Herbe Diagnose

Kein guter Start für die sich stark an Grey's Anatomy orientierende Krankenhaus-Serie Klinik am Alex bei Sat 1: Nur 730 000 Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren schauten am Donnerstagabend die erste Episode (7,8 Prozent Marktanteil). Insgesamt waren es 1,42 Millionen (6,6 Prozent). 27 Folgen umfasst die gesamte Staffel, der Sendeplatz, 22.15 Uhr, ist kaum nach hinten zu verschieben. Die Produzentin Ariane Krampe (Teamworx) rechnet mit einem Anstieg der Quote in den kommenden Wochen. SZ

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Kurzarbeit bei Lufthansa Cargo

München - Die Lufthansa-Frachttochter Lufthansa Cargo will für 2600 Mitarbeiter in Deutschland Kurzarbeit beantragen. Vorstand und Gesamtbetriebsrat hätten sich darauf grundsätzlich verständigt, Details solle eine Verhandlungskommission schnellstmöglich klären, schrieb Lufthansa Cargo am Freitag. Die Firma reagiert damit auf die Trendwende im Transportgeschäft. Bis vergangenen Sommer waren durch die Globalisierung immer mehr Waren verschickt worden, seit dem Herbst hat sich der Trend umgekehrt. Unter dem Rückgang leiden Straßen- und Schienenverkehr und die Seeschiffahrt, bei der teuren Luftfracht sind die Rückgänge aber am stärksten. Bei Lufthansa Cargo fiel die Luftfracht-Menge im Dezember im Vergleich zum Vorjahr um mehr als ein Fünftel. "Nachdem wir schon unsere Frachterkapazitäten reduziert haben, macht die gegenwärtige Unternehmenssituation Anpassungen beim Personal unumgänglich", wird Lufthansa-Cargo-Chef Carsten Spohr in der Firmenmitteilung zitiert. henh

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Porsche mit Motorschaden

Der Absatz fällt um ein Viertel, daher legt der Sportwagenbauer ein Sparprogramm auf. Aktionäre kritisieren den undurchsichtigen VW-Deal

Von Dagmar Deckstein

Stuttgart - So viel Aufmerksamkeit hat es lange nicht mehr für eine Hauptversammlung des Sportwagenherstellers Porsche gegeben, zumal die freien Aktionäre hier ohnehin nichts zu sagen haben. Höchstens zu hören gibt es immer etwas für sie, und dafür waren diesmal sage und schreibe knapp 8000 Aktionäre an den Neckar geeilt - doppelt so viel wie im Vorjahr. Früher konnten sie sich eins ums andere Mal an immer neuen Rekordzahlen erfreuen, doch an diesem Freitag kamen sie wegen der sich überstürzenden Ereignisse der vergangenen Monate kaum noch mit dem Fragen hinterher.

Wann wird Porsche seine VW-Anteile von 50 auf 75 Prozent aufstocken? Wie wird der Autobauer durch die finstere Branchenkrise steuern? Warum notiert die VW-Aktie weit über, die Porsche-Aktie aber weit unter dem substantiellen Unternehmenswert? Letzteres erklärten Vertreter der Kleinaktionäre damit, dass sich Porsche nach wie vor geheimniskrämerisch gibt und wie ein Schachspieler den nächsten Zug höchstens erahnen lässt. Erstmals trat auch ein Vertreter des Londoner Hedgefonds Hermes in die Bütt und ereiferte sich heftig über den Mangel an Transparenz, den Porsche an den Tag lege. Ausgerechnet Hans-Christoph Hirt, der Hedgefonds-Manager, warf Porsche vor, sich wie ein Hedgefonds zu gerieren. Hermes aber habe in einen Autohersteller investiert.

Doch wollte oder konnte Konzernchef Wendelin Wiedeking trotz des erfolgreichen Coups vom Oktober - als Porsche überraschend mitteilte, schon 43 Prozent an VW und Optionen für knapp 75 Prozent zu besitzen - kein Höchstmaß an Transparenz bieten. "Unser Ziel ist es nach wie vor, die VW-Beteiligung in überschaubarer Zeit auf 75 Prozent der Stammaktien aufzustocken, um den Weg für einen Beherrschungsvertrag freizugeben. Aber erwarten Sie jetzt von mir kein Datum", rief er den Fragenden zu. Wie sollte er auch eines nennen, wo er in seiner Rede doch einen ausführlichen Blick richtete auf die "neue, noch unbekannte Qualität der aktuellen Krise" und auf die Prognostiker, von denen keiner auch nur ansatzweise die Wucht des Wirtschaftseinbruchs vorausgesehen habe. "Prognosen dienen in erster Linie der Unterhaltung des Publikums", befand Wiedeking.

Im Übrigen habe Porsche immer klar gemacht, dass die Mehrheitsübernahme von Volkswagen kein "Sonntagsspaziergang" werden würde. Dass Porsche die Übernahme durch Aktienoptionsgeschäfte mit Barausgleich sozusagen durch die Hintertür vorantreibt, hatten Fondsmanager und andere Investoren als Marktmanipulation gegeißelt. "Unerhört, rufschädigend", raunzte Wiedeking nur, "wir haben uns strikt an geltendes Recht gehalten." Überhaupt liege dem Einstieg bei Volkswagen industrielle Logik zugrunde, nicht das Ziel, auf Kosten Dritter Vermögen zu mehren.

Als Autohersteller stehen auch die erfolgsverwöhnten Zuffenhausener mit Motorschaden am Straßenrand. Das erste Geschäftshalbjahr, das an diesem Samstag endet, zeigt einen Rückgang von 27 Prozent im Fahrzeugverkauf auf 34 000, aber nur einen 14-prozentigen Rückgang beim Umsatz auf drei Milliarden Euro. Wegen der VW-Beteiligung werde das Vorsteuerergebnis der Porsche Automobil Holding SE jedoch höher sein als im Vorjahr mit 1,66 Milliarden Euro, so Wiedeking. Porsches Antwort auf die Krise lautet Produktionsstopp und Sparprogramm. Nachdem das Unternehmen im Stammwerk Zuffenhausen bereits im Dezember und Januar eine Arbeitspause von elf Tagen verordnet hatte, sollen die Werker bis zu den Sommerferien weitere 19 Tage pausieren. Insgesamt werden dann 4800 Autos weniger gebaut als geplant. "Wir produzieren immer ein Auto weniger als der Markt verlangt", so Wiedekings Devise. Porsche denke gar nicht daran, "diese unsägliche Rabattpolitik" der Wettbewerber mitzumachen. Entlassungen seien nicht geplant.

Porsche-Chef Wendelin Wiedeking will die Beteiligung an Volkswagen "in überschaubarer Zeit" aufstocken. Ein Datum möchte er jedoch wegen der Unwägbarkeiten der Krise nicht nennen. Foto: AP

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Piel will Pocher

Der WDR verhandelt mit Oliver Pocher. Intendantin Monika Piel möchte ihn in der ARD halten, weiß aber nicht, ob andere Sender mitziehen. Auch die Frage, ob Hart aber fair einem einheitlichen Sendeplatz für die Tagesthemen weichen muss, bleibt offen. "Da drehen wir uns im Kreis", sagte Piel am Freitag bei der Vorstellung des WDR-Haushaltes, der bis 2012 ein durch Einsparungen auszugleichendes Defizit birgt, das über die bisher bekannten 100 Millionen Euro weit hinausgeht. haho

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Willkommen in der Hölle

Ein "Tatort" über das Leben im Niedrigpreissegment

Hier ist kein Mensch mehr, schimpft Gebietsleiter Blaschke ins Telefon. Dabei fegt seine Filialleiterin, Frau Freytag, genau neben ihm das Linoleum. Egal, für Blaschke gibt es sowieso keine Menschen, nur MA's (Mitarbeiter), und zwar faule.

Frau Freytag hat eine Hanna-Schygulla-Frisur und ein verhuschtes Gesicht. Herr Blaschke trägt einen teuren Anzug und italienische Schuhe. Beide wirken im Neonlicht des Verkaufsraums überfordert. Das mag daran liegen, dass sie für "Billy" - eine Billigkette - schuften, gegen die das RTL-Dschungelcamp wie ein Wellness-Urlaub anmutet. Das mag aber auch daran liegen, dass im Tatort "Kassensturz", dem neuen Fall von Lena Odenthal, ohne Maske gearbeitet wurde. "Morgens gab's für die Schauspieler eine Gesichtsmassage, und das war's dann", sagt Regisseur Lars Montag. Die Öffentlich-Rechtlichen sparen eben, wo sie können.

Ulrike Folkerts, als Lena Odenthal im zwanzigsten Ermittlungsjahr, scheint die Gesichtsmassage gut zu tun. Vielleicht ist es auch ihr glückliches Privatleben, über das sie neuerdings freimütig in Talkshows spricht, jedenfalls wirkt sie weniger kantig als früher. Ihr grasgrünes T-Shirt, die mintgrüne Sportjacke und der darüber getragene zwiebellauchgrüne Trench strahlen Zuversicht aus, als sie tags drauf auf dem Müllberg steht, in dem Gebietsleiter Blaschke tot aufgefunden wurde. Die möglichen Tatwaffen liegen ringsum verstreut: ein Kruzifix, ein Siphon, eine Bratpfanne, Eisenstange und eine angetaute Lammkeule. Leicht wird das nicht, so viel ist klar. Von Tatverdächtigen wimmelt es nur so. Den Blaschke konnte keiner leiden. Weder seine Vorgesetzte, Billy-Vertriebsleiterin Gesine Fuchs (grandios gemein: Adele Neuhauser), noch sein Konkurrent Günter Novak (Jan Henrik Stahlberg mit wegen Überarbeitung echten, nicht geschminkten Augenringen) und schon gar nicht seine MA's - von Blaschke getriezt, bespitzelt, angebaggert.

Der Discounter-Alltag geht weiter. "Bei uns im Niedrigpreissegment", sagt Vertriebsleiterin Fuchs, "ist für Emotionales nun mal nicht wirklich Platz." Sie setzt Novak als neuen GL (Gebietsleiter) ein. "Willkommen in der Hölle", begrüßt der GL seine MA's.

Eisenstange oder Lammkeule?

Im Wirrwarr um Blaschkes Tod wird ein Szenario entworfen, das übertrieben wirkt, sich aber auf gründliche Recherchen im Niedrigpreissegment stützt. In die Dreharbeiten zu "Kassensturz" fiel ein echter Discounter-Skandal, der das Drehbuch fast noch toppte und eingearbeitet wurde.

Die Großaufnahmen gepeinigter Gesichter, die gute Besetzung und die extremen Brennweiten geben dem in Gelb und Lila gehaltenen Kammerspiel filmische Qualität. Ein leichtes Unbehagen bei allen, die beim Billiganbieter einkaufen, ist als Nebeneffekt vermutlich gewollt und sollte, pardon, billy-gend in Kauf genommen werden. ELSE BUSCHHEUER

Tatort - "Kassensturz", ARD, Sonntag, 20.15 Uhr.

Statt Maske nur Gesichtsmassage bei den Dreharbeiten: SWR-Tatort mit Ulrike Folkerts (re.), Andreas Hoppe und Traute Hoess. Foto: SWR

Tatort SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Prächtige Kulisse

Modemessen wollen dynamischer wirken - und ziehen auf Flughäfen

Von Stefan Weber

Düsseldorf - Die Modebranche zieht es in die Flughäfen. In der "Station Airport", dem gerade fertiggestellten Fernbahnhof am Düsseldorfer Flughafen, findet an diesem Samstag die Auftaktparty der weltgrößten Modemesse Igedo Fashion Fairs statt. Und im Juli erweckt der Berliner Modemessen-Macher Karl-Heinz Müller den Berliner Flughafen Tempelhof zu neuem Leben. Im Vorfeld des vor einigen Monaten stillgelegten Airports und in den anliegenden Hangars sollen auf der "Bread & Butter" mehrere hundert Firmen Mode zeigen. Flughäfen, so haben die Messe-Veranstalter entdeckt, bieten eine prächtige Kulisse für Mode-Inszenierungen.

Wenn die Geschäfte schwieriger werden, muss mehr Glamour her. Das gilt vor allem für die Veranstaltung in Düsseldorf, die in den vergangenen Jahren deutlich an Bedeutung verloren hat. "Wenn wir weitermachen wie bisher, wird es die Modemesse irgendwann nicht mehr geben", sagt Philipp Kronen, geschäftsführender Gesellschafter der veranstaltenden Igedo Company. Ende vergangenen Jahres hat der 43-Jährige die Führung des Unternehmens übernommen, das mehrheitlich Eigentum der Messe Düsseldorf ist.

Wie nötig Veränderungen sind, zeigt ein Blick auf die Ausstellerzahlen: Von Sonntag bis Dienstag treten in sechs Hallen 1450 Aussteller an, 300 weniger als im Sommer vergangenen Jahres. Ein Großteil dessen, was sich früher auf der Messe abspielte, hat sich in so genannten Showrooms verlagert. Das sind stadtweit mehr als 500 Ausstellungsräume, in denen Hersteller ihre Kollektionen zeigen. Kronen will diese Neuheiten-Vorstellungen für die Messe zurückgewinnen.

Die Entwicklung der Igedo ist allerdings auch ein Spiegel der Entwicklung in der seit Jahren mit Überkapazitäten kämpfenden Modebranche. Die Zahl inhabergeführter Fachgeschäfte schrumpft, Marktanteile gewinnen stattdessen Hersteller, die auch Händler sind: H&M ist der prominente Vorreiter dieser so genannten Vertikalisierung, und die Strategie findet Nachahmer: Esprit, Boss, Bugatti, Gerry Weber; alle verkaufen ihre Waren inzwischen in eigenen Läden. Sie benötigen keine Messe als Plattform für neue Kollektionen.

Zusätzliche Probleme macht die Konjunktur. Viele Händler ordern weniger, um nicht bei zurückgehender Konsumlust auf Ware sitzen zu bleiben. Tatsächlich halten sich die Verbraucher beim Modeeinkauf zurück. Nach Angaben der Fachzeitschrift Textilwirtschaft hat der Bekleidungshandel in den ersten Wochen des Jahres neun Prozent weniger umgesetzt als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Eine Filiale von H&M in Frankfurt: Die Kette hat Erfolg. Foto: dpa

Modeszene in Deutschland Internationale Modemesse IGEDO - CPD SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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EXXON MOBIL/CHEVRON

Rekordgewinne

New York - Neuer Gewinnrekord: Der weltweit größte börsennotierte Ölkonzern Exxon Mobil hat im vergangenen Jahr mit mehr als 45 Milliarden Dollar den bisher höchsten Gewinn eines US-Unternehmens erzielt. Der Überschuss stieg gegenüber 2007 um elf Prozent. Auch der zweitgrößte US-Ölkonzern Chevron verdiente 2008 so viel wie nie zuvor. Der Gewinn legte um fast 30 Prozent auf 23,9 Milliarden Dollar zu. Der inzwischen stark gefallene Ölpreis drückte jedoch im vierten Quartal bei beiden Konzernen schwer auf den Gewinn, wie sie am Freitag mitteilten. dpa

ExxonMobil Corporation: Gewinn ExxonMobil Corporation: Bilanzberichte SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ebbe in den Häfen

In den deutschen Terminals wird bald kurzgearbeitet, weil die Reeder Verbindungen streichen

Von Meite Thiede

Bremerhaven - Auch das ist Globalisierung: Weil die Amerikaner sparen müssen, sind die Arbeiter von Eurogate jetzt unterbeschäftigt. Im vorigen Jahr haben sie im Hafen Bremerhaven noch eine Milliarde Redbull-Dosen für den Export in die USA in Containern verstaut. Auch Millionen Liter von Beck's Bier, dem Exportschlager der deutschen Bierbrauer, haben sie auf den Seeweg gebracht. Aber heute sind diese Aufträge weg, und auf dem Terminal erzählt man sich, dass die Amerikaner sich jetzt eben nur noch das billige Budweiser light leisten können. Und dass die Männer deshalb jetzt um ihre Arbeit zittern müssen.

Eurogate ist der größte Terminal-Betreiber Europas mit Standorten in Hamburg und Bremerhaven, in Italien, Portugal und Marokko. Allein in Bremerhaven sind 2500 Mitarbeiter mit dem Containerumschlag beschäftigt. Noch sind ihre Jobs sicher, wenngleich bereits alle Möglichkeiten der Flexibilisierung ausgenutzt werden - sprich: Es wird schon jetzt weniger gearbeitet. Ab Mai steht dann, wenn sich die Lage nicht bessert, als nächster Schritt Kurzarbeit an. Die kann neuerdings für bis zu 18 Monate angemeldet werden, und bis dahin, so glaubt Geschäftsführer Emanuel Schiffer, sollte die Krise ausgestanden sein. Schwankungen ist man bei Eurogate gewohnt, Schifffahrt ist ein zyklisches Geschäft. Und außerdem: "Die Globalisierung hört ja nicht auf", wie Schiffer sagt.

Doch diesmal kommt es besonders dick; eine Prognose für 2009 will er nicht abgeben. In den vergangenen drei Jahren war der Containerumschlag in Bremerhaven um 50 Prozent auf 5,5 Millionen Standardcontainer im Jahr gestiegen; mit Hochdruck hatten sie deshalb die Terminals erweitert, so dass jetzt eine Kaje von fünf Kilometern Länge mit 40 Containerbrücken, wie man die riesigen Kräne an der Kaimauer nennt, zur Verfügung steht. Doch im Dezember kam der Knick: Der Umschlag brach um 4,3 Prozent ein, im Januar wird das Minus deutlich zweistellig ausfallen. "Das erste Quartal können wir abhaken", sagt Schiffer.

Eurogate ist ein Joint Venture der privaten Hamburger Firma Eurokai und der staatlichen Bremer Logistic Group (BLG) und leidet - wie der dritte große Spieler bei den deutschen Nordseehäfen, die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) - unter der Schifffahrtskrise. Wegen des schrumpfenden Welthandels sitzen die großen Reedereien auf Überkapazitäten und stellen Liniendienste ein. Experten schätzen, dass acht Prozent der Gesamtkapazität aller Dienste nach Europa stillgelegt sind. In Bremerhaven fallen drei Asien- und ein Nordamerika-Dienst weg und damit ein wöchentliches Volumen von 38000 Standardcontainern. Die Grand Alliance, ein Verbund von vier großen Containerreedereien, zu dem auch Hapag-Lloyd gehört, hat gerade acht Schiffe stillgelegt und damit die Kapazität ihres Europa-Asien-Services um zwölf Prozent reduziert. Wann die Reeder ihre Liniendienste wieder aufnehmen, ist nicht absehbar. Die Grand Alliance hat ihre Maßnahme vorerst bis Juni begrenzt.

Niedrigere Stapel

"Wir fahren auf Sicht", sagt Schiffer deshalb auch. Hamburg ist vom schwachen Asien-Verkehr noch heftiger betroffen als Bremerhaven, wo traditionell der Nordamerika-Verkehr stärker ist. Das hat sich auch schon 2008 in den Zahlen von Eurogate gezeigt: Mit 2,7 Millionen Containern hat das Unternehmen in Hamburg 7,7 Prozent weniger umgeschlagen als 2007. Auch 2009 wird ein Minus im einstelligen Bereich entstehen, kündigte Schiffer an.

Auf den Terminals in Bremerhaven ist die Flaute in diesen Wochen gut zu besichtigen. An dem erst Ende 2008 fertiggestellten Terminal CT4 mit seinen 18 Kränen könnten bis zu vier Riesenpötte, jeweils 400 Meter lang und mit Platz für 11000 Boxen, festmachen. Das Terminal steht dem Joint-Venture-Partner, der dänischen Reederei Mærsk, zur Verfügung. An diesem Januartag aber liegt dort nur die Salina, 335 Meter lang und mit Platz für 8750 Container, und wirkt geradezu verloren. Vor wenigen Wochen mussten die Schiffe noch vor Helgoland warten, bis am CT4 ein Platz frei wurde. Und auf dem Terminal, wo die bunten Stahlboxen sonst dicht gedrängt in bis zu vier Schichten stehen, stapeln die Arbeiter jetzt nur noch zweistöckig und lassen viel Platz zwischen den Reihen.

Nebenan, auf dem Autoterminal der BLG, wird es dafür umso enger. Bremerhaven ist der größte Auto-Umschlagsplatz der Welt und leidet jetzt unter der schlechten Autokonjunktur. In den vergangenen Jahren wurden dort pro Jahr zwei Millionen Autos verschifft. Nun stockt der Export, und der Lagerplatz reicht kaum noch. Doch in Bremerhaven pflegt man gute Nachbarschaft. Eurogate hat ja Fläche im Überfluss und deshalb jetzt 100000 Quadratmeter an die BLG vermietet. Wo sich früher die Container stapelten, parken jetzt Tausende Autos, die im Moment keiner haben will.

Containerterminal von Eurogate in Bremerhaven: Im vergangenen Jahr hat das Bremer Logistikunternehmen in dem Hafen 5,5 Millionen Standardcontainer umgeschlagen. Doch im Dezember brach das Geschäft ein. Foto: ddp

EUROGATE GmbH & Co KGaA KG: Produktion Hamburger Hafen Kurzarbeit in Deutschland Schifffahrt in Deutschland Handelsschiffahrt Bremerhaven SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Kleingedruckte im Web

Internetnutzer wollen mehr Selbstbestimmung, wenn es um ihre privaten Daten geht

Ein Häkchen ist mit der Maus schnell gesetzt. Die oft auch noch in Großbuchstaben angezeigten Datenschutzbestimmungen von Internetdiensten dagegen lesen viele nicht. Ein Drittel aller deutschen Internetnutzer klicken das Juristen-Deutsch nach eigenen Angaben ungelesen weg. Die Zahl findet sich in der Studie "Bewusstseinswandel im Datenschutz", die am Freitag in München vorgestellt wurde. Demnach wächst nach den Datenskandalen des vergangenen Jahres aber auch die Furcht, dass mit privaten Daten Missbrauch betrieben wird.

Im Auftrag des Deutschen Digital-Institutes in Berlin und von Microsoft Deutschland waren gut tausend Internet-Nutzer zum Thema Datenschutz im Internet befragt worden. Wie der Studienleiter, der Medienwissenschaftler Jo Groebel, sagte, zeige sich, dass das Internet allmählich in den Alltag der Menchen eindringe. Gerade Ältere, die dem Netz noch vor wenigen Jahren sehr skeptisch gegenüber gestanden hätten, nutzten es jetzt selbstverständlich und beurteilten die Risiken anders. Auf der anderen Seite sähen jüngere Nutzer, die vor Jahren noch weitgehend unkritisch mit ihren Daten umgegangen seien, nun mehr und mehr auch die Risiken.

"Digitale Hilflosigkeit"

Kritisch betrachten die Befragten nun vor allem Online-Dienstleister, die das Nutzerverhalten auswerten. Besorgnis entsteht der Studie zufolge besonders dann, wenn die Menschen das Gefühl hätten, die Daten verselbständigten sich, sagte Groebel. Die Internetnutzer wünschten sich Kontrolle über ihre Daten statt einer "digitalen Hilflosigkeit". Auch wenn es juristisch vielleicht nicht ganz so einfach sei, müssten "drei Sätze genügen", um Online-Nutzer darauf aufmerksam zu machen, was mit ihren Daten geschehe. "Datenschutzbestimmungen selbst von nur einer Seite liest doch niemand", sagte Groebel. Längerfristig aber zahle es sich auch für Unternehmen aus, Datenschutz ernstzunehmen. Damit werde Vertrauen geschaffen, "und das ist dann auch ein Wirtschaftsfaktor".

Auf der anderen Seite aber müssten auch Nutzer sogenannter sozialer Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ lernen, dass sich ihre immer noch weit verbreitete "leichtfertige Offenheit" später rächen könne. Gerade jüngere Nutzer hätten oft mehr Vertrauen in diese Netzwerke als in traditionelle Medien, würden aber die Risiken nicht wahrnehmen, die damit verbunden seien.

Die Nutzer sehen sich der Studie zufolge zu mehr als 80 Prozent selbst in der Pflicht, ihre Daten zu hüten, mehr als die Hälfte der Befragten fühlen sich damit überfordert. Viel Vertrauen haben deutsche Internetnutzer zu Banken und Behörden, als unsicher gelten Online-Netzwerke. HELMUT MARTIN-JUNG

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Süßwaren als Seelentröster

Die Naschwarenbranche macht auch in der Krise gute Geschäfte und verspricht, dass die Preise nicht so stark steigen wie 2008

Von Stefan Weber

Köln - Für Lukas Podolski ist es an diesem Sonntag ein Heimspiel. Zwar wechselt der gebürtige Kölner erst im Sommer von Bayern München zum Ligakonkurrenten an den Rhein. Aber als Werbeträger hat der Fußball-Nationalspieler schon jetzt einen Auftritt in der Domstadt. Im Auftrag des Gebäckherstellers Griesson-de Beukelaer wird "Prinz Poldi", wie ihn der Boulevard nennt, auf der Internationalen Süßwarenmesse (ISM) für den Schokokeks "Prinzenrolle" in die Kameras lächeln. Der Andrang am Stand des Familienunternehmens aus Polch wird gewaltig sein.

Soviel Aufmerksamkeit tut der Messe gut. Denn mit dem Fruchtgummi- und Lakritzhersteller Haribo sowie dem Kaugummianbieter Wrigley bleiben dem weltweit wichtigsten Branchentreff erneut zwei prominente Unternehmen fern. Andere Hochkaräter der süßen Branche wie Ferrero, Kraft Foods, Nestlé oder Lindt sind schon länger nicht mehr dabei, wenn die Branche Anfang jedes Jahres in Köln zusammenkommt. Zur Begründung heißt es, Aufwand und Ertrag stünden nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis. Mal wird der Termin kritisiert, mal verweisen die Unternehmen auf andere Veranstaltungen, wo sie sich über neue Produkte informieren.

"Das Fehlen einiger Top-Anbieter signalisiert die Notwendigkeit, das Konzept weiterzuentwickeln”, räumt Peter Grothues, Geschäftsbereichsleiter der Kölner Messe, ein. Stellenwert und Funktion der ISM sieht er angesichts von erneut etwa 1600 Ausstellern zwar nicht in Gefahr. Aber gemeinsam mit vielen marktführenden Unternehmen werde nach "neuen konzeptionellen Ansätzen" gesucht. Was das im Detail bedeutet, will Grothues noch nicht verraten.

Die Geschäfte der Süßwarenhersteller laufen gut. Denn die Verbraucher in Deutschland lassen sich den Appetit auf Schokolade, Fruchtgummi und Kekse durch die Wirtschaftskrise nicht nehmen. Der Einzelhandel verzeichnete im vergangenen Jahr ein Umsatzplus von vier Prozent; die Hersteller haben ihren Inlandsumsatz gar um fünf Prozent gesteigert. Allerdings resultierte das Plus im Wesentlichen aus Preiserhöhungen. Angesichts der stark gestiegenen Notierungen für wichtige Rohstoffe - insbesondere Kakao - mussten die Verbraucher für Naschereien deutlich tiefer in die Geldbörse greifen. Eine Tafel Schokolade beispielsweise kostete nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in der Vorweihnachtszeit 18,5 Prozent mehr als zwölf Monate zuvor.

Sport-Großereignis fehlt

So schlimm wird es diesmal für die Liebhaber süßer Sachen nicht kommen. Branchenvertreter stellten im Vorfeld der Messe stabile Preise in Aussicht. Sicher ist das allerdings nicht. Denn der für die Branche wichtige Kakaopreis schwankt nach Auskunft von Tobias Bachmüller, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) nach wie vor sehr stark. Zudem seien auch die Kosten für Personal, Verpackung und Logistik erheblich gestiegen. Nach wie vor sind Süßwaren nach einer Untersuchung der Marktforscher von AC Nielsen nirgendwo in Europa so billig wie in Deutschland. In Spanien beispielsweise, so haben Tester herausgefunden, zahlen die Verbraucher für einen Warenkorb mit zwölf identischen Markenprodukten 23 Euro und damit mehr als fünf Euro mehr als in Deutschland.

Bachmüller, im Hauptberuf geschäftsführender Gesellschafter beim Fruchtgummihersteller Katjes, rechnet damit, dass die Verbraucher nicht weniger naschen als 2008. Im vergangenen Jahr verzehrte jeder Bundesbürger im Durchschnitt 31,27 Kilogramm Süßwaren im Wert von insgesamt 112 Euro. Möglicherweise führe die Flut schlechter Nachrichten sogar dazu, dass mancher Verbraucher häufiger Trost bei Süßigkeiten suche, so hoffen Branchenvertreter. Im Trend liegen insbesondere hochwertige Schokoladenartikel. Dagegen sind die Prognosen für Knabberartikel, wie Chips, Salzstangen und Nüsse, die häufig beim Fernsehen verzehrt werden, nicht so günstig. Denn im laufenden Jahr steht kein sportliches Großereignis an, das die Verbraucher wochenlang vor den Bildschirm lockt.

Risiken für die Hersteller sieht Bachmüller in dem für die Branche zuletzt immer wichtiger gewordenen Export. Die Unternehmen erwirtschaften inzwischen etwa 44 Prozent ihres Umsatzes im Ausland. Entsprechend anfällig sind sie gegen Währungsschwankungen.

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Gehirne in Echtzeit

Eine neue Internetseite sucht rechtsintellektuelle Identität

Der 30. Dezember 2008 war bitterkalt, doch Götz Kubitschek bekam davon nichts mit. Der konservative Verleger saß auf seiner Burg in Sachsen-Anhalt vor dem PC und glühte vor Wut. "Hier wird wieder einmal mit heruntergelassener Hose Metapolitik gemacht", schrieb er im Internet auf dem rechten Jugendportal Blaue Narzisse - "Hier präsentiert sich die Internet-Quasselbude wieder einmal von seiner schlimmsten Seite, hier übergeben sich Gehirne in Echtzeit." Der Kommentar sorgte bei den Lesern für Aufruhr. Hier hatte ein führender Kopf der rechtsintellektuellen Szene wie nie zuvor seinem Unmut über den Nachwuchs Luft gemacht, der nichts Besseres zu tun hatte, als darüber zu streiten, welcher Name zu ihm passt. "Die Neue Rechte ist tot", schrieb einer. "Die Neue Rechte braucht ein Lebensgefühl", ein anderer. So ging es tagelang. Wer Argumente suchte, um das kleine Milieu für politisch irrelevant und esoterisch zu halten, konnte sie hier finden.

Auch deshalb hat Kubitschek nun sein eigenes Portal gegründet. An diesem Montag soll es starten: das "Netztagebuch der wahren, guten und schönen Rechten" (www.sezession.de). Bislang sind die einzig nennenswerten Seiten einer Szene, die sich selbst "zwischen Union und NPD" verortet, die der Wochenzeitung Junge Freiheit und der Internetseite Blaue Narzisse. Kubitschek sagt, seine Seite richte sich "an alle, die glauben, dass unsere Gesellschaft neue Begriffe braucht". Diese wolle er mit seinen Leuten prägen: "Es gibt keine interessantere rechtsintellektuelle Gruppe als uns." Den Anfang machen der Philosoph Erik Lehnert, der Historiker Karlheinz Weißmann, der Verleger Wolfgang Dvorack-Stocker und seine Frau Ellen Kositza. Wer von den Leuten noch nie etwas gehört hat, weiß, wie es um die Stärke des deutschen Rechtsintellektualismus bestellt ist.

Optisch wirkt Kubitscheks Seite nett, mit Pastellfarben und Autorenbildchen. Unter der Rubrik "Konservativ? Zwölf Goldene Regeln" heißt es in der Testversion: "Erschrick nicht, wenn Du feststellst, dass Du konservativ bist. Es besteht kein Grund zur Sorge." Und unter dem Stichwort "Verhausschweinung" schreibt Kubitschek: "Wie sehr wünschte man sich, dass jeder eigenhändig mit der Saufeder ein Wildschwein zu erlegen hätte, bevor er - eingewickelt in eine Verdi-Tüte und mit fettem Gesicht - für acht Prozent mehr Lohn in seine Trillerpfeife grunzt." Bevor zu Recht erboste Gewerkschafter nun zu tippen beginnen, ein Hinweis: Die Kommentarfunktion der Seite ist stark beschränkt. Er habe "keine Lust auf Foren-Trolle", sagt Kubitschek. Vielleicht fürchtet er auch nur, dass seine Anhänger ungefiltert gar nicht mehr so "wahr, gut und schön" aussehen. MARC FELIX SERRAO

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Vorwitzige Inselmänner

Cagliaris junge Mannschaft feiert einen epochalen 3:2-Sieg bei Juventus Turin

Rom - Es soll Fans von Cagliari Calcio geben, die in vergangenen Zeiten zu Juventus-Anhängern mutierten, aus Selbsterhaltungstrieb und in stiller Verzweiflung. Eine ganze Generation von Sarden hat ihre Inselmannschaft niemals in Turin gewinnen sehen, zuletzt gelang das mit dem großen Gigi Riva vor 41 Jahren. Weil Cagliari nach dem einzigen Titelgewinn 1970 zur Fahrstuhlmannschaft degeneriert war, Gastspiel in der dritten Liga nicht ausgeschlossen, schienen die Gäste aus Sardinien eine leichte Beute für den Rekordmeister abzugeben. Juventus war noch vor einer Woche wenigstens für einen Tag gleichauf mit Tabellenführer Inter Mailand gewesen, hatte aber mit der Niederlage gegen Udine zur Wochenmitte einen Rückschlag erlitten, den es jetzt unbedingt auszuwetzen galt.

Sicher, Cagliari hatte kürzlich Lazio Rom mit einem 4:1 vom Platz gefegt und sich gegen den AS Rom und Inter achtbar geschlagen. Aber vorwitzige Provinzmannschaften von diesem Schlag pflegte die alte Dame Juventus auf dem Weg nach oben ohne großes Palaver lässig zusammenzufalten. Früher einmal. Denn was die 20 000 Zuschauer (es eben bloß Cagliari) im Turiner Olympiastadion erlebten, war die Umkehrung der alten Fußballregel, nach der Juventus solche Kleinen mit wenig Kraftaufwand und großer Seelenruhe erstickt wie eine Grüne Anakonda eine etwas zu wagemutige Maus. Darauf war die Juve auch diesmal eingestellt - und erlebte ein Fiasko. Cagliari blieb so unbeschwert, so unbeeindruckt, so ungetrübt, dass die junge Mannschaft des 41-Jährigen Trainers Massimiliano Allegri das Team von Claudio Ranieri zum Schluss als schwerfällig, ausgelaugt und phantasielos demaskierte.

Nach einer Viertelstunde brachte Davide Biondini Cagliari in Führung, da strauchelte Juventus, fing sich vor der Pause jedoch in bewährter Manier. Mohamed Sissiko gelang in einer chaotischen Situation in Cagliaris Strafraum per Kopf der Ausgleich (31.), und nur sieben Minuten später kam der unverwüstliche Pavel Nedved und pflanzte den Ball mit 90 Stundenkilometern unhaltbar ins Tor von Federico Marchetti. 2:1 für Juventus, dabei hätte es aller Erfahrung nach bleiben können. Doch Cagliari spielte nach der Pause unverdrossen erfrischenden Kombinationsfußball und blitzschnelle Konter. Rasch gelang dem Brasilianer Jeda das 2:2, vorbei an einer verdutzten Juve-Abwehr und an Gigi Buffon, der in den letzten beiden Begegnungen seinen Ersatzmann Alex Manninger vermissen ließ. So fahrig wie der Torwart, so zahnlos wie die verstörte Abwehr blieb die ganze Mannschaft; namentlich der Prosecco-Winzer Alessandro Del Piero verblasste im Champagnerfußball der Inselmänner. Nedved und der Brasilianer Amauri mühten sich vergebens. In der 78. Minute kam der gerade eingewechselte Alessandro Matri und brachte die Handvoll Cagliari-Fans im Turiner Olympiastadion zur Raserei: Mit 2:3 musste sich Juventus einer Mannschaft geschlagen geben, deren Topverdiener Daniele Conti, Sohn des Weltmeisters Bruno Conti, 350 000 Euro im Jahr bekommt.

So gesehen war es ein epochaler Abend. Mit gekonnter Nonchalance versetzte Cagliaris Besitzer, Getreidehändler Massimo Cellino, es täte ihm leid für Juve, aber er für seinen Teil werde nun beruhigt an seinen Wohnort Miami zurückfliegen. Miami! Zurück bleiben Cagliaris Glanz und Gloria. Wie viele angebliche Juve-Fans sich am letzten Januartag ihrer Tarnkappen entledigten - man wird es wohl nie erfahren. Birgit Schönau

Sie wenden sich mit Grausen ab: Die Juve-Spieler Amauri (l.) und Alessandro Del Piero wollen nicht sehen, wie die Gegner aus Cagliari feiern. Photo: AP

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Der echte Darwin

Warum Evolution nicht im Widerspruch zur Religion steht

Um die wahre Größe der von Charles Darwin angestoßenen Umwälzungen zu erkennen, hilft nicht nur der Blick auf das, was der britische Naturforscher entdeckt und gedacht hat. Ebenso wertvoll ist es zu verstehen, was Darwin nicht getan hat. Kaum eine wissenschaftliche Erkenntnis ist in den 150 Jahren nach ihrer Veröffentlichung derart von Missverständnissen und auch böswilligen Verfremdungen begleitet worden wie die Evolutionslehre Darwins. Viel Falsches ist darüber zu hören, zum Beispiel dass der Stärkere im Selektionskampf obsiege. Auch hat Darwin, anders als der Titel seines im November 1859 erschienenen Hauptwerks "Über die Entstehung der Arten" nahelegt, nicht den Ursprung des Lebens erklärt. Doch das größte aller Missverständnisse rund um Charles Darwin betrifft das Verhältnis seiner Erkenntnisse zur Religion.

Anders als oft behauptet wird, ist die Evolutionslehre nicht geeignet, einen fundierten Schöpfungsglauben zu widerlegen. Zweifellos stehen Darwins Erkenntnisse in krassem Widerspruch zu einem naiven Gottesbild, in dem der Schöpfer wie eine Art Handwerker pausenlos an jeder Weggabelung der biologischen Artenbildung Hand anlegt. Die Vorstellung eines über Milliarden Jahre hinweg vor sich hin bastelnden Schöpfers ist aber auch unvereinbar mit einem modernen aufgeklärten Theismus. Wer versucht, Gottes Werk in jeder Flagelle eines Darmbakteriums zu finden, der reduziert den vermeintlich allmächtigen Schöpfer auf allzu menschliche Dimensionen.

Die Evolution der Lebewesen auf dem Planeten Erde ähnelt einem gewaltigen Feuerwerk. Charles Darwin hat dabei erkannt, nach welchen Mechanismen die Funken fliegen. Ob die ganze Sache am Anfang von einem Schöpfer entzündet wurde oder lediglich eine Folge universaler Naturgesetze ist, ist eine andere, dem menschlichen Erkenntnisdrang grundsätzlich nicht zugängliche Frage.

Mit Skepsis ist daher Extremisten beider Fraktionen zu begegnen. Den Darwinisten, wenn sie so wie der Brite Richard Dawkins meinen, aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Existenz Gottes widerlegen zu können. Und den Kreationisten, weil sie krampfhaft versuchen, Gott in ein Korsett zu zwängen, das für einen allmächtigen Schöpfer zu klein ist. Gott steht als Verborgener jenseits unserer Fassungskraft, erkannte schon im 15. Jahrhundert der Philosoph und Theologe Nicolaus Cusanus.

Zum Wesen der Naturwissenschaften gehört, dass jede Theorie, auch die Evolutionslehre, sich eines Tages lediglich als Oberfläche einer weiteren, tiefer gehenden wissenschaftlichen Erkenntnis erweist. So wie Newtons Gravitationsgesetze, die im Grunde nur ein Spezialfall der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein sind. Doch eine Hinterlassenschaft Darwins wird bleiben. Er hat alle Lebewesen auf dem Planeten Erde zu einer biologischen Gemeinschaft verschmolzen. Eine Erkenntnis, die heute auch von der erst nach Darwin entwickelten Genetik klar bestätigt wird. Mit der Evolutionslehre ist der Mensch von der "Krone der Schöpfung" zur Spezies geworden. Das ist für viele Exemplare des Homo sapiens eine nicht zu überwindende Kränkung. Aber warum eigentlich? Warum schmälert es das Selbstwertgefühl, wenn Schimpansen und Menschen gemeinsame Vorfahren haben und 50 Prozent der menschlichen Gene auch im Fadenwurm zu finden sind? Auch wer Hubschrauber baut, Opern komponiert und Zeitungen druckt, muss erst noch beweisen, dass er auf diesem Planeten länger durchhält als Bakterien oder Wespen.

Statt die eigenen anthropozentrischen Reflexe mit pseudowissenschaftlichen Argumenten gegen die Evolutionslehre zu befriedigen, sollten wir Menschen lieber versuchen, die aus der Vernunft geborenen Erkenntnisse Darwins zum eigenen Vorteil zu nutzen. Das Wissen um die Dynamik im Überlebenskampf der Arten sollte uns helfen, die Spezies Mensch mit dem Lebensraum Erde in Einklang zu bringen. Die hemmungslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Vernichtung der Lebensräume anderer Arten wird sich auf Dauer nicht als Überlebensvorteil der Spezies Homo sapiens erweisen. Diese aus der Evolutionslehre folgende Einsicht macht die Entdeckungen des Charles Darwin so wertvoll. PATRICK ILLINGER

SZ-Serie Charles Darwin und die Evoliution SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Berliner Luft

Der geplante Umzug von Berlin nach München könnte für den Fernsehsender Sat 1 teurer werden als gedacht. Offenbar sind nur zwischen zehn und 20 Prozent der betroffenen Mitarbeiter dazu bereit, ihren Lebensmittelpunkt für die Firma zu verlegen. Dadurch würde wohl auch die Gesamtsumme der Abfindungen steigen, die das Unternehmen jenen Mitarbeitern zahlen müsste, die nicht umziehen wollen. Von der Verlegung des Sendersitzes sind insgesamt 350 Mitarbeiter betroffen. SZ

SAT 1 Satelliten Fernsehen GmbH: Umzug SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der zaghafte Revolutionär

Zunächst tat sich Charles Darwin schwer mit seiner Evolutionstheorie - heute ist sie das Fundament der Biologie

Seinen Geburtstag, den 12. Februar, hat Charles Darwin nie besonders wichtig genommen. Auf seiner Weltreise mit dem Forschungsschiff Beagle verbringt er ihn im Jahr 1832 seekrank in seiner Koje, ankert an diesem Datum in den folgenden Jahren zweimal vor Feuerland, reitet zu Pferd durch Chile und später durch Australien. In keinem Fall erwähnt er den besonderen Tag in Tagebuch oder Briefen. Als ihm seine Schwester Susan zum 25. Geburtstag gratuliert und schreibt, er solle doch eigentlich zum Plumpudding zuhause sein, reagiert der Naturforscher nicht einmal auf den Glückwünsch - falls der Brief ihn überhaupt erreicht hat.

Später, zurück in England, korrespondiert er an einem 12. Februar mit einem Kollegen über den Erwerb versteinerter Knochen. An einem anderen Geburtstag verpackt er Gesteinsproben aus Australien für einen Wissenschaftler in Manchester. Wiederum einige Jahre später beschreibt er einem Naturforscher in Newcastle-upon-Tyne in großem Detail die Anatomie des Rankenfuß-Krebses Alcippe. Charakteristisch für Darwin ist insbesondere der 12. Februar 1859. Wegen seines Darmleidens, das ihn seit Jahrzehnten quält, ist er zur Kur nach Moor Park in der Grafschaft Surrey gefahren. Per Brief meldet er sich bei einem alten Freund und erzählt, er habe nur noch zwei Kapitel in seinem Buch zu schreiben. En passant erwähnt er, dass seine Familie gerade andere Verwandte besuche. Es ist sein 50. Geburtstag.

Welch ein Kontrast zu 2009! Darwins 200. Geburtstag wird auf der ganzen Welt gefeiert. Es gibt Festsymposien in Nairobi, Sevilla, Mexiko und Bangladesch. Die Webseite darwin-jahr.de listet 21 Veranstaltungen in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg auf. In Prag lädt die Britische Handelskammer zum Galadiner, in Bishops Mills (Kanada) findet das "Phylum Feast" statt: Seine Besucher sollen unter Angabe der wissenschaftlichen Namen aus möglichst vielen verschiedenen Organismen schmackhaftes Essen zubereiten. Naturkunde-Museen in New York, London und Berlin haben Sonder-Ausstellungen vorbereitet. Es gibt Vorträge in Chon Buri (Thailand), Sydney, Mendoza (Argentinien), Nürnberg und auf einem Science-Fiction-Kongress in Hunt Valley (USA). In Houston schließlich feiern Wissenschaftler "Abe and Chuck's Birthday Party" - auch Abraham Lincoln wurde am 12. Februar 1809 geboren.

Der Bogen der Festivitäten erstreckt sich bis in den Herbst, denn am 24. November jährt sich zum 150. Mal das Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Über die Entstehung der Arten". Das Buch gilt heute als Grundlage der Evolutionstheorie, die Darwins Namen zu einem globalen Symbol gemacht hat wie Cäsar, Kolumbus und Einstein. Die Evolutionstheorie ist heute die unumstrittene Basis aller Lebenswissenschaften. "Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution", hat 1973 Theodosius Dobzhansky gesagt, der unter anderem an der Columbia University in New York lehrte und einer der prominentesten Biologen des 20. Jahrhunderts war. Ernst Mayr, Deutscher mit Lehrstuhl in Harvard, pflichtete in seinem letzten Buch 2005 bei, Darwins Werk sei "der vielleicht größte geistige Umbruch in der Menschheitsgeschichte". Und Axel Meyer von der Universität Konstanz, ergänzt: "Die Evolution ist das Fundament der gesamten Biologie und gleichzeitig der Zement, der alle Erkenntnisse aller biologischen Teildisziplinen lückenlos zusammenhält." 

Die Biologen waren und sind so begeistert, weil die Evolutionstheorie den Schlüssel zum Verständnis der enormen biologischen Vielfalt auf der Erde enthält. Sie zeigt auf, warum Giraffe und Maus gleich viele Halswirbel haben, warum der Aids-Erreger ein so erfolgreicher Organismus ist, warum sich der Knochenbau von Delfinflosse und Fledermausflügel ähnelt, warum sich Fische in isolierten Seen in zwei Arten aufspalten und sich Bienen und Blumen zum beiderseitigen Nutzen einander anpassen. "Wir können verstehen, warum die Natur verschwenderisch in der Vielfalt, aber knausrig in der Neuerung ist", schrieb Darwin über seine Erkenntnisse.

In den Kern des Gedankengebäudes hat der Naturforscher die "natürliche Auswahl" gestellt. Die ganze Tier- und Pflanzenwelt ist einem ständigen Kampf um das Dasein ausgesetzt, wie Darwin auf seiner Reise mit der Beagle und nach Lektüre eines berühmten Essays des Ökonomen Thomas Malthus erkannte. Die meisten Lebewesen haben so viel Nachwuchs, dass nicht alle genug Futter finden oder Räubern entkommen. Nur gut an die Umstände angepasste Individuen schaffen es, Sprösslinge zu zeugen, die ihrerseits große Lebenschancen haben. Evolutionärer Erfolg bedeutet, Enkel zu haben.

Nun zeigt der Nachwuchs von Lebewesen oft zufällige, kleine Abweichungen von Körperbau oder Verhalten ihrer Eltern. Viele dieser Variationen bedeuten einen Nachteil, ihre Träger sterben früher oder haben weniger Nachwuchs. In einigen Fällen aber ist die Veränderung ein Vorteil. Tiere wehren sich besser gegen Feinde oder sind attraktiver für Sexualpartner, Pflanzen wachsen in anderen Regionen. Sie können das neue Merkmal an mehr Nachkommen weitergeben als unveränderte Artgenossen.

Die Natur selbst wählt also im Laufe der Zeit zwischen den Varianten aus. Über tausende von Generationen können sich Spezies so aufspalten und stark verändern. Arten, die aufeinander angewiesen sind, entwickeln sich parallel oder gehen beide zugrunde. Krankheitserreger lernen, die Abwehr ihrer Wirte zu unterlaufen. Einmal bewährte Prinzipien wie den Knochenbau einer Extremität gibt die Evolution nicht auf, sondern passt sie neuen Erfordernissen an.

Die Frage, wie die Vielfalt der Natur zu erklären sei, bewegte zu Darwins Zeit viele Forscher. Er selbst listet 34 Vorgänger auf, die an eine "Modifikation der Arten" glaubten. Darunter der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck: Seiner These von 1809 zufolge geben Tiere Eigenschaften weiter, die sie während ihres Lebens erworben waren. Die Giraffe reckt ihren Hals nach Blättern und bekommt darum Kälber mit verlängertem Hals. Darwin erklärt es anders. Die Nachkommen, die zufällig einen längeren Hals haben, sind erfolgreicher. Die anderen sterben aus. Er lehnt das Zielhafte ab, das Lamarck postulierte: Seine Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch.

Den Grundgedanken seiner Theorie hatte Darwin Ende der 1830er-, Anfang der 1840er-Jahre gefasst. Das berühmteste Beispiel dafür sind die heute Darwin-Finken genannten Vögel, die der Naturforscher im September 1835 auf Galapagos vorfand. Entgegen der populären Legende bescherten sie ihm dort keinen Heureka-Moment. Mehr aus Pflichtgefühl erlegte er zwei Dutzend der Tiere, beschriftete sie schlampig und vergaß sie dann. Zurück in London überließ er sie einem Freund, der ihn darauf hinwies, was er da mitgebracht habe: 13 verwandte Arten, aber mit fein abgestuften Schnäbeln, die damit Nüsse knackten, Insekten aus Ästen zogen oder Parasiten von der Haut der Galapagos-Echsen pickten.

In seinem Reisebericht "Die Fahrt der Beagle" verknüpft Darwin 1844 neue Erkenntnis und ursprüngliches Erlebnis: "Wenn man die Diversität in einer kleinen, eng verwandten Gruppe von Vögeln sieht, könnte man sich vorstellen, dass aus einem anfänglichen Mangel an Vögeln auf diesem Archipel eine Spezies herausgegriffen und für verschiedene Zwecke modifiziert worden ist."

Mehr schreibt oder veröffentlicht Darwin dazu vorerst nicht. Ein 35-Seiten-Essay von 1842 verschwindet genauso in der Schublade wie ein Manuskript von 230 Seiten zwei Jahre später. Darwin zögert, will noch mehr Belege und Beispiele sammeln und fürchtet die Reaktion der frommen viktorianischen Zeitgenossen. An seiner tiefgläubigen Ehefrau Emma Wedgwood kann er die Reaktion ahnen, obwohl er selbst seine Theorie nicht als Kampfansage an die Religion versteht.

Derart befangen braucht Darwin einen Anstoß, um sein Buch zu schreiben. Diesen versetzt ihm ein Brief, den er im Sommer 1858 von der indonesischen Insel Ternate erhält. Ein jüngerer Naturforscher namens Alfred Russel Wallace hat seine eigene Evolutionstheorie aufgeschrieben und schickt sie an Darwin zur Beurteilung. Darwin gerät in einen moralischen Konflikt, will nun gar nichts mehr publizieren, damit niemand denken möge, er habe Wallace übervorteilt. Einflussreiche Freunde arrangieren jedoch binnen Wochen einen Termin im Forscherclub Linnean Society und verlesen Auszüge aus Darwins Manuskript von 1844 sowie aus dem Schreiben von Wallace. Die gemeinsame Veröffentlichung rettet Darwin um Haaresbreite den Vortritt; der Naturforscher macht sich nun mit Eifer daran, die "Entstehung der Arten" zu schreiben.

Als das Buch erscheint, ist es eine Sensation - es allein ist der Grund, warum die Geschichte Darwin so viel höher achtet als Wallace. Vielen Kollegen öffnet Darwin die Augen. Andere verreißen das Werk, auch viele Theologen. Besonders die Ausdehnung der Theorie auf den Menschen schockiert Zeitgenossen; plötzlich haben sie Verwandte bei den Affen. Darwin wird in Karikaturen als Schimpanse mit weißem Rauschebart gezeigt. Doch in Großbritannien legt sich der Protest bald; 1865 ist Evolution Prüfungswissen an der Universität Cambridge.

In den USA aber formt sich die Bewegung des Kreationismus, die den puristischen Schöpfungsglauben bewahren will. Sie stempelt Darwins Lehre zum Darwinismus und setzt ihn mit Atheismus gleich. Es sind die Kirchenleute, die die Evolutionstheorie als unvereinbar mit Gottesglauben darstellen, nicht Wissenschaftler. Bis heute hat diese fundamentale Opposition gegen Darwin tiefe Wurzeln in der amerikanischen Bevölkerung. In Umfragen äußern fast zwei Drittel Zweifel oder Ablehnung gegen die Lehre von der Veränderung der Arten.

Dazu hat sicherlich beigetragen, dass einige Nachfolger Darwins der Evolutionslehre martialische Untertöne gaben. Er selbst machte sich 1869 den vom Philosophen Herbert Spencer geprägten Begriff vom "Überleben des Stärksten" (eigentlich: "survival of the fittest") zu eigen. Darauf stützten sich die sogenannten Sozialdarwinisten, um eine Ellbogengesellschaft ohne Mitgefühl für die Schwächsten zu propagieren. Für Menschen, die den Glauben als Auftrag zur Nächstenliebe verstehen, verstärkte das die Abneigung gegen Darwins Lehre.

In der Wissenschaft aber ist der Siegeszug ungebremst. Die ersten empirischen Ergebnisse, die Darwins Gedankengebäude hätten stützen können, gehen an dem Naturforscher allerdings vorbei: 1856 hatten Arbeiter im Neandertal bei Düsseldorf die Knochen von Urmenschen entdeckt. Und im Februar 1865 berichtet der Augustinermönch Gregor Mendel vor dem Naturforschenden Verein im böhmischen Brünn über seine Entdeckungen in der Vererbungslehre. Diese waren der Beginn der heutigen Genetik, die Darwins Evolution bestätigt und antreibt. Erst im 20. Jahrhundert führten Biologen wie Dobzhansky und Mayr beide Wissensgebiete zusammen und legten damit die Basis der modernen Biologie.

Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung 1976, als der Brite Richard Dawkins sein Buch "Das egoistische Gen" veröffentlicht. Er stellt darin die einzelne Erbanlage als eigentlichen Ansatzpunkt der Evolution dar. Sie ist dann erfolgreich, wenn sie möglichst viele Kopien ihrer selbst in die Welt setzt; Körper und beim Menschen auch Geist sind nur Vehikel. Die radikale Position prägt schnell das Denken, löst aber auch Kritik aus. Vielen missfällt die Idee, der Mensch sei eine willenlose Überlebensmaschine für Gene, die auch sein Verhalten steuern. Das hat Dawkins zwar gar nicht so gesagt, aber die Verkürzung eignet sich prima, Opposition gegen die Evolutionslehre zu mobilisieren.

Die Kreationisten profitieren davon, dass Dawkins auch in der Wissenschaft umstritten ist. 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Buch gibt es viele Interpretationen der Theorie; die Denkschulen attackieren einander zum Teil heftig. Einige sehen in der Natur vor allem Konkurrenz am Werk, andere heben Kooperation hervor. Manche betonen das Zufällige an der Evolution, andere nehmen an, sie bevorzuge manche Pfade. Schließlich gibt es erstaunliche Parallelen in der Entwicklung grundverschiedener Organismen, zum Beispiel ist das Auge 40-mal entstanden.

Doch an Darwins Grundprinzipien äußert kein Forscher Zweifel: Die Veränderung der Arten und das Wirken der natürlichen Auslese haben sie überall in der Natur nachgewiesen. Auch wenn die Wissenschaft nicht jeden einzelnen Schritt von einer Urzelle zu Palmen, Störchen, Doktorfischen und Menschen nachzeichnen kann, ist kaum ein anderes wissenschaftliches Gedankengebäude derart umfassend durch Beobachtungen und Experimente abgesichert. Darwins Geburtstag nehmen die Biologen daher als willkommenen Anlass, dieses ordnende Grundprinzip ihrer Wissenschaft zu feiern. CHRISTOPHER SCHRADER

Die Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch

Kaum eine Theorie ist ähnlich gut belegt

Vor 200 Jahren wurde Charles Darwin geboren, vor 150 Jahren veröffentlichte

er sein Werk "Über die Entstehung der Arten". Seine Evolutionstheorie hat

Wissenschaft und Gesellschaft

entscheidend geprägt. Eine SZ-Serie

zeichnet diese Entwicklung nach.

Nur 30 Meter lang, aber ein Weltumsegler: die "Beagle", auf der Charles Darwin fünf Jahre lang unterwegs war Foto: picture-alliance / KPA/TopFoto

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"Das ist beschämend"

US-Präsident Obama giftet gegen die Bankmanager und ihre Boni - dahinter steckt politisches Kalkül

Von Moritz Koch

New York - Die Champagnerkorken an der Wall Street knallen wieder, wahrscheinlich aber knallen sie zum letzten Mal. Mit ihren hohen Bonuszahlungen hat sich die amerikanische Finanzbranche die scharfe Kritik von US-Präsident Barack Obama eingehandelt. Es gilt als sicher, dass die neue Regierung in den kommenden Monaten versuchen wird, Gehaltsexzesse gesetzlich zu verhindern.

Insgesamt strichen Manager und Händler der führenden US-Banken im vergangenen Jahr mehr als 18 Milliarden Dollar ein. Pro Kopf ergibt sich daraus eine Summe von etwa 100 000 Dollar. Dabei stand das amerikanische Finanzsystem wegen Fehlspekulationen und Rekordverlusten am Rand des Zusammenbruchs und hat das ganze Land in den Abgrund gerissen.

Die Wirtschaftsleistung schrumpfte zum Jahresende so stark wie seit 1982 nicht mehr. "Das ist der Gipfel der Unverantwortlichkeit", sagte Obama am Donnerstag im Weißen Haus. "Das ist beschämend." Der Ärger des Präsidenten hat einen einfachen Grund: Der Reibach für die Bankangestellten wurde von den amerikanischen Steuerzahlern mitbezahlt. Die US-Regierung hatte die taumelnden Finanzinstitute in den vergangenen Monaten mit 350 Milliarden Dollar gestützt. Ziel war es, die Kreditvergabe der Banken zu stimulieren. Doch statt es zu verleihen, schütteten die Banken Teile des Geldes an ihre ohnehin gutbezahlten Mitarbeiter aus. Die Bonuszahlungen für 2008 sanken zwar verglichen mit dem Vorjahr um etwa 40 Prozent. Dennoch waren sie die sechsthöchste Summe in der Geschichte der Wall Street.

In der amerikanischen Öffentlichkeit wächst die Wut über die Banker. Dreistigkeit und Verschwendungssucht wird ihnen vorgeworfen. Erst wurde bekannt, dass der frühere Merrill-Lynch-Chef John Thain mitten in der Finanzkrise sein Büro von einem Stararchitekten renovieren ließ. Kostenpunkt: 1,2 Millionen Dollar. Dann machte die Citigroup Schlagzeilen, die sich einen neuen, 50 Millionen Dollar teuren Firmenjet gönnen wollte - ausgerechnet jener Finanzkonzern, der schon zweimal den staatlichen Rettungsfonds anzapfen musste und dem die Zentralbank Risiken in dreistelliger Milliardenhöhe abnehmen musste, um dessen Insolvenz zu verhindern.

Thain hat inzwischen angekündigt, die Renovierungskosten selbst zu begleichen, und die Citigroup will auf den neuen Jet verzichten. Dennoch bleibt der Eindruck von der Maß- und Taktlosigkeit der Bankmanager. Für Obamas Regierung wird es damit immer schwerer, Öffentlichkeit und Kongress zu überzeugen, dem Finanzsystem weiter zu helfen.

Ende der Geduld

Noch stehen Obama 350 Milliarden Dollar zur Verfügung, die zweite Tranche des staatlichen Rettungsfonds. Doch Experten sind der Meinung, dass weit mehr Geld nötig ist, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Dann etwa, wenn Obama die Pläne zur Gründung einer "Bad Bank" umsetzt. Diese würde den Finanzfirmen faule Wertpapierpakete abkaufen und damit ihre Bilanzen von dem Giftmüll befreien, der es den Instituten so schwer macht, private Geldgeber zu finden.

Die beißende Kritik des Präsidenten entspringt daher auch einem politischen Kalkül. Obama macht deutlich, dass er einen Kollaps des Finanzsystems um jeden Preis verhindern will, dass seine Geduld mit den Eskapaden der Banker jedoch am Ende ist. So will er sich die Unterstützung der Öffentlichkeit und des Kongresses sichern, wenn weitere Milliarden bewilligt werden müssen. Finanzminister Timothy Geithner hat bereits klargestellt, dass eine strikte Begrenzung der Managergehälter Teil der angekündigten Reform des Rettungsfonds wird.

Auch eine Vollverstaatlichung des Bankensektors ist längst nicht mehr ausgeschlossen. Da nur noch der Staat bereit ist, im großem Stil in US-Banken zu investieren, wird die Regierung kaum umhinkommen, die Aktienmehrheit zu übernehmen, wenn sie weiteres Kapital in die maroden Institute pumpt. Als Eigentümer könnte der Staat Boni auch ohne neue Gesetze verhindern.

Derweil will der demokratische Senator Christopher Dodd die New Yorker Bankchefs nach Washington zitieren. Wenn Prämien direkt oder indirekt mit Staatshilfen finanziert wurden, "macht das die Amerikaner wütend und zwar zurecht", sagte er und forderte, dass jeder rechtliche Schritt ausgeschöpft werden müsse, um bereits gezahlte Boni zurückzuholen. Rechtsexperten geben einer solchen Initiative aber kaum eine Chance. Die Gesetze New Yorks sehen nur bei unterkapitalisierten Instituten Bonussperren vor. Die meisten Banken gelten jedoch als ausreichend kapitalisiert - dank der staatlichen Milliardenhilfen.

