Alles eine Frage des Karmas
Kaum eine Stadt ist so chaotisch und voller Widersprüche wie Mumbai. Und kaum jemand verleiht ihr eine kräftigere Stimme als Shobhaa Dé. Die Bestsellerautorin, die als Souffleuse der Massen gilt, sieht Indiens Metropole vom Terror zwar getroffen, aber nicht erschüttert
Von Oliver Meiler
Mumbai - Ihre Tochter hätte im Hotel Taj Mahal Palace heiraten
sollen, natürlich im Taj. Das war der Plan gewesen, vor den Anschlägen
von Mumbai. Shobhaa Dé sagt: "Im Taj wurde schon mir der Hof
gemacht, dort habe ich geheiratet, das Taj ist mein zweites Zuhause." Es
kam anders, alles kam anders, vielleicht ist für immer alles anders.
Ihr Name hört sich wie eine schöne Erfindung an, wie eine
verträumte Kreation. Shobhaa Dé. Aber der Name ist echt, wie alles
echt ist an dieser Frau aus der verwöhnten Oberschicht Bombays, dem
heutigen Mumbai. Sie ist geradeaus, selbstironisch, tabulos. In your face,
würden die Engländer sagen. Und so ist auch ihr Schreibstil. "Ich
schreibe manisch und manisch schnell." Sie trommelt mit den Fingern auf den
Laptop, der vor ihr liegt. "2000 bis 3000 Wörter am Tag, immer, egal
wo, es geht ganz einfach." Sie schreibt Kolumnen in mehreren Zeitungen und
Zeitschriften, darunter die Times of India, die Bombay Times und The Week. Sie
schreibt einen Blog. Und fünfzehn Bücher hat sie auch geschrieben,
neun davon sind Romane, viele sind auch auf Deutsch erschienen. Sie handeln von
den dekadenten Nächten Bollywoods, von der korrupten Politik und von Sex.
Von Indien. Alles muss raus, wie es gerade kommt, einfach nur raus.
Niemand in Indien schreibt wohl mehr als Shobhaa Dé. Sie ist eine
Souffleuse der Massen, eine Tabubrecherin. Niemand wird von mehr Indern gelesen
als sie, über die Klassen und Kasten hinweg. In Delhi, in Ahmedabad, in
Kalkutta, in Bangalore, in Chennai. Shobhaa Dé schreibt in Englisch.
Übersetzt wird sie in Hindi, Marathi, Gujarati, in alle möglichen
Sprachen des großen Landes. Sie hat "Hinglish", den bis dahin
nur gesprochenen Slang aus Englisch und Hindi, der als Sprache der Filmindustrie
und der kitschigen Fernsehserien dient, zur geschriebenen Sprache erhoben. Heute
reden sie auch in Delhis Politik so, und im Parlament sind Abstimmungsvorlagen
mit "Hinglish" durchsetzt. Die Zeitungsmacher benutzen den Slang
für möglichst verständliche Überschriften.
Shobhaa Dé ist die Stimme des neuen Indien, mögen die
Literaturkritiker das auch anders sehen. Mögen sie die Bestsellerautorin
auch als Indiens Antwort auf Jackie Collins verschreien. "Das ist mir
egal", sagt sie, und der Erfolg gibt ihr Recht. Ihre Bücher werden
massenweise illegal kopiert und am Straßenrand des Colaba Causeway
verkauft. Sie nennt dieses neue Indien "Superstar Indien" und meint
damit den jungen Mix aus Boom und Bollywood, dieses neue und aggressive
Selbstwertgefühl der größten Demokratie der Welt, die kein
Terror und keine Krise zu zerstören vermögen. Höchstens etwas
bremsen, trüben. Indien kommt von so weit her, hat schon so viel Weg hinter
sich gebracht.
Shobhaa Dé, 61 Jahre alt, genau so alt wie das Land, einst Mannequin und
Schönheitskönigin und studierte Psychologin, Mutter von sechs Kindern,
in zweiter Ehe mit dem reichen Geschäftsmann Dilip Dé verheiratet,
ist ein Teil von diesem neuen Indien. Ein Teil der Habenden, da oben,
günstiges Karma. Sie ist selber ein Star. Sie lebt den Jetset, den sie
beschreibt, sie glänzt mit der Glitzerwelt, geht auf ihre Partys, gibt
selber welche. Sie frequentiert privat alle diese superreichen Inder, die sich
in den Listen der obszön wohlhabenden Menschen der Welt etabliert haben.
