Gemeinsam gescheitert
Für die Europäer schlug im Herbst die Stunde der Wahrheit. Wie stark ist die Wirtschaftsmacht Europa wirklich? Nicht sehr, wie sich zeigte. Nationale Reflexe behindern immer noch europäisches Handeln. Ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik bleibt die Union begrenzt handlungsfähig. Von Martin Winter
Kleine Gemeinheiten können in der Politik große Wirkung entfalten. Als sich der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Herbst angesichts der heraufziehenden Wirtschaftskrise in Gegenwart der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zu der Bemerkung verstieg, Frankreich handle, während Deutschland nachdenke, da war der Welt klar, dass sie vergeblich auf eine europäische Antwort auf die globale Rezession warten würde.
Nun vermag auch heute niemand zu sagen, ob das hastige Verprassenvon Milliarden aus den Staatskassen die bessere Reaktion auf den Einbruch der Weltwirtschaft war als das ruhige Nachdenken über die richtigen Hebelpunkte für Konjunkturhilfen. Doch eines wissen Amerikaner, Chinesen, Inder, Brasilianer oder Russen, allesamt Mitwettbewerber Europas um politische und wirtschaftliche Spitzenplätze, von jetzt an: Der europäische Markt ist groß, der Euro ist stark, aber der politische Wille der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist zu schwach, um mit diesen Pfunden zum gemeinsamen Nutzen zu wuchern.
Auf ihren Gipfeltreffen Mitte Oktober und Mitte Dezember versuchten die Europäer zwar, den Eindruck gemeinsamen Handelns zu erwecken. Doch es wurde nur abgenickt, was sich zuvor auf chaotische und meist strittige Weise entwickelt hatte. Von einem "koordinierten" Vorgehen, dessen die Europäische Union sich dann rühmte, konnte keine Rede sein.
Als die Finanzkrise mit dem Untergang von Lehman Brothers voll ausbrach, wurden die Europäer kalt erwischt. Und sie reagierten nach dem Motto: Rette sich, wer kann. Den Anfang machte Irland, das über Nacht ohne Rücksprache mit seinen Partnern eine Staatsgarantie für seine Banken abgab. Die Briten reagierten darauf umgehend mit einem ähnlichen Programm und einer Teilverstaatlichung von Banken. Großbritannien musste, wie andere Länder auch, fürchten, dass Kapital von seinen unsicheren Banken Zuflucht bei den staatlich gesicherten in Irland suchen würde.
Anstatt die anderen Regierungschefs umgehend zu einem Krisentreffen zu laden, um eine gemeinsame Reaktion auf die nach Europa schwappende Bankenkrise auszuarbeiten, verhedderte sich Sarkozy, damals EU-Präsident. Erst holte er die vier europäischen Mitglieder der G 8 zusammen. Merkel kam nur widerwillig und mit der Botschaft, die deutschen Finanzhäuser brauchten keinen Rettungsfonds. Als kaum 24 Stunden später die Hypo Real Estate über der Kanzlerin zusammenbrach, folgte Berlin dem irischen und britischen Vorbild. Wenig später rief Sarkozy die Eurogruppe zu sich und als Gast den britischen Premier Gordon Brown. Der Rest der Europäischen Union durfte zusehen und warten, was die anderen beschließen.
Wie wenig die Union auf Krisen dieser Art vorbereitet ist, räumte der Gipfel Mitte Oktober unfreiwillig ein. Dort wurde unter anderem beschlossen, einen - allerdings nur informellen - "Mechanismus zur Frühwarnung, zum Informationsaustausch und zur Evaluierung (der Krisenstab für den Finanzmarkt)" einzurichten. Nicht einmal darüber verfügte die Europäische Union bislang. Da wundert es kaum, dass sie vom Bankrott ihrer Mitglieder Ungarn und Lettland Ende des Jahres ziemlich überrascht wurde.
Dass die Europäer in dieser Krise auseinanderliefen, hat viele Gründe. Zwei aber stechen heraus: Misstrauen und kurzsichtiger Eigennutz. Auch wenn die beiden großen Wirtschaftsnationen Frankreich und Deutschland politisch so eng zusammenarbeiten wie sonst keiner in der Europäischen Union, trauen sie sich doch wirtschaftlich nicht über den Weg. Kaum spielte Paris mit der Idee, die Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe als eine Art "europäische Wirtschaftsregierung" zu etablieren, ging Berlin in Abwehrstellung. Dort glaubt man seit jeher, dass Frankreich von der Wirtschaft nichts versteht und dass es nur seine staatsinterventionistische Politik auf ganz Europa ausdehnen wolle - natürlich zum eigenen Nutzen. Paris hä;lt die Deutschen dagegen für unflexibel. Die seien auch dann noch von der Angst vor einer Inflation besessen, wenn es die weit und breit nicht gebe.
Wenn sich Deutschland und Frankreich aber wirtschaftspolitisch belauern, dann kann es keine europäische Einheit geben. Und dann gibt es auch keine Solidarität. So wiesen die Deutschen den italienischen Vorschlag zurück, die Konjunkturprogramme über europäische Anleihen zu finanzieren, anstatt dass jeder Staat seine nationalen Papiere auf den Markt bringt. Natürlich erhoffte sich Rom davon einen Vorteil: Es könnte von der Bonität der Deutschen und anderer stabiler Volkswirtschaften in Europa profitieren. Eigene Staatsanleihen kämen Italien teurer, weil es hohe Zinsen bieten muss, um sie loszuwerden. Deutschland käme auf der anderen Seite eine Verschuldung über Europaanleihen teurer, weil diese die durchschnittliche Bonität der Union spiegeln würden.
Kurzfristig spart Berlin jetzt Geld. Aber langfristig kann das teuer werden. Dann nämlich, wenn einige Länder viel Geld in die Hand nehmen müssen, um sich Kapital zu besorgen. Das könnte zu Verschuldungen führen, an deren Ende die Zahlungsunfähigkeit steht. In Brüssel wird bereits über Griechenland und Irland geredet. Wenn sie pleitegehen, dann müssen die anderen Länder ihnen mit sehr viel Geld aushelfen. Europa scheint gegenwärtig nicht in der Lage und auch nicht willens, aus den schmerzhaften Erfahrungen mit der Finanz- und Wirtschaftskrise gemeinsame Lehren zum gemeinsamen Nutzen zu ziehen.
Wirtschaftlich trauen sich Deutschland und Frankreich nicht über den Weg.
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de