Händler an der Börse in New York sehen die Antrittsrede von Barack Obama: Der neue US-Präsident stört sich daran, dass die Chefs von Banken trotz der kritischen Situation, in der sich ihre Häuser befinden, Boni in Milliardenhöhe kassieren. Foto: AP

Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 Einkommen von Führungskräften in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vor 200 Jahren wurde Charles Darwin geboren, vor 150 Jahren veröffentlichte

er sein Werk "Über die Entstehung der Arten". Seine Evolutionstheorie hat

Wissenschaft und Gesellschaft

entscheidend geprägt. Eine SZ-Serie

zeichnet diese Entwicklung nach.

Der zaghafte Revolutionär

Zunächst tat sich Charles Darwin schwer mit seiner Evolutionstheorie - heute ist sie das Fundament der Biologie

Seinen Geburtstag, den 12. Februar, hat Charles Darwin nie besonders wichtig genommen. Auf seiner Weltreise mit dem Forschungsschiff Beagle verbringt er ihn im Jahr 1832 seekrank in seiner Koje, ankert an diesem Datum in den folgenden Jahren zweimal vor Feuerland, reitet zu Pferd durch Chile und später durch Australien. In keinem Fall erwähnt er den besonderen Tag in Tagebuch oder Briefen. Als ihm seine Schwester Susan zum 25. Geburtstag gratuliert und schreibt, er solle doch eigentlich zum Plumpudding zuhause sein, reagiert der Naturforscher nicht einmal auf den Glückwünsch - falls der Brief ihn überhaupt erreicht hat.

Später, zurück in England, korrespondiert er an einem 12. Februar mit einem Kollegen über den Erwerb versteinerter Knochen. An einem anderen Geburtstag verpackt er Gesteinsproben aus Australien für einen Wissenschaftler in Manchester. Wiederum einige Jahre später beschreibt er einem Naturforscher in Newcastle-upon-Tyne in großem Detail die Anatomie des Rankenfuß-Krebses Alcippe. Charakteristisch für Darwin ist insbesondere der 12. Februar 1859. Wegen seines Darmleidens, das ihn seit Jahrzehnten quält, ist er zur Kur nach Moor Park in der Grafschaft Surrey gefahren. Per Brief meldet er sich bei einem alten Freund und erzählt, er habe nur noch zwei Kapitel in seinem Buch zu schreiben. En passant erwähnt er, dass seine Familie gerade andere Verwandte besuche. Es ist sein 50. Geburtstag.

Welch ein Kontrast zu 2009! Darwins 200. Geburtstag wird auf der ganzen Welt gefeiert. Es gibt Festsymposien in Nairobi, Sevilla, Mexiko und Bangladesch. Die Webseite darwin-jahr.de listet 21 Veranstaltungen in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg auf. In Prag lädt die Britische Handelskammer zum Galadiner, in Bishops Mills (Kanada) findet das "Phylum Feast" statt: Seine Besucher sollen unter Angabe der wissenschaftlichen Namen aus möglichst vielen verschiedenen Organismen schmackhaftes Essen zubereiten. Naturkunde-Museen in New York, London und Berlin haben Sonder-Ausstellungen vorbereitet. Es gibt Vorträge in Chon Buri (Thailand), Sydney, Mendoza (Argentinien), Nürnberg und auf einem Science-Fiction-Kongress in Hunt Valley (USA). In Houston schließlich feiern Wissenschaftler "Abe and Chuck's Birthday Party" - auch Abraham Lincoln wurde am 12. Februar 1809 geboren.

Der Bogen der Festivitäten erstreckt sich bis in den Herbst, denn am 24. November jährt sich zum 150. Mal das Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Über die Entstehung der Arten". Das Buch gilt heute als Grundlage der Evolutionstheorie, die Darwins Namen zu einem globalen Symbol gemacht hat wie Cäsar, Kolumbus und Einstein. Die Evolutionstheorie ist heute die unumstrittene Basis aller Lebenswissenschaften. "Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution", hat 1973 Theodosius Dobzhansky gesagt, der unter anderem an der Columbia University in New York lehrte und einer der prominentesten Biologen des 20. Jahrhunderts war. Ernst Mayr, Deutscher mit Lehrstuhl in Harvard, pflichtete in seinem letzten Buch 2005 bei, Darwins Werk sei "der vielleicht größte geistige Umbruch in der Menschheitsgeschichte". Und Axel Meyer von der Universität Konstanz, ergänzt: "Die Evolution ist das Fundament der gesamten Biologie und gleichzeitig der Zement, der alle Erkenntnisse aller biologischen Teildisziplinen lückenlos zusammenhält." 

Die Biologen waren und sind so begeistert, weil die Evolutionstheorie den Schlüssel zum Verständnis der enormen biologischen Vielfalt auf der Erde enthält. Sie zeigt auf, warum Giraffe und Maus gleich viele Halswirbel haben, warum der Aids-Erreger ein so erfolgreicher Organismus ist, warum sich der Knochenbau von Delfinflosse und Fledermausflügel ähnelt, warum sich Fische in isolierten Seen in zwei Arten aufspalten und sich Bienen und Blumen zum beiderseitigen Nutzen einander anpassen. "Wir können verstehen, warum die Natur verschwenderisch in der Vielfalt, aber knausrig in der Neuerung ist", schrieb Darwin über seine Erkenntnisse.

In den Kern des Gedankengebäudes hat der Naturforscher die "natürliche Auswahl" gestellt. Die ganze Tier- und Pflanzenwelt ist einem ständigen Kampf um das Dasein ausgesetzt, wie Darwin auf seiner Reise mit der Beagle und nach Lektüre eines berühmten Essays des Ökonomen Thomas Malthus erkannte. Die meisten Lebewesen haben so viel Nachwuchs, dass nicht alle genug Futter finden oder Räubern entkommen. Nur gut an die Umstände angepasste Individuen schaffen es, Sprösslinge zu zeugen, die ihrerseits große Lebenschancen haben. Evolutionärer Erfolg bedeutet, Enkel zu haben.

Nun zeigt der Nachwuchs von Lebewesen oft zufällige, kleine Abweichungen von Körperbau oder Verhalten ihrer Eltern. Viele dieser Variationen bedeuten einen Nachteil, ihre Träger sterben früher oder haben weniger Nachwuchs. In einigen Fällen aber ist die Veränderung ein Vorteil. Tiere wehren sich besser gegen Feinde oder sind attraktiver für Sexualpartner, Pflanzen wachsen in anderen Regionen. Sie können das neue Merkmal an mehr Nachkommen weitergeben als unveränderte Artgenossen.

Die Natur selbst wählt also im Laufe der Zeit zwischen den Varianten aus. Über tausende von Generationen können sich Spezies so aufspalten und stark verändern. Arten, die aufeinander angewiesen sind, entwickeln sich parallel oder gehen beide zugrunde. Krankheitserreger lernen, die Abwehr ihrer Wirte zu unterlaufen. Einmal bewährte Prinzipien wie den Knochenbau einer Extremität gibt die Evolution nicht auf, sondern passt sie neuen Erfordernissen an.

Die Frage, wie die Vielfalt der Natur zu erklären sei, bewegte zu Darwins Zeit viele Forscher. Er selbst listet 34 Vorgänger auf, die an eine "Modifikation der Arten" glaubten. Darunter der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck: Seiner These von 1809 zufolge geben Tiere Eigenschaften weiter, die sie während ihres Lebens erworben waren. Die Giraffe reckt ihren Hals nach Blättern und bekommt darum Kälber mit verlängertem Hals. Darwin erklärt es anders. Die Nachkommen, die zufällig einen längeren Hals haben, sind erfolgreicher. Die anderen sterben aus. Er lehnt das Zielhafte ab, das Lamarck postulierte: Seine Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch.

Den Grundgedanken seiner Theorie hatte Darwin Ende der 1830er-, Anfang der 1840er-Jahre gefasst. Das berühmteste Beispiel dafür sind die heute Darwin-Finken genannten Vögel, die der Naturforscher im September 1835 auf Galapagos vorfand. Entgegen der populären Legende bescherten sie ihm dort keinen Heureka-Moment. Mehr aus Pflichtgefühl erlegte er zwei Dutzend der Tiere, beschriftete sie schlampig und vergaß sie dann. Zurück in London überließ er sie einem Freund, der ihn darauf hinwies, was er da mitgebracht habe: 13 verwandte Arten, aber mit fein abgestuften Schnäbeln, die damit Nüsse knackten, Insekten aus Ästen zogen oder Parasiten von der Haut der Galapagos-Echsen pickten.

In seinem Reisebericht "Die Fahrt der Beagle" verknüpft Darwin 1844 neue Erkenntnis und ursprüngliches Erlebnis: "Wenn man die Diversität in einer kleinen, eng verwandten Gruppe von Vögeln sieht, könnte man sich vorstellen, dass aus einem anfänglichen Mangel an Vögeln auf diesem Archipel eine Spezies herausgegriffen und für verschiedene Zwecke modifiziert worden ist."

Mehr schreibt oder veröffentlicht Darwin dazu vorerst nicht. Ein 35-Seiten-Essay von 1842 verschwindet genauso in der Schublade wie ein Manuskript von 230 Seiten zwei Jahre später. Darwin zögert, will noch mehr Belege und Beispiele sammeln und fürchtet die Reaktion der frommen viktorianischen Zeitgenossen. An seiner tiefgläubigen Ehefrau Emma Wedgwood kann er die Reaktion ahnen, obwohl er selbst seine Theorie nicht als Kampfansage an die Religion versteht.

Derart befangen braucht Darwin einen Anstoß, um sein Buch zu schreiben. Diesen versetzt ihm ein Brief, den er im Sommer 1858 von der indonesischen Insel Ternate erhält. Ein jüngerer Naturforscher namens Alfred Russel Wallace hat seine eigene Evolutionstheorie aufgeschrieben und schickt sie an Darwin zur Beurteilung. Darwin gerät in einen moralischen Konflikt, will nun gar nichts mehr publizieren, damit niemand denken möge, er habe Wallace übervorteilt. Einflussreiche Freunde arrangieren jedoch binnen Wochen einen Termin im Forscherclub Linnean Society und verlesen Auszüge aus Darwins Manuskript von 1844 sowie aus dem Schreiben von Wallace. Die gemeinsame Veröffentlichung rettet Darwin um Haaresbreite den Vortritt; der Naturforscher macht sich nun mit Eifer daran, die "Entstehung der Arten" zu schreiben.

Als das Buch erscheint, ist es eine Sensation - es allein ist der Grund, warum die Geschichte Darwin so viel höher achtet als Wallace. Vielen Kollegen öffnet Darwin die Augen. Andere verreißen das Werk, auch viele Theologen. Besonders die Ausdehnung der Theorie auf den Menschen schockiert Zeitgenossen; plötzlich haben sie Verwandte bei den Affen. Darwin wird in Karikaturen als Schimpanse mit weißem Rauschebart gezeigt. Doch in Großbritannien legt sich der Protest bald; 1865 ist Evolution Prüfungswissen an der Universität Cambridge.

In den USA aber formt sich die Bewegung des Kreationismus, die den puristischen Schöpfungsglauben bewahren will. Sie stempelt Darwins Lehre zum Darwinismus und setzt ihn mit Atheismus gleich. Es sind die Kirchenleute, die die Evolutionstheorie als unvereinbar mit Gottesglauben darstellen, nicht Wissenschaftler. Bis heute hat diese fundamentale Opposition gegen Darwin tiefe Wurzeln in der amerikanischen Bevölkerung. In Umfragen äußern fast zwei Drittel Zweifel oder Ablehnung gegen die Lehre von der Veränderung der Arten.

Dazu hat sicherlich beigetragen, dass einige Nachfolger Darwins der Evolutionslehre martialische Untertöne gaben. Er selbst machte sich 1869 den vom Philosophen Herbert Spencer geprägten Begriff vom "Überleben des Stärksten" (eigentlich: "survival of the fittest") zu eigen. Darauf stützten sich die sogenannten Sozialdarwinisten, um eine Ellbogengesellschaft ohne Mitgefühl für die Schwächsten zu propagieren. Für Menschen, die den Glauben als Auftrag zur Nächstenliebe verstehen, verstärkte das die Abneigung gegen Darwins Lehre.

In der Wissenschaft aber ist der Siegeszug ungebremst. Die ersten empirischen Ergebnisse, die Darwins Gedankengebäude hätten stützen können, gehen an dem Naturforscher allerdings vorbei: 1856 hatten Arbeiter im Neandertal bei Düsseldorf die Knochen von Urmenschen entdeckt. Und im Februar 1865 berichtet der Augustinermönch Gregor Mendel vor dem Naturforschenden Verein im böhmischen Brünn ber seine Entdeckungen in der Vererbungslehre. Diese waren der Beginn der heutigen Genetik, die Darwins Evolution bestätigt und antreibt. Erst im 20. Jahrhundert führten Biologen wie Dobzhansky und Mayr beide Wissensgebiete zusammen und legten damit die Basis der modernen Biologie.

Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung 1976, als der Brite Richard Dawkins sein Buch "Das egoistische Gen" veröffentlicht. Er stellt darin die einzelne Erbanlage als eigentlichen Ansatzpunkt der Evolution dar. Sie ist dann erfolgreich, wenn sie möglichst viele Kopien ihrer selbst in die Welt setzt; Körper und beim Menschen auch Geist sind nur Vehikel. Die radikale Position prägt schnell das Denken, löst aber auch Kritik aus. Vielen missfällt die Idee, der Mensch sei eine willenlose Überlebensmaschine für Gene, die auch sein Verhalten steuern. Das hat Dawkins zwar gar nicht so gesagt, aber die Verkürzung eignet sich prima, Opposition gegen die Evolutionslehre zu mobilisieren.

Die Kreationisten profitieren davon, dass Dawkins auch in der Wissenschaft umstritten ist. 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Buch gibt es viele Interpretationen der Theorie; die Denkschulen attackieren einander zum Teil heftig. Einige sehen in der Natur vor allem Konkurrenz am Werk, andere heben Kooperation hervor. Manche betonen das Zufällige an der Evolution, andere nehmen an, sie bevorzuge manche Pfade. Schließlich gibt es erstaunliche Parallelen in der Entwicklung grundverschiedener Organismen, zum Beispiel ist das Auge 40-mal entstanden.

Doch an Darwins Grundprinzipien äußert kein Forscher Zweifel: Die Veränderung der Arten und das Wirken der natürlichen Auslese haben sie überall in der Natur nachgewiesen. Auch wenn die Wissenschaft nicht jeden einzelnen Schritt von einer Urzelle zu Palmen, Störchen, Doktorfischen und Menschen nachzeichnen kann, ist kaum ein anderes wissenschaftliches Gedankengebäude derart umfassend durch Beobachtungen und Experimente abgesichert. Darwins Geburtstag nehmen die Biologen daher als willkommenen Anlass, dieses ordnende Grundprinzip ihrer Wissenschaft zu feiern. CHRISTOPHER SCHRADER

Die Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch

Kaum eine Theorie ist ähnlich gut belegt

Nur 30 Meter lang, aber ein Weltumsegler: die "Beagle", auf der Charles Darwin fünf Jahre lang unterwegs war Foto: picture-alliance / KPA/TopFoto

Darwin, Charles Robert Evolutionstheorien SZ-Serie Charles Darwin und die Evoliution SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Berührbaren

Handys mit Touchscreen sind in Mode. Doch bei den Herstellungskosten gibt es große Unterschiede - und damit beim Gewinn

Von Thorsten Riedl

München - Mobiltelefone sind heutzutage kleine Computer. In ihnen sind gleich mehrere Prozessoren, Sensoren, ein Akku, dazu oft ein berührungsempfindliches Display, eine Digitalkamera und natürlich Sende- und Empfangseinheiten verbaut. Das kostet. Und zwar genau 202,89 Dollar beim "Storm", dem neuesten Touchscreen-Handy von Research in Motion (RIM), Hersteller der E-Mail-Telefon-Multi-Organizers aus der Blackberry-Serie. Das Erstaunliche: Das Gerät kann nicht mehr als das iPhone von Apple, doch der Computerhersteller produziert sein Telefon etwa ein Siebtel billiger als RIM.

Das iPhone von Apple hat eine Reihe ähnlicher Geräte anderer Hersteller inspiriert: Ob Nokia, Samsung, Sony-Ericsson, HTC in Kooperation mit der Suchmaschine Google oder eben auch RIM, alle wollen am Erfolg und dem medialen Rauschen, das vom ersten Apple-Handy ausgelöst wurde, teilhaben. Doch nicht jedem gelingt das. Die ersten Kommentare zum Blackberry Storm waren vernichtend. "Es kommt mir vor wie ein Handy von Stephen King", schreibt ein Benutzer in einem Internetforum. "Es scheint besessen von seinem eigenen Willen." Die Kanadier hatten das Gerät zunächst mit unfertiger Software ausgeliefert. Das Storm ließ sich kaum bedienen. Inzwischen hat RIM nachgebessert. Vor wenigen Wochen meldete das Unternehmen daher bereits, das Weihnachtsgeschäft laufe bestens.

Der Blackberry Storm ist das erste Gerät von RIM ohne Tastatur, es wird wie das iPhone über das berührungsempfindliche Display bedient. Die Analysten des Marktforschungsinstituts iSuppli haben das neue Handy nun auseinandergenommen und den Preis der Teile addiert: Das Gerät besteht aus 1177 Komponenten, 151 davon mechanisch. Der Herstellungspreis - ohne Kosten für Marketing, Vertrieb oder Entwicklung - beträgt laut den Analysten knapp über 200 Dollar. Das iPhone von Apple dagegen kommt auf 1116 Einzelteile und kostet iSuppli zufolge nur 174 Dollar - und diese Summe bezog sich auf den vergangenen Sommer. Inzwischen dürften die Kosten wegen des Preisverfalls bei den Komponenten noch niedriger sein.

Pro verkauftem Gerät verdient der Computerhersteller Apple also deutlich mehr als sein Herausforderer. Trotzdem muss sich RIM nicht geschlagen geben: Während es vom iPhone nur ein Modell gibt, listen die Kanadier neun verschiedene Manager-Spielzeuge auf ihrer Seite auf. Zudem hat RIM weltweit deutlich mehr Mobilfunkgesellschaften als Vertriebspartner.

180 Euro mit Vertrag

In Deutschland gibt es den Blackberry Storm derzeit nur bei Vodafone. Damit wollen die Briten Boden gutmachen gegenüber T-Mobile, wo exklusiv das iPhone für deutsche Kunden zu haben ist. 180 Euro kostet der Storm mit Zwei-Jahres-Vertrag, also weniger als der Herstellungspreis. T-Mobile subventioniert das Apple-Handy noch deutlicher: Im vergleichbaren Tarif kostet es derzeit einen Euro. Von diesem Montag an wird auch das Google-Mobiltelefon erhältlich sein. Startpreis: ebenfalls ein Euro. Harte Konkurrenz für den Storm.

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Ludwig aus St. Louis

Swings, Kö-Flitzer, Schlurfs: Erinnerung an eine von den Nazis geächtete Jugendkultur (WDR)

Manche bestellten geriebene Karotten als Erkennungszeichen. Andere drehten an ihren Jackenknöpfen und bauten das Kopfmotiv aus Beethovens Fünfter in harmlose Liedchen ein. Wieder andere sangen das Lied vom traurigen Ludwig, und nur Eingeweihte wussten, dass es sich dabei um den St. Louis Blues handelte. Es waren allerlei Versteckspiele nötig, wenn man in den 30er- und 40er-Jahren seiner Vorliebe für amerikanische Musik frönen und Gleichgesinnte treffen wollte, wenn man in Düsseldorf ein Kö-Flitzer war, in Paris ein Zazou, in Tschechien ein Potapki oder in Wien ein Schlurf.

Wer Jazz mochte, war in jener Zeit ein Außenseiter, der bespitzelt wurde von braunen Aufpassern, die den Swing als "unkünstlerische Unterleibsmusik" oder "ekelerregende Negermusik" brandmarkten. Der Grund war ein offensichtlicher, denn das "hysterische Bläsergejaule" passte nicht zum Gleichschritt, den die Machthaber dem deutschen Volk verordneten. Der jüdische Jazzgitarrist Coco Schumann, der lange im KZ saß, kann an der Zählweise sehr schön den Unterschied zwischen den musikalischen Kulturen des Viervierteltakts erklären.

"Der Schwerpunkt beim Swing liegt auf zwei und vier, der Marsch ist auf eins und drei", erklärt er in der Dokumentation von Wolfgang Beyer und Monica Ladurner. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, ein Licht zu werfen auf die damals als Unkultur geschmähte Jugendbewegung. Sie sind nach Prag, Paris, Wien und in etliche deutsche Städte gereist und haben Spuren gesucht, die der Swing in den schweren Zeiten hinterlassen hat.

Sie zeichnen das Bild einer aufmüpfigen Geheimbewegung, die kreativ Freiräume aus nutzte und sich dem Risiko aussetzte, ihre musikalische Vorliebe mit Internierung bezahlen zu müssen. Die Swings, wie sie in Deutschland genannt wurden, trafen sich heimlich, lauschten amerikanischen Klängen und tanzten dazu so wild es ging. Dementsprechend wird viel getanzt in dieser Dokumentation, die eine nachgestellte Swing-Party als Rahmenhandlung nutzt. So wird das Erzählte mit dem Gespielten und Getanzten verwoben, was anfangs genau jene Leichtigkeit vermittelt, die der Swing so mit sich bringt. Die Autoren begleiten einstige Swings an die Stätten ihres Aufruhrs, aber auch an die Stätten ihrer Gefangenschaft. Immer liegt der Swing quasi in der Luft, im Schnitt, in den Bildern.

Beyer und Ladurner machen keinen Hehl aus ihrer Vorliebe für die Musik. Sie skizzieren sie als heimlichen Helden, der alles Böse überlebt und bringen es in einer Art Glaubensbekenntnis sympathisch auf den Punkt. "Wer den Swing in sich trägt, kann nie mehr im Gleichschritt marschieren", heißt es. Und dazu spielt die Musik. HANS HOFF

Im Swing gegen den Gleichschritt, WDR, 23.15 Uhr.

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Belgische Bank tief in den roten Zahlen

Brüssel - Die Finanzkrise hat dem belgisch-französischen Finanzkonzern Dexia nach eigenen Schätzungen 2008 einen Verlust von drei Milliarden Euro eingebrockt. Der weltweit größte Kommunalkreditfinanzierer kündigte am Freitag an, 900 seiner rund 35 000 Arbeitsplätze zu streichen. Dividenden und Manager-Boni für das vergangene Jahr seien gestrichen, die Managergehälter würden 2009 gekürzt. Die Aktie brach um fast acht Prozent ein, denn Analysten hatten einen Verlust von weniger als zwei Milliarden Euro vorhergesagt. Allein im vierten Quartal erlitt Dexia einen Nettoverlust von 2,3 Milliarden Euro. Im November hatte die Bank angekündigt, die Kosten in den nächsten drei Jahren um 15 Prozent oder 600 Millionen Euro senken zu wollen. Reuters

Brüssel

- Die Finanzkrise hat dem belgisch-französischen Finanzkonzern Dexia nach eigenen Schätzungen 2008 einen Verlust von drei Milliarden Euro eingebrockt. Der weltweit größte Kommunalkreditfinanzierer kündigte am Freitag an, 900 seiner rund 35 000 Arbeitsplätze zu streichen. Dividenden und Manager-Boni für das vergangene Jahr seien gestrichen, die Managergehälter würden 2009 gekürzt. Die Aktie brach um fast acht Prozent ein, denn Analysten hatten einen Verlust von weniger als zwei Milliarden Euro vorhergesagt. Allein im vierten Quartal erlitt Dexia einen Nettoverlust von 2,3 Milliarden Euro. Im November hatte die Bank angekündigt, die Kosten in den nächsten drei Jahren um 15 Prozent oder 600 Millionen Euro senken zu wollen.

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Rillen mit Gefühl

Die Riffelung macht Fingerspitzen so tastempfindlich

Die Fingerspitzen des Menschen verfügen über außergewöhnliches Gefühl. Selbst Unebenheiten auf einer Oberfläche, die kleiner als ein Fünftelmillimeter sind, lassen sich so ertasten. Für dieses Feingefühl sind die so genannten Vater-Pacini-Körperchen verantwortlich, berichten nun Wissenschaftler um Julien Scheibert von der CNRS-ENS-Universität in Paris (Science, online). Diese Nervenzellen reagieren besonders auf Vibrationen. Erzeugt werden diese von der Riffelung der Haut an den Fingerspitzen, wenn man damit über eine Oberfläche streicht - so können Menschen auch winzige Unebenheiten erspüren.

Die Wissenschaftler konstruierten für ihren Versuch einen künstlichen Tastsensor. Mit einer Art Kappe aus Plastik, deren Oberfläche geriffelt war wie ein menschlicher Fingerabdruck, strichen die Forscher über eine Oberfläche. Bei der Geschwindigkeit, mit der ein Mensch eine unbekannte Oberfläche abtasten würde, fiel die erzeugte Frequenz exakt in das Spektrum, auf die Vater-Pacini-Körperchen besonders gut reagieren. Ein Tastsensor ohne Riffelung erzeugte keine entsprechende Vibrationen. SZ

Die Muster an den Fingerspitzen geben Menschen das Feingefühl. Science

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Wechsel in Passau

Die Passauer Neue Presse (PNP) verliert ihren Chefredakteur Hans Schregelmann, der Mitte 2006 vom TV-Sender N 24 nach Passau gewechselt war. Schregelmann verlasse das Unternehmen, sein Nachfolger werde der bisherige stellvertretende Chefredakteur Ernst Fuchs, berichtet die Zeitung in ihrer Wochenendausgabe. Die PNP hatte zuletzt drastische Umstrukturierungen in der Redaktion vollzogen. SZ

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Zur Sonne

Russland startet Forschungssatellit

Nach fast zehnjähriger Pause wegen Geldmangels hat Russland am Freitag wieder einen Wissenschaftssatelliten gestartet. Die Zyklon-3-Rakete mit dem Sonnenobservatorium Koronas-Photon hob um 14.30 Uhr MEZ vom nordrussischen Kosmodrom Plessezk ab, wie die Raumfahrtagentur Roskosmos mitteilte. Es war der erste von insgesamt 39 Starts im neuen Raumfahrtjahr. Koronas-Photon soll die Strahlung der Sonne im Bereich der harten Röntgen- und der Gammastrahlung untersuchen. Dazu werden mit einem Teleskop mehr als eine Million Aufnahmen des Zentralgestirns gemacht und rund 200 Stunden Videomaterial aufgenommen. Die Daten sollen die Frage beantworten helfen, ob eine verstärkte Sonnenaktivität Auswirkungen auf die Erderwärmung hat. Der 1920 Kilogramm schwere Satellit, der die Erde mindestens drei Jahre lang in rund 500 Kilometern Höhe umkreisen soll, ist nach 1994 und 2001 der dritte im russischen Koronas-Programm. ddp

Nach fast zehnjähriger Pause wegen Geldmangels hat Russland am Freitag wieder einen Wissenschaftssatelliten gestartet. Die Zyklon-3-Rakete mit dem Sonnenobservatorium Koronas-Photon hob um 14.30 Uhr MEZ vom nordrussischen Kosmodrom Plessezk ab, wie die Raumfahrtagentur Roskosmos mitteilte. Es war der erste von insgesamt 39 Starts im neuen Raumfahrtjahr. Koronas-Photon soll die Strahlung der Sonne im Bereich der harten Röntgen- und der Gammastrahlung untersuchen. Dazu werden mit einem Teleskop mehr als eine Million Aufnahmen des Zentralgestirns gemacht und rund 200 Stunden Videomaterial aufgenommen. Die Daten sollen die Frage beantworten helfen, ob eine verstärkte Sonnenaktivität Auswirkungen auf die Erderwärmung hat. Der 1920 Kilogramm schwere Satellit, der die Erde mindestens drei Jahre lang in rund 500 Kilometern Höhe umkreisen soll, ist nach 1994 und 2001 der dritte im russischen Koronas-Programm.

Forschungssatelliten Russische Raumfahrt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Freiheit nehm' ich mir

Sparkasse in NRW kündigt Visa nach Gebührenstreit

Frankfurt - Der Streit um die Nutzung von Visa-Kreditkarten an Geldautomaten der Sparkassen spitzt sich zu. Als bundesweit erste Sparkasse kündigte nach eigenen Angaben jetzt ein Geldinstitut in Nordrhein-Westfalen den Vertrag mit dem Kreditkartenunternehmen. "Ab dem 28. Februar 2009 gehen die Sparkasse Dinslaken-Voerde-Hünxe und Visa-Card getrennte Wege", schrieb das Institut an seine Kunden. "Ab diesem Termin ist Ihre Visa-Card ungültig." Die Sparkasse hat den Angaben zufolge unter ihren eigenen Kunden etwa 500 Visa-Kartennutzer. Auch andere Sparkassen erwägen eine Kündigung, etwa die in Heilbronn und in Siegen.

Hintergrund des seit Monaten schwelenden Streits: Den Sparkassen ist die Gebühr zu niedrig, die sie erhalten, wenn Kunden von Direktbanken mit der Visa-Karte ihre Geldautomaten nutzen. Die Visa-Vertragsbedingungen sehen eine Gebühr von 1,74 Euro pro Abhebung vor, die von Direktbanken wie Ing-Diba oder Comdirect an die Sparkassen zu entrichten ist. Hebt jedoch ein Kunde mit einer EC-Karte bei einem Konkurrenten seiner Hausbank Bargeld am Automaten ab, werden um die 4,50 Euro fällig. Zwischenzeitlich hatten etliche Sparkassen ihre Automaten für Visa-Kunden von Direktbanken gesperrt, in mehreren Gerichtsverfahren bekam mal die eine, mal die andere Seite Recht.

"Visa hat das Interesse, dass dieser Konflikt nun schnell gelöst wird", sagte ein Sprecher des Unternehmens am Freitag der Deutschen Presse-Agentur dpa in Frankfurt. Für die nächsten Wochen sei ein Gespräch mit Sparkassen und Direktbanken geplant. Die Diskussion beschädigt nach Einschätzung von Experten auch das Image der Marke Visa. In Deutschland waren nach Unternehmensangaben Ende des Geschäftsjahres 2007/08 (30.9.) 15,9 Millionen Visa-Karten im Umlauf. dpa

Visa International Inc. Internetbanken Geldautomaten in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zeichen der Zeit

Der Krieg nach dem Krieg: Ein Fernsehfilm zeigt das innere Drama deutscher Afghanistan-Heimkehrer

Ein deutscher Soldat sitzt im Flugzeug, Afghanistan hat er hinter sich, vor sich hat er die Heimkehr. Eine freudige soll es werden. Man sieht die Freundin, die sich was Schickes anzieht, die Eltern, die alles vorbereiten, und am Flughafen fallen sich alle erleichtert in die Arme. "Jetzt bist du ja wieder da, gesund und munter", sagt die Mutter. "Gesund und munter", wiederholt Ben, der Sohn.

Doch eigentlich ist Ben gar nicht munter, und gesund ist er auch nur äußerlich. Das pure Grauen hat er mitgebracht aus Afghanistan, die Erinnerung an einen Selbstmordanschlag in Kundus, den er selbst zwar unversehrt überstand, der aber seinen Freund das Leben kostete. Ein Trauma, das ihn immer wieder einholt - wenn er Grillfleisch riecht, muss er sich übergeben, wenn Glas zersplittert, dreht er durch. Und Ben rennt - joggt nachts durch die Weinberge, läuft davon vor seinen quälenden Erinnerungen.

Bedrückend und beeindruckend schildert der Fernsehfilm "Willkommen zuhause" den Horror der Heimkehr. Ben Winter ist sich selbst und seiner Umgebung ein Fremder geworden, und je mehr er in seine alte Welt vordringt, desto krasser wird der Kontrast zu seiner Innenwelt. Er verfällt immer mehr ins Schweigen, und wenn er redet, blockt er ab. "Alles in Ordnung, lasst mich in Ruhe." Seine Umgebung gibt sich damit weitgehend zufrieden und reagiert auf sein Schweigen mit Ignoranz. Realistisch allerdings ist es wohl nicht, wenn zum Beispiel die Film-Mutter den einzigen Hilferuf Bens mit dem Satz abtut, "ich will deinen verdammten Krieg nicht hier in meinem Haus haben".

Auf dem Fernsehschirm aber sollen sich nun Millionen diesen Krieg nach Hause holen, und dies sagt einiges aus über die Zeichen der Zeit: Denn Kriegsheimkehrer-Dramen kennt man in Deutschland bislang eigentlich nur aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch nun, durch die Bundeswehreinsätze im Ausland, scheint auch im Hier und Jetzt die Befindlichkeit dafür heranzureifen. Nach einigem Hin- und Hergeschiebe bei der Programmplanung wird der Film nun weitab von entscheidenden Abstimmungen über das Afghanistan-Mandat gesendet. Doch allfällige Anschläge sorgen ohnehin für eine traurige Daueraktualität des Themas.

Jeder Anschlag bringt neue Tote, neue Verletzte und neue Traumata, und so ist es gewiss ein Verdienst des Films, eine von der Politik gern verdrängte Kehrseite der Bundeswehr-Mission zu zeigen. Dank der hervorragenden schauspielerischen Leistung von Ken Duken als Ben wird spürbar, was ein Afghanistan-Einsatz für junge Soldaten bedeuten kann. Gewiss, es muss darin auch ein politisches Statement liegen. Doch leider haben die Filmemacher an diesem Punkt überreizt. Denn so differenziert das Leiden des jungen Ben geschildert wird, so platt werden am Ende ein paar Doku-Fetzen präsentiert, in denen die Regierungschefs Gerhard Schröder und Angela Merkel sowie der frühere Verteidigungsminister Peter Struck den Afghanistan-Einsatz rechtfertigen. Als Schuldzuweisung für Bens Trauma wirkt das dann doch ausgesprochen aufgesetzt.

Hoffnungslos endet Ben Winters Geschichte jedoch nicht. Denn der Kriegsheimkehrer trifft draußen vor der Tür die Nachbarin - eine von Ulrike Folkerts mit kommissarhafter Strenge gespielte Ärztin -, die erkennt, dass er Hilfe braucht. Sie bringt ihn ins Bundeswehr-Krankenhaus, wo er sein Trauma bearbeiten kann. So wird am Ende nicht alles gut, aber immerhin besser. PETER MÜNCH

Willkommen zuhause, ARD, 20.15 Uhr.

Der Film läuft nun weitab von entscheidenden Abstimmungen zum Einsatz-Mandat

"Jetzt bist du ja wieder da, gesund und munter": diesen Satz hört Ben (Ken Duken) nach seiner Rückkehr aus Kundus von allen in der Familie - und er widerspricht nicht. In Wirklichkeit aber ist Ben nicht munter, und gesund ist er nur äußerlich. Daheim will das keiner bemerken. Nur die Nachbarin Lona (Ulrike Folkerts) fühlt, dass etwas nicht stimmt. Foto: SWR

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Die Kunden leiden - und wehren sich kaum

Die europäischen Verbraucher sind mit Banken, Stromversorgern, Bussen und Bahnen unzufrieden, sagen aber meistens nichts

Von Martin Kotynek

Brüssel - Die Verbraucher in Europa sind mit ihren Energieversorgern, Banken und dem öffentlichen Personenverkehr, also Bahnen und Bussen, sehr unzufrieden. Dennoch beschweren sich nur wenige oder wechseln gar den Anbieter. Das geht aus dem EU-Verbraucherbarometer hervor, in dem die Zufriedenheit der Konsumenten in 19 Branchen untersucht wurde und das an diesem Montag in Brüssel offiziell vorgestellt werden soll. "Ich bin sehr besorgt, dass drei Branchen, die im Leben der Konsumenten eine so große Rolle spielen, so schlecht abschneiden", sagte die für Konsumentenschutz zuständige EU-Kommissarin Meglena Kuneva. Der europaweiten Umfrage zufolge sind weniger als zwei Drittel aller Konsumenten mit ihrem Energieversorger zufrieden. Die Kunden kritisieren vor allem häufige Preiserhöhungen. Dennoch haben nur acht Prozent der Verbraucher in den vergangenen zwei Jahren den Anbieter gewechselt - das ist weniger als in jeder anderen der untersuchten Branchen. Der Grund: Für knapp ein Drittel der Europäer sind die Angebote der Stromversorger offenbar schwierig zu vergleichen.

Das will die EU-Kommission ändern. Bei der Umfrage zeigte sich nämlich, dass die Preise in Branchen, in denen die Kunden ihren Anbieter leicht wechseln können, kaum steigen oder sogar fallen. Beispiele sind Auto-Haftpflichtversicherungen, Internet-Anschlüsse und Mobiltelefonie. Da die Energiekosten bereits knapp sechs Prozent der Haushaltsausgaben ausmachen, will Kuneva an diesem Montag eine genauere Untersuchung des Strommarktes ankündigen. Dabei wollen sich die EU-Konsumentenschützer auf intransparente Preisangebote, unfaire Vertragskonditionen und missverständliche Werbung konzentrieren. Die Ergebnisse sollen dann zu kundenfreundlicheren Gesetzen oder einer strengeren Überwachung der bestehenden Vorschriften führen. "Europas Konsumenten verdienen Besseres", sagte Kuneva.

Noch undurchsichtiger wirkt der Bankensektor auf die Konsumenten. Mehr als ein Drittel der Europäer schafft es nicht, die Angebote verschiedener Kreditinstitute miteinander zu vergleichen. Nur elf Prozent aller Kunden waren in den vergangenen zwei Jahren in der Lage, ihre Bank zu wechseln. Dabei unterscheiden sich Kontoführungsgebühren und Kreditzinsen zwischen Banken der verschiedenen Mitgliedsstaaten stark voneinander. So musste man im vergangenen Jahr für einen Kredit in Estland 12,12 Prozent Zinsen bezahlen, in Schweden für ein vergleichbares Produkt aber nur 0,21 Prozent. Die EU-Kommission überprüft den Bankensektor bereits und will noch in diesem Jahr Vorschläge für Reformen machen.

Am wenigsten zufrieden sind die Europäer mit Bussen und Bahnen: Mehr als die Hälfte der Konsumenten beklagt sich über den öffentlichen Transport, jeder Vierte hat sich zudem direkt bei den Unternehmen über aufgetretene Probleme beschwert. Die Kunden bemängeln vor allem, dass die Preise zu hoch und die Angebote zu unattraktiv sind. Auch sei der Kauf von Tickets zu kompliziert.

Sorgen bereitet EU-Kommissarin Kuneva auch der grenzüberschreitende Handel. Nur 25 Prozent der Europäer haben im vergangenen Jahr außerhalb ihres Landes Einkäufe getätigt - der Anteil ist seit zwei Jahren unverändert. Zudem verkaufen auch immer weniger Einzelhändler Waren in andere EU-Mitgliedsländer. Dabei lohnt sich der Handel über Landesgrenzen hinweg für die Firmen. Im Durchschnitt geben die Europäer bei Einkäufen in einem anderen EU-Land 737 Euro pro Jahr aus - dieser Absatzkanal kann damit bis zu 17 Prozent des Umsatzes eines Händlers ausmachen. Knapp die Hälfte aller Einzelhändler wäre daher auch an einem EU-weiten Handel interessiert. Unterschiedliche gesetzliche Vorschriften in den EU-Ländern hindern sie jedoch daran, hat die EU-Kommission herausgefunden.

Verbraucher in Europa Öffentliche Meinung in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lehman-Anleger ziehen vor Gericht

Einige Geldhäuser haben die Zertifikate der Pleitebank offensiv vertrieben. Betroffene Sparer fordern nun ihr Geld zurück

Von Markus Zydra

Frankfurt - In den nächsten Monaten kommt es zu den ersten Gerichtsprozessen im Fall der insolventen Bank Lehman Brothers. Etwa 40 000 deutsche Sparer besitzen Lehman-Zertifikate. Diese Inhaberschuldverschreibungen sind nahezu wertlos, seit die Investmentbank am 15. September 2008 Insolvenz angemeldet hat. Viele Anleger fühlen sich nun betrogen. Berater von anderen Instituten wie etwa Citi- oder Dresdner Bank, die die Lehman-Papiere verkauft haben, hätten die Kunden nicht auf die hohen Risiken hingewiesen, so der Vorwurf.

Schadenersatzklagen gegen die beratenden Banken sind jedoch problematisch. Der Kunde muss beweisen, dass er falsch informiert wurde. "Wenn Berater dem Kunden empfohlen haben, ein Festgeldkonto gegen ein Lehman-Zertifikat einzutauschen, dann sehe ich einen Ansatzpunkt", sagt Nikolaus Bömcke, Rechtsanwalt bei der Kanzlei Rössner Rechtsanwälte. Schließlich habe der Kunde dann die Einlagensicherung des Festgelds verloren ohne gesondert darauf hingewiesen worden zu sein.

Schätzungen zufolge haben Anleger 500 bis 800 Millionen Euro in die Zertifikate gesteckt. Besonders Citibank, Dresdner Bank und die Sparkasse 1822direkt haben die Papiere aktiv verkauft; und zwar gern an ältere Menschen. Das Durchschnittsalter der Sparer liege bei 64 Jahren, so die Verbraucherzentrale Hamburg. Im Schnitt hätte jeder Sparer 20 000 Euro investiert. Die Papiere wurden als sichere Anlage verkauft, obwohl - anders als bei Festgeld und Fonds - die Pleite der emittierenden Bank zum Totalverlust führen kann.

Seit 1. November 2007 müssen Banken darauf hinweisen, wieviel Provision sie für den Verkauf eines Finanzprodukts erhalten. Bei Lehman-Zertifikaten sind diese Provisionen sehr lukrativ gewesen, heißt es in Bankenkreisen. Manche Anwälte sehen hier einen Ansatzpunkt für Klagen. Theoretisch muss das Geschäft rückabgewickelt werden, wenn auf die Provisionen nicht hingewiesen wurde. In vielen Fällen ist der Hinweis auf Provisionszahlungen im Kleingedruckten des Prospekts aufgeführt. "Der unterlassene Hinweis auf Provisionen ist aber nur dann ein guter Ansatzpunkt für eine Fehlberatung, wenn die von dem Emittenten an die beratende Bank gezahlten Provisionen in ihrer Höhe marktunüblich gewesen sind", sagt Bömcke. Und selbst dann ist die Sache nach Ansicht der Juristen kein Selbstläufer. "Es gibt das Problem der Kausalität. Der Kunde muss nachweisen, dass er das Zertifikat nicht gekauft hätte, wenn er über die Provisionshöhe Bescheid gewusst hätte", sagt der Münchner Anwalt Peter Mattil. "Das ist nicht leicht zu belegen."

Die meisten Lehman-Zertifikate wurden Anfang 2007 verkauft, die Verjährung der Ansprüche beginnt drei Jahre nach Kaufabschluss. Anleger stehen also nicht unter Zeitdruck mit der Klage. Sie sollten sich sehr gut informieren. Bei einem Streitwert von 20 000 Euro kann die Klage im Verlustfall 4000 Euro kosten.

Dreiste Verkäufer

Glaubt man den Betroffenen, dann gingen manche Banken beim Vertrieb der Papiere sehr dreist vor. "Kunden wollten ihr Festgeld verlängern, da wurde ihnen gesagt, dass dies nur möglich sei, wenn man 50 Prozent des Geldes in Lehman-Zertifikate steckt", berichtet der Düsseldorfer Anlegeranwalt Jens Graf. Hier habe die Bank das Kundeninteresse völlig unberücksichtigt gelassen, sagt Graf.

Dabei ist die Rechtslage in der Finanzberatung eigentlich klar. Das Wertpapierhandelsgesetz sagt, dass der Berater Finanzprodukte nicht verkaufen darf, wenn sie für den Kunden ungeeignet sind. "Er muss sogar davon abraten, wenn ein Kunde für ihn ungeeignete Produkte kaufen will", sagt Mattil.

Die deutsche Lehman-Filiale in Frankfurt: Andere Geldhäuser haben riskante Zertifikate des Instituts an Privatkunden in Deutschland verkauft. Foto: dpa

Schadensersatz in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erschlagen und verbrannt

Eine umfassende Darstellung des Holocaust in der UdSSR

Mehr als zwanzig Millionen Sowjetbürger starben während des deutschen Russlandfeldzuges 1941-1945; die Hälfte waren Zivilisten und Kriegsgefangene. "Zig Millionen Menschen werden verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird", wurde am 2. Mai 1941, sechs Wochen vor dem Überfall, in der Aktennotiz einer Besprechung der Staatssekretäre der kriegswichtigen Ressorts mit Wehrwirtschaftsgeneral Georg Thomas festgehalten. Ökonomisches Kalkül zur Eroberung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen sowie ideologische Ressentiments gegen den "jüdischen Bolschewismus" und die laut NS-Propaganda "slawischen Untermenschen" im Osten führten zu einem monströsen Vernichtungskrieg. Dass nicht noch mehr verhungerten, lag am Scheitern des Feldzuges. In die Tat umgesetzt aber wurde der Holocaust auf dem Gebiet der UdSSR, bildeten die Juden doch die verhasste, angeblich biologische Grundlage der bolschewistischen Herrschaft. Von den 2,9 Millionen den Besatzern in die Hände gefallenen sowjetischen Juden überlebten nur etwa 100 000.

Der russische Historiker Ilja Altman, Vizepräsident des Moskauer Holocaust-Zentrums für Forschung und Bildung, legt eine auf beeindruckende Materialdichte gründende und auf eine umfassende Auswertung russischer Archive gestützte Gesamtdarstellung des Judenmords in der ehemaligen UdSSR vor. Dabei belegt er nicht nur, dass die sowjetischen Juden die ersten Opfer der Massenvernichtung in Europa waren, sondern diese Praxis des Völkermords dann auf andere Länder und weitere Menschen ausgeweitet wurde. Außer den Juden teilten auch Millionen "minderwertige Slawen" ihr Schicksal.

6000 von den Besatzern geförderte antisemitische Propagandaschriften konnte Altman ermitteln, mehr als 800 Ghettos zählte er auf dem besetzten Gebiet. Nach der Ausgrenzung steht die physische Vernichtung der Juden im Fokus seiner Untersuchung. Die Ermordung von 2,8 Millionen jüdischen Menschen erfolgte nicht in "Vernichtungs-KZs" wie Auschwitz, Majdanek, Sobibor oder Treblinka, sondern durch Massenerschießungen und eher atavistische Methoden wie Erschlagen und Verbrennen oder aktiv herbeigeführten Hungertod. Altman legt eine präzise Opferstatistik vor. Die Hälfte der auf sowjetischem Gebiet ermordeten Juden starb in der Ukraine, 800 000 verloren in Weißrussland ihr Leben. Jeder vierte Einwohner wurde dort von den Besatzern getötet, jeder dritte Ermordete war ein Jude.

Die Unterstützung der Besatzer durch einheimische Kollaborateure war insbesondere in der Ukraine und den baltischen Ländern erheblich. Den jüdischen Widerstand kann Altman deutlich stärker zeigen als bisher üblich. In den Archiven fand er zahlreiche Belege für - zuweilen sogar gelungene - Versuche, den Henkern ihre Waffen zu entreißen, sich mit Messer, Axt oder Schaufel, ja sogar den bloßen Händen zu wehren. Die Teilnahme an der Partisanenbewegung war bedeutend und oft die einzige Überlebenschance für Juden.

Die - vielleicht einzige - Schwäche des Buches ist das Ausklammern der erschossenen jüdischen Kriegsgefangenen in der detaillierten Opferstatistik. Damit nähert sich Altman, sicher ungewollt, der Tabuisierung dieses Themas in der sowjetischen Historiographie und Publizistik. Erhellend hingegen seine Erörterung des Umgangs der sowjetischen Politik und Gesellschaft mit dem Holocaust. Im Krieg vermied die sowjetische Führung Aufrufe zur Rettung der Juden und gab keine konkreten Informationen über den Judenmord. Dieser wurde unter getöteten "friedlichen Sowjetbürgern" subsummiert und nicht eigens thematisiert.

Nach dem Krieg kam es zu einem regelrechten Verbot des öffentlichen Erinnerns an den Holocaust. Die Publikation eines "Schwarzbuches" zu den jüdischen Opfern wurde verhindert. Viele Todes- und Gulag-Urteile, die 1949 bis 1952 im Prozess gegen das jüdische antifaschistische Komitee der UdSSR gefällt wurden, erwähnen die Beteiligung am Projekt "Schwarzbuch" und qualifizieren diese als Beispiel für verachtenswerten "bürgerlichen Nationalismus". Denkmälern wurde die Genehmigung verweigert und die Erörterung des Genozids an den Juden in Publizistik und Wissenschaft unterbunden. Zu groß war die Sorge Stalins und seiner Epigonen, der Mythos des "Großen Vaterländischen Krieges" könne durch ein gesondertes Gedenken an die am stärksten der Vernichtung ausgelieferte Menschengruppe an gesellschaftlicher Integrationskraft und damit herrschaftsstabilisierender Wirkung verlieren. WIGBERT BENZ

ILJA ALTMAN: Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941-1945. Mit einem Vorwort von Hans-Heinrich Nolte. Muster-Schmidt Verlag, Gleichen/Zürich 2008. 588 Seiten, 58 Euro.

Altmann, Ilja: Veröffentlichung Holocaust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Terror und Aufbruch

Das Erbe der Stalin-Ära ist komplexer als das der Nationalsozialisten - eine fotografische Dokumentation

Mit wachsender Skepsis wird international die zunehmende Stalin-Nostalgie in Russland beobachtet. Dass Stalin auf kirchlichen Ikonen Seit' an Seit' neben Heiligen auftaucht, dass gar Petersburger Kommunisten seine Heiligsprechung fordern, mag noch als Groteske à la Gogol durchgehen. Dass in einem offiziösen Lehrerhandbuch der Diktator als effizienter Manager dargestellt und das Ausmaß seines Terrors kleingeredet wird, ist schon problematischer. Allzu vordergründige Analogien zum Hitler-Regime, denen man in diesem Zusammenhang immer wieder begegnet, greifen aber zu kurz, weil sie nicht erklären können, woran die Nostalgie anknüpft. Das Erbe der Stalin-Ära ist komplexer und vielschichtiger als das der Nationalsozialisten, die außer Leid, Zerstörung, Schuld und Schande nichts von Belang hinterlassen haben.

Bei Stalin hingegen sind der Terror und der rasante Aufbruch in die industrielle Moderne untrennbar miteinander verbunden. Der prinzipiell durchaus mögliche Weg einer nichtstalinistischen Modernisierung ohne Terror und Hunger war versperrt und bildet gegenwärtig kein Diskussionsthema, die faktisch vollzogene Industrialisierung aber war eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass die Sowjetunion dem deutschen Vernichtungsangriff standhalten und den zentralen Beitrag zur Zerschlagung des NS-Regimes leisten konnte. Die imperialen Versklavungspläne Hitlers wurden durchkreuzt und Stalins Sowjetunion ging aus dem blutigsten Kampf des neuzeitlichen Europa als Weltmacht hervor - ein Status, der mit der eigenen Atombombe 1949 gefestigt wurde. Ein starker Staat, ein aus dem Kreis der Weltkriegssieger hervorgegangener global player und dabei ein despotisches, chauvinistisch-imperialistisches und antisemitisches Regime - das war das Endresultat der Stalin'schen Herrschaft.

Was es bedeutete, unter dieser Herrschaft zu leben und vor allem, wie es sich darstellte, zeigt in einer eindrucksvollen Bilderfülle der großformatige Band von Mark Grosset und Nicolas Werth. Der 2006 im Alter von nur 49 Jahren verstorbene Mark Grosset war lange leitend in einer Fotoagentur tätig und ein wichtiger Kenner und Förderer dokumentarischer Fotografie. Seit der Öffnung der Sowjetunion Ende der 80er Jahre spezialisierte er sich vor allem auf die russische. Grosset hat die meisten der in dem Band publizierten Aufnahmen aufgespürt. Viele stammen von Klassikern des sowjetischen Fotojournalismus, wie etwa Jewgenij Chaldej. Bilder aus dem Gulag - Zeichnungen und Fotos - steuerte die Vereinigung "Memorial" bei, mit der der Autor des Textteils, Nicolas Werth, seit langem zusammenarbeitet.

Werth, der als Kulturattaché der französischen Botschaft mehrere Jahre in der UdSSR gelebt hat, ist einer der profiliertesten westlichen Historiker der Sowjetunion unter Stalin, insbesondere der Geschichte des Terrors. Seine ebenso konzise wie souveräne Darstellung der Geschichte jenes ereignisreichen Vierteljahrhunderts von 1928 bis 1953, in dem Stalin als totalitärer Diktator die Geschicke der Sowjetunion lenkte, gibt dem Band sein historisches Rückgrat und wirkt zuweilen auch als Korrektiv. Denn keineswegs alle Aspekte sind fotografisch angemessen repräsentiert. Das liegt in der Natur der Sache. "Ihr Fotografen seid gefährliche Leute", zitiert Grasset in seiner Fragment gebliebenen Einführung Lenin. Auch Stalin wusste das - und ließ Fotografie wie andere Medien zensieren. So finden sich in der Sammlung sehr viel mehr Aufnahmen, die den mit der Zwangskollektivierung verbundenen offiziellen Anspruch illustrieren, als solche, die das tatsächlich produzierte Elend dokumentieren, denn letztere sind sehr rar. Doch die Bildtexte geben durchweg die nötige kritische Orientierung. Diesen Bildband muss man auf jeden Fall auch lesen.

Angesichts der Fülle und Vielfalt der Aufnahmen kann man allerdings auch durch einfaches Blättern manches besser begreifen lernen. Die schnelle Modernisierung wird anschaulich, wenn man von den Pferdekutschen und Ochsengespannen der späten 20er Jahre über die kleine Kolonne der ersten Autos sowjetischer Produktion, die 1930 das Werk in Nischnij-Nowgorod auf den dortigen ungeteerten Straßen verließen, zu der Abbildung kommt, die Autos und Fußgänger auf dem Weg zum Moskauer Dynamo-Stadion zeigt, wo 1945 die erste Fußballmeisterschaft der UdSSR stattfand: Das letzte Bild gibt schon einen Vorgeschmack, auf die Staus, die heute das Straßenbild der russischen Hauptstadt prägen. Und als ungleichzeitigen Kontrapunkt stößt man auf die Bauern und Bäuerinnen mit ihren weißen Kopftüchern, die sich 1951 irgendwo in der Ukraine auf einem Acker niedergelassen haben, um die Darbietung eines Wander-Freilichtkinos zu genießen. Auch das Kriegselend und der sich zur Apotheose steigernde Stalin-Kult lassen sich bildlich gut nachvollziehen.

Der Band ist in drei Hauptteile gegliedert, die dem Modernisierungsaufbruch der 30er Jahre und seiner "schwarzen Seite", dem fotografisch wenig dokumentierten Terror, dem Großen Vaterländischen Krieg - dem echten und dem inszenierten Heroismus, der nazistischen Barbarei sowie den Nachkriegsjahren gewidmet sind. Das Buch bringt reizvolle fotografische Seitenblicke auf unbekannte oder unbeachtete Aspekte des Lebens in der Stalin-Ära. Die Gefahr des Abgleitens in eine verharmlosende Alltagsperspektive oder einen apolitischen Fotoästhetizismus besteht niemals: Die Zusammenstellung der Aufnahmen, die Bildtexte und die kenntnisreiche Darstellung Werths beugen dem vor. JÜRGEN ZARUSKY

MARK GROSSET, NICOLAS WERTH: Die Ära Stalin. Leben in einer totalitären Gesellschaft. Aus dem Französischen übersetzt von Enrico Heinemann. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2008. 256 Seiten, 250 Abb., 49,90 Euro.

Zur Apotheose gesteigerter Stalin-Kult: Hier ein Bild des Diktators als "Freund aller Kinder" in einem Pionierlager 1951. Foto: Theiss Verlag

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Schadenersatz nicht steuerpflichtig

München - Wer aus einem Schadenersatzanspruch eine Rente erhält, muss diese nicht versteuern. Das geht aus einem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) hervor. Im konkreten Fall war ein Mann nach einem ärztlichen Kunstfehler gestorben. Die Witwe erhielt daraufhin von der Versicherung des Arztes eine Rente von monatlich 2000 Mark (etwa 1022 Euro) - diese Rente ersetzte ihr den entgangenen Unterhalt. Vor seinem Tod hatte der Mann jahrelang den Unterhalt für seine Frau getragen. Der BFH entschied nun, dass nur Leistungen besteuert werden dürfen, die andere versteuerbare Einnahmen ersetzen. Der Unterhalt durch den Mann zähle nicht dazu, befanden die Richter (Aktenz. X R 31/07). mvö

München

- Wer aus einem Schadenersatzanspruch eine Rente erhält, muss diese nicht versteuern. Das geht aus einem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) hervor. Im konkreten Fall war ein Mann nach einem ärztlichen Kunstfehler gestorben. Die Witwe erhielt daraufhin von der Versicherung des Arztes eine Rente von monatlich 2000 Mark (etwa 1022 Euro) - diese Rente ersetzte ihr den entgangenen Unterhalt. Vor seinem Tod hatte der Mann jahrelang den Unterhalt für seine Frau getragen. Der BFH entschied nun, dass nur Leistungen besteuert werden dürfen, die andere versteuerbare Einnahmen ersetzen. Der Unterhalt durch den Mann zähle nicht dazu, befanden die Richter (Aktenz. X R 31/07).

Steuerrecht in Deutschland Schadensersatz in Deutschland Fälle beim Bundesfinanzhof SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Start der Hallen-Leichtathletik

Am Rekord gekratzt

Frankfurt/New York (dpa) - Stabhochspringer Steve Hooker kam zum Auftakt der internationalen Hallen-Saison dem Himmel schon recht nahe. Die deutschen Leichtathleten indes versuchen im Jahr der WM in Berlin Boden unter die Füße zu kriegen. Olympiasieger Hooker zeigte bei den 102. Millrose Games in New York eine grandiose Flugshow: Der Australier überwand 6,01 Meter und kratzte am Weltrekord Sergej Bubkas. Ein junges Team des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) belegte beim Länderkampf in Glasgow wie im Vorjahr den dritten Platz unter fünf Teams. Die drei Einzelsieger: Alexander Straub (LG Filstal) im Stabhochsprung mit 5,65 Meter, René Bauschinger (Fürth/München) über 800 m in 1:49,18 Minuten, Sophie Krauel (Jena) im Weitsprung mit 6,36 Meter.

Zur großen Freude der 11 543 Fans im Madison Square Garden, die Hooker immer wieder mit "Aussie"-Rufen anfeuerten, ließ der 26-Jährige 6,16 Meter auflegen - einen Zentimeter mehr als der 16 Jahre alte Hallen-Weltrekord des Ukrainers Bubka. Beim zweiten und dritten Sprung hatte Hooker die Latte bereits mit den Beinen überquert.

Neben Hooker wurde Doppelweltmeister Bernard Lagat gefeiert: Der für die USA startende Kenianer gewann in 3:58,44 Minuten zum siebten Mal die Wanamaker-Meile und zog mit dem irischen Rekordsieger Eamonn Coghlan gleich.

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HARIBO

Mehr Gummibärchen

Bonn - Der Bonner Süßwarenkonzern Haribo erwartet in diesem Jahr einen Umsatz von knapp zwei Milliarden Euro. "Wir werden im Umsatz irgendwo zwischen 1,7 Milliarden Euro und zwei Milliarden Euro liegen", sagte Haribo-Chef Hans Riegel, 85, der Welt am Sonntag. Damit hat der Chef des Goldbären-Herstellers zum ersten Mal überhaupt eine Umsatzzahl für sein Unternehmen in der Öffentlichkeit genannt. Riegel betonte, sein Unternehmen spüre nichts von der Konjunkturkrise. Die 5000 Haribo-Mitarbeiter müssten keine Angst um ihre Arbeitsplätze haben. Er werde auf der Mitte Februar stattfindenden Betriebsfeier seinen Mitarbeitern versichern: "Bitte macht euch keine Sorgen, ihr werdet das Jahr bei Haribo gut überstehen." Mit Blick auf die Wirtschaftskrise warnte er vor staatlichen Rettungspaketen. dpa

Gummibärchen und ein Paket Maoam von Haribo: Der Firma geht es gut. dpa

Riegel, Hans Haribo GmbH & Co. KG: Umsatz Haribo GmbH & Co. KG: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Unicredit denkt über Staatshilfen nach

Mailand - Die italienische Großbank Unicredit, zu der auch die Hypo-Vereinsbank gehört, zieht ähnlich wie andere Banken in Europa und den USA staatliche Kapitalhilfen in Betracht. Denkbar sei eine "staatliche Unterstützung als Versicherung für nicht vorhersehbare Ereignisse", sagte Konzernchef Alessandro Profumo im Handelsblatt. Der Wettbewerb sei durch die Rettungsaktionen der Regierungen sehr ungleich geworden, klagte Profumo: "Falls wir irgendwo um staatliche Hilfen bitten müssen, wäre das zum Beispiel in Österreich denkbar - wegen der Risiken in den osteuropäischen Nachbarstaaten". Die Unicredit-Tochter Bank Austria mit Sitz in Wien ist die am stärksten in Osteuropa vertretene Bank. Wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich dort die wirtschaftliche Lage in den vergangenen Monaten massiv verschärft. Trotz der Probleme werde sich Unicredit nicht aus diesen Märkten zurückziehen, sagte der Unicredit-Chef.dpa

Mailand

- Die italienische Großbank Unicredit, zu der auch die Hypo-Vereinsbank gehört, zieht ähnlich wie andere Banken in Europa und den USA staatliche Kapitalhilfen in Betracht. Denkbar sei eine "staatliche Unterstützung als Versicherung für nicht vorhersehbare Ereignisse", sagte Konzernchef Alessandro Profumo im Handelsblatt. Der Wettbewerb sei durch die Rettungsaktionen der Regierungen sehr ungleich geworden, klagte Profumo: "Falls wir irgendwo um staatliche Hilfen bitten müssen, wäre das zum Beispiel in Österreich denkbar - wegen der Risiken in den osteuropäischen Nachbarstaaten". Die Unicredit-Tochter Bank Austria mit Sitz in Wien ist die am stärksten in Osteuropa vertretene Bank. Wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich dort die wirtschaftliche Lage in den vergangenen Monaten massiv verschärft. Trotz der Probleme werde sich Unicredit nicht aus diesen Märkten zurückziehen, sagte der Unicredit-Chef.