"Hier bist du niemand, wenn du nicht mit einer Armee schwerbewaffneter
Bodyguards auf eine Party kommst", sagt sie, "oder wenn dir nicht
mindestens zehn Leute am Flughafen das Zeug hinterhertragen, wenn du
verreist." In den siebziger und achtziger Jahren hat sie als Journalistin
drei Hefte verlegt, alle setzten diese Welt in Szene: Stardust, Society,
Celebrity.
"Ich bin privilegiert", sagt sie und streicht eine ihrer langen
Haarsträhnen aus dem Gesicht, "natürlich bin ich privilegiert
mitten in der schockierenden Armut, die uns in dieser Stadt umgibt. Die Chinesen
hätten die Armen längst aus dem Stadtbild entfernt, aufs Land
hätten sie sie gebracht, damit sie niemand sieht, vor allem die Investoren
nicht. In Indien ist alles da und sichtbar, alle Widersprüche."
Überall und überall gleichzeitig. Mumbai ist eine Stadt ohne
Übergä;nge, ohne jede Scheinheiligkeit.
Das Treffen mit Shobhaa Dé war eigentlich im Taj-Mahal-Hotel vorgesehen,
natürlich im Taj. Wahrscheinlich hätte das Gespräch im Innenhof
stattgefunden, neben dem Pool. Sie wäre wohl auf einem dieser schweren,
weißen, metallenen Stühle gesessen, die auch in einem Schlosspark in
Yorkshire stehen könnten. Livrierte junge Herren wären in der
Nähe gestanden. Hätten mit vornehmer Zurückhaltung auf jede Geste
geachtet, hätten sicher ungefragt Tee gebracht. Oder Shobhaa Dé
wäre unter Kronleuchtern drinnen gesessen, in einem der Cafés,
gewogen in dieser kolonialen Atmosphäre des Taj - fünf Sterne,
Mumbais erste Adresse, 105 Jahre alt.
Das Taj - das war der Salon des Jetsets, eine Enklave, eine Raststätte
des neuen Indien inmitten des alten und rasenden Indien, eine stolze Bühne
für die Stars und Politiker, für die Intellektuellen und Neureichen,
eine Art Café de Flore Mumbais ohne dessen intellektuellen Anspruch. Bis
Granaten in den Hof fielen. Die schweren, weißen, metallenen Stühle
flogen durch die Luft, als wären sie aus Plastik oder Holz. Mit
Kalaschnikows zogen die Terroristen durch die Flure, auf einer
Selbstmordmission, töteten Gäste und Angestellte, steckten die Suiten
in den oberen Stockwerken in Brand, hüllten die Kuppel über dem
Haupttrakt in Rauch und Flammen. Am 26. November 2008 war das 26/11, sagen die
Inder. Das soll an 9/11 erinnern.
Shobhaa Dé hat dann zu sich nach Hause eingeladen, in ein Hochhaus unten
an der Cuffe Parade, South Bombay. Mumbais Süden ist das chaotische Herz
der Stadt, die Spitze der Halbinsel, höchste Bodenpreise. Danach kommt nur
noch Meer, das Arabische Meer. Um vom Norden her, vom Flughafen etwa, hier
runter nach Colaba zu kommen, wo Mumbai immer schmaler wird, braucht man meist
viele Stunden, müht sich durch viel zu enge Straßen mit viel zu
vielen Autos, Bussen, Taxis, Schubkarren, Motorrädern und auch Kühen.
Auf dieser Strecke, auf einigen Kilometern Straße nur in Mumbai, sieht man
Dinge, verstörende und bizarre, wie man sie im Westen in einem ganzen Jahr
nicht zu sehen bekommt. Junge Menschen ständig nahe am Tod, im Tanz
zwischen den Autos, manchmal auch darunter. Alte Menschen mit erschütterter
Würde und unerschütterlicher Fröhlichkeit. Menschen, die auf dem
Sattel eines Motorrads schlafen, unter alten Bäumen leben, in Slums so
groß wie Millionenstädte. Menschen, die aus offenen Bustüren
hängen, als vollbrächten sie Figuren aus dem Zirkus. "Ist diese
Stadt nicht der reine Wahnsinn?", fragt Shobhaa Dé und will keine
Antwort. Sie würde nie anderswo leben wollen als hier drin, mitten drin, in
einer Stadt, die in mehreren Jahrhunderten gleichzeitig lebt, unter Menschen im
lauten Freudentaumel, in Trance um eine Gottheit, in Chören verloren.
