und die Landesbanken.

Jedenfalls sei es kein strategisches Ziel, die Nummer 2 hinter der Deutschen Bank zu werden. Die Derivate dienten lediglich der Absicherung, Eigengeschäfte sollten damit nicht gemacht werden. Schon in der Vergangenheit hatten Sparkassen hinter vorgehaltener Hand kritisiert, dass Waas mit den hohen Eigenmitteln der DekaBank nicht richtig wirtschafte. Die Sparkassen könnten in Zeiten der Finanzkrise jeden Cent an Reserven und verfügbaren Mitteln innerhalb der Gruppe gut gebrauchen.

Haasis bestätigte, dass es im Zuge der angestrebten Neuordnung der Landesbanken "Sondierungen" zu einem Dreierbündnis zwischen WestLB, DekaBank und Helaba gebe. Die Sparkassen hätten nicht das Ziel, aus den Landesbanken auszusteigen. Ihnen schwebe der Zusammenschluss aller Landesbanken zu drei Blöcken vor. he

DGZ-DekaBank: Produkt DGZ-DekaBank: Strategie Sparkassen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Deutsche verlieren 50 Milliarden Euro

Frankfurt - Die Menschen in Deutschland haben im dritten Quartal 2008 wegen fallender Kurse an den Börsen massiv Aktien verkauft. Die Privathaushalte gaben netto neun Milliarden Aktien ab, teilte die Bundesbank am Donnerstag mit. Das Geldvermögen der privaten Haushalte betrug 4,514 Billionen Euro - ein Rückgang um 50 Milliarden Euro gegenüber der Jahresmitte 2008 und um 83 Milliarden Euro gegenüber Ende 2007. Hingegen legten die Menschen in Deutschland wieder mehr Geld auf die hohe Kante. Die Sparquote stieg leicht auf 11,4 Prozent des verfügbaren Einkommens. Gleichzeitig bauten die privaten Haushalte ihre Verbindlichkeiten um zwei Milliarden Euro ab. Insgesamt hatten die Bundesbürger Ende September 1,535 Billionen Euro Schulden. dpa

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Goldpreis steigt über 900 Dollar

Anleger schätzen das Edelmetall in der Krise als sicheren Hafen

London - Der Goldpreis kletterte am Montag über die Marke von 900 Dollar. Zum Londoner Nachmittagsfixing wurde der Preis für eine Feinunze Gold mit 910,25 Dollar festgelegt, ein Plus von 1,5 Prozent zum Vortag. Damit zog der Goldpreis allein in den vergangenen zehn Tagen um 100 Dollar an, seit Mitte November beträgt der Zuwachs sogar 200 Dollar. In konjunkturell schwachen Zeiten setzen Anleger gern auf den sicheren Hafen Gold, um Währungs- oder Aktienkursverluste zu vermeiden. Hinzu kommen die weltweit sinkende Produktion der Goldminen und die rückläufigen Goldverkäufe der Notenbanken. Die Bestände des weltweit größten börsengehandelten Gold-Fonds, des DPDR Gold Trust, haben sich den Analysten der Commerzbank zufolge allein in der vergangenen Woche um knapp 40 Tonnen Gold erhöht. Veränderungen in Gold-ETFs (exchange traded funds) werden am Markt genau verfolgt. Hohe Zuflüsse werden als Zeichen für eine Rückkehr des Interesses langfristig orientierter Privatanleger gewertet. (Kommentare) SZ/Reuters

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Der liebe Gott steckt im Detail

Google Earth zeigt die Meisterwerke des Prado scharf wie nie - was man damit anfängt, wusste schon im 19. Jahrhundert ein Mann namens Morelli

Google Earth: Das ist eine Welt ohne Zeit, ohne Wetter, ohne Regung - und bislang auch ohne Innenräume. Eine fotografische, geplättete und stillgestellte Welt, in der es immer gefühlte elf Uhr morgens ist - oder doch drei Uhr nachmittags? In diesem Murmeltiertag-Kosmos haben auch wechselnder Lichteinfall, Passanten oder klingelnde Handys keinen Platz. Aber man kann auf diese Welt herunterfallen wie nur je ein verglühender Komet. Darin liegt ihre Faszination. Raketengleich stürzt der Zoom auf den Erdball zu und fokussiert am Ende seines Flugs noch die kleinste Dachschindel. Und inzwischen sogar einzelne Farbtupfer auf Meisterwerken in einem der bedeutendsten Museen der Welt.

Mittlerweile dürfte es vieltausendfach passiert sein: Das Auge fliegt, in ein Projektil verwandelt, den Prado in Madrid an, saust geschwind auf die Puerta de Velázquez zu, schwebt dann einen Sekundenbruchteil über einer seltsam abgeflachten und schemenhaften Version des Museums - bevor, gleichsam aus dem Nichts, eins von 14 ausgewählten Meisterwerken des Museums erscheint. Der Geobrowser Google Earth hat sie fotografisch erfasst und ermöglicht jetzt rasante Zooms etwa aufs Craquelé, das Netz feinster Risse im Farbauftrag, etwa in Hieronymus Boschs "Garten der Lüste" (1498) oder, beispielsweise, auf Tränen der Trauernden in der "Kreuzigung" von Juan de Flandes (1509-18).

"The world's largest pictures" (Google), jeweils 1400-mal schärfer aufgenommen als mit handelsüblicher Digicam, geben als Reproduktionen neuester Machart in oder über dem Museum schwebend eine ihren tatsächlichen Standorten entkoppelte Digitalgalerie eigenen Rangs ab. Diese neue Form der universalen Kunstbetrachtung entspricht als Spektakel in etwa den Zooms, die Google Earth auch bislang schon ermöglicht hat. Indem dieser Modus der Welterfassung nun auch in den Museen Einzug hält - in bescheidenerem Maßstab bieten auch etwa der Louvre oder die Dresdner Gemäldesammlungen digitale Galerien -, macht er die Kunstwerke ortlos, versammelt sie zu einem plakativen "Best of".

Vom Teleobjektiv verschluckt

Das wird bedauern, wer je voller Hoffnung den Weg etwa zur Sala 12 im Hauptgeschoss des Prado abschritt und endlich Diego Velázquez' "Hoffräulein" fand, am jenseitigen Ende des Saaleingangs thronend. Doch Google Earth ersetzt nicht den Museumsbesuch, es ergänzt ihn - und zwar um, in den Worten der Suchmaschine, "Details der Gemälde, die nie zuvor gesehen wurden".

Die populärsten und je nach Zeitmode wechselweise auch "schönsten" Kunstwerke eines Museums einzeln oder zu einer Art Meistergalerie versammelt zu reproduzieren, hat ohnehin Tradition. Von Kupferstich-Illustrationen über die ersten Folianten der "besten Gemälde der Welt" mit fotografischen Reproduktionen am Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den modernen Rankings und der Postkartenflut in den Museumsshops entwickelte sich dieser "Greatest Hits"-Standard.

Doch wie nah man nunmehr den Meisterwerken auf die Pelle rücken kann, gleichsam alle Absperrungen und Lichtschranken überwindend, hat fraglos eine neue Qualität - insgesamt wurden 8200 Einzelaufnahmen der 14 Bilder angefertigt. Christi Wunde in Rogier van der Weydens "Kreuzabnahme" wird, überscharf rangezoomt, zum tief klaffenden Abgrund; die delikaten Tupfer dagegen, die die Brosche des "Hoffräuleins" zum Funkeln bringen, verwandeln sich in Nahaufnahme zum abstrakten Moiré des pastosen Pinselauftrags.

Wie viele mediale Neuerungen wird auch diese teils euphorisch bejubelt, teils kulturpessimistisch bekrittelt. Dabei gibt es, einerseits, den selbstbewussten Maximalismus der Google-Macher und die wackere Hoffnung auf neue kunsthistorische Erkenntnisse wie auch, andererseits, Warnungen vor naivem Detailfetischismus oder gar die apokalyptische Phantasie eines gefräßigen neuen Mediums, welches sich nunmehr anschicke, die ganze Welt gleichsam mit dem Teleobjektiv zu verschlucken.

Euphorie und Bedenken den Prado-Close-ups gegenüber folgen aber ebenfalls traditionellen Reiz-Reaktions-Mustern, die auch schon die Erfindung optischer Apparate im 19. Jahrhundert begleiteten und seitdem jede technische Verbesserung fotografischer Aufnahmen grundieren. Mehr noch: Radikaler, utopischer und auch polemischer als heute wurde damals, als die Fotografie noch eine junge Erfindung war, genau das verhandelt, was nun wieder im Fokus der Aufmerksamkeit steht: die Detailgenauigkeit der Aufnahmen - und was sich daraus für die Wahrnehmung ergibt.

Die Fronten waren auch schon im 19. Jahrhundert eindeutig: Die Gegner der Fotografie sagten, das neue Medium töte die Phantasie und sei somit ein Todfeind der Kunst - die Befürworter argumentierten dagegen, es eröffne eine neue Welt, die die alte, die Welt der Materie, erblassen lasse. Charles Baudelaire, ohnehin ein genereller Feind des Realismus, schimpfte im Jahr 1859, die massenhaft verbreitete Fotografie fördere das "Gefallen am Obszönen". Baudelaire spürte, dass die Geschlossenheit des Kunstsystems durch die Fotografie in Frage gestellt wurde. Er wandte sich explizit gegen eine Demokratisierung der Bilder. Immerhin sprach der Dichter der Lichtbildkunst aber das Recht zu, als "sehr niedrige Dienerin" der Künste die Monumente der Menschheit vor dem Vergessen zu bewahren, etwa in Reisealben oder Bibliotheken.

Der Schriftsteller und Arzt Oliver Wendell Holmes dagegen befand im selben Jahr hymnisch, das fotografische Verfahren der Daguerreotypie sei ein "Triumph menschlichen Scharfsinns": "Wir fühlen uns in die Tiefe des Bildes hineingezogen". Holmes visionierte im Detailrausch gar einen neuen Kosmos der fotografisch präzisen Bilder, welcher die wirkliche Welt überflüssig mache: "Wir haben die Frucht der Schöpfung erhalten und brauchen uns nicht mehr um den Kern zu kümmern" - eine Zwei-Welten-Theorie, die angesichts digitaler Paralleluniversen wieder populär ist.

Jenseits von Jubel und Verdammung des Mediums: Beide, Holmes und Baudelaire, sind Exponenten einer Wahrnehmungskrise. Die Verbreitung der Fotografie stellte eine Herausforderung an den menschlichen Wahrnehmungsapparat dar. Man gewöhnte sich nur langsam ans neue Medium. Die Rede vom "Augenmenschen" kam auf. Der moderne Mythos der medialen Bilderflut nahm im 19. Jahrhundert seinen Ausgang.

Aber auch der diagnostische, ja detektivische Blick auf winzigste Nebensächlichkeiten in den Kunstwerken wurde im späten 19. Jahrhundert etabliert - in den Forschungen des Mediziners Giovanni Morelli in den Jahren 1874-76. Der italienische Kunsthistoriker Carlo Ginzburg hat den Spurensicherer seiner Branche wiederentdeckt. Morelli konzentrierte sich, um Originale von Kopien zu unterscheiden, nicht auf die augenfälligsten, leicht zu kopierenden Merkmale der Alten Meister, sondern auf Ohren, Finger, Heiligenscheine - eben das, was die Künstler unbewusst in immergleicher Weise malten. Es war Morelli, der auf diese Weise das Gemälde die "Schlummernde Venus" in Dresden Giorgione zuweisen konnte.

Prothese des Sehens

Kritiker wüteten, Morelli behandle die Künstler wie Verbrecher. Genau das war aber seine Errungenschaft. Fast zur gleichen Zeit, als Arthur Conan Doyle seinen "Sherlock Holmes" erfand, begründete Morelli das "Indizienparadigma" (Ginzburg) der Kunstwissenschaft. Mehr noch: Der Arzt Sigmund Freud wies darauf hin, dass Morellis Augenmerk auf "unbeachtete Dinge" entscheidend zur Herausbildung der Psychoanalyse beigetragen habe. Freuds Symptome sind Morellis Details.

Wer heute Christi Wunden heranzoomt, bewegt sich in dieser Wahrnehmungs-Tradition. Das belegt auch die Entwicklung optischer Apparate im späten 19. Jahrhundert. Nicht allein die Fotografie, sondern eigentlich erst die Diaprojektion brachte Lichtbild und Kunsthistorie in Engführung. Die Technik, Fotos auf durchsichtige Folie zu bannen, war eine Kriegserfindung; schon 1870/71 wurden Gelatinehäutchen mit fotografischen Aufnahmen als transportable Depeschen eingesetzt. Der Kunsthistoriker Hermann Grimm, ein Nachfahre der Märchen-Sammler, leistete Pionierarbeit bei der Etablierung des Mediums für den Seminarsaal. Grimm schwärmte über die an die Wand projizierten Meisterwerke "in herrlicher Beleuchtung und ungeheurer Größe, zugleich nun aber so recht in ihrem eigentlichen Formate gleichsam": "Uns stehen die Reproductionen, nicht die Originale in Erinnerung".

Niemand musste also noch nach Italien reisen oder schwere Bilder-Folianten wuchten, um Alte Meister zu sehen. Mit den riesenhaft an die Wand des Vorführsaals abgestrahlten Dürers oder Michelangelos emanzipierte sich die Kunstgeschichte endgültig als Wissenschaft.

Das bedeutet aber auch: Die neuerliche Kritik an einem fürs Ganze blinden Detailfetischismus, die sich nunmehr an Google Earth entzündet, verwechselt Ursache und Wirkung. Das Aufblasen winzigster Einzelheiten, die Ortlosigkeit und die allgemeine Verfügbarkeit der Bilder, all das war schon im 19. Jahrhundert Standard und Grundlage der Kunstbetrachtung. Seitdem ist der Bildhistoriker immer auch Maschinenwärter, Arzt und Detektiv. Google Earth bietet ihm nur eine weitere spektakuläre, digitale Prothese des Sehens - mehr nicht. Alles andere ist der pure Genuss. HOLGER LIEBS

Sie hängt, 123 mal 169 Zentimeter groß, im Saal 57B des Prado: Die "Kreuzigung" von Juan de Flandes (eigentlich: Jan van Vlaandern), gemalt 1509-18, zeigt den Heiland mit einem sich öffnenden Halbkreis von Figuren um ihn herum. Mit Google Earth lässt sich noch das kleinste Detail heranzoomen: Augen von Tier und Mensch sowie die Füße des Gekreuzigten. Prado/Google Earth

Google Inc., Mountain View: Produkt Museo del Prado Kunst im Internet Kunstwerke SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Staatsbank packt die Konjunkturpakete aus

KfW-Vorstandschef Ulrich Schröder will künftig auch größere Unternehmen und Kommunen fördern. Erstmals seit Jahren soll es 2009 wieder Gewinn geben

Von Helga Einecke

Frankfurt - Die Staatsbank KfW besinnt sich im wirtschaftlichen Abschwung auf ihre Wurzeln und will sich als größtes Förderinstitut zeigen. "Das ist die Zeit, in der sich die KfW bewähren muss", sagte der neue Vorstandschef Ulrich Schröder. Die Bank hilft, die beiden Konjunkturpakete der Regierung umzusetzen und plant dafür in den nächsten beiden Jahren zusätzlich 40 Milliarden Euro ein. Dieses Geld muss die KfW zusätzlich am Kapitalmarkt aufnehmen. 50 Unternehmen haben im Zuge des ersten Konjunkturpakets bereits einen Bedarf von 700 Millionen Euro bei ihr angemeldet.

Als "absolute Neuheit" bezeichnete es Schröder, dass die KfW künftig auch größere Unternehmen finanziert. Damit würden wichtige Investitionsvorhaben gesichert und Firmen unterstützt, die über ihre Hausbank nicht genügend abgesichert seien. Weiteren Bedarf sieht der KfW-Chef bei den Gemeinden, weil Landesbanken, Pfandbriefinstitute und Sparkassen im Zuge der Finanzkrise als Geldgeber ausfallen könnten. Der KfW-Chef rechnet damit, dass beide Konjunkturprogramme zügig in Anspruch genommen werden. "Wir sehen das zweite Programm noch schneller abfließen als das erste", sagte er.

Nach dem Krisenjahr 2008 mit verlustreichen Engagements bei der Mittelstandsbank IKB, der insolventen US-Investmentbank Lehman und isländischen Banken will die KfW intern einiges ändern. Ihre traditionellen Förderprogramme, die zuletzt ein jährliches Volumen von 71 Milliarden Euro umfassten, werden stärker auf die drei Gruppen zugeschnitten. Bisher bereits stark vertreten ist die KfW im Mittelstand und bei privaten Kunden. Künftig soll der öffentliche Bereich - etwa Kommunen - hinzukommen. Der Vertrieb, den die Förderbank ausschließlich über andere Banken und Sparkassen vornimmt, soll mehr Gewicht bekommen.

Nach Jahren der Expansion und wachsender Reserven muss die KfW neuerdings um Erträge und Finanzierung kämpfen. Ihre Reserven sind durch die Finanzierung des IKB-Debakels aufgezehrt, ihr Wertpapierbestand im Zuge der Finanzkrise stark abgewertet. Eingestellt ist das Fördergeschäft im westlichen Europa, nachdem es wegen des Island-Engagements politische Bedenken gegen die Unterstützung des Mittelstands in anderen Ländern gab. Am Kapitalmarkt erwachsen der KfW neue Konkurrenten, weil sich private Banken ihre Anleihen vom Staat garantieren lassen. Einen Vorteil aber habe die KfW, so stellte Schröder heraus. Sie müsse ihr Geschäftsmodell nicht ändern.

2009 will die KfW wieder Gewinn machen. Diesen Gewinn sowie künftige Erträge braucht sie auch, um ihren gewaltigen Verlustvortrag abzubauen. Der Zusammenbruch der Mittelstandsbank IKB zehrte nicht nur alle Reserven auf, sondern bescherte ihr schon 2007 auch einen Verlust in Höhe von 6,2 Milliarden Euro. Wie hoch der Verlust 2008 ausgefallen ist, steht noch nicht fest. Schröder sagte lediglich, das Ergebnis werde "um Meilen" besser ausfallen als zuvor. In neun Monaten wurde bereits ein Minus von 1,8 Milliarden Euro ausgewiesen. Schröder machte klar, er werde in den Abschluss des vergangenen Jahres auch ein Polster legen, um für Kreditausfälle in diesem Jahr vorzusorgen. Dabei sei vor allem an die Tochterbank Ipex zu denken, die Projekte deutscher Firmen im In- und Ausland zu marktüblichen Zinsen finanziert.

Die KfW will sich als größtes Förderinstitut bewähren. Foto: dpa

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Seine Nummer eins

Halbfinalist Roger Federer zeigt sich mit frischem Selbstvertrauen

Melbourne - Roger Federer hat inzwischen etwas von einem Elder statesman. Wenn er vom Tennisplatz kommt, lobt der 27-Jährige als erstes den Gegner. Anschließend folgt - zumindest bei den Australian Open - ein launiger Plausch mit Jim Courier, der die Zuschauer meist prächtig unterhält. Nach dem Duschen kommen dann Ausführungen zum Tennis früher, heute und überhaupt. So war es auch am Donnerstag nach dem Halbfinale gegen Andy Roddick. Federer hatte souverän gewonnen: 6:2, 7:5, 7:5. Also lobte er den Gegner ("Das Niveau war hoch"), er verriet Courier, dass er vier Handtücher in seiner großen Tasche davonschmuggle ("Ich habe schon so viele, dass ich im Hotel darunter schlafe"), und als er seine goldene Uhr ums Handgelenk gelegt hatte, reflektierte Federer über sich, Pete Sampras, Rod Laver und Ken Rosewall: "Wir werden nie genau wissen, wer der Beste überhaupt war."

An diesem Sonntag bietet sich Federer zumindest die Möglichkeit, den eigenen Status um eine Größe wachsen zu lassen. Zum 18. Mal in seiner Karriere steht er in einem Grand-Slam-Finale. Häufiger hat die letzte Runde der prestigeträchtigsten Turniere lediglich ein Profi erreicht: Ivan Lendl kommt auf 19 Endspiele - aber lediglich auf acht Titel. Die Kategorie der Grand-Slam-Triumphe führt Pete Sampras mit 14 an. Federer kann den Rekord nun einstellen. Sein Gegner wird an diesem Freitag von 9.30 Uhr deutscher Zeit an ermittelt. Es wird in jedem Fall ein Linkshänder aus Spanien sein. Entweder Rafael Nadal, die aktuelle Nummer eins der Weltrangliste, oder der 25 Jahre alte Fernando Verdasco, der bei einer großen Veranstaltung noch nie so weit gekommen ist. Gegen Nadal hat Federer 2008 in Wimbledon und bei den French Open im Finale verloren. Eine Revanche käme ihm deshalb recht.

In der Grand-Slam-Bilanz zwischen den beiden führt Nadal 5:2. Außer in London und in Paris haben sich die Wege der beiden aber noch nie gekreuzt. "Das wäre eine faszinierende Begegnung", sagt Federer über die Aussicht, Nadal gegenüberzutreten. Der fünf Jahre Jüngere dürfte das spätestens nach dem Videostudium des ersten Halbfinal-Spiels ähnlich sehen. Gegen Roddick zeigte Federer Beeindruckendes. Ihm glückten 16 Asse - doppelt so viele wie dem als Gewalt-Aufschläger berüchtigten Roddick. Der US-Amerikaner konnte einem Leid tun. Kein anderer Spieler musste sich Federer so oft geschlagen geben. 16 Mal zog Roddick gegen ihn schon den Kürzeren, dabei spielte er dieses Mal wirklich nicht schlecht. Aber was er auch versuchte: Federer hatte eine Antwort. Im ersten Satz glückten ihm zwei Breaks. Von da an kontrollierte er die Partie. Nach zwei Stunden war sie vorbei. 15 000 Augenzeugen applaudierten. Unter ihnen auch derjenige, nach dem die Bühne benannt ist: Rod Laver. "Ich wusste nicht, dass er da ist", gab Federer an: "Hoffentlich habe ich die Chance, mit ihm zu reden." Von Legende zu Legende sozusagen.

Bis auf das Fünfsatz-Match gegen Tomas Berdych im Achtelfinale ist Federer locker durch das Turnier marschiert, bei dem er 2008 vom Drüsenfieber geschwächt im Halbfinale Novak Djokovic unterlegen war. Die Krankheit hat er weit hinter sich gelassen. Was seine Ziele in diesem Jahr seien, ist er nach dem Finaleinzug gefragt worden. Geantwortet hat Federer ganz ruhig: "Ich will hier gut abschneiden, vielleicht zum ersten Mal in Paris gewinnen, meinen Wimbledon-Titel zurück und dann die US Open zum sechsten Mal gewinnen. Außerdem will ich einige Masters-Titel sammeln, um meine Nummer eins zurückzubekommen." Er hat wirklich "meine Nummer eins" gesagt. René Hofmann

Chancenlos (I): Andy Roddick streckt sich gegen Roger Federer. Foto: AFP

Federer, Roger Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Versöhnlicher Abschluss

Am Ende kamen die Ungarn doch noch einmal heran, die Deutschen waren zudem in Unterzahl, und nach den Spielen der vergangenen Tage war klar: Sicher kann sich dieses Team erst sein, wenn die Schlusssirene ertönt, bis dahin können jederzeit die erstaunlichsten Dinge passieren. Diesmal aber war der Vorsprung groß genug, 28:25 (16:13) haben die deutschen Handballer die Auswahl aus Ungarn besiegt und sich damit den fünften Platz dieser WM in Kroatien gesichert. "Damit kann ich sehr gut leben", sagte Bundestrainer Heiner Brand zufrieden, "wenn mir das vorher jemand angeboten hätte, dann hätte ich es angenommen."

Es war für die Deutschen ein versöhnlicher Abschluss des Turniers, das aus ihrer Sicht zwei Themen hatte: erstens, wie rasant sich die junge, neu zusammengestellte Mannschaft entwickelt hat, und zweitens, was sich die Schiedsrichter bisweilen zusammengepfiffen haben. Am Donnerstag war das zweite Thema erst einmal erledigt, "so langsam verfliegt auch die Enttäuschung, nicht ins Halbfinale gekommen zu sein", sagte Brand. Die war auch bei den Spielern verflogen. Sie stellten sich gesammelt ins, ums und ans Tor und posierten jubelnd für ein Mannschaftsfoto - eine Erinnerung an ein gelungenes, aufregendes und lehrreiches Turnier.

Beim Sieg gegen die Ungarn musste Brand auf Pascal Hens verzichten, und wie immer in diesem Turnier hatte die Mannschaft auf schlechte Nachrichten eine gute Antwort. Diesmal hieß die Antwort Lars Kaufmann, der sich wie im Bild gegen Tamas Ivancsik (Foto: AP) immer wieder in Szene setzte und acht Treffer erzielte. Mehr Tore warf niemand auf dem Feld.

Ebenso spektakulär agierte Silvio Heinevetter, der in der zweiten Halbzeit ins Tor durfte. Wie ein Schlangenmensch wand er sich bisweilen durch die Luft, seine Quote an gehaltenen Bällen war phantastisch, sie betrug über 50 Prozent. Heinevetter ist ein weiterer Spieler mit großer Zukunft in dieser deutschen Mannschaft, die sich noch am Anfang ihres Weges befindet. zas

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Schulden über Schulden

Die Regierungen springen mit unvorstellbaren Summen für Kreditinstitute und Konjunktur ein. Wenn sich Lä;;nder übernehmen, können sie bankrott gehen

Von Simone Boehringer

München - Unterhalb von zweistelligen Milliardenstützen vom Staat läuft in Europa so gut wie nichts mehr. In Amerika will Präsident Barack Obama sogar 800 Milliarden Dollar aufbringen, um die Wirtschaft vor dem Absturz zu bewahren. Solche Dimensionen sind bislang einmalig. Aber ein Ende der Interventionen ist nicht in Sicht und die Staaten müssen aufpassen, dass ihnen die Krise nicht selbst zum Verhängnis wird.

In Deutschland etwa soll die Höhe der Neuverschuldung im laufenden Jahr auf bis zu 50 Milliarden Euro steigen. Die Gesamtverschuldung des Landes beträgt schon jetzt knapp 1,6 Billionen Euro. Zum Vergleich: Die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik liegt bei 2,5 Billionen Euro. Für die aufgelaufene Zinslast gibt der Bund jeden sechsten Euro aus.

Kanzlerin Angela Merkel stellte kürzlich fest: "Es gibt das Gerücht, dass Staaten nicht pleitegehen können. Dieses Gerücht stimmt nicht." Zwar ist die Bundesrepublik als einer der besten Schuldner der Welt von einer Schieflage noch weit entfernt. Doch zum einen agiert die Bundesregierung in der europäischen Währungsunion nicht alleine. Der Wert des Euro und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) spiegelt die Wirtschaftskraft aller 15 Mitgliedsländer wider, zu denen auch klamme Kandidaten wie Spanien und Italien gehören. Andererseits gehört das Bankensystem in Deutschland mit einer Bilanzsumme von acht Billionen Euro zu den größten der Welt. Die vergebenen Kredite von Deutscher Bank und Co. machen mehr als das Dreifache der Wirtschaftsleistung aus. Zum Vergleich: In den USA belaufen sich die Forderungen der Kreditinstitute in etwa auf Höhe dessen, was die Amerikaner binnen eines Jahres erarbeiten. Das bedeutet: Dreht sich die Abwärtsspirale weiter nach unten, könnten die Verluste der Finanzbranche hierzulande ungleich stärker zu Buche schlagen als anderswo.

Dass die großen Industriestaaten überhaupt so hohe Schulden machen können, um die Krise zu bekämpfen, liegt an deren besonderen Gläubigerposition. Im Unterschied zu Privatpersonen oder Unternehmen können Regierungen Kredite aufnehmen, die erst Generationen später abbezahlt werden. Genaugenommen ist dies längst die Regel, selbst in normalen Zeiten. Schulden werden kaum zurückgeführt, sondern durch neue ersetzt.

Technisch funktioniert Staatsverschuldung, indem die jeweilige Regierung Anleihen herausgibt. Dies kann sie theoretisch unendlich oft machen, solange Investoren, meist Banken oder andere Länder, ihr die Papiere abkaufen. Mit steigender Verschuldung muss der Staat allerdings eine immer höhere Zinslast tragen, was den Spielraum für andere Aufgaben einschränkt. Finden sich am Kapitalmarkt nicht mehr genügend Käufer, kann sich eine Regierung auch bei der Notenbank verschulden.

Gibt etwa die EZB im Gegenzug für Anleihen zusätzliches Geld aus, kann dies je nach Umfang aber preistreibend wirken. Das bedeutet: Höhere Inflation. Eine Sonderstellung als Schuldner nehmen die USA ein. Als Herausgeber der Weltleitwährung konnten sie sich bislang problemlos im Ausland verschulden. Vor allem führende Länder in Asien wie China und Japan kauften bereitwillig US Treasuries in Billionenhöhe auf und finanzierten so ihre Warenexporte nach Amerika. Doch mit der jüngsten Leitzinssenkung auf null ist die Rendite auf US-Staatstitel uninteressant niedrig geworden. Bleibt die Federal Reserve: Sie kann dem Staat Dollarguthaben gegen Anleihen einräumen. Geschieht dies in großem Stil, dürfte es allerdings nur eine Frage der Zeit sein, bis der Dollar ins Bodenlose fällt. Wenn aber die Amerikaner ihre Konjunkturprogramme nicht mehr finanziert bekommen, hat die Welt ein Problem. Und Merkels Feststellung könnte sich erfüllen.

Maßnahmen zur Konjunkturbelebung ab 2008 Staatsverschuldung ab 2006 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bustour zum Eigenheim

In Amerika boomt das Geschäft mit Versteigerungen. Reger Zuspruch sogar aus Deutschland

Von Eckhart Tollkühn

Um die 50 Dollar kostet sie, die Bustour mit dem Reiseziel Eigenheim. "Foreclosure Bus Tours" organisiert Wochenendfahrten zu Wohnimmobilien, die wegen der Zahlungsunfähigkeit der Besitzer zwangsversteigert werden. Das Unternehmen, das Schadenfreude zur Verkaufsstrategie macht, hat Zweigstellen im ganzen Land und unzählige Nachahmer. Das Geschäft boomt; eine ironische Folge von Finanzkrise und Rezession. Auch Käufer aus dem Ausland, Deutsche, Briten und Australier springen auf den Zug. In manchen Gegenden der USA liegt der Anteil ausländischer Käufer bei 15 Prozent. Sie kaufen sich vor allem in Urlaubsregionen wie Florida ein, wo der Preisverfall nach den enormen Verteuerungen in der Vergangenheit jetzt besonders gravierend ist. In den größten US-Städten sind die Häuserpreise durchschnittlich um 17,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken.

Ein Ende der sich nach unten drehenden Preisspirale ist noch nicht abzusehen. Im Gegenteil: Experten rechnen für dieses Jahr mit einer Beschleunigung der Talfahrt. Die Fundamentaldaten verheißen nichts Gutes. Das amerikanische Bruttoinlandsprodukt sank im 2. Quartal 2008 mit 0,5 Prozent stärker als erwartet. So ist wohl damit zu rechnen, dass noch mehr Hausbesitzer in den Strudel der Zahlungsunfähigkeit geraten. Momentan sind vier Millionen Haushalte von Zwangsvollstreckungen bedroht. Jeder fünfte Eigenheimbesitzer ist in Zahlungsverzug geraten. Und die, die noch zahlen können, tun dies mit der niederschmetternden Gewissheit, das ihre Hypothekenschulden höher sind als der schwindende Wert ihrer Häuser. Bei immerhin 7,6 Millionen amerikanischer Wohnimmobilien ist dies der Fall. 18,6 Millionen Häuser stehen leer und warten auf Interessenten. Doch die lassen auf sich warten. Die Käufe durch Schnäppchenjäger sind derzeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Experten rechnen damit, dass die Talsohle im 3. Quartal 2009 erreicht wird. Die allgemeine Kauflaune wird erst dann einsetzen, wenn die Preise so weit fallen, dass eventuelle Mieteinnahmen bequem alle Kosten decken, glauben sie. Das bringt zumindest wieder die Spekulanten auf den Plan. Ohne staatliche Hilfe scheint im Moment nichts mehr zu gehen. In der Immobilienbranche wurde zunächst das Füllhorn der Regierung über die Verursacher, nicht aber die Opfer der Krise ausgeschüttet. Große Erwartungen setzen die Geschädigten auf den neuen Präsidenten. In Barack Obama sehen sehr viele Amerikaner den Heilsbringer. Freilich gibt es auch argwöhnische Stimmen. Das sei so, als würde die Titanic einen neuen Kapitän bekommen, nachdem sie den Eisberg gerammt hatte, illustriert Guy Cecala im Magazin Inside Mortgage Finance seine Skepsis. Natürlich hat sich Obama auch Gedanken über die Immobilienkrise gemacht. So schlägt er vor, dass alle Hypothekenbanken, die von dem milliardenschweren Hilfsfond der Regierung profitieren, zumindest drei Monate lang mit Zwangsvollstreckungen warten. Er plädiert außerdem für ein neues Gesetz gegen den Hypothekenbetrug und neue Maßnahmen, die den Erwerb eines Eigenheims auf einer soliden finanziellen Basis erschwinglicher machen. Nun ist die alte Regierung mit einem Maßnahmenpaket zur Immobilienkrise zuvor gekommen. Schuldner, die unter der Last von ruinösen Kreditverträgen mit flexiblen Zinssätzen leiden, soll die Möglichkeit gegeben werden, neue, langfristige Verträge mit niedrigen aber festen Zinssätzen auszuhandeln, vorausgesetzt sie sind mit ihren Zahlungen seit mindestens drei Monaten im Rückstand und die Hypothek macht mindestens 90 Prozent des Immobilienwertes aus.