Unicredito Italiano SpA: Liquidität Bank- und Kreditwesen in Italien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Wettbewerb fördert Qualität"

Die FDP möchte das Grundgesetz zugunsten freier Schulen ändern

Die FDP kämpft für Privatschulen und will für sie sogar das Grundgesetz ändern. Am Freitag brachten die Liberalen im Bundestag den Antrag ein, Artikel 7, Absatz 5 des Grundgesetzes zu streichen. Dort steht, dass private Grundschulen nur zulässig sind, wenn die Behörden ein "besonderes pädagogisches Interesse" erkennen. Der bildungspolitische Sprecher der FDP, Patrick Meinhardt, hält das für unzeitgemäß.

SZ: Warum wollen Sie am Grundgesetz rütteln?

Meinhardt: Der Absatz zu den privaten Grundschulen stammt noch aus der Weimarer Zeit. Vielen freien Trägern wird es durch diesen Absatz von den Behörden sehr schwer gemacht, eine Grundschule zu gründen, schwerer als bei weiterführenden Schulen. Elterninitiativen werden leider oft ausgebremst.

SZ: In der Weimarer Republik wollte man verhindern, dass es getrennte Schulen für die Armen und die Reichen gibt. Was soll an diesem Ziel überholt sein?

Meinhardt: Schauen Sie sich die Kindergärten an, da wird die Mehrheit von freien Trägern betrieben, und das funktioniert. Bei Grundschulen ist der Anteil der Privaten dagegen klein. Doch wenn wir eine Bildung aus einem Guss wollen, wäre es gut, wenn freie Träger nach dem Kindergarten mit der Grundschule weitermachen könnten.

SZ: Wer es sich leisten kann und einen Platz ergattert, schickt sein Kind auf eine Privatschule, bei den staatlichen bleiben die Migranten übrig. So ist der Trend. Und den wollen Sie noch fördern?

Meinhardt: Vielfalt und Wettbewerb fördern die Qualität. Den Privatschulen geht es nicht um Abschottung, sondern um eine andere pädagogische Kultur und das Engagement der Eltern.

SZ: Sie können doch nicht leugnen, dass es an privaten Grundschulen oft eine besondere soziale Zusammensetzung und nur wenige Migranten gibt.

Meinhardt: Man muss über neue Finanzierungsmodelle nachdenken, um allen, die es wollen, den Weg an eine Privatschule zu ebnen. Sinnvoll wären Bildungsgutscheine, die Eltern einlösen können. Das Geld, das der Staat für die Schulen zahlt, wandert dann sozusagen mit den Kindern mit. Dabei ließen sich auch Anreize dafür setzen, dass Schulen verstärkt Migranten oder Kinder aus ärmeren Familien aufnehmen, indem der Staat für diese Kinder entsprechend mehr Geld zahlt.

SZ: Sollte man den Schulen Quoten für Migranten vorschreiben?

Meinhardt: Ein Gutschein-System würde von allein dafür sorgen, dass die soziale Mischung stimmt.

SZ: Es gibt Anbieter, die Schulen wie ein kommerzielles Unternehmen aufziehen wollen. Unterstützen Sie das?

Meinhardt: Auf kommerzielle Schulen muss man schon einen kritischen Blick werfen. Bildung ist ein Wert für sich, weshalb Schulen üblicherweise von gemeinnützigen Trägern gegründet werden.

Interview: Tanjev Schultz

Patrick Meinhardt, bildungspolitischer Sprecher der FDP im Bundestag. Foto: oh

Meinhardt, Patrick: Interviews Privatschulen in Deutschland Bildungspolitik der FDP SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Politik streitet über Schaeffler

Kanzlerin Merkel sieht Staatshilfe für Zulieferer skeptisch

Berlin/Herzogenaurach - In der großen Koalition von Union und SPD droht Streit über ein staatliches Engagement bei dem angeschlagenen fränkischen Autozulieferer Schaeffler. Im Gegensatz zu Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), der aus Franken stammt, lehnt SPD-Fraktionschef Peter Struck staatliche Hilfen strikt ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Samstag vor CDU-Kreisvorsitzenden in Berlin, der Staat zahle nicht "die Zeche für riskante Unternehmensentscheidungen", während die Besitzer des Unternehmens nicht zur Verantwortung gezogen würden. Sie wies aber auch darauf hin, dass bei Schaeffler nach der Übernahme des Konkurrenten Continental 200000 Menschen beschäftigt seien. Merkel kritisierte, bis jetzt habe Schaeffler kein akzeptables Unternehmenskonzept vorgelegt. Dies gelte im Übrigen auch für Opel, die deutsche Tochter des US-Konzerns General Motors, die sich um staatliche Bürgschaften bemüht.

Schaeffler kündigte am Sonntag an, die Firma werde in den kommenden Wochen in Zusammenarbeit mit den Banken ein Konzept zur Zukunft von Conti und Schaeffler vorlegen. Derzeit würden auch Gespräche mit möglichen Investoren geführt. Das Unternehmen bekräftigte, dass es bei den umstrittenen Staatshilfen um eine zeitlich begrenzte finanzielle Überbrückung gehe. "Damit soll sichergestellt werden, dass die Überbrückungshilfe nicht zu einer Belastung des Steuerzahlers führt." Der Konzern wies darauf hin, dass das Vermögen der Familie um Maria-Elisabeth Schaeffler im Unternehmen stecke. Sie habe in der Vergangenheit die Gewinne nicht entnommen, sondern reinvestiert. Schaeffler wies den Vorwurf zurück, man habe sich beim Conti-Kauf im Stil eines Hasardeurs verspekuliert. Das Ausmaß der Finanzkrise mit ihren dramatischen Folgen für die Automobilindustrie sei für niemanden vorhersehbar gewesen. Schaeffler bittet dem Vernehmen nach Bund und Länder für eine Umschuldung um Bürgschaften von bis zu vier Milliarden Euro. Schaeffler hatte 2008 den ebenfalls angeschlagenen Reifenhersteller Continental übernommen und sich dadurch hoch verschuldet. Beide Konzerne stehen zusammen mit 22 Milliarden Euro in der Kreide. Die Banken fordern nun neue Sicherheiten.

Der SPD-Politiker Struck sagte der in Hannover erscheinenden Neuen Presse: "Wir sind strikt gegen weitere Staatshilfen für Unternehmen, die selbst verschuldete Kreditschwierigkeiten haben. Würden wir in einem Fall nachgeben, könnten wir anderen die gleiche Hilfe nicht verweigern." Struck kritisierte Glos. Es sei unglücklich, dass dieser über ein direktes Engagement des Bundes spreche, sagte Struck. "Wenn Länder wie Niedersachsen, Baden-Württemberg oder Bayern helfen wollen, sollen sie es aus eigener Kraft tun." Auch Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) ist gegen Bundeshilfen für Schaeffler.

Besorgte Niedersachsen

Die Arbeitnehmervertreter von Schaeffler sprachen sich indessen für ein Engagement des Bundes aus. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Norbert Lenhard sagte den Nürnberger Nachrichten, der Konzern sei im Kern gesund. Man müsse darauf achten, dass "die Risiken, die Frau Schaeffler mit ihrem Privatvermögen eingeht, nicht das Unternehmen und die Arbeitsplätze bedrohen". Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) kritisierte im Zusammenhang mit der Conti-Übernahme eine zu leichtfertige Geldvergabe der Banken. Niedersachsens Wirtschaftsminister Walter Hirche (FDP) warnte davor, dass die Unterstützung für Schaeffler zu Lasten norddeutscher Interessen gehen könnte: "Wir können es nicht hinnehmen, wenn in einem Zusammenspiel aus bayerischer Staatsregierung und CSU-geführtem Bundeswirtschaftsministerium Entscheidungen fallen, die womöglich zu Lasten der niedersächsischen Continental-Standorte gehen", sagte er der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. ddp/dpa

Maria-Elisabeth Schaefflers Auftritt im Pelzmantel, während die Firma Hilfe fordert, sorgte für Unmut. Foto: ATP

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Liquidität Folgen der Finanzkrise für die deutsche Autoindustrie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Land im Lottofieber: Wie klein die Gewinnchancen sind, was der Finanzminister tippt und warum Soziallotterien leiden

Die Mär vom Glückspilz

Wer den Lottoschein ausfüllt, muss ein ziemlicher Träumer sein: Die Wahrscheinlichkeit, den Jackpot zu knacken, liegt bei nur einem 139-Millionstel

Von Alexander Mühlauer

München - Es mag sich ein wenig seltsam anhören, verschroben, übertrieben, aber es ist die reine Wahrheit. Wenn das Lottofieber ausbricht, wenn es eine Gesellschaft erfasst, ist der Traum von Geld und Glück eine kollektive Phantasie. Seit Tagen ist es wieder soweit: Deutschland darf träumen. 35 Millionen sind an diesem Samstag im Jackpot, und im Zentrum aller Lotto-Phantasien steht die Frage, was man mit all dem Geld denn anstellen würde.

Schön blöd, wer da träumt, sagen jene, die gegen das Lottofieber immun sind. Und sie haben ja Recht, ist es doch wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als den Jackpot zu knacken. Die Chance, einmal den großen Reibach zu machen, liegt bei einem 139-Millionstel; das Risiko, vom Blitz erschlagen zu werden bei eins zu 20 Millionen.

Ein Alltagsökonom könnte also durchaus sagen: Wer den Lottoschein ausfüllt, muss schon ein ziemlicher Träumer sein. Selbst wenn ein Spieler auf die richtigen Zahlen setzt, springt der große Millionengewinn oft nicht heraus; meistens muss er sich die Ausschüttung teilen. Den niedrigsten Hauptgewinn für sechs Richtige gab es im Jahr 1984: 16 900 Euro. Und als 1999 mehrere Spieler die fünf Richtigen "2, 3, 4, 5, 6" tippten, bekam jeder Gewinner nur 194 Euro ausgezahlt. Dass dies immer wieder vorkommt, liegt an der Psychologie des Tippens. Eigentlich sind alle Zahlen von 1 bis 49 gleich viel bedeutend und alle Kombinationen daraus gleich wahrscheinlich. Die Menschen denken aber anders, besonders viele tippen am liebsten die Geburtstage ihrer Freunde und Bekannten. So kommt es, dass die Zahlen zwischen 1 und 19 am häufigsten gewählt werden. Das ändert zwar nicht die Gewinnwahrscheinlichkeit, schmälert aber auf jeden Fall die Gewinnsumme.

Viele Spieler wissen das, und versuchen deshalb mit Tippsystemen den Zufall zu überlisten. Sie werten Statistiken aus, um besonders häufige und seltene Zahlen zu ermitteln. Wer das macht, weiß: Die Kugel mit der Zahl 38 ist die bisher am häufigsten gezogene. Am seltensten gewinnt die 13. Unnützes Wissen, denn statistisch betrachtet, ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide Zahlen bei der nächsten Ziehung fallen, stets die gleiche. Glücksspielforscher haben herausgefunden, dass Tippgemeinschaften zwar öfter kleine Summen gewinnen, aber im Durchschnitt sind sie auch nicht erfolgreicher als Einzelspieler.

Legt man rein ökonomische Kriterien an, ist Lottospielen sinnlos. Denn ein Blick auf die Statistik zeigt, dass unter dem Strich bei jedem Glücksspiel ein Verlust bleibt. Der Grund dafür sind die Ausschüttungsquoten, die stets unter 100 Prozent liegen. Für jeden eingesetzten Euro gibt es durchschnittlich weniger als einen Euro heraus. Beim staatlichen Lotto werden nur 50 Prozent der eingezahlten Gelder als Gewinnsumme wieder ausgegeben. Der Rest fließt in Kunst-, Sport- und Kulturförderfonds der Länder. Für den einzelnen Lottospieler bedeutet dies, dass er pro 100 Euro Einsatz im Schnitt nur 50 Euro herausbekommt - letztlich also auf ein ziemlich schlechtes Investment setzt.

Und doch gibt es ihn, den Glückspilz, der den Jackpot knackt. Der Glückspilz, so steht es im Grimmschen Wörterbuch, ist einer, der "wie ein Pilz plötzlich aus dem Nichts aufschießt". Bis ins mittlere 19. Jahrhundert hatte der Emporkömmling und Parvenü einen nicht ganz so guten Ruf. Erst später wurde er als "Glückskind" bekannt, als "jemand, der immer oder in einem besonderen Einzelfalle Glück hat". Vielleicht ist es diese Phantasie, auch einmal Glückspilz zu sein, die zum Lottofieber gehört. Die Vorstellung, am nächsten Tag dem Chef die Kündigung hinzuknallen, sich ein Erste-Klasse-Ticket zu kaufen und irgendwo hinzufliegen, egal wohin, Hauptsache weg. Diesen latenten Eskapismus bedient das Lotteriespiel.

Glücksritter, die eine höhere Auszahlungsquote als die 50 Prozent beim Lotto wollen, sollten ins Kasino gehen. Beim Roulette und beim Kartenspiel Black Jack sieht der Spieler 97 Prozent seines Einsatzes wieder. Dass die Chancen beim Kartenspiel noch höher liegen können, haben drei Statistik-Studenten vom Massachusetts Institute of Technology bewiesen. Wird nur mit einem Kartensatz gespielt, lässt sich die Wahrscheinlichkeit kommender Karten ausrechnen, indem man sich die bereits gezogenen Werte merkt. Mit dem Zählsystem räumten die drei Glückspilze Millionen ab. Solange, bis die Kasinos das merkten und die Regeln änderten.

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ISPO

Sporthändler zuversichtlich

München - Die deutschen Sporthändler rechnen trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise in diesem Jahr mit einer anhaltend lebhaften Nachfrage. "Anfang 2008 haben wir die Krise der Sportbranche beklagt, heute haben wir die Krise außerhalb der Sportbranche", sagte der Geschäftsführer des Händlerverbandes Sport 2000, Jens Fischer, am Sonntag auf der Sportartikelmesse Ispo in München. 2008 seien die Erlöse allein seines Verbandes im Vergleich zum Vorjahr um 5,8 Prozent auf 1,3 Milliarden Euro gestiegen. Der Gesamtumsatz im Handel mit Sportartikeln kletterte von 6,9 auf 7,1 Milliarden Euro. dpa

Sportartikelindustrie in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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VOLKSWAGEN

Leiharbeiter verlieren Job

Frankfurt - Der von Volkswagen angekündigte Verzicht auf Leiharbeiter führt einem Magazinbericht zufolge dazu, dass Zeitarbeitsfirmen allein in Deutschland für Tausende Arbeitnehmer neue Jobs suchen müssen. Die meisten der 4500 Leiharbeiter des Konzerns in Deutschland seien von dem Stellenabbau betroffen, berichtet der Spiegel unter Berufung auf einen nicht namentlich genannten VW-Manager. VW-Finanzchef Hans Dieter Pötsch hatte jüngst in einem Zeitungsinterview gesagt, der Konzern werde sich wahrscheinlich "von dem Gros der weltweit 16500 Leiharbeiter trennen". Reuters

VW AG (Volkswagen AG): Personal VW AG (Volkswagen AG): Sparmaßnahmen Zeitarbeit in Deutschland Folgen der Finanzkrise für die deutsche Autoindustrie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Flucht ins Private

In den Großstädten schrecken immer mehr Eltern vor den staatlichen Grundschulen zurück

Von Katrin Schaar

Die Bergmannstraße in Berlin- Kreuzberg ist ein attraktiver Kiez, Szenekneipen, Antiquitäten- und Dönerläden prägen das Altbauviertel. Außer Migranten leben hier viele Studenten und Kreative. Eine denkmalgeschützte Schule aus rot-gelbem Backstein gibt es auch. Aber das rostbraune Tor ist verschlossen, auf dem Schulhof und den alten Tischtennisplatten liegt Matsch und gekehrtes Laub. Der Schule fehlten die Schüler, Eltern meldeten ihre Kinder ab oder stellten Umschulungsanträge. Der letzte Jahrgang mit Schulanfängern umfasste nur noch 19 Kinder, überwiegend Kinder von Migranten.

Gute Schüler fliehen immer öfter aus den staatlichen Schulen, oder die Familien ziehen in ein anderes Viertel. Das Phänomen ist in vielen Innenstädten zu beobachten, in Berlin wird derzeit heftig darüber diskutiert. ,,Die Gründung zahlreicher privater Schulen, oft von den enttäuschten Eltern angeregt, ist eine eklatante Misstrauenserklärung an das Berliner Schulsystem'', schrieben vor kurzem 68 Schulleiter des Bezirks Mitte in einem Protestbrief. Viele deutsche Eltern würden nicht darauf vertrauen, dass ihre Kinder gemeinsam mit Kindern von Migranten gut lernen könnten, sagt Vera Vordenbäumen, Elternsprecherin der Lenau-Grundschule in Kreuzberg. ,,Was für die Kita noch normal war, gilt offensichtlich ab dem Schuleintritt nicht mehr.''

Der Ruf einer Schule wird immer wichtiger. Doch wie entsteht dieser Ruf? ,,Das ist überhaupt nicht fassbar. Das ist immer so die Spielplatzparole im Kiez - das, was im Kiez so erzählt wird'', sagt die Elternvertreterin. Am Ende orientieren sich viele vor allem an der sozialen Herkunft der Schüler. Als die Rosegger-Schule in der Bergmannstraße schließen musste, wurden die Kinder an umliegende Schulen verteilt. Doch nun beginnt alles von neuem: Der schlechte Ruf der geschlossenen Schule wanderte mit den Kindern an die früher als Vorzeigeschule bekannte Lenau-Schule. Auch sie leidet bereits unter sinkenden Anmeldezahlen. Vera Vordenbäumen versteht das nicht: ,,Da sind genau die gleichen kompetenten Pädagogen am Werke wie vorher.'' Allerdings stellte auch sie zunächst einen Ummeldeantrag, der aber abgelehnt wurde. Für viele ist der Anteil der Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, entscheidend für die Schulwahl. An der Lenau-Schule liegt er bei 70 Prozent, in anderen Schulen der Umgebung nur bei 30 Prozent - den begehrten Schulen.

Eltern der ,,bürgerlichen Mitte'' würden bei der Schulwahl nervös; sie grenzten sich gegen Milieus am unteren Rand der Gesellschaft ab, analysiert eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Titel ,,Eltern unter Druck''. Neue private Grundschulen verschärfen diesen Trend nach dem Kindergarten: Von 13 privaten Schulen, die im vorigen Jahr in Berlin neu eröffneten, waren acht Grundschulen, in Hamburg waren es fünf von zehn. In Köln stieg die Zahl privater Grundschüler innerhalb eines Schuljahres von knapp 400 auf fast 600. Christiane Witek, Sprecherin des Dachverbandes der Privatschulen, beobachtet, dass es immer mehr Anfragen zur Gründung freier Grundschulen gebe. "Diese Anfragen kommen besonders aus den Ballungsräumen."

Kluft zwischen Arm und Reich

Die Zahl der privaten Grundschüler steigt bundesweit: 2001 waren es 45 000, 2007 fast 74 000. Auch die geschlossene Schule in der Berliner Bergmannstraße soll jetzt als private Einrichtung wieder eine Zukunft erhalten. Vier freie Träger haben sich beworben, darunter eine Initiative für eine evangelische Schule, die den Wegzug aus dem Bezirk stoppen will. Doch Privatschulen erheben Schulgeld, nicht jeder kann sich das leisten, und der Vorsitzende im Schulausschuss des Bezirksparlaments, Björn Eggert (SPD), befürchtet ,,kannibalistische Effekte'' zu Lasten anderer Schulen.

Auf einer öffentlichen Veranstaltung diskutierten vor kurzem 200 Anwohner: Ist es richtig, die Schule an einen freien Träger zu übergeben, und welcher sollte das sein? Viele waren sich einig, dass die Gründung einer Privatschule eher die Segregation als die Integration fördere. Diesen Effekt bestätigt der Bildungsforscher Jürgen Oelkers in einer länderübergreifenden Studie: Freie Schulwahl und mehr private Bildungsanbieter würden eine soziale "Entmischung" begünstigen. Der Vorsitzende der Berliner Schulleitervereinigung, Wolfgang Harnischfeger, fordert deshalb, die staatlichen Schulen attraktiver zu machen: ,,Die Lösung kann nicht darin bestehen, Privatschulen zu verbieten, sondern die öffentlichen Schulen besser zu machen: Mehr Teamarbeit, weg vom frontalen Unterricht und neue Methoden.''

Schon jetzt gibt es staatliche Schulen in Problembezirken, die sehr erfolgreich arbeiten und sich vor Anmeldungen kaum retten können. In der Erika-Mann-Grundschule in Berlin-Wedding zum Beispiel, einem Stadtteil, in dem ebenfalls viele Migranten wohnen. Neben einer ansprechenden Gestaltung der Räume hat sich die Schule ein theaterbetontes Profil zugelegt, sie nimmt an Modellversuchen teil und gewinnt oft Preise, etwa für ihre Gewaltprävention oder ihre Leistungen im Mädchenfußball. Die Schule war 2008 sogar für den Deutschen Schulpreis nominiert.

Auch in Vierteln, die als schwierig gelten, können Schulen etwas für ihre Attraktivität tun. Die Schulleiterin der Erika-Mann-Schule, Karin Babbe, sagt, worauf es ankommt: "Unser Motto ist: Jeder ist willkommen, jedes Kind und alle Eltern." Sie und ihr Lehrerteam stecken viel Energie in die individuelle Förderung der Kinder. Mit intensiver Elternarbeit erreicht die Schule mittlerweile 95 Prozent der oft bildungsfernen Elternhäuser, sagt Babbe. "Allmählich stellt sich wieder eine gute Mischung ein. Das ist der einzige Weg, Segregation zu verhindern." In enger Zusammenarbeit mit den Kindergärten wird die Schule nun auch wieder attraktiv für Eltern, die schon fast dabei waren, eine private Schule zu gründen.

Nichts wie weg: Viele Schüler fliehen aus den staatlichen Schulen. Der Ruf einer Schule ist besorgten Eltern wichtig, oft beruht er aber auf diffusem Hörensagen und sagt wenig über die tatsächliche Unterrichtsqualität aus. Foto: Laif

Privatschulen in Deutschland Grundschulen in Deutschland Schulwesen in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Platz im Schatten

Die Soziallotterien von ARD und ZDF sind gefährdet, weil der Staat den Losverkauf im Internet massiv einschränkt

Von Alexander Mühlauer

München - Glücksspiel ist in Deutschland Staatssache. Kein Wunder, es bringt ja auch genügend Geld in die Kassen; Geld, das sich die Bundesländer nicht entgehen lassen. Sie sind es, die über Lotto und Toto, Sportwetten und Kasinos wachen. Auch die gemeinnützigen Fernsehlotterien "Ein Platz an der Sonne" (ARD) und "Aktion Mensch" (ZDF) stehen unter der Kontrolle der 16 Länder. Lange Zeit verdienten die beiden Soziallotterien sehr gut. Doch jetzt sind sie gefährdet. Seit 1. Januar dürfen sie ihre Lose nur noch unter strengen Auflagen im Internet verkaufen.

"Unser Auftrag, möglichst viel Geld für soziale Projekte zu erspielen, ist stark in Gefahr", sagt Christian Kipper, Geschäftsführer der ARD-Fernsehlotterie. Er befürchtet massive Einbrüche beim Losverkauf. Wie es aussehe, werde die ARD-Einrichtung in Zukunft 20 bis 30 Prozent weniger Geld an gemeinnützige Hilfsprojekte zur Verfügung stellen können. Auch die Aktion Mensch leidet unter dem Eingriff der Länder. "Unser Modell wird in Frage gestellt", sagt Geschäftsführer Dieter Gutschick.

Grund für die Aufregung: Die Bundesländer haben ein neues Glücksspielrecht erlassen, das seit 1. Januar gilt. Es soll die Bürger davor schützen, ihr Geld zu verzocken. Das Gesetz wurde nun auch auf das Internet ausgedehnt. Wie viele Spielsüchtige es in Deutschland gibt, weiß keiner so genau. Die Zahlen schwanken bei den pathologisch Kranken zwischen 100 000 und 290 000, bei den sogenannten problematischen Fällen sind es bis zu 340 000 Menschen. Die Frage ist, ob auch die beiden Soziallotterien die Glücksspielsucht fördern. Gutschick reagiert empört: "Wer bei uns Lose bestellt, wird bestimmt nicht süchtig."

Der Grund für das rigide Vorgehen der Ministerpräsidenten ist ziemlich banal. Sie wollen ihr Glücksspiel-Monopol schützen, auf die jährlichen Milliardeneinnahmen will kein Bundesland verzichten. Lange Zeit haben die Länder das Thema Spielsucht vernachlässigt, sie haben lieber kassiert. Nun scheren sie, aus Angst um ihre Lotto-Milliarden, alle Lotterien über einen Kamm. Auch die gemeinnützigen Einrichtungen.

Dabei funktionierte das Geschäftsmodell der Fernsehlotterien gut. Die beiden TV-Lotterien verkaufen dank Sendungen wie "Wetten, dass . . . ?" jedes Jahr mehr als eine halbe Milliarde Euro Lose. Der größte Teil der Erlöse fließt in die Kinder- und Jugendhilfe oder kommt alten Leuten und Behinderten zugute. Etwa ein Drittel der Einnahmen wird als Gewinn ausgeschüttet, als Preise gibt es Bargeld oder Eigenheime. Auch die Bundesländer kassieren mit, sie streichen eine Lotteriesteuer ein. Die Organisation und Verwaltung der beiden Fernsehlotterien kosten das wenigste Geld. Getragen werden die TV-Lotterien von ARD und ZDF sowie der Arbeiterwohlfahrt, dem Caritasverband und dem Roten Kreuz.

Jetzt ist der Platz an der Sonne in Gefahr. Das Internet ist ein wichtiger Weg, um die Lose zu verkaufen. "15 Prozent der Neukunden kamen bisher übers Netz", sagt Gutschick. Alle Vorteile, die das Internet biete, wische der Staat einfach weg. Wer ein Los bestellen will, dem werde es unnötig schwergemacht, sagt auch Kipper von der ARD. Um nachzuprüfen, ob ein Loskäufer über 18 Jahre alt ist, muss die Lotterie die angegebenen Daten bei der Schufa abgleichen. Wenn alles passt, wird der Online-Besteller angeschrieben, damit er seine Angaben noch einmal bestätigt. Erst dann wird das Los per Einschreiben verschickt, denn nur der Besteller darf das Los in Empfang nehmen. Ist er nicht zu Hause, muss er zur Post. Allein die Portokosten, klagt Kipper, stiegen von 55 Cent auf 4,40 Euro. "Wer bestellt bei diesem Aufwand noch online?", fragt er.

Ilona Füchtenschnieder vom Fachverband Glücksspielsucht hält das Klagen der Soziallotterien für übertrieben: "Die TV-Lotterien sollen mal den Ball flach halten, immerhin sind sie die einzigen Lotterien, die noch Fernsehwerbung machen dürfen." Sie hat nichts gegen die Soziallotterien, schon gar nicht gegen die Hilfen für Bedürftige. Ihr geht es um die Botschaft: "Viele Menschen sagen, wenn es sozial gerade nicht so gut läuft, probier's doch mal mit Glücksspiel." Es ist diese "glücksspielpositive Stimmung", die sie stört. Füchtenschnieder ist der Meinung, dass soziale Aufgaben durch Steuergelder finanziert werden sollten - und nicht durch Glücksspiel.

Eines prangern auch Gutschick und Kipper an: Pferdewetten und das Spielen am Geldspielautomaten fallen nicht unter den Glücksspielstaatsvertrag der Länder. Sie unterliegen der Gewerbeordnung, und um die kümmert sich der Bund. Dabei sei doch erwiesen, so Suchtexpertin Füchtenschnieder, dass der Geldautomat am meisten Glücksspielsüchtige verursache - dagegen seien die Soziallotterien harmlos.

Werbung für die ARD-Fernsehlotterie "Ein Platz an der Sonne" im Jahr 1961.

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Integrationskurse im Klassenzimmer

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), möchte mit Hilfe von Integrationskursen an Schulen den Bildungserfolg von Zuwanderer-Kindern erhöhen. Sie schreibe deshalb derzeit zusammen mit dem Bundesamt für Migration alle deutschen Schulen an. In dem Brief rege sie an, dass die Schulen auf Kosten des Bundes selbständig Integrationskurse für Eltern in ihrer Einrichtung anbieten, sagte Böhmer am Wochenende in Stuttgart. Schlechte Deutschkenntnisse und ein mangelnder Kontakt der Eltern zu den Schulen gelten als eine der Ursachen für den Misserfolg vieler Zuwanderer-Kinder an deutschen Schulen. Vergangene Woche hatte eine Studie des Berlin-Instituts diesen Befund untermauert. Demzufolge bleiben vor allem Jugendliche mit türkischen Wurzeln an deutschen Schulen oft erfolglos. Böhmer sagte, den Fokus nur auf Türkischstämmige zu legen, sei nicht richtig. "Ähnlich schlechte Bildungsergebnisse finden wir bei den italienischen Kindern." Böhmer rief am Samstag bei einer Veranstaltung in Ludwigsburg zusammen mit dem Botschafter Italiens die italienischen Eltern auf, mehr für die Bildung ihrer Kinder zu tun. rpr

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Junge Lehrer wollen Berlin verlassen

In Berlin drohen mehr als 120 junge Lehrer damit, aus der Stadt abzuwandern, weil sie in anderen Bundesländern mehr verdienen könnten. Bemühungen des Bildungssenators Jürgen Zöllner (SPD), den Pädagogen entgegenzukommen, zeigen bisher wenig Wirkung. Der Sprecher der Lehrerinitiative "Verbeamtung jetzt!", Thorsten Ulrich, sagt, er und seine Kollegen würden weiterhin erwägen, sich abwerben zu lassen. Zöllner hatte bei einem Treffen Ende voriger Woche zwar betont, die Pädagogen halten zu wollen, konkrete Zusagen gab er jedoch nicht. Berlin verbeamtet seine Lehrer seit 2004 nicht mehr, das Nettogehalt neu eingestellter Lehrer ist im Vergleich zu den meist älteren, verbeamteten Kollegen stark gesunken. In anderen Bundesländern verdienen junge Lehrer mehrere Hundert Euro netto mehr, dort werden sie zudem verbeamtet. Baden-Württemberg und Hamburg signalisieren bereits Interesse n den abwanderungswilligen Berlinern. Baden-Württemberg will bundesweit auch mit Plakaten und Anzeigen um Lehrer buhlen, gefragt sind dort vor allem Gymnasial- und Berufsschullehrer in den Naturwissenschaften und in Metall- und Elektrotechnik. taff

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Firmen von Finanzinvestoren droht Pleitewelle

Fachleute erwarten, dass bis zu ein Viertel der betroffenen deutschen Unternehmen ihre hohen Schulden nicht bedienen können

Von Martin Hesse

Frankfurt - Wenn sich Finanzinvestoren von diesem Montag an in Berlin zu ihrem jährlichen Weltgipfel "Super Return", also: Supergewinn, treffen, dürfte die Stimmung so düster sein wie schon lange nicht mehr. Den erfolgsverwöhnten Firmenkäufern gelingen kaum noch neue Übernahmen, sie müssen ihre Geldgeber besänftigen. Doch auch die Beschäftigten ihrer Unternehmen werden jedes Signal aus Berlin aufmerksam verfolgen. Denn Firmen, die Beteiligungsgesellschaften gehören, dürften von der Rezession besonders stark betroffen sein. "Ein Viertel der deutschen Firmen, die im Besitz von Finanzinvestoren sind, könnten zu Restrukturierungsfällen werden", erwartet Volker Brühl, Bereichsvorstand für Unternehmensfinanzierung bei der WestLB. Das heißt nicht unbedingt, dass sie pleitegehen. Aber sie brauchen neues Geld und müssen ihr Geschäft sanieren, etwa indem sie Bereiche verkaufen, Kosten senken und Stellen abbauen.

Finanzinvestoren haben in den vergangenen Jahren in Deutschland Hunderte Firmen gekauft. "Seit Oktober kommen jede Woche zwei bis drei Restrukturierungsfälle auf uns zu", sagt Heinrich Kerstien, Sanierungsexperte bei der Investmentbank Rothschild. Und die große Welle von - zum Teil sehr guten - Firmen, die auf dem Höhepunkt des Booms mit zu hohen Krediten übernommen worden seien, komme erst noch. "Firmen, die von einem Finanzinvestor aufgekauft wurden, sind in aller Regel höher verschuldet als andere", erklärt er.

Diese Schulden werden im Abschwung zum Problem. "Die Investoren gingen oft von Geschäftsplänen aus, die auf zu optimistischen Annahmen basierten, insbesondere in Anbetracht der Entwicklung der weltweiten Wirtschaft", sagt David Dreyfus von der Beratungsfirma Lilja & Co. In einer Umfrage der Investmentbank Jefferies unter 150 Finanzinvestoren und Banken gaben auch jetzt noch mehr als die Hälfte der Investoren an, sie rechneten in ihren Firmen maximal mit einem Gewinnrückgang um zehn Prozent. "Das liest sich wie Zweckoptimismus", sagt Martina Ecker, Geschäftsführerin bei Jefferies. Realistischer seien deutlich höhere Ergebnisrückgänge.

"Die meisten Pleiten wird es in der Autozulieferindustrie geben", erwartet Ecker. In dieser Branche gehört etwa ein Viertel der größeren Anbieter Beteiligungsgesellschaften. Insolvenz angemeldet hat bereits der Schallisolierungsspezialist Stankiewicz, den ein niederländischer Finanzinvestor 2006 übernommen hatte. Das Magazin Finance berichtet, auch die Autozulieferer Edscha (Eigentümer ist der Investor Carlyle), Saargummi (Odewald & Cie) und Neumayer Tekfor (Barclays Private Equity) bräuchten von ihren Eignern frisches Geld.

Abschlag am Kreditmarkt

Ablesen lassen sich die Probleme der Firmen im Besitz von Finanzinvestoren auch am Kreditmarkt. Schulden von zahlreichen dieser Unternehmen werden mit Abschlägen von mehr als 50 Prozent gehandelt. Bei Edscha etwa lagen die Anleihenkurse in den vergangenen Wochen zeitweise unter 30 Prozent. Die Schuldscheine der Werkstattkette ATU werden zu ähnlichen Kursen gehandelt, obwohl die Eigentümer KKR und Doughty Hanson 2008 bereits einmal Geld nachschossen. "Wenn Firmenkredite an den Märkten mit Kursabschlägen von mehr als 50 Prozent gehandelt werden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es zu Zahlungsproblemen kommen kann", sagt Rothschild-Fachmann Kerstien. Das muss allerdings nicht so sein. Der Handel mit Krediten ist derzeit dünn, auch Kurse solider Firmen stehen unter Druck.

Aber die Kursabschläge sind ein Hinweis darauf, dass es für die Firmen schwieriger und teurer wird, sich neues Geld zu besorgen. "Den Gläubigerbanken wäre es angesichts der eigenen Probleme am liebsten, wenn die Beteiligungsfirmen frisches Kapital einschießen", sagt Ecker. Doch viele Finanzinvestoren scheuten sich, schlechtem Geld gutes nachzuwerfen. "Andererseits besteht für Gesellschaften, die weiter in Deutschland investieren wollen, ein gewisses Reputationsrisiko." Der ein oder andere große amerikanische Finanzinvestor dürfte sich aber in die USA zurückziehen und dann wenig Skrupel haben, deutsche Firmen fallenzulassen, wenn er keine Zukunft sieht, glaubt Ecker. Dagegen stecke in den mittelständischen Beteiligungsgesellschaften viel deutsches Geld, etwa von Versicherungen und Landesbanken. "Diese Investoren dürften sich eher scheuen, Unternehmen in die Insolvenz gehen zu lassen."

Manchen Eignern fehlen auch schlicht die Mittel, ihre Firmen zu stützen. "Für viele Beteiligungsgesellschaften wird es heiß, sie werden Firmen verkaufen müssen", erwartet Brühl. Jetzt werde sich zeigen, wer mehr kann, als mit geschickten Finanzierungstechniken in guten Zeiten Gewinne einzufahren. Es gebe große Chancen für Investoren, die auf Sanierungen spezialisiert sind. Nur: Die meisten Investoren hätten diese Expertise eben nicht. "Daher werden eine ganze Reihe Beteiligungsgesellschaften von der Bildfläche verschwinden."

Ein Mitarbeiter von ATU Auto-Teile-Unger in Weiden montiert Reifen: Die Werkstattkette will etwa 650 Beschäftigte entlassen. Sie gehört den beiden Finanzinvestoren KKR und Doughty Hanson und ist hoch verschuldet. Foto: ddp

Beteiligungsgesellschaften Firmenübernahmen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Peer Steinbrück tut es auch

Berlin - Der Fotograf Wolfgang Kumm von der Nachrichtenagentur dpa hatte am vergangenen Donnerstag im Bundestag das Objektiv zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Person gerichtet: Er fotografierte, wie Bundesfinanzminister Peer Steinbrück einen Lottoschein in die Innentasche seines Sakkos steckte. In der Debatte ging es übrigens um das Thema soziale Gerechtigkeit und Bekämpfung von Armut.

Es waren die Fotos des Tages. Sofort gab es Frotzeleien. Tippt Steinbrück im Auftrag seines Ministeriums, um die Milliarden, die dem Bundeshaushalt durch die Bankenkrise verlorengehen, in einem ersten Schritt hereinzuholen?

Am Freitag klärte sich auf, wo der Minister den Lottoschein her hatte: Es handelte sich um ein Geschenk der Brandenburgischen SPD-Landtagsfraktion. Die Abgeordneten sahen das Geschenk als Beitrag zur Eindämmung der explodierenden Staatsschulden. Angekreuzt waren Steinbrücks Geburtsdaten, dazu die Ziffern 27, 09 und 40. Fraktionschef Günter Baaske erläuterte, was es damit auf sich hat: "27. September: 40 Prozent für die SPD." Am 27. September 2009 ist die Bundestagswahl und in Brandenburg Landtagswahl.

Doch der 28-Millionen-Jackpot wurde am Mittwoch nicht geknackt. Für den Staatshaushalt hätte es ohnehin nicht viel gebracht: Bei der Staatsverschuldung von 1,5 Billionen Euro müsste Steinbrück den Jackpot gut 50 000-mal gewinnen, um schuldenfrei zu sein. hf/dpa

Foto 1: Peer Steinbrück nestelt in der Innentasche seines Sakkos. Foto 2: Auf einem Papier steht "Einfach in Rente". Foto 3: Die Rückseite des Papiers - es handelt sich um einen ausgefüllten Lottoschein. Fotos: dpa

Steinbrück, Peer: Kuriosa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gewerkschaft nennt Angebot der Bahn "Zumutung"

Arbeitgeber machen Höhe der künftigen Gehälter von Unternehmens-Gewinnen abhängig

Von Detlef Esslinger

München - Die Tarifverhandlungen bei der Bahn sind festgefahren. Zwar legte das Unternehmen am Freitag in Frankfurt ein neues Angebot vor, die Gewerkschaften wiesen dies jedoch als "Zumutung" zurück. Eigentlich wollen beide Seiten bis Samstag einen Abschluss erzielen. Sie verhandeln über Arbeitszeiten und Gehälter. Von Sonntag an wären die Gewerkschaften auch beim Thema Gehälter aus der Friedenspflicht heraus. Am Freitagabend wollte die Bahn ihr Angebot noch einmal verbessern.

Die Bahn bot den Beschäftigten an, ihre Einkommen in mehreren Stufen zu erhöhen. Zum 1. März solle es ein Prozent mehr Geld geben, im Dezember solle eine Einmalzahlung von 500 Euro folgen - aber nur dann, falls der Konzern in diesem Jahr wieder "das Ergebnis" von 2008 erziele. Wie hoch dies ausfiel, ist noch nicht bekannt. Im ersten Halbjahr hatte die Bahn einen Gewinn von 1,4 Milliarden Euro. Weiter bot die Bahn an, im März kommenden Jahres die Einkommen erneut anzuheben: und zwar um ein Prozent, falls der Konzern im Jahr 2009 einen geringeren Gewinn erziele als im vergangenen, oder aber um zwei Prozent, falls er dieses Jahr genauso erfolgreich sein werde wie im vergangenen. Darüber hinaus bot die Bahn den Gewerkschaften an, die Arbeitszeitbestimmungen zu "optimieren". Die Vorschläge dazu wurden von den Gewerkschaften aber als wolkig empfunden.

Der Vorsitzende der GDBA, Klaus-Dieter Hommel, sagte, das Angebot sei ein Witz. Es habe keinerlei substantielle Verbesserungen gegeben, das Taktieren der Bahn gehe weiter. Transnet-Chef Alexander Kircher kritisierte, dass sich das Angebot ausschließlich an den Gewinnen orientiere. "Das ist nicht hinnehmbar." Beide Gewerkschaften fordern Einkommenserhöhungen von zehn Prozent. Der Vorsitzende der GDL, Claus Weselsky, sagte, das Angebot habe zur "Verschärfung der Verhandlungssituation" geführt. Seine Gewerkschaft, die getrennt von den beiden anderen verhandelt, fordert Einkommenserhöhungen von 6,5 Prozent, neben besseren Arbeitszeiten. Alle Gewerkschaften verlangen eine Laufzeit von einem Jahr, die Bahn will eine Vereinbarung über zwei Jahre.

Die Reaktionen der Gewerkschaften fielen auch deshalb so harsch aus, weil Bahn-Personalchef Norbert Hansen zuvor hohe Erwartungen geweckt hatte. Er hatte angekündigt, ein Angebot vorzulegen, das "auf alle Forderungen eingeht". Hansen war bis vor einem Dreivierteljahr Vorsitzender der Transnet; am Freitag brachte die Gewerkschaft abermals zum Ausdruck, wie enttäuscht sie von ihrem alten Chef ist. "Es wurden Torten angekündigt, aber herumgekommen sind Kekse", sagte ihr Sprecher.

Offensichtlich handelte es sich bei dem Angebot aber nur um einen taktischen Zug der Bahn - in der Annahme, dass die Gewerkschaften ihr Angebot ohnehin zurückweisen würden, vermied es das Unternehmen offensichtlich, mit teuren Zugeständnissen in die Verhandlungen zu gehen. Vorstand Hansen sprach von einem "Eröffnungsangebot".

Falls an diesem Wochenende keine Einigung in den Tarifgesprächen bei der Bahn erzielt wird, werden in der kommenden Woche viele Schalter geschlossen bleiben und Reisende vergeblich auf ihre Züge warten. Die Bahngewerkschaft Transnet droht mit neuen Warnstreiks. Foto: dpa

Verkehrsgewerkschaft GDBA Transnet Gewerkschaft GdED Deutsche Bahn AG DB: Arbeitsbedingungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Uni will Gebühr verfeuern

Studentenprotest in Hohenheim: Staat soll Heizkosten zahlen

Von Frank van Bebber

Die Frage, wofür Studiengebühren verwendet werden, löst in den Hochschulen immer wieder Konflikte aus. An der Universität Hohenheim vor den Toren Stuttgarts wehren sich die Studenten derzeit dagegen, dass mit ihrem Geld ein Millionen-Loch im Haushalt ihrer Hochschule gestopft und die steigenden Energiekosten ausgeglichen werden. Bei einer Abstimmung Ende voriger Woche sprachen sie sich gegen den Plan des Rektors Hans-Peter Liebig aus, 1,6 Millionen Euro Studiengebühren zur Rettung der Uni-Finanzen zu nutzen. "Wir sehen die Pflicht beim Land, für die Grundausstattung zu sorgen", sagt der Asta-Vorsitzender Stefan Haffke. Da der Rektor nicht gegen den Willen der Studenten entscheiden will, kann die Universität mit mehr als 100 Professoren und etwa 6000 Studenten nun zunächst keinen Haushalt verabschieden.

Der Rektor stehe im Wort, versichert Uni-Sprecher Florian Klebs. Mit den Studenten wurde im "Hohenheimer Modell" vereinbart, Gebühren in diesem Umfang nur im Konsens auszugeben. Im Haushalt fehlen 3,6 Millionen Euro, unter anderem weil die Energiekosten rasant gestiegen sind und das Land Baden-Württemberg den bisher gewährten Heizkosten-Zuschuss streicht. Zudem habe das Land den Universitäten mit den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen und eigenen Zulassungsverfahren Aufgaben aufgehalst, ohne dafür mehr Geld zu geben, klagt die Uni-Leitung.

Wirbel lösen die Hohenheimer Vorgänge auch deshalb aus, weil sie nach dem Motto "Studiengebühren für Heizkosten" an frühere Pläne in Freiburg und Ulm erinnern. In den vergangenen zwei Jahren hatte das Land Baden-Württemberg schließlich auf die steigenden Energieausgaben reagiert, indem es den Universitäten insgesamt jährlich sechs Millionen Euro extra überwies. Doch dieses Geld fällt nun weg.

Bei der Urabstimmung hatten sich mehr als 1100 Studenten gegen einen "Rettungsschirm" aus Studiengebühren ausgesprochen, nur 83 stimmten nach Asta-Angaben dafür. Man poche auf das Versprechen der Gebühren-Anhänger, dass die Grundausstattung ohne das Geld der Studenten finanziert werde, sagt Haffke. Der Rektor müsse dem Land deutlicher machen: "Unsere Universität ist unterfinanziert."

Wieder Boykott-Aufrufe

Nach Liebigs Rettungsplan sollte die Hälfte des Defizits durch Einsparungen bei der Forschung aufgefangen werden und die andere Hälfte aus der Campus-Maut kommen. Nun drohen auch Kürzungen in der Lehre: bei Tutorien, Dozenten und der Bibliothek. Der Universit tsrat soll sich im März mit der Lage befassen; das mehrheitlich mit auswärtigen Mitgliedern besetzte Aufsichtsgremium ist für den Beschluss des Haushaltsentwurfs zuständig. Es könnte sich auch über den Willen der Studenten hinwegsetzen.

Das baden-württembergische Wissenschaftsministerium betonte, mit Studiengebühren dürfe nicht die Heizungsrechnung bezahlt werden. Das Geld müsse in die Lehre fließen. Allerdings gibt es Kniffe, die den Universitäten gelegen kommen: Das Gebührengesetz des Landes verlangt nur, dass die Gebühren in die Lehre fließen - nicht aber, dass sie das bestehende Angebot verbessern. Es wäre demnach durchaus möglich, mit ihnen die Grundausstattung zu bezahlen. Und das ermöglicht den nächsten Kniff: Das so gesparte Lehrgeld kann anschließend umgeleitet werden, beispielsweise in den Heizkostenetat.

Studenten in Freiburg kündigten unterdessen erneut Widerstand gegen die Studiengebühren an. An der Katholischen Fachhochschule schlossen sich mehr als 125 Studenten einem Boykott an. Sie überschritten damit die selbst gesetzte Schwelle, um die Verweigerung der Zahlung durchzuhalten. Ziel seien zumindest sozialverträglichere Befreiungsregeln, hieß es. An der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg protestieren Studenten bereits mit einer organisierten Flut von Härtefallanträgen. Und auch an der Universität Freiburg und an der Pädagogischen Hochschule soll in Kürze über die Teilnahme an einem Boykott abgestimmt werden. In den vergangenen Jahren waren entsprechende Aktionen allerdings meist nach einiger Zeit wieder versandet.

Die Uni Hohenheim will mit Studentengeld Etatlöcher stopfen. Foto: Mauritius

Universität Hohenheim: Finanzen Studiengebühren an deutschen Hochschulen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Klassenwechsel für werdende Eltern

Immer mehr Gerichte geben Paaren recht, die vor der Geburt mit einem Steuertrick ihren Anspruch auf den Kinderzuschuss erhöhen

Von Marco Völklein

München - Die Abwrackprämie ist derzeit in aller Munde. Doch als besonders erfolgreiche staatliche Unterstützung hat sich zuletzt das Elterngeld herausgestellt. "Das Elterngeld hat unsere Erwartungen weit übertroffen", sagt Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Es werde von mehr als 99 Prozent aller Haushalte beantragt, in denen ein Kind geboren wird, so die Ministerin.

Allerdings gibt es auch oft Streit um das Elterngeld - nämlich dann, wenn die Eltern vor der Geburt des Kindes ihre Steuerklasse gewechselt haben, um so einen höheren Zuschuss vom Staat zu kassieren. Grundsätzlich wird das Elterngeld nach dem Nettoeinkommen des Elterngeldbeziehers berechnet. Viele Eltern wechseln daher kurz vor Beginn des Elterngeldbezugs die Steuerklasse - und erhöhen so ihr Nettoeinkommen. Entsprechend mehr Elterngeld erhalten sie.

Die Elterngeldstellen, die je nach Bundesland verschiedenen Behörden zugeordnet sind, ignorieren diesen Wechsel allerdings bisher. Dazu wurden sie vom Bundesfamilienministerium angewiesen. "Sie berechnen das Elterngeld weiterhin nach der bisherigen Steuerklasse", sagt Erich Nöll vom Bundesverband der Lohnsteuerhilfevereine (BDL). Doch bereits mehrere Sozialgerichte haben entschieden, dass diese Praxis der staatlichen Stellen nicht korrekt ist.

So urteilten die Sozialgerichte in Dortmund (Az. S 11 EG 8/07 und S 11 EG 40/07) und Augsburg (Az. S 10 EG 15/08), dass die Praxis der Elterngeldstellen den gesetzlichen Vorgaben widerspricht. Der Gesetzgeber habe von der vorhandenen Wahlmöglichkeit der Ehegatten gewusst - hätte er diese untersagen wollen, so hätte er dies ins Gesetz schreiben müssen. Ähnlich argumentierte zuletzt auch erstmals die nächsthöhere Instanz - als erstes Landessozialgericht in Deutschland gab das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zwei klagenden Eltern recht. Es entschied ebenfalls, dass der Steuerklassenwechsel erlaubt ist und der Staat ein höheres Elterngeld zu zahlen hat (Az. L 13 EG 40/08 und L 13 EG 51/08). Ein Rechtsmissbrauch durch die Eltern, den das Familienministerium unterstellt, liege nicht vor, befand das Gericht. Vielmehr nutzten die Eltern eine legale steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeit. Die Urteile sind aber noch nicht rechtskräftig. Das Bundessozialgericht wird letztlich darüber zu entscheiden haben. Dort sind zwei Verfahren anhängig  (Az. B 10 EG 4/08R und B 10 EG 3/08R).

Berechnet wird das Elterngeld nach dem Nettoeinkommen der letzten zwölf Monate vor dem Geburtsmonat. Eltern bekommen 67 Prozent des entfallenden Nettolohns, höchstens 1800 Euro, mindestens 300 Euro. "Je höher das Nettogehalt in den letzten zwölf Monaten vor der Geburt ist, desto höher ist das Elterngeld", erläutert die Stiftung Warentest.

Eigentlich ist Steuerklasse III für den Partner in einer Ehe gedacht, der das höhere Einkommen hat. Sein Arbeitgeber zieht dann weniger Lohnsteuer vom Gehalt ab, der Nettolohn steigt. Der andere Partner dagegen wird in Steuerklasse V eingestuft und muss mehr Steuern zahlen. Unter dem Strich aber hat das Paar etwas mehr Nettogehalt. Bei der Wahl der Steuerklassen hilft auch ein Steuerklassenrechner der bayerischen Finanzverwaltung im Internet (www.lfst.bayern.de, Rubrik "Download").

Für das Elterngeld jedoch lohnt es sich, wenn der Partner, der den größeren Teil der Elternzeit nehmen wird, im Jahr vor der Geburt in Steuerklasse III wechselt - auch wenn er weniger verdient, rät die Stiftung Warentest. Er erhält dann ein höheres Elterngeld. Dabei ist aber zu beachten, dass das Elterngeld dem "Progressionsvorbehalt" unterliegt. Das heißt: Das Elterngeld ist zwar an sich steuerfrei; es wird aber zum zu versteuernden Einkommen hinzuaddiert, wenn es darum geht, den Steuersatz festzulegen. So ergibt sich ein höherer Steuersatz, der auf die sonstigen Einkünfte angewendet wird. Unter Umständen "kann es dadurch zu Steuernachzahlungen kommen", sagt BDL-Geschäftsführer Nöll. Der Vorteil des höheren Elterngeldes werde dadurch aber nicht eliminiert.

Ebenfalls zu beachten ist, dass der Steuerklassenwechsel den weiterhin berufstätigen Ehegatten benachteiligen kann. Im Falle von Arbeitslosigkeit oder Krankheit erhält er ein geringeres Arbeitslosen- beziehungsweise Krankengeld, denn auch diese Leistungen berechnen sich nach dem zuvor bezogenen Nettoeinkommen.

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Land unter

Finanzkrise erreicht die Schiffsfonds

Hamburg - Die Finanzkrise hat nun auch die Schiffsfonds erreicht. Gleich drei Fonds aus Norddeutschland haben nach Angaben des Deutschen Verbraucherschutzrings (DVS) in den vergangenen Wochen Insolvenz angemeldet. Anleger müssen Experten zufolge mit einem Totalverlust rechnen, und auch Investoren anderer Schiffsbeteiligungen drohen erhebliche Verluste. Grund ist der dramatische Verfall der Fracht- und Charterraten. So sind die Transportkosten für einen Standardcontainer von Asien nach Europa innerhalb eines Jahres von 2000 Dollar auf rund 400 Dollar gesunken.

"Die Situation für die Reedereien ist schwierig, einige haben bereits Schiffe stillgelegt", sagt Burkhard Lemper vom Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL) in Bremen. Nach den jüngsten Prognosen des Internationalen Währungsfonds sei zu erwarten, dass der weltweite Containerverkehr in diesem Jahr stagniere. Verschärft wird die Situation durch das Überangebot bei den Containerschiffen. "In diesem Jahr werden 565 Frachter mit einer Kapazität von zwei Millionen Containern ausgeliefert, das entspricht einem Kapazitätszuwachs von 16,5 Prozent", sagt Lemper.

Geschlossene Schiffsfonds zählen zum Grauen Kapitalmarkt und werden nicht staatlich überwacht. Wegen steuerlicher Vorteile waren sie in den vergangenen Jahren begehrt. 2008 investierten Anleger rund 2,8 Milliarden Euro in Schiffsbeteiligungen, meldet der Verband Geschlossene Fonds (VGF). "Das Risiko einzelner Fonds ist für Privatanleger nicht leicht zu erkennen", erläutert Ariane Lauenburg vom Magazin Finanztest der Stiftung Warentest. Ein hohes Risiko bestehe etwa dann, wenn die Fonds keine Leistungsbilanz bieten, weil sie entweder neu auf dem Markt sind oder in der Vergangenheit schlecht liefen. Das gelte auch, wenn die Laufzeit mehr als zehn Jahre beträgt, nur ein Schiff finanziert wird und die Fremdkapitalquote mehr als 75 Prozent beträgt. AP

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Koalition in Hessen perfekt

CDU und FDP einig Liberale stellen drei Minister

Wiesbaden - Hessen wird künftig von einer Koalition aus CDU und FDP regiert. Nachdem beide Parteien sich in der Nacht zum Freitag auf einen Koalitionsvertrag geeinigt hatten, steht noch die Zustimmung der Gremien aus; zudem soll die Besetzung einiger CDU-geführter Ministerien bis kurz vor der Wahl des Ministerpräsidenten am Donnerstag offen bleiben. Die FDP wird wegen ihrer Stimmengewinne bei der Landtagswahl drei Ministerposten besetzen. Die Landtagsfraktionen beider Parteien stimmten dem Vertrag am Freitag jeweils einstimmig zu.

Zwar nannte die FDP am Freitag offiziell noch keine Namen. Mit dem Vorbehalt, dass an diesem Samstag der erweiterte Landesvorstand zustimmen muss, steht die Besetzung aber fest: FDP-Landeschef Jörg-Uwe Hahn soll stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Justiz, Integration sowie Europaangelegenheiten werden. Sein Stellvertreter Dieter Posch wird wie bereits 1999 Wirtschafts- und Verkehrsminister. In der Abgeordneten Dorothea Henzler wird die FDP zudem die Kultusministerin stellen.

Damit ist im Kabinett kein Platz mehr für den bisherigen Wirtschaftsminister Alois Rhiel (CDU), der seinen Wechsel in die Wirtschaft angekündigt hat. Auch die Ressorts des Europaministers Volker Hoff sowie des geschäftsführenden Kultus- und Justizministers Jürgen Banzer sind nun besetzt. Hoff erklärte seinen Verzicht auf einen Posten. Der derzeit noch geschäftsführende Ministerpräsident Roland Koch kündigte an, der CDU-Fraktion am Mittwoch die Besetzung der Ministerien vorzustellen.

Koch und Hahn betonten bei der Vorstellung des Vertrags unter dem Titel "Vertrauen. Freiheit. Fortschritt" die Gemeinsamkeiten ihrer Parteien. Vor allem in der Schulpolitik sollen neue Akzente gesetzt werden. Jeder Schule soll es offenstehen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Den sogenannten Selbstständigen Schulen werden teilweise Budgethoheit und Personalverantwortung eingeräumt. Die von der FDP angestrebte verpflichtende Kinderschule wird nicht eingeführt; stattdessen soll das letzte Kindergartenjahr genutzt werden, um Kinder besser auf die Schule vorzubereiten. An den Schulen werden in den nächsten fünf Jahren 2500 neue Stellen entstehen; zudem sollen die Klassen kleiner werden.

Noch in diesem Jahr sollen 550 Polizeianwärter eingestellt werden; hinzu kommen 150 zusätzliche Wachpolizisten. Koch stellte klar, dass die Zahl der Stellen im Landesdienst dennoch während der Legislaturperiode nicht wachsen, sondern auf dem heutigen Stand bleiben solle. Ein weiterer Schwerpunkt sind Investitionen in die Infrastruktur. Koch sagte, man werde "sehr heftig darum kämpfen", die Nettoneuverschuldung zu reduzieren. Man strebe zudem eine Änderung der Landesverfassung an, die eine Neuverschuldung verbieten soll. Koch und Hahn kündigten an, die dafür notwendige Volksabstimmung vorzubereiten. (Seite 4) Christoph Hickmann

An den Schulen sollen 2500 neue Stellen geschaffen werden.

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Big Sugar ist Geschichte

Auch das ist das neue Amerika: Florida schließt die Zuckerindustrie, um die einzigartige Natur der Everglades zu retten. Doch viele verlieren Arbeitsplatz und Heimat

Von Moritz Koch

Clewiston - Amerikas süßeste Stadt verspricht das Schild am Straßenrand. Doch Clewiston, das Zentrum der amerikanischen Zuckerindustrie, ist ein Ort der Bitterkeit. Der Weg führt vorbei an Fast-Food-Restaurants und verlassenen Motels. Nur in Brenda's Place ist etwas Leben. Ein paar Gäste spielen Billard, andere vertreiben sich die Abendstunden vor dem Fernseher und kippen Wodka hinunter, verdünnt mit Diet Coke. Leuchtreklamen tauchen die Bar in fahles Blau. Die Wand hinter dem Tresen ziert ein gerahmter Spruch: "Alle Gäste machen uns froh. Die einen, wenn sie kommen. Die anderen, wenn sie gehen."

George und Elaine scheinen willkommen zu sein. Missy, die wuchtige Barfrau, ist gerade damit beschäftigt, den beiden Drinks zu mixen. Jahrelang haben George und Elaine in der Landwirtschaft Clewistons gearbeitet. Sie als Lkw-Fahrerin, er auf den riesigen Feldern, die sich im Süden der Stadt ausbreiten. Doch das ist lange her. Sie haben ihre Jobs verloren und sind fortgezogen. Nur noch in den Ferien kommen sie zurück in die Heimat. Elaine wickelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger und sagt: "Die Leute sagen, dass Clewiston stirbt. So ein Quatsch. Es ist längst tot."

Dass man überhaupt noch spricht von Clewiston in diesen Tagen, hat nur einen Grund. Floridas Gouverneur Charlie Crist will die US Sugar Corporation verstaatlichen, den größten Arbeitgeber der Stadt. Nicht um das Unternehmen zu retten, sondern um es zu schließen. Die Felder sollen dem Umweltschutz geopfert werden, mitsamt den 1700 Arbeitsplätzen. Wer auch immer in Clewiston gehofft hatte, dass die Krise der Zuckerindustrie vorbeigeht, dass das Geschäft wieder anspringt, dass die Investitionen in moderne Erntemaschinen den Kostenvorteil der mexikanischen Konkurrenten ausgleichen werden, hat jetzt Gewissheit: Big Sugar ist Geschichte.

Verraten und verkauft

"Die Stadt und der Konzern, früher war das eins", sagt Butch Wilson. Seine Haut ist fast so grau ist wie sein Hemd. Auch Wilson hat für US Sugar gearbeitet, 32 Jahre lang. "Doch sie haben mich fallen lassen, so wie sie die ganze Stadt fallen gelassen haben", sagt er. Dass die Konzernführung dem Verkauf zugestimmt hat, empfindet Wilson als Verrat. "Das Unternehmen ist eine Legende. Es überlebte Hurrikane, die Hetze von Umweltschützern, selbst die Große Depression. Und jetzt machen sich die Eigentümer aus dem Staub, einfach so."

Wilson hat als Direktor des kleinen Museums von Clewiston neue Arbeit gefunden. Hin und wieder führt der alte Mann Touristen vorbei an Erntemaschinen und Fotos, Dokumente einer Zeit, als in Clewiston noch Zuversicht herrschte. In den 50er Jahren fingen Weltkriegsveteranen und schwarze Landarbeiter auf den Zuckerplantagen Floridas ein neues Leben an. US Sugar versprach ihnen Arbeit, gutes Geld und ein eigenes Haus. Das Geschäft lief prächtig, und als die USA 1962 ein Embargo gegen Kuba verhängten, begann ein Boom. Washington stellte fest, dass es eigene Zuckerbarone brauchte und so hatte US Sugar leichtes Spiel, dem Kongress Subventionen abzufordern. Die Kleinstadt Clewiston erlebte goldene Jahre. Wilson schwärmt von jener Zeit. "Das Unternehmen war so unwahrscheinlich nobel damals. Jeder Arbeiter, der in den Ruhestand ging, durfte in den firmeneigenen Siedlungen wohnen bleiben, kostenlos."