Menschen, Menschen, überall Menschen, so viele Menschen, 20 Millionen wohl,
dass am Abend der Kopf dröhnt und pocht. Nach einigen Tagen hat man dann so
viel gesehen, dass einen nichts mehr erstaunt. Da könnte ein Mann mit vier
Beinen die Straße überqueren, man würde ihm nachschauen und nur
mit den Schultern zucken.
Erst am Tor des Hochhauses, in dem Shobhaa Dé wohnt, hört dieses
verstörende Mumbai auf. Nur der Geruch, der kriecht hinein in die
Turmschluchten von Cuffe Parade. Auszumachen ist feuchte Modrigkeit und salzige
Meeresluft, der Geruch aus frei getätigter Notdurft und aus Abfall,
Räucherstäbchenduft und Moschus, Schwaden von Masala und Curry.
Shobhaa Dé sitzt an einem runden Tisch im Wohnzimmer vor dem Computer,
zwei abgewetzte Handys darauf, die später ständig klingeln werden, die
jüngste Tochter sitzt im Nebenzimmer und schaut fern. Die Fensterfront
öffnet den Blick aufs offene Meer, auf gro e und lange Schiffe, die
da im Dunst zwischen Ost und West kreuzen, scheinbar träge, als lägen
sie nur im Wasser. So muss es hier immer schon ausgesehen haben, damals schon,
als die Portugiesen die Stadt "Gute Bucht", Bombay, nannten.
Wahrscheinlich hatte es damals noch mehr von diesen schönen Karavellen
gegeben mit den großen Segeln, die sich festgesetzt haben in der
Vorstellung über die alte Seefahrt. Die Stellung als Handelshafen hat aus
Mumbai eine kosmopolitische Stadt gemacht, die weltoffenste Stadt Indiens. Ein
Pool für alles, ein Sündenpfuhl auch.
Die Lebensgeschichte von Shobhaa Dé war nur hier möglich. "Ich
wurde in eine progressive, gebildete, wohlhabende Familie geboren", sagt
sie. Shobhaa Dé versucht nicht, ihre Saga zu schönen. Es ist nicht
die Geschichte eines trotzigen sozialen Aufstiegs. Sie war immer schon oben.
"Ich musste mich nicht befreien, von nichts, ich habe nur irgendwann
entschieden, mich zu exponieren." Und sie tat das, indem sie Tabus brach.
Vor allem waren es Tabus rund um die Intimität. In ihren Büchern
beschrieb sie den Sex so explizit, wie das zuvor niemand gemacht hatte, keine
Frau jedenfalls. Für eine traditionelle Gesellschaft wie die indische, in
der schon ein flüchtiger Kuss in der Öffentlichkeit ein Sakrileg sein
kann, war das eine Revolution, von oben. "Ich provoziere meine Leser mit
meinen Texten. Auf viele wirkt das befreiend." Wahrscheinlich hat Shobhaa
Dé mehr erreicht für das Selbstwertgefühl der indischen Frauen
als viele Regierungsprogramme. Sie hat die Frauen wohl auch auf Ideen gebracht,
die sie davor nicht gehabt hatten oder nicht gewagt hatten zu haben. Sie brachte
ihnen zum Beispiel bei, wie der Flirtfaktor wirkt, wie körperliche
Attribute in Szene zu setzen sind. "Als Aktivistin oder gar als Feministin
will ich aber nicht bezeichnet werden, ich habe keine politische Agenda, bin
keine Lobbyistin. Ich würde mich für einen Mann genauso einsetzen,
wenn er es denn verdienen würde. Nur ist es meistens so, dass die Frau die
Rolle des Underdogs einnimmt, überall auf der Welt, bei uns ganz
besonders."
Eine berühmte Ausnahme gab es da schon, Shobhaa Dé schrieb mit aller
Macht gegen sie an: Sonia Gandhi. Die Witwe des ermordeten Premierministers
Rajiv Gandhi, stieg nach dessen Tod zur mächtigsten Frau Indiens auf.
"Es ist doch absurd", sagt Shobhaa Dé, "dass es dieses
Milliardenvolk nötig hat, eine Italienerin ohne jeden politischen
Leistungsausweis, ohne intellektuelle Brillanz zur Anführerin zu machen,
nur weil sie zufällig die Witwe aus der führenden Dynastie ist. Ich
war schockiert. Diese Frau hatte eine Helikoptersicht auf das Land." Eine
Perspektive ohne Bodenhaftung, ohne Berührung mit der indischen
Wirklichkeit.