Darüberhinaus kündigte die Notenbank an, sie wolle durch Hypotheken gesicherte Wertpapiere im Wert von 500 Milliarden Dollar kaufen, um den Häusermarkt zu stabilisieren. Inzwischen haben auch einige der Großbanken Hilfe in Form von Zahlungsaufschub und Umschuldungen zugesagt. Die Misere im privaten Wohnungsmarkt der USA ist aber nicht stellvertretend für den gesamten Immobiliensektor des Landes. "Wir haben sogar neue Auslandskunden hinzugewonnen", sagt Jim Fettgatter, Sprecher des Verbandes ausländischer Investoren Afire. Im Gegensatz zu Deutschland enthalten Reits (börsennotierte Immobilienaktien) in den USA auch Wohnungen. Sie profitieren von der Eigenheimkrise, weil viele zahlungsunfähige Eigenheimkäufer jetzt zur Miete wohnen müssen. Dadurch steigen die Mietpreise und die Erträge der Reits. Wegen der niedrigen Zinsen und bröckelnder Aktienkurse bleiben Immobilien in den USA weiter eine lukrative Alternative für institutionelle Anleger.

"Neue Auslandskunden hinzugewonnen"

Häuser warten auf Käufer. Doch die Kauflaune kommt wohl erst zurück, wenn aufgrund sinkender Preise die Mieteinnahmen die Kosten decken. Foto: AFP

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Fluch der Karibik - Segen der Oper

Philipp Stölzl gelingt in Basel eine grandiose Deutung von Wagners "Fliegendem Holländer" - mit Anleihen beim Film und einer großen Liebe zum Detail

Der Coup ist Philipp Stölzl gelungen: Ganz so, wie man es aus zahllosen Aufführungen von Wagners "Fliegendem Holländer" kennt, wartet auch seine Senta auf der Bühne des Basler Theaters Mitte des zweiten Aktes nervös auf ihren Bräutigam. Doch dann passiert's - anders als in all den anderen Aufführungen tritt nicht der Verdammte der Meere ein, sondern ein Wildfremder, ein lethargischer alter Herr mit goldenen Uhrketten vor der stattlichen Plauze, dem Vater Daland seine Tochter verschachert hat. Ein Schock, der nicht nur bei Senta, sondern auch beim Publikum tief sitzt und der die Stille, die bald darauf zu Beginn des wunderbaren Duettes "Wie aus der Ferne längst vergangner Zeiten" herrscht, nicht mit dem gewohnten Aufkeimen von Liebe und Zuneigung, sondern mit klammem Entsetzen füllt.

Denn der fliegende Holländer, so Stölzls These, existiert (wie ohnedies alle um sie herum wissen) nur in Sentas Phantasie und lebt nur in dem dicken Folianten, den die halbwüchsige Kapitänstochter zur Ouvertüre aus Vaters Bibliothek stiebitzt und in dem großen Seegemälde, der dort als repräsentativer Raumschmuck hängt. Nur sie sieht und hört den schwarzbewamsten Helden, der aus diesem Bild heraus singt und mit dem sie eine andere, traumhafte Realität erlebt. Wenn sie im zögernden, zerbrechlichsten Pianoton die eigenen Sinne zu befühlen scheint und sich fragt, ob ihre Wahrnehmung denn nun Wahn oder Wirklichkeit ist, schneidet das ins Herz, so beklemmend schmerzhaft klingt Wagners Musik plötzlich. Auf so engem Raum drängen sich da Hoffnung, Entsetzen und schiere Lebensangst, dass selbst die leichten musikalischen Koordinationsprobleme der beiden Sänger wirken, als sollten sie die Gefährdung Sentas demonstrieren, buchstäblich ver-rückt zu werden.

Dieser "Fliegende Holländer" ist die vierte Opernarbeit des Regisseurs Philipp Stölzl und nach seinem meisterlichen Gounod-"Faust" im vergangenen Jahr, ebenfalls am Basler Theater, wiederum eine, die den Rang des Opern-Spätzünders als einer der wichtigsten Musiktheaterregisseure seiner Generation festigt. Tatsächlich könnte es sogar sein, dass der Multitalentierte, der zuletzt seinen Bergsteiger-Film "Nordwand" in die Kinos brachte, dem derzeit etwas orientierungslosen Regietheater so etwas wie eine neue Tür aufstößt: Eine, hinter der der Glaube an die Oper, ihre Gefühle und Geschichten liegt, hinter der man aber die gequält naturalistischen Aktualisierungen der Stoffe ebenso vergeblich sucht wie hämische oder besserwisserische Distanz. Denn Stölzl, das zeigte schon sein Regiedebüt mit Webers "Freischütz" genauso wie sein "Faust", liebt diese Stücke ebenso wie das Erzählen an sich und lässt die Liebe in jedem Detail spüren.

Auch in seinem "Holländer" ist diese reflektierte Naivität, die ernste Inhalte keineswegs ausschließt, immer spürbar: Natürlich hat der Holländer nicht nur die piratengemäße Hakenhand (und dank dem jungen Alfred Walker auch einen markanten, dringlichen Bariton), sondern auch ein echtes Schiff. Dieses Schiff, dessen Bug sich über die Basler Bühne schiebt, könnte mit seinem Muschelmodder und dem lustig blinkenden Widerschein auf den Brüsten der schmucken Gallionsfigur glatt aus dem Kinohit "Der Fluch der Karibik" stammen. So, wie die Zombie-Matrosen bei Käptn Jack Sparrow in Dienst sein könnten, scheinen die Dienstmädchen, die im Hause Daland die Spinnwebfädchen fortwischen, ein gemeinsames Aufgebot aus dem "Haus am Eaton Place" und einigen BBC-Dickens-Verfilmungen zu sein.

Stölzl und sein Team (Co-Regie: Mara Kurotschka, Bühne: Conrad Reinhardt, Kostüme: Ursula Kudrna) schöpfen da ohne Hemmungen aus dem Vollen. Von den Ärmelschonern des Buchhalters Erik (Thomas Piffka singt ihn passend als Jammerlappen) über die schicke Leselampe, die Senta beim Vorlesen ihrer Ballade hingestellt wird, bis zu den Caspar-David-Friedrich-inspirierten Bildern ("Die gescheiterte Hoffnung"), mit denen die Traumebene des Stücks immer wieder illustriert wird, sind die ganzen zweieinviertel Stunden dieses Urfassungs-"Holländers" randvoll mit Augenreizen, die jedoch in ihrer präzisen Zweckbezogenheit nur die Intensität der Erzählung erhöhen. Stölzls Opulenz gleitet eben nicht ins bloß Dekorative, sondern bleibt engstens an Musik und Text gebunden und macht selbst kühne Umdeutungen möglich: Zu den berühmten Chorszenen im dritten Aufzug ("Steuermann, lass' die Wacht") etwa lässt er Sentas Hochzeitsgäste aufmarschieren und das heillos betrunkene Brautpaar verspotten - ihr täppisch-beschwipster Ausdruck gewinnt eine fast widerwärtige Präsenz.

Es ist, wie oft bei großen Abenden an mittleren Häusern, die Regie, die diese Basler Premiere trägt und die immer wieder bekräftigt, dass es in dieser Oper schließlich um Leben und Tod geht. Friedemann Layers erschreckend nüchternem, geradezu emotionsfreiem Dirigat lassen sich leider keine menschlichen Extremzustände entnehmen, und so tapfer sich die Finnin Kirsi Tiihonen mit ihrem dramatisch präsenten, aber schon etwas strapazierten Sopran in ihre Senta wirft, so sehr hätte man dieser Inszenierung eine Protagonistin von den sängerdarstellerischen Möglichkeiten einer Nina Stemme oder Karita Mattila gewünscht. Aber welches Opernhaus erfüllt schon solche Träume? JÖRG KÖNIGSDORF

Ein Schiff wird kommen - aber es entsteigt ihm nicht Käptn Jack Sparrow, sondern der Holländer mit seinen Zombie-Matrosen. Foto: T+T Fotografie

Stölzl, Philipp Theater Basel Der fliegende Holländer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mit Blick aufs Dach der Eltern

Der Heimweltcup in Garmisch-Partenkirchen bringt den deutschen Skirennfahrern nicht nur Vorteile

Garmisch-Partenkirchen - "Das ist mein Berg, mein Hang, mein Rennen": Deshalb freut Felix Neureuther sich auf den Weltcupslalom am Sonntag in seinem Heimatort Garmisch-Partenkirchen. Auch wenn es zur Zeit durchaus Gründe gibt, die ihm die Freude an seinem Beruf als Skirennfahrer vergällen könnten: Am Dienstag schied er in Schladming schon wieder aus, zum fünften Mal in diesem Winter.

"Ich werde vor dem Slalom am Gudiberg vermutlich nervöser sein als bei der WM in Val d'Isère", sagt seine Partenkirchener Skiclubkollegin Maria Riesch. Sie hat zwei Chancen: den Slalom am Freitag, den Super-G am Samstag. Im Gegensatz zu Neureuther sind für sie Rennen vor der Haustür etwas ganz und gar nicht Vertrautes. Sie fuhr erst einmal hier, "es ist eine neue Situation für mich, überhaupt Rennen hier in Garmisch zu fahren. Ofterschwang vergangenes Jahr war auch ein Heimrennen, schon dort war ich ziemlich nervös - hier ist es noch mal eine Nummer mehr: Man steht am Slalomstart, schaut bis in den Ort runter (nebenbei genau aufs Dach des elterlichen Betriebs - einen guten Steinwurf vom Ziel entfernt/die Redaktion), und das auch noch als Favoritin und Lokalmatadorin. Ich hoffe, dass ich in dieser Situation die Nerven behalte."

Der Druck wird größer

Heimrennen sind erst mal eine Chance: Wo fuhr Stefan Stankalla, heute Rennleiter auf der Kandahar-Piste für das Frauenrennen, seine einzigen Top-Ten-Resultate herein? Auf der Kandahar (2001, Fünfter im Super-G, Neunter in der Abfahrt). Wo schien der spätere Siegfahrer Max Rauffer erstmals im Kreis der Elite auf? Vor elf Jahren in Garmisch, als Abfahrtsachter. Wo holte der spätere WM-Dritte Florian Eckert seine ersten Weltcuppunkte: Hier, als 28., 20-jährig. Demnächst wird er 30 und hat für diesmal studienhalber als Rennleiter der Männerabfahrt ausgesetzt.

Ortsansässige Teilnehmer neben den beiden Cracks sind in der Abfahrt am Samstag die Strodl-Brüder Peter und Andreas, im Slalom Fritz Dopfer (SC Garmisch - alle anderen fahren für Partenkirchen), die jüngere Riesch-Schwester Susanne, Fanny Chmelar sowie Nina Perner, die zwar bei Rheinbrüder Karlsruhe eingeschrieben ist (denen einst auch die Olympiasiegerin Katja Seizinger angehörte), aber aus sportlichen Gründen verzogen nach Garmisch. Für sie gilt Heimvorteil schon wegen guter Terrainkenntnis: Der Slalomhang am Gudiberg ist die Trainingsstrecke des Olympiastützpunktes gleich nebenan, und die neuen Speedpisten am Kreuzeck wurden von den Heimfahrern vorab getestet.

Die beiden Anführer des Teams spüren bei den Rennen zu Hause auch etwas anderes: zunehmenden öffentlichen Druck. "Vergangenes Jahr hat mich Garmisch fertig gemacht - der Zugang, der Trubel", gesteht Felix Neureuther. Er war damals der Meinung, er könne da alles steuern und koordinieren, aber nachdem er - gesundheitlich angeschlagen - an Rang 17 geendet hatte, musste er einsehen: "Es war zu viel" und beschloss für 2009: "Das Heimrennen werde ich diesmal ganz anders angehen."

Erst recht, weil er in einem ziemlichen Tief steckt, eine Woche vor Beginn der Weltmeisterschaften. "Aus meiner persönlichen Situation kann ich ja nicht raus", sagt der in Wengen, Kitzbühel, Schladming dreimal hintereinander Ausgeschiedene. "Ich weiß trotz allem, dass ich schnell bin - das gibt mir Mut und Zuversicht für Garmisch. Für dieses Rennen baut man auch eine besondere Spannung auf. Es ist was ganz Großes, das zu erleben und zeigen zu können, was man kann. Darauf freue ich mich absolut und extrem." Aber damit ihn Garmisch diesmal nicht wieder fertig macht, hat er sich mit seinem Kinetiktrainer an einen unbekannten Ort verzogen ("ich bin mal weg"), um in Ruhe mental und koordinativ zu arbeiten, zu versuchen, alles wieder auf die Reihe zu kriegen. Die Ski wurden erst diesen Freitag wieder in Betrieb genommen.

Er ist schon so oft den Gudiberg heruntergefahren, seine Klubkollegin Maria Riesch - wie er 24 Jahre alt - hingegen überhaupt noch nie. Auch nicht in ihrem Debütwinter 2001: Der Super-G auf der Kandahar war das einzige Weltcuprennen, in dem sie in jener Saison mitmachen durfte. "Unglaublich, dass das schon acht Jahre her ist!", aber die Erinnerung ist frisch: "Mit Startnummer 60 auf der Kandahar", 16-jährig. Weil sie als Neuling derart weit hinten eingereiht war und die Startintervalle zwei Minuten betrugen, wurde es Nachmittag, bis sie endlich dran war. "Ich wartete in der Skihütte Garmischer Haus und aß einen Germknödel. Dieses erste Weltcuprennen war ein cooles Erlebnis".

Noch cooler durch den Ausgang: "Ich fuhr gleich in die Punkteränge", landete auf Platz 20. Sogleich entbrannte die Kampagne um Germany's next Skistar, und Coaches und Betreuer bekamen mächtig was zu tun mit der Abschirmung des Talents, welches behutsam aufgebaut werden sollte. Das ist wohl gelungen - elf Weltcuppunkte wie damals sind heutzutage eine eher karge Ausbeute für Maria Riesch, und acht Jahre später braucht sie keine Zeit mehr in der Skihütte totzuschlagen, bis sie endlich drankommt. Wolfgang Gärner

"Ich weiß trotz allem, dass ich schnell bin": Slalomfahrer Felix Neureuther fiel zuletzt vor allem durch die Tatsache auf, dass er dreimal in Serie ausschied (hier in Kitzbühel) - am heimischen Gudiberg sinnt er auf Revanche. Foto: Reuters

Neureuther, Felix Riesch, Maria Riesenslalom Männer im Alpinen Ski-Weltcup Super-G Frauen im Alpinen Ski-Weltcup SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rettet Klenzes Marstall!

Offener Brief der Akademie der Schönen Künste München

Die Pläne, auf der handtuchschmalen Freifläche im Rücken des Münchner Marstalls einen Konzertsaal für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu errichten und dabei das von Leo von Klenze entworfene Marstallgebäude, ein Hauptwerk des deutschen Klassizismus, von hinten zu durchlöchern und zum Foyer - man könnte auch sagen: zum Windfang - des Konzertsaals zu degradieren, haben immer schon Kritik auf sich gezogen. Jetzt hat der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Dieter Borchmeyer, der selber ein passionierter Nutzer des Münchner Konzertangebots ist, in Absprache mit den Mitgliedern der Akademie einen Protestbrief gegen diese - inzwischen auch von Ministerpräsident Horst Seehofer mit Lob bedachten - Konzertsaalpläne veröffentlicht. SZ

Lange hat es so ausgesehen, als ob der Ideenwettbewerb "Kulturobjekt Marstall", der im September 2007 zugunsten des Konzertsaal-Entwurfs von Axel Schultes und Charlotte Frank entschieden wurde, in der Versenkung verschwunden wäre, da Finanzminister Kurt Faltlhauser, der das Projekt entschieden förderte, 2008 aus der Regierung ausschied und der neue Minister für Kunst und Wissenschaft, Wolfgang Heubisch, dem Vorhaben keine Priorität zumaß. Durch die Erklärung von Ministerpräsident Horst Seehofer - "Ich möchte dieses Projekt" - wird es jedoch neuerdings wieder aus der Versenkung heraufgeholt. Es ist daher dringend erforderlich, zu dem Wettbewerbsergebnis Stellung zu nehmen und die Öffentlichkeit auf die architektonischen, denkmalpflegerischen, städtebaulichen und allgemeinen kulturellen Konsequenzen dieser Planung hinzuweisen.

Der von Leo von Klenze entworfene Marstall ist einer der bedeutendsten Bauten dieses großen Architekten, der München wie kaum ein anderer geprägt hat. Nach schweren Verlusten im Weltkrieg zählt der Marstall neben der Glyptothek und der Alten Pinakothek zu den nicht gerade zahlreich erhaltenen Meisterwerken Klenzes. Auch wenn das großartige Gebäude nicht immer seinem ästhetischen Rang gemäß genutzt wurde, ändert das nichts an seiner herausragenden Bedeutung und prominenten Stellung in der Architektur des 19. Jahrhunderts. Der Marstall ist im Zusammenhang der Residenz als freistehendes, allseitig wirkendes Bauwerk konzipiert worden und bestimmt deshalb durch seine Dimension und Symmetrie die gesamte Umgebung.

Dass an eine Architektur dieser Bedeutung ein Anbau über die ganze Längsseite angefügt werden soll, kann nur als ein Akt der Barbarei bezeichnet werden. Genausogut könnte man vorschlagen, um einer eventuell notwendigen Erweiterung der Pinakothek willen doch einfach das Gebäude zu verdoppeln. Es ist vollkommen unverständlich und inakzeptabel, dass ein architektonisches Juwel ruiniert werden soll, um einen Konzertsaal zu gewinnen, dessen Sinn und Notwendigkeit für München umstritten ist, der aber auf keinen Fall um den Preis der Zerstörung eines herausragenden Baudenkmals verwirklicht werden darf.

Schon die Jury, in der die Denkmalpflege kein Stimmrecht hatte, merkte in ihrem Bewertungstext kritisch an, dass durch den geplanten Konzertsaal "die direkte räumliche Verbindung zwischen dem Franz-Josef-Strauß-Ring und der Marstallbebauung Süd verstellt und die Solitärwirkung des Marstalls beeinträchtigt wird", ja dass "die historisch-städtebauliche Dominanz" des Bauwerks aufgegeben und die ursprüngliche Raumwirkung "verzeichnet" würde. Um so unverständlicher ist es, dass es überhaupt zu einer Prämierung dieses nur als Desaster zu bezeichnenden Entwurfs kam. Der klassizistische Marstall würde durch einen Anbau zu einem Zwitter verunstaltet und die gesamte städtebauliche Situation zwischen Residenz, Maximilianstraße und Altstadtring gravierend beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Auslobungstext Ziffer 8.1 festgelegt wurde, dass "eine unmittelbare Beauftragung eines der Preisträger oder Teilnehmer des Ideenwettbewerbs ausgeschlossen ist." Dass das Projekt von Schultes und Frank einfach zur Ausführung bestimmt wird, ist somit juristisch ausgeschlossen.

Die Bayerische Akademie der Schönen Künste fordert die Verantwortlichen auf, im Interesse der Kunst und Kultur in München die Planung zu einem Konzertsaal in dieser Form und an diesem Ort nicht weiter zu verfolgen. Ob München überhaupt einen dritten großen Konzertsaal braucht und ob nicht durch den Umbau der Philharmonie im Gasteig die drängenden Konzertsaalprobleme in München gelöst werden können, das soll in einer Podiumsdiskussion der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im März erörtert werden.

Dieter Borchmeyer

Präsident der Akademie

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Frucht und Spiele

Das Wohnprojekt "Johannis-Garten" räumt Freizeit- und Begegnungs-Möglichkeiten hohen Stellenwert ein

Nicht nur anhand von Entwurfs-Skizzen möchte die Baywobau Immobiliensuchende von den Vorzügen ihres neuen Wohnprojektes "Johannis-Garten" überzeugen. Vielmehr können sie sich von der Aussichtsterrasse des Verkaufscontainers aus bereits jetzt Eindrücke vom künftigen Wohngefühl auf dem Areal in Johanneskirchen im Münchner Stadtteil Bogenhausen verschaffen. Der Verkaufsstart war auf den 19. Dezember vergangenen Jahres gelegt worden, damit die potentiellen Käufer ihre Entscheidung über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel "in aller Ruhe überdenken konnten", sagt Baywobau-Verkaufsleiter Thomas Wagner. Fünf Stadtvillen mit insgesamt 88 frei finanzierten Wohnungen wird der Bauträger von diesem Frühjahr an auf dem Areal am Bichlhofweg errichten.

"Das Besondere an der Wohnanlage sind die Wohnhöfe mit verschiedenen Johannisbeersträuchern als Frucht- und Blütengehölz. Beete mit Blumen verschiedener Farben, Rasenflächen, Sitzbänke und Flächen, die für Boule und Boccia geeignet sind, geben den Freiräumen ihren besonderen Charakter und schaffen Orte der Begegnung und Kommunikation", heißt es im Exposé weiter. Diesen sogenannten Grünhöfen zugeordnet seien "intime Privatgärten, die durch Hecken eingerahmt sind". Bei den Eckwohnungen würden spezielle Steinmauern für Sichtschutz sorgen. Im Norden und Osten grenzt die Wohnanlage an einen stattlichen Baumbestand. Durch eine spezielle Anordnung der Baukörper (teils im rechten Winkel zueinander, teils nach hinten versetzt) sei es hier möglich, ruhige Gartenhöfe sowie zwei oder drei Spielplätze und weitere Spielflächen für Kinder zu schaffen. "Kinder können sich hier richtig austoben", sagt Wagner. Die Spielplätze sollen teilweise durch Fahrradhäuschen abgeschirmt und so in die Anlage eingebunden werden, dass Blickkontakt von den Wohnungen aus möglich ist. Dementsprechend bilden Familien eine wichtige Zielgruppe des Bauträgers. "Aber auch Singles und Paare, die nicht ständig das pulsierende Leben der Großstadt brauchen, bei Bedarf jedoch in Kürze im Zentrum sein wollen, sind hier gut aufgehoben", ergänzt Wagner.

Jede der viergeschossigen Stadtvillen wird über 15 bis 18 Wohnungen verfügen, auf jeder Etage befinden sich somit maximal vier Wohnungen. "Helligkeit und Leichtigkeit" sollen den Gesamteindruck von der Wohnanlage prägen, zu dem auch ein "strahlendes Weiß und dezente Grautöne" bei der Farbgestaltung der Fassaden beitragen sollen. Die Wohnungen selbst böten dank ihrer "Variabilität und Flexibilität" Raum für "großzügige, repräsentative Wohnideen". Und die Konzeption der Grundrisse erlaube es, "Bedürfnisse nach Geborgenheit, Behaglichkeit, aber auch Geselligkeit in die Realität umzusetzen". Bei der Innenausstattung setzt der Bauträger auf einheimische Hölzer und umweltschonende Materialien, wobei auch Sonderwünsche berücksichtigt werden. Für die Innen- und Außenwände verwendet er ausschließlich Ziegel. Durch Wärmeschutz-Maßnahmen und entsprechende Heizsysteme werde hier der KfW-60-Standard erreicht. Die Preise für die Wohnungen im Johannis-Garten beziffert Thomas Wagner auf durchschnittlich 3500 Euro pro Quadratmeter. Für die Penthouse-Wohnungen in den Stadtvillen (je zwei pro Dachgeschoss) müsse man bis zu 4000 Euro pro Quadratmeter hinlegen.

Das benachbarte Bürogebäude, das das Wohn-Ensemble zur Johanneskirchner Straße hin abschirmt, wird nach Angaben der Baywobau aufwendig renoviert und modernisiert. Das ehemalige Casino wird abgerissen; an dessen Stelle entstehen über der neuen Tiefgarage ein Ärztehaus und ein Supermarkt. Die Tiefgaragenzufahrt führt über die Freischützstraße.

Neben der nahen S-Bahn-Station Johanneskirchen, der Bushaltestelle Bichlhofweg "gleich vor der Haustür", der geplanten Express-Tram an der Cosima-Straße und der "schnellen Autoverbindung zum Mittleren Ring" zählt Baywobau-Verkaufsleiter Wagner auch die Einkaufsmöglichkeiten, unter anderem im nahegelegenen Freischütz-Karree, und das große Angebot von Schulen und Kindergärten zu den Vorzügen des Johannis-Gartens. Auch der Freizeitwert mit Tennis- und Fußballvereinen sowie dem Golfpark Johanneskirchen und der Naherholungswert - im Denninger Anger und im Bürgerpark Oberföhring, am Unterföhringer See und am Feringasee - gehörten zu den Pluspunkten der künftigen Wohnananlage in Johanneskirchen. Wenn diese gegen Ende 2010 fertiggestellt und bezogen sein wird, werden die Nutzer den Blick auf viel Grün ganz ohne Aussichtsterrasse genießen können.

NEUBAU

Tausende Wohnungen und Häuser werden jedes Jahr in München und Umgebung gebaut. Das Angebot ist vielfältig. Unter der Rubrik Neubau stellen wir vor, was wo entsteht.

Die begrünten Wohnhöfe bilden eine Besonderheit des Projekts "Johannis-Garten", das Bedürfnisse nach Rückzug mit dem Wunsch nach Kommunikation und Geselligkeit verbinden soll. Simulation: Baywobau

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Pittsburgh trifft Pittsburgh West

Ken Whisenhunt, Trainer der Arizona Cardinals, und neun seiner Spieler arbeiteten einst für die Steelers - jetzt kämpfen sie gegen ihren Ex-Klub um die Super Bowl

Tampa - Die Geschichte, welche die Super Bowl zwischen den Arizona Cardinals und den Pittsburgh Steelers so besonders macht, beginnt im Jahr 1944. Damals waren die Arizona Cardinals noch in Chicago angesiedelt, nicht allzu weit entfernt von Pittsburgh also. Weil gegen Ende des 2. Weltkrieges viele Footballspieler für den Kriegsdienst eingezogen wurden, beschlossen die Vereine, die Teams zu fusionieren. Es war der Beginn einer großen Freundschaft, und weil die Besitzer dieser beiden Franchise-Unternehmen mittlerweile Familiendynastien darstellen, sind die Kontakte immer noch gut. So gut, dass ein ehemaliger Co-Trainer der Steelers nun Cheftrainer der Arizona Cardinals ist - und somit in der Super Bowl 43 in Tampa (Montag, 0.28 Uhr MEZ) auf sein altes Team trifft.

Cardinals-Coach Ken Whisenhunt trägt eine Mütze mit dem aktuellen Super Bowl-Emblem, und in seinem Gesicht trägt er Stolz. Hier in Tampa redet er gerne über die vergangenen zwei Jahre und wie er es geschafft hat, aus einem Team, das nie richtig ernst genommen wurde, einen Super Bowl-Teilnehmer zu machen. Und das, obwohl die Punkterunde hohe und peinliche Niederlagen enthielt. Ein wenig hört er sich an wie ein US-Präsident bei der Antrittsrede: "Wir haben Jungs gebraucht, die sich wirklich aufeinander verlassen, die an unser System glauben und wie ein Team spielen."

Worüber er immer noch nicht so gerne redet, ist die Zeit davor. Bis heute sind nicht alle Details bekannt, warum Ken Whisenhunt Pittsburgh verließ. Als Hauptverantwortlicher für die Offensive gewann er mit den Steelers vor drei Jahren die Super Bowl, ein Jahr später galt er als bester Kandidat für den Cheftrainerposten. Doch bevor eine offizielle Entscheidung fiel, nahm Whisenhunt das Jobangebot aus Arizona an. Die Entscheidung kam so unerwartet, dass nur die Vereinsoberen dafür verantwortlich sein konnten, ohne dass der Deal schon vorher öffentlich wurde.

Offiziell hegt Whisenhunt natürlich keinen Groll gegen die Steelers. In der Woche vor der Super Bowl pflegen die Kontrahenten ohnehin, sich hymnisch zu loben. Fast schon albern klingt es, wenn Whisenhunt über den Quarterback der Pittsburgh Steelers spricht: "Ben Roethlisberger hat sich großartig entwickelt", sagt er. "Ich würde gerne mal mit Ken Golf spielen gehen, wenn das hier alles vorbei ist", sagt Roethlisberger. In Diplomatenspache heißt das wohl: Ich würde dich gerne besiegen. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Whisenhunt und Roethlisberger nie die besten Freunde waren. Als Roethlisberger 2006 einen Motorradunfall hatte, bei dem er ohne Helm gefahren war, verwies Whisenhunt auf mögliche Langzeitschäden und wollte den Quarterback auf der Ersatzbank lassen. Roethlisberger gab später zu, dass er sich unter Whisenhunt in seinen Möglichkeiten eingeschränkt gefühlt habe. Whisenhunt hält also nicht viel von Roethlisberger - was nun für ihn zu beweisen ist.

Doch Whisenhunts Vorgeschichte hat noch weitreichendere Folgen. Als der 48-Jährige in die Wüste von Arizona zog, nahm er zwei Co-Trainer und neun Spieler mit, weshalb nun auch gerne vom Spiel Pittsburgh gegen Pittsburgh West die Rede ist. Einer von ihnen, der Passempfänger Sean Morey, erzählt, wie sehr ihn die Atmosphäre in der Kabine und im Klassenzimmer, wo Spielzüge studiert werden, an seine Zeit in Pittsburgh erinnert. Und Quarterback Kurt Warner glaubt, dass die Trainer auch das Selbstvertrauen und die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Gegner mit nach Phoenix gebracht hätten, wofür die Steelers bekannt sind. Die Cardinals haben noch nie die Super Bowl gewonnen, sie waren bisher noch nicht einmal nah dran. Die Steelers hingegen waren schon fünfmal erfolgreich und wären mit einem Sieg am Wochenende alleiniger Rekordmeister der National Football League (NFL).

Mental wie physisch spielen die Cardinals nun so, wie es die Steelers vor drei Jahren taten, mit ungewöhnlichen Trickspielzügen, um den Gegner zu irritieren. Außerdem haben die Steelers immer noch 20 Spieler im Kader, die einst unter dem heutigen Cardinals-Trainerstab trainierten. Die Vertrautheit ist also gegenseitig, niemand hat einen taktischen Vorteil. Wahrscheinlicher ist, dass beide Teams viele Aufstellungen und Spielzüge zeigen, die bisher weiter unten in den Schubladen der Trainer lagen. Das macht diese Super Bowl trotz der klaren Favoritenrolle der Steelers unberechenbar. Zumal mehrere Spieler angekündigt haben, Strafen für übertriebenes Feiern in Kauf zu nehmen, wenn sie einen Touchdown erzielen. Christoph Leischwitz

Trainer Ken Whisenhunt Foto: AFP

Quarterback Kurt Warner Reuters

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Das infernalische Land

Untertagewelt ohne Läuterungsberg: Kurt Drawerts Abrechnung mit der DDR

Eine echte Hölle mit allem Drum und Dran: Es gibt einen neunstöckigen Trichter mit tiefen Schächten und einem komplizierten System aus glitschigen Gängen. Ein mörderischer Gestank betäubt die Sinne, es herrscht ewige Finsternis. Für die Fron der Verdammten sorgt ein verrosteter Maschinenpark. Die Insassen sind glatzköpfige, zahnlose, bleichgesichtige Engerlinge, und wer nicht spurt, wird in die unterste Ebene voller Schotter und Schlamm strafversetzt. Der Erzähler selbst macht dem Grauen alle Ehre: Er hat einen Klumpfuß, eine Hasenscharte und einen Schiefhals, leidet unter Schuppenflechte und bemisst kaum mehr als einen Meter. In barock sich verzweigenden Satzketten schildert er uns seine Umgebung und die Qualen seiner Existenz. Was soll das sein, eine infernalische Phantasie, die literarische Version eines Hieronymus-Bosch-Gemäldes? Oder ein zeitgenössischer Dante, bei dem es keinen Läuterungsberg mehr gibt, geschweige denn ein Paradies?