Doch die Blüte der Plantagen vergiftete die Natur. Die Everglades, ein einzigartiges Feuchtgebiet, das Land und Leben in Florida jahrtausendelang geprägt hatte, schrumpfen. Bevor die ersten Weißen in dieses mücken- und alligatorenverseuchte Gelände vordrangen, als nur einige Indianer in den Sümpfen wohnten, erstreckten sich die Everglades auf einer Fläche fast so groß wie Thüringen. Es gab unzählige Fischarten, Wasservögel und wilde Tiere - das Gebiet war ein Refugium des ursprünglichen Amerikas.

Riesiger, träger Fluss

Eigentlich sind die Everglades eher ein Fluss als ein Sumpf. Ein riesiger Fluss, 90 Kilometer breit. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch die Graswiesen hindurch nach Süden bis zum Meer, so langsam, dass die Bewegung für das menschliche Auge unsichtbar ist. Die Quelle, die diesen trägen Strom früher speiste, war der riesige See, an dessen südlichem Ufer Clewiston liegt. Okeechobee, "großes Wasser" nannten ihn die Indianer. Diesen Namen trägt der See noch immer. Ansonsten aber hat sich viel verändert. 1928 fegte ein Hurrikan über die Region, der Okeechobee quoll über und spülte die Deiche davon, die Clewiston schützen sollten. 2400 Menschen starben in den Fluten. Die Regierung schickte das Corps of Engineers der US-Armee, das den Okeechobee in ein Korsett aus neuen, höheren Deichen zwang. Der Hochwasserschutz war der Auftakt zur planmäßigen Zerstörung der Everglades.

Lange schon hatten die Menschen davon geträumt, die Sümpfe trockenzulegen. In ihrem ursprünglichen Zustand waren die Everglades nutzlos, fanden die Siedler. Das Land war zu nass, um es zu bewirtschaften, und zu trocken, um es schiffbar zu machen. Nun, da der Okeechobee gebändigt und der Strom von seiner Quelle abgeschnitten war, ging ihr Traum in Erfüllung. Die weiche, schwarze Erde erwies sich als ungeheuer fruchtbar. Nirgendwo sonst in Amerika gedeiht Zuckerrohr so gut wie hier.

Doch der Sieg gegen die Natur endete als ökologischer Albtraum - mit ungeahnten Folgen für die Menschen. Die Everglades sind in einem erbärmlichen Zustand. Die Hälfte der Sümpfe liegt begraben unter Straßen, Vorstädten und Feldern. Ein Nationalpark, der den Rest des Ökosystems schützen sollte, konnte das Sterben nur verlangsamen. Im Norden trocknen die Everglades aus, im Süden drängen Meer und Mangroven in den durch Dünger verschmutzten Strom hinein. Und immer wieder entzünden sich Buschbrände, die bis in die Vorstädte von Miami und Fort Lauderdale ziehen.

Ende der 90er Jahre beschloss die Regierung des damaligen Präsidenten Bill Clinton ein beispielloses Rettungsprogramm: den Comprehensive Everglades Restoration Plan - kurz Cerp genannt. Acht Milliarden Dollar sollten das Sterben der Sümpfe stoppen, je zur Hälfte bezahlt von Florida und Washington. Das Ziel war es, die natürliche Wasserversorgung der Everglades wiederherzustellen, ohne Farmen und Städte zu beeinträchtigen. Das Wasser aus dem Okeechobee sollte unter den Zuckerplantagen hindurch in die Everglades geleitet werden.

Doch das Renaturierungsprojekt wurde zum Flop. Bis heute ist wenig geschehen. Gerade einmal 500 Millionen Dollar hat Washington ausgegeben. Clintons Nachfolger George W. Bush hatte kein Interesse an den Everglades und sein Bruder Jeb, bis 2007 Gouverneur im Sunshine State, wollte statt der Sümpfe lieber Vorstädte bewässern. Erst Charlie Crist, der Jeb Bush im Amt beerbte, gab dem Cerp neuen Schwung. Schnell erkannte der neue Gouverneur die Geburtsfehler des ursprünglichen Plans: Die Zuckerindustrie und die Sümpfe können nicht koexistieren. Der Versuch, das Wasser unter den Feldern hindurch zu leiten, war zu teuer und zu umständlich.

Daher machte Crist US Sugar ein Angebot: Eure Plantagen gegen 1,34 Milliarden Dollar. Im November stimmte das Unternehmen zu, der Vertrag wurde vor ein paar Wochen besiegelt. Der Staat erwirbt mehr als 750 Quadratkilometer Land. Nach einer siebenjährigen Übergangszeit sollen die Zuckerfelder Seen und Marschland weichen. Umweltschützer jubeln: "In 20 Jahren wird dieses Land wieder so sein, wie es war, bevor der weiße Mann kam", sagt David Guest vom Earthjustice Defense Fonds.

So schließt sich der Kreis. Es ist eine besondere Ironie der Geschichte: Die Zerstörung der Wildnis war Teil der ffentlichen Investitionsprogramme zu Zeiten der Großen Depression. Nun, inmitten einer Wirtschaftskrise, die von vielen schon die neue Große Depression genannt wird, soll die Wiederherstellung der Natur die Wirtschaft ankurbeln - zumindest hoffen Politiker in Florida, dass es so kommt. Sie wissen, dass sie im Weißen Haus einen Verbündeten haben. Barack Obama hat im Wahlkampf versprochen, den Everglades zu helfen. Die Arbeit könnte schnell beginnen. Machbarkeitsstudien sind abgeschlossen, Genehmigungen eingeholt. Ein paar Hürden gilt es noch aus dem Weg zu räumen. US Sugar ist zwar der größte, aber nicht der einzige Zuckerbetrieb in der Region. Crist schlägt den verbliebenen Farmern einen Tausch vor: Land, das er für die Everglades braucht, gegen Felder von US Sugar. Der Gouverneur hat gute Karten, die Plantagen des Konzerns aus Clewiston sind sehr fruchtbar.

Für US Sugar war der Verkauf der Felder keine schwere Entscheidung. Das Unternehmen befindet sich im Niedergang, seit durch die Freihandelsverträge mit Mexiko und Zentralamerika der US-Markt für Importe geöffnet ist. Im Konzern heißt es denn auch: "Der Verkauf war im besten Interesse unserer Eigentümer." So hat das Geschäft beide Seiten zufriedengestellt, das Unternehmen und den Staat. Verloren haben die, die nicht gefragt wurden: die Einwohner von Clewiston. Für ihre Stadt gibt es ohne den Zuckerkonzern keinen Existenzgrund mehr. Der Werkzeugladen, der Autohändler, das Maklerbüro - in sieben Jahren sind sie dicht. Zwar versucht Clewiston, sich als Anglerparadies neu zu erfinden, doch niemand glaubt, dass der Tourismus das Loch stopfen kann, das die Zuckerindustrie hinterlässt.

"Für mich war's das", sagt Elaine und klopft George auf die Schulter. Der starrt weiter auf den Fernseher. Sein Drink ist alle. Missy greift zur Wodkaflasche. "Ich habe den besten Job in Clewiston", sagt sie, während der klare Alkohol über die Eiswürfel strömt. "Ich verkaufe, was die Leute brauchen." Gerade jetzt, wo die Geschichte von Amerikas süßester Stadt ein bitteres Ende nimmt.

Bedrohte Wildnis: Weil die Zuckerplantagen die Süßwasserzufuhr aus dem Lake Okeechobee nahezu stoppten, trocknen die Everglades aus und im Süden wuchern Mangroven. Foto: Preben S. Kristensen/laif

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Kritik am Konjunkturpaket

Regierung bittet Opposition vergeblich um Unterstützung

Berlin - Trotz ihrer Hinweise auf die dramatische Lage findet die Regierung für ihr 50-Milliarden-Konjunkturpaket keine Hilfe der Opposition. Bei der ersten Lesung im Bundestag warb Finanzminister Peer Steinbrück am Freitag für das Programm. FDP, Linke und Grüne attackierten die geplanten Maßnahmen jedoch als falsch und unzureichend. Dennoch wollen die Grünen dem Paket die Mehrheit im Bundesrat sichern.

Das zweite Konjunkturpaket umfasst neben milliardenschweren Investitionen in Infrastruktur und einem 100-Milliarden-Euro Rettungsschirm für Unternehmen auch die Abwrackprämie für alte Autos, die neue Kfz-Steuer sowie Steuer- und Abgabensenkungen und den Kinderbonus von 100 Euro. Wegen der hohen Kosten wird die Neuverschuldung des Bundes auf Rekordhöhe steigen. Nötig ist ein Nachtragshaushalt. Das Gesamtpaket soll bis 20. Februar in Bundestag und Bundesrat verabschiedet sein.

Steinbrück sprach vor den Abgeordneten erneut von der schwersten Rezession seit 1949, dem die Koalition das größte Konjunkturprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik entgegensetze. Das sei angemessen und erfülle wichtige Bedingungen: Geld werde nicht "verbrannt", sondern für die Zukunft investiert, eine Kreditklemme sei zu vermeiden; der Autoindustrie müsse man behilflich sein, und man müsse Nachfrageimpulse geben.

Die Opposition kritisierte sowohl die jetzt geplanten Maßnahmen als auch den ihrer Ansicht nach mangelnden Erfolg des Banken-Rettungsschirms. "Diese Bundesregierung veruntreut in großem Umfang - in Milliarden-Umfang - Steuergelder", sagte Linken-Fraktionschef Oskar Lafontaine. Sein Co-Vorsitzender Gregor Gysi kritisierte eine Umverteilung von unten nach oben.

Auch Grünen-Vizefraktionschef Jürgen Trittin warf Steinbrück vor, mit dem Banken-Rettungspaket im Herbst "Geld verbrannt" zu haben, weil die Ziele verfehlt worden seien. Das nun geplante zweite Konjunkturpaket nannte er falsch und unzureichend.

FDP-Vizefraktionschef Rainer Brüderle nannte das Paket "zögerlich, kleinteilig und diffus". Wenn der Exportnation Deutschland das Auslandsgeschäft wegbreche, dann hülfen auch Konjunkturprogramme im Umfang von 30, 40 oder 50 Milliarden Euro nichts. AP/dpa

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sorge vor Atomstrahlen

Grüne fordern neue Studie zu Versuchslager Asse

Von Jens Schneider

Hamburg - Es ist zehn Jahre her. Aber die Frage seines Arztes habe er nie vergessen, sagt Eckbert Duranowitsch. "Hatten Sie mit Radioaktivität zu tun?" wollte der Doktor wissen, und das aus besorgniserregendem Anlass. Gerade hatte er diagnostiziert, dass Duranowitsch an Leukämie erkrankt war. Heute ist der inzwischen 46-jährige Schlosser überzeugt, dass er durch die Arbeit im Atommülllager Asse in Niedersachsen krank wurde. Bis 1990 hat er als Schlosser drei Jahre in dem Versuchslager gearbeitet, wo - wie das Bundesamt für Strahlenschutz als heutiger Betreiber sagt - nie Atommüll hätte eingelagert werden dürfen. Das ehemalige Bergwerk ist marode und vom Einsturz bedroht, täglich laufen zwölf Kubikmeter Wasser ein. Es bleiben nur wenige Jahre, eine Lösung für die 125 787 gelagerten Fässer Atommüll zu finden.

Der Fall Duranowitsch hat jetzt eine intensive Debatte über mögliche Gesundheitsschäden bei Mitarbeitern der Asse ausgelöst. Die Grünen fordern eine breit angelegte Studie, die alle ehemaligen und derzeitigen Beschäftigten erfassen soll. Auch solle, sagt Stefan Wenzel, Fraktionschef in Niedersachsen, geklärt werden, ob Arbeiter ungeschützt mit Materialien gearbeitet hätten, von denen eine Strahlung ausgehen konnte. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig prüft die Aufnahme von Ermittlungen. Duranowitsch selbst sagt, er überlege, Anzeige gegen den einstigen Betreiber des Atomlagers zu stellen. Der frühere Betreiber, das Münchner Helmholtz Zentrum, versichert allerdings ausdrücklich, dass man einen Zusammenhang seiner Erkrankung mit der Arbeit in der Asse ausschließe. Für Duranowitsch seien seinerzeit keine erhöhten Werte Strahlenbelastung gemessen worden, heißt es von dort.

Derweil hat das Bundesamt für Strahlenschutz als neuer Betreiber erfahren, dass für eine Lösung der maroden Zustände in der Asse voraussichtlich etwas mehr Zeit bleibt. Berechnungen von Experten hätten ergeben, dass das Bergwerk bis 2020 und nicht, wie bisher angenommen, nur bis 2014 stabil sein dürfte. Jedoch gelte dies nur, wenn sich die Lage im Bergwerk nicht ändere. "Wir sind vor Überraschungen nicht gefeit", sagt ein BfS-Sprecher, "wir wissen nicht, was noch alles auf uns zukommen kann."

Atommüll-Endlagerstätte Asse SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Merkel will sich nicht unter Druck setzen lassen

Kanzlerin sieht akuten Handlungsbedarf bei der Hypo Real Estate, lässt aber noch offen, ob sie für eine komplette Verstaatlichung ist

Von Daniela Kuhr

Berlin - Die Pläne zur Verstaatlichung von Banken sind in der Koalition umstritten. Während bei Bundeskanzlerin Angela Merkl (CDU) unklar ist, ob sie demVorhaben zustimmt, gab es eindeutige Kritik von Unionsfraktionsvize Michael Meister. Hier werde wegen eines Sonderfalls ein allgemeingültiges Gesetz mit bedenklichen Folgen geschaffen, sagte Meister. Das Konzept, das als Basis für einen Gesetzentwurf dienen könne, sei zwischen den Ressorts noch nicht abgestimmt, sagte ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums (BMF) am Sonntag.

Ende vergangener Woche war bekannt geworden, dass das BMF eine erste Vorlage für ein Gesetz erarbeitet hat, das die volle Verstaatlichung privater Banken und die Enteignung der Alteigentümer erlauben würde. Anlass ist der Fall des Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate (HRE), der trotz bereits erfolgter Milliardenhilfen erneut in Bedrängnis geraten ist. Am Freitag hatte sich Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) mit Vertretern von Wirtschaftsministerium, Kanzleramt und Justizministerium zu einem Meinungsaustausch getroffen.

"Keine Generalvollmacht"

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Wochenende, dass im Fall der HRE akuter Handlungsbedarf bestehe. Die Bank müsse jetzt "in eine stabile Seitenlage" gebracht werden. "Wenn es im Einzelfall für den Steuerzahler günstiger kommt, dass wir auch einen Anteil übernehmen, dann müssen wir diesen Weg gehen. Aber das ist keine Generalvollmacht." Unionsfraktionschef Volker Kauder befürwortete eine staatliche Rettungsaktion für die HRE. "Wir dürfen es nicht zulassen, dass auch nur eine einzige systemische Bank in Deutschland in den Konkurs geht", sagte er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. SPD-Chef Franz Müntefering äußerte sich zurückhaltend. "Wir sind nicht darauf aus, jemanden zu enteignen oder zu verstaatlichen." Es könne aber Ausnahmen geben, wenn eine Bank besonders gefährdet sei. "Dann muss man sich überlegen, ob der Staat, um schlimmes Unheil abzuwehren, auf Zeit solche Aufgaben übernehmen muss."

Aus der Opposition gab es Kritik. "Was hier von Regierungsseite geplant wird, ist ein bislang ungeahnter Eingriff in die Eigentumsordnung in Deutschland", sagte der FDP-Finanzexperte Frank Schäffler. Er plädierte für ein geordnetes Insolvenzverfahren. "Es ist völlig inakzeptabel, dass die Zeche nur die Steuerzahler bezahlen und die Fremdkapitalgeber kein Risiko tragen sollen."

Die Gesetzesvorlage, die voraussichtlich noch Änderungen erfahren wird, ermöglicht im Ausnahmefall die zwangsweise Enteignung von Aktionären gegen eine Entschädigung. Diese bemisst sich in der Regel nach dem gewichteten durchschnittlichen Börsenpreis der beiden Wochen vor dem Enteignungsbeschluss.

Parallel dazu arbeitet die Regierung daran, die Gründung sogenannter "Bad Banks" zu ermöglichen. In diese könnten die Kreditinstitute unverkäufliche Wertpapiere auslagern. Dabei bliebe die Verantwortung für die Papiere bei den jeweiligen Banken. Das Kapital dafür müssten sie sich beim staatlichen Rettungsfonds Soffin besorgen. Die Errichtung einer einzigen zentralen Bad Bank lehnt Merkel dagegen ab. Bei dieser Konstruktion wären die Banken ihre faulen Papiere endgültig los. Die Steuerzahler dürften nicht die Kosten für schlechte Produkte aufgebürdet bekommen, während die Banken mit guten Produkten rasch wieder Gewinne machten, sagte Merkel. Stattdessen müsse darüber nachgedacht werden, wie den Banken über eine staatliche Absicherung wieder auf die Beine geholfen werden könne.

Der Bund werde sich von den Banken nicht unter Druck setzen lassen, sagte die Kanzlerin. "Es gibt keine Generallösung, in der man jetzt mal weltweit alles, was man verbockt hat, irgendwo abliefert und hofft, dass es nicht wieder zur Sprache kommt." (Kommentare)

Als Feuerwehr für angeschlagene Banken wie den Münchner Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate wird derzeit vor allem die Bundesregierung gerufen. Foto: dpa

HVB Real Estate Bank: Liquidität HVB Real Estate Bank: Verstaatlichung Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - Verstaatlichung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Yunus-Virus

Entwicklungshilfe einmal anders: Wie Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus Unternehmer zu Projekten animiert, von denen auch sie profitieren

Von Tobias Engelmeier

Golamari - In dem kleinen Dorf Golamari in Bangladesch, 100 km östlich der Hauptstadt Dhaka, ragt ein unscheinbares Bambusrohr mit einer blauen Kapuze aus der fest gestampften Erde. Muhammad Yunus, spätestens seit der Verleihung des Friedensnobelpreises der berühmteste Bürger seines Landes, legt eine Hand auf das Rohr und lacht. Neben ihm steht der Franzose Patrick Rousseau ernst und mit Zigarette zwischen den Lippen - und lässt sich dann doch zu einem Lächeln hinreißen. Ein paar Meter entfernt beobachtet eine Gruppe deutscher Manager das Geschehen. In einigem Abstand scharen sich die Männer und Frauen des Dorfes in ihren einfachen, bunten Kleidern - neugierig abwartend.

Dass die Menschen in Bangladesch vorsichtig sind, wundert nicht. Sie haben Katastrophen erlebt - und Helfer, die bald wieder weg waren, ohne dass sich die Lage entscheidend gebessert hätte. Regelmäßig vernichten Dürrezeiten die Ernte, oder es gibt Überschwemmungen. Das war schon immer so, die globale Klimaveränderung hat es nur verschlimmert. Es ist nicht das einzige Problem: Auch das Grundwasser ist an vielen Stellen arsenkontaminiert, jenes an der Oberfläche durch Industrieabfälle verschmutzt.

Genau diesen Missstand wollen Yunus und Rousseau, der für Südasien zuständige Manager des französischen Wasserspezialisten Veolia, beheben. Deshalb haben Veolia und Yunus' Grameen Organisation das Joint Venture GrameenVeolia gegründet. Die erste kleine Aufbereitungsanlage ist fast fertig. Das Bambusrohr ist ein Platzhalter für einen von 14 Wasserhähnen, die nun in der Gegend installiert werden sollen, um 25 000 Menschen mit Trinkwasser zu versorgen.

Yunus nennt solche Projekte Social Business. Weder Grameen noch Veolia werden etwas damit verdienen. Aber es ist ein kostendeckendes und somit nachhaltiges Geschäftsmodell: Die Bauern zahlen für das saubere Wasser. Veolia hat es geschafft, in diesem schwer zugänglichen Terrain eine kleine Aufbereitungsanlage zu bauen, das Oberflächenwasser zu reinigen und es zu einem Preis anzubieten, den die Dorfbewohner sich leisten können.

"Als Veolia mich gefragt hat, ob wir eine Kooperation starten können, habe ich gesagt: Wenn sie das Wasser für einen Taka, also einen Eurocent, pro zehn Liter anbieten können, dann gerne. Wenn nicht, dann nicht", sagt Yunus. "Denn mehr Geld können die Menschen hier nicht für ihr Trinkwasser ausgeben." Für Veolia war das eine harte Vorgabe. Rousseau gibt zu: "Wir haben mit diesem Projekt Neuland betreten." Wenn es funktioniert, sollen weitere Anlagen folgen.

So beginnt Yunus immer. Ein neues Geschäftsmodell probiert er im Kleinen aus, so lange, bis es sich selbst trägt. Dann wird es verbreitet. So hat er die Mikrokredit-Revolution in Gang gesetzt, Mitte der 70er Jahre. In einem Dorf sah er damals eine junge Frau, die aus Bambus Stühle fertigte. Er fragte: Gehört der Bambus Ihnen? - Ja. - Wie viel kostet er? - 5 Taka. Das reicht für einen Tag. - Woher haben Sie das Geld? - Ich leihe es mir von einem Geldverleiher. - Und was verlangt er dafür? - Am Ende des Tages muss ich ihm meine Stühle verkaufen. - Für wie viel? - Für 5 Taka und 50 Paise. "50 Paise! Das ist kaum genug um zu überleben. Das ist nichts anderes als Leibeigenschaft."

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Yunus hat dann die Grameen Bank gegründet, um Mikrokredite zu vergeben. Beim ersten Mal hat er 27 Dollar verliehen. Heute sind es monatlich mehr als 80 Millionen Dollar und die Bank betreut 7,5 Millionen Menschen landesweit - fast ausschließlich Frauen. Sie haben sich als sehr zuverlässige Kreditnehmer erwiesen. Die Rückzahlquote liegt bei 98 Prozent. "Da ist es doch erstaunlich", sagt Yunus, "dass viele Banken sich immer noch nicht trauen, einer armen Frau 100 Dollar zu leihen, während sie gleichzeitig Milliarden aus spekulativen Geschäften abschreiben."

Yunus will die Armut besiegen - und dazu braucht er Verbündete. Immer häufiger findet er dafür große Konzerne. Yunus sagt dazu: "Ich bin hier, um ausgenutzt zu werden." Den Anfang machte Danone. 2007 entwickelte der französische Lebensmittelkonzern einen Joghurt für Arme, baute eine kleine Fabrik und fand lokale Verkäuferinnen. Zum Projektstart kam neben Konzernchef Franck Riboud auch der Fußballstar Zinedine Zidane - und das Land stand Kopf. Doch eine Sache stört Yunus noch: Der Joghurtbecher ist Wegwerfware. "Er müsste aber nutzbringend sein. Die Armen bezahlen schließlich dafür. Vielleicht können wir ihn essbar machen?" Wieder lacht er. Aber er meint es ernst.

Auch deutsche Unternehmen zeigen sich interessiert an einer Zusammenarbeit. Und damit sind wir wieder bei den Managern am Bambusrohr. Sie haben sich in vier Tagen alles genau angesehen, die Projekte, die Grameen Organisation, Land und Leute, und sie arbeiten schon an konkreten Geschäftsideen: Dabei geht es um Nahrungsmittelergänzung, um den Kampf gegen Malaria, um nachhaltige Fortbewegung und Landwirtschaft und um erschwingliche, funktionale Kleidung. Ein holländischer Investor ist auch dabei. Er überlegt, wie man einen Social Business Fund aufsetzen kann, um Projekte anzuschieben.

Ohne den Einsatz des deutschen Unternehmers Hans Reitz wäre dieses Treffen rund um das Bambusrohr nicht zustande gekommen. Der umtriebige Mann hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Geist von Grameen zu fördern, Unternehmer, aber auch Studenten zu Projekten zu animieren. Er nennt das, den "Yunus-Virus" verbreiten. Reitz ist inzwischen persönlicher Berater von Yunus, in Deutschland hat er unter anderem das Grameen Creative Lab gegründet. Im November soll es ein großes Event mit Yunus in Berlin geben: ein World Social Business Forum für alle, die helfen wollen.

Aus der Sicht der Unternehmen ist eine Zusammenarbeit mit Grameen durchaus interessant. Natürlich ist es eine gute Gelegenheit, soziales Engagement zu zeigen. Aber es gibt auch andere Gründe. Bei Danone etwa wurde festgestellt, dass das Joint Venture bei den Mitarbeitern im Konzern einen enormen Motivationsschub auslöst. Auch kommen die Joint Venture Partner mit einem ganz neuen Markt in Berührung, der nach anderen Regeln funktioniert. "Das ist Entwicklungshilfe von Bangladesch für Deutschland", sagt einer der Manager. Für Yunus ist nur eines wichtig: dass das Joint Venture den Armen hilft und die Richtlinie - kein Gewinn aus Geschäften mit den Armen - eingehalten wird.

Der Autor ist Managing Director der Beratung Bridge to India in Neu Delhi.

Hier soll bald sauberes Wasser aus einem Hahn tropfen, das die Menschen in dem Dorf Golamari in Bangladesch auch bezahlen können. Foto: Engelmeier

Yunus, Mohammad Grameen Bank Mikrokredite Wirtschaftsraum Bangladesch SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bayerns Kampf gegen den Rest der Welt

Warum die CSU um das geplante Umweltgesetzbuch feilscht - und das Reformprojekt kaum mehr zu retten sein dürfte

Von Stefan Braun

Berlin - Die neue Rolle, so scheint es, macht einfach zu viel Freude. Seit Horst Seehofer CSU-Vorsitzender ist, genießt der Ober-Bayer eine Macht, wie er sie noch nie hatte. Erbschaftsteuer, Steuersenkungen, Umweltgesetzbuch - welches Thema auch immer gerade ansteht, niemand kann Seehofer auf einen Kurs zwingen. Und das nutzt der CSU-Chef aus, bis es anderen wirklich weh tut.

Das bisher letzte Beispiel in dieser Reihe ist das seit vielen Jahren geplante, von allen anderen Bundesländern unterstützte und zwischen SPD und CDU in Berlin weitgehend unstrittige neue Umweltgesetzbuch. Seit Seehofer in München regiert, steckt das Groß-Vorhaben in der Sackgasse. Und vieles spricht daf r, dass es da auch nicht mehr rauskommt. Noch am Freitag sollte es ein Gespräch zwischen Seehofer und Gabriel geben - der Ausgang war bei Redaktionsschluss offen, die Aussichten aber waren trübe.

Während die Bayern, allen voran Umweltminister Markus Söder, erklären, dass sie "nur" das geplante neue Verfahren kritisieren, an den ökologischen Zielen aber gar nichts auszusetzen hätten, hält Umweltminister Gabriel ihnen entgegen, gerade die von Söder abgelehnte "integrierte Verfahrensgenehmigung" sei Herzstück des ganzen Vorhabens. Dabei geschieht etwas absurdes: Beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, sie bremse den ökologischen Fortschritt und erhöhe die bürokratischen Lasten.

Bei dem Schwarzer-Peter-Spiel geht es im Kern um eine zentrale Frage: Legt man künftig Genehmigungsverfahren zum Wasserrecht, zur Luftverschmutzung und zu Abfallbestimmungen zusammen, um dem Antragsteller das Leben zu erleichtern - oder sieht man darin eine Verschärfung der Bürokratie, weil dann erstens Dinge geprüft würden, die nicht in jedem Einzelfall geprüft werden müssten, zweitens eine Flut von Klagen drohe und drittens beispielsweise 77 000 Kilometer Flussläufe allein in Bayern neu vermessen werden müssten. Wenig überraschend vertritt Gabriel die Position, dass ein neues Gesetz vieles erleichtert. Söder und Seehofer behaupten dagegen, die "integrierte Vorhabengenehmigung" erhöhe die Bürokratie und müsse verhindert werden. Söder sagte der Süddeutschen Zeitung: "Umweltstandards ja, Überbürokratisierung nein."

Als sogenannten Kompromissvorschlag boten die Bayern in dieser Woche an, man könne ohne weiteres die geplanten Teile zwei bis fünf des Umweltgesetzbuches, in denen Grenz- und Richtwerte festgeschrieben werden, verabschieden. Nur den ersten Teil, der die Genehmigungsverfahren regelt, sollte noch geändert werden. Doch was für die CSU-Führung wie ein Kompromiss klingt, ist für alle anderen eine Provokation. Selbst CDU-geführte Umweltminister aus anderen Bundesländern schütteln den Kopf und staunen über "die Dreistigkeit der CSU." Hier kämpfe ein kleines gallisches Dorf gegen den Rest der Welt, heißt es auch bei vielen Christdemokraten.

In der Auseinandersetzung kämpfen ohnehin CDU-Minister an der Seite Gabriels, so Baden-Württembergs Umweltministerin Tanja Gönner. Ihr Sprecher sagte der SZ, die CSU mache mit ihren Bedenken "kleine Ausnahmen zu Elefanten". Natürlich seien bei einem so großen Gesetzesvorhaben auch Kompromisse nötig. Aber anders als die Bayern es suggerierten, stecke der Charme des Ganzen gerade im gebündelten Genehmigungsverfahren. Zum ersten Mal müssten dann Anlagenbauer und Unternehmer Umweltgenehmigungen nur noch bei einer einzigen Behörde stellen. Bislang seien sie verpflichtet, an vielen Stellen eine Erlaubnis einzuholen. "Wer das als Bürokratisierung beschimpft, spielt ein falsches Spiel mit den Leuten", schimpft ein CDU-Umweltpolitiker in der Hauptstadt. Söder weist das von sich.

Längst sind die Interpreten des Schauspiels bei den parteipolitischen Motiven angekommen. Die CSU vermutet, dass Gabriel sich unbedingt mit einem strengen Umweltgesetzbuch schmücken möchte, um im Wahlkampf bei den Umweltverbänden zu punkten. In der SPD und der CDU wird das Verhalten der CSU genau andersherum gewertet: Hier versuche eine geschwächte Partei, sich bei Bauern und verschreckten Kleinunternehmern wieder in den Vordergrund zu schieben.

CDU-Umweltminister aus anderen Bundesländern schütteln den Kopf.

Für Naturschützer ist der gewundene Lauf der Donau bei Pondorf (Landkreis Straubing-Bogen) eine Augenweide, Flussschiffer fordern eine Begradigung. dpa

Umweltrecht in Deutschland Umweltpolitik der CSU Umweltpolitik der SPD Umweltpolitik der CDU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zu viel Freizügigkeit im Internet schadet

Klaus Eck ist eine öffentliche Person. Er hat in Berlin und Marburg studiert, dann hat es ihn nach München verschlagen in die Medienbranche. Heute ist er selbständig und schreibt Bücher. Der 44-Jährige liest gern, etwa T. C. Boyle oder Ian McEwan. Eck hat eine hohe Stirn und trägt eine Brille mit rot-schwarzen Bügeln. Rot ist nämlich eine seiner Lieblingsfarben. Am Donnerstag reiste er mit der Bahn nach Hamburg, abends wollte er noch ins Schanzenviertel auf ein Bier.

Der Autor dieser Besprechung hat Klaus Eck noch nie getroffen. Doch über die Suchmaschine Google, den Kurznachrichtendienst Twitter oder das Geschäftsnetzwerk Xing lässt sich einiges online herausfinden - nichts allerdings, was Eck nicht selbst so gewollt hätte. So gibt es keine Partybilder, auf denen Eck mit roter Nase Freunden zuprostet. Es fehlen kritische Kommentare zu seinen Äußerungen im Internet. Sein Privatleben bleibt bis auf das Statement "vergeben" ein Geheimnis. Klaus Eck ist eine öffentliche Person - aber eine, die Öffentlichkeitsarbeit für sich im Internet betreibt und das Netz für sich nutzt.

Karrierefalle Internet - Managen Sie Ihre Online-Reputation, bevor andere es tun, heißt das Buch von Eck, in dem er auf 256 Seiten den theoretischen Grundstein legt für das, was sich anhand seiner Person im Netz nachvollziehen lässt: Lebe online, aber überlasse nicht dem Zufall, was über dich bekannt wird.

Karrierefalle Internet warnt vor einer Gefahr: Jederzeit können falsche Fotos, Informationen oder Kommentare eine Reputation im echten Leben zerstören. Eck schürt diese Furcht, indem er bekanntgewordene Fälle schildert, in denen das Internet bereits Karrieren beendet hat: Einer Nintendo-Mitarbeiterin etwa wurde fristlos gekündigt, weil sie in ihrem Internettagebuch - einem sogenannten Blog - über ihre Kollegen herzog. Eine junge Pilotin fand im vergangenen Jahr Privatfotos in der Bild-Zeitung wieder. Die Reporter hatten online recherchiert.

Damit es so weit nicht kommt, ist der Hauptteil des Buches der Werbung in eigener Sache gewidmet. "Im Internet kann jeder sich selbst so präsentieren, wie er gerne sein möchte", schreibt Eck. "Der Selbstinszenierung scheinen keine Grenzen gesetzt." Wie das geht, erklärt der Buchautor anhand der wichtigsten Seiten zur Selbstdarstellung: Die Kontakteplattformen Xing oder Facebook werden ebenso in eigenen Kapiteln gewürdigt wie Bilder- oder Filmportale. Auch Twitter fehlt nicht, eine medial gefeierte Webseite für Kurznachrichten.

Im Hauptteil glänzt das Werk mit Checklisten und Nutzwert für Leser, die um ihr Ansehen im Internet bemüht sind. Das virtuelle Abbild, schreibt Eck, "ist Ihr digitales Zimmer, in dem Sie die Möbelstücke gerade rücken und die Vorhänge beiseite ziehen, damit die Flaneure auch von außerhalb einen Blick in Ihr Zimmer werfen können".

Handwerklich überzeugt das Buch: Hier schreibt einer, der im Netz zu Hause ist und sich mit Öffentlichkeitsarbeit auskennt - gerade deshalb wirft das Buch aber Fragen auf. Sollte wirklich bei Top-Kräften, etwa aus der Automobil- oder Maschinenbau-Industrie, eher die eigene Homepage, der Blog oder Belangloses auf Twitter über die Karriere entscheiden, als Knowhow, Arbeitsproben oder Führungsstärke im wirklichen Leben? Wie sollte einer mit dem Netz umgehen, der nicht wie Klaus Eck zu Blogger-Treffen reist und seine Kontakte im Wesentlichen online pflegt? Das Buch kann sicher Anregungen liefern für Medienschaffende, Werbetreibende oder Selbständige zur Vermarktung über das Netz. Wer aber nicht wie der Autor in der Online-Gemeinschaft lebt, dem wird das Buch nur eine leichte Lektüre von geringerem Nutzen sein. Thorsten Riedl

Zum Thema

Sich optimal vernetzen

Andreas Lutz, Joachim Rumohr: Xing optimal nutzen: Geschäftskontakte - Aufträge - Jobs, Linde Verlag, Wien 2008, 184 Seiten, 14,90 Euro.

Warum in die Ferne schweifen? Xing ist Marktführer. Wer hier seine Netze spannt, erreicht die digitalen Profis. Das Buch liefert einen Intensivkurs zu den Möglichkeiten der Plattform.

Mund-zu-Mund-Werbung online

Reiner Czichos: Viral Marketing: Wie Sie Mundpropaganda gezielt auslösen und Gewinn bringend nutzen, Gabler Verlag, Wiesbaden 2007, 245 Seiten, 38,90 Euro.

Das Buch analysiert das Thema Marketing im Internet. Die Sprache ist klar, und einige Fallbeispiele liefern Ideen für Eigenwerbung.

Klaus Eck: Karrierefalle Internet -

Managen Sie Ihre Online-

Reputation, bevor es andere tun.

Carl Hanser Verlag, München 2008, 256 Seiten, 19,90 Euro.

Datensicherheit im Internet Werbung und PR im Internet SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Große Terrorgefahr in Deutschland"

München - Nach der Veröffentlichung mehrerer islamistischer Drohvideos im Internet hat der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, die Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlags in Deutschland als außerordentlich hoch beschrieben. "Die Gefahr ist sehr groß, dass in Deutschland ein Terroranschlag durch Islamisten verübt wird", sagte Fromm im Interview des Hamburger Abendblatts in der Samstagsausgabe. Die jetzt verbreiteten Videos in deutscher Sprache belegten, dass "Anschläge gegen unser Land vorbereitet werden". Fromm bezeichnete die Überlegung, dass die Terrororganisation al-Qaida auf die Bundestagswahl ziele und den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan erzwingen wolle, als naheliegend. Die Erklärungen des Islamisten Bekkay Harrach in einem der Videos "deuten in diese Richtung". Der Krieg im Gaza-Streifen habe die Anschlagsgefahr in Deutschland zusätzlich vergrößert, warnte Fromm. Die Kampfhandlungen und die Berichterstattung vor allem in arabischen Medien "haben neuen Hass produziert", sagte er. "Unsere Sorge ist, dass Palästinenser und andere Muslime sich zu spontanen Übergriffen in Deutschland veranlasst sehen könnten. Fromm berichtete, den Sicherheitsbehörden sei ein islamistisch-terroristisches Personenpotential in Deutschland "im hohen dreistelligen Bereich" bekannt. Ein Ende des islamistischen Terrorismus sei "nicht absehbar". SZ

Warnt vor Anschlägen: Verfassungsschutz-Präsident Heinz Fromm ddp

Islamistische Terroristen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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KORREKTUREN

Zwar sind in der großen Quellenedition zur frühen deutschen Geschichte viele Dokumente abgedruckt ("Schüssel voller Träume", 15. Januar, Seite 9), doch handelt es sich nicht um die "Documenta Germaniae Historica", sondern um die "Monumenta Germaniae Historica".

Im Beitrag "Abgeltungsteuer ist verfassungswidrig" (29. Januar, Seite 20) hieß es: "Verluste, die etwa bei Aktiengeschäften entstehen, sind mit Gewinnen aus diesen Geschäften bei der Abgeltungsteuer nicht verrechenbar." Richtig ist, dass Verluste aus Aktiengeschäften nur

mit Gewinnen aus Aktiengeschäften

verrechenbar sind - und nicht etwa mit

Dividenden und Zinsen.

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Die Dollarkönigin

Mit dem Erfolg in Melbourne hat Serena Williams wichtige Schritte in mehreren elitären Rekordlisten gemacht. Sie ist nun die Profi-Sportlerin mit den höchsten Preisgeld-Einnahmen überhaupt. Nach dem Sieg in Australien steht sie bei fast 23 Millionen Dollar. Sie überflügelte dadurch die Golferin Annika Sörenstam. Die Schwedin kam bis zu ihrem Rücktritt vor wenigen Wochen auf 22,573 Millionen Dollar.

Williams ist außerdem erst die fünfte Spielerin in der Profi-Ära (seit 1969), die die Australian Open zum vierten Mal gewonnen hat. Außer ihr gelang das lediglich Steffi Graf (1988-90, 1994), Monica Seles (1991-93, 1996), Evonne Goolagong (1974-77) sowie Margaret Court Smith (1969-71, 1973), die das Turnier auf dem fünften Kontinent vor dem Profi-Zeitalter weitere sieben Mal (1960-66) gewann.

Noch bedeutender ist freilich, dass Williams erst die fünfte Spielerin der Open-Ära ist, die mindestens zehn Grand-Slam-Titel gewonnen hat. Vor der 27-jährigen Amerikanerin rangieren nur Steffi Graf (22), Chris Evert (18, davon zwei in Australien), Martina Navratilova (18/3), und Margaret Court Smith (elf, plus 13 aus der Zeit vor 1969). Zum Vergleich: Monica Seles zum Beispiel gewann "nur" neun große Titel, Serena Williams' etwas ältere Schwester Venus kommt - als zweiterfolgreichste aktive Spielerin - auf sieben Grand-Slam-Trophäen. Hier die Liste von Serena Williams' zehn gewonnenen großen Endspielen. (Hinzu kommen drei verlorene Finals: zwei in Wimbledon, eines bei den US Open.)

1999 US Open Hingis 6:3, 7:6 (4)

2002 French Open V. Williams 7:5, 6:3

2002 Wimbledon V. Williams 7:6 (4), 6:3

2002 US Open V. Williams 6:4, 6:3

2003 Aus. Open V. Williams 7:6 (4), 3:6, 6:4

2003 Wimbledon V. Williams 4:6, 6:4, 6:2

2005 Aus. Open Davenport 2:6, 6:3, 6:0

2007 Aus. Open Scharapowa 6:1, 6:2

2008 US Open Jankovic 6:4, 7:5

2009 Aus. Open Safina 6:0, 6:3

Williams, Serena: Einkommen Einkommen von Sportlern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DIE BESTEN FOREN ZU: Ärztehonorare

Seit der Gesundheitsfonds mit seinen neuen Honorarregeln für Mediziner Anfang Januar in Kraft getreten ist, klagen zahlreiche Fachärzte über teils drastische Gehaltseinbußen. Vor allem in Bayern und Baden-Württemberg sind die Ärzte betroffen. Über ihren Unmut und die neue Ausgangslage tauschen sie sich in Internetforen aus.

Auf der Seite www.aerzteblatt.de macht ein Facharzt seiner Enttäuschung über gebrochene Versprechen Luft: "Uns Niedergelassenen wurde mehr Geld durch den Gesundheitsfonds versprochen, nun bekommen wir unsere Regelleistungsvolumina für 2009 mitgeteilt, und diese sind so niedrig, dass hohe Umsatzverluste drohen. Dies soll in allen Fachgebieten so sein. Mit Ärzten kann man in Deutschland alles machen, insbesondere auch mit Kassenärzten!"

Unter www.facharzt.de schreibt ein Mediziner über die Auswirkungen der Einnahmeverluste für seine Altersversorgung: "Praxisweitergabe war früher ein fester Bestandteil der Altersversorgung. Dank der aktuellen Politik sitzen wir jetzt auf wertlosen einst teuer erkauften Kassenzulassungen. Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass die meisten gar nicht bis zur Rente geschweige denn noch länger arbeiten müssen, da die Sparkassen ja ihre Kredite zurückwollen, wir aber leider trotz voller Praxen keine Einnahmen mehr haben werden."

Im gleichen Forum beklagt ein Kollege den wachsenden Wettbewerbsdruck: "Wir Ärzte wurden durch den ständigen Wettbewerb in unserer beruflichen und auch menschlichen Werdung nicht nur missbraucht sondern pathologisch verformt. Das erhebende Gefühl von familiärer Gemeinsamkeit und kollegialer Zusammengehörigkeit haben wir an den diversen Stationen des mitunter widerlichen Wettbewerbs unserer Arztwerdung verloren oder gar bewusst verschleudert. Dieser elende und für unsere jetzige Situation auch kontraproduktive Wettbewerb ist entfesselt und führt logischerweise in den Untergang unserer ärztlichen Würde."

Ein Flensburger Arzt schreibt auf www.aerztlichepraxis.de : "Wir müssen mehr und mehr erfahren, dass das alte marxistische Prinzip, das nichts mit Hippokrates zum tun haben kann, greift: 'Das Angebot muss verknappt werden - dann steigen die Preise'. Das heißt, wir müssen uns mehr Freiheit und -zeit gönnen. Erst dann lassen wir uns nicht mehr von den Krankenkassen wie eine Sau, - und zwar jede Woche eine neue -, durchs Dorf treiben."

Auch viele Patienten wundern sich über die Situation. Auf www.borreliose-

forum.de schreibt ein User: "Da wird im Rahmen des neuen Gesundheitsfonds 2,7 Milliarden Euro mehr Vergütungsvolumen für die niedergelassenen Ärzte in das Gesundheitssystem gepumpt, das wir alle durch höhere Beiträge bezahlen müssen. Doch am Ende der Leitung kommt entsprechend den Aufschreien der Ärzte wesentlich weniger als zuvor an. Also muss doch bei dieser langen Leitung irgendwer sehr kräftig ableiten(...). Oder wurden nur die Durchleitungsgebühren um mehr als das Vergütungsvolumen erhöht?". Ein anderer meint: "Es kann nicht sein, dass jetzt alle mehr Beiträge zahlen und dass dann sowas dabei heraus kommt. Herzlichen Glückwunsch an die Gesundheitsministerin! Es ist schlimm, dass es anscheinend nicht mal mehr Einäugige unter den Blinden gibt."

Zusammengestellt von Charlotte Frank

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Die Wochenschau

Wohin mit den Eiern?

Die Finanzkrise offenbart die Grenzen der Risikostreuung

Von Markus Zydra

Wichtige Erkenntnisse können durch Sprache trivialisiert werden. Der ewige Börsentipp, nicht alle Eier in einen Korb zu legen, gehört in diese Kategorie. Einleuchtend in der Sache, banal in der Formulierung. Sparer sollten ihr Kapital streuen, um so das Risiko zu minimieren. So simpel das heutzutage klingen mag, diese bahnbrechende These hat viel Rechenarbeit erfordert. Geleistet wurde sie vom US-Nobelpreisträger Harry Markowitz. Er hat in den 50er Jahren die Portfoliotheorie begründet, die eine optimale Justierung des Risikos an der Rendite begründet. Einfach ausgedrückt: Wer 1000 Euro in eine Aktie investiert, kann zehn Prozent Rendite machen - er trägt aber ein großes Klumpenrisiko, weil er nur auf ein Unternehmen wettet. Genauso kann der Sparer für 1000 Euro zehn Aktien kaufen und dabei ebenfalls zehn Prozent Rendite erwarten, bei geringerem Risiko.

Das klingt einleuchtend, deshalb hat sich das Paradigma der Diversifikation weltweit durchgesetzt. Optimal umgesetzt wurde es jahrzehntelang von den Stiftungen der Universitäten Harvard und Yale. Motto: Wer Investitionen breit streut, ist auf der sicheren Seite.

Doch wer dieser Tage seinen Depotauszug von der Bank erhält, mag sich fragen, ob dieses Paradigma noch taugt. Anleger haben 2008 sehr hohe Verluste gemacht, obwohl sie der hehren Schule der Risikostreuung gefolgt sind: Ein bisschen Kapital in Rentenpapiere, etwas in Aktien, eine Prise in Rohstoffe und Immobilien. Dazu geschlossene Beteiligungen - Schiffe etwa - und vielleicht ein Hedgefonds, der ja gerade in der Krise das Kapital schützen soll. Hat alles nichts genutzt.

Weltweit brachen die Märkte ein. Riesige Verluste sind die Folge. Sogar die berühmten Universitäts-Stiftungen mussten Abbitte leisten für Einbußen im zweistelligen Prozentbereich. Ist die Welt eine grundsätzlich andere geworden? Ist Markowitz' Lehre obsolet, oder haben wir es mit einer Sondersituation zu tun? Schließlich ist eine in der Geschichte einmalige "Pumpwirtschaft" kollabiert, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf schreibt. Deshalb wurden Wertpapiere zwangsweise verkauft. All das könnte sich aber normalisieren, sobald die Finanzkrise überstanden ist. Nimmt Markowitz nur eine Auszeit?

Auch die Wissenschaft kennt ihre Moden. Letztlich setzt sich eine Erkenntnis nur durch, wenn sie mehrheitlich getragen wird. Markowitz hat sich seine Mehrheit über die Jahre erarbeitet. Nun muss seine These hinterfragt werden. Das Urproblem der Investmentphilosophie haben schon ganz andere beantwortet. Lange vor Markowitz schrieb Mark Twain etwa: "Lege alle Eier in einen Korb - und pass auf diesen Korb auf." Man mag dem amerikanischen Schriftsteller jegliche Börsenkompetenz absprechen, doch es war der große britische Ökonom John Maynard Keynes, der dasselbe sagte: "Es ist besser, eine große Beteiligung an einem Unternehmen zu kaufen, bei dem man die Risiken zu kennen glaubt, als dass man viele Beteiligungen erwirbt, wo man nicht diese Sicherheit hat."

Keynes' Investitionsverständnis lässt sich ebenfalls banal ausdrücken: Kaufe nur, was du kennst - aber dann kaufe viel davon. Keynes wurde reich an der Börse, doch er war unbestreitbar ein intelligenter Mann, dessen Passion es war, über Wirtschaft und Finanzen nachzudenken. Sein Erfolgsrezept lässt sich vom Privatsparer kaum nachahmen. Das könnten am ehesten Fondsmanager, doch die meisten dürfen aufsichtsrechtlich eine solche Strategie gar nicht verfolgen, weil sie als zu riskant gilt nach Markowitz.

Ein Problem seiner Lehre ist, so paradox es klingen mag, ihr Erfolg. Die gesamte Finanzwelt hat sich dem Postulat gefügt, macht also strategisch dasselbe. Gleichzeitig gibt es keine Nischen mehr. Wo in den 50er Jahren viele Variablen unabhängig voneinander erschienen, ist heute eine Interdependenz, die rechnergestützt kaum abzubilden sei, sagt der Ökonom Avinash Persaud. Die Börsenwelt ist globalisiert. Informationen sind überall gleichzeitig verfügbar, alle handeln gleichzeitig auf ihrer Basis. Und wenn alle ihr Kapital auf dieser Basis gestreut haben, dann bietet diese Streuung keine Sicherheit mehr. "Die Modelle legen dir nahe, dass du der Einzige bist, der so reagiert. Aber diese Annahme ist falsch. Investoren reagieren in derselben Situation ähnlich - eben wie eine Herde", so der Ökonom.

Persaud hält dennoch viel von Diversifikation - allerdings des Verhaltens. Erfolgreich investieren setze voraus, anders zu denken als die Herde.

So nicht! Foto: Mauritius

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Sprinterin auf der Mittelstrecke

Nytra hilft aus

Für Carolin Nytra vom Bremer LT, die deutsche Meisterin im Hürdensprint, ist die Reise nach Glasgow mit dem Deutschen Leichtathletikverband überaus lohnend gewesen. Erstens stellte sie beim Länderkampf gegen die USA, Großbritannien, Schweden und eine Commonwealth-Auswahl über 60 Meter Hürden in 8,05 Sekunden eine persönliche Bestzeit auf. Zweitens zeigte die 23-jährige Olympia-Halbfinalistin, dass sie weder eitel noch eigensinnig ist. Carolin Nytra half nämlich aktiv mit, ein Personalproblem zu beheben. 800-Meter-Läuferin Jana Hartmann fiel wegen Infekts kurzfristig aus. Ersatz wurde gesucht, und Nytra ließ sich nicht lange bitten, obwohl die atemberaubende Mittelstrecke für eine Sprinterin wie sie alles andere als der natürliche Lebensraum ist. Tapfer joggte sie den Besten hinterher, um wenigstens den Ehrenpunkt für die Mannschaft festzuhalten. Carolin Nytra wurde Letzte mit 71 Sekunden Rückstand auf Siegerin Marilyn Okoro (Großbritannien; 2:02,53 Minute) - und hatte trotzdem irgendwie gewonnen. SZ

Nytra, Carolin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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HAUPTSATZ

"Das hab' ich akustisch nicht verstanden"

100 Sätze reichen für ein ganzes Leben. Jede Woche stellt unser Autor einen vor.

Geht es nur mir so, dass dieser Satz ein ungutes Kettenkarussell im Bauch anwirft? Muss außer mir dabei noch jemand auf seinen Handrücken schielen, in der Hoffnung, die Binomischen Formeln stünden drauf? Nicht? Nun, das letzte Mal, dass ich diesen Satz benützt habe, dürfte in der elften Klasse gewesen sein. Ich an der Tafel, die Klasse und Herr Kärcher hinter mir, der nicht nur wie ein Hochdruckwasserstrahl hieß, sondern auch so ausfragen konnte. Da hatte ich also einiges akustisch nicht verstanden, und diesen kuriosen Umstand immer wieder beteuert. Der Satz war strenggenommen das Einzige, was überhaupt noch geradeaus meinen Mund verlassen konnte. Wie ein Ertrinkender noch mal an die von der Sonne getrocknete Bank vorm Haus denkt, bevor die Wellen über ihm zusammenschlagen, dachte ich immer nur noch diese Worte. Damit sind wir in der kaputten Sinnlosigkeit dieses Hauptsatzes. Herr Kärcher hat damals extrem akustisch und immer schärfer seine Fragen wiederholt. Der Satz hat sie nicht gelindert. Trotzdem wird er weltweit von Menschen in Krisensituationen vorgebracht, als Syntax gewordene Mattscheibe. Das Wichtigste daran ist das Wort "akustisch". Während die Zunge sonst einen großen Bogen darum macht - im Soft-Talk sagt keiner "Hä, was hast du akustisch gesagt?" - wirkt es hier wie der letzte magere Beweis, dass man bitteschön noch nicht komplett verblödet ist. Denn immerhin ist das ja so eine Art Fremdwort. So richtig würde der Satz aber nur in die letzten Sitzreihen von miesen Konzertsälen passen und nicht in die Frage-Antwort-Situationen, die sein vorwiegender Aufenthaltsraum sind. Dort soll er klarstellen, warum man eine Ladehemmung hat - nur klingt aus ihm immer eine leicht beengte Position. Gleichzeitig bestätigt man damit auch, dass man im Vorfeld schon einiges nicht verstanden hat, und zwar aus anderen Gründen als den akustischen. Wir halten also fest, in den meisten Fällen geht es hier nicht eigentlich um ein akustisches Problem, sondern um ein kognitives, sprich die Birne ist leer. Lehrer und Menschen, die Bewerbungstests durchführen, dürften bestätigen, dass dieser Satz in den meisten Fällen der Anfang vom Ende ist, also das Totenglöckchen bimmeln lässt. Man sollte diese gemeinen Prüfungsmenschen überraschen, indem man das nächste Mal einfach im gleichen Tonfall sagt: "Sorry, das habe ich jetzt intellektuell nicht verstanden." max-scharnigg.jetzt.de

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Karolina studiert doppelt

Das Bachelorstudium ist anstrengend - trotzdem wagen sich manche an ein zweites Fach

Montage sind hart: Für Karolina Ryszka, 22, beginnt die Woche mit drei Vorlesungen, zwei Übungen und zwei Seminaren. Morgens um halb acht in die Uni, nachts um zehn wieder zurück. Tageslicht sieht sie im Winter nur auf dem Weg zur U-Bahn, wenn sie vom Politikinstitut der Freien Universität Berlin zur VWL-Fakultät an der Humboldt Universität pendelt. Die Strecke fährt sie teils mehrmals am Tag hin und zurück: Karolina ist für zwei Fächer eingeschrieben und vielleicht hält sie irgendwann zwei Bachelorabschlüsse in der Hand.

Im Oktober 2008, nach zwei Semestern Politikwissenschaften, beschloss sie, sich zusätzlich für Volkswirtschaftslehre einzuschreiben. Seitdem studiert sie für zwei. Das bedeutet: 3 500 Seiten Pflichtlektüre, 11 Klausuren und zwei Hausarbeiten pro Semester und jede Woche 42 Präsenzstunden. "Es hört sich schlimmer an, als es ist", sagt Karolina. Sie habe immer noch Zeit für Unisport, Freunde, Partys. "Ich bin weder Streber noch hochbegabter Überflieger", sagt sie, ihr Zeitmanagement sei bloß sehr gut. "Manchmal wundere ich mich, wieviel Freizeit meine Mitbewohner haben - was machen sie bloß damit?" Das Jammern über den Bachelor hat sie nie verstanden. "Ist doch machbar, wenn man ein bisschen Disziplin hat." Es ist auch nicht so, dass sie mit ihrem Politikstudium unterfordert gewesen wäre. Bloß spürte sie die Angst im Nacken, später beim Bewerben um einen Job zu kurz zu kommen. Das Doppelstudium ist jetzt Karolinas Waffe gegen Zukunftspanik.

Etwa 10 000 Studierende in Deutschland kombinieren einen Bachelorstudiengang mit einem anderen Abschluss. Es gibt zwar keine Zahlen darüber, wie viele, so wie Karolina, ein doppeltes Bachelorstudium wagen, aber es handelt sich um eine Minderheit. Zum Beispiel sind von 400 Doppelstudenten an der Uni Leipzig nur 18 für zwei Bachelorfächer eingeschrieben. An der Ludwig Maximilians-Universität in München sind es nur 58 von 600. Es scheint, als trauten sich Magister- und Diplomstudenten eher ein Doppelstudium zu, als die neue Unigeneration. Sterben mit den alten Abschlüssen auch die Doppelstudenten aus?

"Ein Doppelstudium war auch vor der Hochschulreform schwierig", sagt Heidi Neugebauer vom Studierendensekretariat der Berliner Humboldt Universität. "An den Leistungsanforderungen hat sich nichts geändert." Die Koordination sei aber komplizierter geworden: Anwesenheitspflicht und starre Stundenpläne machten es nicht einfach, zwei Studiengänge zu schaffen. "Ein Doppelstudent muss sehr leistungsstark sein und ein Organisationstalent", so Neugebauer. Karolina hat ihren sehr eigenen Stundenplan entwickelt: Er ist in drei Farben angemalt. Rot steht für Dozenten mit gutem Gesichtergedächtnis, Gelb für Veranstaltungen, bei denen notfalls auch die Komillitonen die Unterschrift auf der Anwesenheitsliste fälschen können. Grüne Veranstaltungen werden in Absprache mit dem inneren Schweinehund besucht. Karolina hat außerdem schon während der ersten Semester vorgearbeitet und doppelt so viele Politik-Module abgeschlossen, wie sie eigentlich müsste. "Hätte ich gleichzeitig mit zwei Studiengängen angefangen, wäre es kaum möglich."

Aber nicht nur inkompatible Stundenpläne, auch die Zulassungsregelung kann eine Hürde auf dem Weg zum Doppelabschluss sein. Die Hochschulgesetze sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, meist kann man aber nur zweigleisig studieren, wenn eines der Fächer keinen NC hat. Oder einen so niedrigen, dass alle Erstbewerber aufgenommen werden können - schließlich sollen Doppelstudenten niemandem einen Studienplatz nehmen. Viele Zweitstudenten entscheiden sich deshalb für ein Fernstudium: 1300 "Studiengangzweithörende" gibt es an der Fernuni Hagen. Damit sind Studenten gemeint, die neben ihrem Präsenzstudium ein weiteres Fach vom heimischen Computer aus "hören". Immerhin 240 von ihnen haben zwei Bachelorstudiengänge auf einmal belegt.

"Das Doppelstudium an einer Fernuni ist einfacher zu organisieren", sagt Magdalena Saarmann vom Studierendensekretariat in Hagen. "Trotzdem ist es nicht einfach, dran zu bleiben." Neulingen rät sie deshalb, langsam anzufangen. "Lieber mit wenigen zusätzlichen Modulen beginnen und aufstocken, wenn es gut läuft. Und sich vorher Gedanken machen, ob man das Zweitstudium wirklich braucht." Natalie Janus hat unter anderem aus diesem Grund abgebrochen. Ein Semester tingelte die 22-Jährige in Berlin zwischen Fakultäten der Theologie und der Agrarwissenschaften. Die Hörsäle lagen zwar nur 15 Radminuten voneinander entfernt, aber das Problem war die Motivation. Natalie fing mit Theologie an - ohne einen Plan, was sie später mit dem Abschluss machen möchte. "Das war für mich", sagt sie. Die Agrarwissenschaften waren für ihre professionelle Laufbahn gedacht: Natalie wollte vielleicht Entwicklungshelferin werden.

Bald aber kamen Zweifel an der Schinderei und sie fragte sich: Wofür? Im ersten Monat ging Natalie pflichtbewusst zu allen Vorlesungen, im zweiten tauschte sie ihr 14-Uhr Seminar gegen das Mittagessen, im dritten Monat besuchte sie nur noch die Pflichtveranstaltungen. Nach Weihnachten 2008 war klar, dass sie Agrarwissenschaften aufgibt.

Ein Schicksal, dem sich viele anfangs motivierte Doppelstudenten gegenübersehen. Jene, die es zum Ende schaffen (eine Statistik der Erfolgreichen gibt es noch nicht), sagen, dass man sich ernsthaft für beide Fächer interessieren müsse. Der Meinung ist auch Karolina, die von ihrer "intrinsischen" Motivation" für das Doppelstudium spricht. Ohne die gehe es nicht. Ohne sie wäre die Studienarbeit auch kein Spaß sondern nur noch Qual. wlada-kolosowa.jetzt.de

"Ist doch machbar": Karolina studiert zwei Bachelorstudiengänge.

Hochschulabschlüsse in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schluss mit Tourismus

Serena Williams droht nach ihrem zehnten großen Titel, das Frauentennis wieder zu dominieren

Melbourne - Serena Williams hielt sich mit ihrem zehnten Grand-Slam-Titel nicht lange auf. Sie will Barack Obama kennenlernen, ihren neuen Präsidenten. "Wenn der Präsident sich meldet, dann bei den US Open. Ich sollte wirklich versuchen, die zu gewinnen", scherzte Williams, kaum dass in Melbourne nach dem Finale der Schweiß auf ihrer Stirn getrocknet war. Lange hatte das nicht gedauert. Schließlich hatte die 27-Jährige gegen Dinara Safina bei milden 25 Grad und einer angenehmen Brise am Samstag lediglich 59 Minuten auf dem Tennisplatz in der Rod Laver Arena verbracht. Zum ersten Mal wurde das Frauen-Endspiel der Australian Open am Abend unter Flutlicht ausgetragen. Es sollte eine große Show werden. Es wurde eine große Enttäuschung. Safina bekam ihre Nerven nicht in den Griff. Sie verlor 0:6, 3:6. Ihr Kommentar dazu: "Ich bin mir wie ein Ballkind vorgekommen."

In der Partie war es nicht nur um den ersten großen Titel von 2009 gegangen. Die Siegerin rückt an diesem Montag zur Nummer eins der Weltrangliste auf. "Davon habe ich mich zusätzlich unter Druck setzen lassen", gab Safina zu. Die fünf Jahre ältere Serena Williams begegnete der Herausforderung weit routinierter. Zweimal ist sie bereits an der Spitze der Computerliste gewesen, vom 8. Juli 2002 bis zum 10. August 2003 und im vergangenen Herbst noch einmal für vier Wochen. Nun rückt sie wieder ganz nach oben - und die große Frage lautet: Wie lange wird sie dieses Mal dort bleiben?

"Sie hat das Zeug dazu, das Frauentennis wieder so zu dominieren wie 2002", sagt Tracy Austin, 1980 selbst die Nummer eins. "Das hängt alleine von ihr ab", sagt Safina, die als Nummer zwei nun die erste Verfolgerin gibt: "Davon, wie viele Turniere sie spielt." In den vergangenen Jahren ließ Serena Williams kleinere Veranstaltungen gerne aus. "Sie war eher so etwas wie eine Touristin auf der Tour", sagt Austin, die inzwischen als TV-Expertin auftritt. Ihre Kollegin Mary Joe Fernández meint: "Serena wirkt zurzeit sehr dominant. Sie ist fitter geworden, außerordentlich athletisch und entschlossen. Und: Sie hat den besten Aufschlag. Das macht es jeder Gegnerin schwer."