Diese Distanz haben mittlerweile viele Inder aus der neuen Oberschicht. Sie
entfremden sich vom alten Indien, sie stehen nie Schlange, entgehen dem Chaos,
lassen den Verkehr für sich sperren, kennen die richtigen Polizisten
dafür. Auch Shobhaa Dé lebt so. "Ich will nicht heucheln, auch
ich profitiere von vielen Annehmlichkeiten." Doch sie glaubt, dass sie die
richtigen Reflexe behalten hat. Sie würde sich als impulsiv beschreiben.
Shobhaa Dé erzählt, wie sie einmal aus dem Auto stieg, als ein Mob
von 40 Leuten einen Mann und eine Frau schlug und an den Haaren über die
Straße zerrte. "Wir waren auf dem Weg zum Flughafen, ich
überlegte nicht viel, wusste auch nicht, worum es ging, stieg einfach aus
und stellte mich dazwischen." Die Kinder im Fond hatten Angst. "Ja,
die Kinder der neuen Mittel- und Oberschicht sind schon weit weg vom alten
Indien", sagt Shobhaa Dé, "sie wissen nicht, wie Indien einmal
war, sie wollen es gar nicht wissen, sie verdrängen auch die sozialen
Gräben. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass die meisten Inder Hunger
litten." Dass das nationale Schicksal in der Schwebe lag.
Nach der Unabhängigkeit dachten viele, die Inder würden scheitern ohne
die ordnende Hand von außen. Hungersnöte würden das Land in die
Knie zwingen, alles würde auseinanderfallen. Schließlich war Indien,
bevor die Briten es einten, keine Einheit, sondern ein halber Kontinent mit
vielen Fürstentümern und Königshäusern, vielen Kulturen und
Sprachen.
"Indien ist noch immer nur ein Gefühl, eine Emotion", sagt
Shobhaa Dé. Ihr Mann ist Bengale, aus der Gegend von Kalkutta. "Er
kommt von einem Ort, der liegt 2000 Meilen weg von hier, uns vereinte fast
nichts, unsere Leben folgten einem völlig unterschiedlichen Script, bis wir
uns kennenlernten, 1981. Anderes Essen, andere Sitten, andere Sprache. Nur die
Religion verband uns. Und natürlich Bollywood, die zweitgrößte
Religion dieses Landes." Jeder in Indien versteht Bollywood. Nichts hat
Sinn: die Musik nicht, die Geschichten nicht, die Dialoge triefen vor
Belanglosigkeit. "Der Inhalt ist immer derselbe: ,Küss mich,
küss mich, berühr mich, berühr mich'." Doch Bollywood
ist ein sozialer Katalysator. Mumbais Filmwelt dient der nationalen
Identitätsstiftung. "Wir sind besessen von Bollywood, alle. Auch die
Armen in den Slums träumen den Traum der Stars, sie gönnen ihnen den
Erfolg."
Da sei fast kein Neid, sagt sie, fast nur Verehrung. Und die innere Gewissheit,
dass es das nächste Leben besser mit einem meinen könnte, dass das
Karma ja nicht ewig währt. "Auch das ist einmalig an Indien, ist es
nicht so?", fragt Shobhaa Dé und will wieder keine Antwort.
Eine schöne Verklärung ist das. Die Habenden hoffen, dass sich die
Habenichtse dem Fatalismus genügsam ergeben, dass sie überzeugt sind,
ihr Schicksal werde von höheren Mächten gelenkt und dass die Zeit der
Revanche bald kommt - im nächsten Leben.
Am 26. November 2008, 19.30 Uhr, saß Shobhaa Dé in ihrer Welt, im
Taj Mahal Palace, natürlich im Taj. Als die Terroristen Granaten in den
Hotelhof warfen, um 21.30 Uhr, war sie schon weg. In ihrem Blog schreibt sie:
"Das Bild des brennenden Taj wird mich nie mehr loslassen. Doch meine
Tochter wird bald heiraten, und ja, das Fest wird im Taj stattfinden,
irgendwann. Es mag getroffen sein, gebrochen ist es nicht."
Das ist eine schöne Metapher auf das neue Indien, auf Superstar Indien und
seine Wehen, seine Leiden und Mühen. Nie war Mumbais Oberschicht direkter
getroffen worden. Der Glamour, der Stardust verzog sich. Sogar Bollywood
verstummte. Für einige Tage.
"Die Chinesen hätten die Armen längst aus dem Stadtbild entfernt"
Sie musste nicht kämpfen, sie war schon immer oben
Vielleicht meint es ja das nächste Leben besser mit einem
"Hier bist du niemand, wenn du nicht mit einer Armee schwerbewaffneter
Bodyguards auf eine Party kommst": Die 61-jährige Shobhaa Dé in
ihrer Wohnung in Mumbai. Foto: Times of India/AFP