Der Schriftsteller Kurt Drawert, 1956 in Henningsdorf bei Brandenburg als Sohn eines Kriminalbeamten geboren und wegen seiner Renitenz gegen Regeln schon als Jugendlicher einigen Repressalien ausgesetzt, zieht sämtliche kulturgeschichtliche Register und unternimmt in seinem neuen Roman "Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte" den Versuch, das Unmenschliche am System der DDR in Bilder zu übersetzen und sprachlich zu transzendieren.

Gewährsmann der Unterweltreise ist eben jener klumpfüßige Insasse. Gleich auf den ersten Seiten kommt Drawerts zweite literarische Folie ins Spiel: Neben Dantes "Göttlicher Komödie", dessen Höllentopographie der Autor als metaphorische Verdichtung der "Deutschen D. Republik" nutzt, bildet die Geschichte von Kaspar Hauser den Bezugsrahmen des Romans. "An meine Stimme werden Sie sich gewöhnen, an meine gebrochene, Ihren Ohren unvertraut bleibende Stimme, an ihre Risse, Narben, wo die Wörter reißen, sich fügen, reißen, sich in Silben, zurück zu den Wörtern, zurück zu den Sätzen, zurück zu den Selbstverständlichkeiten sich formender Sätze, zurück", erklärt der Erzähler seinem Gegenüber, bei dem es sich um einen gewissen Feuerbach handelt.

Feuerbach ist natürlich ein Wiedergänger des historischen Gerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach, Kaspar Hausers Vormund und Verfasser der berühmten Fallgeschichte für das Bayerische Justizministerium. Auch Drawerts Figur ist ähnlich wie Kaspar Hauser mittlerweile Patient einer geschlossenen Einrichtung und schildert das alte "Land unter der Erde" aus der Retrospektive. Die Berichte des zerrütteten Höllenbewohners sind mitnichten linear - sein Erzählfluss bildet die kreisförmige Struktur des Trichters nach. Es handelt sich um ein ausuferndes Stottern, Stammeln und mühseliges Durchbuchstabieren des Erlebten, bei dem sich der "Kaspar der Revolution" Schritt für Schritt durch die Dunkelheit vorantastet und die alten Sprachschablonen überwindet.

Palimpsest und Schelmensaga

Ab und zu stößt man in diesem Roman auf kleine narrative Kapseln, und eine biographische Linie bietet grobe Orientierung. So werden die Stationen Kindheit, Volkserziehung, Musterung, Armee, erste Liebesverhältnisse und die Berufstätigkeit in einer Bibliothek, genannt "Leseanstalt", durchlaufen. Allein in dieser Lebensphase blitzten glückhafte Momente auf, denn hier hat der Held unbeschränkt Zugang zu verbotenem Wissen und kann die klandestinen Texte auch noch in Umlauf bringen. Nur die Literatur ist frei von der Kontamination durch das infernalische Land.

Der Werdegang des Helden knüpft an autobiographische Erfahrungen Drawerts an. Weil ihm Abitur und Studium verwehrt blieben, schlug sich der Autor als Hilfsarbeiter durch, bis er als Nachtwächter in der sächsischen Landesbibliothek unterkam und von dort schließlich an das Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher gelangte - auch im wahren Leben bot die Literatur den einzigen Ausweg aus der Misere.

In "Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte" unternimmt der Kurt Drawert eine Generalabrechnung mit dem, was für ihn DDR war und legt eine Mischung aus postmodernem Palimpsest und satirischer Schelmensaga vor. Die groteske Verzerrung hat Prinzip: gerade durch die totale Übersteigerung gewinnt der Ich-Erzähler die Deutungshoheit über seinen Stoff zurück und widersetzt sich einer biographischen Enteignung. "Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte" ist die originelle und oft auch mitreißende Rekonstruktion der historischen Umwälzungen in den achtziger Jahren. Dabei wird die DDR nicht, wie mittlerweile so oft, in ein putziges Retro-Design verpackt oder zu einem komisch-harmlosen Spielzeug-Ländchen umgedeutet, sondern in ihren Schrecknissen fassbar.

Drawerts Unterfangen hat aber auch eine sprachphilosophische Dimension. Das manische Gerede seines Helden legt einerseits die Sprachmechanismen der DDR bloß, spürt den Vergiftungen und Beschädigungen durch Sprache nach und bemüht sich zugleich, zu einem neuen Sprechen über die Wirklichkeit vorzudringen. Allerdings liegt genau darin das Wagnis und Risiko des Romans, sich in den selbst gebauten Sprachstollen zu verlieren. So sehr Drawerts Ansatz auf theoretischer Ebene überzeugt, so sehr erliegt er in manchen Momenten der Neigung zu einer allzu starken Verklausulierung: Wenn das Dickicht der Bezüge allzu sehr zunimmt und die Bedeutungsschichten sich fortwährend potenzieren, droht ein Leerlauf des ästhetischen Systems, und man kann der "vernarbten, brüchigen Stimme" nicht mehr folgen. Dennoch: Dies ist ein wichtiges Buch, ein Roman der Notwehr gegen die noch nicht untergegangene DDR, jenseits aller ostalgischen Vereinnahmungen. MAIKE ALBATH

KURT DRAWERT: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2008, 317 Seiten, 19,90 Euro.

Dem Nachtwächterdasein entkommen: Kurt Drawert Foto: Beck Verlag

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Gerodete Lichtungen

Der Philosoph Ludger Honnefelder fragt, woher wir kommen

"Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters" freizulegen, verspricht der Untertitel von "Woher kommen wir?" von Ludger Honnefelder. Wir haben in der Tat Überzeugungen geerbt, die uns selbstverständlich scheinen und doch jeden Tag neu verteidigt werden müssen: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" - das behauptet gegen alle Erfahrung die Erklärung der Menschenrechte - und wenigstens dies blieb uns vom mühsam gewonnenen Glauben, dass alle Menschen Gottes Kinder seien und nicht einer des anderen Wolf.

Ludger Honnefelder hat völlig Recht, wenn er feststellt, dass das Denken des Mittelalters nur wenigen Fachleuten und sogar unter den Philosophen nur denen bekannt ist, die sich näher mit dieser Epoche befassen. Unter diesen gibt es aber freilich kaum jemanden, der dieses Denken besser kennte als er. Es entspringt einem Konflikt von zwei geistigen Bewegungen, die im hohen Mittelalter aufeinanderstoßen: die auf Offenbarung des einen Gottes gegründete Religion und die nach Gründen fragende wissenschaftliche Philosophie der Griechen. Nur lassen sich beide nicht vereinen. Die gläubige Vernunft musste ebenso Selbstkritik üben wie die denkende; denn muss der Glaube nicht für die Vernunft verantwortbar sein? Und muss das Denken nicht seine Grenze bestimmen können?

Mit großer Konsequenz und Ausdauer hat Ludger Honnefelder in seinen Forschungen die Geschichte des modernen Denkens bis ins Mittelalter zurückverfolgt. Sein großes Werk "Scientia transcendens" (Meiner, 1990) zur Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, in der insbesondere der 1308 in Köln gestorbene Johannes Duns Scotus als ein genialer Denker auf dem Wege zu Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft" entdeckt wird, erweist die Erkenntniskritik, also das Herzstück der modernen Philosophie, als Erbstück aus dem Mittelalter. Dass kein Glaube die Wissenschaft obsolet macht, ist dem westlichen Denken seit langem geläufig; dass die Wissenschaft ihren Entdeckungen keinen Sinn einflößt, wird erst jetzt immer klarer und am Beispiel der Kernenergie und der Genmanipulation auch immer beunruhigender. Der Glaube an Mögliches und damit an eine Zukunft, die Idee der Freiheit des Individuums und damit der Verantwortung, die Menschheitsgeschichte und damit die Sorge um ihr vielleicht selbstverschuldetes Ende - das alles gab es nicht schon immer. Es ist in vielen Generationen von Menschen erdacht worden.

Nicht zufällig hat die moderne akademisch organisierte Philosophie sich hier ein neues Arbeitsfeld erobert, das man mit ein wenig Ironie "philosophisches Consulting" nennen könnte: "Consulting ist eine meist produktunabhängige Dienstleistung, die Aufgaben umfasst, für die der Auftraggeber im eigenen Haus kein Know-how zur Verfügung hat", heißt es im enzyklopädischen Jargon. Ludger Honnefelder hat sich mit Sachkenntnis und durchsichtigen Argumenten in verschiedenen Institutionen und politischen Gremien für ethische Fragen in den Wissenschaften, insbesondere in der Medizin und Bioethik, engagiert, und auch seine jüngsten Buchtitel bezeugen so etwas wie eine missionarische Ader: "Was soll ich tun, wer will ich sein?" (2007) und "Was schulden wir einander?" (2008) oder "Was heißt Verantwortung heute?" (2008) stehen neben unserem "Woher kommen wir?". Das Buch ist in der seit zwei Jahren virulenten Berlin University Press erschienen. "Wir brauchen Bücher, die wie Schneisen durch die Wälder führen, die Orientierung für unser Handeln bieten - dabei leicht sind, lesbar und sprachlich ,erträglich'. Diese Bücher macht die Berlin University Press", schreibt der Chef des Verlages und derzeitige Vorsteher des Börsenvereins für den deutschen Buchhandel Gottfried Honnefelder, der Bruder unseres Autors.

Ein Buch über die "Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters", das uns nicht nur die Herkunft unserer Überzeugungen, sondern auch deren Anspruch und Problematik erklärt, ist freilich sehr erwünscht - und wenn wir dem Verlagsprogramm und dem Titel glauben, dann haben wir es hier in der Hand.

Aber Ludger Honnefelder hat dieses Buch gar nicht geschrieben. Außer dem ersten und dem letzten reproduzieren die fünfzehn Kapitel längst veröffentlichte Vorlesungen und Vorträge sowie Beiträge zu Sammelbänden, Festschriften, philosophischen Zeitschriften und zum Historischen Wörterbuch der Philosophie, die sich über fast ein Vierteljahrhundert (von 1984 bis 2007) erstrecken. Aber die festen Buchdeckel und der schöne grüne Umschlag mit einem bedeutungsvollen Fernrohr sind eben nur ein "Mantel", wie ja auch die "Berlin University Press" nur ein "Mantel" ist, der weder mit Berlin noch mit einer University noch mit der englischen Sprache etwas zu tun hat.

Das Buch ist also inhaltlich und stilistisch heterogen. Es schlägt keine Schneise, sondern rodet Lichtungen. Eine Einleitung auf ganzen fünf und ein Resümee von knapp 10 Seiten helfen bei der Bemäntelung dieser Heterogenität. Die Einleitung ist so schnell hingeworfen, dass sogar syntaktische Inkongruenzen stehen geblieben sind, was in Honnefelders Schriften sonst nie vorkommt. Das Resümee formuliert die Grundgedanken abstrakt und verständlich, aber auch etwas gelangweilt. Nur wenige Eingriffe versuchen, die verschiedenen Ansätze mit dem Titel auf Vordermann zu bringen, z.B. durch einen einzigen angefügten Schlusssatz zu einem Artikel von 1986: "Allein hier liegt bei Augustin ein Ursprung der Moderne". Der Artikel "natura communis" im Historischen Wörterbuch der Philosophie (1986) schloss mit Leibniz und wird nun um ein paar Sätze über Ch. S. Peirce ergänzt. Das geschieht so lakonisch, dass nichts spürbar wird von dessen Bewunderung für die Gedanken des Johannes Duns Scotus - und noch weniger von der überzeugenden Darstellung, die der Autor dem amerikanischen Philosophen im vierten Teil seiner "Scientia transcendens" gewidmet hat.

Hier greifen wir wohl den hauptsächlichen Mangel des Buches: Dass wesentliche Elemente des modernen Bewusstseins ihren Ursprung im Mittelalter haben, ist so richtig wie unbefriedigend. Aber Ludger Honnefelder wehrt mit seinem letzten Satz jede weitergehende Frage ab: "Wer dies bestreitet, muss entweder einer (ihrerseits unhistorischen) Musealisierung des Mittelalters das Wort reden oder die genannten Elemente aus dem modernen Bewusstsein eliminieren." Aber wer dies gar nicht bestreiten will, ist mit Hinweisen wie dem auf Ch. S. Peirce erst richtig auf den Geschmack gekommen. Wie rechtfertigen oder begründen "wir" die Bedingungen aller unserer Erkenntnis, Moralität, Geschichtlichkeit? Und wer sind "wir"? Ludger Honnefelder jedenfalls ist Philosoph, Theologe und katholisch und hat dazu viel zu sagen und auch schon viel gesagt. Aber in diesem seinem letzten Satz ist er nur noch Professor.

Besonders in der ersten Hälfte des Buches produzieren wohl der Zwang zur Kürze und die professorale Sorge um Vollständigkeit einen Stil, der wenig Rücksicht auf den Leser nimmt. Keinem einzigen Satz von Ludger Honnefelder wird man vorwerfen können, dass er falsch oder auch nur nachlässig formuliert sei. Aber allzu oft ist seine Sorge nicht, lesbar zu schreiben, sondern unangreifbar. Es ist dies nicht einfach der persönliche Stil des Autors, denn er kann auch anders: Ist er nicht verständlich und überzeugend, wenn er ein Interview zu Fragen der Ethik gibt? Ist es nicht erstaunlich, dass seine Habilitationsschrift auf lange Strecken leichter zu lesen ist als manche Seite der hier versammelten Stücke? Und wer des Französischen mächtig ist, findet die beste und die am besten lesbare Darstellung seiner eigenen Position, die man ohne Zögern weise nennen darf, in jenen sechs Vorlesungen, die er als Inhaber der Chaire Étienne Gilson gehalten hat und die in einer ausgezeichneten französischen Übersetzung erschienen sind. Vielleicht wollte ja Ludger seinem Bruder nur einen Gefallen tun. Sein Porträt auf dem Umschlag blickt uns jedenfalls eher zweifelnd an, im Gegensatz zum jovial-erfolggewohnten Lächeln Gottfrieds, mit dem er im Internet seinen "Verlag für intelligent-leichte Wissenschaftsliteratur" vorstellt. HANS-HERBERT RÄKEL

LUDGER HONNEFELDER: Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters. Berlin University Press, Berlin 2008. 380 S., 39,90 Euro.

Die moderne Philosophie hat ein neues Arbeitsfeld: Consulting

Der eine Bruder schreibt Bücher, der andere macht Bücher

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Im Stadtplan lauert der Tod

Der Privatdetektiv Nestor Burma und die Geheimnisse von Paris

Er ist wieder da. In handlichen schwarzen Hardcover-Ausgaben, die Stadtpläne der jeweiligen Arrondissements, in denen die Geschichten spielen, sowie einen literarischen "Nachgang" enthalten, legt der Heilbronner Distel-Verlag die Reihe um den Pariser Privatdetektiv Nestor Burma neu auf. In den 1950er Jahren erstmals erschienen, haben die Romane von Léo Malet (1909-1996) nichts von ihrem ironischen Klang, ihrem Spielwitz und eigenwilligen Spannungsaufbau verloren. Der Anarchist Malet kannte seine Pappenheimer Hammett, Chandler, Cain und die anderen so gut, dass er deren Art, städtische Gesellschaftsschichten abzubilden, mit Links kopieren konnte, ohne sich auf französischem Boden mit pseudoamerikanischer Coolness lächerlich zu machen. Vom ersten Nestor-Burma-Roman an schrieb Malet unverwechselbar, und die Übersetzungen von Katarina Grän bestätigen seinen literarischen Rang bis heute aufs schönste.

"Schließlich setzte sie sich und zog ihren Rock über die Knie, um die Spitze eines lila Unterrocks zu verbergen, die durch die Bewegung vorwitzig hervorgeblitzt war. Trotz ihres Äußeren war an diesem Mädchen keine Spur von Herausforderung. Sie war, wie sie war, und so musste man sie nehmen. Schließlich konnte sie sich nicht die Titten abschleifen, weil sie ein klein wenig keck hervortraten, oder ihre wohlgeformten Beine in Gummistrümpfe zwängen, um niemandes Neid zu erwecken. Sie war einfach ein hübsches, junges Mädchen, das man gern beschützt und getröstet hätte . . . ". Mit dem Auftritt von Jacqueline Carrier beginnt Nestors Abstieg in die Unterwelten des Quartier Latin im 5. Arrondissement, wo er die Gründe für den Tod eines Studenten herausfinden soll (Léo Malet, Makabre Machenschaften am Boul' Mich. Aus dem Französischen von Katharina Grän. Distel Literatur Verlag, Heilbronn 2008. 216 S., 14,80 Euro).

Warum hat sich der 20-jährige Paul Leverrier, Sohn aus gutem Hause, Nachkömmling namhafter Ärzte, in seinem 2 CV eine Kugel in den Kopf geschossen? Und hat er das überhaupt getan oder wurde er ermordet? Diese Vermutung nämlich hegt seine Freundin Jacqueline, auch dann noch, als Nestor Burma von seinen Freunden bei der Kripo längst Einzelheiten über den Tatort erfahren hat. "Paul Leverrier hatte sich aus noch ungeklärten Gründen schlicht und einfach das Leben genommen, und der Schuldige war er selbst . . . ". Doch die Liebe ist stärker als die Wahrheit, und so will Nestor auf Drängen Jacquelines Licht ins Dunkel der Familie Leverrier bringen. Seine Nachforschungen - "Scheinermittlungen" nennt sie der genervte Kommissar Faroux - führen ihn in die Gefilde des Magiers, Scharlatans und Opiumhändlers Van Straeten und ins Umfeld einer Clique von Studenten, in der die junge Yolande und deren Geliebter, der dunkelhäutige Toussaint, bald eine tragische Rolle spielen werden.

Blut fließt im 5. Arrondissement, der heldenhafte Detektiv, anfangs allein gelassen von seiner grippekranken Sekretärin, wird nicht verschont. Zum Schutz gibt er sich als Gasmann aus. "Der Held, der so dicht neben der Tür stand, hätte nur einen Blick durchs Schlüsselloch zu werfen brauchen, um zu erkennen, dass er es nicht mit einem Auftragskiller zu tun hatte. Und warum stieg der Gasmann die Treppen dann so langsam hinauf? Spannung. Immer nur Spannung. Ich bin angespannt, also schwitze ich."

Ironie und Irrwitz prägen diesen Roman. Malet kennt sich aus, in Paris, im Krimigenre, in der Liebe und dem, was davon übrig bleibt am Ende der Moral. Obwohl: Moral, was ist das? Oder: Sondervollmachten. "Hat man Ihnen eine erteilt?" fragt Kommissar Faroux. Darauf Burma: "Ich habe mir selbst eine genehmigt, und zwar an dem Tag, an dem ich meinen Fuß in dieses Metier gesetzt habe. Ich brauche nicht die Meinung von sechshundert Hornochsen, die in einem fensterlosen Stall versammelt sind. "

In diesem Moment sieht man Philip Marlowe über den Ozean winken, und Sam Spade dreht sich zustimmend eine Zigarette, während Nestor Burma seine Stierkopf-Pfeife anzündet, um ein paar klare Gedanken zu fassen. So wenig Léo Malet die Hardboiled-Attitüden der Helden seiner Kollegen einfach nur kopiert, so wenig folgt sein Ich-Erzähler Nestor Burma den festgelegten Wegen realer Stadtpläne. Zwar existieren die Stadtteile, in denen er unterwegs ist, auch bestimmte Straßen, Gebäude, Plätze und Parks könnte ein wachsamer Spaziergänger in Paris aufspüren, oft allerdings nicht genau so, wie sie im Buche stehen. Denn Malet war ein charmanter Trickser, ein Spieler im Spiel des Genres, der sich selbst ungeniert und launig in seinen Romanen als realer Dichter und Chansonnier in Erinnerung rief. Mit Nestor Burma Verbrechen aufzuklären, bereitet pures Vergnügen. Mögen die Methoden des Detektivs gelegentlich etwas altmodisch anmuten, die anarchische Grandezza seiner Auftritte bleibt davon unberührt.

Über zwei Jahre lang hat Friedrich Ani, selbst Verfasser von Kriminalromanen, an dieser Stelle Klassiker und Neuerscheinungen des Genres vorgestellt. Mit diesem Text beendet er seine Kolumne. Wir sagen Dank. SZ

"Ihr, die Ihr hier einfahrt, lasst alle Hoffnung fahren" - Bergmänner beim Schichtwechsel an einem Schacht des Mansfeld Kombinats im September 1973. Nach dem Ende der DDR wurde der Kupferabbau im Mansfelder Land eingestellt. Foto: dpa

Ani, Friedrich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zwischen Bögen, über Felder macht der Ton die Türen auf

Von Polemik und Gegenpolemik umrankt: Der österreichische Lyriker Franz Josef Czernin und sein neuer Gedichtband "staub.gefässe"

Franz Josef Czernin, der 1952 in Wien geboren wurde, war immer schon für eine Debatte gut. Ob er in einem Essay über Durs Grünbeins Gedichtband "Falten und Fallen" herfiel oder buchlang mit Marcel Reich-Ranicki ins Gericht ging: Seine Polemik war immer scharf und nicht selten treffend. Dann aber traf es ihn selbst: 2002 erschien sein Gedichtband "elemente, sonette" und entfachte - zumindest im überschaubaren Kreis der Lyrikinteressierten - einen veritablen Streit. Auslöser war eine Rezension des Essayisten Leopold Federmair in der Neuen Zürcher Zeitung.

Federmair, der ebenfalls in Wien lebt, hatte sich offenkundig tief in Czernins lyrisches Werk versenkt, dabei aber offenkundig nichts Erfreuliches zu Tage fördern können. Er sah in Czernins Sonetten lediglich Wortspiele, die nirgendwo hin führten, ein bloßes "Aufstülpen von Formprinzipien" auf das im Grunde beliebige Wortmaterial. Die Gedichte klappern, so Federmair, "in ein und derselben Gangart dahin". Was bleibt, sei der "Eindruck des Maschinellen". Das Erstaunen war groß, denn eigentlich hatte man unter Avantgardisten Federmair für einen der ihren gehalten. Überhaupt schien es ein ästhetischer Fauxpas zu sein, die gerade zu neuen Ehren gekommene österreichische Tradition der Sprachkritik und des Sprachexperiments so vehement zu kritisieren.

Und dann war es auch noch Martin Mosebach, niemand also, der im Verdacht stand, der Revolution das Wort zu reden, der die schärfste Erwiderung auf Federmair verfasste. Nachzulesen ist sie nun als Nachwort in "staub. gefässe", einem Auswahlband aus Czernins lyrischem Oeuvre (auch wenn der Untertitel irritierend "gesammelte" Gedichte verspricht). Mosebach macht darin klar, dass es sich bei Czernin nicht um einen Avantgardisten, sondern um einen Anti-Postmodernisten handelt, um jemanden, der nicht in die Ironie-Falle getreten ist, ja der sich überhaupt auf einen anderen Traditionsstrang als den protestantischen, und das heißt ja für die deutsche Literatur auch: säkularen bezieht.

Der Befürworter der lateinischen Liturgie, Mosebach, sieht nun in Czernin zwar nicht unbedingt einen katholischen Dichter, aber doch einen Autor , der versucht, den hohen Ton wieder in die Lyrik einzuführen, dem Erhabenen eine neue Form zu geben. Als wichtiges Indiz macht Mosebach dabei ein Prinzip der Zweistimmigkeit aus: in Czernins Lyrik würden Bild und im Bild ausgedrückter Gedanke immer gleichzeitig aufscheinen. Insofern herrsche eine Art umgekehrtes Bilderverbot, das Verbot bilderloser Abstraktion nämlich. Bestimmt seien Czernins Gedichte allerdings auch, so Mosebach, durch einen "geradezu exzessiven Gebrauch von Vieldeutigkeit".

Da fragt man sich zwar, wie diese Vieldeutigkeit mit der Einheit von Bild und Gedanke zusammengeht, zweifellos jedoch herrscht in Czernins Gedichten "ein Stauchen, Dehnen und Ballen und wieder Lösen, eine" - und dies zumindest verkennt Federmair - "manchmal formensprengende Dynamik vor". Wer selbst herausfinden möchte, ob Czernins Werk nun vor allem aus "Schulmeisterlichem" besteht, wie Federmair meint, oder ob es sich bei den Gedichten, wie Mosebach behauptet, um etwas ganz "Außerordentliches" handelt, der kann in "staub. gefässe" neben der Auswahl aus bereits veröffentlichten auch einige neue Gedichte Czernins zu Rate ziehen: "zwischen bögen, über felder, / macht der ton die türen auf, / lacht die not die tiere drauf, / wie sie zögen in die wälder, / was wir biegen unter fehlern, / stöhnt, in rot, durch die tore her, / dröhnt ins laub das blau so schwer, / wie wir liegen unter tälern" - ratlos zurückbleiben ist dabei durchaus auch erlaubt.

TOBIAS LEHMKUHL

FRANZ JOSEF CZERNIN: staub. gefässe. gesammelte gedichte. Hanser Verlag, München 2008. 264 Seiten, 16,90 Euro.

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Eingefroren. Die Frostschutz-Einstellung bei Heizungen soll bei niedrigen Außentemperaturen automatisch für eine Mindesttemperatur sorgen. Doch nicht immer dürfe man sich blindlings auf ihre Wirkung verlassen, wie der Infodienst Recht und Steuern der LBS mitteilt. Bei einer längeren Abwesenheit sei es nötig, andere Menschen um regelmäßige Kontrollen zu bitten. Im konkreten Fall hatte der Bewohner eines freistehenden Einfamilienhauses einen siebenwöchigen Mallorca-Urlaub angetreten. Die Heizung hatte er während dieser Zeit auf Frostschutz eingestellt, gelegentlich sollte auch seine erwachsene Tochter nach dem Rechten sehen. Diese beiden Vorsichtsmaßnahmen reichten allerdings nicht aus, um einen größeren Schaden zu verhindern: Die Heizung fiel aus, und in der Folge mussten Heizkörperelemente und Ventile ausgetauscht werden. Kosten: Etwa 4000 Euro. Diesen Betrag forderte der Bewohner von seiner Versicherung zurück. Diese allerdings weigerte sich, weil die erforderlichen Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten worden seien. Das Urteil: "Grundsätzlich sind an die Kontrollpflichten strenge Anforderungen zu stellen", entschieden die Richter des Landgerichts Bonn. Das sei hier - nach allem, was in der Beweisaufnahme zu Tage getreten sei - nicht der Fall gewesen. Die Versicherung muss für den Schaden nicht aufkommen. (Landgericht Bonn, Az. 10 O 203/06)

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Lichtspiele

Neue Formen: Designer haben den Schalter entdeckt

Wer einen Faible für alles hat, was unter dem Stichwort "Design" firmiert, dürfte glückliche Jahre hinter sich haben. Im Haushalt gibt es mittlerweile kaum noch eine Schraube, Niete oder eine Klobürste, die nicht auch als Designerstücke in den Sortimenten der Einrichtungsläden (und immer häufiger auch der Baumärkte) zu finden ist. Die Formsprache erfasst die Einrichtung von der Abzugshaube bis zur Zuckerdose. Nun ist auch der Lichtschalter an der Reihe.

Obwohl ihn jeder braucht und täglich nutzt, haben die Hersteller den gemeinen Lichtschalter viele Jahre vor allem auf seine Funktion reduziert. "Schalter gewinnen nun im Gesamtkontext der Einrichtung an Bedeutung", sagt Peter Zec, Professor und Initiator des "red dot design award" in Essen. "Lichtschalter sind nicht mehr Stiefkinder der Inneneinrichter." Zwar habe es natürlich schon immer Unterschiede in Formen und Farben gegeben, ergänzt Klaus Jung vom Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie (ZVEI), "neu ist aber diese enorme Vielfalt". Der Lichtschalter werde zum Designelement, angepasst an Tapete oder Wandgestaltung.

Von schlicht bis edel, von hochmodern bis zum Retrolook, von knallbunt bis glasklar: Das Angebot ist so breit wie nie zuvor. Die modernen Schalter sollen nicht nur schön, sondern können auch praktisch sein. Was dem Innenminister nicht gefallen dürfte, freut jede Hausfrau: Ein silberfarbener Edelstahlschalter mit einer "Anti-Fingerprint-Beschichtung" verhindert sichtbare Fingerabdrücke.

Das Luxus-Segment glänzt mit den üblichen Kapriolen. Wer es edel mag oder protzen will, bekommt zum Beispiel Schalter mit einer 24-Karat-Goldauflage im Rahmen. Ebenfalls im Angebot: Ausführungen in Silber und Infrarotsensoren mit Diamanten. Für den eher alternativen Geschmack gibt es das gesamte Farbspektrum, ob in Grün, Aubergine oder ganz bunt.

Auch die Formen variieren. "Dabei bleibt die Formensprache insgesamt allerdings geradlinig und klar", sagt Zec. Beliebt sind auch wieder runde Ausführungen, gerne auch als klassische Drehschalter aus Porzellan. Eine teure Ausführung kostet bis zu 300 Euro. Bei einem ganzen Haus kommen da schnell ein paar tausend Euro zusammen. Wer es ganz puristisch mag, setzt auf die moderne Technik: Bewohner in Häusern mit Sensoren können gänzlich auf sichtbare Schalter verzichten. rem

Nicht nur praktisch, sondern nun auch schön: Der Lichtschalter. Foto: dpa

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Recht so

Eingelebt. Wenn in einem Mehrfamilienhaus ein Eigentümer die alleinige Nutzung des Dachbodens zugewiesen bekommt, darf er diesen auch als Hobbyraum oder zu Wohnzwecken nutzen. Er darf dort also gelegentlich Gäste unterbringen und zu diesem Zweck auch eine Toilette und ein Waschbecken installieren. Das geht aus einem Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf hervor, auf den der Deutsche Anwaltverein in Berlin hinweist . In dem Fall wurde der im Gemeinschaftseigentum befindliche Dachboden einem Eigentümer zur ausschließlichen Nutzung zugewiesen. Zwei Miteigentümer wandten sich gegen die Nutzung als Hobby- und Wohnraum - die Zweckbestimmung eines Dachbodens verbiete eine solche Nutzung. Das Gericht sah es anders. Auch die sanitären Einrichtungen müssten nicht entfernt werden. (Az. I-3 WX 98/07)

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Spendables Imperium

Aus dem Hause Finck flossen Millionen an die CSU

Ein eigener Kanzlerkandidat ist Gold wert. Im Jahr 2002, als Edmund Stoiber versuchte, für die Union die Regierung in Berlin zu übernehmen, flossen so viele Spenden wie nie an die CSU: fast 19 Millionen Euro. Gut sieben Millionen davon kamen von Firmen und Verbänden. Auf der Liste der Gönner, die der Bundestag offenlegt, finden sich viele große, bekannte Namen. Doch besonders spendabel zeigten sich fünf Firmen, die sonst nicht in Erscheinung treten. Ihre Geschäftszwecke lauten zum Beispiel auf Verwaltung von Grundbesitz oder Vermögen, eine stellt nebenbei "Fluggeräte" zur Verfügung. Teils residieren sie in denselben Häusern, auch gleichen sich manchmal die Geschäftsführer. Und allen gemein ist, dass sie zum verworrenen Firmenimperium der Milliardärsfamilie von Finck gehören. Insgesamt überwiesen sie 2002 der CSU gut 1,6 Millionen Euro.

Dieses Geflecht ist in dieser Woche aufgefallen, da zwei seiner Unternehmen, wie jetzt bekannt wurde, der CSU im vergangenen Jahr gut 800 000 Euro zukommen ließen, am selben Tag und eine Woche vor der Landtagswahl. Die CSU konnte Geld gut gebrauchen. Der Wahlkampf, vor allem seine Schlussoffensive, kostete viel Geld; wie viel genau, ist nach Angaben der CSU noch unklar, insgesamt dürften es etwa elf Millionen Euro gewesen sein. Doch nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung waren diese Spenden eben kein Sonderfall, vielmehr zählen zu Finck gehörende Firmen seit langem zu den größten Gebern der CSU. Rechnet man jene gut 100 000 Euro dazu, die Patriarch August von Finck persönlich stiftete, kamen seit 1998 insgesamt 3,7 Millionen Euro zusammen. Der Baron ist gebürtiger Münchner, residiert inzwischen offenbar weitgehend in der Schweiz, hält aber weiter sein Schloss Seeseiten am Starnberger See.