Wimbledon-Finale, US-Open-Sieg, Australian-Open-Titel - eine ähnliche Erfolgsserie hatte Serena Williams zuletzt 2002/2003. "Die Nummer eins ist für mich nur ein Bonus", sagt sie. 2009 will sie aber alle Turniere bestreiten, die ihr die Frauen-Tour vorschreibt. Die Europa-Stationen werden im Frühjahr Rom und Madrid sein. Danach geht es zu den French Open, wo sie 2008 in der dritten Runde ausschied. "Ich will noch mehr Grand-Slam-Titel", kündigt sie an. Was der Konkurrenz aber noch mehr Sorgen bereiten sollte: "Ich habe wirklich noch viele Jahre vor mir", glaubt Williams, "manchmal fühle ich mich so, als könnte ich ewig weiterspielen." hof

Eine begnadete Diva auf und neben dem Tennisplatz: Serena Williams posiert in Melbourne. Foto: AP

Williams, Serena Tennis-Weltrangliste Frauen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Prediger der Intoleranz

Viele Islamlehrer in Österreich lehnen Demokratie und Menschenrechte ab

Von Michael Frank

Wien - Nach der Veröffentlichung einer Studie über die Einstellungen islamischeer Religionslehrer zu Demokratie und Menschenrechten ist in Österreich eine Debatte über eine mögliche Änderung des Religionsgesetzes entbrannt. Der Untersuchung zufolge steht ein beträchtlicher Teil der österreichischen Islam-Lehrer demokratischen Werten und Menschenrechten ablehnend gegenüber. Bundeskanzler Werner Faymann von der sozialdemokratischen SPÖ schließt nun nicht mehr aus, das 60 Jahre alte Religionsgesetz des Landes zu ändern. Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) forderte von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) eine umfassende Erklärung bis zum 12. Februar. Die IGGiÖ vertritt offiziell alle Muslime des Landes.

Die Zahlen ernüchtern: Der Studie zufolge halten 21,9 Prozent der islamischen Religionslehrer Österreichs die Demokratie für unvereinbar mit ihrer Konfession; 14,7 Prozent sehen Österreichs Verfassung im Widerspruch mit dem Islam; 13,9 Prozent meinen, dass ihre Konfession die Teilnahme an Wahlen in Österreich verbiete; 18,6 Prozent billigen es, wenn vom Glauben abgefallene Muslime getötet werden; 27 Prozent lehnen die Erklärung der Menschenrechte ab.

Was die Studie so glaubwürdig macht, ist ihr Autor: Mouhanad Khorchide ist selbst Muslim, nach eigenem Bekunden ein "liberaler". Die Studie hat er für seine Dissertation "Der islamische Unterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft" erarbeitet. Er ist aktiver Imam, war Assistent am Religionspädagogischen Institut der Universität Wien und bildet Lehrer fort. Für die Studie hat er vor eineinhalb Jahren 210 der damals 330 tätigen Islam-Lehrer befragt.

Heute werden etwa 50 000 Kinder von 400 Lehrern in ihrer Religion unterrichtet. Der österreichische Staat bezahlt - eine Besonderheit in Europa - die Islam-Lehrer selbst. Beaufsichtigt werden sie von der IGGiÖ. Mouhanad Khorchide warnt übrigens vor einer einseitigen Auslegung der Zahlen: So stünde der Meinung von 28 Prozent der Lehrer, Muslime könnten sich nicht ohne Identitätsverlust in die österreichische Gesellschaft integrieren, die Meinung von 80 Prozent gegenüber, Integration sei für Muslime von entscheidender Bedeutung.

IGGiÖ-Präsident Anas Schakfeh, ein bislang hochangesehener, besonnener Mann, versucht abzuwiegeln: Überzeugungen seien eine persönliche Sache, sie öffentlich, etwa im Unterricht, zu äußern sei eine andere. Jetzt steht der IGGiÖ-Vorsitzende auch in den eigenen Reihen unter Beschuss. Seit bereits drei Jahren wären Neuwahlen in der Glaubensgemeinschaft fällig. Wegen Arbeiten und Behördenstreitereien um eine neue Verfassung des Verbandes sind die Wahlen aber seitdem überfällig. Außerdem fühlen sich türkische Muslime und Schiiten von dem angeblich saudisch beeinflussten Verband schlecht repräsentiert.

Als mögliche Gesetzesänderung haben Religionsrechtler nun vorgeschlagen, dass Lehrer, die Intoleranz predigen, von ihren Religionsgemeinschaften zu entlassen sind. Das müsse dann aber für alle Lehrer gelten - auch für katholische.

In Erklärungsnöten: Anas Schakfeh, Chef der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, hält die strittigen Ansichten für vertretbar - solange sie nur privat geäußert werden. Reuters

Kirche und Religion in Österreich Muslime in Europa Bildungswesen in Österreich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Späte Blüte

Erster Deutscher seit zwölf Jahren im Junioren-Finale

Melbourne - Am Ende hat es doch noch eine Siegerehrung mit deutscher Beteiligung gegeben. Alexandros-Ferdinandos Georgoudas wusste, was auf ihn zukam. Auf eine Rede war er trotzdem nicht vorbereitet. "Ich habe einfach gesagt, was mir eingefallen ist", berichtete der 17-Jährige nach seiner 3:6, 1:6-Niederlage im Junioren-Finale der Australian Open gegen den als Nummer eins gesetzten Inder Yuki Bhambri. Georgoudas dankte seinen Trainern am Leistungszentrum des Deutschen Tennis-Bundes (DTB) in Hannover und fand, in der fast leeren Rod Laver Arena eine tolle Erfahrung erlebt zu haben: "Das war mein bisher größter Erfolg. So kann es weitergehen. Dann kommt vielleicht irgendwann etwas Gescheites heraus."

Georgoudas Vater ist Grieche, seine Mutter Deutsche. Geboren wurde er in Thessaloniki. Als er drei Jahre alt war, hielt er zum ersten Mal einen Tennisschläger in der Hand. Wegen des Großvaters. Der war ein Fan des Sports. Mit zehn Jahren konnte Georgoudas gegen Ältere schon ganz gut mithalten. Mit 15 stand für ihn fest: Ich will Profi werden. Als ihn sein Trainer in Griechenland verließ, sah er sich zusammen mit seiner Mutter nach Alternativen um. Hannover bot die beste. So schlecht wie oft gescholten, ist die Nachwuchsarbeit des DTB also offenbar doch nicht. Aktuell leistet sich der Verband drei Trainingszentren: Hannover, Stuttgart-Stammheim und Oberhaching. Gut eine halbe Millionen Euro kosten die den DTB. Als Junioren-Bundestrainer fungiert Peter Pfannkoch. In Absprache mit Davis-Cup-Teamchef Patrik Kühnen, hat der in den vergangenen Jahren forciert, dass sich die deutschen Teenager wieder öfter der internationalen Konkurrenz stellen. Georgoudas Finaleinzug ist nicht der einzige Beleg, dass dies etwas bringt: Insgesamt traten fünf Deutsche in Melbourne im Hauptfeld der Junioren-Veranstaltung.

Letztmals stand 1997 ein Deutscher im Junioren-Finale eines Grand-Slam-Turniers: Daniel Elsner. Der allerdings ist ein gutes Beispiel dafür, dass herausragende Ergebnisse als Kind keineswegs eine erfolgreiche Karriere garantieren. Als Erwachsener kam Elsner bei den Grand-Slam-Turnieren nie über die zweite Runde hinaus. Der Schritt von der Junioren- zur Senioren-Tour gilt im Tennis wie in vielen Sportarten als kritisch. Georgoudas und seine Altersgenossen in einem Zug mit Boris Becker zu nennen, sollte deshalb bei Strafe verboten werden. In den vergangenen Jahren hat der Sport extrem an Dynamik gewonnen. Spieler, die sehr jung erfolgreich sind, halten oft nicht lange durch. Bei den Australian Open gewann in diesem Jahr der Australier Bernard Tomic als bisher jüngster Spieler überhaupt ein Hauptrunden-Match - im Alter von 16 Jahren und 90 Tagen. Doch es gibt auch den gegenläufigen Trend: Der 25-Jährige Fernando Verdasco belegte mit seiner ersten Teilnahme an einem Grand-Slam-Halb-finale, dass auch ein später Durchbruch in die Weltspitze möglich ist. hof

Erst im Endspiel gestoppt: der deutsche Junior Alexandros-Ferdinandos Georgoudas Foto: dpa

Gergoudas, Alexandros-Ferdinandos Australian Open im Tennis Jugendtennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rekordergebnis für Liberale

München - Die Union muss in der Wählergunst starke Einbußen zugunsten der FDP hinnehmen. Nach Angaben der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen vom Freitag verlieren CDU und CSU im Vergleich zum Monatsanfang fünf Prozentpunkte und landen damit bei 37 Prozent. Die FDP kann ihren Stimmenanteil hingegen von elf auf 16 Prozent steigern und erreicht damit das beste Ergebnis, das die Liberalen jemals im Politbarometer erzielt haben. Die SPD stagniert bei 27 Prozent, die Grünen verbessern sich auf neun Prozent (plus zwei), die Linke verliert zwei Punkte und liegt bei sieben Prozent.

Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, so würden die FDP auf 14 Prozent kommen (plus drei), CDU/CSU erhielten 37 Prozent (minus drei). Die SPD bliebe unverändert bei 26 Prozent. Die Grünen würden einen Punkt zulegen und die Linke einen verlieren, womit beide Parteien bei 9 Prozent stehen.

Eine mögliche bürgerliche Koalition gewinnt in der Präferenz der Befragten weiter: 31 Prozent sähen gerne Union und FDP in der Regierungsverantwortung (24 Prozent im Januar). Nur noch 16 Prozent sprechen sich für eine Fortführung der großen Koalition aus, elf wünschen sich rot-grün. 45 Prozent glauben, die SPD würde trotz gegenteiliger Bekundungen im Bund eine Koalition mit der Linkspartei eingehen.

Ungeachtet der Verluste bei der Union kann Angela Merkel ihren Vorsprung in der Kanzlerfrage weiter ausbauen. 58 Prozent der Befragten wünschen sich die CDU-Chefin weiterhin an der Spitze der Regierung (plus drei). Ihr SPD-Gegenkandidat Frank-Walter Steinmeier verliert zwei Punkte und kommt auf 30 Prozent. Dabei wollen lediglich 61 Prozent der SPD-Anhänger den Außenminister als Kanzler. In der Unions-Wählerschaft sprechen sich hingegen 89 Prozent für Merkel aus. biaz

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DIE BUNDESLIGA AUF EINEN BLICK

Der 18. Spieltag

Hamburger SV - Bayern München 1:0 (1:0)

1899 Hoffenheim - Energie Cottbus 2:0 (1:0)

Hertha BSC Berlin - Eintracht Frankfurt 2:1 (1:0)

Borussia Dortmund - Bayer Leverkusen 1:1 (1:0)

1. FC Köln - VfL Wolfsburg 1:1 (1:0)

VfB Stuttgart - Bor. Mönchengladbach 2:0 (0:0)

Hannover 96 - FC Schalke 04 1:0 (1:0)

VfL Bochum - Karlsruher SC

SV Werder Bremen - Arminia Bielefeld

Zuschauer

Verein Schnitt

Borussia Dortmund 73 700 73 010

Hamburger SV 57 000 55 028

VfB Stuttgart 41 300 50 110

1. FC Köln 49 000 49 444

Hertha BSC Berlin 39 847 41 730

Hannover 96 45 667 41 090

SV Werder Bremen 40 508

TSG 1899 Hoffenheim 30 150 26 625

VfL Bochum 24 560

Insgesamt 336 664 41 197

Der 19. Spieltag

Arminia Bielefeld - Hertha BSC Berlin Fr. 20.30

FC Schalke 04 - Werder Bremen Sa. 15.30

Bayer 04 Leverkusen - VfB Stuttgart Sa. 15.30

B. Mönchengladbach - 1899 Hoffenheim Sa. 15.30

Karlsruher SC - Hamburger SV Sa. 15.30

Eintracht Frankfurt - 1. FC Köln Sa. 15.30

VfL Wolfsburg - VfL Bochum Sa. 15.30

Energie Cottbus - Hannover 96 So. 17.00

Bayern München - Borussia Dortmund So. 17.00

Torjäger

1. Vedad Ibisevic (TSG 1899 Hoffenheim) 18

2. Patrick Helmes (Bayer 04 Leverkusen) 13

3. Grafite (VfL Wolfsburg) 12

4. Claudio Pizarro (SV Werder Bremen) 10

Milivoje Novakovic (1. FC Köln) 10

Artur Wichniarek (DSC Arminia Bielefeld) 10

7. Mladen Petric (Hamburger SV) 9

Luca Toni (FC Bayern München) 9

9. Diego (SV Werder Bremen) 8

Stefan Kießling (Bayer 04 Leverkusen) 8

Demba Ba (TSG 1899 Hoffenheim) 8

Mario Gomez (VfB Stuttgart) 8

Bor. Dortmund - Bayer Leverkusen 1:1 (1:0)

BV Borussia Dortmund: Weidenfeller - Owomoyela, Felipe Santana, Subotic, Lee - Tinga - Boateng, Kringe - Sahin (70. Valdez) - Zidan (70. Öztekin), Frei. - Trainer: Klopp.

Bayer 04 Leverkusen: Adler - Castro, Friedrich, Sinkiewicz, Kadlec - Rolfes - Renato Augusto, Vidal, Barnetta - Kießling, Helmes. - Trainer: Labbadia.

Tore: 1:0 Frei (36.), 1:1 Helmes (63.). - Referee: Meyer (Burgdorf). - Gelbe Karten: Boateng - Vidal (6).

Hannover 96 - Schalke 04 1:0 (1:0)

Hannover 96: Enke - Pinto, Eggimann, Fahrenhorst, Rausch - Balitsch (70. Bastian Schulz), Christian Schulz - Rosenthal, Huszti (84. Bruggink) - Stajner, Hanke (80. Forssell). - Trainer: Hecking.

S04: Neuer - Rafinha (65. Krstajic), Höwedes, Bordon, Westermann - Ernst (49. Kuranyi), Kobiaschwili - Rakitic - Farfan, Altintop, Asamoah. - Trainer: Rutten.

Tor: 1:0 Pinto (8.). - Schiedsrichter: Brych (München). - Gelbe Karten: Pinto (3), Stajner (2).

1. FC Köln - VfL Wolfsburg 1:1 (1:0)

1. FC Köln: Mondragon - Brecko, McKenna, Mohamad, Matip - Pezzoni, Petit - Yalcin (69. Broich), Ehret (76. Boateng) - Ishiaku, Radu. - Trainer: Daum.

VfL: Benaglio - Riether, Simunek, Barzagli, Schäfer - Josue - Zaccardo (46. Pekarik), Gentner (66. Okubo) - Misimovic - Grafite, Dzeko. - Trainer: Magath.

Tore: 1:0 Radu (34.), 1:1 Grafite (73.). - Schiedsrichter: Gagelmann (Bremen). - Gelbe Karten: Ishiaku, Mohamad (4), Yalcin, Boateng - Gentner, Grafite (2).

Hamburger SV - Bayern München 1:0 (1:0)

Hamburger SV: Rost - Demel, Reinhardt (64. Boateng), Mathijsen, Jansen - Jarolim, Benjamin - Pitroipa, Trochowski - Petric, Guerrero. - Trainer: Jol.

FC Bayern München: Rensing - Lell (65. Altintop), Lúcio, Demichelis, Lahm - Schweinsteiger (77. Donovan), van Bommel, Zé Roberto (70. Borowski), Ribéry - Toni, Klose. - Trainer: Klinsmann.

Tor: 1:0 Petric (44.). - Schiedsrichter: Kircher (Rottenburg). - Gelbe Karten: Benjamin (4), Boateng (4), Pitroipa (2), Demel (6) - Demichelis (4).

1899 Hoffenheim - Energie Cottbus 2:0 (1:0)

TSG 1899 Hoffenheim: Hildebrand (60. Haas) - Beck, Jaissle, Compper, Ibertsberger - Weis, Luiz Gustavo, Salihovic - Teber (80. Vorsah), Sanogo (88. Terrazzino), Ba. - Trainer: Rangnick.

Cottbus: Tremmel - Cagdas, Radeljic, Cvitanovic, Ziebig - Rajnoch, Rost - Skela (69. Rangelow), Angelow - Jula, Sörensen (84. Iliev). - Trainer: Prasnikar.

Tore: 1:0 Ba (28.), 2:0 Sanogo (63.). - Schiedsrichter: Gräfe (Berlin). - Gelbe Karten: Weis, Luiz Gustavo (8), Teber (4), Sanogo - Jula (2), Tremmel (3).

Hertha BSC - Eintracht Frankfurt 2:1 (1:0)

Hertha BSC Berlin: Drobny - von Bergen, Friedrich, Simunic, Stein - Cicero - Ebert (86. Cufre), Nicu - Woronin (75. Babic), Raffael - Pantelic (84. Domowtschiski). - Trainer: Favre.

Eintracht Frankfurt: Pröll (57. Zimmermann) - Ochs, Russ, Chris, Petkovic - Fink - Steinhöfer (63. Kweuke), Köhler - Meier - Liberopoulos, Fenin. - Trainer: Funkel.

Tore: 1:0 Pantelic (17.), 2:0 Pantelic (50.), 2:1 Köhler (52.). - Besonderes Vorkommnis: Pröll hält Foulelfmeter von Cicero (33.). - Schiedsrichter: Kinhöfer (Herne). - Gelbe Karten: Nicu (2), Friedrich (2), Drobny (2) - Pröll.

VfB Stuttgart - B. Mönchengladbach 2:0 (0:0)

VfB Stuttgart: Lehmann - Osorio, Tasci, Delpierre, Magnin - Simak (81. Hilbert), Khedira, Hitzlsperger (60. Elson), Lanig - Marica (87. Schieber), Gomez. - Trainer: Babbel.

Mönchengladbach: Bailly - Stalteri, Brouwers, Gohouri - Paauwe (70. Neuville), Daems - Galasek (79. Colautti) - Matmour (74. Marin), Bradley, Baumjohann - Friend. - Trainer: Meyer.

Tore: 1:0 Marica (67.), 2:0 Gomez (86.). - Referee: Stark (Landshut). - Gelb: Simak (2), Khedira (3).

Vereine Sp. g u v Tore Pkt. Heim Auswärts

1 (1) 1899 Hoffenheim 18 12 2 4 44:23 38 23:6 26 21:17 12
2 (3) Hertha BSC Berlin 18 11 3 4 29:21 36 19:8 23 10:13 13
3 (4) Hamburger SV 18 11 3 4 27:24 36 15:6 25 12:18 11
4 (2) FC Bayern München 18 10 5 3 39:25 35 24:16 17 15:9 18
5 (5) Bayer Leverkusen 18 10 3 5 37:22 33 18:10 16 19:12 17
6 (6) Borussia Dortmund 18 7 9 2 28:20 30 17:9 16 11:11 14
7 (10) VfB Stuttgart 18 8 4 6 28:23 28 18:9 20 10:14 8
8 (9) VfL Wolfsburg 18 7 6 5 36:26 27 23:6 22 13:20 5
9 (7) FC Schalke 04 18 7 6 5 24:17 27 12:5 17 12:12 10
10 (8) SV Werder Bremen 17 7 5 5 39:28 26 27:13 20 12:15 6
11 (11) 1. FC Köln 18 7 2 9 20:26 23 8:12 11 12:14 12
12 (13) Hannover 96 18 5 5 8 21:32 20 18:11 19 3:21 1
13 (12) Eintracht Frankfurt 18 5 4 9 24:31 19 14:10 11 10:21 8
14 (14) Arminia Bielefeld 17 2 8 7 15:27 14 10:12 9 5:15 5
15 (15) Karlsruher SC 17 4 1 12 15:32 13 7:11 10 8:21 3
16 (16) Energie Cottbus 18 3 4 11 12:31 13 5:15 4 7:16 9
17 (17) VfL Bochum 17 1 8 8 19:30 11 13:16 7 6:14 4
18 (18) Borussia M'gladbach 18 3 2 13 18:37 11 11:18 7 7:19 4

Im Fußballer-Leben geht mancher Kopfball daneben: beispielsweise dieser vom Schalker Gerald Asamoah, vermutlich irritiert vom Panthersprung des Hannoveraner Torwarts Robert Enke. Foto: ddp

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Berlin besiegt Friedrichshafen 3:1

Volleyball wie noch nie

Berlin - So hat die Hauptstadt nie zuvor ein Volleyballspiel zelebriert: Für die Begegnung gegen den Serienmeister VfB Friedrichshafen am Sonntagnachmittag waren die Hauptstädter des SCC Berlin von ihrer beschaulichen Charlottenburger Sömmeringhalle nach Prenzlauer Berg umgezogen, in die fast dreimal so große Max-Schmeling-Halle. Zum zweiten Mal bereits, bei der Premiere im November gegen Düren hatte dieses Manöver 4950 Zuschauer angelockt, schon das war eine lokale Bestmarke gewesen. Nun waren es 7700 Neugierige, die bis hinauf unters Hallendach mit ihren faltbaren Fächern lärmten, sogar die Stehplätze waren eng bevölkert: Ligarekord! Und nach einer kurzen Einführung in die Gepflogenheiten dieses Sports entwickelte sich vor der denkwürdigen Kulisse auch ein denkwürdiges Spiel. Berlin gewann mit 3:1 Sätzen (25:20, 20:25, 25:20, 25:19) und übernahm die Tabellenführung.

Die Ausgangslage vor der Partie war offen gewesen wie lange nicht: Die Gäste vom Bodensee hatten in dieser Saison bereits dreimal eine unbekannte Erfahrung machen müssen: gegen einen nationalen Gegner zu verlieren. Zweimal in der Liga, einmal im Pokal. Jedes Mal auswärts. Die Berliner lauerten punktgleich auf Tabellenrang zwei, "wir wollen unsere Leistungsgrenze ausloten und uns die Tabellenführung erkämpfen", hatte Trainer Michael Warm als Losung ausgegeben.

Der erste Satz war lange ausgeglichen, über 5:5, 7:7, 10:10 erkämpften sich die Berliner ihre erste Führung (14:13), Aleksandar Spirovski verwandelte schließlich einen Schmetterball zum 25:20. Friedrichshafen, das vom ehemaligen Bundestrainer Stelian Moculescu trainiert wird, fand nur im zweiten Durchgang zu seinem Rhythmus, irritierte ansonsten durch verzogene Kraftschläge und Nachlässigkeiten im Block, zudem ließen sich die Favoriten durch die Euphorie auf der anderen Netzseite einschüchtern. Der dritte Satz war bereits eine klare Angelegenheit, im vierten entglitt die Sache den Gästen endgültig. In der Finalserie um die Meisterschaft war Berlin Friedrichshafen im vergangenen Jahr noch mit 0:3 Spielen unterlegen.

Der Sonntagnachmittag verdeutlichte einmal mehr, welches Potential im Berliner Hallensport noch schlummert. Und wie sehr der Zuspruch zu einer Sportart von ihrer Präsentation abhängt. Die Basketballer von Alba Berlin waren im Herbst in die neue, 14.000 Zuschauer fassende Arena am Ostbahnhof gezogen, seither hat die Max-Schmeling-Halle nur noch den Handball-Erstligisten Füchse Berlin als festen Mieter. Das eröffnet nun dem SCC neue Möglichkeiten. Ein "erneut so großartiges Erlebnis wie gegen Düren" hatte sich SCC-Manager Kaweh Niroomand erhofft. Er ist nicht enttäuscht worden. Claudio Catuogno

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Fohlen zu Schlachtrössern

"Eine Taktik wie vor 80 Jahren": Beim 0:2 in Stuttgart entdeckt Gladbachs Trainer Meyer mal wieder den Libero

Stuttgart - Bis heute weiß der deutsche Fußball nicht, was er einem Lothar Matthäus alles zu verdanken hat. Matthäus war nicht nur Führungsspieler, Dialektsprecher und Heiratsspezialist, sondern auch: eine historische Figur. Dank einem Lothar Matthäus hat eine ganze Generation junger Fußballer erfahren, was ein Libero ist. Als die Generation Gomez so alt war, dass sie abends Fußball im Fernsehen schauen durfte, ohne vorher Mittagsschlaf machen zu müssen, da wurden überall auf der Welt schon schicke Viererketten geknüpft - außer in Deutschland, wo es sich ein Lothar Matthäus, knapp vierzigjährig, bei der EM 2000 weit hinter seinen Vorstoppern bequem machte. Mario Gomez war 15 damals, er hat diese EM im Fernsehen verfolgt und wusste also, wovon er sprach: "Einen Libero habe ich schon lange nicht mehr gesehen", sagte er nach dem 2:0 (0:0) des VfB Stuttgart gegen Mönchengladbach, das den knapp vierzigjährigen Tomas Galasek (na gut, er ist 36) als letzten Mann mitgebracht hatte. "Eine Taktik wie vor 80, 90 Jahren" erkannte Gomez und wunderte sich: "Gladbach braucht doch auch Punkte, ich habe die Taktik überhaupt nicht verstanden."

Das wäre ja auch noch schöner, wenn sich Hans Meyer bei der Wahl seiner Taktik nach den jungen Leuten richten würde. Meyer zählt zur Spezies Trainerfuchs, und als solcher hat er sich - durchaus zurecht - einen so guten Ruf erarbeitet, dass er auch eine Trainerbank auf den linken Flügel stellen könnte und man das immer noch ehrfürchtig für einen genialen Kniff halten würde. Der einzige, der ohne Ehrfurcht über Hans Meyer sprechen darf, ist Hans Meyer selbst. "In der Schlussphase hat der alte Fuchs Meyer einen herrlichen Fehler gemacht", sagte der alte Fuchs Meyer. Nach Stuttgarts Führung durch Ciprian Marica (67.) hatte Meyer hintereinander Oliver Neuville (offensiv), Marko Marin (offensiv) und Roberto Colautti (offensiv) eingewechselt, worauf das eintrat, was laut Meyer "jeder Fachmann weiß": Gladbach wurde nicht offensiv besser, sondern defensiv weniger stabil. Das 2:0 schoss dann Gomez, der Libero-Kritiker.

Wer Hans Meyers Argumentation folgte, könnte also zu dem Schluss kommen, dass Meyer seine Elf ins Verderben rennen ließ. Vielleicht hat der alte Fuchs genau diese Interpretation bezweckt, denn richtig war eher das Gegenteil. Gladbach verlor nicht, weil es sich zu viel zutraute. Es verlor, weil es sich zu wenig zutraute.

Man mag den Gladbachern wünschen, dass ihnen am Saisonende nicht exakt drei Punkte zum Klassenerhalt fehlen, denn dann könnten es die drei aus Stuttgart gewesen sein. Der VfB hat ja eine Grübler-Mannschaft, und nach dem 1:5 gegen den FC Bayern waren die Grübler mit schweren Gedanken aufs Feld gelaufen. Natürlich hatte Meyer das einkalkuliert, natürlich hatte er auch deshalb den Libero aus der Mottenkiste geholt. In der Tat machte es die ohnehin verunsicherten Stuttgarter wahnsinnig, dass da hinten ständig ein freier Mann herumturnte, der die wenigen Bälle, die durchkamen, einfach abfing. "Bis zum Gegentor haben wir's sehr, sehr ordentlich gemacht", sagte Meyer. Das stimmte, weil die neue Kompaktheit reichte, um Stuttgarts Grübler vollends ratlos zu machen. Aber es stimmte auch nicht, weil sich die Borussia von der gegnerischen Ratlosigkeit zu selten zu eigenen Offensivaktionen ermuntern ließ.

Hans Meyer tourt ja inzwischen durch die Liga wie ein fahrender Händler, der Rezepte gegen Abstieg feilbietet. Wie einst in Nürnberg, so kam er auch in Gladbach zu dem Schluss, dass er die unorganisierte Elf erstmal von hinten aufbauen muss, weshalb er im Winter erfahrene Defensivdenker einkaufen ließ - Galasek etwa, der ihm schon beim 1. FC Nürnberg gelegentlich den Libero machte. Meyer ist kein Retro-Trainer, er weiß schon, was er tut, aber in Stuttgart hat er gemerkt, wie schwer seine Aufgabe ist. Die Botschaft dieses 0:2 war, dass es doch länger dauern könnte, bis die Balance im Team stimmt. Meyer hat die Gladbacher Fohlen fürs Erste zu Schlachtrössern gemacht, denen das Fohlenhafte völlig fehlt. Noch traut sich Meyer nicht, die künstlerisch veranlagten Marin und Alexander Baumjohann gemeinsam von Anfang zu bringen - dabei wäre der behäbige VfB ein perfekter Gegner für den Dribbler Marin gewesen.

Am nächsten Spieltag dürfte es schon schwerer werden mit der eigenen Offensive, dann kommt Hoffenheim. Ein klarer Fall für einen Libero.Christof Kneer

Huch, da liegt ja noch einer: Auch VfB-Angreifer Ciprian Marica staunte nicht schlecht über die Gladbacher Taktik. Kaum hatte man einen Abwehrspieler ausgespielt, kam einem noch ein Libero (TomasGalasek, am Boden) in die Quere. Foto: dpa

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Debatte um Teamchef Babbel

Luft nach oben

"Hochzufrieden" sei er mit seiner Elf, sagte VfB-Teamchef Markus Babbel nach dem 2:0 gegen Mönchengladbach, sie habe "Leidenschaft gezeigt und nie den Glauben verloren". Wer schon mal so eine Pressekonferenz verfolgt hat, der weiß: Wenn Trainer sich beim Loben allzu sehr auf deutsche Tugenden verlegen, dann war spielerisch "viel Luft nach oben", wie Babbel immerhin einräumte. Aber aus seiner Sicht war die Argumentation schlüssig: Er wird ja dafür bezahlt, dass er ein fußballerisch eher ärmliches 2:0 in einen Sieg der Willens umdeutet.

Markus Babbel, 36, gewinnt zurzeit auch für sich selbst. Obwohl er noch nicht die erforderliche Trainerlizenz besitzt, will er auch in der kommenden Saison den Sport beim VfB verantworten, aber seine Perspektiven haben sich trotz des Sieges nicht verbessert. Zum einen wurde DFB-Trainerausbilder Frank Wormuth gerade im Tagesspiegel mit einem scharf klingenden Interview auffällig. "Wir haben immer gesagt, dass es für Lothar Matthäus die letzte Sondergenehmigung gab. Man muss auch mal einen Schlussstrich ziehen. Das haben wir getan", sagte Wormuth. Aber solche Sätze sollen wohl vor allem dazu dienen, den DFB als unabhängigen Entscheider zu positionieren - im Stillen ist aber längst die Hinterzimmer-Diplomatie angelaufen. Beim VfB, der seinen Amateurcoach Rainer Adrion dem DFB im Sommer als neuen U-21-Trainer überlässt, haben sie Signale empfangen, wonach sich der DFB eine flexiblere Lösung vorstellen könnte - eine Variante, wonach Trainer wie Babbel einen Teil des Lernstoffs in der fußballfreien Zeit (z.B. Sommerpause) per Blockunterricht vermittelt bekommen, um im Spielbetrieb häufiger bei ihren Teams zu sein. Aber nach den jüngsten Entwicklungen gilt als fraglich, wie sehr der VfB um Babbel kämpfen wird. Dass die Elf müde und mutlos aus der Winterpause kam, hat die Verantwortlichen ins Grübeln gebracht. nee

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Gold und Silber bei Radcross-WM

Walsleben siegt im Alleingang

Hoogerheide (sid) - Hanka Kupfernagel ist als Cross-Königin entthront worden, dafür tratYoungster Philipp Walsleben in die Fußstapfen des früheren Champions Mike Kluge. Der 21-Jährige holte bei der WM im niederländischen Hoogerheide souverän den Titel im U23-Rennen vor Landsmann Christoph Pfingsten und bescherte dem Bund Deutscher Radfahrer (BDR) den ersten Männer-Titel seit 1992. Europameisterin und Gesamtweltcupsiegerin Kupfernagel verpasste den fünften Triumph nach 2000, 2001, 2005 und 2008 um Haaresbreite. Die 34-Jährige musste sich im Schlussspurt der Lokalmatadorin Marianne Vos, die von 80 000 Landsleuten an der Strecke zum Sieg getragen wurde, geschlagen geben. Kupfernagel rettete Platz zwei vor Katherine Compton (USA) ins Ziel und erweiterte ihre Medaillensammlung: In den letzten zehn Jahren schaffte sie es neunmal auf das WM-Podest.

Walsleben debütierte auf dem WM-Podest, überraschend war sein überlegener Solosieg aber keineswegs. "Das war die Krönung einer fantastischen Saison. Ich habe alle wichtigen Rennen gewonnen", sagte er. Walsleben hatte zuvor schon die EM und den Gesamtweltcup im U 23-Lager sowie den DM-Titel gewonnen. 2010 soll der Sprung zu den Profis gelingen. Kluge, der 1992 in Leeds das Eliterennen gewann und der letzte große deutsche Querfeldeinfahrer nach Rolf Wolfshohl und Klaus-Peter Thaler war, traut dem 21-Jährigen viel zu: "Deutschland hat wieder einen jungen Cross-Star. Er hat das Zeug, in zwei Jahren, vielleicht früher, bei den Profis vorne dabei zu sein." In der U23 war Walsleben eine Klasse für sich. Früh setzte sich der gebürtige Potsdamer, der im Cross-Heimatland Belgien lebt und sein Geld beim Team BKCP-Powerplus verdient, vom Feld ab und fuhr überlegen zum Sieg. Den Verfolgersprint entschied Pfingsten vor dem Polen Pawel Szczepaniak für sich.

Spannend ging es bei den Frauen zu: Bei Volksfeststimmung war es Compton, die früh ausriss und einen großen Vorsprung herausfuhr. Doch Kupfernagel, die Vos nicht abschütteln konnte, kämpfte sich heran. "Ich habe die letzten zwei Runden attackiert und das Rennen schwer gemacht, leider nicht schwer genug. Ich wusste, dass ich im Sprint gegen Vos keine Chance habe", meinte Kupfernagel. Die Thüringerin war die stärkste Fahrerin im Feld, konnte am Ende aber auch mit Silber leben. "Es ist zwar hart, wenn man gewinnen kann und Zweite wird. Insgesamt bin ich mit den letzten Wochen zufrieden", sagte sie nach Siegen bei EM, DM und im Gesamtweltcup.

Rad-Cross Wettbewerbe SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zwei Prozent Rendite

Oikocredit vergibt Kredite an arme Menschen. Im Vordergrund steht der Werterhalt des angelegten Geldes, nicht die Vermehrung

Von Caspar Dohmen

Köln - So ändern sich die Ansprüche. Heute lacht keiner der mehr als 200 Zuhörer im Hörsaal der Kölner Universität, wenn Heinrich Wiemer ihnen sagt, sie sollten sich mit zwei Prozent Rendite begnügen. Früher analysierte er für Großbanken wie die Schweizer UBS mit ihren vermögenden Kunden die Kapitalmärkte. Heute arbeitet Wiemer ehrenamtlich im Vorstand von Oikocredit und spricht vom Maßhalten. Die internationale Genossenschaft vergibt Darlehen und Mikrokredite zu fairen Konditionen an Partner in Afrika, Asien, Lateinamerika sowie Mittel- und Osteuropa, vor allem Mikrokredite. Diese helfen Menschen beim Aufbau einer Existenz, etwa in der Landwirtschaft. Seit dem Platzen der Kreditblase erleben solche Organisationen einen Boom. Allein Oikocredit steigerte im abgelaufenen Jahr das Kapital um 31 auf 350 Millionen Euro und gehört damit zu den größten Anbietern sozialer und ökologischer Geldanlagen.

Holpriger Anfang

Der Start war holprig. Alles fing an, als in der schwedischen Stadt Uppsala bei der 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen Christen über die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Welt diskutierten. "Warum investieren die Kirchen ohne Skrupel in Banken, die mit ihren Anlagen möglicherweise den Vietnamkrieg oder Unternehmen finanzieren, die die Apartheid unterstützen? Gibt es keine bessere Möglichkeit, Rücklagen anzulegen?", fragten schon damals junge, politisch engagierte Mitglieder. Das war 1968. Damals "begannen wir zu verstehen, dass unsere Nächsten nicht nur die Nachbarn vor Ort sind, sondern wir entdeckten auch die fernsten Nächsten", schreibt Gerhard Dilschneider, einer der Pioniere der Bewegung rückblickend.

Noch sprach niemand von Globalisierung, doch einige Menschen entdeckten für sich die ungerechten Welthandelsstrukturen und Handelsbarrieren. "Wir lernten, warum die tansanischen Kaffeebauern über den geringen Preis ihrer geringen Produkte klagten", sagt Dilschneider. Dies war die Geburtsstunde der Dritte-Welt-Läden und des fairen Handels. Doch einige Menschen wollten mehr, sie forderten einen anderen Umgang der Kirchen mit ihrem Geld, diskutierten über eine kirchliche Weltbank.

Sechs Jahre später gab der Ökumenische Rat der Kirchen dann grünes Licht für die "Ecumenical Development Cooperative Society" (EDCS), den Vorläufer von Oikocredit; die Dachorganisation wurde in Holland gegründet. Es gibt darunter Länderorganisationen und regionale Förderkreise, allein elf im deutschsprachigen Raum. Ursprünglich sollten die Kirchen bei den EDCS Geld anlegen. Doch sie weigerten sich, argumentierten mit Vorschriften für die Mündelsicherheit ihrer Anlagen, zweckgebundenen Rücklagen und der mangelnden Sicherheit. "Das effiziente, kirchliche Finanzsystem wurde überhaupt nicht mit dieser neuen, für sie unbequemen und die gewohnten Kreise störenden Herausforderung fertig, und so wurden alle Versuche blockiert, für die EDCS wenigstens teilweise kirchliche Rücklagen zu gewinnen", erinnert sich Dilschneider.

So erklärte die deutsche evangelische Kirche 1978 explizit, sich nicht an der Initiative beteiligen zu wollen. Die Autoren einer von der Kirche beauftragten Studie lehnten die Geldanlage bei der ECDS ab: Es sei aus entwicklungspolitischer Sicht sinnvoll, aber wirtschaftlich untragbar, banktechnisch undurchführbar und für die Anteilseigner aus finanzieller Sicht abzulehnen. Dann wäre es doch besser, das Geld gleich zu verschenken. Damals schätzte man alleine das kirchliche Investitionskapital in den USA auf 20 Milliarden Dollar, in England auf 80 Millionen Pfund. Die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche verlief ebenfalls zäh. Erst im Juni 1984 konnte die Diözese Rottenburg als Mitglied eines Förderkreises gewonnen werden.

"Somit hat die Basiskirche Oikocredit getragen", sagt Brigitta Herrmann, Geschäftsführerin von Oikocredit in Deutschland. Man glaubte an die Idee und gründete Förderkreise, welche bis heute die treibende Kraft sind. Insgesamt gibt es weltweit 28 000 Mitglieder, darunter Einzelpersonen oder Kirchenkreise. Bis heute mobilisieren die Förderkreise den größten Teil des Anteilskapitals. Hätten sich die Amtskirchen durchgesetzt, gäbe es Oikocredit nicht. Derzeit hat die Organisation ihr Geld in 740 Projekten in 69 Ländern investiert. Auf der jährlichen Generalversammlung kann jeder über den Einsatz mitentscheiden.

Herrmann hat Theologie und Wirtschaft studiert und über das westafrikanische Mali promoviert. Dann begann sie bei Oikocredit. "Ich wollte etwas machen, damit es den Menschen in den Entwicklungsländern tatsächlich besser geht", sagt Herrmann. Durchschnittlich sieben Prozent Zinsen zahlen die Kreditnehmer, die Anleger begnügen sich seit Jahren mit zwei Prozent Rendite. Mit der Differenz werden unter anderem die Verteilung des Geldes bezahlt und die Ausfälle beglichen. Die Zahl der Problemprojekte ist im Jahr der internationalen Finanzkrise auf ein Rekordtief gefallen. Oikocredit spricht bei 4,3 Prozent der Projekte von einem Zahlungsrückstand, vor Jahresfrist waren es noch acht Prozent. Die Kreditnehmer sind zufrieden: 90 Prozent hätten nach eigener Einschätzung durch die Kleinkredite ihre Lage verbessert, sagt Herrmann. Bei der Verteilung des Geldes verlässt Oikocredit sich auf lokale Partner. Häufig werden Bauern unterstützt, welche ihre Produkte dann wiederum über den fairen Handel absetzen.

Herrmann will eine Geldanlage bei Oikocredit nicht als Spende gewertet wissen. Viele Anleger wären froh, wenn sie heute zwei Prozent Rendite auf ihr Erspartes bekämen. Tatsächlich hätten viele Kleinanleger zweimal innerhalb weniger Jahre viel Geld an der Börse verloren, erst bei dem Platzen der Internetblase Anfang des Jahrtausends, dann bei der Kreditblase. Bei der Berechnung der Zinsen für die Mitglieder von Oikocredit stehe grundsätzlich der Werterhalt des Geldes im Vordergrund, nicht die Vermehrung.

Hätten sich die

Amtskirchen durchgesetzt,

gäbe es die Genossenschaft

heute nicht mehr.

Arbeiter einer Kaffeeplantage in Tansania. Die Genossenschaft Oikocredit vergibt Kredite an Kleinbauern, damit sie eine Existenz aufbauen können. Foto: Mauritius Images

Oikocredit Mikrokredite Entwicklungsländer SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zu viel Geschichte, zu wenig Kunst

Roger Federer verspielt bei den Australian Open die Chance auf den 14. Grand-Slam-Titel - Rafael Nadal gewinnt in fünf Sätzen

Melbourne - Die Szene hatte Symbolkraft. Als Rafael Nadal nach fünf Sätzen Tennis und 4:23 Stunden in der Rod Laver Arena die Fäuste in den Nachthimmel reckte und in der Triumph-Pose zu seiner Entourage schritt, saß Roger Federer mit gesenktem Kopf auf dem Bänkchen neben dem Schiedsrichterstuhl, ordnete in aller Ruhe seine Sachen und legte sorgfältig seine teure Uhr an. Chance vergeben, aber das Leben geht weiter. Er ist erst 27 Jahre alt. Die Chance, Sportgeschichte zu schreiben, sollte wiederkommen. An diesem Sonntagabend hat er sie vertan. An diesem Sonntagabend hätte er seinen 14. Grand-Slam-Titel gewinnen und damit den Rekord von Pete Sampras einstellen können. Sein Gegner war geschwächt ins Duell gekommen. Rafael Nadal hatte am Freitag im Halbfinale gegen Fernando Verdasco fünf Stunden und 14 Minuten lang kämpfen müssen, während Federer schon am Donnerstag in seinem Halbfinale in drei Sätzen Andy Roddick bezwungen hatte. Nadal servierte nicht so hart wie sonst, er rannte nicht so schnell und so unermüdlich wie sonst. Trotzdem gewann er den Vergleich 7:5, 3:6, 7:6 (3), 3:6, 6:2. Es ist sein sechster Grand-Slam-Titel. Der erste, den er auf einem Hartplatz gewinnt. Er ist erst 22 Jahre alt. Er hat noch viel mehr Zeit als Federer auf seiner Uhr.

Die Erkenntnis, eine selten gute Gelegenheit ausgelassen zu haben, machte Federer deutlich zu schaffen. Als er im tosenden Applaus der 15 000 Zuschauer bei der Siegerehrung als Erster aufs Podium gebeten wurde, waren seine Augen Schlitze. Er blickte immer wieder verlegen zum Boden. Er atmete tief durch. Als er etwas sagen sollte, versagte seine Stimme. Er begann zu schluchzen. "Ich versuche es später nochmal. Das bringt mich gerade um", bekannte er. Der Zeremonienmeister zeigte Mitgefühl und ließ Federer wieder wenige Meter zurücktreten, wo Rafael Nadal die Trauerarbeit übernahm. Der Sieger nahm den Verlierer herzlich in den Arm und drückte seine Stirn an Federers. Die beiden verstehen sich. Als Federer sich wieder gefangen hatte, trat er erneut vor. "Ich möchte wirklich nicht das letzte Wort haben. Das gebührt Rafa. Du hast ein tolles Match gespielt. Alles Gute für die Saison!" Hinter den beiden hatten sich in dem Moment Rod Laver, Tony Roche, und John Newcombe aufgebaut. Große Tennisspieler der Vergangenheit. Es war diese Begegnung mit der Geschichte, die Federer überwältigte. Bei den Worten "Ich danke den Legenden, dass sie hier sind, ihr wisst, wie viel mir das bedeutet", hatte er erneut mit den Tränen zu kämpfen. Ähnlich bewegt war der Schweizer bislang selten zu erleben. Nadal war freundlich genug, seinen Triumph nicht auszukosten. Seine Dankesrede war eine einzige Entschuldigung: "Sorry Roger! Ich weiß, das ist jetzt hart. Aber du bist einer der besten Tennisspieler der Geschichte. Es ist immer ein Spaß, gegen dich zu spielen. Du wirst Sampras' Rekord sicher übertreffen." Wird er das wirklich?

Roger Federer ist selten so selbstbewusst zu erleben gewesen wie in den vergangenen zwei Wochen in Australien. Er sprach davon, in Melbourne gewinnen zu wollen. In Paris. In Wimbledon. Bei den US Open. Er kündigte an, sich die Nummer eins der Weltrangliste von Nadal zurückholen zu wollen. Selbst dem knappen Fünfsatz-Erfolg im Achtelfinale gegen Tomas Berdych hatte er ausschließlich Gutes abgewinnen können. "Jetzt bin ich voll im Turnier", hatte er gesagt und sich über die vielen kritischen Geschichten am nächsten Tag in den Zeitungen gewundert. "So schnell verliert man seine gute Form nicht", tadelte Federer die Berichterstatter bei der nächsten Audienz. Auch als die Rede auf den neuen Trend zum Muskel kam, den Andy Murray, Andy Roddick und Fernando Verdasco vorführten, gab Federer sich abgeklärt: "Ich absolviere schon seit 15 Jahren eine harte Vorbereitung, hänge das aber nicht an die große Glocke."

Runde um Runde hatte er mehr Souveränität ausgestrahlt, was ihn als Favorit ins Finale gehen ließ. Seine negative Bilanz von 2:5 gegen Nadal in Grand-Slam-Matches? Nicht aussagekräftig, beschied Federer, die Begegnungen hätten ja alle auf Sand oder auf Gras stattgefunden. In Melbourne wird auf Hartplätzen gespielt. Auf diesem Untergrund war Federer bei fünf Vergleichen dreimal besser gewesen. Er hätte es auch an diesem Sonntag sein können. Alles, was er dafür brauchte, brachte er mit. Seine vorzügliche Rückhand, seine unglaubliche Vorhand, seinen unwiderstehlichen Aufschlag. Nur: All das funktionierte nicht so zuverlässig wie sonst oft. Vor allem der erste Schlag ging immer wieder daneben. Gleich im ersten Aufschlagspiel leistete Federer sich einen Doppelfehler und kassierte ein Break. Nadal war freundlich. Er schenkte es ihm umgehend zurück, womit der Ton für den ersten Teil der Begegnung vorgegeben war. Beide leisteten sich viele Fehler. Beide ließen große Möglichkeiten aus. Beiden wirkten gehemmt. Spektakuläre Ballwechsel blieben Seltenheit.

Nach einer Stunde ging es in den zweiten Durchgang, den Federer mit einer Quote von lächerlichen 37 Prozent beim ersten Aufschlag für sich entschied, weil ihm ein Break mehr glückte. Im dritten Satz wankte Nadal. Er ließ sich den Oberschenkel massieren. Die Geschwindigkeit, mit der er seine zweiten Aufschläge übers Netz schickte, fiel mitunter auf weniger als 130 km/h. In dieser Phase hätte Federer ihn packen und besiegen können. Er hatte sechs Breakchancen und nutzte keine. Nadal rettete sich in den Tiebreak, den er fulminant gewann. Je länger sich die beiden gegenüberstanden, desto besser spielten sie sich ein. Die Ballwechsel wurden besser und häufiger von mutigen Schlägen beendet. Ein Fünfsatz-Finale hatte es in Melbourne zuvor lediglich einmal gegeben: Mats Wilanders Sieg 1988 gegen Pat Cash. Die Zuschauer fanden Gefallen an der epischen Auseinandersetzung zwischen Federer und Nadal, auch wenn die weit weniger spektakulär blieb als die im vergangenen Jahr in Wimbledon. Es war ein Match zum Fingernägel-Kauen, aber selten zum Mit-der-Zunge-Schnalzen.

Im vierten Satz hatte Federer wie die meisten das Gefühl, die Partie wieder zu kontrollieren. Doch das Gefühl blieb flüchtig. Der kühle Abendwind schien es davonzuwehen. Im entscheidenden Durchgang spielte er nach eigener Einschätzung "schrecklich". Nadal musste nur noch solide dagegenhalten. Beim dritten Matchball half Federer ihm mit einer Vorhand, die ins Aus segelte. "Das ist eines der Matches, bei denen ich das Gefühl habe, ich hätte es gewinnen können", gab er zu. René Hofmann

6:2 in Endspielen

Rafael Nadal bestritt in Melbourne sein achtes Grand-Slam-Finale. Sechs davon hat er gewonnen, fünf gegen Roger Federer, gegen den er (2006 bzw. 2007, jeweils in Wimbledon) die beiden einzigen Finalniederlagen hinnehmen musste.

09 Australian Open Federer 7:5, 3:6, 7:6, 3:6, 6:2

08 Wimbledon Federer 6:4, 6:4, 6:7, 6:7, 9:7

08 French Open Federer 6:1, 6:3, 6:0

07 French Open Federer 6:3, 4:6, 6:3, 6:4

06 French Open Federer 1:6, 6:1, 6:4, 7:6 (4)

05 French Open Puerta 6:7 (6), 6:3, 6:1, 7:5

Kein Weg ist Rafael Nadal zu weit, kein Ball ist vor dem Spanier sicher. Und an diesem Willen zerbrechen sogar Gegner wie Roger Federer, der im Endspiel viele Chancen ausließ und offenbar daran denken musste - zum Beispiel an die sechs nicht genutzten Breakbälle in der Endphase des dritten Satzes. Prompt wurde der Schweizer bei der Siegerehrung von Gefühlen übermannt - und konnte erst vom fairen Gewinner wieder aufgemuntert werden, wenigstens kurzfristig. Getty (2), dpa

Federer, Roger Nadal, Rafael Australian Open im Tennis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rodender Baumschützer

Sachsens Grünen-Chef muss nach Abholzaktion abtreten

Dresden - Ein Kahlschlag ist Schuld daran, dass die sächsischen Grünen einen neuen Vorsitzenden suchen müssen. Zwei Jahre lang hatte der Förster Rudolf Haas neben der Dresdner Stadträtin Eva Jähnigen an der Spitze der Öko-Partei in Sachsen gestanden. Jetzt erklärte er seinen Rücktritt nach Auseinandersetzungen um eine Abholzaktion, die Haas in einem von ihm geleiteten Forstbetrieb im benachbarten Bundesland Brandenburg angeordnet hatte. Der 53-jährige Grünen-Politiker, der bisher zugleich Stadtrat im nahe bei Dresden gelegenen Radebeul war und im Kreistag von Meißen saß, trat von allen politischen Ämtern zurück, nachdem er sich zuvor einer "Aussprache im Landesvorstand" der Grünen gestellt hatte.

Im Februar 2007 war der gebürtige Österreicher Haas zum Landessprecher der sächsischen Grünen gewählt worden, vergangenen September wurde er in seinem Amt bestätigt. Erst danach wurde bekannt, dass eine Forstbehörde in Brandenburg ihm einen Bußgeldbescheid über 2000 Euro zugestellt hatte. Die Forstbeamten warfen ihm vor, ein Waldgelände bei Cottbus, das er hatte abholzen lassen, nicht ordnungsgemäß wieder aufgeforstet zu haben. Tatsächlich war die Abholzung der Bäume zur Verjüngung des Waldbestandes legal gewesen, die Jungpflanzen wuchsen aber offenbar nicht recht nach.

Das allein wäre wohl noch kein Rücktrittsgrund gewesen für den Grünen. Zum Ärgernis in der Öko-Partei geriet jedoch, dass Haas seine Probleme mit der Forstbehörde "nicht richtig kommuniziert" habe, wie eine Parteikollegin berichtet. Immerhin hatte sich der Förster zuvor durch spektakuläre Baumschutzaktionen einen Namen gemacht - etwa als er sich vehement gegen das Absägen von Kastanien beim Schloss Moritzburg eingesetzt hatte.

Vorerst werden die Geschäfte der Grünen-Partei nun allein von der Dresdner Kommunalpolitikerin Jähnigen geführt. Denn die Neuwahl des Parteisprechers soll erst im März erfolgen, wenn die Landes-Grünen auf einem Parteitag in Chemnitz ihre Listen für die Europa- und die Landtagswahlen in diesem Jahr verabschieden wollen. Eine für dieses Wochenende in Dresden angesetzte Landesdelegiertenkonferenz wird sich hingegen nur mit der Wahl der Spitzenkandidatin befassen. Einzige Aspirantin ist die Grünen-Fraktionschefin im Dresdner Landtag, Antje Hermenau. Christiane Kohl

B90/Grüne-Landesverband Sachsen: Parteiführung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ich liebe Garmisch"

Nach dem Slalom gewinnt die Amerikanerin Lindsey Vonn auch den Super-G

Garmisch-Partenkirchen - Es war alles so prächtig angerichtet gewesen für die doppelte Premiere der Speedstrecken für die alpinen Skiweltmeisterschaften 2011 am Kreuzeck, für die zwei Weltcuprennen binnen weniger Stunden: Erst die Abfahrt der Männer, dann der Super-G der Frauen. Der Plan ging nicht auf, denn wegen einer dichten Nebelbank vom Ende des Tröglhanges bis ins Ziel (also dem größten Teil der Strecke) ist am Samstag überhaupt kein Rennen gefahren worden. Am Sonntag wurden dafür aber zwei improvisiert: Während am Partenkirchner Gudiberg der Männerslalom tobte, hat sich zeitgleich im Ziel der Kandahar die amerikanische Siegerin Lindsey Vonn bei den Zuschauern bedankt, dass sie zu diesem Nachtragstermin gekommen waren. Außerdem verkündete sie die frohe Botschaft: "Ich liebe Garmisch" - nicht nur, weil sie des öfteren bei ihrer Freundin Maria Riesch (am Sonntag Fünfte) zu Gast ist, sondern weil es ihr diesmal hier besonders gut ergangen war mit zwei Siegen binnen drei Tagen, erst im Slalom, dann im Super-G, was schon ihren fünften Triumph insgesamt in dieser Saison bedeutete.

Die Frauen fuhren auf der alten Kandaharstrecke, die nagelneue Piste nebenan für die Männer mit dem markanten Steilhang Freier Fall - in der Woche zuvor ausführlich besprochen und nach dem Training gründlich gelobt von den Aktiven - kam diesmal noch nicht zur Nutzung. Alles umsonst, es half auch nicht stundenlanges Zuwarten, und dass der maskulinen Partie am Samstag die Priorität eingeräumt wurde. Um Viertel nach zwei war Schluss mit dem Spekulieren, stand fest, dass es mit dem doppelten Speedderby nichts werden würde und gleichzeitig, dass die Abfahrer unverrichteter Dinge abfahren mussten. Hermann Maier, der Schnellste vom Abschlusstraining, hätte am Sonntag lieber Abfahrt gehabt als das Rennen für die Slalomfahrer, der alte Egoist, aber seinem Wunsch konnte nicht Folge geleistet werden.

Für die Frauen erfüllte sich dagegen die Hoffnung, am Kreuzeck wenigstens einmal fahren zu können. "Noch ist nicht aller Tage Abend", orakelte Wolfgang Maier, der Alpindirektor des Deutschen Skiverbandes, "die Garmischer Veranstalter sind bereit für das Rennen am Sonntag, und wir wollen dieses Rennen sowieso. Nun liegt es an der Fis." Der Weltverband ist ohnehin schon mit zwei Frauen-Speedrennen (Lake Louise/Kanada, St. Moritz) im Rückstand und billigte den Nachholtermin. Das bedeutete eine gewisse Erschwernis der Anreise zu den Weltmeisterschaften nach Val d'Isere (wo am Dienstag bereits der Super-G ausgetragen werden soll): Geplant war der Abflug von München nach Genf am Sonntagmittag, nun stieg Maria Riesch stattdessen kurz nach dem Rennen zu Cheftrainer Mathias Berthold ins Auto auf den 800 Kilometer weiten Weg über Land. Aber so was nahmen sie gerne in Kauf dafür, dass sie doch noch ein Rennen bekommen hatten. Speziell für Maria Riesch war es frohe Kunde, an ihrem Heimatort fahren zu können. "Im Super-G wurde sie bisher den Erwartungen nicht ganz gerecht", erklärte Wolfgang Maier, umso passender kam ihr das zweite Heimrennen, "um sich noch ein respektables Resultat vor der WM zu verschaffen. Sie konnte auf einer Strecke fahren, die sie kennt", weil sie auf der Frauen-Kandahar im Januar schon einige Übungsfahrten absolviert hatte, "und sie konnte außerdem befreit fahren nach ihrem zweiten Platz im Slalom".

Noch nicht ganz befreit, gestand sie selbst: Es habe die letzte Aggressivität gefehlt, "das Vertrauen, auch bei der schlechten Sicht auf Zug zu gehen, fehlte noch etwas. Bei ein paar Schwüngen war ich mir nicht ganz sicher. Wenn man ganz gut drauf ist, macht man das aus dem Bauch heraus. Wenn man ein bisschen unsicher ist, zögert man ein bisschen, das ist dann die fehlende Zeit."

Alles kein Wunder bei der Vorgeschichte, dass sie als Gewinnerin des Super-G-Weltcup vom vergangenen Winter in der neuen Saison bis dahin in drei Rennen nur einmal ins Ziel gekommen war - als 24.: "Natürlich haben mir noch etwas Sicherheit und das letzte Vertrauen gefehlt", aber in Garmisch glückte immerhin ihr mit Abstand bester Super-G des Winters. "Es war nicht hundertprozentig, an Lindsey hat man wieder mal gesehen, wie es noch besser geht."

Die Amerikanerin war dem Rest der Welt wieder mal klar voraus, 39 Hundertstel vor der Schwedin Anja Pärson, die wie üblich vor einer Weltmeisterschaft mächtig in Fahrt kommt. "Es war keine schlechte Fahrt, ich ärgere mich nur über die acht Hundertstel, die mir zum Podest fehlen", gestand Maria Riesch. Den dritten Platz hatte aber Jessica Lindell-Vikarby (Schweden) besetzt, und auf dem vierten landete Nadja Fanchini (Italien). Sie wolle sich aber nicht beschweren, sagte Maria Riesch, "mein Ziel war ein Podiumsplatz, und im Super-G zumindest wieder mal vorne dabei zu sein. Das habe ich erfüllt, jetzt kann die WM kommen." Für diese hat sie ein gutes Gefühl: "Jetzt gibt es die Big Points, da muss man die Nerven behalten. Es ist Erleichterung da darüber, dass bei den Heimrennen alles gut gegangen ist, dass man sich hier gut präsentiert hat." Das gelang auch Viktoria Rebensburg, die Zehnte wurde. Aber über allen stand wieder Lindsey Vonn. "Sie ist jetzt praktisch Lokalmatadorin in Garmisch, die zweite." Sagte ihre Freundin Maria Riesch. Wolfgang Gärner

Elf für Val d'Isère

Das Aufgebot des Deutschen Skiverbandes

für die alpine WM (3. bis 15. Februar)

Frauen

Fanny Chmelar (Partenkirchen), Kathrin Hölzl (Bischofswiesen), Maria Riesch, Susanne Riesch (beide Partenkirchen), Viktoria Rebensburg (Kreuth), Gina Stechert (Oberstdorf).

Männer

Stephan Keppler (Ebingen), Stefan Kogler (Schliersee), Felix Neureuther (Partenkirchen), Andreas Strodl, Peter Strodl (beide Partenkirchen).

Den Sieg im Blick: Lindsey Vonn aus den USA beim Super-G von Garmisch-Partenkirchen Foto: Getty

Vonn, Lindsey Super-G Frauen im Alpinen Ski-Weltcup SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das kleinste gemeinsame Vielfache

Zwischen Krise und Innovation suchen die Modellautohersteller auf der Nürnberger Spielwarenmesse ihre Ideallinie

Das Kohlendioxid ist zwar kein Thema, aber Absatzkrise, dramatisch steigende Produktionskosten und spürbare Kaufzurückhaltung sind auch für die Hersteller von verkleinerten Automobilen keine Fremdwörter mehr. Den düsteren Aussichten trotzt die Branche von diesem Donnerstag an auf der Spielwarenmesse in Nürnberg, die auch so etwas wie eine IAA en miniature ist.

Innovativ und trotzdem zurück zu den Wurzeln - das ist das Motto von Schuco. In ihrer neuen Schucotronic-Serie verknüpft der Traditionshersteller winzige Elektronik mit der eigenen Geschichte. Der Name steht seit fast einhundert Jahren auch immer für virtuoses Funktionsspielzeug. Das Curvo-Motorrad legte sich perfekt in die Kurve, beim Studio Racer ließen sich die Räder wie beim Boxenstopp der Silberpfeile in Sekundenschnelle wechseln und die Verkleinerungen der Edelmarke mit Drahtfernlenkung sind längst Legende. Die neue Schucotronic-Serie, ein Porsche 356 A Coupé und ein Volkswagen T2 als Luxus-Bus, sind fein gestaltete 1:18-Kleinodien mit beweglichen Türen und Hauben, Motordetails und Top-Interieur. Außerdem funktionieren Blinker, Rückfahrscheinwerfer und sogar das Rücklicht. Außerdem fahren Bulli und Boxer auch noch, dank einer versteckten Funkfernsteuerung. Zweites Highlight bei Schuco: der Einstieg mit dem Unimog 1600 und dem MB Trac in die Baugröße 1:32. Klassische Traktorensammler bevorzugen diesen etwas in Vergessenheit geratenen Maßstab, ebenso die Fans der Eisenbahnspurweite I.