Doch nie überweist die Finck'sche Hauptverwaltung selbst oder die ihr zu gut 90 Prozent gehörende Custodia Holding AG, sondern immer kleinere Firmen: die DSK Grundbesitz-Verwaltungs GmbH, die Pacelli Beteiligungs GmbH & Co. KG, die Clair Immobilien Deutschland GmbH oder auch die VuW Versicherungs- und Wirtschaftsdienst GmbH. Deren früherer Chef etwa ist unter anderem Generalbevollmächtigter der Finck'schen Hauptverwaltung und Chef von DSK, gemeinsam mit einem Herrn, der zudem für diverse weitere Finck'sche Firmen tätig ist.

Zum Beispiel für die Mercator Verwaltung GmbH, die August Heinrich von Finck gehört und die der CSU seit 1999 mehr als 1,4 Millionen Euro überwiesen hat. Sie hat nun die Grünen auf den Plan gerufen: Es gebe den Verdacht, "dass der Urheber mehrerer großer Spenden an die CSU verschleiert werden sollte", sagt Grünen-Landeschefin Theresa Schopper. Ihren Argwohn geweckt hat die Tatsache, dass Mercator laut dem Wirtschaftsauskunftsdienst Creditreform in den Jahren 2005 bis 2007 jeweils einen Umsatz von 1,1 Million Euro gemacht hat. Also scheint sie eine eher kleine Firma zu sein, die gleichwohl riesige Summen an die CSU gibt. Schoppers Verdacht: Die Spenden kämen von Dritten, die nicht genannt werden - was nach dem Parteiengesetz verboten wäre. Dafür gebe es "keinerlei Anhaltspunkte", entgegnet ein CSU-Sprecher. Doch Schopper fordert das Bundestagspräsidium auf, die Spenden zu überprüfen.Kassian Stroh

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Alle einsteigen? Was die Regierungen noch tun wollen, um die angeschlagenen Geldhäuser zu retten

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Jedem seine schlechte Bank

Spitzentreffen in Berlin: Anders als die USA bevorzugt die Bundesregierung eine dezentrale Lösung

Von Catherine Hoffmann und Nikolaus Piper

Berlin/New York - Die Bundesregierung will bei einem Spitzentreffen an diesem Freitag im Kanzleramt über Änderungen am Banken-Rettungspaket beraten. An dem Treffen nehmen nach Angaben einer mit der Angelegenheit vertrauten Person neben Bundeskanzlerin Angela Merkel auch Finanzminister Peer Steinbrück, Wirtschaftsminister Michael Glos und Bundesbankpräsident Axel Weber teil. Möglicherweise würden auch Fachleute aus den Fraktionen hinzugezogen.

Die Überlegungen zur Nachbesserung des Rettungspakets konzentrierten sich vor allem auf die Ausgliederung der finanziellen Risiken in dezentrale Bad Banks und die Möglichkeit zur Enteignung bei angeschlagenen Finanzinstituten wie dem Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate, meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Vom Tisch sei die Bildung einer großen nationalen Bad Bank, in der alle faule Wertpapiere unter staatlicher Regie gesammelt werden. Das Finanzministerium schlage eine dezentrale Lösung vor, bei der innerhalb einzelner Institute die Risiken in Bad Banks zusammengefasst werden könnten. Entscheidungen werde es am Freitag möglicherweise trotz des kurzfristig einberufenen Treffens noch nicht geben. Allerdings dränge insbesondere das Finanzministerium darauf, möglichst rasch die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, verlautete aus Koalitionskreisen.

In der Koalition hatten sich am Donnerstag bereits Konturen einer Auffanglösung für faule Wertpapiere abgezeichnet. Finanzminister Steinbrück hatte es als denkbar bezeichnet, dass jedes einzelne Institut die Möglichkeit bekomme, Problempapiere aus seiner Bilanz auszulagern. Der staatliche Bankenrettungsfonds Soffin plädierte dafür, durch veränderte Bilanzierungsregeln zu verhindern, dass nicht realisierte Verluste weiter das Eigenkapital aufzehrten.

Zur Diskussion stehe am Freitag auch ein Enteignungsgesetz für angeschlagene Finanzinstitute. Dieses solle nach den Vorstellungen des Finanzministeriums bei der HRE eine schnelle staatliche Übernahme ermöglichen, ohne ein zeitlich aufwändigeres Verfahren mit Beschlüssen der Hauptversammlung und Zwangsabfindungen verkaufsunwilliger Aktionäre. In der Union gebe es dagegen allerdings noch Vorbehalte, hieß es.

Einen anderen Weg schlägt die US-Regierung ein. Der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner wird vermutlich in der kommenden Woche Pläne für eine echte Bad Bank bekannt geben, weil die bisherigen Maßnahmen bei weitem nicht reichen. Sein Vorgänger Henry Paulson hatte im September bereits einen Fonds zum Aufkauf von Schrottpapieren geplant, was nichts anderes ist als eine Bad Bank. Aus dem Fonds wurde das "Troubled Assets Relief Program" (Tarp) von 700 Milliarden Dollar, dessen erste Tranche allerdings überwiegend für die Rekapitalisierung der Banken ausgegeben wurde. Jetzt also soll eine echte Bad Bank gegründet werden.

Als ziemlich gesichert gilt die organisatorische Form der Bad Bank: Sie wird vom staatlichen Einlagensicherungsfonds FDIC und dessen ehrgeiziger Chefin Sheila Bair verwaltet werden. Offen sind dagegen entscheidende Fragen: Welchen Preis zahlt die Bad Bank für die Schrottpapiere? Wie viel Geld braucht sie? Theoretisch stünde dafür die zweite Tranche aus dem Tarp-Programm zur Verfügung, insgesamt 350 Milliarden Dollar. Aber einen Teil des Geldes wird Geithner für andere Zwecke benötigen, zum Beispiel, um bedrängten Hausbesitzern direkt zu helfen. Vor allem aber könnte der Bedarf die Summe weit übersteigen. Barack Obama erwägt einen neuen Rettungsplan, der Steuerzahler bis zu zwei Billionen Dollar kosten könnte, berichtete das Wall Street Journal.

Ob dezentrale Bad Banks oder eine nattionale Lösung: In jedem Fall sind die krisengeschüttelten Banken auf einen Schlag ihre Risiken los. Investoren, die der Good Bank Geld geben, haben die Sicherheit, dass ihr frisches Kapital nicht unter den Altlasten fauler Forderungen begraben wird. Nun können die Banken die Kreditmärkte wieder in Schwung bringen. Der Nachteil dieser Lösung: "Sie kostet sehr viel Geld", sagt Christoph Kaserer, Professor an der TU München: "Der Staat muss aufpassen, dass die Banken ihm nicht unnötig viele Risiken aufhalsen und allzu viele Verluste auf den Steuerzahler abwälzen."

Entscheidend ist deshalb die Frage, wie die Schrottpapiere bewertet werden. Übernimmt der Staat alles, was stinkt, werden die Banken versuchen, möglichst viele zweifelhafte Forderungen loszuwerden - zu möglichst überhöhten Buchwerten. Da kein Wirtschaftsprüfer und Bankmanager den wahren Wert der Papiere kennt, ist eine raffinierte Konstruktion der Bad Bank gefragt: Die Banken, die Forderungen abgeben, müssen an künftigen Verlusten (und Gewinnen) der Bad Bank beteiligt werden, damit das Management keinen Anreiz hat, Mondpreise für seine Wertpapiere zu verlangen. Sonst ist der Steuerzahler der Dumme.

Gute Bank, schlechte Bank

Wie auch immer faule Papiere ausgelagert werden - am Ende trägt der Steuerzahler die Risiken

Von Catherine Hoffmann und Nikolaus Piper

München/New York - Die Finanzbranche schöpft neue Hoffnung. In Deutschland wie Amerika wird darüber diskutiert, ob die Banken faule Wertpapiere und Kreditforderungen beim Staat abladen können. Der Bilanzschrott würde in einer Bad Bank, einer "schlechten Bank" entsorgt - wie Dioxin auf einer Giftmülldeponie. Die ökonomische Logik dahinter: Lagern die Banken ihre Risiken in eine eigene Gesellschaft aus, werden ihre Bilanzen blitzblank, und sie können als Good Bank weiterarbeiten.

Der Begriff Bad Bank ist allerdings unscharf. Es wird darüber gestritten, ob der Staat diese Institution einrichtet oder die Banken selbst, ob es eine schlechte Bank geben soll oder viele. "Wie auch immer die Bad Bank konstruiert wird, am Ende läuft es darauf hinaus, dass der Steuerzahler die Risiken der faulen Wertpapiere übernimmt und für Verluste geradesteht", sagt Christoph Kaserer, Wirtschaftsprofessor an der TU München.

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück lehnt eine zentrale staatliche Bad Bank ab. "In Anerkennung der Auswirkungen fauler Wertpapiere in den Bilanzen der Banken stellt sich aber die Frage, ob nicht jedes einzelne Institut die Möglichkeit bekommt, Problempapiere aus seiner Bilanz auszulagern und so neu durchzustarten", sagte Steinbrück der Berliner Zeitung. Der abgetrennten Good Bank müsse dann über den Rettungsschirm geholfen werden, fügte der Finanzminister hinzu. Die Steinbrück-Lösung könnte bedeuten, dass eine Bank in Schieflage hochriskante Forderungen aus ihrer Bilanz abspaltet und in eine Tochtergesellschaft einbringt, für die der Staat Garantien übernimmt. Der Vorteil für Berlin: Erst mal müsste kein Geld ausgegeben werden, um die zweifelhaften Papiere aufzukaufen und eine Bad Bank zu schaffen. Gezahlt werden muss erst, wenn Forderungen ausfallen.

Einen anderen Weg schlägt die US-Regierung ein. Der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner wird vermutlich in der kommenden Woche Pläne für eine echte Bad Bank bekannt geben, weil die bisherigen Maßnahmen bei weitem nicht reichen. Im vergangenen September hat Geithners Vorgänger im Amt, Henry Paulson, bereits einen Fonds zum Aufkauf fauler Kreditpapiere geplant, was nichts anderes ist als eine Bad Bank. Aus dem Fonds wurde das "Troubled Assets Relief Program" (Tarp) von 700 Milliarden Dollar, dessen erste Tranche allerdings überwiegend für die Rekapitalisierung der Banken ausgegeben wurde.

Jetzt also soll eine echte Bad Bank gegründet werden. Als ziemlich gesichert gilt die organisatorische Form der amerikanischen Bad Bank: Sie wird vom staatlichen Einlagensicherungsfonds FDIC und dessen ehrgeiziger Chefin Sheila Bair verwaltet werden. Offen sind dagegen entscheidende Fragen: Welchen Preis zahlt die Bad Bank für die Schrott-Papiere? Und wie viel Geld braucht sie? Theoretisch stünde dafür die zweite Tranche aus dem Tarp-Programm zur Verfügung, insgesamt 350 Milliarden Dollar. Aber einen Teil des Geldes wird Minister Geithner für andere Zwecke benötigen, zum Beispiel, um bedrängten Hausbesitzern direkt zu helfen. Vor allem aber könnte der Bedarf die Summe weit übersteigen. Obama erwägt einen neuen Rettungsplan, der Steuerzahler bis zu zwei Billionen Dollar kosten könnte, berichtete das Wall Street Journal.

Auch wenn die Vorschläge von Geithner und Steinbrück einen unterschiedlichen Anstrich haben, vereint sie doch die Grundidee der Bad Bank: Es geht einfach nur darum, dass besonders riskante Positionen aus der Bankbilanz ausgelagert werden. Im klassischen Modell, das in den USA bevorzugt wird, gründet der Staat die Bad Bank, kauft den Banken die schlechten Papiere ab und finanziert das Geschäft mit Steuergeldern.

In jedem Fall sind die krisengeschüttelten Banken auf einen Schlag ihre Risiken los, Anleger können ihnen wieder vertrauen. Investoren, die der Good Bank Geld geben, haben die Sicherheit, dass ihr frisches Kapital nicht unter den Altlasten fauler Forderungen begraben wird. Nun können die Banken die Kreditmärkte wieder in Schwung bringen. Der Nachteil dieser Lösung: "Sie kostet sehr viel Geld", sagt Kaserer. "Der Staat muss aufpassen, dass die Banken ihm nicht unnötig viele Risiken aufhalsen und allzu viele Verluste auf den Steuerzahler abwälzen."

Entscheidend ist deshalb die Frage, wie die Schrottpapiere bewertet werden. Übernimmt der Staat alles, was stinkt, werden die Banken versuchen, möglichst viele zweifelhafte Forderungen loszuwerden - zu möglichst überhöhten Buchwerten. Da kein Wirtschaftsprüfer und Bankmanager den wahren Wert der Papiere kennt, ist eine raffinierte Konstruktion der Bad Bank gefragt: Die Banken, die Forderungen abgeben, müssen an künftigen Verlusten (und Gewinnen) der Bad Bank beteiligt werden, damit das Management keinen Anreiz hat, Mondpreise für seine Wertpapiere zu verlangen. Sonst ist der Steuerzahler der Dumme.

Gute Bank, schlechte Bank

Wie auch immer faule Papiere ausgelagert werden - am Ende trägt der Steuerzahler die Risiken

Von Catherine Hoffmann und Nikolaus Piper

München/New York - Die Finanzbranche schöpft neue Hoffnung. In Deutschland wie Amerika wird darüber diskutiert, ob die Banken faule Wertpapiere und Kreditforderungen beim Staat abladen können. Der Bilanzschrott würde in einer Bad Bank, einer "schlechten Bank" - entsorgt wie Dioxin auf einer Giftmülldeponie. Die ökonomische Logik dahinter: Lagern die Banken ihre Risiken in eine eigene Gesellschaft aus, werden ihre Bilanzen blitzblank, und sie können als Good Bank weiterarbeiten.

Der Begriff Bad Bank ist allerdings unscharf. Es wird darüber gestritten, ob der Staat diese Institution einrichtet oder die Banken selbst, ob es eine schlechte Bank geben soll oder viele. "Wie auch immer die Bad Bank konstruiert wird, am Ende läuft es darauf hinaus, dass der Steuerzahler die Risiken der faulen Wertpapiere übernimmt und für Verluste geradesteht", sagt Christoph Kaserer, Wirtschaftsprofessor an der TU München.

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück lehnt eine zentrale staatliche Bad Bank ab. "In Anerkennung der Auswirkungen fauler Wertpapiere in den Bilanzen der Banken stellt sich aber die Frage, ob nicht jedes einzelne Institut die Möglichkeit bekommt, Problempapiere aus seiner Bilanz auszulagern und so neu durchzustarten", sagte Steinbrück der Berliner Zeitung. Der abgetrennten Good Bank müsse dann über den Rettungsschirm geholfen werden, fügte der Finanzminister hinzu. Die Steinbrück-Lösung könnte bedeuten, dass eine Bank in Schieflage hochriskante Forderungen aus ihrer Bilanz abspaltet und in eine Tochtergesellschaft einbringt, für die der Staat Garantien übernimmt. Der Vorteil für Berlin: Erst mal müsste kein Geld ausgegeben werden, um die zweifelhaften Papiere aufzukaufen und eine Bad Bank zu schaffen. Gezahlt werden muss erst, wenn Forderungen ausfallen.

Einen anderen Weg schlägt die US-Regierung ein. Der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner wird vermutlich in der kommenden Woche Pläne für eine echte Bad Bank bekannt geben, weil die bisherigen Maßnahmen bei weitem nicht reichen. Im vergangenen September hat Geithners Vorgänger im Amt, Henry Paulson, bereits einen Fonds zum Aufkauf fauler Kreditpapiere geplant, was nichts anderes ist als eine Bad Bank. Aus dem Fonds wurde das "Troubled Assets Relief Program" (Tarp) von 700 Milliarden Dollar, dessen erste Tranche allerdings überwiegend für die Rekapitalisierung der Banken ausgegeben wurde.

Jetzt also soll eine echte Bad Bank gegründet werden. Als ziemlich gesichert gilt die organisatorische Form der amerikanischen Bad Bank: Sie wird vom staatlichen Einlagensicherungsfonds FDIC und dessen ehrgeiziger Chefin Sheila Bair verwaltet werden. Offen sind dagegen entscheidende Fragen: Welchen Preis zahlt die Bad Bank für die Schrott-Papiere? Und wie viel Geld braucht sie? Theoretisch stünde dafür die zweite Tranche aus dem Tarp-Programm zur Verfügung, insgesamt 350 Milliarden Dollar. Aber einen Teil des Geldes wird Minister Geithner für andere Zwecke benötigen, zum Beispiel, um bedrängten Hausbesitzern direkt zu helfen. Vor allem aber könnte der Bedarf die Summe weit übersteigen. Ein neuer Rettungsplan für die US-Banken könnte die Steuerzahler bis zu zwei Billionen Dollar kosten, berichtete das Wall Street Journal.

Auch wenn die Vorschläge von Geithner und Steinbrück einen unterschiedlichen Anstrich haben, vereint sie doch die Grundidee der Bad Bank: Es geht einfach nur darum, dass besonders riskante Positionen aus der Bankbilanz ausgelagert werden. Im klassischen Modell, das in den USA bevorzugt wird, gründet der Staat die Bad Bank, kauft den Banken die schlechten Papiere ab und finanziert das Geschäft mit Steuergeldern.

In jedem Fall sind die krisengeschüttelten Banken auf einen Schlag ihre Risiken los, Anleger können ihnen wieder vertrauen. Investoren, die der Good Bank Geld geben, haben die Sicherheit, dass ihr frisches Kapital nicht unter den Altlasten fauler Forderungen begraben wird. Nun können die Banken die Kreditmärkte wieder in Schwung bringen. Der Nachteil dieser Lösung: "Sie kostet sehr viel Geld", sagt Kaserer. "Der Staat muss aufpassen, dass die Banken ihm nicht unnötig viele Risiken aufhalsen und allzu viele Verluste auf den Steuerzahler abwälzen."

Entscheidend ist deshalb die Frage, wie die Schrottpapiere bewertet werden. Übernimmt der Staat alles, was stinkt, werden die Banken versuchen, möglichst viele zweifelhafte Forderungen loszuwerden - zu möglichst überhöhten Buchwerten. Da kein Wirtschaftsprüfer und Bankmanager den wahren Wert der Papiere kennt, ist eine raffinierte Konstruktion der Bad Bank gefragt: Die Banken, die Forderungen abgeben, müssen an künftigen Verlusten (und Gewinnen) der Bad Bank beteiligt werden, damit das Management keinen Anreiz hat, Mondpreise für seine Wertpapiere zu verlangen. Sonst ist der Steuerzahler der Dumme.

Obama erwägt eine

Giftmülldeponie, die zwei

Billionen Dollar kosten könnte.

Obama erwägt eine

Giftmülldeponie, die zwei

Billionen Dollar kosten könnte.

Amerika will jetzt doch

eine Giftmülldeponie für

toxische Anlagen schaffen.

Bild mit Symbolcharakter: Alte Flaschen türmen sich im Osthafen von Frankfurt. Dahinter die Hochhäuser des Bankenviertels. Foto: dpa

Bild mit Symbolcharakter: Alte Flaschen türmen sich im Osthafen von Frankfurt. Dahinter die Hochhäuser des Bankenviertels. Foto: dpa

Bild mit Symbolcharakter: Alte Flaschen türmen sich im Osthafen von Frankfurt. Dahinter die Hochhäuser des Bankenviertels. Foto: dpa

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Embraer mag es etwas größer

Der brasilianische Hersteller will nicht mehr nur kleine Flugzeuge bauen - und könnte so ein ernster Herausforderer für Airbus werden

Von Jens Flottau

São José dos Campos - Der brasilianische Flugzeughersteller Embraer erwägt, seine Produktpalette nach oben zu erweitern und größere Flugzeuge als bisher zu bauen. Das Unternehmen prüft derzeit mehrere Szenarien und will sich voraussichtlich in etwa zwei Jahren auf einen Weg festlegen, wie Embraer-Chef Frederico Curado im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte. Wegen der Weltwirtschaftskrise reduziert Embraer die Produktion aber deutlich.

Der drittgrößte Flugzeugproduzent der Welt baut Maschinen mit bis zu 120 Sitzen, die damit kleiner sind als die kleinsten Modelle von Airbus und Boeing. Mit einer weiteren Modellreihe darüber, würde sich Embraer erstmals direkt in Konkurrenz zu den beiden Herstellern begeben, die sich bislang den Weltmarkt bei großen Passagierflugzeugen teilen.

Kapazitäten steigen

"Die Kapazität neuer Flugzeuge wird im Durchschnitt wachsen", so Curado. Maschinen, die weniger als 70 oder 80 Sitze hätten, würden langsam vom Markt verschwinden, weil die Stückkosten den Airlines einen profitablen Einsatz nicht mehr erlauben würden, prognostiziert der Embraer-Chef. Deswegen sei es auch "sehr unwahrscheinlich", dass Embraer in diesem Segment investieren werde. Andererseits wolle er auch noch warten, bis wichtige Technologien serienreif sind. "Wir wollen keine halben Schritte machen", sagt Curado. Ein neues Flugzeug müsse mindestens 15 bis 20 Prozent geringere Kosten erreichen als die bislang existierenden Modelle. Entscheidend dafür, dass dies gelinge, seien neue Triebwerke.

Airbus und Boeing haben ebenfalls erste Studien für die Nachfolger ihrer Verkaufsschlager A320 und 737 gestartet. Die beiden Konzerne streben derzeit an, um das Jahr 2020 ein neues Flugzeug auf den Markt zu bringen. Embraer wäre mit dem Konkurrenzmodell drei bis vier Jahre früher bereit, wenn der aktuelle Zeitplan eingehalten wird. Allerdings gibt es Überlegungen, dass die neuen Airbus- und Boeing-Jets deutlich größer werden könnten als ihre derzeit eingesetzten Vorgänger. Dadurch würde sich eine Marktlücke ergeben, die Embraer und der kanadische Hersteller Bombardier (mit seiner C-Serie) füllen könnten. "Wir behalten natürlich im Auge, was Airbus und Boeing tun", sagt Curado. "Aber wir können heute nicht voraussagen, wie sie sich entscheiden werden."

Die strategischen Überlegungen sowohl Embraers als auch Bombardiers machen deutlich, dass die beiden bisherigen Marktführer in einem wichtigen Teil ihres Geschäftes neue Konkurrenz bekommen. Darüber hinaus entwickeln russische, chinesische und japanische Hersteller neue Regionalflugzeuge, die ihrerseits den traditionellen Anbietern in diesem Segment - Embraer und Bombardier - Konkurrenz machen werden.

Zunächst aber will Embraer mit einer äußerst vorsichtigen Strategie den aktuellen Abschwung überwinden. Das Unternehmen reduziert die Produktion seiner Regionalflugzeuge von 160 im Jahr 2008 auf nur noch 125 im laufenden Jahr, obwohl bislang noch keine Abbestellungen eingegangen sind und bislang nur wenige Kunden Termine verschieben wollen. "Fehlende Finanzierungsmöglichkeiten sind eine Tatsache", so Curado. Der brasilianische Staat unterstützt die Kunden fallweise mit Bürgschaften, hat aber anders als Frankreich und Deutschland keine über die bisherige Exportförderung hinausgehenden Pläne.

Embraer-Fabrik in Brasilien: Der Flugzeughersteller baut bislang Maschinen mit bis zu 120 Sitzen. Doch größere Modelle sind geplant. Foto: Bloomberg

Embraer: Produkt Embraer: Strategie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zug nach Polen

Deutsche Bahn kauft bedeutenden Gütertransporteur auf der Schiene

Von Michael Bauchmüller

Berlin - Ungeachtet der Wirtschaftskrise setzt die Deutsche Bahn ihren Expansionskurs fort. Am Donnerstag unterzeichneten Bahnchef Hartmut Mehdorn und Logistikvorstand Norbert Bensel in Warschau die Verträge zur Übernahme von PCC Logistics, der größten privaten Eisenbahn in Polen. Über den Kaufpreis wahrten beide Seiten Stillschweigen. PCC Logistics setzte im vorigen Jahr 350 Millionen Euro um. Das Unternehmen beschäftigt 5800 Mitarbeiter. Die Bahn übernimmt PCC Logistics komplett.

Nach Plänen der Bahn soll die neue Tochter zum Ausgangspunkt der weiteren Expansion Richtung Osten werden. "Wir wollen die PCC Logistics in unserem europäischen Netzwerk zum zentralen Standbein für Osteuropa weiterentwickeln", sagte Bensel. Schon jetzt betreibe das Unternehmen "leistungsfähige Verbindungen" in alle polnischen Wirtschaftszentren. Auch Mehdorn äußerte sich optimistisch. "Mit diesem Kauf baut die Deutsche Bahn Leistungen und Service für ihre Kunden in einem wachsenden Europa weiter aus", sagte er. "Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten setzen wir damit ein Zeichen für unsere Zukunftsfähigkeit." In Deutschland kämpft die Bahn derzeit mit sinkenden Aufträgen für den Güterverkehr auf der Schiene. Im Gespräch ist mittlerweile auch Kurzarbeit. Dagegen gelten die Geschäfte in Polen als einigermaßen stabil.

PCC Logistics hat in Polen einen Marktanteil von knapp acht Prozent - allerdings dominiert die Staatsbahn PKP immer noch drei Viertel des Marktes. Mit einem Transportvolumen auf der Schiene von 54 Milliarden Tonnenkilometern (zum Vergleich: in Deutschland sind es 120 Milliarden Tonnenkilometer, in Frankreich 41) hat der Schienengüterverkehr einen wichtigen Anteil am gesamten Transportgeschäft, er liegt bei rund einem Drittel. Das Unternehmen gehörte bislang dem deutsch-polnischen Unternehmer Waldemar Preussner, der Hauptsitz ist Duisburg. Er hatte 1993 die "Petro Carbo Chem", kurz PCC gegründet; zunächst als Handelsgesellschaft für chemische Grundstoffe. Seine Eisenbahn diente ursprünglich vor allem dem Transport petrochemischer Produkte. Der Schwerpunkt liegt in Schlesien. Inzwischen verfügt das Unternehmen über 400 Lokomotiven und 7700 Waggons. Der Zustand der Fahrzeuge ist nach Angaben aus Branchenkreisen gut.

Für die Bahn setzt sich damit eine ganze Serie von Zukäufen im Güterverkehr fort. Erst im vergangenen September hatte sich Railion bei der italienischen Nord-Cargo eingekauft und damit den Nord-Süd-Transit ausgebaut. In Spanien hat sich die Logistiksparte die Güterbahn Transfesa einverleibt, in Großbritannien EWS. In Ungarn und Rumänien ist die Deutsche Bahn unter der Marke "DB Schenker Rail" ebenfalls aktiv. Auch die neue Tochter dürfte diesen Namen wohl bald annehmen.

Das Engagement in Polen stärkt indirekt auch die deutschen Seehäfen. Denn mit der neuen Tochterfirma kann die Bahn leichter Güter und Container von den Häfen Richtung Osten transportieren. Eine deutsche Railion-Lok fährt die Züge bis zur deutsch-polnischen Grenze, eine Lok der neuen Tochterfirma nimmt sie dort in Empfang und fährt dann weiter. Nach Auffassung Mehdorns jedenfalls stärkt die Akquisition auch die deutsche Güterbahn-Sparte. "Wir werden gemeinsam mehr Verkehr auf die Schiene holen", sagte Mehdorn. Dies sichere Jobs sowohl in Deutschland als auch in Polen.

Deutsche Bahn AG: Kauf Verkehrswesen in Polen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ich habe erst angefangen zu leben, als ich bekannt war"

Die frühere Erotikdarstellerin Dolly Buster über die Vermarktung ihres Namens, die erste Lebenskrise und den Preis eines totalen Exhibitionismus

Eine Galerie in Garmisch stellt zur Zeit Bilder von Katja-Nora Baumberger aus. Die 39-Jährige hat vor mehr als zehn Jahren aufgehört, in Pornofilmen zu agieren. Unter ihrem Künstlernamen Dolly Buster, den 98 Prozent der Deutschen kennen, vermarktet sie jetzt selbstgemachte Bilder, Bücher und Filme. Frau Baumberger sagt, sie wollte schon immer unbedingt bekannt werden. Ein Gespräch über ein Leben als öffentliche Person.

SZ: Dolly Buster, reden wir über Geld. Sie verkaufen nun Ihre eigenen Bilder. Verdient man da gut?

Dolly Buster: Es geht nicht unbedingt ums Verdienen. Ich habe gerade 14 Bilder in Duisburg ausgestellt, davon wurden sieben verkauft. Das ist ein Kompliment.

SZ: Klar geht es ums Verkaufen, sonst würden Sie die Bilder ja verschenken.

Buster: Natürlich. Ich bin in allem, was ich mache, ein bisschen kommerziell.

SZ: Ihr Mann hat mal gesagt, Sie seien die perfekte Geschäftsfrau ...

Buster: Er dagegen ist kein guter Geschäftsmann. Er ist zu human.

SZ: Ihr Mann, der Pornoproduzent Dino Baumberger, ist zu human?

Buster: In der Erotikbranche gibt es immer mal jemanden, der nicht zahlt und mit Ausreden ankommt, etwa ein Sex-Shop-Besitzer. Mein Mann lässt sich oft hinhalten. Ich nicht. Ich bin knallhart.

SZ: Warum fingen Sie an zu malen?

Buster: Ich ging schon als Jugendliche in Prag zur Kunstschule, aber nur kurz. Ich ließ es wieder, weil mir der Weg mit der Straßenbahn zu weit war. Wir zogen dann als Aussiedler nach Deutschland, da musste ich erst mal Deutsch lernen. Erst als ich 1997 aufhörte, als Pornodarstellerin vor der Kamera zu arbeiten, fing ich wieder mit dem Malen an.

SZ: Waren Sie nochmal auf der Kunstschule?

Buster: Freunde stellten mir Arnim Tölke von der Kunstakademie Düsseldorf vor. Ich besuchte ihn im Unterricht, das war spannend. Was die da gemacht haben, hat mich aber wenig beeindruckt. Mal ehrlich: Was ich da für Müll gesehen habe! Das Malen als solches ist da Nebensache. Da sitzt ein Nacktmodell, das ein bisschen mehr Sport vertragen könnte, und dann wird geredet, albern gelacht und Wodka getrunken. Da standen sicher 200 leere Wodka-Flaschen rum.

SZ: Was verlangen Sie für ein Bild?

Buster: Die liegen verhältnismäßig günstig, bis 3500 Euro.

SZ: Vor zwei Jahren verlangten Sie bis zu 10 000 Euro. Ist Ihr Marktwert gesunken?

Buster: Es macht ja keinen Spaß, wenn die Bilder das kosten, was ein Kunsthistoriker schätzt, aber kein Mensch sich das leisten kann.

SZ: Sie waren Deutschlands bekannteste Pornodarstellerin, laut Umfragen kannten einmal 98 Prozent der Deutschen Ihren Namen. Vor zehn Jahren haben Sie aufgehört, bei Pornos mitzuspielen. Wie lange können Sie Ihre Bilder, Bücher und so weiter über Ihren Namen vermarkten?

Buster: Ich hätte mit meinem Namen besser aufpassen müssen. Viele dieser Pseudo-Kunst-Galeristen boykottieren mich, wo sie können.

SZ: Wegen Ihrer Pornos?

Buster: Vor allem, weil ich so viel in Boulevard-Medien vorkomme. Ich lasse mich immer noch zu oft zu Sachen überreden, die ich eigentlich blöd finde. Das Dschungelcamp von RTL etwa. Im Nachhinein denke ich: Hätte ich das mal nicht gemacht, da macht man sich nur lächerlich.

SZ: Aber es sichert Ihre Bekanntheit, von der Sie leben, oder?

Buster: Das ist der Grund, warum man es macht. Ich will nicht vergessen werden. Aber es ist ein schmaler Grat. Durch den Boulevard geht man auch unter.

SZ: Haben die Deutschen Sie schon vergessen?

Buster: Nein. Wenn ich Autogrammstunden gebe, kommen viele junge Leute. Manchmal kommen kleine süße Mädchen bei mir zu Hause vorbei und werfen selbstgemalte Bildchen ein.

SZ: Woher kennen bitte kleine, süße Mädchen Dolly Buster?

Buster: Aus den Boulevardshows im Fernsehen. Manche verwechseln mich mit Pamela Anderson.

SZ: Mal ehrlich: Ihre Bilder und Bücher und die Pornofilme, die Sie nun als Produzentin hinter der Kamera herstellen, verkaufen sich doch vor allem über Ihre Bekanntheit.

Buster: Dafür habe ich hart gearbeitet. Aber was nutzt mir 98 Prozent Bekanntheitsgrad in einem kaputten Land? Es würde 20 Prozent reichen, wenn die alle DVDs kaufen würden.

SZ: Sie finden Deutschland kaputt?

Buster: Absolut. Ich bin so viel damit beschäftigt, Inkassobüros zu beauftragen. Es ist ernüchternd: Ich leiste, arbeite, habe Ideen - und nichts geht voran. Vor zehn Jahren lief das anders. Da konnte man richtig etwas schaffen, da lebte ich mit einem beständigen Glücksgefühl.

SZ: Steckt die Erotikbranche in einer Krise?

Buster: Absolut. Das Internet ist schuld. Die Amerikaner finden es wahnsinnig toll, sich beim Sex zu filmen und die Aufnahmen kostenlos ins Netz zu stellen. Das ist für uns eine Katastrophe.

SZ: Sie verkaufen weniger DVDs?

Buster: In Deutschland sind wir Marktführer. Aber es geht uns schlechter. Wir haben zwölf Angestellte, mussten uns gerade von ein paar trennen. Es gibt einen Preisverfall bei DVDs. Mit dem Euro wurde alles teurer, nur Pornos nicht.

SZ: Versuchen Sie, in andere Länder zu expandieren?

Buster: Ich versuche seit Jahren, in den russischen Markt reinzukommen. Es läuft einfach nicht. Die reichen Russen lassen sich professionelle Teams kommen und von denen beim Sex aufnehmen. Diese Filme schauen sie dann an.

SZ: Wenn alles so schwierig ist, könnten Sie nicht einfach aufhören zu arbeiten, nach all Ihren Filmen?

Buster: Dazu habe ich nicht genug verdient.

SZ: Sie werden dieses Jahr 40. Haben Sie Angst vor einer Krise?

Buster: Die habe ich schon hinter mir. Das vergangene Jahr war schlimm für mich. Meine beiden Hunde sind gestorben, das hat mich sehr getroffen. Das hat meine Einstellung zu allem verändert. Es war eine unglückliche Geschichte: Ein Privatsender drehte eine Reportage über mich, bei mir zu Hause. Dann habe ich erfahren, dass einer meiner Hunde Leberkrebs hat. Er starb am letzten Drehtag. (Sie beginnt zu weinen.) Eigentlich hätte ich sagen sollen: Ihr hört jetzt auf zu drehen. Aber ich wollte so professionell sein, wie ich mein ganzes Leben war.

SZ: Und dann?

Buster: Zwei Monate später wurde der Beitrag gesendet. Vorher lief immer wieder die Vorschau: Ich heulend neben dem toten Hund. Dadurch bekam ich ein richtiges Trauma. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich zugelassen habe, dass der tote Hund gedreht wurde. Zwei Wochen später starb mein zweiter Hund. Das war einfach zu viel. Ich hatte Albträume, in denen ich selbst tot umfalle und dabei gefilmt werde. Mein Mann musste mich manchmal in die Notaufnahme fahren, weil ich wirklich dachte, ich sterbe. Ich habe ein dreiviertel Jahr Pause gemacht. Nicht gemalt, keine Auftritte, nichts.

SZ: Alles, weil Sie um jeden Preis professionell sein wollten?

Buster: Ich habe mich immer für unverwundbar gehalten. Ich war eine perfekte Geschäftsfrau. Alles hat geklappt, was ich mir vorgenommen habe. Letztes Jahr war das erste Mal, dass mir eine Sache so aus der Hand geglitten ist. In meinen Augen war ich plötzlich ein Loser.

SZ: Hat Ihre Krise Sie verändert?

Buster: Ja, früher habe ich professionell gelebt, war immer diszipliniert. Vor Aufnahmen habe ich tagelang keine Süßigkeiten gegessen. Ich hatte höchste Verachtung für alle Leute, die nicht so diszipliniert sind. Erst jetzt begreife ich: Die anderen leben einfach ihr Leben, die genießen es, ganz normal. Das lerne ich jetzt.

SZ: Wollten Sie mal Kinder haben?

Buster: Das hätte nicht in mein Leben gepasst. Erst nach der Krise letztes Jahr habe ich den Gedanken zugelassen. Aber jetzt werde ich 40. Ich finde, das ist zu alt, um Mutter zu werden.

SZ: Sie bereuen, dass Sie die Homestory mit dem Sender gemacht haben. Bereuen Sie andere Dinge in Ihrem Leben?

Buster: Nein, es gibt nichts zu bereuen. Es gab immer nur den einen Weg. Ich wollte bekannt werden.

SZ: Sie wollten um jeden Preis bekannt werden?

Buster: Transvestiten wissen oft schon als kleine Kinder, dass sie transsexuell sind. Und ich wusste als kleines Mädchen, dass ich ein Star werden will. Das war, was wichtig war. Dafür habe ich alles getan. Das war der einzige Weg. Schon als Kind fand ich es indiskutabel, so zu sein wie die anderen. Mit zehn habe ich mir die blonde Perücke meiner Tante geliehen und mich geschminkt.

SZ: Deshalb haben Sie Pornofilme gedreht? Um anders zu sein?

Buster: Es war für mich ein Tabubruch, eine Rebellion gegen die Normalität. Als mich ein Fotograf ansprach, ob ich Fotos machen wollte, habe ich sofort zugesagt. Mir war klar, dass es um Nacktfotos ging. Das Ganze war für mich der Schritt aus dem Nichts. Ich habe erst angefangen zu leben, als ich bekannt war.

SZ: Dachten Sie nie, dass Sie dafür einen hohen Preis bezahlen? Dass andere die Kontrolle über Sie haben, zum Beispiel Zuschauer, die Sie beim Sex beglotzen?

Buster: Nein. Ich habe nur gemacht, was ich wollte. An das Publikum habe ich nicht gedacht. Das ist für mich eine uninteressante Frage.

SZ: Pornos suggerieren doch eine ständige Verfügbarkeit der Frau und verleiten manche Männer dazu, alle Frauen für verfügbar zu halten.

Buster: Ich bitte Sie. Diese Diskussion ist 15 Jahre alt und völlig überholt.

SZ: Sie haben immer viel von sich gezeigt und erzählt. Haben Sie noch ein Geheimnis vor der Öffentlichkeit?

Buster: Eigentlich nicht.

SZ: Und das ist in Ordnung?

Buster (zögert): Es ist in Ordnung. Man kann es auch anders machen, aber ich habe diesen Weg gewählt.

SZ: Wie reagieren Menschen auf Sie?

Buster: Die meisten verhalten sich zivilisiert. Was mich nervt, sind Jugendliche, 18-, 19-Jährige, die vor meinem Haus auftauchen. Da habe ich schon öfter die Polizei gerufen. Die Jugendlichen kommen angefahren, zum Spaß, vor einer Hochzeit oder so, mit einem Großraumtaxi. Taxifahrer bringen sie her, die ganz stolz sind zu wissen, wo ich wohne. Manchmal stehen die schon da, wenn ich nach Hause komme. Die sagen teilweise schlimme Sachen. Die stellen sich vor mein Haus und brüllen: ,,Komm raus, du Sau, wir wollen Dich ficken!''

SZ: Jugendliche belästigen Sie vor Ihrem Haus?

Buster: Einmal kamen welche aus dem Ort, die haben geschrien "Komm raus" und gegen die Tür gehauen. Mein Mann war nicht da, ich hatte Angst. Da habe ich die Polizei gerufen. Die haben gesagt: Wir haben ein Problem, wir haben eine Geiselnahmeübung. Da können wir nicht kommen.

Interview: Alexander Hagelüken und Hannah Wilhelm

"Mit dem Euro wurde

alles teurer,

nur Erotikfilme nicht"

"Manchmal brüllen

Jugendliche vor meinem Haus: Komm raus, du Sau!"

Dolly Buster: Oben in einem Selbstporträt, unten als lebende Person. Mit Hut. Foto: dpa

Buster, Dolly: Lebensstil Buster, Dolly: Interviews Buster, Dolly: Einkommen Prominente Personen SZ-Serie Reden wir über Geld SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Handelsblatt" spart

Die Verlagsgruppe Handelsblatt nimmt angesichts der Wirtschafts- und Anzeigenkrise weitere Einschnitte vor. So wird die gedruckte Ausgabe der Nachmittags-Zeitung News am Abend eingestellt, teilte der Düsseldorfer Verlag mit. Das Blatt, das seit 1995 erscheint und von der Handelsblatt-Redaktion mitproduziert wird, wurde bisher ab etwa 16 Uhr unter anderem in den Zügen der Deutschen Bahn und in den Flugzeugen von Air Berlin verteilt. Künftig soll News am Abend nur noch digital erscheinen und an Unternehmenskunden geliefert werden. Diese könnte die Zeitung mit eigenen Inhalten erweitern, hieß es. SZ

Verlagsgruppe Handelsblatt: Sparmaßnahmen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Zweite ist Erster

Das ZDF vermeldet einen erfolgreichen Januar 2009. Mit Datum 28. Januar schließt das Zweite den ersten Monat dieses Jahres an der Spitze aller Sender ab. Bezogen auf die Gesamtzuschauerzahl erreichte der öffentlich-rechtliche Sender eigenen Angaben zufolge 14,4 Prozent, Privatsender RTL 12,7 (bei den 14- bis 49-Jährigen 17,8; Sat 1: 10,2) und die ARD lediglich 12,4 Prozent. Die beiden ZDF-Programme Wetten, dass . . .? (10,62 Millionen) und Das Traumschiff (9,69) führen demnach die Hitliste der Top-50-Sendungen des Januar an. Bei der ARD holten vor allem drei Tatort-Ausstrahlungen hohe Quoten. SZ

Einschaltquoten im Fernsehen Fernsehzuschauer in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Dortmunds teures Pokal-Aus

Werder schlägt die Hintertür zu

Dortmund - Torsten Frings hatte der kalte Abend regelrecht in Verzückung versetzt - soweit man bei einem wie Frings Verzückung erkennen kann. Jedenfalls tanzte Werder Bremens Nationalspieler nach dem Abpfiff an seiner ehemaligen Wirkungsstätte in Dortmund im Stile eines Kängurus auf seine Mitspieler los. Und vor den Mikrophonen, die ihm anschließend hingereckt wurden, meinte man fast, den coolen Frings jauchzen zu hören: "Wir haben offenbar aus unseren Fehlern was gelernt. In der Hinrunde standen wir nach guten Spielen oft mit leeren Händen da." Diesmal ging es Bremens Gegner Borussia Dortmund so, der sich nach dem 1:2 von seinen Pokal-Ambitionen verabschieden muss.

Frings wollte, ebenso wie sein Trainer Thomas Schaaf, aus dem schwer erkämpften Sieg auch gleich die Trendwende für den Rest der Saison ableiten. Aber ob das Achtelfinal-Spiel in Dortmund schon so prognosetauglich war? Dortmunds Trainer Jürgen Klopp beklagte, dass "man die Bremer nicht so spielen lassen kann". Sollte heißen: Wenn Dortmund das Bremer Mittelfeldspiel nur ein wenig mehr bekämpft hätte, wenn seine Stürmer Mohamed Zidan und Alex Frei nicht fünf Großchancen vergeben hätten, bevor Bremen zum Ausgleich kam - es wäre zu dem Happyend für Frings und Bremen gar nicht gekommen.

Die 74 000 Zuschauer hatten ein auf merkwürdige Art ausgeglichenes Spiel gesehen, über dessen Gesamtniveau man sich streiten konnte. Hätte Dortmunds Torjäger Alex Frei kurz vor seinem 1:0 in der 11. Minute auch seine erste Chance verwandelt, es wäre den Bremern ganz sicher schwer gefallen, wieder ins Spiel zurück zu kommen. Zu berechenbar schien das Bremer Ballgeschiebe zunächst gegen die quirligeren Dortmunder. Vor allem BVB-Neueinkauf Kevin Prince Boateng hatte eine Serie guter Aktionen. Aber Bremen gewann langsam aber sicher die Dominanz über das Spiel.

Borussias Patzer

Schiedsrichter Manuel Gräfe hatte bei diesem Systemwettkampf die schlechtesten Karten. Bremen unterstellte dem Berliner, gleich zwei elfmeterreife Szenen (ein Handspiel von Neven Subotic, ein Foul von Verteidiger Felipe Santana an Diego) nicht gepfiffen zu haben. Außerdem war Dortmunds Führungstor durch Frei ein Foul von Florian Kringe an Hugo Almeida vorausgegangen.

Die "individuelle Klasse, die Werder auf den Rasen bringt", wie Jürgen Klopp hinterher befand, konnten die Dortmunder letztlich aber nicht mit viel Laufarbeit aufwiegen. Vor allem im Defensivzentrum, wo der Brasilianer Tinga den am Knöchel verletzten Sebastian Kehl vertreten musste, leistete der BVB sich zu viele Patzer. Zumal Hugo Almeidas Schuss zum 1:1 nicht unhaltbar erschien; vor dem 1:2 durch Claudio Pizarro hatte Torwart Weidenfeller dagegen noch Diegos Freistoß bravourös gemeistert.

Für Dortmund, dessen Vorstandschef Hans-Joachim Watzke am Montag vehement auf die zu erwartenden Folgen der Finanzkrise für die Bundesliga (insbesondere für seinen BVB) hingewiesen hatte, bedeutet das Pokal-Aus auch den Verlust wichtiger Millionen. Im vergangenen Jahr hatte sich Dortmund nach enttäuschender Bundesliga-Platzierung über das Erreichen des Pokalfinales (unter anderem durch ein 2:1 im Achtelfinale gegen Bremen) noch in den Vorhof des Uefa-Pokals gerettet. Diese Hintertür ist nun verschlossen, und in der Liga rangiert Dortmund auf einem sechsten Platz sechs, den es nach den Erkenntnissen des Abends in der Rückrunde an Teams wie Werder Bremen verlieren dürfte.

Frings und die anderen Bremer können sich nach dem intensiven Spiel in Dortmund dagegen ausrechnen, was nach vorne noch gehen kann. Bis hin zu den Champions League-Plätzen. Dass im einst wenig geliebten DFB-Pokal zudem inzwischen richtiges Geld zu verdienen ist, das sich im Jahresbudget leicht mit vier oder fünf Millionen Euro Haben oder Nichthaben auswirken kann, diese Erkenntnis werden nicht nur die Dortmunder haben. Freddie Röckenhaus

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Abschied als Fortschritt

Marcell Jansen hat den Wechsel vom FC Bayern zum HSV nicht bereuen müssen

Hamburg - Gerd vom Bruch, 67, ist ein einfacher Mann. Einmal hat er eine Bundesligamannschaft trainiert. Das war zwischen 1989 und 1991 Borussia Mönchengladbach. Später ist er Spielerberater geworden. Und womöglich kann der frühere Handwerker den Profis durchaus etwas mitgeben, was sich als Lebensweisheit bezeichnen ließe. Seinem Klienten Marcell Jansen, 23, etwa hat er im vergangenen August gesagt: Wenn du das Gefühl hast, dass dein jetziger Klub dich nicht zu hundert Prozent braucht, dich aber jemand anders unbedingt will, dann zögere nicht, einen Schlussstrich zu ziehen und etwas Neues anzufangen.

Also hat der Nationalspieler Jansen eine Unterredung mit dem neuen Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann gesucht, um auszuloten, zu wie viel Prozent dieser hinter ihm stehe. "Ein nettes, gutes Gespräch", sagt Jansen. Aber in diesem Moment wusste er, dass der Coach andere Vorstellungen hatte. Die Idee etwa, Philipp Lahm vom linken auf den rechten Außenverteidigerposten zu versetzen, um Platz für Linksfuß Jansen zu schaffen, kam in Klinsmanns Gedankenwelt nicht vor. Der noch drei Jahre laufende Vertrag war für den Profi plötzlich soviel wert wie ein gesperrtes Bankkonto.

Innerhalb weniger Stunden stand für ihn fest: Ich gehe. Und zwar zum Hamburger SV, wo in Dietmar Beiersdorfer nicht nur ein Sportchef war, der schon im Jahr 2006 die HSV-Rekordsumme von zehn Millionen Euro für den gebürtigen Gladbacher ausgeben wollte, sondern in Martin Jol auch ein Trainer, der schon lange für ihn schwärmte. Berater vom Bruch hatte den Kontakt zu Beiersdorfer nie abreißen lassen und wusste natürlich, dass die Hamburger nach den Verkäufen von Rafael van der Vaart und Vincent Kompany genug Geld hatten.

Marcell Jansen sagt, er empfinde den Wechsel nach dem "schönen Jahr" in München mit dem Gewinn des Doubles "nicht als Rückschritt". Er freue sich zwar, die "Betreuer und Physios" und natürlich auch seinen Playstation-Kumpel Bastian Schweinsteiger zum Rückrundenstart an diesem Freitag in Hamburg wiederzusehen. Doch für seine Entwicklung sei der HSV genau so gut: "Weil er eine Philosophie hat und Luft nach oben." Im Prinzip passe das gut, denn Klub und Spieler hätten genau die gleichen Ziele, nämlich zum Beispiel das Erreichen der Champions League.

Marcell Jansen redet gern. Ob nach schlechten Spielen wie jenem 1:2 mit der Nationalelf gegen Kroatien bei der EM 2008, wo er das 0:1 mit verschuldete; oder nach den neuerdings immer besseren Auftritten für den HSV. Seit zehn Tagen kommt er aus dem Plaudern gar nicht mehr heraus, weil alle etwas über sein erstes Duell mit dem FC Bayern wissen wollen. Viele wollen auch erfahren, ob er jungen Spielern wie dem Gladbacher Alexander Baumjohann raten würde, zum FC Bayern zu gehen. "Soll ich dem Alex sagen, geh' nicht?" Vielleicht passiere ja das Unerwartete, und er setze sich tatsächlich dort durch.

Manchmal sitzt Marcell Jansen zum Interview in der Kneipe "Raute", von der er auf den neu verlegten Hamburger Stadionrasen blicken kann. Dass er einer der begehrtesten deutschen Profis ist, sieht man eigentlich nur an seiner Armbanduhr. Die ist derart mächtig wie bei den meisten Fußballern. Ansonsten sagt er gern Sätze wie: "Sei einfach, dann bist du etwas Besonderes." Oder: "Ich bin niemand, der sich über Materielles definiert." Ansichten, die ihn als netten, unkomplizierten Jungen ausweisen.

Auch Martin Jol scheint ihn so zu sehen: "Marcell", sagt der Trainer, "macht uns sehr viel Freude. Er wird immer fitter und hat riesiges Talent." Offenbar haben sich da zwei gefunden. Denn das, was Jansen über den Coach sagt, ist mehr als man normalerweise über einen Vorgesetzten sagt. Jol sei "ein besonderer Typ". Der habe "nicht nur eine gute Menschenkenntnis, sondern ist auch clever und lässt sich nicht blenden". Vor allem aber gucke er stets, was am besten zur Mannschaft passe. Und das bedeutet für Jansen derzeit, dass er nicht mehr linker Verteidiger spielt, sondern im Mittelfeld, weil dahinter Dennis Aogo sich einen Platz erkämpft hat. Jansen hat es als Lehrstück begriffen, das ihn fußballerisch weiterbringt. Er arbeite jetzt erstmal für die Mannschaft und er wisse aus eigener Erfahrung, was Aogo brauche: "Einen Mann vor ihm, der auch im Defensiv-Verband arbeitet."

Anders als Lukas Podolski, der seine alte Heimat Köln der HSV-Offerte vorzog, möchte Jansen nicht so schnell heimkehren. "Lukas ist fast drei Jahre in München, ich bin erst ein Jahr weg", sagt der Rheinländer, "das hätte meinen menschlichen Reifeprozess unterbrochen." Ein Haus hat er in Mönchengladbach dennoch gebaut. Auch für seine Eltern, bei denen er sich "für meine glückliche Kindheit" bedanken wollte. Jörg Marwedel

Keine Angst mehr vor großen Namen: Marcell Jansen (links, im Zweikampf mit Mailands Brasilianer Ronaldinho) hat eine schwere Eingewöhnungszeit in Hamburg hinter sich - inzwischen aber einen Stammplatz. Foto: Getty

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FC Bayern vor Topspiel beim HSV

Ribéry, der freche Wohltäter

München - Jürgen Klinsmann hielt eine halbleere Flasche Bio-Apfelschorle in der Hand. Von Champagner-Laune wollte der Trainer des FC Bayern nichts mehr wissen, 40 Stunden nach der Pokalgala in Stuttgart (5:1), die - je nach Neigung des Betrachters - Begeisterung oder Furcht vor Langeweile auslöste. Fieberhaft wurde im Land debattiert, ob überhaupt noch irgendwer irgendwie irgendwann in dieser Saison jenes "schwarze Ballett" (Bild) aus München in seinen edlen dunklen Auswärtsdressen stoppen könne. Doch die 6,0 in der B-Note vom Pokalsieg zählt nichts mehr, wenn am Freitagabend TV-Anstalten in 170 Ländern den Bundesliga-Rückrundenstart der Bayern beim Hamburger SV übertragen: "Das wird eine heiße Kiste", warnte Klinsmann, "wir wissen, was passieren kann, wenn wir dort verlieren." Der HSV wäre Tabellenführer.

Verhindern soll dies die neue Münchner Mixtur aus Kunst und Kampf. Flotter Angriffswirbel beginnt beim aggressiven Diebstahl des Spielgeräts - dies war zuletzt die zentrale Lektion: "Wir haben in Stuttgart gesehen, was es bringt, wenn wir uns nicht weit fallen lassen, sondern vorne pressen", erläuterte Klinsmann das Projekt Vorwärtsverteidigung. Personell ändert er in Hamburg wohl nichts. Auf der rechten Seite, die zur linken in der Vorrunde abfiel, wirbelte Bastian Schweinsteiger im Pokal so alert, dass es Herausforderer Hamit Altintop "schwer hat, vorbeizukommen", sagt Klinsmann. Hinten rechts vertraut er Christian Lell, der den gesperrten Massimo Oddo ersetzt.

Keine Frist für van Bommel

Elfmeter dürfte auch in Hamburg Filou Franck Ribéry schießen - "aber anders", befahl Klinsmann grinsend, bloß nicht: gelupft! Die provokante Strafstoß-Nummer des Franzosen gegen VfB-Torwart Jens Lehmann war indes nicht das einzige Aufregerthema. In der Heimatzeitung L'Équipe wiederholte Ribéry seine Forderung, Bayern möge sich prominent verstärken, um "auch in der Champions League das notwendige Niveau zu haben". Den Klubbossen gefallen derlei Kaufempfehlungen wenig, Ribery sagt: "Wenn ich einige Namen lanciere, die uns weiterbringen könnten, ist das zum Wohle des Vereins." In eigener Sache sagte Ribéry, der Vertrag hat bis 2011: "Es wird viel über meine Zukunft geredet. Viele Clubs haben Interesse geäußert und von riesigen Summen Geld war die Rede. Ich versuche, mich davon nicht beeinflussen zu lassen."

Klinsmann reagierte gelassen: "Franck weiß, dass wir vieles in die Wege leiten." Neben HSV-Stürmer Ivica Olic, der das Duell mit seinem neuen Arbeitgeber gesperrt verpasst, plant Bayern weitere kraftvolle Transfers. Bleiben sollen die Routiniers Zé Roberto und Mark van Bommel. Zé kündigte für "Mitte Februar" Gespräche an. Bei Kapitän van Bommel, der mit dem neuen Ein-Jahres-Angebot unzufrieden ist und auch bei HSV-Trainer Martin Jol auf dem Zettel stehen soll, wird die Entscheidungsfrist 31. Januar wohl überzogen: "Es gibt keine Deadline", sagte Klinsmann, "wenn Mark noch ein, zwei Wochen braucht, kein Problem!" mok

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Tore zu!

Von Klaus Hoeltzenbein

Gerald Asamoah sagt, er sei beim Pokalspiel der Schalker in Jena rassistisch beleidigt worden. Auf dem Platz und auf dem Weg zum Bus seien wieder jene Affenlaute zu hören gewesen, die den gebürtigen Ghanaer schon häufiger tief in seiner Seele verletzt haben. Bei Hertha BSC suchen sie in ihrem Gefolge gerade nach einigen Chaoten, die bei einem Testspiel der Berliner gegen den senegalesischen Stürmer von Babelsberg 03, Babacar N'Diaye, pöbelten. Hertha hatte sich am Mittwoch in einem Brief beim Regionalligisten entschuldigt und will gegen den Rädelsführer die maximale Vereinsstrafe verhängen, ein dreijähriges Stadionverbot. Und wenige Tage ist es erst her, dass Tennis Borussia Berlin, ein Verein mit jüdischen Wurzeln, darüber Klage führte, beim Hallenturnier der Berliner Regional- und Oberligisten aus dem Fanblock des 1. FC Union antisemitisch beleidigt worden zu sein.

Gerald Asamoah kennt den Zwiespalt, der sich ergibt, wenn er auf solche Pöbeleien hinweist. Einerseits wolle er das Thema nicht zu hoch hängen, "um diesen Leuten keine Öffentlichkeit zu bieten", andererseits "tut es natürlich immer wieder weh". Gerade deshalb ist es wichtig, dass Asamoah seinen Schmerz in Worte fasst, dass er erzählt, wenn er sich verletzt fühlt. Denn nur über die öffentliche Klage wird diese Debatte präziser, erzählt der deutsche Nationalspieler doch auch, wie oft er in der Bundesliga schon bei Energie Cottbus zu Gast war, ohne dass er dort Beleidigendes zu hören bekam. Was auch eine wichtige Botschaft ist, wurden doch die jüngsten Auswüchse wieder aus Berlin und aus dem Osten gemeldet, wo der Fußball in den mittleren und unteren Spielklassen häufiger als anderswo als Vehikel für rassistische und/oder gewaltsame Aktionen benutzt wird.

Natürlich sind im Westen ähnliche Vorkommnisse aktenkundig, Gründe gibt es jedenfalls genug, um nun die 36 Erst- und Zweitligisten geschlossen hinter der Aktion "Tag gegen das Vergessen" zu versammeln. Zum fünften Mal nimmt der deutsche Profifußball zum Rückrundenstart am Wochende teil an jenem Gedenktag (27. Januar), der an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 erinnert. Dieser Tag sollte der Fußballgemeinde mehr sein als ein Pflichttermin für symbolische Gesten. Er sollte ihr Mut machen, couragiert all die kleinen Tore zu schließen, durch die der Geist von gestern ins Stadion weht. Auch, damit sich dort kein Sturm entwickeln kann.

Asamoah, Gerald: Angriffe Holocaust-Gedenktag Zweite Fußball-Bundesliga Fußball-Bundesliga in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Razzia bei Skinhead-Gruppe

Polizei in Augsburg zerschlägt rechtsextreme Bande

Augsburg - Sie geben sich nach Angaben der Polizei offen nationalistisch und fremdenfeindlich, tragen aber einen englischen Namen. "Hate Crew Schwaben" ("Hass-Bande Schwaben") nennen sich 15 bis 20 Skinheads, die von Augsburg aus in ganz Bayern und auch in Baden-Württemberg aufmarschieren. Am Mittwoch untersuchte die Kriminalpolizei Augsburg die Wohnungen von neun Bandenmitgliedern in den Landkreisen Augsburg, Donau-Ries und Unterallgäu sowie in Schwäbisch Hall. Dabei wurden Baseballschläger und Schlagstöcke, mehrere tausend Tonträger mit verfassungsfeindlichen Inhalten sowie hunderte Kleidungsstücke sichergestellt. Die Staatsanwaltschaft Augsburg ermittelt gegen sieben Männer im Alter von 26 bis 33 Jahren wegen des Verdachts auf Verbreiten von Propagandamitteln, Volksverhetzung, Gewaltdarstellung, Aufstachelung zum Rassenhass sowie Geldwäsche und Schwarzarbeit.

Die Ermittler werfen den führenden Mitgliedern der Gruppe vor, ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf verbotener CDs und anderer indizierter Gegenstände verdient zu haben. Einer der Beschuldigten soll verfassungsfeindliche Tätowierungen angefertigt haben. Nach Angaben der Polizei demonstrieren die Skinheads ihre Zusammengehörigkeit mit Fahnen und schwarzen Bomberjacken, auf denen ein Totenkopf abgebildet ist. Sie pflegten enge Kontakte zu anderen rechtsgerichteten Kameradschaften und Vereinigungen und engagierten sich teilweise auch politisch innerhalb der NPD. Die Verdächtigen, die teilweise bereits wegen Gewaltdelikten polizeibekannt sind, sind auf freiem Fuß. Gegen manche Gruppenmitglieder bestehe kein strafrechtlich relevanter Verdacht.

Vor der Razzia hatte die Polizei neun Monate lang ermittelt. Im Oktober hatte sie ein illegales Rockkonzert in Thierhaupten (Landkreis Augsburg) beendet. Dabei wurden Waffen, verbotene Tonträger und Kleidungsstücke beschlagnahmt, die zum Kauf angeboten worden waren. Stefan Mayr

Skinheads in Deutschland Razzien in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bunt und rund

In der vergangenen Woche haben Designer und Unternehmen auf der internationalen Möbelmesse in Köln wieder ihre neuesten Kreationen vorgestellt. Viele Trends sind indes bekannt. Ob Retro-Welle, Technikmöbel oder Individualisierung: Die neuen Kollektionen setzen bekannte Entwicklungen fort. Bei den Farben gilt laut den Trendforschern noch immer Weiß als besonders chic. Gleichzeitig seien knallige Töne wie Lila oder Orange im Kommen. Laut einer Trendstudie hält auch eine Strömung namens "Eco-Pop" Einzug in die Wohnzimmer, eine "bunte und runde" Melange aus Umweltbewusstsein, Technikbegeisterung und Hightech-Kunststoffen. Eine Frischzellenkur und einen neuen Namen erhält der Liegesessel, der nun auch bunt sein darf und als "Lounger" in den Produktlisten geführt wird.

Foto: ddp

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Die dunkle Seite

"Belege opportunistischen Verhaltens": Ein Buch dokumentiert die bisher unbekannte NS-Vergangenheit des Verlegers Georg von Holtzbrinck

War Georg von Holtzbrinck ein Nazi, der Hitler und Goebbels unterstützte und davon profitierte? Jetzt liegt das Ergebnis einer Studie in Form eines Buches vor: "Zu unserem großen Bedauern", teilten die Kinder Monika Schoeller von Holtzbrinck, Dieter und Stefan von Holtzbrinck mit, sei das NS-Regime "in alle Lebens- und Arbeitsbereiche und damit auch in das verlegerische Handeln unseres Vaters eingedrungen". Mit dem neuen Buch zur verlegerischen Rolle Georg von Holtzbrincks im Dritten Reich, heißt es weiter, werde ein "bislang weitgehend unbekanntes Teilstück der deutschen Buchhandelsgeschichte in der Nazi-Zeit bekannt. Im Interesse der erwünschten rückhaltlosen Aufklärung wurden alle in Familien- und Unternehmenshand befindlichen Materialien zur Verfügung gestellt und die akademische Arbeit unterstützt. In Summe erschlossen sich nahezu dreißig Archive zwischen Washington und Moskau, alle aufgefundenen Dokumente stehen der weiteren Forschung zur Verfügung."

Am 1. August 1948 schrieb Georg von Holtzbrinck einem Onkel in New York: "Jetzt liegt die Geschichte hinter einem." Er war erleichtert und fügte an: "Vergessen werden wir sie aber nicht."

Holtzbrinck sprach nicht vom Dritten Reich und den Untaten der Nazis, sondern von seinem Entnazifizierungsverfahren. Das war "moralisch viel deprimierender als die unmittelbaren Gefahren für Leib und Besitz, die der Krieg mit sich gebracht hatte", schrieb er.

Es hat Gründe, dass für ihn die Entnazifizierung schlimmer war als die Zeit im Nationalsozialismus. Unter dem Aktenzeichen 37/1V/17542 begann im Jahr 1946 in Stuttgart ein Spruchkammerverfahren gegen Georg von Holtzbrinck. Dem 36-Jährigen wurde vorgeworfen, die Diktatur Adolf Hitlers mit seinen Zeitschriften, mit seiner Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens oder auch den Nationalsozialistischen Monatsheften unterstützt und vom Nazi-Regime profitiert zu haben. Gehörte Holtzbrinck zu den Belasteten der Kategorie II? Das sind Nutznießer des Unrechtsregimes, die sich persönliche oder wirtschaftliche Vorteile verschafften. Oder war er nur ein Mitläufer, wie er selbst und sein Verteidiger versichern?