Gleich zwei Premieren warten am Stand der Schwarzwälder Firma Brekina. Die Starmada-Serie soll in 1:87 die Möglichkeiten heutiger Bedruckung in dieser winzigen Baugröße zeigen. Das Luxus-Label startet mit Daimler-Legenden: Dem 600 als Staatskarosse im Pullman-Format und dem 220er, dem seinerzeit ersten Nachkriegs-Sechszylinder der Marke mit dem Stern. In Nürnberg feiert außerdem die Marke Bing ihre Auferstehung. Das im Jahre 1864 von Ignaz und Adolf Bing gegründete Unternehmen hatte zeitweise bis zu 16 000 Mitarbeiter und fertigte im Fränkischen neben Spielzeug aus Blech auch Küchengeräte und Lackierwaren. Kennern der historischen Automaterie sind außerdem die robusten Vergaser der Marke Bing ein Begriff. 2009 debütieren nun wieder Modellautos in 1:43 unter dem großen Namen. Neben einem Opel Blitz Kastenwagen im Look der Sechziger geht der Opel

Rekord-Olympia als Lieferwagen ohne hintere Seitenfenster an den Start. Zunächst erscheinen die Novitäten in gelber Dekoration der Post und in dunklem Grau mit DB-Logo auf der Seitenwand. Später folgen weitere Varianten in

historisch korrekten Werbebedruckungen. Matthias Frank von Brekina: "Damit wollen wir zeigen, was heute in Sachen Dekoration eines 1:87-Modells machbar ist."

Auf seine Wurzeln besinnt sich auch Revell, Marktführer für Bausätze in Deutschland. Zwei Oldtimer sollen hier Kunden ködern, nämlich der VW SambaBus und der Trabant 601. Auch die Machart ist im besten Sinne altmodisch. Denn bei den Plastikbausätzen im Maßstab 1:24 sind Türen und Hauben beweglich umgesetzt und detaillierte Modellmotoren mit an Bord. Die Zeiten der sogenannten Easy Kits, die sich in wenigen Minuten dank vorlackierter Teile zusammenfügen ließen, scheinen also erst einmal überwunden.

Minichamps aus Aachen orientiert sich ebenfalls historisch. Aktuellen Rennern wie dem BMW Z4 in 1:43 oder dem Mercedes SLR McLaren Roadster in 1:18 stellt die Marke den Opel Commodore A in der wilden "Steinmetz"-Optik zur Seite. Er debütiert zunächst in 1:43, später auch in 1:18. Für Rennsport-Fans ebenfalls von Interesse: der Porsche 936 von 1976. Etwas näher am richtigen Leben sind zwei 1:43-Krankenwagen auf Basis des Mercedes 190 als Heckflosse und des Typ W124. Geschickt agiert auch die Edelmarke Autoart. Der ebenfalls in Aachen angesiedelte Anbieter feilt zusammen mit Porsche an einer hauseigenen Museums-Edition mit 928, Nummer 1, 356 Speedster und Ur-911er. Die 1:18er sind exakt so lackiert wie die hauseigenen Originale aus dem Porsche-Fundus, die teilweise auch im Museum stehen.

Steiniger war der Weg zum Modell dagegen für CMC. Denn die 1:18-Spezialisten rekonstruierten aus 1450 Teilen ein Auto, das es gar nicht mehr gibt. Der Ferrari 156 F1 machte Phil Hill im Jahre 1961 zum Weltmeister und brachte Wolfgang Graf Berghe von Trips in Monza den Tod. Berühmt war der 156 auch wegen seiner ungewöhnlichen Nase, die ihm den Spitznamen Sharknose einbrachte. Andreas Berse

In jeder Größe: Schuco zeigt in Nürnberg die BMW R25/9 (1:10), den Porsche 356 A als Coupé (1:18), Unimog 1600 (1:32), Boxster II (1:43) und den Porsche 917 (1:90).

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Von kleinen und großen Unfällen

Mit Platz zwei beim Heimweltcup am Sudelfeld tröstet Amelie Kober über die durchwachsene WM-Bilanz der Snowboarder hinweg - aber der Medaillendruck bleibt

Bayrischzell - Diese kleinen Unfälle gehören zu ihrem Sport wie die Stangen im Slalom-Parcours, und Amelie Kober, die Olympia-Zweite im Alpin-Snowboarden, mag diese Unfälle sogar irgendwie. Jede Runde bei ihren Parallelrennen besteht aus zwei Läufen, und gerade im ersten unterläuft ihr immer mal wieder so ein Verkanter, der sie aus der Balance und gegen ihre Konkurrentin deutlich in Rückstand bringt. Aber aufholen kann Amelie Kober wie wenige sonst in ihrem Gewerbe. Fast scheint es, als brauche sie den Nachteil, um in Fahrt zu kommen, Amelie Kober sagt: "Mit taugt das ganz gut, wenn ich immer so ein bisschen hintendran bin." Und beim Heim-Weltcup am Sudelfeld ist es dann auch wieder so gewesen, dass sie im Finalturnier der besten 16 meistens erst in Rückstand geriet, ehe sie im zweiten Lauf furios durch den Stangenwald jagte und doch noch gewann. Bis sie im Finale des Parallelriesenslaloms stand, in dem die Taktik dann allerdings nicht mehr aufging. Doris Günther, die zweimalige WM-Zweite und Weltcup-Führende, hielt den Vorsprung, den Amelie Kober ihr wegen eines Fahrfehlers schenken musste.

Platz zwei hat Amelie Kober trotzdem als Errungenschaft gefeiert, sogar als "mein schönstes Podium im Weltcup", was seine guten Gründe hatte: Erstens kommt Amelie Kober aus Fischbachau, das Sudelfeld ist sozusagen ihre Hausberglandschaft. Den liebevoll inszenierten Weltcup in den bayerischen Voralpen oberhalb von Bayrischzell konnte man deswegen durchaus als ihren Weltcup bezeichnen: Sie war der erklärte Star der Veranstaltung, wohlwollend beobachtet von den zahlreich erschienen Mitgliedern des Amelie-Kober-Fanclubs, umringt von autogrammsuchenden Kindern und sogar angeschmachtet von einem Sportfreund mittleren Alters, der ihr zwischen Zieleinlauf und Siegerehrung persönlich mitteilte, was für ein Wahnsinn das für ihn sei, sie nun in Natur statt nur im Fernsehen erleben zu dürfen.

Der zweite Grund für die besondere Freude war etwas ernster. Das Team des Snowboard-Verbandes Deutschland (SVD) hat nämlich gerade eine WM hinter sich, die nicht nach Wunsch verlief. Eine Bronze-Medaille durch den 24-jährigen Patrick Bussler aus Aschheim im nichtolympischen Parallelslalom brachte die Delegation aus Gangwon/Südkorea mit, das hatte sich der Verband etwas anders vorgestellt. Und auch Amelie Kober hatte die Bilanz nicht retten können, so wie sie das schon bei Olympia 2006 in Turin getan hatte und bei der WM 2007 in Arosa mit ihren Silber-Gewinnen im Parallelriesenslalom. Zehnte war sie in ihrer besten Disziplin, 31. im Parallelslalom. Die WM war schlecht organisiert, "von vorne bis hinten Chaos", wie Amelie Kober sagt, mit wenig leistungsfördernden Abläufen und einer Piste, auf der gerade die Slalomfahrer riskierten, seekrank zu werden, so tiefe Wannen und Mulden wies sie auf. "Die Piste war fahrbar", sagt SVD-Disziplintrainer Andreas Scheid und zeigt auf den sauber präparierten Hang am Sudelfeld, "die in Gangwon nicht." Aber was hilft's? "Die gehen alle an den Start, und es gibt immer einen Sieger. Wenn man nur das Ergebnis hernimmt, muss man sagen, war es einfach schlecht von uns."

Der SVD braucht Medaillen zum Leistungsnachweis vor dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der das Fördergeld des Bundesinnenministeriums verwaltet, das wiederum die wichtigste Einnahmequelle des SVD ist. Für Olympia in Vancouver nächstes Jahr sehen die Zielvereinbarungen des SVD mit dem DOSB sogar zwei Medaillen vor, was ein ziemlich kühnes Ziel ist, wenn man bedenkt, dass im SVD eigentlich nur die Alpinsparte der Frauen so richtig gut besetzt ist - und eine der sechs olympischen Disziplinen wie Frauen-Halfpipe praktisch gar nicht. Besonders die Mitglieder der Alpin-Abteilung geraten dadurch unter einen Druck, von dem sie sich nicht nervös machen lassen dürfen.

"Normalerweise will ich vor einem Rennen davon nichts wissen", sagt Patrick Bussler, am Sudelfeld Zwölfter nach einem schmerzhaften, unverschuldeten Sturz in der Qualifikation. Er glaubt einfach mal an die Stärke des Teams. Auch Trainer Scheid sagt trotzig: "Wir werden uns nicht unter Druck setzen lassen." Und Amelie Kober sagt: "Natürlich denkt man da nach und ist enttäuscht, wenn man beim Großereignis keine Medaille macht, wenn das Umfeld das irgendwie schon erwartet." Aber die WM hat sie abgehakt, und die Ziele der Funktionäre hält sie von sich fern. "Über sowas denke ich gar nicht nach. Ich geb' so oder so mein Bestes." Die WM war für sie einer dieser Unfälle, wie sie nunmal vorkommen in ihrem Sport. Sie ist eine Spezialistin für Aufholjagden, sie kann damit umgehen. Thomas Hahn

"Ich geb' so oder so mein Bestes": Amelie Kober aus Fischbachau beim Balanceakt im Riesenslalom-Parcours von Bayrischzell Foto: Reuters

Kober, Amelie Snowboard-Verband Deutschland (SVD) Snowboard-Weltmeisterschaften SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wenigstens kein Einfädler

Slalomfahrer Felix Neureuther lächelt gequält über sein viertes Ausscheiden in Serie hinweg

Felix Neureuther schob sich aus dem Starthaus, die Stangen schnalzten zu Boden, links, rechts, es sah gut aus, er näherte sich die Ziel, die 12 000 Zuschauer am Garmischer Gudiberg jubelten, sie schrien, klatschten, und dann war Felix Neureuther im Ziel, als Zweitschnellster überhaupt, der Lärm wurde lauter, er war grandios gefahren.

Das war vor zwei Jahren.

Jetzt, am Sonntag, beim Slalom-Weltcup-Rennen in Garmisch 2009, waren die Zuschauer zwar wieder laut, Felix Neureuther ist geboren und wohnhaft in Garmisch-Partenkirchen, er ist einer von ihnen, aber der Lärm hielt nicht lange diesmal. Neureuther fing gut an, und dann, sagt Neureuther, als er später im Zielraum steht, "dann ging es zack-zack. Ich weiß nicht, wie es passiert ist." Er war schnell unterwegs, die Fliehkraft begann immer heftiger an ihm zu zerren. Neureuther konnte seine Ski nicht mehr kontrollieren, ein Ski hob ab, und dann stürzte Neureuther. Die Zeit stoppte bei 32,93 Sekunden.

Er ist dann aufgestanden und den restlichen Lauf noch ins Ziel gefahren, um zu üben. Die WM in Val d'Isère steht bevor, und Felix Neureuther ist nicht so oft ins Ziel gekommen in letzter Zeit: Wengen, Kitzbühel, Schladming, jetzt Garmisch - er ist nun vier Mal in Serie ausgeschieden. "Es hätte ein richtiger Aufbruch für die WM sein können", sagt Neureuther, "aber das ist leider in die Hose gegangen." Sonst weiß er nicht so recht, was er sagen soll, also sagt er eben das, was man in solchen Momenten immer sagt: Dass er jetzt viel und hart trainieren werde, dass er versuchen werde, seinen Kopf freizukriegen, und dass alles nicht so einfach sei im Moment. "Das beste wäre, jetzt einfach wegzufahren", sagt er dann noch, "aber am Meer kann man leider nicht Skifahren."

Felix Neureuther ist der einzige Athlet, der die Kriterien für den deutschen A-Kader erfüllt, er ist: die einzige Hoffnung auf eine Medaille der Männer bei der WM. "Er hat die Chance noch", sagt Alpin-Direktor Wolfgang Maier, "auch wenn diese Chance jetzt weit weg gerückt ist." In Garmisch ist Neureuther aus der zweiten Startgruppe gefallen, das heißt: Er darf bei der WM frühestens als Nummer 16 ins Rennen gehen. Maier glaubt trotzdem an seinen Athleten, was anderes bleibt ihm auch nicht übrig. Es stimmt schon: Felix Neureuther ist immer gut unterwegs, schnell, aggressiv, bissig. Aber das ist nun ein Lob ohne Wert. "Wenigstens hab ich heut nicht eingefädelt wie sonst", sagt Neureuther, "jetzt muss ich mir darüber keine Gedanken mehr machen", er lächelt gequält. Manchmal ist Sarkasmus ein Ausdruck von Ratlosigkeit.

Es ist sogar schon so weit gekommen, dass die anderen Mitleid haben mit dem 24-Jährigen: Der Österreicher Reinfried Herbst etwa (der in Garmisch Dritter wurde hinter den Italienern Manfred Moelgg und Giorgio Rocca) sprach lange auf Neureuther ein, Kopf hoch, Felix, wird schon, etwas in der Art sagte Herbst. Bestimmt wird es wieder, irgendwann. Aber bei der WM, ausgerechnet? Schwer vorstellbar. Die Lösung von Neureuthers Problem nämlich ist, dass es keine Lösung gibt. Auszuscheiden kann im Slalom jedem jederzeit passieren, es gibt unter allen Weltcupstartern in dem Kroaten Ivica Kostelic nur einen einzigen Läufer, der alle Wettkämpfe in dieser Saison auf den Punkterängen beendet hat.

Sie werden trotzdem weiter einiges versuchen beim DSV, das müssen sie ja, wenn ihr Bester von acht Slalom-Rennen nur zwei ins Ziel bringt. Sie werden an der Materialabstimmung feilen zum Beispiel, "man muss immer das ganze System überarbeiten, es ist nie einer alleine Schuld", sagt Maier. Sie werden außerdem den Schwerpunkt im Training nun auf den Riesenslalom legen, "damit der Felix mal was anderes sieht als Slalom", sagt Maier. Diesen Montag hat er erst einmal frei, am kommenden Sonntag dann wird Neureuther nach Val d'Isère fahren, er soll auch im Teamwettbewerb starten.

Ansonsten: Wird viel miteinander gesprochen, aber nicht mehr und nicht weniger und nicht anders als sonst. "Er ist ja kein Aussätziger", sagt Wolfgang Maier. Er ist ein wenig genervt, das Ausscheiden von Felix Neureuther immer aufs Neue kommentieren zu müssen, man kann ihm das nicht verübeln. Aber Maier verhält sich gut, in der Öffentlichkeit zumindest: Er stellt sich bedingungslos vor Neureuther. Der Druck auf Neureuther ist auch so groß genug. Die Erwartungshaltung ist dafür auf den Nullpunkt gesunken. "Ich hab jetzt nichts mehr zu verlieren", sagt Felix Neureuther. Er hätte auch sagen können: Jetzt erst recht! Aber der Sonntag war einfach kein Tag für trotzigen Optimismus. Michael Neudecker

Neureuther, Felix Slalom Männer im Alpinen Ski-Weltcup SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein freier Geist

Am 3. Februar jährt sich der Geburtstag des Konstrukteurs Hugo Junkers zum 150. Mal / Eine Erinnerung

Es sieht aus wie eine nostalgische Spielzeugsammlung, die sich Bernd Junkers da in seinem Münchner Büro zusammengetragen hat. Ein ganzes Geschwader silbrig glänzender Modellflugzeuge parkt hinter seinem Sessel. Daneben stehen altertümliche Badewannen samt Warmwasserboiler im Puppenhausformat, am Fenster thronen die Miniatur-Nachbauten zweier Motoren. Ganz oben auf dem Schrank lugt ein Metallflieger hervor, auf den Junkers besonders stolz ist: Es ist das Werksmodell der Junkers W33 Bremen, mit der am 13. April 1928 die erste Überquerung des Atlantiks von Ost nach West gelang - nach 36,5 Stunden Flug. New York feierte die drei Piloten Hermann Köhl, James Fitzmaurice und Günther von Hünefeld dafür mit einer Konfettiparade.

Konstruiert hat all diese Geräte Hugo Junkers, der Großvater von Bernd Junkers. Am 3. Februar jährt sich der Geburtstag des Unternehmers aus Dessau zum 150. Mal. Eine ganze Reihe von Ausstellungen erinnert daher in diesem Jahr an Hugo Junkers' technische Pionierleistungen, aber auch an seine moralische Standhaftigkeit, die dazu führte, dass er von den Nazis enteignet wurde.

Sein Enkel Bernd Junkers hat sich die Verwaltung des Nachlasses zur Lebensaufgabe gemacht: Allein 200 laufende Meter Junkers-Akten hat er dem Deutschen Museum in München zur Verfügung gestellt. Vom Tagebuch bis hin zu Konstruktionsunterlagen. Unzählige Fotos hat Bernd Junkers gesichtet und digitalisiert. Doch außer viel Papier, einigen historischen Modellen und einem dunklen Schreibtisch ist wenig übrig geblieben vom Imperium des Großvaters, der 1935 starb: Das größte Erinnerungsstück, das Bernd Junkers besitzt, ist ein geripptes Alublech, das auf dem Werksgelände in Dessau gefunden wurde und nun bei ihm an der Wand hängt.

Genau diese Bleche sind immer noch das Erkennungszeichen der Junkers-Flugzeuge. Das berühmteste von ihnen, die JU 52/3m, wurde nach 1932 fast 5000-mal gebaut. Die Schweizer Luftwaffe setzte die JU 52 sogar noch bis 1981 als Transportflugzeug an. Weltweit gibt es noch sechs flugfähige Exemplare, darunter die bekannte cD-AQUI der Lufthansa, die in den Sommermonaten auf Rundflügen über Deutschland brummelt. Die dreimotorige JU 52 markiert den Endpunkt der Flugzeugentwicklung bei Junkers, die im Jahr 1910 begann und den Weg für die moderne Luftfahrtindustrie bereitete.

Als Hugo Junkers sich dem Flugzeugbau zuwendet, geht er bereits auf die fünfzig zu und kann auf eine ansehnliche Karriere als Ingenieur und Unternehmer zurückblicken; unter anderem hat er den ersten Gas-Durchlauferhitzer entwickelt. Die Junkers-Thermen werden auf der ganzen Welt zur Warmwasserbereitung eingesetzt und bringen ihm das Geld für seine Forschungsprojekte ein. Er will ein Flugzeug ganz aus Metall bauen - entgegen der herrschenden Lehrmeinung "Metall fliegt nicht". In den Anfangsjahren der Fliegerei sind die Maschinen kaum mehr als stoffbespannte Holzgerippe, zusammengehalten von Drahtseilen. Weil die dünnen Flügel nur wenig Auftrieb produzieren, setzen die Flugzeugkonstrukteure auf Doppel- und Dreifachdecker.

Junkers hingegen lässt sich bereits 1910 ein dickes Flügelprofil patentieren, das er 1915 an seiner J 1 erstmals in der Praxis erprobt: Die J 1 ist überdies ganz aus Metall gefertigt - und fliegt trotzdem. Zwar entwickelt Junkers im Anschluss auch einige Militärflugzeugtypen, der Durchbruch kommt aber erst nach Kriegsende mit der F 13: Sie ist das erste Ganzmetall-Verkehrsflugzeug der Welt, ausgestattet mit einer beheizbaren Kabine für vier Personen und immerhin 160 Kilometer pro Stunde schnell. Nur die beiden Piloten müssen anfangs noch vorne in der kalten Zugluft sitzen. Ein großes Augenmerk legt Junkers auf die Sicherheit: So lässt er beispielsweise in das Fahrwerk der F 13 eine Sollbruchstelle einbauen, um Überschläge bei Notlandungen zu vermeiden. Denn der Schwachpunkt der Fliegerei in den zwanziger Jahren sind die unzuverlässigen Motoren, die häufig schon vor dem Zielflughafen schlappmachen.

Die F 13 mit ihrer gerippten Aluminiumhaut und den modernen Flügelprofilen entwickelt sich für Junkers zu einem großen Verkaufserfolg: Zwischen 1919 und 1930 produziert das Unternehmen 322 Stück dieses Typs. In den zwanziger Jahren avanciert die F 13 zum Standard-Verkehrsflugzeug vieler Luftfahrtgesellschaften. Junkers in Dessau steigt zur größten und technisch fortschrittlichsten Flugzeugfirma der Welt auf: Im Jahr 1925 beschäftigt das Unternehmen 6232 Mitarbeiter. Neben diversen Flugzeugtypen und Gasöfen gehören Motoren aller Art, aber auch Hallen und Möbel zur Produktpalette.

Der Firmenchef, mittlerweile mehr als 60 Jahre alt, arbeitet von sechs Uhr morgens bis Mitternacht. "Er hat sogar im Büro geschlafen", erzählt Bernd Junkers, der seinen Großvater selbst nur aus Erzählungen kennt. Seine zwölf Kinder sieht er kaum. Hugo Junkers steckt seine gesamte Energie, aber auch sein ganzes Geld in die Entwicklung neuer Techniken, die 1929 im Großflugzeug G 38 gipfeln: Die Dicke Adele übertrifft mit ihren 44 Metern Spannweite und 24 Tonnen Fluggewicht alle anderen Landflugzeuge dieser Zeit.

Im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmern, die mit den Nazis sympathisierten, vertritt Junkers linksliberale Auffassungen. In seinen Tagebüchern hält er ein erstaunliches "Industrielles Glaubensbekenntnis" fest: "Das Kapital, die Fabrik, den gesamten geschäftlichen Organismus sehe ich nicht als mein Privateigentum an, sondern als das aller Beteiligten, vom Leiter bis zum letzten Lehrjungen und Tagelöhner." Mit seiner weltoffenen Grundhaltung zieht er den Hass der Nazis auf sich: Sie zwingen ihn nach der Machtübernahme 1933 zur Übergabe all seiner Patente. Kurz zuvor hat Junkers seinen Konzern gerade noch vor dem Bankrott gerettet, indem er die Werke für Warmwasseranlagen an Bosch verkauft. Die Weltwirtschaftskrise kann Junkers so überstehen, aber vor dem Zugriff des Regimes gibt es kein Entrinnen: Auch die Aktienmehrheit an den Junkers-Werken, die nun für die Rüstung produzieren, muss er abtreten. "Junkers ist Pazifist. Er ist Demokrat. Er hat stets zu den Marxisten gehalten", heißt es als Begründung.

In München forscht Junkers unter Beobachtung durch die Gestapo weiter - nun am Bau von Metallhäusern. Am 3. Februar 1935, seinem 76. Geburtstag, stirbt er. Die Nazis machen fortan mit seinem Namen Propaganda. Doch mit den Junkers-Kampfflugzeugen, die der Staatskonzern auch mit Hilfe von Sklavenarbeitern produziert, hat der Konstrukteur nichts mehr zu tun. Bei Kriegsende ist Dessau durch Bomben zu 80 Prozent zerstört. Was von den JunkersWerken übrig ist, demontieren schließlich die Russen. Sebastian Beck

Träume aus Wellblech: Bereits 1923 stellte Hugo Junkers den Entwurf für ein Großflugzeug vor, das 100 Passagiere trans- portieren sollte (oben). Mit den Einnahmen aus der Boiler- Produktion (rechts) finanzierte er die Entwicklung und den Bau seiner Flugzeuge. Zu den bekanntesten zählen die F 13 (rechts oben) und die dreimotorige JU 52 (rechts unten). Fotos: Archiv Junkers (4), action press (1)

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Neue Bußgeldregelung ist in Kraft

Seit dem 1. Februar sind Verkehrssünden in Deutschland deutlich teurer als bisher (die SZ berichtete). Wer das Tempolimit nicht einhält, den Sicherheitsabstand unterschreitet oder sich unter Alkohol- oder Drogeneinfluss hinters Steuer setzt, muss mit teilweise drastischen Strafen rechnen. Ein Überblick über die wichtigsten Neuerungen: Wer innerorts 21 km/h zu schnell ist, zahlt künftig 80 statt bisher 50 Euro, außerorts sind es 70 Euro. 31 km/h zu viel kosten innerorts bereits 160 Euro. Zu dichtes Auffahren bei mehr als 80 km/h wird je nach Abstand zwischen 75 und 400 Euro geahndet. Wer gegen das Rechtsfahrgebot verstößt, zahlt jetzt 25 Euro, mit Behinderung sind 80 Euro fällig. Gefährliches Überholen kommt jetzt doppelt so teuer - bis zu 250 Euro - und wer eine rote Ampel missachtet, riskiert Bußen zwischen 90 und 360 Euro. Alkohol oder Drogen am Steuer ziehen eine Buße von mindestens 500 Euro und damit doppelt so viel als bisher nach sich, Wiederholungstätern drohen sogar Strafen von 1000 bis 1500 Euro. Fahranfänger, die gegen die Null-Promille-Regelung verstoßen, werden mit 250 Euro zur Kasse gebeten.

Das Internetportal straffrei-mobil macht darauf aufmerksam, dass nicht nur die Regelsätze angehoben wurden, sondern auch der Bußgeldrahmen - bei Vorsatz beispielsweise bis 2000 Euro. SZ

Verkehrsdelikte in Deutschland Verkehrsüberwachung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Zukunft hat ein neues Gesicht

Der Mindset aus der Schweiz gibt einen Eindruck davon, wie Autos schon in naher Zukunft aussehen könnten / Verkaufsstart 2010 geplant

Der Mann ist kein unbeschriebenes Blatt. Murat Günak, Jahrgang 1957 und Designer von Beruf, hat in der Autoindustrie nachhaltig Spuren hinterlassen. Für Peugeot entwarf er einst den Bestseller 205, bei Mercedes die Coupé-Limousine CLS. Als Chefdesigner von Volkswagen schließlich verantwortete der türkischstämmige Günak aktuelle Erfolgsmodelle wie den Geländewagen Tiguan, das Cabrio Eos und das Passat-Coupé CC. Doch mit dem geschassten Vorstands-Duo Pischetsrieder/Bernhard endete 2006 auch Günaks Karriere. Vorübergehend.

Heute hat sich der schmale Mann mit dem feinen Lächeln und den harten Ellbogen einem Zukunftsprojekt verschrieben, dem viele Experten gute Chancen geben. Im schweizerischen St. Niklausen, einem noblen Vorort von Luzern am Vierwaldstätter See, entwickelte Günak zusammen mit einer kleinen Gruppe von Ingenieuren und Designern und finanziert von dem Schweizer Unternehmer Lorenzo Schmid eine Alternative zu derzeit gängigen Auto-Konzepten. "Laufend kommen neue Autos auf den Markt, die einem überholten Mobilitätsgedanken entspringen", klagt Günak, Mitinitiator und Aushängeschild der 2007 gegründeten Mindset AG. Immer stärker, größer, schwerer, teurer und durstiger würden die Autos - der Nutzwert neuer Fahrzeug-Generationen nehme nicht mehr zu, sondern sinke sogar - vor dem Hintergrund voller Straßen und dauerhaft hoher Benzinpreise.

Die Antwort von Mindset auf die Anforderung nach einer von Grund auf neuen Auto-Mobilität sieht ungewöhnlich aus, denn im Gegensatz zu den E-Mobil-Studien der etablierten Autohersteller, die weitgehend auf bereits bekannten Modellen basieren, gehen die Schweizer einen eigenen Weg: "Ein solches Auto muss vollkommen anders sein, aber es darf nicht nach Verzicht aussehen, sonst wird es vom Kunden nicht akzeptiert", sagt Paolo Tumminelli, Verwaltungsrat der Mindset-Mutter Spirt Avert und für die Marken-Entwicklung zuständig.

Eine ästhetische Herausforderung für die Designer. Heraus kam eine mit 1,40 Meter vergleichsweise niedrige Coupéform im Golf-Format - mit glatten Flächen für wenig Luftwiderstand und viel Platz für Solarzellen, steil abfallendem Heck, auffallend großen und schmalen Rädern (22 Zoll) für geringen Rollwiderstand und einer ungewöhnlich stattlichen Bodenfreiheit, um in das flache Auto möglichst mühelos aus- und einsteigen zu können. Eine optische Besonderheit sind auch die frei stehenden hinteren Räder, über die sich, wie bei einem Motorrad, enganliegende Kotflügel spannen. Günak will vor allem damit die Leichtigkeit des Konzepts betonen. Von Natur aus ist der Mindset1 ein Zweisitzer, der rückwärtige Raum hinter der durchgehenden Frontsitzbank soll aber nach Belieben ausgebaut werden können - sei es durch den Einbau von zwei weiteren Sitzen oder durch spezielle Gepäckhalterungen für Freizeit und Reise.

Unter der Kunststoff-Karosse, die sich über einer Aluminium-Zelle wölbt, treibt ein Elektromotor mit 70 kW (95 PS) die Vorderräder an. Unterstützt wird er optional von einem kleinen Viertelliter-Einzylinder-Benziner mit 17 kW (23 PS) im Heck, einem sogenannten Range Extender, der die Reichweite bei Bedarf vergrößern soll. Die Lithium-Ionen-Batterie lässt sich an der Steckdose aufladen, aber auch beim Bremsen und im Schiebebetrieb erhält sie neue Kraft. Läuft der Mindset rein elektrisch, soll er 180 km weit kommen, treibt der Benziner mit an, beträgt die Reichweite stolze 800 bis 1000 Kilometer - je nach Fahrweise. Um Strom zu sparen, soll es außerdem einen Eco-Modus geben. Ansonsten ist die Höchstgeschwindigkeit des - mit Range Extender - 1150 Kilogramm schweren Mindset1 auf 140 km/h limitiert, die Beschleunigung von null auf 100 km/h dauert etwa sieben Sekunden - ein sportlicher Wert, auch wenn man, wie Tumminelli betont, "weg will von der ganzen Geschwindigkeitsfixierung".

Derzeit rollt ein Prototyp des Mindset1 durch deutsche Metropolen wie Berlin und München. Noch ist dem leichtfüßigen Fahrzeug sein frühes Stadium anzusehen, noch wird das flüsterleise Elektro-Surren übertönt von Getriebegeräuschen. Zu erleben ist aber bereits das luftige Raumgefühl unterm Solarzellen-belegten Dach und die iPod-ähnliche Welt des Interieurs, das in weißem Kunststoff glänzt und von dem sich das cognacfarbene Leder geschmackvoll abhebt.

Im Sommer 2010 sollen, wenn alles gutgeht, die ersten Exemplare ausgeliefert werden. 50 000 Stück will man in fünf Jahren auf den Markt bringen - zu einem Stückpreis zwischen 50 000 und gut 60 000 Euro. Ein Volumenmodell soll der Mindset also nicht sein. Seine Zielgruppe sind, so Tumminelli, gut verdienende Meinungsführer mit Sinn für intelligente Technik und fortgeschrittenes Design.

Gebaut wird der Mindset beim Elektroauto-Spezialisten Heuliez in Frankreich, der bereits früh ins Projekt einbezogen war. Wenn er denn gebaut wird. Auf bis zu 60 Millionen Euro beziffert Daniel Buchter, CEO von Spirt Avert, den Finanzbedarf für den Serienstart. Sollten dafür nicht die nötigen Investoren gefunden werden, müsste das Projekt wohl begraben werden - auf dem großen Friedhof der guten Ideen. Jörg Reichle

Mindset

Die Mindset AG mit Sitz im Schweizer Ort St. Niklausen, wurde 2007 als Tochter der Spirt Avert AG gegründet - verbunden mit einer Kapitalerhöhung um 20,7 Millionen Schweizer Franken. Verwaltungsrat und Geschäftsleitung von Spirt Avert und Mindset sind weitgehend identisch. Die Kernaktivität von Mindset, das 14 Mitarbeiter beschäftigt, ist die

Entwicklung und Vermarktung des Mindset1. Im Frühjahr sollen die beiden Firmen fusioniert werden.

Abschied vom alten Eisen: Ein bisschen Retro, ein bisschen Sportwagen und die demonstrative Leichtigkeit des Seins: Der Mindset hebt sich klar von allem Gewohnten ab. Bis zu 180 km soll das Auto im reinen Elektrobetrieb zurücklegen können, bevor es wieder an die Steckdose muss. Sonst hilft ein Benziner.

Günak, Murat Elektroautos SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Diebstahl schwer gemacht

Elektronische Wegfahrsperren sichern Autos immer besser

Eine dunkle Gestalt schleicht um ein Auto, Sekunden später sitzt sie im Wagen, es funkt, der Motor springt an - der Dieb flüchtet mit seiner wertvollen Beute. 1993 erreichte der Autoklau in Deutschland seinen Höhepunkt; seinerzeit wechselten in nur einem Jahr mehr als 105 000 Pkw unrechtmäßig ihren Besitzer; die Versicherer wurden mit rund 800 Millionen Euro belastet. "Die elektronische Wegfahrsperre war zwingend erforderlich geworden", beschreibt Carsten Reinkemeyer, Experte für Diebstahlschutz beim Allianz Zentrum für Technik (AZT) in Ismaning bei München, die damalige Situation. Seither werden die Sicherungssysteme immer weiter perfektioniert. Die Folge: Die Zahl der pro Jahr gestohlenen Fahrzeuge ist auf etwa 17 000 gesunken, so AZT-Geschäftsführer Christoph Lauterwasser.

1993 stellte das AZT die Forderungen nach einer elektronischen Wegfahrsperre (WFS), 1995 wurde die EG-Richtlinie 95/56 formuliert. Danach muss verhindert werden, dass der Diebstahl "schnell und unauffällig" erfolgt; die Versicherer stellten zusätzliche Bedingungen. Waren diese nicht erfüllt, wurden zehn Prozent von der Schadenssumme abgezogen.

Mechanische Sicherung wie das Lenkradschloss alleine reichen lange nicht mehr aus. In modernen Fahrzeugen kommunizieren etwa mehrere, vor Manipulation geschützte Steuereinheiten miteinander, bevor ein Motor gestartet werden kann. "Das geht in Bruchteilen von Sekunden, der legitimierte Fahrer merkt davon nichts", so Reinkemeyer. Und die WFS muss sich selbst scharf stellen. Doch die Absicherung geht noch weiter. Kommt ein Auto in die Werkstatt und sind dabei sicherungsrelevante Geräte betroffen, muss das im Herstellerwerk dokumentiert werden.

Fahrzeuge mit besonders ausgereiftem Diebstahlschutz zeichnet das AZT seit einigen Jahren mit einem Zertifikat aus - in diesem Jahr ist es der Volvo XC60 für "eine optimale Auslegung". Allerdings: Lässt sich der Autobesitzer den Zündschlüssel stehlen, nutzt auch dieses prämierte System nichts. Marion Zellner

Altmodisch: Dank der Elektronik brauchen Autodiebe längst mehr als nur Draht. Foto: photothek

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"Reaktionär und freiheitsfeindlich"

ZdK-Präsident Meyer zweifelt an der Piusbruderschaft

Papst Benedikt XVI. steht in der Kritik, weil er die Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft aufgehoben hat. Unter ihnen ist auch der Brite Richard Williamson, der den Holocaust leugnet. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hofft, dass das Verhältnis zu den deutschen Juden darunter nicht dauerhaft leidet.

SZ: Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat als Konsequenz aus der Wiederaufnahme von Richard Williamson den Dialog mit der katholischen Kirche auf Eis gelegt. Wie soll denn das christlich-jüdische Gespräch unter solchen Vorzeichen weitergehen?

Meyer: Es gibt beim ZdK eine lange Tradition im christlich-jüdischen Dialog, und wir haben auch in der Vergangenheit bei schwierigen Situationen immer einen Weg gefunden, der zu einem gemeinsamen Verständnis führte. Ich gehe davon aus, dass wir auch diesmal einen Beitrag leisten können, um das in der Tat im Moment beschädigte Verhältnis zum Judentum zu heilen.

SZ: Knobloch fordert vom Vatikan, wie sie am Freitag erklärte, "ein klares Signal", Taten statt schöner Worte. Sollte der Vatikan die Aufhebung der Exkommunikation zurücknehmen?

Meyer: Es ist schwer zu sagen, was man unter Taten versteht. Es war wichtig, dass der Papst persönlich die antisemitischen Äußerungen des Bischofs in aller Schärfe verurteilt und jetzt von den Traditionalisten klar gefordert hat, sich zu den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu bekennen. Dazu gehört der Respekt vor dem Judentum.

SZ: Die deutschen Bischöfe stehen auf dem Standpunkt, dass die Aufhebung der Exkommunikation ein kirchenrechtlicher Vorgang sei, der getrennt von den antisemitischen Äußerungen Williamsons betrachtet werden müsse. Was halten Sie von dieser Argumentation?

Meyer: Sie ist zwar sachlich richtig. Nur ist unbestreitbar, dass bei den Traditionalisten ein Zusammenhang besteht zwischen ihrer zutiefst reaktionären und freiheitsfeindlichen Haltung und der Ablehnung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils. Da frage ich mich: Werden die sich ändern? Oder erwarten sie von uns, dass wir uns ändern? Was ich aus diesen Kreisen höre und lese, stimmt mich keineswegs zuversichtlich.

SZ: Warum kommt der Papst den Traditionalisten immer wieder entgegen, ohne von ihnen etwas zu fordern?

Meyer: Der Papst will die Wunde der Kirchenspaltung heilen. Ich kann dieses Motiv verstehen, aber ich fürchte, dass diese Entscheidung nicht von einer realistischen Sicht der Dinge ausgeht.

SZ : Er nimmt also den Konflikt mit dem Judentum wissentlich in Kauf, um sich den Traditionalisten anzunähern?

Meyer: Ich glaube nicht, dass er die Beziehung zu den Juden an die zweite Stelle rücken will, aber diese Wirkung hat es leider momentan. Ich bin überzeugt, dass für ihn ein gutes Verhältnis zum Judentum eine Herzenssache ist und dass er die Shoa zutiefst verurteilt. Der Papst ist kein Antisemit.

SZ: Die deutschen Bischöfe haben sich ja umgehend von den antisemitischen Äußerungen von Williamson distanziert. Trotzdem bleibt bei vielen Katholiken ein Unverständnis - und eine Ratlosigkeit, was man jetzt tun kann.

Meyer: Dieses Gefühl teile ich.

Interview: Monika Maier-Albang

Benedikt 16, Papst: Angriffe Meyer, Hans-Joachim: Interviews Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum Katholische Bischöfe SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Fall für zwei

Mit Automatikgetriebe und gesenktem Verbrauch entwickelt die aktuelle Generation des Porsche Boxster ganz neue Tugenden

Ein Sportwagen-Mythos geht zu Ende. Hier heißt es Abschied nehmen vom Kupplungspedal nach alter Väter Sitte. Was sich einst jedem Druck mit der Gegenkraft eines Fitness-Geräts widersetzte, hat sich den Ruhestand redlich verdient. Beim neuen Boxster S stößt der linke Fuß für knapp 3000 Euro Aufschlag zum Grundpreis von 55 781 Euro ins Leere. Ein Porsche mit Automatik? Die Abstimmung des Doppelkupplungsgetriebes namens PDK gelang derart harmonisch, dass man der Elektronik getrost das Schalten überlassen kann. Das Computer-Hirn flippert weder nervös durch die Gänge, noch nerven lange Schaltzeiten oder ruppige Übergänge zwischen den Fahrstufen. Schnell wie ein Suchhund der Fährte folgt die Schaltmaschine den Gasbefehlen des Fahrers, mit PDK spurtet der Zweisitzer in 5,2 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Es bedarf nur noch eines Wacklers im rechten großen Zehn, um zwei oder drei Gänge runterzuschalten und mit Fanfarenstößen das Drehzahlband zu durcheilen.

Ein Sportwagen ohne Klang ist wie Essen ohne Geschmack. Sollten wir einst mit leisem Surren elektrisch fahren, werden wir uns wohl den Porsche-Motorsound aus dem Internet herunterladen. Ein Tesla Roadster mag besser für die Umwelt sein, das Fahren ohne die typische Boxerakustik ist aber nur halb so aufregend. Dabei macht der Verbrennungsmotor Fortschritte beim Spritsparen. Der Boxster S legte dank Direkteinspritzung auf 228 kW (310 PS) zu und gibt sich mit einem Normverbrauch von 9,2 Liter zufrieden (CO2-Ausstoß: 221 g/ km). Während die Leistung gegenüber dem saugenden Vorgänger um 15 PS stieg, sank der Verbrauch um 16 Prozent. Zudem sorgt die neue variable Sauganlage für 20 Nm mehr Drehmoment. Mit dem Ergebnis, dass man sich auf Landstraßen beim Diesel-typischen Cruisen mit 1500 Umdrehungen pro Minute im siebten Gang erwischt. Dann brabbelt der Sechszylinder hinter den Sitzen wie ein großer Außenborder im Standgas. Und hängt so herrlich am Gas und lenkt so mühelos durch alle Kehren, dass man gerne durch die Landschaft trödelt.

Alles Überflüssige weglassen: Das ist nicht nur das Rezept für zeitloses Design, sondern auch das Konstruktionsprinzip dieses Roadsters. Wer braucht mehr Auto, um zu zweit dem Alltag zu entkommen? Unter die Fronthaube und ins Heck passt genug Gepäck für eine längere Reise. Zudem zeigt sich das Fahrwerk mit dem Porsche Active Suspension Management (1547 Euro) von seiner nachsichtigen Seite. Selbst im Sport-Modus prügelt dieser Sportwagen nicht auf seine Passagiere ein, sondern macht das Fahren zum konzentrierten Genuss. Merkwürdig verspielt wirkt dagegen der Heckspoiler, der sich auch bei Schritttempo in der Fußgängerzone ausfahren lässt.

Würde vor die Hinterräder dieses 1380 Kilo leichten Reisewagens nicht auch ein aufgeladener Vierzylinder-Diesel passen? "Einen Porsche bis 7500 Umdrehungen hochzudrehen, ist einfach etwas Schönes", bekennt Wendelin Wiedeking. Lange Jahre hat der Porsche-Chef immer wieder betont, es gäbe keine Zukunft für die "dreckigen" Selbstzünder. Einen Diesel-Boxster mag er heute aber nicht mehr rigoros ausschließen: "Beim Diesel sage ich nicht mehr niemals - gerade weil uns jetzt die größte Diesel-Fabrik Europas gehört." Vor kurzem hat Porsche die Mehrheit an Volkswagen übernommen und präsentiert im Geländewagen Cayenne erstmals einen Ölbrenner aus dem Wolfsburger Konzern-Regal. Wer weiß: Wenn die Klimadiskussion in die nächste Runde geht, könnte es auch aus Zuffenhausen einen grünen Roadster geben. Joachim Becker

Luft-Zufuhr: Der sanft überarbeitete Boxster ist das Einsteigermodell in die Sportwagen-Welt.

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Erleichtert gegen den Golf

Der neue Mazda3 setzt markentypisch auf sportliche Härte, gibt sich aber auch Mühe mit der Sparsamkeit

Von allen japanischen Marken ist Mazda am entschlossensten auf Sportlichkeit getrimmt. Dynamik und Fahrspaß stehen weit oben in der Wertigkeit. Und seit dem letzten Design-Sprung, den der kleine Mazda2 eingeleitet und das Mittelklassemodell 6 weitergeführt hat, ist das Ganze auch noch ausgesprochen expressiv verpackt. Erfreulich nicht zuletzt, dass die Japaner als einer der ganz wenigen Hersteller mit dem unseligen Trend gebrochen haben, jedes neue Modell noch größer und vor allem schwerer zu machen als den Vorgänger.

Das gilt auch für den neuen Dreier, mit weltweit zwei Millionen verkauften Exemplaren der letzten Generation klar das wichtigste Modell des Konzerns. 15 Kilogramm hat der Neue, der auf der Basis des Ford Focus steht, abgenommen, das ist zwar nicht die Welt, aber die richtige Richtung. Und man merkt es ihm an. Wie schon bei anderen Modellen begegnet uns auch hier eine spezifische Leichtfüßigkeit, das gilt sowohl für die Bedienkräfte als auch fürs Handling. Dafür muss man allerdings in Kauf nehmen, dass die Türen beim Zuschlagen recht blechern klingen. Die Frage ist nur, ob das in Zeiten der Energie- und CO2Diskussion noch wirklich wichtig ist.

Hier wiederum hat der Mazda3 durchaus etwas zu bieten. Man mag ja darüber streiten, ob die Designer mit den dramatisch geschwungenen Linien und dem riesigen, Peugeot-haften Grill, der nach gefrorenem Dauergrinsen aussieht, nicht ein wenig zu viel des Guten getan haben. Auch dass die ansteigende Seitenlinie das Rückfenster zum Sehschlitz macht und die Sicht nach draußen entsprechend bescheiden ist, spricht eher gegen die Formgebung. Andererseits hilft der niedrige Luftwiderstand (0,28 beim Viertürer und 0,30 beim Steilheck), den Verbrauch zu senken. Für die vier Motoren, die für den Dreier angeboten werden - zwei Benziner mit 1,6 und 2,0 Liter Hubraum und zwei Diesel mit 1,6 und 2,2 Liter, ein 2,0-Liter-Benziner folgt im Sommer - gibt Mazda Werte zwischen 4,5 und 7,7 Liter je 100 km an, ob die in der Praxis auch realisierbar sind, war im Verlauf der ersten Testfahrten allerdings nicht zu prüfen. Festzuhalten ist aber, dass der neue Mazda3 unterwegs ein sportlich zu fahrender, unproblematischer Begleiter ist. Allerdings kein besonders sanfter. Zwar wurde der Federungskomfort gegenüber dem Vorgänger verbessert, aber letztlich ist er immer noch zu straff für ein Alltagsauto, mit dem man eher häufig zum Bäcker und eher selten auf die Nordschleife fährt. Erfreulich dagegen die Lenkung, die fast so direkt und präzise arbeitet wie in einem Kart. Was die Motoren angeht, empfehlen wir den 1,6-Liter als kultiviert laufenden und ausreichend kräftigen Basis-Benziner und den großen, bärenstarken 2,2-Liter-Diesel - beide mit präzise arbeitendem Schaltgetriebe. Die antiquierte Automatik ist dagegen keine Offenbarung.

Weiterhin gefällt am Mazda3: das klare Innendesign, die unproblematische Bedienung, die guten Sitze und die reichhaltige Ausstattung. Kritik verdienen das eher knappe Platzangebot und - vor allem - die wenig ansprechenden Kunststoffe im Innenraum. Da wurde sichtlich und an der falschen Stelle gespart.

Auch wenn die Preise noch nicht definitiv feststehen: Von knapp 17 000 Euro für das Basismodell des Mazda3 darf man ausgehen. Damit zählt auch das insgesamt recht gute Preis-Leistungs-Verhältnis zu seinen Stärken. Jörg Reichle

Daten & Fakten

Mazda 3 1.6 MZR: 77 kW (105 PS); max. Drehmoment: 145 Nm; 0-100 km/h: 12,2 s; Vmax: 184 km/h;

Verbrauch: 6,3 l (lt. Werk); CO2: 149 g/km. 2.0 MZR Automatik: 110 kW (150 PS); 187 Nm; 10,6 s; 205 km/h; 7,7 l; 183 g/km. 1.6 MZ-CD: 80 kW (109 PS); 240 Nm; 11,0 s; 185 km/h; 4,5 l; 119 g/km. 2.2 MZR-CD: 110 kW (150 PS); 360 Nm; 9,2 s; 205 km/h; 5,4 l; 144 g/km. 2.2 MZR-CD: 136 kW (185 PS); 400 Nm; 8,2 s; 213 km/h; 5,6 l; 149 g/km.

Zwei mal drei: Den neuen Mazda3 gibt es als Stufen- und als Steilheckmodell.

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GESEHEN & GELESEN

Es ist so eine Sache mit den Vorurteilen: Entweder werden sie ohne weitere Prüfung geradezu liebevoll gepflegt - oder aber sie bestätigen sich auf gnadenlose Weise. Mit Harley-Davidson verhält es sich genauso. Ein Name, den so mancher auf Anhieb und dann voller Inbrunst mit ganzen Horden tätowierter Motorradfahrer in schwarzem Leder assoziiert oder aber voller Unbehagen an die Rocker-Szene denkt. Zugegeben: Es gibt diese Typen auf einer Harley-Davidson - und das ist wahrlich kein schöner Anblick. Dass man aber der Motorradmarke an sich und vielen stolzen Besitzern eines solchen Bikes wahrlich Unrecht tut, wenn man sie auf diese Erscheinungen reduziert, beweist der sehenswerte Bildband "The Harley-Davidson Motor Co. Archiv-Kollektion".

Als vor mehr als einem Jahrhundert die Geschichte des Unternehmens begann, war man klug genug, von jeder der vielen Modellreihen, die im Laufe der Zeit entstanden, jeweils ein Exemplar ins hauseigene Archiv zu stellen. Eine heute einzigartige Sammlung. Viele Monate hat Fotograf Randy Leffingwell damit verbracht, diese Sammlung mit viel Liebe und handwerklich perfekt für den Bildband ins Scheinwerferlicht zu stellen - pur, ohne Spielerei, mit aufmerksamem Blick für immer weiter entwickelte Details. Natürlich fehlen die legendären Easy-Rider-Modelle nicht; daneben werden aber auch selten gesehene Rennbikes und Prototypen gezeigt, die niemals in die Serie gingen.

Ein gut gemachtes Buch, in dem jeder blättern sollte, der an Motorradgeschichte Interesse hat. Ohne Vorurteile. op

Randy Leffingwell, Darwin Holmstrom: The Harley-Davidson Motor Co. Archiv-Kollektion; Delius Klasing; 408 Seiten; 525 Fotos; 54 Abbildungen; Großformat; 49,90 Euro.

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Tarifeinigung ohne Streiks

4,5 Prozent mehr Lohn bei der Bahn

Mitarbeiter haben künftig an mindestens zwölf Wochenenden pro Jahr frei / Gewerkschaften zufrieden

Von Detlef Esslinger

München - Die Deutsche Bahn hat aus Angst vor Streiks einem Tarifvertrag mit den Gewerkschaften zugestimmt. Beide Seiten einigten sich am Wochenende auf Einkommenserhöhungen und Reformen der Arbeitszeiten. Die Beschäftigten erhalten künftig 4,5 Prozent mehr Lohn und mehr freie Wochenenden. Die Gewerkschaften sprachen von einem Ergebnis, "mit dem wir leben können".

Bahn-Personalvorstand Norbert Hansen sagte der Süddeutschen Zeitung, sein Ziel sei es gewesen, ein Ergebnis zu erreichen, bevor in der Nacht zum Sonntag die Friedenspflicht auslief. "Es gab noch nie den Fall, dass ein Tarifergebnis für ein Unternehmen nach einem Streik billiger war als vorher", sagte Hansen. Die Alternative zum Streik wäre allenfalls eine Schlichtung gewesen. Aber auch das Ergebnis einer Schlichtung sei für die Arbeitgeber stets teurer als ein Ergebnis ohne Schlichtung. Hansen betreibt seit 20 Jahren Tarifpolitik; bevor er im Mai 2008 als Vorstand zur Bahn wechselte, war er Chef der Gewerkschaft Transnet.

Der Tarifvertrag sieht Einkommenserhöhungen in zwei Stufen vor. Zum 1. Februar erhalten die Beschäftigten der Bahn 2,5 Prozent mehr Geld und am 1. Januar des kommenden Jahres weitere zwei Prozent mehr. Im Dezember gibt es eine Einmalzahlung von 500 Euro. Nach Angaben von Transnet-Chef Alexander Kirchner vereinbarten Bahn und Gewerkschaften darüber hinaus, dass im Dezember 2010 jeder Beschäftigte tatsächlich zehn Prozent mehr Geld haben werde als im Dezember 2007. "Dies ist einer der entscheidenden Erfolge bei dieser Tarifrunde", sagte Kirchner der SZ. Weiter vereinbarten der Konzern und die Gewerkschaften eine Reform der Arbeitszeiten. Die Beschäftigten sollen mindestens zwölf freie Wochenenden im Jahr erhalten, acht davon sollen ihnen zu Beginn eines Jahres bekannt sein. Bisher wurden freie Wochenenden oft kurzfristig gegeben oder wieder gestrichen. Zwischen zwei Schichten sollen künftig mindestens elf Stunden frei sein, zwei mehr als bisher. Auch sollen Schichtbeginn und -ende künftig so geplant werden, dass sie zumindest auf den Rand einer Nacht fallen. Bisher war bei der Bahn ein Dienstbeginn um 2.12 Uhr keine Seltenheit.

Die Verhandlungen wurden von allen Beteiligten als extrem kompliziert beschrieben. Den Gewerkschaften waren die Verbesserungen bei den Arbeitszeiten genauso wichtig wie die Gehaltsfrage. Das Problem bestand darin, dass familienfreundlichere Arbeitszeiten für das Unternehmen höhere Kosten bedeuten, ohne dass die genau zu beziffern waren. Außerdem hatten die drei Gewerkschaften unterschiedliche Prioritäten. Die GDL wollte unbedingt die Ausbildung der Lokführer regeln, darunter die Voraussetzungen, die ein Bewerber mitbringen muss und den Umfang der Ausbildung. Dies ist ihr gelungen; Bahnvorstand Hansen sagte, er habe aber verhindern wollen, dass sich die Gewerkschaften mit ihren unterschiedlichen Prioritäten wechselseitig aufschaukeln.

Die GDL bewertete das Ergebnis noch positiver als die Tarifgemeinschaft aus Transnet und GDBA. GDL-Chef Claus Weselsky sprach von einem "absolut akzeptablen Ergebnis" - er hatte geringere Lohnerhöhungen gefordert als Transnet und GDBA, aber dieselben bekommen. Weselsky sagte der SZ, er habe einen Arbeitskampf unbedingt vermeiden wollen; nach der Auseinandersetzung des Jahres 2007/2008 wollte seine Gewerkschaft nicht erneut die Kunden strapazieren. Der Tarifvertrag gilt für 150 000 der 240 000 Bahn-Besch ftigten, aber nicht für die Beamten und die Mitarbeiter im Ausland. (Seite 4)

Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer und Anwärter (GDL) Deutsche Bahn AG DB Verkehrsgewerkschaft GDBA Tarifverhandlungen der Eisenbahner in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kunst am Brett

Snowboarder wollen keine Allerweltsprodukte - für renommierte Designer ist die Gestaltung der Sportgeräte eine Herausforderung

Skipisten sind längst nicht mehr nur fahrbare Hänge, sie sind zum White

Cube geworden: In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Skigebiete und Halfpipes zur weißen Ausstellungsfläche des alpinen Raums gewandelt. Individuelles Design spielt bei Snowboards schon immer eine wesentlich größere Rolle als bei Skiern. Vor dem neutralen Hintergrund des Schnees knallen die bunten, aufwendigen Snowboarddesigns ins Auge, die oft von renommierten Künstlern gestaltet werden.

Das Artwork des diesjährigen Burton Vapor zum Beispiel übernahm die New Yorker Graffiti-Legende Futura 2000, der als Gründer der abstrakten Streetart gilt. "Ein Board muss heute Aufmerksamkeit erregen und absolut einzigartig sein", begründet David Farcot, Designchef bei Salomon Snowboards, die Kunst auf Brettern. Für ihn entwirft unter anderen einer der Undergroundstars des Grafikdesigns, Geoff McFetridge. Farcot betont, dass es nicht nur auf die Zeichnungen ankommt, sondern auch auf die speziellen Druckverfahren, die Auswahl der Farben und das Material der Boards. Salomon benutzt vermehrt Bambus, weil er leichter und umweltfreundlicher als Fiberglas und Kunstharz ist, und nicht zuletzt weil er jedem Snowboard eine eigene, besondere Textur verleiht.

Das Material und vor allem der Umriss des Bretts, der für den Boarddesigner so etwas wie der Rand der Leinwand für den Maler ist, sind auch für den kreativen Prozess der Künstler wichtig. Die technische Umsetzbarkeit sei dabei immer ein limitierender Faktor, sagt Nicolas Thomas, ein angesehener Maler der Boardculture aus Frankreich, der seit 15 Jahren für APO Snowboards arbeitet: "Man muss sich schon an die Form gewöhnen und beim Zeichnen immer dran denken, dass ein Teil des Artworks von den Bindungen verdeckt wird. Außerdem muss man darauf achten, dass die Arbeit auch auf das Board gedruckt werden kann." In der Regel setzt der Künstler sein auf Leinwand oder am Computer gezeichnetes Bild auf eine Vorlage, die genau die Größe und Form des zu bedruckenden Snowboards hat. Aus den Vorlagen werden Siebdrucke hergestellt; in mehreren Sitzungen wird das Design schließlich auf das Snowboard gezogen. "Der Druckprozess ist sehr wichtig: Er kann aus einem guten Artwork ein faszinierendes Kunstwerk machen", sagt David Farcot. Dabei ist wichtig, dass die oft aufwendigen Designs auf Ober- und Unterseite des Bretts nicht vom Original abweichen und die Farben kräftig sind. In jüngster Zeit wurden gerade die wieder greller. "Seit etwa drei Jahren sind fluoreszierende Farben gefragt, das ändert sich zwar gerade, trotzdem sind wir immer noch dabei, die achtziger Jahre noch einmal neu zu interpretieren, vor allem die Skateboard-Designs von damals", sagt Nicolas Thomas. Und so spielen aufdringliche Farbgebung und extreme Kontraste derzeit in beiden Schulen des Snowboard-Designs eine wichtige Rolle: Sowohl in der eher mit geometrischen Figuren und Schriftzügen spielenden Richtung als auch in der von Malerei und Streetart inspirierten Schule, zu der Nicolas Thomas oder der Amerikaner Mike Parillo gehören. Parillo malt seit mehr als zehn Jahren für Lib Tech Snowboards. Sein Weg zum Board-Künstler war der von vielen aus dieser Szene. Er war Snowboarder, der nebenher Kunst machte. Irgendwann fragte ihn ein befreundeter Profi, ob er nicht die Grafik für eines seiner Modelle entwerfen könnte. Parillo machte das so gut, dass er Folgeaufträge erhielt. Er entwickelt wie viele seiner Kollegen die Designs zusammen mit den Fahrern. "Sie entscheiden, inwieweit sie involviert sein wollen. Ich halte mich zurück oder mische mich ein, wie auch immer", sagt Mike Parillo, der die Vorstellungen der Fahrer als ideale Inspirationsquelle schätzt. Oft entstehe erst in der Zusammenarbeit herausragendes Artwork und das sei unverzichtbar, glaubt Parillo: "Es fügt dem Erlebnis des ultimativen Glücks beim Fahren noch etwas hinzu. Du schaust auf dein Board, siehst was da an deinen Füßen hängt, das gibt dir einfach noch ein kleines Extra." Benedikt Sarreiter

Selfmade Design

Viele Hobby-Snowboarder wollen das Design ihres Bretts nicht mehr nur arrivierten Künstlern überlassen und gestalten zu Hause selbst Graphics für ihre Boards. Die Industrie reagiert auf die Selfmade-Welle: Salomon, Apex oder Ride Snowboards veranstalten jährliche Design-Wettbewerbe. Nachwuchs-Künstler können dort Geldpreise oder ein Snowboard mit dem eigenen Design gewinnen, die Hersteller sehen im

Gegenzug, wohin Trend und Geschmack gehen. Außerdem gibt

es Custom-Made-Angebote wie

Boarddesigner.com oder Revolution (www.rideharder.com), wo jedermann online sein individuelles Snowboard entwerfen kann. Man muss nur sein gewünschtes Artwork hochladen und an die Form des jeweiligen Bretts anpassen. Druck und Verarbeitung übernimmt der Anbieter. Die Preise liegen meist etwas höher als bei den Standardmodellen.

Malerei und Geometrie: Das linke Board (Vorder- und Rückseite) hat Mike Parillo für Szene-Star Travis Rice designt, in der Mitte das Werk Family von Nicolas Thomas für APO Snowboards, rechts der Sickstick, gestaltet von Geoff McFetridge für Salomon.

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Mit dem Kajak durch die Bobbahn

Der Österreicher Thomas Zimmermann ist begeisterter Kajakfan und hat keine Lust auf Winterpausen. Wenn Flüsse und Seen zugefroren sind, veranstaltet der 35-Jährige deshalb einfach Snowkayak-Rennen. In Booten geht es die Bobbahn hinunter, am 28. März in Obertauern auf der Edelweißalm schon zum sechsten Mal. Wer zuschauen oder es ausprobieren will: 64 Startplätze werden vergeben. Weitere Infos unter www.snowkayak.com

"Man wird immer schneller und schneller. Irrsinnig schnell, bis zu 50 Kilometer pro Stunde. Man kann nicht bremsen, muss das Kajak aber auf Richtung halten. So komisch das klingt: Es ist tatsächlich ein bisschen so wie Paddeln, weil man die Ruder zu Hilfe nimmt. Außerdem lenkt man mit dem Oberkörper. Man neigt ihn zur Seite, legt sich hinein, um das Kajak möglichst hart auf der Kante zu halten. Wenn man dann in eine Steilkurve hineinfährt, in ihr hochsteigt, die Fliehkraft am Körper spürt und noch schneller wieder herausgleitet - das ist schon ein absolut geniales Gefühl. Dazu kommt der Reiz des Rennens. Es ist ganz schön aufregend und kribbelig, die Position gegen die anderen zu verteidigen.

Es gibt ein paar Tricks, wie man besser rutscht - das Kajak wachsen oder anwärmen zum Beispiel. Ein bisschen rangeln und schubsen ist ebenfalls erlaubt. Man muss dabei nur aufpassen, dass man sich nicht gegenseitig aus Versehen das Paddel auf die Nase haut, aber dagegen hilft ein Gesichtsschutz.