Holtzbrinck sei "ein überzeugter Anhänger" der Nazis gewesen und "ist in die Gruppe der Aktivisten einzureihen", behauptete der Ankläger. Als Beleg führte er eine Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), im NS-Studentenbund, in der Reichspressekammer, vor allem aber die Mitgliedschaft in der NSDAP an. Georg von Holtzbrinck sei bereits 1935 in die Partei der Nazis eingetreten und habe damit automatisch als belastet zu gelten.

Für den Unternehmer ging es um alles oder nichts. Holtzbrinck beobachtete in den Nachkriegstagen auf seinen Zugfahrten nach Stuttgart viele hungrige Menschen, wie er einmal nach New York schrieb. Er hatte zu essen, er besaß sogar ein Auto, auch wenn er wegen Spritmangels damit noch nicht fahren konnte.

Aber wie würde er nach dem Urteil dastehen? Stufte man ihn als Belasteter ein, wäre seine Karriere als Verleger beendet. Holtzbrinck drohten bis zu fünf Jahre Arbeitslager, der Verlust des Wahlrechts und des Vermögens. Der Ruin. Das Verfahren dauerte zwei Jahre. Sein Verteidiger erhob in 24 Fällen Einspruch. War Georg von Holtzbrinck ein Nazi, der eine gewichtige Rolle spielte für Hitlers Propagandaminister Goebbels? Bis heute beginnt die offizielle Unternehmensgeschichte 1948. Holtzbrinck überging in einem Geburtstagsband 1969 (Das Buch zwischen gestern und morgen) die heiklen Punkte der Biographie und betonte, die Reichspressekammer habe die Schließung seines Unternehmens wegen Unzuverlässigkeit angedroht.

Die Wahrheit ist komplizierter. Seit das amerikanische Magazin Vanity Fair 1998 die Karteikarte seiner Parteimitgliedschaft abdruckte und ihm vorwarf, er habe die Ideologie der Nazis verbreitet, rätselt die Verlagswelt über die dunkle Vergangenheit von Georg von Holtzbrinck im Dritten Reich. 1998 lehnte es Sohn Dieter von Holtzbrinck ab, die Enthüllung zu kommentieren oder auf die Aktivitäten seines Vaters in der Nazizeit einzugehen. Davor war lediglich 1968 im Spiegel von Holtzbrincks Vergangenheit als "Ex-Pg", als ehemaliger Parteigenosse der NSDAP, die Rede. Der Hinweis wurde von Historikern offenbar übergangen und blieb folgenlos.

Erst als die in Gütersloh ansässige Bertelsmann AG auf Druck der Öffentlichkeit um 1998 ihre Legende vom Widerstandsverlag berichtigen musste, ließen Stefan und Dieter von Holtzbrinck die Geschichte des eigenen Hauses im Dritten Reich untersuchen. "Unsere Familie und unser Unternehmen haben Verantwortung, die Vergangenheit zu erklären", sagte Firmenchef Stefan von Holtzbrinck damals der New York Times. Die Erben handeln geschäftlich auch mit Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Denn zu Holtzbrinck gehören neben Buchverlagen wie S. Fischer und Rowohlt die Wochenzeitung Die Zeit, das Handelsblatt und der Tagesspiegel. Die so genannte Schwarze Reihe bei S. Fischer fühlt sich der Aufklärung der NS-Zeit verpflichtet.

Der Journalist Thomas Garke-Rothbart, bis Ende 2008 bei der Thüringer Allgemeinen in Erfurt beschäftigt, forschte seit 1998 und legt jetzt mit dem Buch . . . für unseren Bereich lebensnotwendig . . . (Verlag K.G. Saur) neue Erkenntnisse vor. Familie Holtzbrinck machte nicht nur Quellen und das Verlagsarchiv zugänglich, sondern finanzierte einen Teil der Forschung. Sie habe seine Arbeit aber nicht autorisiert, betont Garke-Rothbart. Das Buch sei eine unabhängige Darstellung.

Wer war der Mann, der den Grundstein legte für das renommierte Verlagshaus, das heute ehemals jüdische Verlage besitzt und Autoren wie Thomas Mann, Franz Kafka und Susan Sontag verlegt? Garke-Rothbarts Buch gibt Auskunft: Georg von Holtzbrinck wurde am 11. Mai 1909 als viertes von fünf Kindern eines adeligen Gutshofbesitzers in Hagen in Westfalen geboren. Er erhielt den Vornamen jenes Vorfahren, der 1694 von Kaiser Leopold I. in den Adelsstand erhoben worden war. Doch Georgs Vater musste den Familienbesitz verkaufen, auch das nachfolgende Gut konnte er nicht halten. Das Geldvermögen wurde durch die Inflation entwertet. Die Verarmung sei "eine prägende Erfahrung" gewesen, schreibt Garke-Rothbart.

Als Georg von Holtzbrinck 1929 sein Jura-Studium in Bonn und Köln begann, musste er sich den Lebensunterhalt selbst verdienen. 1931 wurde er Mitglied im NS-Studentenbund. Nach 1945 argumentierten seine Anwälte, die Organisation sei "damals nichts weiter als andere Studentenorganisationen auch" gewesen. Er habe lediglich an acht Treffen teilgenommen und sei wegen des niedrigen Beitrags beigetreten. Die Versprechungen der NSDAP auf wirtschaftliche Besserung, sagte Holtzbrinck 1949, hätten auf Studenten, "eine beträchtliche Anziehungskraft ausgeübt". Vom wirklichen Gesicht des Nationalsozialismus sei nichts zu erkennen gewesen.

Doch ganz so harmlos war der Studentenbund nicht, meint Garke-Rothbart, immerhin war die NS-Studentenorganisation wegen Hetze gegen jüdische Kommilitonen und missliebige Professoren an der Universität Köln verboten. Die Organisation firmierte als "NSDAP. Sektion Universität". Wer Mitglied werden wollte, musste zur Gauleitung. Holtzbrinck muss klar gewesen sein, auf was er sich einließ.

Im Sommer 1930 warb Holtzbrinck Abonnenten für die Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, einer Art Buchgemeinschaft der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart. Diese Zeitschriftenbände beinhalteten einen Roman oder eine Novelle, eine historische Skizze und einen Wissenstext. Holtzbrinck war so erfolgreich, dass er von 1931 an ganz in das Geschäft der Zeitschriften- und Buchwerber umstieg. Im November 1932 rechnete er 836 neue Abonnenten ab, für die er 3762 Reichsmark Provision erhielt. Das Studium brach er ab, seine Kontakte nutzte er für die Vertriebsarbeit und heuerte dafür Studenten an. Damals begann die Zusammenarbeit mit August-Wilhelm Schlösser, seinem langjährigen Partner. Schlösser arbeitete seit 1928 als Vertreter für die Union Deutsche Verlagsgesellschaft.

Holtzbrinck verdiente 1932 rund 20000 Reichsmark, also zirka 1667 Reichsmark im Monat. 70 Prozent der Ärzte mussten mit weniger als 170 Reichsmark auskommen. Allein im Januar 1933 verdiente er 4760 Reichsmark und hatte mehr als 16 000 Reichsmark auf dem Konto, was heute der Kaufkraft von ungefähr 160000 Euro entspricht. Am 30. Juni 1933 waren es bereits 37 558 Reichsmark. Gemeinsam mit ihren Vertretern waren Holtzbrinck und Schlösser in ganz Deutschland unterwegs. "Wir lebten flott, logierten in noblen Hotels", notierte einer der Vertreter.

Im Januar 1934 wurden Schlösser und Holtzbrinck exklusiv mit der gesamten Zeitschriftenwerbung beauftragt und verpflichteten sich, jährlich 50000 neue Abonnenten zu werben. Als sich der Markt veränderte und Einbußen drohten, erwarben sie die Deutsche Verlagsexpedition (Devex), eine Firma, die nur aus einem Namen bestand, die sie ausbauen wollten. Die Reichspressekammer sah die Devex als Neugründung an und verweigerte wegen eines generellen Verbots von Neugründungen die Zustimmung. Die Auseinandersetzung zog sich hin. Erst im Dezember 1936 wurde die Firma gegen eine Zahlung von 100 Reichsmark Strafe genehmigt. Das klingt, als hätte die Devex unter Druck der NS-Behörden gestanden, doch das Gegenteil sei der Fall gewesen, schreibt Garke-Rothbart. Die nachträgliche Genehmigung sei ein Entgegenkommen gewesen.

Holtzbrinck hatte sich mit der Partei gut gestellt. Die Genehmigung sei auch auf seinen Eintritt in die NSDAP, der 1933 oder 1935 erfolgte (die Quellen sind da widersprüchlich), zurückzuführen, wie Holtzbrinck später gesagt habe. Er erhielt die Mitgliedsnummer 2.126.353. Holtzbrinck war also zu einem frühen Zeitpunkt eingetreten, sein Partei-Engagement habe er allerdings "auf ein Mindestmaß beschränkt" (Garke-Rothbart). Um Aufträge zu erhalten, habe er gegenüber Wehrmacht, Staat und Partei wiederholt mit der Parteizugehörigkeit argumentiert. Zu Verhandlungen nahm er seinen Onkel Erich mit, einen Major, hochdekorierter Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges und Standartenführer des SS-Hauptamtes. Der beeindruckte mit seiner Uniform und erhielt Provisionen. Gegen Ende des Krieges soll Holtzbrinck gesagt haben: "Wenn es gutgeht mit dem Ausgang des Krieges, habe ich einen Onkel, welcher SS-Führer ist, wenn es anders kommt, einen nahen Verwandten in Amerika." Dort lebte ein anderer Onkel.

Schlösser wandte sich an die Privatkanzlei von Adolf Hitler und erhielt ein Empfehlungsschreiben. Damit sicherte sich die Devex einen Vertrag mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der mit 25 Millionen Mitgliedern größten und finanzstärksten NS-Massenorganisation. Die Devex leistete den Vertrieb der DAF-Zeitschriften Schönheit der Arbeit und Freude und Arbeit.

1938 betrug die Auflage aller DAF-Blätter 28,5 Millionen Exemplare. Doch mit Kriegsbeginn wurde Schönheit der Arbeit eingestellt und ein Teil der Auflage von Freude und Arbeit gestrichen. Wegen Zahlungsrückständen der Devex kam es zu einem Prozess über drei Instanzen, den Holtzbrinck später als politischen Widerstand darstellte. "Diese Bewertung des Verfahrens ist nicht haltbar", urteilt Garke-Rothbart.

Holtzbrinck feierte ohne äußeren Druck den Kriegsausbruch und den Führer und verlegte dazu 1939 eine Sonderausgabe über den Feldzug in Polen. "Man muss natürlich jetzt zuschlagen, damit man anderen Verlagen . . . zuvorkommt", schrieb er an Schlösser. Beide bemühten sich um Texte des von den Nazis verehrten Autors Hans Grimm (Volk ohne Raum) und druckten sie nach.

Holtzbrincks Sonderband unterschied sich nicht von der offiziellen Propaganda; Beiträge entnahm er der Parteizeitung Völkischer Beobachter und kümmerte sich selbst um die Bildauswahl. Drei Tage im Monat traf er sich mit seinem Lektor Hans-Ludwig Oeser, seit 1933 Mitglied der NSDAP und von 1937 an Kreisamtsleiter der NSDAP für Buchwesen und Schrifttum, um den Inhalt abzustimmen.

Holtzbrinck befürchtete, der Krieg könnte die Geschäfte behindern, aber der Umsatz erreichte 1942 mit 1,6 Millionen Reichsmark einen Höchststand. Holtzbrinck verdiente 120 140 Reichsmark. Am 1. März 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Das Geschäft kontrollierte er von unterwegs, indem er Briefe schrieb. Seinen Vorgesetzten schenkte er Bücher, um genügend Freiraum für seine Geschäfte zu erhalten.

Was bedeutet die Forschungsarbeit für die Erben? Den Recherchen zufolge "finden sich Belege opportunistischen Verhaltens. (. . .) Wir, seine Kinder, wie auch seine Freunde und seine Kollegen kannten in dem 1983 verstorbenen Firmengründer einen Mann ohne antisemitische, militaristische oder uniformistische Züge. Mit seinem Handeln und seinen Mitteln trat unser Vater nach dem Kriege für die Wiedergutmachung gegenüber denjenigen ein, die unter dem Deutschland der Nazis gelitten hatten - ein Handeln, das auch uns verpflichtet." Wenigstens gebe es "keinerlei Dokumente und Veröffentlichungen rassistischen Inhalts und - trotz gewisser Sympathien in der Anfangszeit - keinerlei Hinweise auf eine aktive Parteimitgliedschaft."

Garke-Rothbart bestätigt das und sagt: "Das Verhalten Georg von Holtzbrincks war exemplarisch für das vieler mittlerer Unternehmer."

Eine gewichtige Rolle für Hitler und Goebbels spielte er nicht; seine Kontakte liefen auf der Arbeitsebene der Behörden, nicht auf Ebene der Machthaber. Es sei auch schwer vorstellbar, dass er brüllend bei Parteiveranstaltungen gestanden habe. Sein Beitritt zur Studentenorganisation sei aber "keine Jugendsünde" gewesen, wie seine Anwälte später glauben machen wollten. Verlagshistoriker Siegfried Lokatis betont: Holtzbrinck habe "eher unbedeutende Firmen" geleitet. Ob er vom Einsatz durch Zwangsarbeiter profitierte, bleibt unklar.

Ein Magengeschwür verhalf Georg von Holtzbrinck zu einer vorzeitigen Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Er durfte nicht arbeiten. Seine Frau Addy, die er 1938 geheiratet hatte, war trotz drängender Anfragen kein Mitglied der NSDAP geworden und erhielt die Genehmigung für Druck und Vertrieb farbiger Postkarten. Auch das Geschäft mit dem Vertrieb von Büchern lief wieder an. Dazu engagierten die Eheleute die in geschäftlichen Dingen völlig unbedarfte Else Wienskowitz aus Dillingen, mit der Addy im September 1945 ein neues Unternehmen gründete. Ihr Mann zog die Fäden im Hintergrund.

Beim Verfahren vor der Stuttgarter Spruchkammer belastete ihn Heinrich Durst, der Anwalt von Holtzbrincks ehemaligem Partner Paul Ackermann: "Soweit ich es beurteilen kann, war v.H. ein guter Nazi, vor allen Dingen ein Nutznießer, der aus dem Alleinvertrieb der verschiedenen Nazizeitschriften sehr viel Geld verdient hat."

Holtzbrinck bot Zeugen auf, die ihm bestätigten, dass er ein entschiedener Gegner des Krieges war, dass er eine Sekretärin beschäftigte, deren Ehemann einen jüdischen Elternteil hatte, dass er fast nie ein Parteizeichen trug und mit seinem Lektor Olaf Saile "die Möglichkeit eines aktiven Widerstandes gegen das Selbstmordregime Hitlers" besprach.

Am 25. Februar 1948 fand die öffentliche Verhandlung gegen Georg von Holtzbrinck statt. Seine Anwälte betonten noch einmal, er habe durch den Nationalsozialismus keinen wirtschaftlichen Vorteil, sondern Nachteile erlitten. Nach Anhörung der Zeugen und Sachverständigen beantragte der Kläger, ihn als Mitläufer einzustufen. Holtzbrinck solle 1500 Reichsmark Strafe zahlen. Der Richter folgte dem Kläger, verurteilte Holtzbrinck zur Zahlung von 1200 Reichsmark. Das Urteil hält seine Parteimitgliedschaft fest und dass Holtzbrinck seine Parteikontakte genutzt habe, sich das Alleinvertriebsrecht seiner Zeitschriften zu sichern. Allerdings habe er lediglich aus wirtschaftlichen, nicht politischen Motiven gehandelt.

Die Kinder von Holtzbrinck betonen: "Die Einstufung als Mitläufer im Entnazifizierungsverfahren und das Gesamtprogramm im historischen Kontext zu beurteilen, steht uns nicht an. Dies ist und bleibt Sache der akademischen Forschung."

Bemerkenswert ist angesichts der Vergangenheit des Verlagsgründers, dass die Kinder von Holtzbrinck trotz dieses schweren Erbes mit S. Fischer oder Farrar, Straus & Giroux angesehene ehemals jüdische Verlage erwerben konnten. Wie war das möglich?

Der jüdische Verleger Roger Straus, der seinen Verlag Farrar Straus & Giroux 1994 verkaufte, sagte vor Jahren: Er habe bei dem Geschäft die Vergangenheit von Holtzbrinck sehr wohl bedacht. Jeder, der die Zeit überlebt habe, habe kooperiert: "Ich dachte mir, sie sind so sauber, wie es nur ging."

Gahrke-Rothbart fragt sich in seiner Forschungsarbeit (die er als Dissertation an der Fernuniversität Hagen einreichen will), ob Holtzbrinck "nicht doch ein Nutznießer des Systems war. In der umgangsprachlichen Auslegung des Begriffs besteht kaum ein Zweifel daran".

THOMAS SCHULER

Zwei Jahre dauerte das Verfahren zur Entnazifizierung. Ihm drohte der Ruin.

"Wir lebten flott, logierten in noblen Hotels", notiert einer der Vertreter

Das Gericht stellte fest, er habe aus wirtschaftlichen, nicht aus politischen Motiven gehandelt.

"Zu unserem großen Bedauern", teilen die Erben mit, sei das NS-Regime "in alle Lebens- und Arbeitsbereiche und damit auch in das verlegerische Handeln unseres Vaters eingedrungen": Söhne Dieter (li.) und Stefan von Holtzbrinck, Verlagsgründer Georg von Holtzbrinck (ganz rechts). Das Unternehmen Holtzbrinck finanzierte einen Teil der nun veröffentlichten Studie. Fotos: laif, Marek und Seeberger

Holtzbrinck, Georg von Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck GmbH: Historisches Kultur im Nationalsozialismus SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein erzwungener Plan B

Umstrittene "Zeitungszeugen" vorerst ohne NS-Nachdrucke

Man kann dem britischen Verleger Peter McGee nicht vorwerfen, er verstünde nichts vom Zeitungsgeschäft. "Zensiert" steht in dicken roten Buchstaben auf dem Cover der aktuellen Ausgabe seines umstrittenen Wochenmagazins Zeitungszeugen, die seit Donnerstag im Handel ausliegt. Im Heft ist zwar so gut wie nichts mehr drin, wofür man es bisher gekauft hätte, aber der Titel macht neugierig. Die "Sondernummer" erscheine "aufgrund der Vorgehensweise des bayerischen Finanzministeriums", heißt es. Gemeint ist die Beschlagnahmung von mehreren tausend Nachdrucken des NS-Blattes Völkischer Beobachter, die der zweiten Nummer beilagen. Der Freistaat Bayern versteht sich als Inhaber der Rechte der Nazi-Zeitung und anderer NS-Blätter und verbietet den Nachdruck. Statt Faksimiles der Frankfurter Zeitung, eines liberalen Wirtschaftblattes, und des Angriffs von Joseph Goebbels über Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz gibt es nun nur noch vier Seiten, auf denen sich McGee, sein Anwalt, seine Chefredakteurin und sein wissenschaftlicher Beirat wortreich gegen ihre "Zensur" wehren.

Zum Start der Sonderausgabe saß McGee am Donnerstag im Amaliensalon des Münchner Hotels Königshof und versuchte Zuversicht auszustrahlen. Rund 30 Journalisten waren gekommen, um zu hören, wie sich der 48-jährige Brite gegen den Freistaat wehren will. Der Eindruck: zumindest nicht mehr ganz so kämpferisch wie in den vergangenen drei Wochen. Ihm sei "an einer weiteren Eskalation nicht gelegen", sagte McGee. Man habe die Bayern von Anfang an "nicht provozieren" wollen, ergänzte sein Anwalt Ulrich Michel. Vielleicht liegt es daran, dass McGee die staatlichen Maßnahmen, die er "drakonisch" nannte, allmählich Respekt einflössen; auch gegen ihn persönlich laufen Ermittlungen, unter anderem wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Plan B: Ohne Nazis

Vielleicht fürchtet McGee aber auch schlicht um sein Geschäft. Von den 300 000 Exemplaren der ersten Ausgabe konnte er nach eigenen Angaben 200 000 Stück à 3,90 Euro verkaufen. Doch schon die teilweise beschlagnahmte zweite Ausgabe (Auflage 150 000) dürfte kein großer Erfolg mehr geworden. Und bei der nachdruckfreien dritten Nummer geht er selbst von einem Verlust aus. Wer will, kann zwar einen "Bestellkupon" ausfüllen. Dafür soll es später eine Vollversion geben, inklusive Nachdrucke. Doch das kann dauern: "sobald der rechtliche Disput beigelegt wurde", heißt es im Heft.

McGees Anwalt Ulrich Michel trug in München noch einmal alle seine Einwände gegen die Rechtsauffassung des Freistaats vor. Der wichtigste: Für die Zeitungszeugen gelte die "Zitatfreiheit", weshalb keine Verletzung des Urheberrechts vorliege. Zu diesem Schluss komme auch ein neues zwölfseitiges Gutachten des Rechtsgelehrten Bernd Heinrich von der Humboldt-Universität in Berlin. Bis die rechtliche Frage geklärt sei, müsse McGee leider auf alle NS-Nachdrucke verzichten, erklärte Michel, sonst drohe gleich die nächste Beschlagnahmung.

Der Streit könnte schon in den nächsten Wochen vor dem Landgericht in München verhandelt werden, die nächste Stufe wäre dann direkt das Bundesverfassungsgericht. Bis zum Urteil will McGee "wie geplant" weitermachen - mit den unter Hitler nicht mehr lange gedruckten bürgerlichen und linken Zeitungen, mit Exil-Publikationen und mit ausländischen Blättern. "Plan B" nennt McGee das. Ob er aufgeht? Der Reiz der Zeitungszeugen, das zeigt die öffentliche Debatte, liegt im Nachdruck der NS-Blätter, im so nicht dagewesenen massenhaften Zugang zu "verwerflichem, rassistischem und kriminellem Material" (McGee). Ohne ihn dürfte das Interesse der Journalisten und der anderen Leser rasch erlöschen. MARC FELIX SERRAO

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Der Preis der Wertschätzung

Warum Menschen mit teuren Sonnenbrillen besser sehen - der Verhaltensökonom Dan Ariely über die tägliche Irrationalität beim Geld

Als durch und durch rational handelndes Wesen gilt der Mensch nur noch in den Theorien der klassischen Ökonomie. Stets stehen ihm dort alle relevanten Informationen zur Verfügung, immer richtet er sein Verhalten am maximal möglichen Nutzen aus. Dass der Mensch diesem Ideal nicht entspricht, gestehen Wirtschaftswissenschaftler zwar seit Jahren ein, sie ignorieren diesen Umstand jedoch, wenn sie ihre Theoriegebäude errichten. Die junge Disziplin der Verhaltensökonomie erkundet die menschlichen Unzulänglichkeiten im Detail. Wissenschaftler wie Dan Ariely verstehen sich eher als Psychologen denn als Ökonomen und untersuchen menschliches Verhalten im Experiment. In seinem Buch "Denken hilft zwar, nützt aber nichts" zeigt der Verhaltensökonom vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, wie irrational der wirtschaftende Mensch handelt.

SZ: Darf ich Ihnen zu Beginn unseres Gesprächs ein Erlebnis berichten?

Ariely: Nur zu.

SZ: Vor einigen Jahren habe ich mein Schlagzeug verkauft. Es war zehn Jahre alt und hatte 1000 Mark gekostet. Drei Wochen in Folge habe ich es für 250 Mark in einer Zeitung inseriert. Es haben viele Leute angerufen, aber niemand wollte es kaufen. Beim letzten Versuch habe ich 500 Mark verlangt. Das Schlagzeug ging sofort weg.Das ist doch absurd, oder?

Ariely: Überhaupt nicht, absurd war eher Ihr Verhalten.

SZ: Warum das denn?

Ariely: Wie haben Sie den Preis festgelegt, den Sie zunächst verlangt haben? Wahrscheinlich sind Sie vom Originalpreis ausgegangen und haben für das Alter des Instruments einen Betrag X pro Jahr abgezogen. Aber warum? Wie sind Sie darauf gekommen? Warum haben Sie nicht nur zehn Prozent nachgelassen?

SZ: 250 Mark schien mir ein fairer Preis zu sein. Und die klassische Ökonomie lehrt doch, dass die Nachfrage steigt, wenn der Preis fällt.

Ariely: Für manche kurzfristigen Phänomene trifft das zu. Ein Produkt einer bestimmten Marke, das Sie kennen und schätzen, gibt es für kurze Zeit für die Hälfte zu kaufen. Es existiert keine Unsicherheit über die Qualität. Das wird den Absatz kurzfristig steigen lassen. In Ihrem Fall war das anders. Sie haben dem Käufer eine Freude gemacht, indem Sie mehr verlangt haben. Jemand, der 500 Mark für das Schlagzeug bezahlt, hat mehr Spaß damit, als jemand, der nur 250 dafür bezahlt hat. Ihre Geschichte ist kein Einzelphänomen.

SZ: Warum ticken Menschen so, selbst wenn sie es besser wissen?

Ariely: Weil Erfahrung und Erwartung unsere Wahrnehmung so stark beeinflussen. Das haben wir in vielen Experimenten immer wieder belegt. Einmal haben wir Probanden Sonnenbrillen gegeben, mit denen sie bei grellem Gegenlicht Wörter von einer Tafel ablesen sollten. Sie hatten immer die gleichen Sonnenbrillen auf. Aber wenn wir ihnen sagten, sie seien von Armani, konnten sie die Wörter besser entziffern. Genauso mit Köpfhörern: Mit vermeintlichen Markenkopfhörern konnten die Probanden auf einmal Wörter besser durch Störgeräusche hindurch hören. Also, warum haben Sie nicht gleich 500 verlangt?

SZ: Das erschien mir zu viel. Es gibt keine rationale Erklärung.

Ariely: Weshalb lassen Sie den Faktor Fairness in diesen Handel? Wenn sie 1000 Euro in bar zehn Jahre lang aufbewahren, für wie viel würden Sie den Betrag anschließend verkaufen?

SZ: Für 1000 Euro natürlich.

Ariely: Genau, weil das Geld nicht schlecht wird. 1000 Euro bleiben 1000 Euro. Und es gibt sogar einige Produkte, deren Wert sich mit dem Alter nicht reduziert. Sie hatten einfach eine bestimmte Vorstellung von einer Wertminderung. Sie haben Ihren Handel nicht rational betrachtet. Es hätte auch jemand kommen können und sagen, dass das Instrument mehr wert ist als früher, weil jemand, der es geliebt hat, zehn Jahre darauf gespielt hat. Es ist kompliziert. Denken Sie mal an eine Tasse Kaffee. Wie viel würden Sie dafür bezahlen?

SZ: Das kommt auf die Qualität des Kaffees an und auf die Umgebung. Und ob es ein schneller Kaffee ist oder ich mich gemütlich hinsetzen kann. . .

Ariely: Das verdeutlicht uns doch, wie unglaublich komplex es ist, einen Preis festzulegen. Sie würden all diese Faktoren in einen Geldbetrag übersetzen. Sagen wir 1,30 Euro für einen schnellen Kaffee, für einen gemütlichen mit einer netten Unterhaltung 2,75 Euro.

SZ: Nur wenn der Kaffee auch gut ist.

Ariely: Sehen Sie, es ist wirklich sehr schwer, das jeweilige Vergnügen, das Ihnen ein Produkt bereitet, in Geld zu übersetzen. Denken Sie an die Differenz zwischen einem schnellen und einem gemütlichen Kaffee. Wie viel ist dieser Unterschied wert?

SZ: In unserem hypothetischen Fall 1,45 Euro. Aber das haben wir uns eben auch nur kurz ausgedacht.

Ariely: Es kommt immer wieder auf die konkrete Situation an. Wir treffen ständig Entscheidungen über Geld und meinen dabei sogar, wir wären gut darin. Aber Geld ist sehr kompliziert.

SZ: Geld macht doch vieles einfacher. Ich muss nicht mit fünf Eiern zum Bäcker gehen und hoffen, dass er mir dafür ein Brot gibt.

Ariely: Natürlich, wir können Geld aufbewahren, wir können es teilen und so weiter. Es macht uns flexibel - gäbe es kein Geld, hätten wir beide unsere Jobs nicht. Wir müssten alle Brokkoli anbauen und Hühner züchten. Aber zur gleichen Zeit macht die Tatsache, dass man mit Geld einfach alles kaufen kann, es unglaublich schwer einzuschätzen, was Geld wirklich wert ist.

SZ: Es gibt doch Bezugsgrößen, nach denen wir uns richten können.

Ariely: Ja. Menschen zum Beispiel, die nach einem Stundenlohn bezahlt werden, fällt es leichter, für sich den Wert der Dinge zu ermitteln. Sie haben einen Nenner: Arbeitszeit.

SZ: Das ist doch auch abstrakt. Niemand rechnet jedesmal alles in Arbeitszeit um, bevor er die Restaurantrechnung bezahlt.

Ariely: Dennoch ist die Bezugsgröße entscheidend. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Strand in der Sonne, und ein Freund bietet Ihnen an, Bier zu holen. Er weiß aber nicht, was es kostet. Sie geben ihm so viel Geld mit, wie Ihnen ein Bier wert ist. Einmal geht er in einen nahen Supermarkt. Das andere Mal gibt es nur in einem Hotel in der Nähe Bier zu kaufen. Würden Sie ihm beide Male unterschiedlich viel Geld mitgeben?

SZ: Natürlich, im Hotel ist das Bier sicher teurer.

Ariely: Die Freude, die Ihnen das Bier bereitet, bleibt aber gleich groß. Trotzdem geben Sie ihrem Freund mehr Geld, wenn er zum Hotel geht. Jetzt stelle ich Ihnen die Frage anders: Ihr Freund mag gerne Massagen. Wie viele Minuten Massage würden Sie für ein Bier aus dem Supermarkt und für eines aus dem Hotel geben? Ich sage Ihnen die Antwort: Der Unterschied verschwindet, wenn wir die Bezugsgröße ändern. In Massage-Dauer ausgedrückt sind die zwei Bier für die meisten Menschen nun auf einmal gleich viel Wert. Wir haben eine neue Bezugsgröße, mit der sich eine Ware viel konkreter vergleichen lässt. Das zeigt, wie komplex das Konzept Geld ist und wie schwer es manchmal ist, auf dessen Basis Entscheidungen zu treffen. Deshalb machen die meisten Menschen, was Sie mit dem Schlagzeug getan haben: Sie legen den Preis nach Gefühl fest - sowohl die Verkäufer als auch die Käufer. Und meistens setzen wir dann einen hohen Preis mit Qualität gleich, auch wenn es keinen objektiven Grund dafür gibt.

SZ: Der Mensch funktioniert also generell wie der Weintrinker, der die teure Flasche bevorzugt?

Ariely: Ja. Erwartungen spielen eine riesige Rolle in unserer Wahrnehmung. Das haben alle unsere Experimente bestätigt. Zum Wein gibt es eine wunderbare Studie, in der die Wissenschaftler Tausende Leute blind Weine probieren ließen. Dabei zeigte sich, dass die Korrelation zwischen Preis und Qualität bei Wein leicht negativ ist - nicht Null, sondern leicht negativ: Je teurer der Wein, desto weniger genossen ihn die Leute. Bei Wein-Kennern war der Zusammenhang nicht ganz so ausgeprägt, aber immer noch vorhanden. Aber was passiert, wenn man weiß, welchen Wein man probiert? Die Erwartungen kommen ins Spiel, der teure schmeckt dann besser.

SZ: Dann ist es doch sinnvoll, wenn ich teuren Wein kaufe oder einen höheren Preis für eine Sonnenbrille verlange?

Ariely: Das bringt uns zu einer sehr interessanten und schwierigen Frage. In einem Experiment haben wir untersucht, wie der Preis von Schmerzmitteln die Wirkung beeinflusst. Zunächst testeten wir mit elektrischen Schlägen, wie viel Schmerz die Probanden vertragen konnten. Dann gaben wir ihnen die angeblichen Schmerztabletten, die aber alle nichts als Vitamin C enthielten - es waren Placebos. Dabei sagten wir ihnen entweder, dass es ein teures oder ein billiges Schmerzmittel sei. Später ermittelten wir nochmal die Schmerztoleranz der Probanden.

SZ: Lassen Sie mich raten, die teure Tablette hat den Schmerz besser gelindert.

Ariely: Genau. Aber stellen Sie sich vor, Sie arbeiten für die Arzneimittelzulassungsbehörde. Sie müssen über die Zulassung eines neuen Medikaments entscheiden, das in einer kontrollierten Blindstudie getestet wurde: weiße Pillen, kein Preis, keine Marke. Aber was, wenn Preis und Marke beeinflussen, wie das Medikament bei den meisten Menschen wirkt? Stellen Sie sich vor, zwei Unternehmen stellen ein ähnliches Medikament her. Eines davon wirkt in der kontrollierten Blindstudie ein bisschen schlechter, aber die Arznei und der Hersteller haben einen hervorragenden Ruf und ein sehr gutes Marketing. Außerhalb des Labors vertrauen die Menschen diesem Mittel mehr, und deshalb wirkt es bei ihnen auch etwas besser, obwohl es die schlechtere Arznei ist. Das wirft die Frage auf: Was ist die Realität? Ist es beim Wein der Geschmack, den wir bei der Blindverkostung erleben, oder der Genuss, den wir haben, wenn wir genau wissen, was für einen Wein wir trinken?

SZ: Im Leben gibt es beide Möglichkeiten, die Blindverkostung und die offene Variante. Was ist also der richtige Weg?

Ariely: Bei der nächsten Party fragen Sie lieber nicht danach, ob Sie da gerade einen teuren Wein trinken oder nicht. Um die anderen Fragen zu beantworten, gibt es unter anderem die Verhaltensökonomie. Wir haben zwar nicht alle Antworten parat. Aber wir verfügen über alle wissenschaftlichen Instrumente, um die Antworten zu suchen. Und manchmal untergraben wir dabei die Theorien der klassischen Wirtschaftswissenschaften.

Interview: Sebastian Herrmann

Dan Ariely Foto: Lengemann/Intro

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Sex

Beim Paarungsakt von Stachelschweinen schützt das Weibchen das Männchen vor Verletzungen, indem es seinen Schweif wie eine Schutzdecke über die eigenen Stacheln legt.

Die Versuche des amerikanischen Sexualforschers Alfred Kinsey (1894 bis 1956) waren berüchtigt. Um zu ermitteln, mit welcher Wucht männliches Sperma bei der Ejakulation herausgeschleudert wird, ließ er 300 Männer vor laufender Kamera masturbieren.

Die amerikanische Schauspielerin Mae West ließ zu ihrer Zeit kaum eine Provokation aus. Sie lobte öffentlich die Vorzüge gleichgeschlechtlicher Liebe, stritt sich mit Sittenwächtern und inszenierte 1926 ein Broadway-Musical mit dem Titel "Sex". Die Amerikaner verpassten der Blondine deshalb einen Spitznamen: "Statue of Libido".

Sex am Morgen wird in Slowenien "Hahnenfrühstück" genannt.

Das größte Teleskop des Palomar-Observatoriums nahe San Diego ist aus Pyrex-Glas. Weil das Material bei Bruch keine Splitter oder scharfe Scherben bildet, ist Pyrex-Glas auch bei Dildo-Herstellern beliebt.

Der Seefahrer Christoph Kolumbus brachte ein unangenehmes Souvenir aus der Neuen Welt mit: Bei einer seiner Reisen schleppte die Besatzung seiner Schiffe wahrscheinlich die Geschlechtskrankheit Syphilis nach Europa ein.

Weil der amerikanische Gynäkologe James Platt White seine Studenten ermuntert hatte, einer Frau bei der Geburt eines Kindes zuzusehen, wurde er 1851 aus der American Medical Association ausgeschlossen. Damals durften männliche Gynäkologen selbst während einer Geburt die Genitalien einer Frau nicht zu Gesicht bekommen. Geburten fanden deshalb oft unter einer großen Zahl von Decken statt.

John Harvey Kellog, Erfinder der Cornflakes, war ein radikaler Gegner der Masturbation. Um Mädchen die Lust darauf zu nehmen, sprach er sich dafür aus, ihnen die Klitoris zu verstümmeln.

In Europa war vom späten Mittelalter an ein Nachthemd mit sogenanntem Beischlaf-Schlitz weit verbreitet. Mit dem Kleidungsstück wurde sichergestellt, dass sich die Eheleute auch beim Sex nicht nackt zeigen mussten.

Eine australische Orchideenart bringt männliche Insekten in Wallung, um von ihnen bestäubt zu werden. Ihre Blüten gleichen weiblichen Wespen so sehr, dass die angelockten Männchen die Blumen begatten. Das Täuschungsmanöver ist so erfolgreich, dass die männlichen Wespen sogar ihren Samen in die Blüten ejakulieren. SEBASTIAN HERRMANN

Illustration: Schifferdecker

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Signal zum Schwärmen

Eigentlich sind sie Einzelgänger. Doch wenn Wüstenheuschrecken in Dürrezeiten auf den wenigen verbliebenen Futterpflanzen zusammenrücken müssen, geschieht eine erstaunliche Wandlung: Die sonst grünen Insekten färben sich dunkel, rotten sich zu Schwärmen von Milliarden Tieren zusammen und fressen ganze Landstriche kahl. Nun haben englische und australische Zoologen Serotonin als Auslöser für das Schwarmverhalten identifiziert (Science, Bd. 323, S.627, 2009). Schwärmende Heuschrecken produzieren in ihrem Nervensystem bis zu dreimal so viel von dem Signalstoff wie die Einzelgänger. Der Signalweg des Serotonins könnte damit ein Angriffspunkt sein, um spezielle Chemikalien zu entwickeln, die Heuschreckenplagen eindämmen. emm/ Foto: AP

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Warten auf den großen Knall

Experten rätseln, was hinter einem Computerschädling steckt, der Millionen PC befallen hat

Das hatte es schon lange nicht mehr gegeben: einen Computerwurm, der binnen Wochen Millionen von Windows-PC infiziert. Raffiniert ist die Schadsoftware programmiert, die seit Ende 2008 unterwegs ist. Sie nutzt nicht nur eine - seit Oktober eigentlich behobene - Schwachstelle vieler Windows-Versionen aus, sondern hindert zum Beispiel auch Antivirensoftware daran, aktuelle Virensteckbriefe nachzuladen. Doch was der "Conficker" oder "Downadup" genannte digitale Wurm eigentlich anstellen soll, darüber rätseln die Experten noch immer.

Die Zeitschrift Computerbild kündigt einen Bericht an, wonach die Aufregung um den Wurm bloß ein Medienhype sei. Nicht Millionen, sondern allenfalls 500 000 Rechner seien von dem Schadprogramm befallen, berichtete das Blatt unter Berufung auf das unabhängige Magdeburger Labor AV-Test. Die Meldungen einiger Antiviren-Firmen von Millionen infizierten Computern seien "vorsichtig ausgedrückt grobe Schätzungen", sagte Guido Habicht, Geschäftsführer von AV-Test der Süddeutschen Zeitung, "wir messen diese Flut nicht".

Nicht nur das finnische Antiviren-Unternehmen F-Secure, das vor rund zwei Wochen mit der Millionen-Meldung Schlagzeilen machte, wehrt sich nun gegen den Vorwurf der Panikmache. Auch Forscher vom amerikanischen Georgia Institute of Technology und aus Deutschland bestätigen, dass Millionen von Rechnern angesteckt wurden.

Die Forscher können das ermitteln, weil infizierte PC sich sozusagen von selbst bei ihnen melden. Vereinfacht dargestellt funktioniert das so: Die Schadsoftware erzeugt über einen eingebauten Generator Zufalls-Internetadressen, jeden Tag 250 neue. Bereits befallene Rechner klappern - vom Wurm gesteuert - diese Adressen ab. Sie sehen nach, ob es dort weitere Anweisungen für sie gibt. Einen Rechner unter einer dieser Adressen, könnten die Virenautoren nutzen, um Befehle an die infizierten Rechner zu geben.

Forscher haben zwar die Methode geknackt, nach der die 250 Adressen erzeugt werden - sie können aus Kostengründen aber nicht täglich alle für sich reservieren. Sie sichern sich jedoch einige davon und sehen dann, wie viele verwurmte Rechner sich melden. Thorsten Holz, Experte für Computersicherheit an der Universität Mannheim, hat Zugriff auf einen solchen sogenannten Honigtopf. "Allein am 1. Januar", sagt er, "gab es 7,3 Millionen Zugriffe." Holz hält die von F-Secure genannten Zahlen daher für durchaus realistisch.

Bislang richtet der Wurm keine größeren Schäden an. Netzwerkverwalter müssen lediglich die davon befallenen Geräte säubern. In infizierten Netzen können oft auch Benutzer nicht mehr am Computer arbeiten, weil ihnen der Zugang zum Netz versperrt wird. Der Wurm versucht nämlich auch, sich über Firmennetze zu verbreiten und bringt dazu eine Liste hunderter gebräuchlicher Passwörter mit. Nach einigen Fehlversuchen blockieren viele Netze weitere Anmeldevorgänge. Die meisten befallenen Rechner gibt es in China, Russland und Brasilien, aber auch Deutschland bleibt davon nicht verschont, sagt Mikko Hyppönen von F-Secure, wo man pro Tag um die 20 000 PC registriert, die sich aus deutschen Netzen bei den Honigtöpfen melden.

Einige Experten befürchten, dass das dicke Ende noch kommen und der Wurm, der womöglich ukrainischen Ursprungs ist, die eigentliche Schadsoftware nachladen werde. Mikko Hyppönen dagegen hat seine eigene Theorie: "Ich glaube, da hat jemand was ausprobiert und dann wuchs ihm das über den Kopf", sagt er, "die Sache hat zu viel Aufmerksamkeit erregt." HELMUT MARTIN-JUNG

Computerviren SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wirrwarr der Hormone

Machen Chemikalien aus Verpackungen unfruchtbar?

Umweltschützer haben diese hartnäckigen Chemikalien schon lange im Verdacht. Perfluorierte Tenside gelten als krebserregend. Weil die Industrie die nicht abbaubaren Substanzen trotzdem gerne zu allerlei Zwecken und auch bei der Produktion so alltäglicher Dinge wie Pizzakartons und Regenjacken einsetzt, reichern sie sich langsam, aber sicher im menschlichen Körper an. Kaum eine Blutprobe, die in der Umweltprobenbank des Bundes lagert, ist frei von diesen unvergänglichen Chemikalien.

Während Umweltschützer und Industrie noch streiten, welche Konsequenzen das für den Menschen hat, berichten kalifornische und dänische Wissenschaftler nun von einer unerfreulichen Beobachtung: Perfluorierte Chemikalien können möglicherweise die Fruchtbarkeit von Frauen einschränken, schreiben die Forscher im Fachjournal Human Reproduction (Bd. 1, S. 1, 2009). Frauen mit Kinderwunsch, die besonders viel Perfluoroktansäure (PFOA) oder Perfluoroktansulfonsäure (PFOS) im Blut haben, brauchen demnach besonders viel Zeit, bis sie endlich schwanger werden.

Die Wissenschaftler machten sich für ihre Analyse die Danish National Birth Cohort zunutze, eine umfassende Studie an werdenden Müttern. Für 1240 von ihnen war zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft die Menge an PFOA und PFOS im Blut erfasst worden. Je nach Chemikalienlast wurden die Frauen in vier Gruppen eingeteilt - von geringen Perfluor-Konzentrationen bis zu hohen. Zudem hatten alle Frauen erzählt, ob die Schwangerschaft geplant war und, wenn ja, wie viel Zeit vergangen war, bis der Wunsch in Erfüllung ging.

Das Ergebnis war deutlich: Im Vergleich zu den am wenigsten mit PFOA oder PFOS belasteten Frauen wurden die Frauen aus den drei stärker belasteten Gruppen besonders häufig als "unfruchtbar" eingestuft - zwischen eineinhalbmal und zweieinhalbmal so oft. Als unfruchtbar galten die Frauen, die eine Fruchtbarkeitsbehandlung in Anspruch genommen hatten oder bei denen mehr als zwölf Monate vergangen waren, bis sie schwanger wurden. Der Zusammenhang zwischen Chemikalienbelastung und langem Warten auf den Kindersegen blieb auch bestehen, wenn Alter und Lebensstil herausgerechnet wurden.

Gift für die Leber

"Studien an Tieren haben bereits gezeigt, dass diese Chemikalien eine Reihe von toxischen Effekten auf die Leber, das Immunsystem und die Fortpflanzungsorgane haben können", sagt Chunyuan Fei von the University of California in Los Angeles, die Erstautorin der Studie. Auch hätten erste Studien ergeben, dass die Substanzen womöglich die Sexualhormone durcheinanderbringen und das Wachstum des Ungeborenen im Mutterleib beeinträchtigen.

Die Zahl der Menschen in den Industrienationen, die ungewollt kinderlos sind, ist in der letzten Zeit stark gestiegen. Experten spekulieren schon lange, dass die Umweltverschmutzung dabei eine Rolle spielt. Allerdings konnten nie Faktoren dingfest gemacht werden, und auch bei PFOA und PFOS besteht bisher nur ein Verdacht.

Die Verwendung von PFOS zumindest ist seit Ende 2006 in Europa verboten, vor allem weil es im Tierversuch krebsfördernd wirkt. "Allerdings gibt es Ausnahmegenehmigungen", sagt Michael Gierig vom Bayerischen Landesamt für Umwelt. "Und diese betreffen ausgerechnet die häufigsten Einsatzbereiche wie die Luft- und Raumfahrtindustrie und Galvanikbetriebe. Das bereitet uns das größte Kopfzerbrechen." Derzeit überprüfe seine Behörde die Abwässer der entsprechenden bayerischen Betriebe. "Wenn gewisse Werte überschritten werden, suchen wir gemeinsam mit den Firmen nach Lösungsmöglichkeiten."

PFOA hingegen wird weiterhin breit genutzt. Das Umweltbundesamt arbeite seit Jahren an einer Risikobewertung, sagt Gierig. "Wir warten sehr darauf." CHRISTINA BERNDT

Umweltgifte Schwangerschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Anti-Fastfood-Festung

Die toskanische Stadt Lucca will die italienische Küche fördern, indem sie fremdländische Lokale verbietet

Von Stefan Ulrich

Sie ist mal Segen, mal Fluch für Lucca, die größte vollständig erhaltene Stadtmauer Europas. Vier Kilometer lang ziehen sich die Festungswälle aus rötlichem Ziegel um das Centro Storico. Diese Mauern hielten viele Feinde fern und schützten die stolzen, freien Bürger. Später engten sie Lucca jedoch ein und schnitten das Zentrum von der Moderne ab. Heute wirkt sich das als Segen aus: Unzählige Touristen flanieren auf den Mauern und bummeln durch die Altstadt, die mit ihren Palazzi aus dem Mittelalter und der Renaissance, ihren Flaniergassen und den historischen Geschäften die schönsten Toskanaträume übertrifft.

Nun aber wähnen die mehrheitlich rechts-konservativen Stadtväter diese Welt in Gefahr. Fremdes, Billiges, Lautes und Hässliches niste sich in den ehrwürdigen Gemäuern ein, beklagen sie. Hamburgerrestaurants, Straßenimbisse, fremdländische Lokale bedrohten das Stadtbild und die heimische Esskultur. Fünf Kebab-Stände für 8000 Einwohner seien doch wohl ein bisschen viel, finden die Räte. Zudem schlägt es ihnen auf den Magen, dass die Frittenbuden bereits bis in die stimmungsvolle Via Fillungo mit ihren Jugendstilläden vordringen.

Daher entschied der Stadtrat jetzt mit seiner konservativen Mehrheit: Genug ist genug. Fortan werden keine neuen Schnellimbisse mehr genehmigt. Die Restaurants haben sich edel einzurichten, die Kellner elegante Uniformen anzuziehen. Zudem sollen mehr traditionelle Luccheser Gerichte auf die Speisekarten kommen, Dinkelsuppe oder "Torta coi becchi", eine Torte aus Mangold, Rosinen und Pinienkernen. Zudem bestimmte der Stadtrat, dass keine Lokale mehr eröffnen dürfen, "deren Aktivitäten auf andere Ethnien zurückzuführen sind". Addio Kebab, Sushi, Frühlingsrollen.

Die letzte Regelung löste Empörung in Italien aus. Linke Politiker werfen dem Gemeinderat vor, er wolle Ausländer diskriminieren und betreibe "gastronomischen Rassismus". Andere argwöhnen, hier solle via Küche ein Apartheid-Regime wie einst in Südafrika errichtet werden. Der Küchenkritiker Vittorio Castellani klagt: "Italien erweist sich als fremdenfeindlich und schämt sich nicht einmal mehr dafür." Der Schriftsteller und Journalist Massimo Fini moniert, der Begriff "Ethnien" diskriminiere gezielt andere Rassen. Deswegen dürfe in Lucca kein Schwarzer mehr ein Restaurant aufmachen, wohl aber ein Deutscher mit seinen "Krauti" und "Kartoffeln".

Die derart gescholtenen Stadtpolitiker versuchen sich zu wehren. "Wir führen keinen Kreuzzug", versichert Mauro Favilla, der Bürgermeister von Lucca. Der Stadtrat habe nichts gegen Ausländer, sondern wolle lediglich die kulinarische Tradition und das Ortsbild innerhalb der Mauern erhalten. Von den Verboten seien genauso italienische Schnellimbisse, etwa Pizza-Stände, betroffen. Außerdem bekomme die Stadt auch viel Unterstützung für ihre Beschlüsse.

Esst Schinken und Salami!

Tatsächlich lobt der italienische Landwirtschaftsminister Luca Zaia: "Solche Initiativen sind willkommen." Es sei besser, wenn die Jugend edlen Schinken und Salami esse, als Kebab. So nehme sie auch etwas von der Geschichte ihres Territoriums auf. Die Region Lombardei überlegt derweil, ähnliche Regeln wie die Stadt Lucca aufzustellen. In Mailand würden bereits ein Viertel der Restaurants, Lokale und Bars von Ausländern betrieben, die nicht aus der EU kämen, stellte die Handelskammer der Stadt fest. In der Regierung der Lombardei heißt es: "Wir verlieren unsere Identität, wenn die charakteristischsten Ecken unseres Territoriums ausverkauft werden." Im Küchenkrach um Lucca gehen die Ansichten also weit auseinander. Geht es um Rassismus oder den Erhalt lokaler Traditionen? "Das ist wirklich ein schwieriges Problem", meint der Deutsch-Toskaner Ulrich Kohlmann. Er arbeitet als amtlich geprüfter Fremdenführer in Lucca und organisiert kulinarische Reisen, sodass er die Küchenprobleme bestens kennt. Das ästhetische Bild der Altstadt sei ein kultureller Wert, von dem die Luccheser lebten, sagt er. Denn deswegen kämen die Touristen ja nach Lucca. Daher sei es richtig, wenn die Gemeinde ihre lokale Gastronomie und ihr Stadtbild schützen wolle.

"Es wäre nicht schön, wenn irgendwann alle Städte gleich ausschauen, mit einem Gucci-Geschäft und ein paar Kebab-Buden, egal ob man nach Shanghai, München oder Lucca kommt", sagt Kohlmann. In Lucca gehe es darum, die hässlichen Seiten der Moderne auszusperren, mit ihrer schrillen Reklame, Plastik und Wegwerfkultur. "Ich sehe ja, was da in Pisa und Florenz abläuft, und das ist wirklich schlimm." Die umstrittenen Regeln des Stadtrats gingen jedoch zu weit, weil das Verbot neuer "ethnischer" Lokale auch hochwertige Restaurants betreffe. "Lucca soll sich gegen Fastfood sperren - ohne sich gegen gute Küche aus anderen Ländern einzumauern."

Die Piazza dell' Anfiteatro zählt zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt Lucca, die sehr stolz ist auf ihr historisches Erbe. Konservative Luccheser wollen nun ausländischen Restaurants und Imbisslokalen keine Genehmigung mehr erteilen - sie sorgen sich um die kulinarische Tradition. Politiker der Linken dagegen werfen der Stadtratsmehrheit Rassismus vor. Foto: Ropi

Toskana Gaststättengewerbe in Italien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Für 155 000 Dollar: Paar lässt Hund klonen

San Francisco - Ein US-Ehepaar hat seinen toten Labrador für 155 000 Dollar klonen lassen. Der zehn Wochen alte Welpe, der in Südkorea zur Welt gekommen war, sei nun seinen Besitzern Edgar und Nina Otto in Boca Raton (Florida) übergeben worden, berichtet die Zeitung Miami Herald. Er wohnt in einem großen Haus auf einem weitläufigen Grundstück mit neun anderen Hunden, zehn Katzen und sechs Schafen. Der Welpe ist nicht der erste kommerzielle Klonhund der Welt. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Amerikanerin Bernann McKinney aus Hollywood für 50 000 Dollar drei Kopien ihres zwei Jahre zuvor gestorbenen Pitbull-Terriers Booger erhalten. dpa

Klonen von Tieren SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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LEUTE

Cécilia Attias , 51, Ex-Frau von Staatschef Nicolas Sarkozy, ist um Schmuck im Wert von einer halben Million Euro beraubt worden. Die Täter hätten ein Fenster im ersten Stock des Stadthauses im Pariser Nobelvorort Neuilly eingeschlagen und seien in das meist unbewohnte Appartement eingedrungen, berichtet die Zeitung Le Parisien. Attias, die mit ihrem neuen Mann in Dubai lebt, habe dazu noch keine Aussage gemacht. Die ehemalige Première Dame hatte gut 20 Jahre mit Sarkozy zusammengelebt. Foto: dpa

John Landis, 58, US-Regisseur, streitet sich mit Michael Jackson um Geld. Landis hatte 1983 Michael Jacksons "Thriller"-Video gedreht. In seiner Klageschrift vor einem Gericht in Los Angeles hält Landis ("Blues Brothers") dem Musiker vor, er habe ihn vier Jahre lang nicht an den Einnahmen aus dem Hit-Video beteiligt, berichtet Variety. Landis spricht von "betrügerischem und böswilligem" Verhalten Jacksons. Zu Wochenbeginn war bekanntgeworden, dass Jackson "Thriller" als Broadway-Musical auf die Bühne bringen will.

Dieter Bohlen , 55, Pop-Produzent, kann wieder ruhig schlafen. Wegen des Einbruchs in sein Haus sowie acht weiterer Straftaten wurde ein 47-Jähriger nun zu zwölf Jahren und neun Monaten Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Landgericht Lübeck sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte unter anderem drei schwere Raubüberfälle und drei Einbruchsdiebstähle verübt hat. Allein bei dem Einbruch in Bohlens Villa in Tötensen bei Hamburg Ende 2003 waren Gemälde, Gitarren, Elektrogeräte und Kleidung im Gesamtwert von 150 000 Euro gestohlen und die Hauseinrichtung erheblich beschädigt worden. Der Täter sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, urteilte das Gericht.

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Jede Nacht in die Mündung des Revolvers blicken

Die Angst im Kopf

Mike Muche war ein Macho, ein bärenstarker Polizist - dann erschoss er im Dienst einen Menschen

Von Olaf Przybilla

Schweinfurt - Als der Notruf am 3. März 2004 gegen 23 Uhr bei der Polizei in Schweinfurt einging, deutete alles auf einen Routineeinsatz hin. Eine Frau fühlt sich bedroht von ihrem Partner, sie bittet um Hilfe. Wenig später traf der Streifenpolizist Mike Muche gemeinsam mit einem Kollegen an der Haustür in einem bürgerlichen Stadtteil in Schweinfurt ein. Eine Frau öffnete, sie schien sehr gelassen. In der Erinnerung von Mike Muche, 51, dauerte es von da an höchstens noch zwei Minuten. Danach hatte der Polizist den Bruder jenes Freundes erschossen, mit dem er zwei Monate zuvor gemeinsam Silvester gefeiert hatte. Fünf Schuss feuerte Muche ab, drei davon trafen den Mann in den Bauch.

Zwar kann man Muche auch heute noch bei der Polizei antreffen. Das Areal der Bereitschaftspolizei in Nürnberg betritt er freilich nur, um sich dort mit ehemaligen Kollegen, denen es ähnlich ergangen ist wie ihm, über sein Trauma auszutauschen. Muche ist ein Bär von einem Mann, Polizist aber ist er nicht mehr. Wie bei Skispringern sei das, hatten ihm die Psychologen kurz nach dem Einsatz erzählt: Hat man einen schweren Sturz hinter sich, dann muss man so schnell wie möglich wieder von der Schanze springen. Muche fuhr also wieder Streife, kontrollierte Autos, schlichtete bei Ehestreit. Bis er beinahe noch einen Menschen erschossen hätte - diesmal nicht aus Notwehr, sondern aus Angst vor der Wiederkehr eines Traumas.

Zwei Minuten bis zum Tod

Im Grunde, sagt Muche, sind es genau drei sich selbst eingestandene Worte, die sein Leben verändert haben: "Ich habe getötet." Muche galt als Macho, nicht nur in der Polizeiinspektion. Hätte man ihm vorab die Situation geschildert, mit der er sich in der Wohnung des Mehrfamilienhauses konfrontiert sah - Muche ist sich sicher, er hätte geantwortet: "Wenn mich einer mit seiner Knarre bedroht, dann blas' ich den halt weg." Seit vier Jahren gilt Muche nun als kranker Mann. Er kann kaum mehr schlafen, erzählt er. Und wenn er doch einschläft, dann wacht er irgendwann auf - und blickt in die Mündung eines Revolvers.

Was Muche in der Schweinfurter Wohnung erlebt hat, nennen amerikanische Polizeipsychologen "suicide by cop". Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Muche eingestellt. Sie geht davon aus, dass der Mann, den Muche erschossen hat, in jener Nacht unbedingt sterben wollte, dies allerdings nicht von eigener Hand. Es scheint so, als habe der Mann einen Streit mit seiner Partnerin nur deswegen angezettelt, damit die Polizei kommen muss - und ihn in einer vermeintlichen Notwehrsituation tötet.

Gustav Regener (Name geändert) war der zweite Mann bei dem Einsatz. Er ist mindestens zwei Köpfe kleiner als Muche. Das aber war nicht der Grund, warum Muche und nicht Regener als erster die Wohnung des Paars betrat. Muche und Regener wechselten sich konsequent ab bei ihren Einsätzen - einer machte die Schreibarbeit, der andere ging voran. Regener betrat die Wohnung erst, als er seinen Kollegen rufen hörte: "Vorsicht, der hat 'ne Knarre." Kurz darauf kam der Mann mit der Knarre aus dem Wohnzimmer, blieb einen halben Meter vor Regener stehen und zückte die Waffe. Es fiel ein Schuss und Regener kippte nach hinten um. Als sich der Mann aus dem Wohnzimmer danach Muche zuwendete, feuerte Muche los. Die Kollegen teilten ihm später mit, dass der Mann, der nach drei Tagen seinen Verletzungen erlag, nur eine Schreckschusspistole in der Hand gehalten hatte. Drei Jahre später beschied ihm die zuständige Behörde, es bestehe deswegen kein Anspruch auf ein bestimmtes Ruhestandsgehalt - denn ein Kriterium, die "objektive Lebensgefahr", sei bei dem Einsatz nicht erfüllt gewesen. Erst auf Intervention des damaligen Innenministers Günther Beckstein besann sich das Amt einer anderen Auslegung der Paragraphen.

Der Bruder des Freundes

Muche hat bei dem Einsatz den Bruder eines seiner besten Freunde erschossen. Aus purem Zufall hatte er ihn nie zuvor kennengelernt. Auch mit der Mutter der beiden Brüder pflegte der Polizist ein freundschaftliches Verhältnis. Aber erst drei Monate nach dem Vorfall hat es Muche übers Herz gebracht, sich mit dem Bruder des Getöteten zu treffen. Drei Stunden, erzählt Muche, habe man geredet und gemeinsam geweint. Zwar will die Familie des Getöteten nicht glauben, dass sich der Mann mit der Schreckschusspistole in dieser Nacht das Leben nehmen wollte. Aber Vorwürfe habe ihm sein ehemaliger Freund niemals gemacht. Im Frieden sei man auseinander gegangen. Auseinander? "Der Mann, den ich erschossen habe, war sein Bruder", sagt Muche - eine Freundschaft könne man da nicht mehr leben.

Gustav Regener, er ist wie Muche 51 Jahre alt, fährt weiter Streife. Er weiß seit der Nacht, was es heißt, für ein paar Augenblicke unter Todesangst zu leiden. Wenn Muche von Schweinfurt aus zur Selbsthilfegruppe der Polizisten nach Nürnberg fährt, dann begleitet ihn sein ehemaliger Kollege Regener dabei. Muche sagt, das vielleicht Schlimmste an seinem neuen Leben sei es, sich nur mit ganz wenigen Menschen wirklich darüber verständigen zu können, wie sich Todesangst anfühlt. Einen Menschen aber, der auch weiß, wie es sich anfühlt, den Bruder eines Freundes erschossen zu haben - so einen Menschen hat Muche bislang noch nicht getroffen.

Zwei Wochen nach dem Einsatz ist Muche zum ersten Mal wieder Streife gefahren. Alles schien wie immer, erzählen seine Kollegen. Nur die Sprüche, mit denen der Große mit den blauen Augen sie wie immer unterhalten habe, seien noch härter gewesen. In Wahrheit hat er sich bei jedem Einsatz "vor Angst fast in die Hose gemacht", sagt Muche. Monate hat es gedauert, bis er sich eingestehen konnte, dass er Hilfe braucht in einer Klinik. Dort haben ihm die Ärzte geraten, seine Geschichte aufzuschreiben, als Form der Therapie. Der Verlag Edition Nove hat die Geschichte jetzt unter dem Titel "Ich habe getötet" als Buch veröffentlicht.

Mike Muche gilt heute als kranker Mann. Er hat im Dienst den Bruder eines Freundes erschossen, seitdem ist nichts mehr wie es war. Foto: Daniel Peter

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STILKRITIK

Rudi Assauer und sein Tröster

Wenn Männer eigentlich heulen müssten, trinken sie Pils, nicht nur im Ruhrgebiet. Harte Männer trinken besonders viel Pils, vor allem dann, wenn sie von ihren Frauen verlassen werden. Man kennt das ja: zu viel Stress im Büro, zu viele Verpflichtungen, außerdem will sich die Frau auch mal selbstverwirklichen. Im Fall des ehemaligen Fußballmanagers Rudi Assauer hat das Bier gesiegt und die Liebe verloren. Seine Simone ist ihm abhanden gekommen, die schöne Frau Thomalla, sehr bedauerlich. Die beiden waren so ein hübsches Paar: Jahrelang trank Assauer in aller Seelenruhe sein Pils, sie himmelte ihn an, und die männlichen Zuschauer des Fernsehspots dachten: Rudi, was biste 'n toller Kerl! Natürlich geht das Leben weiter, auch nach der Trennung von Assauer und Thomalla, die inzwischen im Tatort Erfolge feiert. Aber wer kann sie ersetzen? Es gibt aus Sicht der Werbefuzzis nur eine Lösung: Ein noch härterer Kerl als Rudi. Einer wie Bruce Willis, den nix umhaut, keine Frau, kein Pils, schließlich ist der Hollywoodstar in Idar-Oberstein geboren. Bruce und Rudi kommen demnächst als Männerfreunde ins deutsche Fernsehen, um gemeinsam Bier zu trinken. Hollywood trifft Gelsenkirchen, Mann tröstet Mann. Bruce Willis, der Held aus "Stirb langsam", kennt zum Glück keinen Schmerz. Na dann, prost! Christian Mayer

Foto: obs

Assauer, Rudi SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zu früh gefreut

In manchen Kommunen gibt es wegen neuer Bewertungen nicht mehr, sondern sogar weniger Wohngeld

Von Joachim Göres

Circa 600 000 Haushalte in Deutschland bekamen im vergangenen Jahr Wohngeld - sie verdienten so wenig, dass sie ohne diesen staatlichen Zuschuss ihre Miete oder die Belastungen für ihr Wohneigentum nicht hätten zahlen können. Zum neuen Jahr hat die Bundesregierung das Wohngeld erstmals seit 2001 erhöht, um die in den vergangenen acht Jahren gestiegenen Kosten auszugleichen: Laut Bundesbauministerium sind die Mieten im Schnitt um zehn Prozent und die Heizkosten um 50 Prozent höher. Für viele Haushalte ist die Wohngelderhöhung jedoch niedriger als erwartet - dies liegt vor allem an der Bewertung der Regionen.