Das Gefährlichste, das passieren kann ist, dass das Kajak quersteht und ein anderer von der Seite in einen hineinfährt. Ansonsten ist Snowkayaking sicher. Wenn die Bahn richtig gebaut ist, kann niemand rausfliegen oder umkippen. Wir legen es übrigens auch nicht darauf an, die Sache noch spektakulärer, also steiler oder sonst wie gefährlicher zu machen. Der Spaß steht absolut im Vordergrund. Damit niemand zu ehrgeizig rangeht, gibt es bei uns auch kein Preisgeld. Der Sieger wird geehrt, hinterher gibt es eine tolle Party. Inzwischen kommen richtig viele Leute zu den Rennen, in Lienz hatten wir schon 170 Starter aus zehn Ländern. Dieses Jahr rechnen wir mit 5000 Zuschauern. Kajakfahrer mögen eben das Wasser. Im Sommer in flüssigem und im Winter in gefrorenem Zustand." Protokoll: Jochen Temsch

WIE FÜHLT SICH DAS AN?

Statt Whitewater: Downhill-Paddeln im Schneekanal.

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Surfen auf Kaffeebechern

Die Sportartikelhersteller entdecken die Natur - und feilen auch sonst an speziellen Materialien

Surfer, Bergsteiger und Taucher haben eines gemeinsam: Big Waves lassen sich nicht künstlich erzeugen, die Besteigung des Matterhorns ist schwer zu simulieren und ein Schwimmbecken erinnert nur schwach an die geheimnisvolle Weite eines Ozeans. Viele Freizeitsportler brauchen für ihren Spaß vor allem eins: die Natur, echt und draußen. Was dabei oft auseinanderklafft, ist die gefühlte Naturverbundenheit der Sportler und ihr in der Realität nicht besonders naturfreundliches Verhalten: Denn Surfbretter, Funktionskleidung oder Taucheranzüge sind heute Hightech-Produkte, die sowohl in der Herstellung als auch in der Entsorgung zum Großteil eher das Gegenteil von umweltfreundlich sind.

Die Internationale Sportartikelmesse (Ispo), am gestrigen Sonntag in München eröffnet, hat deshalb den zahlreichen Awards, mit denen sich die Branche jährlich selbst feiert, nun erstmals den Eco Responsibility Award hinzugefügt - Auszeichnungen für Anbieter, die neben Form und Funktion auch den Umweltgedanken berücksichtigen. In der Kategorie Footwear hat Atomic dabei den Zeh vorne: Mit einem Skischuh, der zu 80 Prozent aus erneuerbaren Rohstoffen hergestellt ist, die außerdem wieder verwertet werden können. Gerade Skischuhe haben es sonst in sich: Ihre Kunststoffe basieren in der Regel auf Erdöl. Ungewöhnliche Materialien verwendet auch die schwedische Firma Klättermusen, die aus alten Fischernetzen und abgenutzten Teppichböden einen Rucksack produziert hat. Mit den Giften in den Skiern hat sich der Hersteller Völkl auseinandergesetzt: Er wurde für seinen Tourenski Nanuq prämiert, der weitgehend ohne Kunstharz und andere toxische Stoffe auskommt und trotzdem gute Fahreigenschaften hat.

Hätte Ötzi Funktionskleidung getragen, er wäre vermutlich vollständig angezogen gefunden worden, so schwer abbaubar sind viele der Plastikmaterialien - aber die Firma Zimtstern hat jetzt eine atmungsaktive Sympatex-Membran konstruiert, die komplett recycelbar ist. Den Gesamtsieg der BrandNew Awards bekam das Team von 2Imagine: Mit einem Surfboard, dessen Kern aus dem Styropor von alten Kaffeebechern und Verpackungen besteht - also aus recyceltem Material, das ebenfalls wieder verwertbar ist. Laminiert wird das Ecoboard nicht mit Fiberglas, sondern mit flexiblen Bambusfasern - dadurch soll das Brett laut Hersteller zudem bruchsicherer sein als herkömmliche Boards und lebendigere Fahreigenschaften haben.

Ansonsten ist auf der Ispo keine Revolution in Sicht. Innovationen, die einen ähnlichen Erfolg versprechen wie vor Jahren der Carvingski gibt es keine. Wohl aber immer ausgefeiltere Technologien und Materialverbesserungen, auch abseits des Öko-Trends. Uvex hat sich mit einem Problem beschäftigt, das viele Skifahrer in den Abendstunden oder beim Wechsel aus der Sonne in den Schatten plagt: der Blindflug, bei dem man keine Erhebungen der Piste mehr wahrnimmt. Mit Skibrille ist es zu dunkel, ohne tränen die Augen beim Fahren. Mit einem Knopfdruck könnte dieses Problem gelöst sein: Bei der Uvision Variotronic kann man von hell auf dunkel umschalten und die Abdunklungsintensität den äußeren Verhältnissen anpassen.

Getüftelt hat auch Atomic - und den Ski in der Mitte geteilt. Vorne und hinten ist beim Vario Cut je eine flexible Zone eingefügt. Je mehr Druck der Fahrer auf den Ski ausübt, desto breiter wird dieser an Schaufel und Ende - dadurch verringert sich der Radius des Skis bei engen Schwüngen um bis zu sechs Meter. Die Idee dahinter: Auch technisch schwächere Skifahrer sollen in wechselndem Tempo und unterschiedlichen Kurven immer perfekt auf der Kante fahren können.

Die Materialentwicklung ist längst durch alle Schichten bis auf die Haut vorgedrungen: Funktionsunterwäsche mit unterschiedlichen Wärmezonen, die an stark schwitzenden Körperstellen dünner und an anderen dicker sind, sind nichts Neues mehr. Der australische Wäschehersteller Skins hat jetzt zusätzlich noch Druck in seine Kollektion eingewoben und Kompressionshosen und -oberteile entwickelt, die die Blutzirkulation fördern sollen. Laut Hersteller wirken die Kleidungsstücke wie eine Pumpe, die den Rückfluss des Blutes zum Herzen unterstützt - das soll sowohl Ausdauer, Kraft als auch Regeneration nach der Belastung unterstützen.

Interessante Spielereien muss man in diesem Jahr zwar eher suchen - ein paar gibt es aber trotzdem. Der mit einem BrandNew Award ausgezeichnete Multifunktionssack Bergmönch zum Beispiel überträgt den Trend zum Klapprad in die Berge: Aus einem Rucksack, der stolze 9,5 Kilo wiegt, kann man am Gipfel zuerst die Brotzeit holen und dann ein Fahrrad auseinanderfalten - nur zwei Minuten soll es laut Hersteller dauern, bis dann ein vollgefedertes Downhill-Gerät auf dem Weg steht. Ob sich die Freeline Skates durchsetzen werden, ist fraglich: Sie sind im Grunde Rollschuhe ohne Schuhe; man steht völlig lose auf einer kleinen Plattform mit Rollen. Mehr Standfläche bietet das SoulArc Skateboard: Das geschwungene Board ist der neueste Versuch, das sanfte Gefühl des Wellenreitens auf den harten Asphalt zu bringen. Aber ganz wird es wohl auch hier mit der Simulation der Natur nicht klappen. Birgit Lutz-Temsch

Infos: www.ispo-winter.com; Video unter www.sueddeutsche.de/ispo

Klettern bis zum Absprung: Die Elite der Szene traf sich anlässlich der Ispo in München, um den DAV Bouldercup auszutragen. Foto: Robert Haas

Neu und stylish: Der Skischuh Renu von Atomic ist aus erneuerbaren Ressourcen. Mit der Uvex Skibrille soll auf Knopfdruck die Sicht besser werden. Für die Freeline Skates, Rollen für die Füße, braucht es einige Übung. SoulArc bringt mit seinem Skateboard das Wellenreiter-Gefühl auf die Straße. Der Rad-Rucksack Bergmönch ist für alle, die nicht gern bergab gehen. Und das 2Imagine Surfboard reitet mit seinem umweltfreundlichen Material voll auf der Öko-Welle.

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24 STUNDEN MIT . . .

. . . dem Google-Handy T-Mobile G 1

Moderne Smartphones sind kleine Computer, die neben vielem anderen auch telefonieren können. Als einzigem war es bislang aber Apple mit dem iPhone gelungen, den Funktionswust dieser Geräte nicht nur ansehnlich zu verpacken, sondern mit einem neuartigen Bedienungskonzept auch in den Griff zu kriegen. Mit der Einführung des T-Mobile G 1 gibt es nun Konkurrenz.

Das Besondere am G 1 ist weniger seine Hardware, die vom taiwanesischen Hersteller HTC stammt und im Wesentlichen tut, was sie soll. Das Besondere steckt im elektronischen Speicher - das Betriebssystem Android. Vom Internetkonzern Google auf der Basis von Linux entwickelt und dann als freie Software für jedermann zur Verfügung gestellt, gibt es dem Benutzer mehr Freiheiten als andere Systeme - nur nicht in einem Punkt: Das G 1 ist so ausgesprochen als Internet-Gerät konzipiert und an Google gekoppelt, dass man über die - immerhin vorhandene - USB-Schnittstelle nicht einmal von seinem Computer aus auf die Speicherkarte des Telefons zugreifen kann. Adressenabgleich? Geht über Google. Alte E-Mails lesen? Nehmen Sie doch das Google-Konto. Kalendereinträge synchronisieren? Bitte bei Google anmelden. E-Mail-Konten bei anderen Anbietern lassen sich jedoch einrichten, insgesamt macht das Surfen dank der schnellen UMTS-Verbindung und dem guten Bildschirm großen Spaß.

Wie beim iPhone lässt sich das G 1 mit Fingerbewegungen steuern, ein Stift ist nicht nötig. Zum Schreiben dient eine ausziehbare Qwertz-Tastatur; an einer virtuellen Tastatur für den Bildschirm wird noch gearbeitet. Zusätzlich gibt es noch ein Steuerkügelchen, wie man es von Blackberry-Handys kennt. Die technische Ausstattung darf man als komplett bezeichnen, von UMTS über Wlan bis GPS und Bluetooth-Funk ist alles an Bord. Allerdings hält der Akku selbst ohne das stromfressende Bluetooth nur eineinhalb Tage durch, bei intensiver Nutzung noch kürzer. An Software bringt das G 1 schon eine beachtliche Grundausstattung mit, ein Navigationsprogramm ist aber nicht dabei. Der Menüpunkt Market führt zu einem schon jetzt kaum übersehbaren Angebot an Zusatzsoftware.

Darin genau liegt der Reiz des G 1. Es werden Hunderte kostenloser Programme angeboten, die man auf das Handy laden und testen kann. Um das Internet-Handy auszureizen, sollte man eine entsprechende Vertragsoption wählen. Die preiswerteste Variante kostet 24,95 Euro im Monat und enthält 200 Megabyte; die aber kommen schnell zusammen. ma

Hand-Arbeit: Tippen funktioniert nur über die ausziehbare Tastatur, eine virtuelle fehlt.

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Schau mir in die Augen, Computer

Apples neue Software-Sammlung iLife sortiert Digitalfotos mittels Gesichtserkennung nach Personen

Für jeden Digitalfotografen, der das Aufwachsen seiner Kinder in Zehntausenden Bildern festgehalten hat, gibt es eine Hölle und eine Vorhölle: Ewige Pein ist dem sicher, dessen gesamte Bilder im digitalen Nirwana verschwinden. Kaum weniger qualvoll ist es jedoch, wenn ein Fehler die mühsam hergestellte Ordnung durcheinanderwirft.

Aus dieser Vorhölle versucht Apple den Leidenden zu befreien, zumindest teilweise. Die Computerfirma hat vergangene Woche die neueste Version ihrer Programm-Suite iLife auf den Markt gebracht. Für 79 Euro enthält sie Programme für Webseiten-Verwalter, Videofreunde, Hobbymusiker und eben für Familienfotografen. Dieses Programm namens iPhoto bietet in der Version 8 eine Gesichtserkennung an. Wer die neue Funktion auf seine Fotos anwendet, erlebt zunächst Euphorie, dann Ernüchterung. Am Ende muss jeder selbst entscheiden, wie weit er das neue Leistungsmerkmal ausreizen möchte.

Die Software leistet Erstaunliches. Beim Test verknüpft das Programm ein Foto der Ehefrau im Alter von 35, auf dem ihr Gesicht eher im Schatten liegt, mit Aufnahmen, die 20 Jahre früher entstanden sind. Es findet Bilder von ihr, die sie im Pool mit nassen Haaren zeigen, mit Kapuze beim Skifahren, mit geschlossenen Augen, im Halbprofil. In jedem Fall lässt sich iPhoto die Identität vom Nutzer bestätigen. Bisweilen verwechselt es die Gesuchte mit Schwester oder Tochter, lernt aber aus Korrekturen.

Bei einem Kind genügt ein Foto der Sechsjährigen, um Aufnahmen vom Babyschwimmen im Alter von acht Monaten zu finden sowie Bilder der zum Teenager gereiften Tochter. iPhoto ordnet das Gesicht sogar dem Namen zu, wenn es von Vampir-Make-up bedeckt ist. Beim Vater schließlich erweist sich das Apple-Produkt einem System überlegen, das vor vier Jahren von einer großen Firma für Grenzkontrollen entwickelt wurde. Mit einem Foto des Autors mit Vollbart gefüttert hatte es damals seine Not, ihn mit anderer Barttracht und anderen Brillen zu erkennen. iPhoto ordnet auch die Aufnahmen mit Spitz-, Schnurr- und abrasiertem Bart ohne Probleme zu.

Bei vielen anderen Fotos versagt aber auch die Gesichtserkennung der Apple-Software aus unerfindlichen Gründen. Werden Köpfe schräg ins Bild gestreckt, sind die Personen nur im Profil zu sehen oder tragen sie eine Sonnenbrille, erkennt iPhoto sie kaum. Manchmal nimmt das Programm aber auch bei klassischen Porträts nicht einmal wahr, dass da ein Gesicht ist. Das alles lässt sich korrigieren, und Apple hat sich viel Mühe gegeben, es dem Nutzer leicht zu machen. Wer aber auf die neue Programmversion umsteigt, hat schnell Hunderte Fotos jeder Person, die alle einzeln bearbeitet werden müssen. Zudem gelingt es nur recht umständlich, sich die Bilder anzeigen zu lassen, denen noch kein Name zugeordnet ist. Auf diese Weise tatsächlich alle Fotos einer Person zu bündeln, ist also mühsam. Wer aber nicht allzu viel Ehrgeiz entwickelt, und nicht auch noch alle Nachbarskinder benennen will, findet in der Gesichtserkennung ein gutes Werkzeug. Christopher Schrader

Apple Computer Inc.: Produkt Digitale Photographie Software SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Streiflicht

(SZ) Ganz ob'n auf der Speis'kart'n steht die Pfannkuch'nsupp'n, dann kommt der Schweinsbrat'n mit Knöd'l, gefolgt von der röschen Hax'n, und unt'n, ganz unt'n steht der O'batzte mit der Brez'n, und Auszog'ne gibt's auch noch. Ist das Ganze noch ang'reichert mit g'schmackige Soßerln und aufg'schmälzte Zwiebel, dann kann man sicher sein, in einer urig'n Stub'n zu sitzen, in einem grübig'n Ambiente, mit einer Kellnerin, die Holz vor der Hütt'n hat. Solche Stub'n gibt es in K'lautern oder M'gladbach, damit die Einheimischen dort nichts von dem auslassen müssen, was sie sonst nur in Bayern haben können. Es gibt aber auch welche in B'gaden oder N'schwanstein, damit die Einheimischen sich dort immer wieder vergewissern, was sie sind und wie sie sprechen. Deshalb sind in mancher Speisekarte so viele kleine Würmer wie in einem Himbeerstrauch: '''''. Wenn der Schreiber nicht so gut mit der Tastatur umgehen konnte, dann schauen die Würmer andersherum:'''''. Oder sie strecken sich, und das Blatt ist voller Akzente wie in einem französischen Text.

"Qu'est-ce que c'est", fragt dann der Gast aus Frankreich und staunt darüber, dass es auch im Deutschen so viele Apostrophe gibt . Unter Umständen ist er auf seiner Reise schon an Maik's Grillstube und Yvonne's Friseursalon vorbeigekommen, an diversen Shop's und King's, an denen die Snack's nach Art des Hause's direkt in die Auto's gereicht werden. Angefangen hat es mit den bayerischen Gaststätten, die sich regionales Flair gaben, und mit diversen Lokalitäten, denen der angelsächsische Genitiv internationale Atmosphäre einhauchen sollte. "Schumanns Bar" - wie provinziell. Ins "Schumann's" dagegen geht der Weltbürger. Daraus wurde dann, auch unter dem Einfluss der Wende, der sächsische Genitiv und eine nach und nach die ganze Nation erfassende Ausgelassenheit.

Ist's eine Katastrophe? Sprachwächter kämpfen seit Jahren schon gegen den Apostroph an, verfertigen Sündenlisten, fotografieren Ladenschilder, stellen sie anklagend ins Internet. Aber gegen Seuchen ist wenig auszurichten, es sei denn, man hätte einen Impfstoff. Der Bürgermeister von Birmingham, so war's zu lesen, will den Apostroph aus den Straßenschildern reißen, aus dem St. Paul's Square und aus der King's Heath. Da aber gehört das Auslassungszeichen nach langer Sprachtradition nun einmal hin, und mag es auch aus den Schildern verschwinden, die Leute werden es in ihren Herzen und in ihren Briefen bewahren. Die kleinen Würmer sind zäh, sie halten sich selbst dort, wo Obrigkeiten und Sprachpolizisten Verbotsschilder aufstellen. In Deutschland aber, wo sie einst verfemt waren, hat ihnen die Rechtschreibkommission schon das Eingangstor geöffnet, hat Maik's Grillstube so salonfähig gemacht wie Madeleine's Lederstudio. Knöd'lgröst'l bleibt Geschmackssache.

Deutsche Rechtschreibung Bayerische Sprache Gaststättengewerbe in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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TECHNIK-LEXIKON

Viren und Würmer

Computer tun bloß, was Programme ihnen vor- oder Menschen ihnen eingeben. Das muss aber nicht zwangsläufig Gutes sein. Programme, die Böses im Schilde führen, werden als Schadprogramme bezeichnet. Zu den wichtigsten zählen Viren und Würmer. Viren sind - wie ihre Namensgeber aus der Biologie - klein, wandelbar und schädigen oft den befallenen Organismus. Während Computerviren Programme brauchen, die sie als Wirte benutzen, versuchen Würmer aktiv, sich weiterzuverbreiten. Sie nutzen dazu Sicherheitslücken in Betriebssystemen und Programmen aus, um sich per Mail zu versenden oder übers Netz neue Opfer zu suchen. In der öffentlichen Diskussion werden die Begriffe oft synonym gebraucht. Die Übergänge sind auch fließend. Das Schadprogramm "I love you" aus dem Jahr 2000 beispielsweise wurde meist als Virus bezeichnet. Da es in der Lage war, das Adressbuch befallener Rechner zu benutzen, um sich per E-Mail zu verbreiten, handelte es sich aber um einen Wurm. Theoretische Ansätze, die virenähnliche Software beschreiben, gab es schon in den vierziger Jahren, praktische Bedeutung erlangten die Computerschädlinge von Mitte der achtziger Jahre an. Seither liefern sich die Virenautoren und Softwarehersteller einen fortwährenden Kampf. Schutzmaßnahmen gehören zur Grundausstattung eines jeden Rechners. Vollständigen Schutz aber gewährt nur ein radikaler Schritt: Die Verbindung zum Internet zu kappen.ma

Computer tun bloß, was Programme ihnen vor- oder Menschen ihnen eingeben. Das muss aber nicht zwangsläufig Gutes sein. Programme, die Böses im Schilde führen, werden als Schadprogramme bezeichnet. Zu den wichtigsten zählen Viren und Würmer. Viren sind - wie ihre Namensgeber aus der Biologie - klein, wandelbar und schädigen oft den befallenen Organismus. Während Computerviren Programme brauchen, die sie als Wirte benutzen, versuchen Würmer aktiv, sich weiterzuverbreiten. Sie nutzen dazu Sicherheitslücken in Betriebssystemen und Programmen aus, um sich per Mail zu versenden oder übers Netz neue Opfer zu suchen. In der öffentlichen Diskussion werden die Begriffe oft synonym gebraucht. Die Übergänge sind auch fließend. Das Schadprogramm "I love you" aus dem Jahr 2000 beispielsweise wurde meist als Virus bezeichnet. Da es in der Lage war, das Adressbuch befallener Rechner zu benutzen, um sich per E-Mail zu verbreiten, handelte es sich aber um einen Wurm. Theoretische Ansätze, die virenähnliche Software beschreiben, gab es schon in den vierziger Jahren, praktische Bedeutung erlangten die Computerschädlinge von Mitte der achtziger Jahre an. Seither liefern sich die Virenautoren und Softwarehersteller einen fortwährenden Kampf. Schutzmaßnahmen gehören zur Grundausstattung eines jeden Rechners. Vollständigen Schutz aber gewährt nur ein radikaler Schritt: Die Verbindung zum Internet zu kappen.

Computerviren SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Blagojevich verliert sein Amt

Senatoren setzen Gouverneur von Illinois einstimmig ab

Von Christian Wernicke

Washington - Knapp zwei Monate nach seiner spektakulären Festnahme wegen korrupter Machenschaften hat Rod Blagojevich, der Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois, sein Amt verloren. In der Nacht zum Freitag votierten alle 59 Senatoren des Heimatstaates von Präsident Barack Obama einstimmig dafür, Blagojevich durch seinen Stellvertreter Pat Quinn zu ersetzen. Damit endet eine politische Farce, die Obama und seiner aus Chicago stammenden Gefolgschaft wochenlang peinliche Nachrichten bescherte. Blagojevich, der nach wie vor seine Unschuld beteuert, droht nun ein Strafverfahren wegen Verschwörung und Bestechlichkeit.

In einer dramatischen Rede unmittelbar vor dem Votum zu seiner Amtsenthebung hatte Blagojevich behauptet, er habe "absolut nichts Falsches getan". Er habe sich stets für die kleinen Leute, die hart arbeitende Mittelschicht "und vor allem für die Kinder" eingesetzt. Indirekt räumte Blagojevich ein, dass er für politische Gefälligkeiten regelmäßig Gegenleistungen etwa in Form von Spenden für seinen Wahlkampf eingefordert habe. "Ihr seid selbst Politiker, Ihr wisst, wie es zugeht", rief er den Senatoren zu. Nichts davon sei jedoch kriminell. Zu Wochenbeginn hatte sich "Blago" in Interviews als "Opfer politischer Lynchjustiz" dargestellt und sich mit Mahatma Gandhi und Nelson Mandela verglichen.

Auf die konkreten Vorwürfe gegen ihn ging der 52-jährige Demokrat nicht ein. Am 9. Dezember vergangenen Jahres hatten FBI-Agenten den Politiker auf Weisung des Bundesanwalts Patrick Fitzgerald in Handschellen aus seinem Haus in Chicago geführt, später wurde der Gouverneuer gegen Kaution freigelassen. Fitzgerald sagte, er habe Blagojevich "mitten in einer Großtour krimineller Korruption" festgenommen. Der Zugriff sei auch erfolgt, weil der Gouverneur sein Vorrecht zu Geld machen wollte, einen Nachfolger für den bisherigen Senator von Illinois, den neugewählten US-Präsidenten Obama, zu ernennen.

Als Beweis veröffentlichte die Staatsanwaltschaft Mitschnitte von Telefonaten, in denen Blagojevich sich brüstet, er werde den Posten im Senat zu Washington "nicht kostenlos" vergeben: "Ich hab' dieses Ding, und es ist Gold wert!" Auch hatte der Gouverneur Provisionen verlangt, ehe er einem Kinderkrankenhaus staatliche Zuschüsse auszahlen wollte. Ebenso sollte der Medienkonzern der Chicago Tribune, der auf Subventionen für den Umbau seines Baseballstadions wartete, zunächst mehrere unliebsame Journalisten entlassen.

Noch Anfang Januar brachte Blagojevich die Demokraten in Washington in Verlegenheit, als er mit dem unbescholtenen Roland Burris erneut einen Afro-Amerikaner als Obama-Nachfolger benannte. Die demokratische Senatsführung wie auch der gewählte Präsident erklärten, sie würden Burris nicht ins Amt lassen. Mangels rechtlicher Mittel und angesichts wachsenden Drucks aus der demokratischen Partei, die erneut einen schwarzen Politiker im US-Senat sehen wollte, gab Obama schließlich nach.

Blagojevich, Rod: Rechtliches Blagojevich, Rod: Berufsvergehen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lektionen am Küchentisch

Wie Eltern gegen die Schulpflicht ihrer Kinder kämpfen

Es gibt Eltern, in deren Bildungsideologie eine profane staatliche Schule nicht passt. Manche weichen deshalb auf Privateinrichtungen mit alternativer Pädagogik aus, andere wollen sich um die Bildung ihrer Kinder gleich selbst kümmern. Statt ihren Nachwuchs jeden Morgen ins Klassenzimmer zu schicken, schlüpfen die Eltern in die Rolle des Lehrers. Am Dienstag dieser Woche wird sich das Oberverwaltungsgericht in Bremen mit einem solchen Fall beschäftigen.

Unterricht in Eigenregie - das klingt verdächtig nach Eltern, die ihre Kinder von der Welt fernhalten und mit seltsamen Ideen füttern wollen, doch in diesem Fall ist es nicht ganz so einfach. Dagmar und Tilman Neubronner gehören nicht zu jenen religiösen Fanatikern, die ihren Nachwuchs nur vor Evolutionstheorien und Sexualkunde schützen wollen. "Wir sind nicht prinzipiell gegen die Schule", sagt der Vater. Sein Sohn Moritz habe sogar zwei Jahre lang eine Montessori-Einrichtung besucht, aber nur unter Protest. Ihn störte der Lärm in der Klasse, er klagte über Kopf- und Bauchschmerzen. Schließlich beschlossen die Eltern, ihn und seinen drei Jahre jüngeren Bruder Thomas daheim zu behalten. Da die Biologin und der Berufsfachschullehrer einen kleinen Verlag führen, arbeiten sie zu Hause. Ihr Lehrmaterial finden sie im Internet. Dabei orientierten sie sich an den üblichen Lehrplänen, sagt der Vater, mit Rücksicht auf Vorlieben der Kinder.

Seit dreieinhalb Jahren kämpfen die Neubronners nun schon gegen die Schulpflicht. Inzwischen sind sie zu Symbolfiguren der deutschen "Homeschooling"-Szene geworden. Schätzungen gehen von 500 bis 1000 Familien aus, die ihre Kinder am Küchentisch unterrichten. Ein Phänomen, das der Staat unterbinden will. In den Urteilen hoher Gerichte heißt es, man müsse die Entstehung von "Parallelgesellschaften" verhindern. Nur der Schulbesuch garantiere den Dialog mit Andersdenkenden.

"Wir wollen unsere Kinder nicht wegsperren", beteuern die Bremer Eltern. Ihre Söhne träfen sich regelmäßig mit Freunden, spielten Fußball im Verein und sängen im Chor. Soziale Integration könne auch außerhalb der Schule stattfinden, argumentiert Matthias Westerholt, der Anwalt der Familie. Und seine Mandanten kündigen an, den Rechtsstreit durch alle Instanzen zu treiben - notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

In den Vereinigten Staaten oder den meisten europäischen Ländern hätten die Neubronners kein Problem. Dort gibt es überwiegend eine Unterrichtspflicht, aber keine Schulpflicht. In den meisten deutschen Bundesländern hingegen drohen Schulverweigerern Bußgeld, Ersatzzwangshaft und womö;glich sogar der Entzug des Sorgerechts. Aus Angst, ihre Kinder im Heim abgeben zu müssen, haben die Neubronners ihren offiziellen Hauptwohnsitz nach Frankreich verlegt und pendeln seitdem zwischen Bremen und Biran.

Der Bildungsforscher Volker Ladenthin hält es für falsch, Eltern zu kriminalisieren. Für die Kinder sei es auf jeden Fall schlechter, wenn sich der Hausunterricht in einer Grauzone abspiele. Ladenthin plädiert deswegen für ein Modell, wie es in Österreich üblich ist. Dort können Eltern in Ausnahmefällen selbst unterrichten, sie werden dabei aber kontrolliert. Die Neubronners würden sich auf diesen Kompromiss gerne einlassen. Die Gegner des heimischen Unterrichts warnen aber davor, Präzedenzfälle zu schaffen. Birgit Taffertshofer

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China nähert sich Europa an

Premierminister Wen Jiabao: Beziehungen zur EU haben "strategische Priorität"

Von Martin Winter

Brüssel - Unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise rücken China und die EU enger zusammen. Hatte Peking noch im Dezember einen geplanten Gipfel mit den Europäern aus Verärgerung über ein Treffen des damaligen EU-Präsidenten und französischen Staatschefs Nicolas Sarkozy mit dem Dalai Lama platzen lassen, soll nun "so früh wie möglich" ein neuer Gipfel stattfinden. Das sagte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao am Freitag nach einem Gespräch mit Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso in Brüssel. Die Beziehungen zu der EU seien für China eine "strategische Priorität".

Am Rande des Treffens unterschrieben beide Seiten neun Abkommen, unter anderem über eine verbesserte Zusammenarbeit beim Kampf gegen die Produktpiraterie. Die meisten der Verträge sollen eine bessere Kooperation in der Wirtschaft ermöglichen. Es geht dabei aber auch darum, den Studentenaustausch zwischen China und Europa zu intensivieren. Für die EU ist China nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner. Auf der anderen Seite ist die EU für China der größte Handelspartner. So importierten die Europäer etwa im Jahr 2007 Waren und Dienstleistungen im Wert von 242,8 Milliarden Euro aus China. Der Export aus den Ländern der EU nach China lag bei 84 Milliarden. Im Jahr 2006 investierten europäische Unternehmen sechs Milliarden Euro in China.

Wen, der am Tag zuvor in Berlin Gespräche mit Bundeskanzlerin Merkel geführt hatte, lobte die EU in ungewohnten Tönen. Ein starkes Europa könne eine "wichtige Rolle in der sich entwickelnden multipolaren Welt spielen". Barroso revanchierte sich mit dem Satz, die gegenseitigen Beziehungen seien "gereift". Ausdrücklich hob er Pekings Beteiligung an den Beratungen der G-20-Länder hervor, die sich im November auf Grundzüge für eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte verständigt hatten. Anfang April wird es ein weiteres Treffen geben, bei dem sich die Staaten auf gemeinsame Regeln verständigen wollen. Mit Blick darauf und auf die Bedeutung der Wirtschaftsbeziehungen sagte Barroso: "Von einer guten Zusammenarbeit können China und die EU nur profitieren." Wen bemerkte, die Beziehungen zueinander hätten sich so entwickelt, dass sie "niemand mehr umkehren kann". Vor allem in der gegenwärtigen globalen Wirtschaftskrise müssten Europäer "Zuversicht, Hoffnung und Stärke" zeigen. Solange "wir Hand in Hand" arbeiten, "werden wir die Krise überwinden.

Nachdem es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Abkühlung der Beziehungen wegen Tibet und der Lage der Menschenrechte gekommen ist, scheinen beide Seiten nun entschlossen, diese Differenzen ihrer Kooperation sich künftig nicht mehr in die Quere kommen zu lassen. Barroso teilte bei einer Pressekonferenz mit, dass er auch die Lage der Menschenrechte in China und den Streit um Tibet "angesprochen" habe. Worauf Wen erwiderte, dass China ein "offenes" Land sei und dass man "über alles" diskutieren könne, solange der gegenseitige Respekt gewahrt bleibe.

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Obama hat wieder Ärger mit Ministerkandidaten

Auch der designierte Gesundheitsressortchef Thomas Daschle muss Steuern an den Fiskus nachzahlen

Von Christian Wernicke

Washington - Mit dem designierten US-Gesundheitsminister Thomas Daschle sieht sich erneut ein prominenter Vertrauter von Präsident Barack Obama dem Vorwurf ausgesetzt, jahrelang zu wenig Steuern gezahlt zu haben. Am Wochenende wurde bekannt, dass Daschle erst zu Jahresbeginn 128 000 Dollar Steuern plus 12 000 Dollar Strafgebühren und Zinsen nachzahlen musste, weil er den geldwerten Vorteil einer Limousine samt Chauffeur drei Jahre lang nicht deklariert hatte. Daschle soll mit einem Kernprojekt der Obama-Administration beauftragt werden und die Reform der Krankenversicherung umsetzen. Nun muss er im Senat darum bangen, dass seine Nominierung bestätigt wird. Im Januar war Finanzminister Tim Geithner unter Beschuss geraten, der erst auf Drängen von Obama-Beratern mehr als 43 000 Dollar Sozialabgaben und Steuern nachträglich entrichtet hatte.

Obama sagte am Wochenende, er stehe hinter Daschle. Niemand sei perfekt. Zugleich räumten Mitarbeiter des Weißen Hauses ein, die nunmehr zweite Steueraffäre eines wichtigen Kabinettsmitglieds sei "absolut schockierend". Im Kongress erklärten prominente Demokraten ihre Solidarität mit Daschle, der dem US-Oberhaus bis 2004 selbst 18 Jahre lang angehört hatte. Republikanische Senatoren hielten sich mit Kommentaren zurück. Lediglich der als scharfzüngig bekannte Kongressabgeordnete Eric Cantor nutzte die Probleme Daschles bereits für eine Attacke gegen das über 800 Milliarden teuere Konjunkturpaket: Die Demokraten könnten "leicht für höhere Steuern eintreten, denn - wissen Sie was? - die zahlen sie ja nicht!"

Daschles Fall droht Obamas Versprechen zu diskreditieren, einen saubereren Politikstil durchzusetzen. Der 61-jährige Demokrat gilt als einflussreicher Vordenker der Demokraten. Der Ex-Mehrheitsführer im Senat vermittelte dem damaligen Senator Obama 2005 mehrere seiner besten Mitarbeiter und war entscheidend daran beteiligt, den schwarzen Politiker zur Präsidentschaftskandidatur zu bewegen. Daschles frühe Nominierung zum Gesundheitsminister galt als Signal, dass Obama es ernst meinte mit der Reform des kriselnden Systems der US-Krankenversicherung.

Mehrere Details der Affäre belasten Daschle nun. Offenbar schwante ihm bereits im Juni, dass die drei Jahre währende steuerfreie Nutzung eines Autos samt Fahrer nicht korrekt war. Er bat seinen Steuerberater um Prüfung - verschwieg das Problem jedoch, als er im Dezember Obamas Beratern seine Personalpapiere zur Durchsicht vorlegte. Eine Sprecherin erklärte am Wochenende, Daschles Steuerberater habe erst Ende Dezember 2008 auf das Problem hingewiesen. Am 2. Januar, wenige Tage vor Beginn seiner Anhörung im Senat, zahlte Daschle dann 140 000 Dollar nach. Zudem entdeckten Obama-Berater, dass Daschle seit 2005 für mindestens 15 000 Dollar als steuermindernd angegebene Spenden keine ausreichenden Belege hatte. Der zuständige Senatsausschuss monierte, dass Daschle keine Sozialabgaben für den geldwerten Vorteil seines Autos entrichtet hatte. Die Offenlegung von Daschles Verdienst zeigt, dass der designierte Minister seit 2007 auch 220 000 Dollar Honorare für Vorträge bei Pharmaunternehmen und Versicherungen kassierte. Obama hatte versprochen, den Lobby-Einfluss in Washington zurückzudrängen.

Daschle, Thomas Regierungsbildung Kabinett Obama 2008/2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Brüche in einer türkischen Tradition

Politiker in Istanbul loben die historisch guten Beziehungen zu den Juden - doch der Antisemitismus im Land wächst

Von Kai Strittmatter

Istanbul - Nach seinem stürmischen Auszug von Davos stellte der türkische Premier Tayyip Erdogan als erstes klar: Er habe regelmäßig jede Form von Antisemitismus verurteilt. Das stimmt. Am 10. Juni 2005 sagte Erdogan sogar, Antisemitismus sei "das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit". An dem Tag bekam Erdogan einen Preis verliehen von der jüdischen Anti-Defamation-League. Er nahm ihn stellvertretend entgegen für die türkischen Diplomaten, die während des Holocausts vielen europäischen Juden die Ausreise in die Türkei ermöglichten und ihnen damit das Leben retteten.

Die türkische Regierung erzählt gerne von der Türkei als Exil für verfolgte Juden. Es ist eine stolze Tradition, sie geht zurück bis aufs Jahr 1492. Damals flohen die Juden Spaniens vor Zwangskonvertierung und Tod - die meisten ins Reich der Osmanen. Sultan Beyazid hatte sie eingeladen. Noch heute leben mehr als 20 000 dieser aus Spanien stammenden Juden in Istanbul, Sephardim nennen sie sich. "Die Türkei war ein sicherer Zufluchtsort für alle Religionsgruppen seit dem 15. Jahrhundert", sagte Ahmet Davutoglu, Osmanenfan und Architekt von Erdogans Außenpolitik, während der israelischen Offensive im Gaza-Streifen: "Es gibt keinen einzigen Fall von Antisemitismus in der Türkei." Das ist die offizielle Regierungspropaganda. Die zunehmend hohl klingt.

Das Unbehagen in der jüdisch-türkischen Gemeinde wächst. Und auch wenn keiner hier den Premier des Antisemitismus bezichtigen würde, gibt es doch die Angst, dass die anti-israelischen Ausfälle Erdogans eine Stimmung schaffen, in der sich Antisemiten ermutigt fühlen. Immerhin hat Erdogan Schimon Peres "Kindermörder" genannt. "Der Wutanfall von Erdogan in Davos ist Öl ins Feuer des wachsenden Antisemitismus in der Türkei", glaubt David A. Harris, Direktor des American Jewish Committee (AJC). Antiisraelische Demonstrationen in der Türkei waren während Israels Gaza-Offensive so groß und so zornig wie nie zuvor. Zeitgleich mit Erdogans Auftritt in Davos lief auf einem kleinen Kabelsender eine "Dokumentation" mit dem Titel: "Zwischen Hitler und den Juden gibt es keinen Unterschied": Bilder aus Konzentrationslagern neben Bildern aus dem Gaza-Streifen. In der Stadt Eskisehir trat der "Osmangazi-Kulturverein" vor die Presse mit Plakaten: "Durch diese Tür dürfen keine Juden und Armenier / Eintritt nur für Hunde".

"Heute ist in mir etwas zerbrochen", hatte letzte Woche die Autorin Leyla Navaro, eine Istanbuler Jüdin in der liberalen Radikal geschrieben - nach einer Rede Erdogans, in der dieser die türkischen Juden indirekt für das Geschehen in Israel mit verantwortlich zu machen schien: "Ich bin besorgt, traurig und habe Angst um mich selbst und um die Zukunft meines Landes, das mehr und mehr rassistisch wird". Immerhin: Nach Erscheinen des Artikels meldete sich Staatspräsident Abdullah Gül bei ihr, um ihr den Rückhalt des Staates zu versichern.

Die Türkei hatte eigentlich nie eine starke antisemitische Tradition. Schikanen wie die Verschickung in Arbeitslager in den 1920er Jahren trafen Juden, Griechen und Armenier gleichermaßen. Antijüdische Stimmungsmache wurde jedoch stärker während der Karriere des Islamistenführers Necmettin Erbakan in den neunziger Jahren; 2003 dann sprengten sich Al-Qaida-Attentäter vor zwei Istanbuler Synagogen in die Luft. Außerdem erschienen Bücher über die "Sabbataisten" - vor Jahrhunderten zum Islam bekehrte Juden, die angeblich nie ihr Judentum aufgegeben hatten. Noch heute werden regelmäßig Politiker oder Generalstabschefs von obskuren Autoren als "Kryptojuden" entlarvt. Auch Tayyip Erdogan und seine Frau Emine selbst hatten schon die Ehre ("Die Kinder Moses'" heißt der Bestseller).

Der Staat pflegte schon während des Kalten Krieges gute Beziehungen zu Israel, 1996 schlossen beide Länder einen Militärvertrag. Die Armee war die treibende Kraft, aber auch die Regierung weiß, was sie an Israel hat: Seit Jahren steht die jüdische Lobby in Washington auf der Seite der Türkei, wenn es um Dinge geht wie eine mögliche Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch den US-Kongress. Das AJC erinnerte Erdogan am Freitag daran, dass sein Land stets "die Unterstützung der amerikanischen Juden" genossen habe. Aber nun könne man nicht länger schweigen.

Im 15. Jahrhundert nahmen die Osmanen jüdische Flüchtlinge auf

Nach den Angriffen Israels auf den Gaza-Streifen hatten Türken vor der israelischen Botschaft in Ankara demonstriert und einen Davidstern verbrannt. Juden beklagen einen zunehmenden Antisemitismus. Foto: Reuters

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Aktuelles Lexikon

Lotto

Wer sein Glück im Spiel versucht, begibt sich in die Hände der Göttin Fortuna - auch sie bedient sich ähnlich wie die Lottofee im Fernsehen eines Glücksrades. Eine ganze Nation fiebert zwei Mal in der Woche mit, wenn Fortuna gefragt ist und beim Spiel "6 aus 49" die Kugeln zieht. Frühe Formen des Glücksspiels gab es schon vor 4000 Jahren; das Britische Museum in London verfügt mit dem "Royal game of Ur" über das erste bekannte Würfelspiel der Kulturgeschichte. Das Lottospiel, wie es heute praktiziert wird, hat vermutlich im italienischen Genua seine Wurzeln: Im 15. Jahrhundert - die reiche Handelsstadt am Mittelmeer befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht - wurden Ratsmitglieder per Los ermittelt. 90 ehrbare Bürger konnten Zettel mit ihrem Namen einreichen, aus einem Topf zog man dann die fünf Mitglieder des höchsten Gremiums. Bald begannen die zahlenverliebten Genueser, Wetten auf die Namen der ausgelosten Ratsmitglieder abzuschließen, ein politisches Glücksspiel, das von Profis organisiert wurde und wenig später zum hoheitlichen Monopol wurde: Die Herrschenden bemächtigten sich Fortunas und wirtschafteten künftig in die eigene Tasche. Lotto wurde zur staatlichen Einnahmequelle. Das Wort Lotterie kommt übrigens nicht aus dem Italienischen, sondern leitet sich ab vom niederländischen loterij - das Geschäft mit den Zahlen eroberte rasch ganz Europa. chrm

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Sarkozy rächt sich für Pfiffe

Paris - Der französische Präsident war außer sich. Vor einer Schulklasse in dem Städtchen Saint-Lô in der Normandie hatte er alle Mühe, halbwegs Haltung zu bewahren. Während Nicolas Sarkozy zu Lehrern, Kindern und einigen Notabeln sprach, drangen von draußen die Sprechchöre der Demonstranten an sein Ohr. Schüler und Gewerkschafter protestierten lautstark gegen die Politik der Regierung im Allgemeinen und gegen den Präsidenten im Besonderen. Es war der 12. Januar, die Provinzstadt war von Mitarbeitern des Elysée-Palastes auserwählt, weil sie sich hier einen beschaulichen Vormittag für den Präsidenten versprochen hatten. Dass daraus nichts wurde, dafür muss nun, wenige Wochen später der Präfekt des Départements Manche, Jean Charbonniaud, büßen. Der Beamte, der den Job erst sechs Monate zuvor angetreten hatte, wurde auf Druck des Elysée-Teams auf einen unbedeutenden Posten in der Verwaltung der Hauptstadt versetzt. Abgeschoben wurde auch Philippe Bourgade, der örtliche Polizeichef, der künftig eine Polizeischule in Neukaledonien leiten darf.

"Es war nicht viel passiert", sagte der Polizeichef am Donnerstag, "außer dass der Präsident die Pfiffe der Demonstranten hörte". Nach Meinung aller Beteiligten war die Sicherheit Sarkozys zu keinem Moment gefährdet. Die Demonstranten waren von der Polizei in etwa 200 Metern Entfernung gehalten worden. Als Alternative wäre nur eine Sperrung des Ortskerns denkbar gewesen.

"Wie ein Fürst"

Während Elysée-Sprecher die Versetzungen als normal hinstellen, geht die Emp rung bis weit in die Reihen der UMP, Sarkozys eigener Partei. Für Philippe Gosselin, den UMP-Abgeordneten des Départements Manche, benimmt sich Sarkozy "wie ein Fürst", die Versetzungen seien "einfach ungerecht". Der Senator und Fraktionschef im Regionalparlament, Jean-François Legrand, ebenfalls ein Parteifreund Sarkozys, findet es "skandalös", dass ein Repräsentant des Staates "wie ein Taschentuch benutzt wird". Dies sei "ein Gehabe aus einer anderen Zeit und politisch völlig kontraproduktiv". Im Übrigen sei Charbonniaud "ein sehr guter Präfekt gewesen".

Es war nicht das erste Mal, dass Sarkozy selbstherrlich Strafversetzungen anordnen ließ. Voriges Jahr traf den Polizeichef von Korsika der Bannstrahl des Präsidenten, weil er es nicht verhindert hatte, dass Demonstranten das Grundstück des Schauspielers Christian Clavier betraten. Clavier ist ein guter Freund von Sarkozy. Gerd Kröncke

Sarkozy, Nicolas: Angriffe Sarkozy, Nicolas: Image SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Viren müssen draußen bleiben

Wie man seinen Computer mit einfachen Mitteln gegen Attacken aus dem Internet schützt

Waren Viren-Programmierer früher geltungssüchtige Technik-Freaks, sind sie heute eher skrupellose Dienstleister. Und machten die Viren vor Jahren noch lautstark auf eine erfolgreiche Infektion aufmerksam, gehen sie inzwischen still und leise vor. Gefährdet ist jeder, der im Internet surft. Die Angreifer entscheiden hinterher in Ruhe, ob die Beute für sie einen Wert hat. Schlecht oder gar nicht geschützte Rechner werden aber auch zu Spam-Schleudern umfunktioniert. Wie aber sichert man seinen Computer kostengünstig und dennoch effektiv gegen diese Attacken?

Schadprogramme finden ihren Weg längst nicht mehr nur per E-Mail auf die Rechner. Der größte Teil wird inzwischen ohne Zutun des Anwenders von legitimen Internetseiten verteilt - ohne Wissen der Betreiber. Darunter sind mitunter so bekannte wie cnn.com oder soziale Netzwerke wie Facebook.

Die Internetgauner nutzen Sicherheitslücken dieser Webseiten aus; schon die Seite im Browser aufzurufen, kann ausreichen, den eigenen PC zu infizieren. Diese sogenannten Drive-by-Downloads funktionieren, weil die Angreifer Lücken in Browsern wie Internet Explorer oder Firefox ausnutzen. Virenscanner sind oft machtlos, da die Schädlinge unter dem Radar der Virenwächter einfliegen. Bis deren Hersteller ihren Programmen das Wissen über neue Schadsoftware mit auf den Weg geben, vergehen Stunden, manchmal sogar Tage. Zeit genug, um einige tausend PCs zu verseuchen.

Oftmals sind die ausgenutzten Lücken schon seit Monaten bekannt, vielen PC-Besitzer sind entsprechende Warnhinweise aber einfach nur lästig. Dabei machen es gerade Windows XP und Windows Vista ihren Nutzern dank automatischer Updates einfach, immer auf dem aktuellen Stand zu bleiben.

Aber Virenprogrammierer nutzen häufig auch andere Programme als Einfallstor. Damit auch alle anderen installierten Programme sicher bleiben, empfiehlt sich die Installation der Gratis-Software Secunia PSI. Sie prüft regelmäßig den Stand aller installierten Anwendungen und meldet veraltete und damit potentiell angreifbare Versionen.

Wer manipulierten Webseiten keine Gelegenheit geben will, nach Schwachstellen auf dem heimischen PC zu suchen, muss seinem Internet-Browser verbieten, kleine Programme, die sich auf Webseiten finden, automatisch zu verarbeiten. Sogenannte Java Scripts sind das Allzweckwerkzeug von Web-Designern. Wenn sich etwas im Browserfenster dreht oder bewegt, steckt meistens Java Script dahinter. Leider gilt das auch für Angriffe. Keine bekannte Browser-Attacke würde wohl ohne Java Script funktionieren, ist sich Magnus Kalkuhl, Experte für Schadsoftware des Antivirensoftware-Herstellers Kaspersky, sicher.

Hier setzt die Erweiterung No Script für den Browser Firefox an. No Script blockiert automatisch alle aktiven Inhalte wie Java Script oder Flash-Animationen. Weil aber kaum eine Webseite ohne Java Script oder Flash funktioniert, muss der Anwender explizit per Mausklick zustimmen, welche Webseiten Java Script & Co. vom Browser abarbeiten lassen dürfen. Weitaus weniger Handarbeit erfordern zwei andere Hilfsprogramme, die in keiner Werkzeugsammlung fehlen sollen. Die kostenlosen Programme AdAware und Spybot entfernen nicht Viren, dafür aber lästige Software, die Werbefenster aufspringen lässt oder Informationen über das Surfverhalten weitermeldet. Beide sollten einmal pro Woche die komplette Festplatte untersuchen.

Zur Grundausstattung beim sicheren Surfen geh ren außerdem ein Virenscanner mit aktuellen Virendefinitionen. Viele PCs haben zwar eine Antivirensoftware, ihre Besitzer aktualisieren sie aber nicht. Außerdem muss der Firewall, ein Schutz gegen unbefugtes Eindringen von außen, eingeschaltet sein. Der bei Windows von XP mitgelieferte Firewall schottet den PC zwar nur für Zugriffe von außen ab, doch das reicht in den meisten Fällen auch aus.

Vor sorglosen Benutzern schützt indessen auch die beste Software nicht. Um umsichtig reagieren zu können, muss ein Anwender aber potentiell gefährliche Situationen erst einmal als solche erkennen. Eine Hilfestellung hierfür bietet Microsofts Internet Risk Behaviour Index, kurz Irbi, der in Form einer Testsimulation potentiell gefährliche Situationen aus dem Alltag eines Websurfers nachstellt. Irbi zeigt, welche Risiken auch vermeintlich harmlose Szenarien bergen können. Leider muss man dafür Microsofts Anzeigesoftware Silverlight installieren und sich anmelden. Der Testparcours kann aber dennoch die Augen öffnen für die typischen Fallen des Netzes. Uli Ries

Abwehr: Computer- gauner bedrohen Internetnutzer, Schutz muss aber nicht teuer sein. Illustration: S. Dimitrov

Datensicherheit im Internet Computerviren SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Späte Zweifel

Tony Blair fragt sich, ob der Irak-Krieg richtig war

London - Der frühere britische Premierminister Tony Blair hat erstmals Zweifel daran geäußert, dass die Teilnahme seines Landes am Irak-Krieg richtig war. In einem Interview mit dem Wochenendmagazin der Times, das auszugsweise vorab veröffentlicht wurde, räumte Blair ein, unsicher zu sein, ob er damals richtig entschieden habe. "Natürlich stellt man sich die ganze Zeit diese Frage", sagte Blair. "Man wäre doch selbst ein bisschen merkwürdig, wenn man das nicht täte." Die Entscheidung, Großbritannien an der Seite der USA in den Irak zu führen, verfolge ihn nicht bis in den Schlaf, aber "natürlich denke ich darüber nach, sie plagt mich, und ich empfinde deshalb ein großes Gefühl der Verantwortung".

Keine andere Entscheidung hat das Bild Blairs in der britischen Öffentlichkeit mehr beschädigt als der Einmarsch im Irak. Er verwandelte den beliebtesten Premierminister der Nachkriegszeit in kurzer Zeit in einen der unpopulärsten. Bis heute hat die Regierung sich geweigert, die Protokolle der Kabinettssitzungen des Jahres 2003 freizugeben, in denen der Krieg debattiert wurde. Erst jetzt wurde Premierminister Gordon Brown gerichtlich dazu aufgefordert, diese Informationen preiszugeben.

Viele Briten hegten Zweifel an der Aufrichtigkeit von Blairs Motiven bei der Irak-Entscheidung, schnell machte der Spottname "Bliar" machte die Runde: Blair, der Lügner. Im Times-Gespräch gibt er zu, es sei unangenehm, wenn die Bürger ihn der Lüge ziehen. Ob er, so wie der ehemalige US-Präsident George Bush, ebenfalls erwarte, dass ihm später im historischen Rückblick recht gegeben werde? "Ich weiß es nicht", erwiderte Blair. "Das weiß niemand." Ähnlich wie Bush beschäftigt aber auch Blair das Schicksal der Soldaten, die er in den Krieg geschickt hatte. "Das schwierigste ist das Verantwortungsgefühl für Menschen, die ihr Leben geopfert haben und gefallen sind - die Soldaten und die Zivilisten", sagte Blair. "Wenn ich das nicht fühlen würde, dann würde mit mir wirklich etwas nicht stimmen, und es gibt keinen einzigen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht darüber nachdenken würde . . . oft. Und das muss auch so sein."

Zugleich aber ließ Blair, der heute die USA, die UN, die EU und Russland als Nahost-Emissär vertritt, keinen Zweifel daran, dass der Sturz des irakischen Despoten Saddam Hussein auch positive Folgen für den Irak und seine Bürger gehabt habe. Wolfgang Koydl

Blair, Tony: Zitate Britische Beteiligung an zweitem US-Irak-Krieg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Deutschen sparen am Urlaub

Wirtschaftskrisen haben die Bundesbürger schon etliche erlebt, aber eines ließen sie sich nie vermiesen: ihren Urlaub. Etwa 60 Milliarden Euro jährlich gaben die Deutschen zuletzt aus, um die Ferien im Ausland zu verbringen. Nun geht in der Touristikbranche die Angst um, dass die Umsätze in diesem Jahr empfindlich leiden könnten, weil die Menschen größere Ausgaben scheuen. Gewinnen könnten hiesige Urlaubsorte.

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Die graue Normalität der Revolution

In Iran herrschen die Mullahs nun seit 30 Jahren - und sitzen trotz vieler innenpolitischer Probleme fest im Sattel

Von Rudolph Chimelli

Paris - Zehn Tage lang wird Iran den 30. Jahrestag der islamischen Revolution feiern. Das Jubiläum an diesem Samstag ist für die von Alltagsproblemen geplagten Iraner Routine geworden, kein Freudenfest wie das persische Neujahr zum Frühlingsbeginn am 21. März. Es werden die üblichen Reden gehalten. In 60 Metro-Stationen Teherans werden mit moderner Bluetooth-Technik permanent Botschaften zu revolutionären Themen ausgestrahlt. Ein neues Museum wird eröffnet, das der jungen Generation die heroischen Zeiten des Umsturzes, als ein ganzes Volk vorübergehend in Euphorie schwebte, nahebringen sollen. Auch über ein großes Revolutionsmonument wollen die Verantwortlichen endlich nachdenken.

Doch zwei Drittel der Iraner sind jünger als 30 Jahre. Sie kennen die Zeit der Monarchie nur vom Hörensagen, haben keine von Nostalgie verklärten Erinnerungen und keine Sehnsucht nach Wiederkehr der Vergangenheit. Sogar die alten Namen der Teheraner Hauptstraßen sind in Vergessenheit geraten. Auch für das Regime empfindet die große Mehrheit der Jungen keine Sympathien. Nur die wenigsten trauen der geistlichen Obrigkeit zu, dass sie ihnen für die Zukunft etwas zu bieten hat. Schöne Worte und Moralpredigten können Arbeitsplätze und ein erfülltes Leben nicht ersetzen.

Dennoch ist die Nuklear-Industrie wie die atomwaffenfähigen Raketen oder das Satelliten-Programm ein Zeichen dafür, dass Iran während der letzten Jahrzehnte nicht stehengeblieben ist. Die Infrastruktur wurde enorm ausgebaut. Fast alle Dörfer sind elektrifiziert sowie durch Straßen und Telefon mit den Städten verbunden. Die Landwirtschaft, unter dem Schah schwer vernachlässigt, ist produktiv geworden. Mehr als eine Million Autos im Jahr werden im Land gebaut. Unter den Jungen gibt es so gut wie keine Analphabeten mehr. An den Hochschulen studieren mehr junge Frauen als junge Männer.

Zu den vielen unbewältigten Problemen gehören aber neben Bürokratie und chronischer Korruption die fortschreitende Umweltzerstörung und die Bevölkerungsexplosion. Als der Schah ging, mussten von den Erdölerlösen 38 Millionen Iraner leben. Jetzt sind es fast doppelt so viele, und der Ölpreis ist als Folge der weltweiten Krise in die Tiefe gestürzt. Die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter steigen rapid, die Kluft zwischen steinreich und elend arm wird ständig größer. Zunehmende Rauschgiftsucht ist wie die verdeckte, aber verbreitete Prostitution ein Symptom gesellschaftlichen Zerfalls. Längst haben die meisten Iraner den Rückzug ins Private vollzogen. Die Islamische Republik, draußen vor der Tür, ist graue Normalität.

Damals, vor 30 Jahren, musste das Flugzeug des Revolutionsführers Ayatollah Chomeini, der aus langem Exil heimkehrte, eine halbe Stunde in der Luft kreisen. Als er endlich gelandet war, brauchte seine Autokolonne Stunden, um sich den Weg durch die Millionen Jubelnden zu bahnen. "Imam amad" - der Imam ist gekommen - schrieben die Zeitungen in 20 Zentimeter hohen Überschriften. "Schah raft" - der Schah ist weg - hatten sie zwei Wochen zuvor genauso groß verkündet, als der Herrscher das Land verlassen hatte. Einen historischen Augenblick lang waren gläubige Muslime, bürgerliche Liberale, linke Revoluzzer und die unpolitische Masse ein einig Volk von Brüdern.

Heute tun sich Chomeinis Nachfolger schwer mit diesem Erbe. Keiner von ihnen hat das Charisma des Revolutionsführers, schon gar nicht dessen Nachfolger Ayatollah Ali Chamenei. Über den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs sind Konservative, Radikale und Reformer tief zerstritten. Dennoch ist das Regime, das eigentlich einen Gottesstaat schaffen wollte, nicht akut gefährdet. Eine organisierte innere Opposition gibt es nicht. Dafür sorgen Geheimpolizei, Zensur sowie das Heer der kleinen Spitzel und Schläger aus der Millionen-Organisation der Bassidsch. Noch bestimmender für die Stabilität ist die allgemeine Lethargie. Keiner wünscht sich eine zweite Revolution, denn niemand glaubt nach den Enttäuschungen und Misserfolgen der ersten, dass dadurch irgendetwas besser werden könnte. Die Unzufriedenheit macht sich gelegentlich durch Streiks und örtliche Krawalle Luft, aber zu systematischer Konfrontation sind nur wenige bereit.

Geduldet, aber ohne Einfluss auf politische Entscheidungen, ist die kleine Freiheitspartei. Sie beruft sich auf das Erbe des demokratisch gewählten bürgerlichen Nationalisten Mohammed Mossadegh, der 1953 als Ministerpräsident durch einen CIA-Putsch gestürzt wurde. Unmittelbar nach der Revolution hatte die Partei den ersten Regierungschef Mehdi Basargan gestellt.

Oppositionsgruppen im Ausland haben im Lande praktisch keine Basis mehr. Kein ausländischer Diplomat, Geschäftsmann, Journalist mit ständigen Kontakt zu Iranern kennt jemanden, der für die Volks-Mudschahedin wäre. Sie haben sich während des Krieges mit dem Irak durch ihre Parteinahme für Saddam Hussein diskreditiert. Dass die EU sie nicht mehr als Terroristen ansieht, ändert daran nichts. Monarchistische Fernsehsender in Kalifornien genießen wegen westlicher Pop-Musik und Go-go-Girls immer noch einen gewissen Unterhaltungswert, aber ihre Einschaltquoten gehen zurück.

Die schärfsten äußeren Feinde, das Baath-Regime Saddam Husseins im Irak und die Taliban in Afghanistan, haben paradoxerweise den Ayatollahs die Amerikaner vom Hals geschafft. An der arabischen Golf-Küste, im Irak, der Türkei, Aserbaidschan, Zentralasien, Afghanistan und Pakistan sind die USA militärisch präsent. Die Iraner fühlen sich eingekreist, aber nicht unmittelbar gefährdet. Amerikanische Drohungen mit Luftangriffen auf iranische Atom-Anlagen und andere strategische Ziele sind abgeflaut. Sie wirken nicht mehr glaubhaft, zumal die weltweite Krise durch einen weiteren Krieg im Nahen Osten zur Katastrophe würde. Israelische Attacken im Alleingang wären durch die Solidarisierung der Iraner eher stabilisierend für das Regime als existenzgefährdend. Was vor allem den arabischen Nachbarn Sorgen bereitet, der Aufstieg der Islamischen Republik zur regionalen Vormacht, ist für Iraner ein Grund zu nationalem Stolz.

In ihrem 31. Jahr wird die Republik einen neuen Präsidenten wählen. Mahmud Ahmadinedschad tritt abermals an. Seine erste vierjährige Herrschaft ist mit vielen Hypotheken belastet. Nicht nur Gegner des Systems, sondern auch pragmatische Konservative lasten ihm an, dass er dem Land durch seine Provokationen unnötig Feinde gemacht hat. Gegen den Widerstand der klerikalen Honorationen, die das Land zweieinhalb Jahrzehnte lang dirigiert hatten, schuf er sich seinen eigenen Machtapparat. Er rekrutiert seine Vertrauensleute aus den Kriegskameraden des Korps der Pasdaran. Sie sind Minister, Provinzgouverneure, Abgeordnete. Überall im Staatsapparat sitzt eine neue Generation an den Schalthebeln. Sie trägt keine Turbane, hat meist technische Fächer studiert, ist nicht reich - und hört auf Ahmadinedschad.

Des Präsidenten größte Schwäche ist die Misswirtschaft. Um sein Fußvolk zufriedenzustellen, gibt er das Geld mit vollen Händen für Prämien und allerlei Vergünstigungen aus. Der Erfüllung seines Wahlversprechens, er werde die Erdöleinnahmen aus den Taschen der Profiteure auf die Speisetische der Armen umleiten, kam er wegen galoppierender Teuerung nicht näher.

Im Jahre 2000 war unter Ahmadinedschads Vorgänger, dem Reform-Präsidenten Mohammed Chatami, der sogenannte Öl-Stabilisierungs-Fonds geschaffen worden. Er ist dazu bestimmt, in Jahren mit hohen Erdölerlösen Finanzreserven für magere Jahre anzulegen. Schon in seinen ersten zwei Amtsjahren zog Ahmadinedschad aus dem Fonds 63 Milliarden Dollar ab, obwohl die Ölpreise selten so hoch waren wie zu jener Zeit. Nun, da Petroleum billiger wird, droht der Fonds zu versiegen.