Im Schnitt 60 Prozent mehr Wohngeld hat die Bundesregierung den Betroffenen versprochen. Für Wohngeldbezieher in 421 deutschen Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern bleibt dies ein Wunschtraum. Gleichzeitig mit der Erhöhung des Wohngeldes wurden nämlich die Mietstufen, von denen die Höhe des Wohngeldes abhängig ist, in vielen Orten verändert. Dies betrifft vor allem Wohngeldbezieher in Nordrhein-Westfalen, wo 144 Kommunen abgestuft wurden. In Niedersachsen sind es 89. Dort ist die Erhöhung deutlich niedriger ausgefallen, im Extremfall wird sogar weniger gezahlt.

Gleichzeitig wurden bundesweit 179 Gemeinden höher eingestuft, vor allem in Baden-Württemberg (68) und Bayern (41). Hier können Betroffene sich über eine überdurchschnittlich hohe Wohngeldzulage freuen.

Die Höhe des Wohngeldes richtet sich unter anderem nach der Einstufung der jeweiligen Gemeinde in der Wohngeldtabelle. Entsprechend dem Mietniveau gibt es sechs Mietstufen, von Kategorie eins (sehr niedriges Mietniveau) bis Kategorie sechs (sehr hohes Mietniveau). Je höher die Mietstufe, umso mehr Wohngeld wird gezahlt. Arne Haase, der in Berlin ehrenamtlich zusammen mit anderen Behördenmitarbeitern Menschen in Wohngeldfragen berät und wichtige Informationen unter www.wohngeldantrag.de ins Internet stellt, erklärt die Auswirkungen der neuen Mietstufen am Beispiel von Saarbrücken. Dort gilt künftig nicht mehr die Kategorie vier, sondern nur noch die Stufe drei. Ein Drei-Personen-Haushalt, der in einer 70 Quadratmeter großen Wohnung in einem 2001 erbauten Haus lebt, 500 Euro Miete zahlt und ein Bruttoeinkommen von 1500 Euro bezieht, erhielt in der saarländischen Landeshauptstadt bisher 139 Euro Wohngeld, ab sofort sind es 155 Euro. Wenn zwei Personen mit dem gleichen Einkommen und der gleichen Miete in einer solchen Wohnung leben, dann bekommen sie nun sogar weniger Wohngeld - statt 48 nur noch 47 Euro.

Freuen können sich dagegen zum Beispiel Wohngeldempfänger im hessischen Gelnhausen. Ihre Gemeinde wurde von drei auf vier hochgestuft, was für den geschilderten Zwei-Personen-Haushalt eine Erhöhung von zuletzt 35 auf jetzt 60 Euro ausmacht. Am stärksten profitieren Betroffene im bayrischen Bad Abbach - dort wurde die Mietstufe von eins auf vier angehoben.

Neue Höchstgrenzen

Auswirkungen hat die Neueinstufung in einigen Regionen auch auf die Empfänger von Arbeitslosengeld II. Sie haben keinen Anspruch auf Wohngeld, sondern bekommen die Kosten der Unterkunft erstattet. Dabei gibt es Höchstgrenzen. Diese können laut Bundessozialgericht durch einen Mietspiegel oder "andere valide Erkenntnisse" festgelegt werden. Wo diese nicht existieren, gilt nach einem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen bislang die Regelung "rechte Spalte der Wohngeldtabelle plus zehn Prozent".

Konkret bedeutet dies, dass zum Beispiel bei einem Einpersonenhaushalt in Hildesheim (einst Mietstufe vier, jetzt drei) die Kosten einer Unterkunft bisher bis zu einer Höhe von 357,50 Euro übernommen wurden. Künftig ist die neue Wohngeldtabelle ausschlaggebend. Durch die Runterstufung liegt die Höchstgrenze in Hildesheim von 2009 an nun bei 330 Euro. Bei einem Zweipersonenhaushalt sinkt die Höchstgrenze von 434,50 Euro auf 402 Euro. Das LSG-Urteil bezieht sich allerdings nur auf Niedersachsen und Bremen. Die Regelungen sind von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden. "In Hessen ist die Wohngeldtabelle nicht entscheidend für die Berechnung der Höchstgrenzen", sagt Robert Stark, beim Hessischen Landkreistag für Fragen zum Sozialgesetzbuch II zuständig.

Die niedrigeren Mietstufen werden vom verantwortlichen Bundesbauministerium mit der bundesweit unterschiedlichen Entwicklung des Mietniveaus begründet. Nach seinen Berechnungen ist außer in NRW und Niedersachsen auch in vielen Gemeinden in Schleswig-Holstein, Sachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und dem Saarland das Mietniveau gegenüber der letzten Festlegung der Mietstufen im Jahre 2001 tendenziell gesunken, was in den betroffenen Orten zu einer Abstufung geführt habe. Dieser Argumentation wird in manchen Regionen widersprochen. "Das ist für mich nicht plausibel. Man kann nicht, wie jetzt geschehen, einfach 25 saarländische Gemeinden schlechter einstufen, denn bei uns sinken die Mieten ja nicht, sondern sie steigen", sagt Dieter Kipp, Sozialamtsleiter in Saarlouis.

Wohngeld

Wer bestimmte Einkommensgrenzen unterschreitet, ist wohngeldberechtigt. Die Höhe des Zuschusses ist neben der Einstufung der Region auch vom Einkommen, der Zahl der Bewohner und der Miethöhe abhängig. Keine Rolle spielt mehr das Jahr, in dem das Haus errichtet wurde. jgö

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Tödliche Vernebelung

Militärübung neben der Autobahn kostet Tschechin das Leben

Wien - Eine überraschend über der Autobahn liegende Nebelbank - Autofahrer fürchten sich zu Recht davor. Wird ein Hintermann draufknallen, wenn man scharf bremst und im Unsichtbaren zum Stehen kommt? Auf der Autobahn bei Korneuburg nördlich von Wien ist genau das geschehen: Im Nebel kollidieren sieben Kraftwagen, eine Frau stirbt, sieben Personen werden verletzt. Doch was wie einer dieser immer wieder auftretenden Nebelunfälle aussieht, wächst sich nun zu einem Skandal aus: Aller Wahrscheinlichkeit nach war eine Nebelübung des österreichischen Bundesheeres direkt neben der A22, der "Donauuferautobahn", die Ursache für die Karambolagen.

Augenzeugen erklären, die Nebelbank, in die man da unverhofft geraten war, sei nicht weiß, sondern schwarz gewesen: eine undurchdringliche Dunstschicht aus schwarzem Rauch. Urheber des unnatürlichen Phänomens soll die beim österreichischen Militär gebräuchliche Nebelgranate NC-NbHG 75 gewesen sein. Auf einem direkt neben der Schnellstraße gelegenen Gelände, etwa 260 Meter entfernt von der Fahrbahn, absolvierten Rekruten eine Nebelübung. Die undurchdringliche Atmosphäre dafür sollte die Rauchmunition erzeugen. Das gelang offenbar so wirkungsvoll, dass die Kraftfahrzeuge nebenan ineinanderkrachten und eine junge Tschechin zu Tode kam. Sie wurde am Steuer eingeklemmt und verbrannte.

Öffentlich wurde die Sache erst durch skandalöse Begleiterscheinungen, die den österreichischen Verteidigungsminister Nobert Darabos (SPÖ) dazu veranlasst haben, die Aufklärung des Falles zur Chefsache zu machen: Soldaten der Van-Swieten-Kaserne in Wien Stammersdorf hatten Journalisten berichtet, sie hätten während der Übung die Großkarambolage gehört. Als sie zu Hilfe eilen wollten, seien sie daran gehindert worden. Dabei hätten sie auf Befehl eines Vorgesetzten gehandelt, der ihnen auch verboten habe, diesen Vorfall weiterzuerzählen.

Ein Drittel der Soldaten gab später zu Protokoll, man habe sich buchstäblich eingeschüchtert gefühlt. Das österreichische Bundesheer setzte daraufhin eine interne Untersuchungskommission ein, die rasch abwiegelte: Es sei ungeklärt, ob die Munition Ursache der Sichtbehinderung gewesen sei. Die Rekruten seien allein zu ihrem eigenen Schutz daran gehindert worden, auf die vernebelte Autobahn zu laufen. Im Übrigen seien die Rekruten alles Neulinge gewesen, die noch keine ausreichende Qualifikation für sachgerechte Hilfeleistung gehabt hätten. Außerdem habe sich ein Kundschafter des Bundesheeres davon überzeugt, dass zivile Rettungsfahrzeuge bereits zum Unfallort geeilt seien.

Auch die parlamentarische Beschwerdekommission für das Bundesheer interessiert sich nun für die Sache. Es wurde nämlich bekannt, dass die übenden Soldaten ausgerechnet einem Sanitätszug angehören und - obwohl erst zwei Wochen im Dienst - wenige Stunden zuvor eine ausgiebige Hilfsübung durchgeführt hätten. Außerdem seien zwei ausgebildete Sanitäter und ein Soldat mit abgeschlossenem Medizinstudium dabei gewesen - auch ihnen sei die Hilfeleistung verboten worden. Durch das Zögern der Vorgesetzten seien mindestens zehn Minuten vergangen, die vielleicht das Leben der Tschechin hätten retten können.

Der Staatsanwalt ermittelt

Die Staatsanwaltschaft hat jetzt die Sache in die Hand genommen und schon nach erstem Augenschein erklärt, Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung würden in diesem Fall unvermeidlich sein. Das Bundesheer leitete inzwischen ein Disziplinarverfahren gegen einen "Ausbildungsverantwortlichen" ein. Ganz allgemein seien Übungsvorschriften missachtet und die Nebelmunition zu nah an der Autobahn gezündet worden, heißt es. Vorgeschrieben ist, dass solche Granaten nicht näher als 300 Meter an sensiblen Objekten wie Gebäuden und Verkehrswegen eingesetzt werden dürfen.

Dass die Soldaten ohne Schutzwesten nicht auf die Fahrbahn gelassen worden seien, wird hingegen als umsichtige Schutzmaßnahme gewertet. Österreichische Militärexperten verlangen nun, das Heer müsse grundsätzlich derlei Übungen in der Nähe von Verkehrswegen verbieten. Der militärische Übungsplatz bei Korneuburg wurde vorerst geschlossen. Michael Frank

Verteidigungswesen in Österreich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Stiftung trägt Kosten der Sanierung

Eine Kirche wird trockengelegt

Der Dom verschwindet für Jahre hinter Baugerüsten

Von Monika Maier-Albang

In den vergangenen Jahren ging es einfach nicht: Papstbesuch, WM und dann noch der 850. Stadtgeburtstag. Fernsehkameras und Touristen aus aller Welt blickten auf München - da konnte das Wahrzeichen der Stadt nicht eingerüstet werden. Jetzt hat das Staatliche Bauamt eine Generalsanierung der bröckelnden Fassade in Angriff genommen. Der Dom bleibt deshalb für einige Jahre verhüllt.

Seit Jahren ist die Domfassade ein Sorgenkind: Ziegel- und Gesteinsbrocken lösen sich; damit nichts herabfällt, sind Teile der Fassade mit Netzen gesichert. Zudem war man dazu übergegangen, den Dom zweimal im Jahr mit einem hydraulischen Kran abzufahren, um loses Gestein einzusammeln. Schließlich muss der Freistaat, der für die Fassade des Doms zuständig ist, sicherstellen, dass niemand zu Schaden kommt. Im Oktober hatte das Bauamt begonnen, den Nordturm bis unter die Spitze einzurüsten. Inzwischen steht das Gerüst, und sobald es freigegeben ist, werden Experten das Mauerwerk unter die Lupe nehmen.

Alle bisherigen Anstrengungen waren Stückwerk - jetzt soll die Fassade von Grund auf untersucht und saniert werden. Vor allem an der Wetterseite hat Regenwasser dem Mauerwerk stark zugesetzt. Die bis zu vier Meter dicken Wände sind so durchnässt, dass Michael Hauck, der vom staatlichen Bauamt als Experte hinzugezogene Leiter der Passauer Dombauhütte, "irreparable Schäden" befürchtet für den Fall, dass jetzt nicht gehandelt werde. Die Sanierung wird sich über Jahre hinziehen. Wie lange und zu welchen Kosten, dazu wagt momentan niemand eine Prognose. Hauck spricht nur von einer "gewaltigen Aufgabe".

Für voraussichtlich drei Jahre bleibt zunächst der Nordturm eingerüstet. An ihm wollen die Sachverständigen die Schäden genau untersuchen und dann testen, was zu tun ist. Kurt Bachmann, Leiter des staatlichen Bauamtes München I, vermutet, dass vor allem die nach dem Krieg notdürftig durchgeführten Reparaturen dem Mauerwerk zusetzen. Der im 15. Jahrhundert unter dem Baumeister Jörg von Halspach errichtete Liebfrauendom war ursprünglich aus gebrannten Ton-Lehmziegeln errichtet und mit Kalkmörtel verfugt worden. Die alten Ziegel, die in den städtischen Fabrikationsstätten in Haidhausen entstanden, sind bis heute gut erhalten. Bei den Nachkriegsziegeln indes ist die Oberfläche porös geworden. Der Mörtel, den man damals verwendete, ist mit Zement versetzt, was ihn eigentlich stabiler machen sollte. De facto aber ist er heute brüchiger als der ursprüngliche reine Kalkmörtel. Beides bietet Bachmann zufolge "Angriffsfläche für das Regenwasser". Hinzu kommt, dass der an den Bögen verwendete Tuffstein das Wasser offenbar regelrecht in das Mauerwerk saugt. Ursprünglich war der Naturstein mit Kalkmörtel verputzt, der heute fehlt.

Nun wäre das Regenwasser allein kein Problem. Dass die Ziegel ab und an nass werden, ist normal. Normalerweise müssten sie aber auch wieder austrocknen. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation ist der Domfassade abhanden gekommen. Von einer "Störung im Feuchtehaushalt", spricht Hauck. Woran das liegen könnte, wissen die Spezialisten noch nicht. Sie vermuten, dass bei Ausbesserungsarbeiten in den vergangenen Jahrzehnten Materialien verwendet wurden, die die Verdunstung behindern.

Wasser, Säuren, Salze

Im Februar soll nun am Nordturm mit einer "Schadenskartierung" begonnen werden: Restauratoren werden Ziegel für Ziegel untersuchen, Chemiker und Bautechniker herauszufinden versuchen, wie weit das Wasser ins Mauerwerk eingedrungen und wie stark es durch Säuren und Salze geschädigt ist. Bauamt und Ordinariat stellen sich auf eine lange, weil "behutsame und nachhaltige Sanierung" (Bachmann) ein - und auf erhebliche Kosten. Die muss, so haben es Freistaat und Heiliger Stuhl im Konkordat von 1924 geregelt - die Kirchenstiftung des Doms tragen. Erst wenn die Stiftung zahlungsunfähig wäre, müsste der Staat einspringen, wovon bislang aber nicht die Rede ist. "Um Geld wird hier nicht gestritten. Wir haben ein gemeinsames Interesse, den Dom in einem guten Zustand zu halten", sagt Domdekan Lorenz Wolf. Im ersten Sanierungsjahr hat die Kirchenstiftung schon mal eine halbe Million Euro veranschlagt.

Frauenkirche München SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Krach in der Landtags-Koalition

FDP stimmt gegen CSU für die Aufnahme von Uiguren

Guantanamo bewegt weiter die Gemüter, nun auch in der Regierungskoalition aus CSU und FDP im Landtag. Es geht um die Frage, ob der Freistaat seine Bereitschaft erklärt, nachweislich unschuldige uigurische Häftlinge aufzunehmen, wenn die USA ihr Lager auf Kuba schließen. Die Debatte endete in einem Novum, seit die CSU die Macht mit der FDP teilen muss: Erstmals stimmte die kleine Regierungsfraktion mit der Opposition - und die CSU ist mächtig vergrätzt.

Begonnen hat am Donnerstag alles mit einem Dringlichkeitsantrag der SPD im Rechtsausschuss des Maximilianeums: Die Staatsregierung solle bei der Bundesregierung ihre Bereitschaft erklären, 17 unschuldige Uiguren aufzunehmen. München biete sich dafür an, da hier Europas größte Gemeinde der in China unterdrückten ethnischen Minderheit lebt. Es entspann sich, wie Teilnehmer berichten, eine turbulente Diskussion, in deren Verlauf der FDP-Abgeordnete Andreas Fischer einen Änderungsantrag einbrachte. Darin ist die konkrete Zahl 17 gestrichen, und es heißt, die Bundesregierung solle "im Rahmen einer internationalen Lösung” unschuldige Uiguren aufnehmen. Gegen diese Formulierung hatte die Opposition aus SPD, Grünen und Freien Wählern nichts einzuwenden, und so stimmten FDP und Opposition gemeinsam dafür.

Dass der Antrag dennoch nicht durchging, liegt allein daran, dass die CSU in den Ausschüssen die Hälfte der Abgeordneten stellt, also eine Sperrminorität hat. Der Münchner SPD-Abgeordnete Markus Rinderspacher kündigte an, in der kommenden Woche die FDP-Formulierung wortgleich ins Plenum einzubringen. "Wir gehen davon aus, dass die Liberalen ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten auch gegen den Widerstand der CSU zum Ausdruck bringen werden." Im Plenum hätte die CSU alleine keine Sperrminorität mehr.

CSU-Fraktionschef Georg Schmid ist seinerseits sauer auf die FDP: Die Koalitionsvereinbarungen seien verletzt worden, "das wird ein Nachspiel haben." FDP-Mann Fischer aber ist sich keiner Schuld bewusst, den großen Partner düpiert zu haben. Er habe seinen Änderungsantrag vorher mit der CSU abgestimmt und sei davon ausgegangen, die Koalitionskollegen würden diesem Kompromiss zustimmen: "Ich war im allerbesten Glauben." Er habe keine Erklärung für die Verweigerung der CSU.

Bernd Kastner

Regierung Seehofer: Konflikte Xinjiang Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Warnstreik verläuft glimpflich

Beim Warnstreik der Eisenbahner-Gewerkschaften Transnet und GDBA sind die Münchner Fahrgäste mit einem blauen Auge davongekommen. "Wir wollten heute noch nicht die ganze Republik lahmlegen", betont Transnet-Vorstandsmitglied Martin Burkert, der sich am Donnerstagmorgen gemeinsam mit transparentbewehrten Streikenden an der Arnulfstraße postiert hat. In der ersten Stufe des Arbeitskampfes fielen daher nur wenige Züge von und nach München aus. Betroffen war vor allem die Verbindung Richtung Nürnberg, auf der nach Bahn-Angaben zwei Regionalzugpaare und ein Intercity ausfielen. Ein Nahverkehrszug aus Memmingen erreichte streikbedingt erst mit eineinhalb Stunden Verspätung die Landeshauptstadt.

Etwa 90 Bahnmitarbeiter, vor allem Servicekräfte und Zugbegleiter, beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben an dem Ausstand in München, der von 4.30 bis 7.30 Uhr dauerte. Viele von ihnen verbrachten die Zeit bibbernd vor dem Eingang des Hauptbahnhofs - "die Bahn hat uns aus der Halle geworfen", berichtet Paul Eichinger, der Streikleiter der Verkehrsgewerkschaft GDBA. Bis einschließlich Sonntag sollen keine Streiks stattfinden, da die Verhandlungen weitergehen. Was dann passiert, ist offen - normalerweise werden Arbeitskämpfe so organisiert, dass die Auswirkungen mit jedem Streiktag gravierender werden.

In München wäre die wohl höchste Eskalationsstufe ein Streik bei der S-Bahn, die wegen des Nadelöhrs Stammstrecke relativ leicht lahmzulegen ist. Am Donnerstag verzichteten die Gewerkschaften auf diesen Schritt, die Züge fuhren frühmorgens ganz normal. Dass am Nachmittag trotzdem nichts mehr ging auf der Stammstrecke, hatten die Fahrgäste nicht den Streikenden, sondern einer Stellwerksstörung am Ostbahnhof zu verdanken. Zeitweise konnten nur vereinzelt Züge passieren. Das Chaos dauerte, wie so oft, mehrere Stunden. dh

Transnet Gewerkschaft GdED Verkehrsgewerkschaft GDBA Streiks der Eisenbahner in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Extrem zerstritten

Auf dem NPD-Parteitag steht der Vorsitzende Voigt wegen seiner Kooperation mit der DVU und dem Spendenskandal in der Kritik

Von Arne Boecker

Bamberg - Diskussionen über den künftigen Kurs der NPD werden den Parteitag der Rechtsextremisten  am Wochenende in der Bamberger Kongresshalle bestimmen. Der niedersächsische NPD-Vorsitzende Andreas Molau tritt möglicherweise gegen den bisherigen NPD-Chef Udo Voigt an, der die Partei seit zwölf Jahren führt. Von der Neuwahl des Vorstands hängt ab, wie sich die NPD künftig positioniert. Rückt sie noch näher an die neonazistischen Kameradschaften heran, die Parteien skeptisch gegenüber stehen? Und was wird aus dem "Deutschland-Pakt", den NPD und DVU geschmiedet haben?

Andreas Molau, der einer von Voigts Stellvertretern ist, tritt vehement dafür ein, die neonazistischen Kameradschaften stärker in die Parteiarbeit einzubinden, was ein Teil der eher betulichen NPD-Spitze ablehnt. Molau will nach Informationen der Süddeutschen Zeitung erst in Bamberg entscheiden, ob er gegen Voigt antritt. Verfassungsschützer bezweifeln, dass er Chancen gegen Voigt hat. Zwar sei der NPD-Vorsitzende zweifelsohne angeschlagen, doch aus den NPD-internen Diskussionen könne man nicht herauslesen, dass sich seine Gegner in Bamberg aus der Deckung trauen.

Das Misstrauen gegen Voigt geht unter anderem auf die Finanzskandale zurück, die die Partei lähmen. Die Rechtsextremisten mussten 870 000 Euro zurückzahlen, die sich die thüringische NPD mit gefälschten Spendenbelegen aus dem Topf der staatlichen Parteienfinanzierung erschlichen hatte. Außerdem sitzt Bundesschatzmeister Erwin Kemna seit Monaten in Untersuchungshaft. Er soll Geld unterschlagen  haben. Mit scharfen Worten kritisiert Andreas Molau zudem den politischen Kurs der NPD. "Unsere Demonstrationen sind zu Ritualen erstarrt", sagt Molau. Er wünsche sich, dass Parteimitglieder bei öffentlichen Veranstaltungen nicht nur "brav Zwischenfragen stellen, sondern aggressiv mitmischen". Er verwies zudem auf eine Aktion "italienischer Kameraden". Die  hatten gleichzeitig in mehreren Städten Galgen vor Banken installiert. 

Andreas Molau zählt zu den einflussreichsten Gegnern des sogenannten Deutschland-Pakts, den die Vorsitzenden Udo Voigt (NPD) und Gerhard Frey (DVU) vor vier Jahren geschlossen haben. Er besagt, dass die  rechtsextremistischen Parteien bei Wahlen nicht gegeneinander antreten. Voigt und Frey verteidigen die Verabredung, in der NPD regt sich jedoch Widerstand. Die DVU ist in der Öffentlichkeit lange nicht so präsent wie die NPD. Eigentlich ist vereinbart, dass bei den thüringischen Landtagswahlen im kommenden Jahr die DVU zum Zuge kommt. Die dortige NPD wird auf dem Bamberger Parteitag jedoch beantragen, den "Deutschland-Pakt" in diesem Punkt nachzuverhandeln.

Das Thema Deutschland-Pakt gewinnt dadurch Brisanz, dass der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey als gemeinsamer Bundespräsidenten-Kandidat des rechtsextremistischen Lagers gehandelt wird. "In Bamberg werden wir einen Grundsatzbeschluss fassen und dann einen Kandidaten suchen", sagt NPD-Generalsekretär Peter Marx. "Gerhard Frey genießt im nationalen Lager hohe Akzeptanz", sagt er. Die Nennung des Namens  sei allerdings derzeit "nicht mehr als eine Spekulation". Der aus dem oberpfälzischen Cham stammende Gerhard Frey, 75, ist als Verleger der National-Zeitung bekannt geworden. 

Nach derzeitigem Stand entsendet das rechtsextremistische Lager vier Wahlmänner in die Bundesversammlung. Zwei NPD-Mitglieder aus Sachsen, eines aus Mecklenburg-Vorpommern. Dazu kommt ein DVU-Mitglied aus Brandenburg. "Im ersten Wahlgang werden wir für den eigenen Kandidaten stimmen", sagt Marx. Das Verhalten im zweiten Wahlgang wolle man davon abhängig machen, "wie uns die Parteien in nächster Zeit behandeln."

Weitere Berichte über den Parteitag unter:

www.sueddeutsche.de/npd

"Unsere Demonstrationen sind zu Ritualen erstarrt."

Andreas Molau (NPD)

In der Kritik: Der NPD-Chef Udo Voigt bei einer Kundgebung. Foto: Jose Giribas

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Noch keine Eskalation

Warnstreiks bei der Bahn bringen weniger Chaos als erwartet

München - Meikel Engelmann arbeitet in einem "Servicepoint" der Deutschen Bahn in München, und er hatte mit dem Schlimmsten gerechnet an diesem Donnerstag. Aber dann "kamen nicht mehr Nachfragen als sonst", sagt Engelmann. Die Warnstreiks bei der Bahn, mit denen die Gewerkschaften ihren Forderungen in den Tarifverhandlungen Nachdruck verleihen wollen, führten am Donnerstag vor allem in Süddeutschland zu Zugausfällen und zahlreichen Verspätungen - bundesweit waren die Einschränkungen für Bahnreisende aber geringer als zunächst erwartet.

Nach Angaben der Bahn fielen 36 Regional- und sieben Fernzüge aus. Die Gewerkschaften sprachen hingegen von 60 ausgefallenen und 130 verspäteten Zügen. Schwerpunkt der Arbeitsniederlegungen war Nürnberg: Dort beteiligten sich auch Stellwerkmitarbeiter an den Streiks. Mehrere Verbindungen nach München und Hamburg wurden gestrichen. Behinderungen gab es auch zwischen Köln und Düsseldorf, wo ebenfalls ein Stellwerk bestreikt wurde. An den Bahnhöfen in Hamburg, Magdeburg und Saalfeld legten die Mitarbeiter der Reisezentren vorübergehend ihre Arbeit nieder. Nicht betroffen von den Streikmaßnahmen war hingegen der Zugverkehr in Berlin und Brandenburg. Im Vorfeld hatte die Gewerkschaft die Hauptstadt als einen von mehreren Schwerpunkten der Aktionen genannt.

"Wir wollten den Zugverkehr nicht lahmlegen", sagte der Streikkoordinator der Gewerkschaft Transnet, Johann Gebhardt. Man habe zunächst lediglich auf die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen "hinweisen" wollen. Um den Zugverkehr empfindlich zu stören, könne man Stellwerke in größerem Ausmaß bestreiken. Diese nächste Eskalationsstufe behalte man sich vor.

Die Tarifverhandlungen werden an diesem Freitag in Frankfurt am Main fortgesetzt - und wenn es nach den Vorstellungen der Bahn geht, bis Samstagabend beendet. Bahn-Personalchef Norbert Hansen sagte der SZ, er könne einige Forderungen der Gewerkschaften zu den Arbeitszeiten nachvollziehen, "und ich will sie auch weitgehend erfüllen". Dazu gehöre die Forderung, dass "möglichst viele" Beschäftigte mehr freie Wochenenden als bisher haben sollten. Außerdem sollten die Mitarbeiter mindestens ein Quartal im Voraus verbindlich wissen, an welchen Tagen sie frei haben. Hansen kündigte an, auch bei der Bezahlung den Gewerkschaften entgegenzukommen. Er machte dies aber davon abhängig, wie teuer die neuen Arbeitszeitregelungen für das Unternehmen werden: "Der Spielraum ist nicht mehr sehr groß". de./hu/as

Keine Auskunft, keine Fahrkarten, kein Verkehr: Auch auf dem Magdeburger Hauptbahnhof blieb das Servicezentrum geschlossen. In vielen Städten fielen Zugverbindungen aus oder es kam zu Verspätungen. Foto: dpa

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Aus dem Leben der Insekten

Guy Maddin & Isabella Rossellini im Forum: Grüne Pornos!

Was für eine wunderbar verwegene Idee, ausgerechnet beim für seine Filmdelirien bekannten Guy Maddin eine Dokumentation über Winnipeg in Auftrag zu geben! Der Mann ist dort geboren, und die Stadt spukt munter durch sein filmisches Werk. Statt einer fernsehgerechten Bestandsaufnahme bekamen die Programmmacher des kanadischen Documentary Channel dann auch eine in immer neuen Facetten aufblühende exotische TV-Blüte. Sehr schnell löst sich Maddin von messbaren Fakten und lässt sich lieber, wie gewohnt, in einen Sog der Mythen und Sensationen, der Erinnerungen und Assoziationen ziehen.

Sein Winnipeg, das ist zunächst mal die Stadt, in der der Anteil der Schlafwandler größer ist als irgendwo sonst in Kanada und überhaupt der Welt. Der Schlaf der Pendler gebiert dort hypnotische Träume und bizarre Anekdoten. Den Tonfall leiht sich Maddin bei den berüchtigten amerikanischen Aufklärungsfilmen der Fünfziger, die vor den gefährlichen Einflüssen von Drogen aller Art, Kommunisten und Atombomben warnten, den visuellen Stil übernimmt er von den Science-Fiction-Filmen der Zeit wie "Invasion der Körperfresser", in denen Aliens den braven Bürgern die Seele klauen. Zwischen sachlicher Attitüde und aberwitzigen Inhalten, zwischen dem mit forscher Autorität von Maddin selbst gesprochenen Off-Kommentar und den schwarzweißen Bildern, die sich der Aufgabe des Illustrierens immer wieder durch Flucht ins Phantastische entziehen, entsteht eine schöne Spannung. Maddin hat ein besonderes Gespür für die Absurditäten des Alltags. Er erfreut uns mit der Geschichte der Eishockeymannschaft der Winnipeg Jets, er zeigt den Kampf gegen das Abholzen einer uralten Ulme oder kreiert eine fiktive Fernsehserie, die um die Abenteuer des "Ledgeman" kreist, des Mannes auf dem Sims, der in jeder Folge mit dem Vorsatz zum Selbstmord antritt, um am Ende knapp gerettet zu werden. Auch Familiengeschichten werden nachgestellt, um den Traumata der Kindheit auf die Spur zu kommen - wobei die Dame, die der Regisseur frech als seine Mutter ausgibt, in Wirklichkeit natürlich das bad girl Ann Savage aus dem film noir "Detour" ist.

Ein eigenwilliges Verhältnis von Fakten und Phantasie demonstriert auch Isabella Rossellini in den von ihr selbst konzipierten und inszenierten "Green Pornos". Sie hat sich vor Jahren aus dem Mainstream-Filmbetrieb ausgeklinkt und fungiert nun, zum Beispiel in "The Saddest Music in the World", mit Vorliebe als Maddins Muse - ihre gemeinsamen Forum-Live-Auftritte werden allmählich zur schönen Gewohnheit. Insgesamt achtmal schlüpft sie nun für jeweils eine Minute in die Haut eines Insektenmännchens, im schwarzem Trikot ist sie mal Fliege, mal Libelle, mal Spinne, mal Schnecke, und nimmt dabei mit Accessoires und Kulissen aus Stoff, Papier, Wollfäden und Plastikfolie Anleihen im Puppentheater und bei kindlichen Karnevalskostümen. Auch hier ist der Spaß am moralischen Raunen der Schulfilme rauszuhören, wenn sie nüchtern die Sexpraktiken diverser creepy crawlies schildert: "Wenn ich eine Spinne wäre, hätte ich keinen Penis und drückte darum die Beine gegen meine Lenden . . ." Zugleich sind die entomologischen "Green Pornos" ein Spiel mit Vergrößerung und Verkleinerung, wie der Naturfilm es lustvoll zelebriert. Denn die auf der Leinwand überlebensgroß von der Schauspielerin verkörperten Tiere schrumpfen im Foyer des Arsenal-Kinos wieder auf Insektengröße. Dort laufen sie als Teil der Experimentalfilmsektion "Forum Expanded" in winzigen Projektionsinstallationen, in denen der Monitor zum Terrarium im Terrarium wird. ANKE STERNEBORG

Maddin, Guy Rossellini, Isabella 58. Internationale Filmfestspiele Berlin Film-Rezensionen zu Filmproduktionen International SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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