Immer wieder hatten Skeptiker, Spötter und Feinde der Islamischen Republik den baldigen Zusammenbruch vorhergesagt. Die erste revolutionäre Herrschaft der Neuzeit, welche die Französische Revolution von 1789 hervorbrachte, währte nur ein gutes Jahrzehnt bis sie von Napoleon beendet wurde. Für sieben Jahrzehnte etablierten die Kommunisten nach der Oktoberrevolution ihre Macht. Pseudo-Revolutionen wie Benito Mussolinis Marsch auf Rom oder der "nationale Umbruch" der Nazis brachten es nur auf 23, beziehungsweise zwölf Jahre. Im historischen Vergleich sieht die islamische Revolution recht haltbar aus.

Chomeini brauchte Stunden für seinen Weg durch die Millionen Jubelnden.

Finanzreserven aus dem Erdöl-Fonds sind weitgehend verbraucht.

Grauer Alltag unter den Ayatollahs: Den meisten Iranern bedeutet die Revolution von Ruhollah Chomeini (links) und Ali Chamenei wenig. Sie haben sich in die innere Emigration begeben. Paolo Pellegrin/Magnum Photos/Agentur Focus

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Wochenchronik vom 24. bis 30. Januar

Obama setzt Reformkurs fort

Auch in seiner zweiten Woche als US-Präsident hat Barack Obama seinen Reformkurs fortgesetzt. Dem arabischsprachigen Fernsehsender Al-Arabija gab Obama am 26. Januar das erste Interview seiner Amtszeit. Darin trat er für einen respektvollen Dialog zwischen Amerika und der Arabischen Welt ein. In der Klimapolitik wies er seine Umweltbehörde an, ein 2007 erlassenes Verbot zu überprüfen, das 14 Bundesstaaten strengere Abgasnormen untersagt hatte. Am 29. Januar setzte Obama vor dem Repräsentantenhaus sein Konjunkturprogramm in Höhe von 630 Milliarden Euro durch.

Papst empört Juden

Papst Benedikt XVI. hat am 24. Januar die Exkommunikation von vier Bischöfen der ultrakonservativen Pius-Priesterbruderschaft aufgehoben, unter ihnen der britische Holocaust-Leugner Richard Williamson. Vertreter der Kirche distanzierten sich zwar von dessen Äußerungen, verteidigten aber die Entscheidung als "Geste des Friedens". Der Zentralrat der Juden in Deutschland kündigte am 29. Januar an, momentan nicht mehr mit der Katholischen Kirche zu sprechen.

Islands Regierung zerbricht

Islands Regierung ist am 26. Januar an den Folgen der Finanzkrise zerbrochen. Der Staatspräsident beauftragte die Sozialdemokratin Johanna Sigurdardottir mit der Bildung einer Übergangsregierung. Sie soll den drohenden Staatsbankrott abwenden.

Wirtschaftsgipfel in Davos

2500 Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft haben auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum nach Lösungen für die weltweite Wirtschaftskrise gesucht. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin warnte bei der Eröffnung am 28. Januar vor zu viel Protektionismus.

Wieder mehr Arbeitslose

Mit 387 000 Arbeitslosen mehr als im Dezember ist die am 29. Januar veröffentlichte Arbeitslosenquote in Deutschland so stark angestiegen wie seit mehr als sechs Jahren nicht mehr. Experten machten einen harten Winter und die Folgen der Wirtschaftskrise verantwortlich.

Schaeffler will Staatshilfe

Der fränkische Automobilzulieferer Schaeffler hat - wie am 25. Januar bekannt wurde - die Bundesregierung um Hilfe in Höhe von vier Milliarden Euro gebeten. Die Firmengruppe der Milliardärin Maria-Elisabeth Schaeffler mit 200 000 Beschäftigten droht an den Schulden zu zerbrechen, die bei der Übernahme der Continental AG entstanden waren.

Warnstreiks bei der Bahn

400 Mitarbeiter der Deutschen Bahn haben am 29. Januar mit einem Warnstreik ihrer Forderung nach einer zehnprozentigen Lohnerhöhung Druck verliehen. Die Gewerkschaften Transnet und GDBA lehnten am 30. Januar in Verhandlungen mit Bahn-Vorstand Norbert Hansen ein erstes Angebot der Bahn ab.

John Updike gestorben

Der amerikanische Autor John Updike ist am 27. Januar im Alter von 76 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Der zweifache Pulitzerpreisträger schrieb über 20 Romane. Obwohl er lange als Kandidat für einen Nobelpreis gehandelt wurde, blieb ihm dieser verwehrt. kari

Der russische Premier Wladimir Putin hat beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor zu starken Staatseingriffen in der Finanzkrise gewarnt. "Im 20. Jahrhundert machte die Sowjetunion die Rolle des Staates absolut. Diese Lektion haben wir teuer bezahlt", sagte er. Reuters

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Außenansicht

Ein König in Lumpen

Präsident Hamid Karzai und seine Regierung sind ein Unglück für Afghanistan

Von Rupert Neudeck

In Herat wurde vor kurzem ein Deutsch-Afghane entführt, der aus Hamburg gekommen war, um hier in verarbeitende Betriebe der Landwirtschaft zu investieren. Die Entführungsgangs in Afghanistan verlangten erst eine halbe Million US-Dollar und nach ein paar Tagen als Anzahlung 40 000 Dollar, damit er nicht ermordet werde. Da die Verwandtschaft des Entführten jedoch nur insgesamt 50 000 US Dollar beibrachte, wurde er nach 17 Tagen Gefangenschaft kaltblütig erschossen.

Die Regierung Karzai kann niemanden im Lande schützen. Die Entführungs- und Diebstahlkriminalität hat in einem Maße zugenommen, dass sich die Afghanen womöglich schon bald wieder nach einem Recht- und Ordnungsregime à la Taliban sehnen. Wie schon 1996, als es ihnen nach vier Jahren Bürgerkrieg schon einmal reichte. Ich habe mich lange gegen die Einsicht gewehrt, dass Karzai und sein System für Afghanistan ein Unglück sind. Nach dem Petersberg-Abkommen vom November 2001 war ich eher begeistert für Karzai. Er betrieb als Paschtune die Versöhnung innerhalb seiner Ethnie, er befriedete die Tadschiken, als er zum Grab des tadschikischen Nationalhelden Schah Ahmed Massoud zog, um diesem seine Reverenz zu erweisen.

Die Instinktlosigkeit dieses Präsidenten begann am 2. Juli 2002. Da teilte sein Sprecher mit, 50 amerikanische Soldaten hätten als Bodyguards den Schutz des afghanischen Präsidenten übernommen. Monate später erlebten wir den Gouverneur von Herat, Ismael Khan, der noch beim Erzählen bebte: Er sei von deutschen Soldaten am Eingang zum Zelt der Loya Jirga, der großen Volksversammlung in Kabul, angehalten worden, die ihn filzen wollten. Da wurde der große Widerstandskämpfer um einen Kopf größer und sagte: "In meinem Land kontrolliert mich kein fremder Soldat!"Sieben Jahre danach steht der afghanische Präsident wie ein König in Lumpen und ohne Land da. Um die Macht zu erhalten, verfällt er von einer unausgegorenen Idee auf die nächste. Im vergangenen November hielt er eine Ansprache an seinen "Bruder Mullah Omar", den Führer der Taliban, bot ihm Verhandlungen an. Er würde in dem Fall als Präsident dessen Sicherheit garantieren. Hohnlachend quittierte die Gruppe um Mullah Omar diese Erklärung. Nicht sie, der Präsident habe doch Sicherheitsprobleme. Seit die ganze Welt mitbekommen hat, wie die Soldaten der afghanischen Armee bei einem nationalen Gedenktag Hals über Kopf das Weite suchten, als von irgendwoher geschossen wurde, weiß jeder, dass Karzai sich auf seine Armee so wenig verlassen kann wie auf seine Polizei.

Der Fisch stinkt auch hier vom Kopf. Jetzt wissen auch die Amerikaner (über die New York Times), dass der Bruder des Präsidenten, Ahmad Wali Karzai, ein prominenter Opiumgewinnler ist. Ahmad Wali Karzai ist der Chef des Provinzrats von Kandahar. Ein zweiter Bruder hat sich die einzige afghanische Zementfabrik in Pul i Kumri unter schrägen Bedingungen unter den Nagel gerissen. Gleichzeitig wurde bekannt, dass dieser Bruder auch noch große Mengen von Land konfisziert hat, die dem afghanischen Staat gehören. Ein dritter Bruder, Jamil Karzai, ist jüngst in Kabul ins Gerede gekommen. Sein Auto stieß in Kabul mit einem Taxi zusammen, er fuhr einfach weiter. Fünf Personen starben.

Diese Regierung hat so gut wie nichts getan, die Menschen in den Dörfern beklagen sich: Nichts hätten sie bisher von den Milliarden gesehen, die für den Wiederaufbau Afghanistans bereitgestellt wurden: weder für Schulen noch für industrielle Betriebe. Schnell begannen die Minister sich einzudecken, weil sie ja nicht wussten, wie lange es auf ihren Positionen noch gutgehen würde. Die Regierung hätte 2002 ein großes Programm zur Aufnahme der Flüchtlinge aus den Lagern Pakistans, Irans und Tadschikistans organisieren müssen. Sie hätte so die Menschen in ihre Herkunftsdörfer zurückführen sollen. Damit hat die Regierung nicht einmal angefangen. Sie hätte diese Rückkehrer von den großen Städten fernhalten und dem UN-Flüchtlingskommissariat verbieten müssen, schon wieder Lager einzurichten. Sie hätte die Infrastruktur aufbauen, Investitionen begünstigen müssen überall im Land, besonders für indische, iranische, chinesische oder deutsche Investoren. Das alles hat die Regierung Karzai nicht gemacht. Die Minister sind bis auf eine Ausnahme (Wirtschaftsminister Mohammed Shams) alle korrupt, sie sorgen für ihren Wohlstand und den ihrer Großfamilien. Die Regierung hat alle Aufgaben den UN-Organisationen und den Nichtregierungsorgansiationen überlassen und Souveränität nur als die Möglichkeit verstanden, diese Organisationen zu behindern. Selten habe ich in 30 Jahren humanitärer Arbeit eine arrogantere Regierung erlebt. Der Mitarbeiter unserer Organisation "Grünhelme"hat, wenn es um die Registrierung in Kabul ging, schon acht Tage auf den Fluren von drei Ministerien warten müssen. Warum? Er war nicht bereit, einfach zu zahlen.

Bis zu 2,7 Millionen Afghanen sollen sich illegal im Iran aufhalten, weil die Regierung nichts für die Ankurbelung der Wirtschaft getan hat. Sie hat es nicht mal geschafft, mit dem Geld der Geberkonferenzen einen großen Flughafen im Lande so herzurichten, dass die Fluglinien der Welt ihn hätten anfliegen können. Die afghanischen Exilanten wären zu Zehntausenden gekommen und hätten investiert.

Das Land ist zur Inkarnation eines gescheiterten Staates geworden. Seit Mitte der sechziger Jahre gab es sieben Systemwechsel:1974 - Republik, der König nach Rom verjagt. 1978 - Kommunistischer Putsch. 1979 - sowjetische Besatzung. 1989 - parakommunistische Republik. 1996 - Taliban-Regime. 2002 - Republik auf der Basis des Petersberger Abkommens. Drei Präsidenten wurden ermordet, es gab zwei große Militärinvasionen, es gibt heute einen chronischen Bürgerkrieg, der das Land zerreißt. Nachdem Afghanistan Schauplatz für die Schlussphase des Kalten Krieges war, ist es jetzt der Boden für den Krieg gegen den Terror. Alle Töne, die Nato-Vertreter spucken, klingen so ähnlich wie die des Generals Westmoreland, der 1968 meinte, der Vietnam-Krieg wäre zu gewinnen, wenn die USA nur doppelt oder drei mal so viel Soldaten schicken. Afghanistan steht weiter vor der Aufgabe, zum ersten Mal in seiner Geschichte einen stabilen Staat aufzubauen. In den Dörfern fragten mich die Leute aus nach Barack Obama. Überall gibt es große Erwartungen. Man kann nur hoffen, Obama wird ganz anderes tun als bisher: Investieren und die Afghanen ernst nehmen.

Rupert Neudeck, 69, ist Vorsitzender der privaten Entwicklungshilfeorganisation "Grünhelme", die 27 Schulen in Afghanistan betreibt. Er war außerdem der Gründer von "Cap Anamur". Foto: ddp

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In der Warteschleife

Auch die Fluggesellschaften bekommen zu spüren, dass ihre Kunden nur sehr zurückhaltend teure Reisen buchen

Von Jens Flottau

Für die deutschen Ferienfluggesellschaften ist der Blick auf die aktuellen Buchungszahlen in diesen Tagen besonders spannend. Die Unternehmen haben den wirtschaftlichen Abschwung bislang nämlich nicht mit voller Wucht abbekommen, weil die Deutschen zumindest bis Ende letzten Jahres noch gerne reisten. Doch den Firmen dämmert, dass die nächsten Monate und vor allem der Sommer 2009 für sie furchtbar werden könnten.

Normalerweise buchen die Gäste jetzt schon ihre Sommerferien, doch die Veranstalter berichten von großer Zurückhaltung. Wenn es gut läuft, profitieren die Last-Minute-Veranstalter, aber die Kapazitätsplanung wird für die Airlines ein Albtraum. Sie wissen nicht, wie groß die Kontingente sein werden, die sie an ihre Großkunden verkaufen können.

Schon schwirren die wildesten Zahlen durch die Branche: Condor soll angeblich erwägen, mehrere Flugzeuge stillzulegen. Bei Tuifly steht womöglich gar ein Viertel der Flotte zur Disposition, allerdings nicht nur, weil die Konjunktur so schlecht läuft, sondern weil die Gesellschaft schon bisher hohe Verluste eingeflogen hat. Der Lufthansa-Billigableger Germanwings hat bereits sechs Maschinen abgegeben, die bald in Lufthansa-Italia-Farben in Mailand stationiert werden. Auch Air Berlin schließt solche Kürzungen nicht aus. Ein Unternehmenssprecher sagt, erst langsam werde erkennbar, wie der Markt sich entwickeln könnte. Brancheninsider berichten auch von einem Nord-Süd-Gefälle: An Standorten wie Stuttgart, an denen die Autoindustrie eine große Rolle spielt, seien die Kunden mit ihren Flugbuchungen besonders zurückhaltend. "Weiter nördlich geht's noch", so ein Experte.

Hoffnungen hegen immerhin die Billig- und Ferienflieger, dass die ganz große Katastrophe, Unternehmenspleiten inklusive, ihnen erspart bleiben könnte. Für Unternehmen wie Air Berlin, Germanwings und Easyjet, die durch ihr Streckennetz auch für Geschäftsreisende attraktiv sind, gibt es nicht nur schlechte Nachrichten. Weil die Arbeitgeber in diesen Zeiten streng auf die Reisebudgets achten, wechseln viele Passagiere von den im Durchschnitt teureren traditionellen Linienfluggesellschaften wie der Lufthansa oder Air-France-KLM zur preiswerteren Konkurrenz. So hatte Air Berlin bereits Ende September 2008 mit etwa 700 Unternehmen Firmenverträge geschlossen, in denen Preise und Bedingungen für Großkontingente ausgehandelt sind. Branchenkreisen zufolge waren es zum Jahreswechsel schon mehr als 800 Kontrakte.

Allerdings reicht der Zulauf höchstwahrscheinlich nicht dazu aus, aus den Ferien- und Billigfluggesellschaften Krisengewinnler zu machen: "Es gibt zwar diesen Effekt, aber die negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise überwiegen", so Jürgen Pieper, Analyst beim Bankhaus Metzler in Frankfurt.

Positiv dürften sich 2009 für alle Fluglinien aber die gefallenen Treibstoffpreise auswirken. Zwar konnten sich vor allem viele der kleineren Anbieter in den vergangenen Jahren - mangels finanzieller Möglichkeiten - nicht so stark durch Treibstoffsicherungsgeschäfte gegen die hohen Spritpreise absichern; sie mussten auch in der ersten Jahreshälfte 2008 extrem viel zahlen. Doch jetzt, da die Preise stark gefallen sind, macht sich dies umso positiver bemerkbar.

Selbst die traditionell gut abgesicherte Lufthansa erwartet, dass ihre Treibstoffkosten 2009 um rund zwei Milliarden Euro sinken werden. Im vergangenen Jahr hatte sie noch 5,7 Milliarden für Sprit ausgegeben. Ihr größter heimischer Konkurrent Air Berlin hat zwar noch keine genauen Zahlen ausgerechnet, kann aber auch deutlich geringere Kosten erwarten - immerhin ein willkommenes Polster gegen die Krise.

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Profiteur der Krise

Bayern wird wieder beliebter

Von Manfred Hummel

Dieter Ballwanz, Geschäftsführer und Eigentümer des 320-Betten-Hotels Riessersee in Garmisch-Partenkirchen, blickt optimistisch in die Zukunft. "Wir hatten den besten Dezember unserer Geschichte", sagt er, und auch der Januar laufe sehr gut. Alfons Oswald, Chef des gleichnamigen Wellness-Hotels in Kaikenried im Bayerischen Wald, sieht ebenfalls keinen Grund zur Klage - im Gegenteil: "Das Geschäft läuft hervorragend", freut sich der Hotelier, "auch im Januar liegen wir über den Prozentzahlen des Vorjahres."

Bayerische Tourismus- und Marketing-Leute sind dieser Tage auffällig guter Laune. Denn sie erwarten, dass ihnen die Wirtschaftskrise nicht schadet, sondern ihnen eher noch zusätzliche Gäste bescheren wird. "Der Trend geht zum erdgebundenen Tourismus", konstatiert fachmännisch Frank-Ulrich John vom bayerischen Hotel- und Gaststättenverband, "die Nordrhein-Westfalen fliegen nicht mehr nach Thailand, sondern fahren nach Bayern."

Ein günstiges Preis-Leistungs-Verhältnis mit Pauschalarrangements bewirke sogar, dass erstmals Gäste aus dem nahen Tirol und Südtirol zu Alfons Oswald in den Bayerischen Wald kämen und nicht wie früher nach Kitzbühel führen. Dabei bietet Oswald noch nicht einmal den klassischen Wintersport-Tourismus an, sondern setzt auf die "Landromantik- und Wellness-Schiene". Eine leicht steigende Tendenz bei den Anfragen registriert auch Georg Overs, Geschäftsführer der Tourismus-Gesellschaft Tegernseer Tal. Ein wenig Zurückhaltung sei noch bei den Tagungen zu verspüren, weil die Unternehmen kurzfristiger buchten als früher. Zudem gebe es die eine oder andere Absage, aber das Ganze spiele sich noch im "überraschend guten Bereich" ab. Das mache ihn optimistisch, "dass dieser Kelch an uns vorübergeht", sagt Overs.

"Wenn sich die Krise nicht verschlimmert", urteilt Jens Huwald von der bayerischen Tourismus-Marketing-Gesellschaft, "dann sind deutsche Destinationen als Reiseziel für die Deutschen extrem attraktiv." Nachdem Bayern seit vielen Jahren ohnehin das beliebteste Urlaubsland der Bundesbürger und auch der Bayern selbst sei, werde sich dieser Trend vermutlich in Zukunft noch weiter verstärken. Für die Urlauber, so der Tourismus-Experte, gelte in der Krise: "Näher, kürzer, günstiger." Auch die Busunternehmen registrierten gegenwärtig eine "verhalten positive Nachfrage". Bayern, so erklärt Huwald, verzeichne im Jahr etwa 76 Millionen Übernachtungen. Davon entfielen zwölf Millionen auf ausländische Gäste, der Löwenanteil von 64 Millionen Besuchern komme schon jetzt aus der Bundesrepublik. 24 Milliarden Euro brutto setzt die bayerische Tourismus- und Freizeitwirtschaft im Jahr um. 2008 sei zwar der Anteil der Gäste aus den Vereinigten Staaten sowie aus Großbritannien und Irland um etwa sieben Prozent zurückgegangen. Das konnte aber durch Gäste aus Russland (plus 29 Prozent), Niederländer und Schweizer wieder ausgeglichen werden.

Nahurlaub in Bayern wird derzeit noch attraktiver. Foto: dpa

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Die weite Welt hinter dem Zaun

Hamburgs traditionsreicher Freihafen soll fast ganz aufgelöst werden, weil das Zollprivileg sich überlebt hat. Gegner des Beschlusses fürchten nun um Firmen und Jobs

Von Jens Schneider

Hamburg - Feucht und kalt zieht die Hafenluft durch das offene Fenster in das Büro von Ralf Nörtemann. Aber er hält es gern einen Moment länger offen. So großartig ist der Blick vom Windhukkai aus dem fünften Stock hinüber auf die Speicherstadt. Im Dunkeln leuchten dort das neue Kreuzfahrtterminal und die Baustelle der Elbphilharmonie. Nörtemann mag auch den Lärm, der durchs Fenster dringt: das Jaulen der Kräne, das Brummen der Lastwagen, ab und zu dröhnen Schiffsmotoren. So hört er, dass Geschäft ist im Hamburger Hafen. Das beruhigt in diesen Krisentagen, in denen am Hafen Schiffe fest vertäut liegen, weil es keine Fracht gibt, und Trucker untätig auf Parkplätzen warten.

Der weite Blick aus dem Fenster zeigt auch den Widerspruch in der Entwicklung dieses Hafens. Die neuen Wohnviertel in den alten Gemäuern, die Luxusliner mit Traumschiff-Appeal, dazu die Containerterminals, so stellt man sich den Hafen der Zukunft vor. Und hier am Windhukkai wäre die Vergangenheit. Aber diesem Eindruck will Nörtemann gleich vorbeugen. "Uns geht es nicht um die alte Hafenromantik", sagt der Kaufmann, als er sich an den langen Konferenztisch vor seinen Tee setzt. "Es geht uns um hochmoderne Unternehmen wie uns, die weiter wie bisher ihr Geschäft machen wollen." Dann erklärt er, warum sein Logistikunternehmen "tci" mit 180 Mitarbeitern weiter den Freihafen für sein Geschäft braucht, wenn es Grundstoffe etwa für die Pharmaindustrie aus Asien importiert, zwischenlagert und wieder exportiert, ohne dass aufwendige und teure Formalitäten beim Zoll zu erledigen wären. "Wir verstehen nicht, warum Hamburg einfach so das aufgibt, was die Stadt groß gemacht hat."

Mit 140 anderen Unternehmern hat Ralf Nörtemann sich in der Initiative "Pro Freihafen" zusammengeschlossen, um gegen den Beschluss des schwarz-grünen Senats zu kämpfen, mit dem der Hamburger Freihafen nahezu komplett abgeschafft wird. Wie sehr sich das Wesen einer Stadt verändert hat, zeigt sich besonders, wenn sie ihre einstigen Heiligtümer schlachtet, ohne dass Tränen vergossen werden. Ohne große Debatte hat die Bürgerschaft, Hamburgs Stadtparlament, beschlossen, den früheren Freihafen von zuletzt 1634 Hektar auf eine Freizone von nur noch 60 zu verkleinern.

Vor 100 Jahren zählte fast der ganze Hafen zum sogenannten Zollausland. Bald sollen nur noch 20 Unternehmen in dieser Zone liegen. Darin sehen viele Großunternehmer im Hafen wie auch der Zoll und viele Hamburger Politiker nur ein teures Zugeständnis an die Traditionalisten. Für sie ist das alte Zollprivileg längst überholt, sogar ein Störfaktor geworden, der mit seinen Zollkontrollen im Wege ist. Von einem drei Meter hohen Zaun umgeben und durch strenge Kontrollen bewacht, hat der Freihafen seit seiner Gründung im Jahr 1888 wesentlich zur Blüte der größten deutschen Hafenstadt beigetragen. Im Zollausland konnten Waren frei eingeführt und gelagert, veredelt und wieder exportiert werden. Hier wuchsen Kaufmannsdynastien, die mit Teppichen oder Kaffee handelten, mit Kakao oder Gewürzen. Auch die Werften, die Spritbrennereien, die Kupferhütten profitierten vom Sonderrecht, zollfreie Importe verarbeiten zu dürfen.

Es war ein kleines Reich mit eigenem Recht. Alle Hafenarbeiter auf dem Weg zu den Werften mussten stets mit Kontrollen rechnen, damit sie nicht versuchten, "was rauszuschmuggeln", erzählt Rudolf Zander. Das konnten Bananen sein, Tee oder auch Kleidung. Wenn Schiffe mit attraktiver Ladung kamen, legten sich die Fahnder vom Zoll auf die Lauer und suchten bei den Hafenarbeitern versteckte Radios oder Anzüge von einem Stückgutfrachter. Zander spricht vom "Abenteuer Freihafen". Ihn praktisch abzuschaffen muss ihm vorkommen, als würde München das Oktoberfest für nicht mehr zeitgemäß halten oder London den Tower niederreißen.

Rudolf Zander ist als Kapitän zur See gefahren und hat 40 Jahre lang im Hafen gearbeitet, zuletzt in Ralf Nörtemanns Betrieb, jetzt ist er in Rente. Im ÜberseeRestaurant nahe den Landungsbrücken deutet er nur kurz auf die andere Elbseite, um klarzumachen, wie sehr sich dieser Hafen verändert hat. Dort kommen gerade Zuschauer des Musicals "König der Löwen" mit dem Boot an. Ein Theater im Freihafen, jeden Tag Hunderte Gäste, die einfach rüberschippern, "das war unvorstellbar", sagt Zander. Früher brauchte man zum Entladen viele kräftige Arbeiter, dann kamen statt der Säcke und Paletten die Frachtcontainer, und man brauchte nur noch wenige Kranführer. Mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dann der EU verlor das Privileg der Zollfreiheit an Bedeutung. Das Zollrecht wurde angeglichen, und glaubt man dem Senat, gibt es kaum noch Vorteile für Firmen innerhalb des Zauns, dafür aber viele Nachteile: Spediteure und Betreiber von Containerterminals, längst das Hauptgeschäft des Hafens, klagen über lange Staus an den Zollstellen.

"Hamburg gewinnt ein gutes Stück Souveränität zurück" mit dem freien Verkehr, verspricht Wirtschaftssenator Axel Gedaschko. Das soll nicht nur der Wirtschaft nutzen. Die Hafen-City mit ihren schicken Apartments in der alten Speicherstadt soll nur der Anfang gewesen sein. Sie wurde 2003 aus dem Freihafen herausgenommen, in ehemaligen Zollstationen werden heute Snacks verkauft. Und 2013 soll das einstige Arbeiterquartier Wilhelmsburg im Süden mit der Stadtmitte verschmolzen werden, als Wohnlage der Zukunft am Wasser.

Die Initiative "Pro Freihafen" sieht ihre Sorgen da als Nebensache abgetan. "Wir fürchten höhere Kosten durch zusätzliche Bürokratie", begründet deren Sprecher Nörtemann die Sorgen. Viele Firmen, die nicht in der EU handeln, sondern mit Asien oder Russland, müssten zusätzlichen Aufwand fürchten. Oft gehe es um Kleinigkeiten, die teuer werden könnten. Und nicht mal fertig sei das neue Zollrecht der EU, das umgesetzt werden solle. Zumindest einen Aufschub bis 2013 wollen sie deshalb: "Wir werden voreilig gezwungen, in ein Wasser zu springen, dessen Tiefe wir gar nicht kennen."

Nörtemann sieht Arbeitsplätze für Leute mit geringer Qualifikation bedroht und verweist auf den künftigen neuen Hafen in Wilhelmshaven, wo es einen Freihafen geben soll. "Wenn es zu teuer wird, müssen wir überlegen, anderswo hinzugehen." Mehr als 2000 Arbeitsplätze sind betroffen. Er will nicht spekulieren, wie viele Jobs verlorengehen könnten. Aber jeder, sagt er, wäre einer zu viel. Hamburgs Senat hat Beratung versprochen, und mit "Mut zur Veränderung" könnten die Unternehmen auch künftig bestehen, wird dort versichert. Wenn überhaupt Stellen verlorengingen, wären das nur Ausnahmefälle.

Die Initiative "Pro Freihafen" will nun in Berlin protestieren. Denn das letzte Wort liegt beim Bundesfinanzminister. Noch vor der Bundestagswahl erhofft die Stadt eine Entscheidung. 2011 soll der Abbau des Freihafens beginnen. Der 17 Kilometer lange alte Zollzaun dürfte an vielen Stellen freilich noch jahrelang stehenbleiben. Ihn abzureißen kostet Geld, und schon die Einrichtung der Restzone mit zwei Kilometern Zaun und neuer Zollstation soll rund acht Millionen Euro verschlingen.

"Wir werden gezwungen, in ein Wasser zu springen, dessen Tiefe wir nicht kennen"

Von den 1634 Hektar Freihafen-Gebiet sollen nur noch 60 Hektar Zollausland bleiben: Container-Terminal am Burchardkai in Hamburg. Foto: ddp

Hamburger Hafen Innenpolitik Hamburgs Zollwesen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Unheimliche Stille

Bisher konnte sich die Touristikindustrie auf die Reiselust der Deutschen verlassen. Nun schwindet die Zuversicht rapide

Von Meite Thiede

Nerven bewahren!" So lautet in diesem Jahr die Parole in der deutschen Reisebranche. Denn zum ersten Mal seit Jahren wird die sprichwörtliche Treue des deutschen Urlaubers empfindlich auf die Probe gestellt. Bisher konnte sich die Touristik noch immer darauf verlassen, dass die Deutschen zu allerletzt an den "schönsten Wochen des Jahres" sparen. Doch im Dezember und in den ersten Januarwochen war es in den Reisebüros geradezu unheimlich still, so berichten Branchenkenner. Und häufiger als üblich würden die Leute, wenn sie sich dann doch zu einer Buchung durchringen könnten, eine Reise-rücktrittsversicherung abschließen. Für die Touristik, so beschreibt es ein Insider, führe die Finanzkrise zu einer Vertrauenskrise.

Kein Wunder: Wer heute nicht einschätzen kann, ob er morgen die Kündigung auf den Tisch bekommt, gibt nicht Hunderte oder gar Tausende Euro für eine Reise aus. Noch halten sich die großen Veranstalter mit Prognosen für dieses Jahr zurück. Doch der Optimismus, den die Branche auf ihrem Jahrestreffen noch im November in Budapest verbreitet hatte, ist längst verschwunden. Zwar lagen die Buchungen in der vergangenen Woche, nach der Flaute zur Jahreswende, überraschend auf Vorjahreshöhe, aber warum das plötzlich so war, kann niemand erklären. Und einen Trend zur Besserung sehen Experten darin noch lange nicht.

Die Großen der Branche, Tui und Thomas Cook, verschanzen sich derzeit hinter der Floskel, dass sie wegen ihrer Börsennotierung nichts über die aktuelle Lage sagen dürfen. Doch die Stimmung ist alles andere als positiv. Bei Tui heißt es, dass das Wintergeschäft knapp unter Vorjahresniveau und das Sommergeschäft derzeit sogar deutlich darunter liege. Kommt es noch schlimmer, so erwäge der Konzern bereits Kurzarbeit. Bei Thomas Cook soll das aktuelle Buchungsminus sogar zweistellig sein. Die Rewe Touristik liegt leicht unter den Erwartungen, aber noch im Plan, und der vierte große Mitspieler, Alltours, ist von seiner jüngsten Prognose - plus drei Prozent Buchungen - längst abgerückt. Alltours-Inhaber Willi Verhuven traut der Touristik in diesem Jahr sogar einen gewaltigen Absturz um zehn Prozent zu.

So verharrt die Branche in Lauerstellung und nimmt grimmig all jene Indizien zur Kenntnis, die ihr eine eher verregnete Hauptsaison versprechen. Die Dresdner Bank zum Beispiel präsentierte vor wenigen Tagen eine Studie, nach der die Reiseausgaben 2009 um mehr als ein Prozent auf 60,5 Milliarden Euro schrumpfen werden. 2008 waren sie um 1,5 Prozent auf den Rekordwert von 61,5 Milliarden gestiegen.

Die Deutschen warten erstmal ab, wie sich die Lage entwickelt, meinten die Experten der Bank. Wahrscheinlich würden sie am Zweit- und Dritturlaub knapsen. Und vor allem: Es könnte sehr spät werden mit dem Buchen. Ähnlich sehen das auch die Experten der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR): Noch planen demnach zwar ebenso viele Deutsche einen Urlaub wie voriges Jahr, aber sie zögern. Und die Welttourismusorganisation (UNWTO) verkündete, dass sich 2009 bestenfalls Stagnation und schlimmstenfalls ein Minus von zwei Prozent ergeben könne. Es wäre der erste Rückgang seit 2003. Der Kommentar des designierten UNWTO-Generalsekretärs Taleb Rifai klang düster: Diese Krise sei schlimmer als die vorige, nach den Terroranschlägen 2001, weil nun die Unsicherheit über die weitere Entwicklung viel größer sei.

Und so steht Klaus Laepple recht einsam da, wenn er jetzt scheinbar unerschütterlich Optimismus verbreitet: Die Branche werde die Zahlen des Vorjahres erreichen, glaubt der Präsident des Deutschen Reise Verbandes (DRV). Gespart werde höchstens an den Nebenkosten oder ein bisschen an der Reisedauer. Weiteren Auftrieb könnte nach Einschätzung von Branchenkennern auch der Urlaub daheim bekommen, der sich schon seit Jahren stetig wachsender Beliebtheit erfreut.

Bleibt die Saison schwach, belebt das den Wettbewerb. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen die Urlauber dann automatisch mit Schnäppchen rechnen konnten. In vergangenen Jahren war das noch üblich, weil die großen Veranstalter viel zu hohe Hotel- und Flugkapazitäten aufgebaut hatten und diese bei schleppendem Geschäft wenigstens zum Nulltarif auslasten wollten. Inzwischen haben zumindest die beiden größten Anbieter, Tui und Thomas Cook, solchen Ballast abgeworfen; sie trennten sich von Hotels oder nahmen Flugzeuge aus dem Markt. Jetzt können sie flexibler auf Schwankungen bei der Nachfrage reagieren.

Preissenkungen winken aber womöglich von anderer Seite: So fragen zum Beispiel viele ägyptische Hoteliers bei hiesigen Veranstaltern an, um mehr Feriengäste aus Deutschland zu bekommen. Denn ihre besten Klienten, Urlauber aus Russland, hat die Krise längst erwischt - sie bleiben dieses Jahr zu Hause.

Gähnende Leere: Voriges Jahr lag es am schlechten Wetter, dass Touristen Mallorcas Strände zeitweise mieden. Jetzt könnte die Krise das Geschäft trüben. Foto: dpa

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Rezepte am laufenden Band

Britanniens Premier Gordon Brown wurde zu Beginn der Wirtschaftskrise noch als rettender Held gefeiert. Nun werfen ihm selbst Parteifreunde vor, er verzettele sich in konzeptlosem Aktionismus. Sein Ansehen ist in ähnlich freiem Fall wie das Pfund und die Immobilienpreise des Landes

Von Wolfgang Koydl

London - Noch nicht einmal die glühendsten schottischen Patrioten würden sich dazu versteigen, Rumbledethumps für einen Höhepunkt feiner Kochkunst auszugeben. Allein der Name des Hausmachergerichts schreckt ab, als ob er das Geräusch vorwegnehmen wollte, das der Magen nach Genuss des Gerichtes von sich geben wird. Zutaten und Zubereitung sind denn auch anrührend schlicht: Aufgewärmter Kohl vom Vortag und zerstampfte Kartoffeln werden in einer Pfanne angebraten. Wer es gerne ein wenig feiner hat, kann Käse darüber raspeln oder eine Scheibe Speck dazu braten. Rumbledethumps scheint mithin ein passendes Gericht zu sein für die kargen Zeiten, die für Großbritannien nach der anscheinend nicht enden wollenden Champagner- und Trüffel-Party angebrochen sind.

Der Internationale Währungsfonds hat dem Land soeben prophezeit, dass ihm der tiefste ökonomische Absturz aller hochentwickelten Volkswirtschaften droht, und daher war es vielleicht recht weise von Premierminister Gordon Brown, dass er das schottische Arme-Leute-Gericht unlängst als sein Leibgericht bezeichnete. Die alte Mutter Brown habe es ihm immer zubereitet, wenn er am Samstagnachmittag vom Fußballspiel aus dem Raith-Rovers-Stadion nachhause kam, schrieb der Regierungschef in einem Prominentenkochbuch. Man konnte buchstäblich sehen, wie er sich bei der Erinnerung genießerisch die Lippen leckte.

Dass die fetten Jahre vorüber sind, müssen sich immer mehr Briten schmerzlich eingestehen. Verwundert reiben sie sich die Augen angesichts der Geschwindigkeit, mit welcher sich der krasse Wandel vollzogen hat. Vor weniger als einem Jahr noch sonnte sich Britannien im Bewusstsein, eine der erfolgreichsten und vor allem reichsten Volkswirtschaften der Welt geschaffen zu haben. In der City mehrten die vermeintlich cleversten Banker der Weltgeschichte auf wundersame Weise ihre eigenen Portfolios und jene ihrer Kunden. Hausbesitzer konnten gleichsam von Monat zu Monat zusehen, wie der Wert ihrer Immobilien ins Unermessliche zu wachsen schien. In hellen Scharen kauften Briten mit ihrem muskulösen Pfund in Europa und in den USA alles ein, dessen sie ansichtig wurden: von Designer-Jeans bis zur Ferienvilla in Florida oder an einer spanischen Costa. Die Hände machte sich kaum mehr jemand schmutzig: Der Anteil der verarbeitenden Industrie im Land schnurrte immer weiter gegen Null.

Wo doch noch Autos oder Maschinen zusammengeschweißt wurden, stiegen deutsche oder japanische Eigner ein. Eine moderne Gesellschaft, so predigte es nicht zuletzt der damalige Schatzkanzler Brown ein wenig herablassend seinen verunsicherten EU-Kollegen, erwirtschafte ihr Geld in klinisch sauberen Glastürmen mit Finanz- und Versicherungsdiensten und nicht in Fabrikhallen aus rotem Backstein.

Vorüber, vorbei. Nun müssen ältere Briten ihren Kindern wieder erklären, wie es damals war in den grimmigen siebziger Jahren, als ihr Land als kranker Mann Europas verspottet worden war. Selbstzerstörerische Arbeitskämpfe der Gewerkschaften und satte Selbstgefälligkeit des Management hatten, gekoppelt mit schlafwandelnder Selbstvergessenheit der Politik, die Wirtschaft so weit ruiniert, dass - Gipfel der Schmach - der Internationale Währungsfonds die einstige Weltmacht aus ihrer Not herauspauken musste.

Die politische Konsequenz dieses Tiefpunktes nationaler Würde waren die Revolution von Margaret Thatcher und die radikale Perestroika, die Tony Blair seiner Sozialisten in der Labour Party verschrieb. Nie wieder sollte das Land so tief sinken dürfen, und lange, lange schien auch alles gut zu gehen. So selbstgefällig bewunderte Gordon Brown sein Werk, dass er sich gar zu der Behauptung verstieg, den ewigen Zyklus von Boom and Bust, von Aufschwung und Zusammenbruch, für alle Zeiten durchbrochen zu haben. Doch nun bescheinigt ihm der IWF, dass sein Land der kranke Mann der ganzen Welt ist. Und schon wird Britannien mit einer anderen Insel im Atlantik in einen Topf geworfen: London sei, so wispert man mit Blick auf das bankrotte Island, ein Reykjavik an der Themse.

Statt Cristal-Schampus und Malossol-Kaviar werden den Briten also wieder Kartoffeln mit altem Kohl aufgetischt. Doch falls Brown versucht haben sollte, mit dem nostalgisch-kulinarischen Rückgriff auf den bescheidenen Rumbledethumps bei den Wählern Popularitätspunkte zu sammeln, so ist dieses Kalkül nicht aufgegangen. Mittlerweile trauen immer weniger Briten ihrem Premier zu, die richtigen Rezepte für einen Ausweg aus der Krise zu finden - selbst wenn er sich selbst kasteiend von trocken Brot und Leitungswasser ernährte. Würde am nächsten Donnerstag ein neues Unterhaus gewählt, so sagen jüngste Meinungsumfragen, könnten sich die oppositionellen Tories mit ihrem unerfahrenen Vorsitzenden David Cameron auf eine Mehrheit von mehr als 100 Parlamentssitzen freuen. Nur mehr jeder dritte Brite glaubt, dass seine Regierung die richtigen Antworten auf die Krise kennt. Das Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz von Brown und seinem Schatzkanzler Alistair Darling ist binnen Monatsfrist um elf Prozent eingebrochen.

Die neuen Erhebungen sind umso dramatischer, als der Absturz Browns und seiner Labour-Partei so steil und unerwartet erfolgte, wie der freie Fall der Kurse an manchen Tagen im vergangenen Spätherbst an den Börsen in New York und London. Damals war Brown gerade wegen der Weltwirtschaftskrise aus den Tiefen eines Umfrageloches auferstanden, in das er im Sommer gepurzelt war. Doch die Rezession verschaffte ihm den Ruf eines Supermanns, der ganz allein das globale Finanzsystem vor dem Kollaps bewahrte. "Mister Unglaublich, großer Steuermann des Vereinigten Königreichs, gebenedeiter Retter der Welt, Seine Exzellenz, der Schatzkanzler des Kosmos", hatte eine britische Sonntagszeitung mit einer Mischung aus Achtung und Spott geschrieben. Und atemlos hatte ihn ein Journalist auf einer Pressekonferenz gefragt: "Sind Sie ein Superheld?" Browns Antwort war ein Muster gespielter Bescheidenheit. "Ich bin nicht Flash Gordon", erwiderte er. "Nur Gordon." Wie er sich wirklich einschätzte verriet er freilich unbewusst im Parlament, als er sich - in einem klassischen freudschen Versprecher - dafür lobte, die Welt gerettet zu haben, wo er doch - nur - das globale Bankensystem gemeint hatte.

Tatsächlich gebührt dem britischen Premierminister das Verdienst, als erster führender Politiker gleich zu Beginn der Krise nicht nur den Ernst der Lage erkannt, sondern auch - mit der Rekapitalisierung der Banken - mutig die richtige Lösung ergriffen zu haben. Es war ja nicht nur Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman, der Brown seinerzeit in seinen Zeitungskolumnen lobte. Entscheidender war, dass andere Regierungen nach mehr oder weniger langem Zögern dem britischen Beispiel folgten.

Seitdem hat der bekennende Workaholic Brown sein Arbeitspensum noch mehr erhöht. Auslandsreisen, ohnehin schon rar, sind mittlerweile so gut wie ganz gestrichen. Inzwischen verlasse er seinen Schreibtisch nicht einmal zum Essen und er ernähre sich weitgehend von Obst und kaltem Aufschnitt, berichtete ein Vertrauter aus der Downing Street dem Daily Telegraph. "Der Mann ist besessen davon, den globalen Einbruch abzumildern." Doch die Früchte seiner rastlosen Bemühungen scheinen ihm zu Staub zu zerfallen.

Dem ersten Paket zur Bankenrettung musste er kürzlich ein zweites nachschieben. Das einst so starke Pfund befindet sich im freien Fall, internationale Hedgefonds-Manager warnen offen vor Investitionen in die Firma United Kingdom plc., die Arbeitslosenrate nähert sich der Zwei-Millionen-Grenze, und jede Woche melden neue Firmen Konkurs an. Manche Einkaufszeile im Land erinnert mittlerweile an eine amerikanische Geisterstadt - so viele Schaufensterfronten sind vernagelt oder mit braunem Packpapier verklebt.

Brown freilich beteuert ungerührt, dass alles nicht so schlimm kommen werde - dank seiner rastlosen Tätigkeit. Massive Finanzhilfe bekommen nun auch die Autoindustrie und - so die jüngsten Gerüchte - die Medienbranche. Zugleich verspricht der Regierungschef allen alles: Arbeitslosen neue Jobs, Hausbesitzern Schutz vor Zwangsversteigerungen, und Verbrauchern Mehrwertsteuerkürzungen. Kein Tag vergeht, an dem Downing Street nicht neue Aktivitäten hinausposaunt. Doch was wie beherztes Handeln aussehen soll, wird immer häufiger als panischer Aktionismus empfunden. "Diese frenetische Aktivität lässt uns aussehen wie kopflose Hühner", urteilte ein - wohlweislich anonym bleibender Berater des Regierungschefs. Und ein normalerweise loyaler Minister wurde in der Times zitiert: "Gordon benimmt sich wie ein Oppositionsführer und nicht wie der Premierminister. Es ist alles Taktik und keine Strategie. Er kündigt etwas an, kriegt die gewünschte Schlagzeile, und dann ist er schon wieder weiter. Dabei kommt es doch in Wirklichkeit darauf an, zu überprüfen, ob die Sachen auch funktionieren." "Sie verwechseln Aktionismus mit Aktion", rügte Oppositionsführer Cameron, dem ebenfalls das Bild vom kopflos herumrennenden Huhn in den Sinn kam. "Es herrscht der Eindruck vor, dass sie (die Regierung) wild herumflattert, mit irgendwelchen Sachen herumwirft und hofft, dass irgendwas schon haften bleiben wird. Das ist nicht unbedingt gut für das Vertrauen in die Wirtschaft."

Als politischer Opponent von Brown muss Cameron so reden, doch mittlerweile regt sich ähnliche Kritik sogar an dessen eigenem Kabinettstisch. Mehrere Minister haben ihrem Chef zu verstehen gegeben, dass weniger vielleicht doch mehr wäre, und dass ein "Blizzard" an Initiativen die Öffentlichkeit eher beunruhige als beruhige. "Ich glaube, dass die Regierung langsamer treten und ab und zu Bilanz ziehen sollte anstatt jedes Mal auf die jüngste Krise zu reagieren", meinte der Labour-Abgeordnete Greg Pope aus dem nordwestenglischen Lancashire. Ähnliche Ratschläge hat der Premier, wie die Financial Times erfahren haben will, von einigen Regierungsmitgliedern erhalten.

Insgeheim sorgt man sich in der Labour Party auch, dass Brown gar nicht bemerkt, wie sehr sein Ansehen gelitten hat. Niemand bestreitet mittlerweile, dass er selbst während seiner zehnjährigen Amtszeit als Schatzkanzler maßgeblich den Boden für das verantwortungslose Handeln der Banken mit bereitet hatte. Doch auf ein Wort der Selbstkritik wartet die Öffentlichkeit vergebens. "Ein mea culpa widerstrebt Gordons Natur", gestand ein Berater des Premiers ein. "Nur: Irgendwann werden wir die Worte finden müssen." Statt Asche auf sein Haupt zu streuen schürt der Regierungschef unfreiwillig den von der Opposition heftig geförderten Eindruck, dass er und seine Regierung den Kontakt zur Masse der von der Krise getroffenen Britinnen und Briten verloren haben. Als Brown die Rezession kürzlich eher beeindruckt als besorgt als "Geburtswehen einer neuen globalen Ordnung" bewertete, da verschluckte sich Tory-Führer Cameron nach eigenen Worten an seinem Frühstück. "Stellen Sie sich vor wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie soeben ihr Haus oder ihre Stelle verloren hätten oder kein Darlehen bekommen und jemand würde kommen und sagen: ,Macht nichts, ist nur eine Geburtswehe'", entrüstete er sich.

"Alle warten darauf, dass unser Premierminister humble pie isst", meinte dieser Tage ein Beobachter in Westminster. Humble pie - wörtlich: Demutspastete - ist eine englische Redewendung, mit der man es bezeichnet, wenn jemand einen Fehler eingesteht oder klein beigibt. Die Chancen, dass Brown dies tut, sind freilich gering. Dann schon lieber Rumbledethumps. In England läuft dieses Gericht übrigens unter dem nicht weniger unappetitlichen, dafür aber der aktuellen wirtschaftlichen Lage angemesseneren Namen "Bubble and Squeak". Bubble für Blase, wie in Immobilien- und Kreditblase. Und squeak für ein quiekendes Pfeifen. So wie auf dem letzten Loch.

Mancher spricht schon von einem Reykjavik an der Themse

Statt Auslandsreisen gibt es kalten Aufschnitt am Schreibtisch

Ein Schuldeingeständnis wäre fällig, entspricht aber nicht seinem Naturell

"Geburtswehen einer neuen globalen Ordnung": Gordon Browns Einschätzungen der schweren Rezession kommen in Großbritannien nicht mehr gut an. Foto: Macdiarmid/Getty Images

Brown, Gordon Labour Party Regierung Brown 2007- Folgen der Finanzkrise in Großbritannien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aus für Umweltgesetzbuch

Gabriel hält der Union "dumpfen Reformunwillen" vor

Von Stefan Braun

Berlin - Die Bemühungen um ein bundesweit einheitliches Umweltgesetzbuch sind endgültig gescheitert. Auch direkte Gespräche zwischen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) und der Parteiführung der CSU konnten daran nichts mehr ändern. Gabriel sagte am Sonntag in Berlin, das Umweltgesetzbuch sei am Widerstand Bayerns und einem "dumpfen Reformunwillen der Union" gescheitert. Damit werde es auch in Zukunft "kein einheitliches, transparentes und unbürokratisches Umweltgesetzbuch" für ganz Deutschland geben.

Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) hatte bis zuletzt darauf bestanden, dass die im Gesetzbuch vorgesehene "integrierte Vorhabengenehmigung" die Verfahren nicht beschleunigen, sondern in manchen Fällen deutlich verkomplizieren würde. Deshalb hatten die CSU und die bayerische Staatsregierung verlangt, einheitliche Richt- und Grenzwerte zu beschließen, aber auf einheitliche Verfahrensregeln zu verzichten.

Gabriel wies diese Forderung und die bayerische Kritik am Gesetzentwurf zurück. Der SPD-Politiker betonte, die CSU habe nun ein Projekt zu Fall gebracht, das noch auf die frühere Umweltministerin und heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückgehe. Falsch sei überdies die Behauptung, dass das einheitliche Verfahren mehr Bürokratie produziert hätte. Die CSU sei es, die nun - anders als in ihren Sonntagsreden proklamiert - den Abbau von bürokratischen Hemmnissen verhindert habe. Hier hätten sich offenbar die CSU und der Bundesverband der Deutschen Industrie zum Schutz der Großindustrie und zum Schaden der kleinen und mittleren Unternehmen zusammengetan. "Die Großindustrie kann sich mit ihren Stabsabteilungen solche aufwendigen Verfahren leisten", sagte der SPD-Politiker. ,,Hier ist ohne Sinn und Verstand ein Vorhaben zerschlagen worden, das gerade für mittelständische Unternehmen und für Behörden erhebliche Erleichterungen gebracht hätte."

Für eine Verabschiedung des Gesetzes hatten in den vergangenen Wochen auch zahlreiche Landesumweltminister der CDU geworben. Mit Ausnahme Bayerns waren alle anderen fünfzehn Bundesländer mit dem Gesetzentwurf einverstanden gewesen. Kritik an der CSU kam auch von der FDP und vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Der umweltpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Horst Meierhofer, sagte, das Nein der CSU sei umwelt- und wirtschaftspolitisch unverantwortlich. Die stellvertretende BUND-Vorsitzende Ulrike Mehl betonte, das Scheitern bedeute auch "einen enormen Glaubwürdigkeitsverlust für Kanzlerin Angela Merkel", die sich während ihrer Amtszeit als Umweltministerin schon für ein solches Gesetzbuch eingesetzt hatte.

Baden-Württembergs Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) appellierte an Gabriel, noch nicht aufzugeben. Ein Scheitern jetzt sei ein "Scheitern auf der Zielgeraden", sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Sie sehe die Möglichkeit, im Bereich des Verfahrensrechts eine Länderöffnungsklausel einzufügen. Gabriel hatte zuvor betont, er habe dies den Bayern beim Wasserrecht vorgeschlagen und sei abgewiesen worden. (Seite 4)

"Die bestehende Zersplitterung des Rechts bleibt bestehen": Bundesumweltminister Sigmar Gabriel weist die Schuld am Scheitern des Umweltgesetzbuches der Union zu. Foto: Ossenbrink

Gabriel, Sigmar Umweltrecht in Deutschland Umweltpolitik der SPD Umweltpolitik der CSU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Behörden warnen vor islamistischem Terror im Wahlkampf

BKA verweist auf Parallelen zur Situation bei den Anschlägen in Madrid im Jahr 2004 / CDU-Politiker Bosbach mahnt zur Zurückhaltung

Von Peter Blechschmidt

Berlin - Das Terrornetzwerk al-Qaida versucht nach Einschätzung der deutschen Sicherheitsbehörden, mit zunehmenden Drohungen gegen Deutschland die Wahlen in diesem Jahr zu beeinflussen. Vor allem ihrer Forderung nach Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wollten die Terroristen Nachdruck verleihen. Die beiden jüngst im Internet aufgetauchten Drohvideos in deutscher Sprache stellten eine "neue Qualität" dar, sagte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble der Bild am Sonntag.

"Die Islamisten wollen offenkundig auf das Superwahljahr 2009 in Deutschland Einfluss nehmen", wurde Innenstaatssekretär August Hanning in demselben Blatt zitiert. Der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, sah im Focus "deutliche Parallelen" zur Situation in Spanien im März 2004. Dort hatten Anschläge auf Vorortzüge in Madrid mit fast 200 Toten die öffentliche Meinung zur Beteiligung Spaniens am Irak-Krieg umgedreht; die Sozialisten, die den Abzug aus dem Irak versprachen, gewannen die Wahl. Auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, nannte Überlegungen "naheliegend", dass al-Qaida die deutschen Wähler beeinflussen wolle.

Ziercke sagte, auf höchster Ebene der al-Qaida sei die Entscheidung gefallen, Anschläge in Deutschland zu begehen. Außerdem müsse man mit weiteren Angriffen auf die Bundeswehr in Afghanistan und mit Entführungen von Deutschen rechnen. Besonders große Gefahr gehe von jungen Leuten aus, die in Deutschland rekrutiert worden seien. "Diese aus Deutschland stammenden Islamisten, sowohl radikale Konvertiten als auch Personen mit Migrationshintergrund, betrachte ich mit Sorge", sagte Ziercke. "Wir müssen davon ausgehen, dass sie zu allem bereit sind."

Fromm sagte, in Deutschland liege die Zahl der gewaltbereiten Islamisten im hohen dreistelligen Bereich. Einer der Sprecher in den Videos, der aus Marokko stammende Bekkay Harrach, hatte lange Zeit in Bonn gelebt. Er sei auch von den Sicherheitsbehörden "direkt angesprochen" worden, sagte Ziercke. Man habe aber seine Ausreise nicht verhindern können, da bei ihm kein strafbares Verhalten erkennbar gewesen sei. "Dass er in einem Ausbildungslager von al-Qaida war, haben wir erst später erfahren."

Konkrete Hinweise auf geplante Anschläge liegen den Behörden nach Angaben aus Sicherheitskreisen nicht vor. "Die Gefährdung ist abstrakt auf hohem Niveau", hieß es am Sonntag. Tatsache sei, dass die Bedrohung an Quantität und Qualität zugenommen habe. Derzeit analysieren Sicherheitsexperten die Videos vor allem auf Hinweise nach versteckten Botschaften für mögliche Terrorzellen. Auch werde versucht zurückzuverfolgen, wie die Videos auf die Internet-Seiten gelangt seien. Dies sei allerdings nicht mit letzter Gewissheit möglich.

Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach mahnte am Sonntag zur Zurückhaltung bei öffentlichen Warnungen vor Terrorakten. "Wenn es heute heißt, die Lage ist ernst, dann im nächsten Monat gesagt wird, die Lage ist noch ernster, und dann erklärt wird, die Lage war noch nie so ernst, dann kann es passieren, dass sich die Leute daran gewöhnen", sagte Bosbach der Süddeutschen Zeitung. Deshalb sollten die Behörden alles unterlassen, was Panik erzeugen könnte, aber alles tun, um die Lage zutreffend zu schildern und zu bewerten.

Der FDP-Innenexperte Max Stadler sagte der SZ, er habe nicht den Eindruck, dass jetzt "aus heiterem Himmel Panikmache betrieben" werde. Die Videos gebe es nun einmal, und die Behörden müssten dazu auch Stellung nehmen. Sie seien ein weiterer Beleg dafür, "dass wir nicht auf einer Insel der Seligen leben". "Aber es ist auch nicht so, dass man jetzt in Angst vor konkreten Anschlägen zerfließen muss." (Seite 4)

Bedrohung auf Deutsch: Video der Islamischen Dschihad-Union. Foto: dpa

Al-Qaida Islamistische Terroristen in Deutschland Innere Sicherheit in Deutschland Bombenanschläge in Madrid am 11.03.2004 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lady in Red, hinterm Horizont geht's weiter!

Seit einer Ewigkeit besetzen sie die Charts, sie singen die alten Lieder. Warum gehen unsere Pop-Opis und Rock-Omis nicht in Rente?

Dass die Popmusik einen guten Teil ihres Erfolgs der Nostalgie verdankt, ist nicht neu. In diesen Wochen allerdings sind die alten Bekannten wieder einmal sehr, sehr gut im Geschäft. In der aktuelle CD-Bestsellerliste triumphieren die siebziger und achtziger Jahre. Herbert Grönemeyer ("Was muss muss") steht auf Platz 2, Kollege Westernhagen ("Wunschkonzert") rangiert auf Platz 4, AC/DC folgt dicht dahinter, da dürfen auch Chris de Burgh und Udo Lindenberg nicht fehlen. Schreiben wir wirklich das Jahr 2009? Befinden wir uns tatsächlich im YouTube-Zeitalter? Man glaubt es kaum, schließlich füllt Tina Turner bei ihrem Comeback gerade die größten Konzerthallen in Deutschland, und sie singt davon, dass man keine neuen Helden braucht. SZ-Autoren versuchen das Geheimnis zu lüften: Eine Annäherung an sieben musikalische Massenphänomene, die uns seit Jahrzehnten verfolgen.

Herbert Grönemeyer

Herbert Grönemeyer wird von Frauen mittleren Alters gehört, deren Wohnungen komplett mit Teppichboden ausgelegt sind. Irgendwo in diesen Wohnungen gibt es auch getrocknete Blumen. Diese Fans lieben an ihm die Gefühligkeit, die Reifung durch persönliche Schicksalsschläge, zugleich aber auch die oberstufenhaft kritische Grundhaltung und die Bemühung, trotz allem kein abgehobener Rockstar zu sein. An Grönemeyer sehen sie, dass die deutsche Innerlichkeit, wenn sie sich nach außen darstellt, immer auch eine echte Anstrengung ist. Schließlich sind die Fans auch nicht ohne Anstrengung dahin gelangt, wo sie jetzt sind. Obwohl er ein guter Bürgersohn ist, ist es Grönemeyer gelungen, ein Image aus proletarischem Ruhrpott und universalem Weltmenschentum zu formen. Sie hören ihn immer noch, immer wieder, weil sie damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Nostalgie und Erneuerung. So begleitet er das ganze Leben: Halt mich, nur ein bisschen, bis ich schlafen kann. Johan Schloemann

Tina Turner

Von Tina Turner lernen, heißt siegen lernen. Sie hat es geschafft, trotz schwerer Kindheit, prügelndem Ehemann und skrupellosen Musikmanagern zur erfolgreichsten Rocksängerin aller Zeiten zu werden. Wer so viele Schicksalsschläge hinter sich hat, wird weltweit als Kraftpaket, Rockröhre oder Fleisch gewordene Frauenpower gefeiert. Sie gilt als globalisierte Gutfrau und kann sich daher jedes noch so eingängige Mitstampf- und Mutmachlied leisten. Tina Turner war irgendwie immer schon da und hat nicht wie die Nervensäge Madonna permanent versucht, sich neu zu erfinden. Sie wechselt höchstens ihre Frisur, die an guten Tagen an die Turmwickel von Doris Day erinnert, an schlechten Tagen hingegen an ein Eichhörnchen, das in den Ventilator geraten ist. Tina Turners Erfolg ist einfach zu erklären: Sie besteht auch mit fast 70 Jahren noch zu 70 Prozent aus Stimmbändern und Kehlkopf - und sie ist immer irgendwie zu eng angezogen. Ob in Hot Pants, Minirock oder Bustiers, diese Sachen sehen so aus, als ob sie furchtbar kneifen. Aber wahrscheinlich kann man nur mit einer solchen Mischung aus Weltschmerz und Textilien, die mindestens eine Nummer zu klein gewählt sind, Töne herausschreien, die den Verwundeten dieser Welt zeigen: Jeder kann es schaffen. Werner Bartens

Chris de Burgh

Als wir im Englischunterricht der achtziger Jahre diese junge Referendarin bekamen, eine üppige Blonde aus Australien, wollten wir mit ihr aus Liedern lernen, das fanden wir cooler: Music was the language, und Frau Zimmer hatte so einen gewissen Rhythmus. Also setzte sie ihn auf den Stundenplan: Chris de Burgh. Okay, das war nicht der schärfste Rock aller Zeiten, aber man muss Frau Zimmer in Schutz nehmen: Der irische Barde mit der adelsgeschlechtlichen Satinstimme kuschelrockte ja nicht nur platt dahin, sondern hatte in seinen lyrics tatsächlich Geschichten zu erzählen, kleine, mystische Parabeln über den Tod, die Liebe, den Krieg, die man lesen und analysieren konnte wie ein Gedicht. "Don't Pay The Ferryman", der Hit, mit dem ihm 1982 in Deutschland der Durchbruch gelang: der Fährmann ins Jenseits - was für eine poetische Allegorie! Oder "Borderline": Da diskutierten wir gleich den ganzen Falklandkrieg mit. Später kam "Lady in Red": das schönste nächtliche Augenblickskompliment an eine Frau, dass je ein Mann mit Dackelblick gesungen hat. Zwar breitete sich zunehmend Schnulzengefahr aus, was einen in späteren, härteren Jahren auf Abstand gehen ließ. Doch was Chris de Burghs Erfolg ausmacht - Inhalt, Empfindsamkeit, Stimme (nebst der stets wiederzuerkennenden Frisur) -, sind bleibende Werte. Gelernt ist gelernt. Christine Dössel

Udo Lindenberg

Man schrieb das Jahr 1983. Udo Lindenberg hatte ein paar Entziehungskuren und ein paar schlechte Platten hinter sich (zum Beispiel "Keule", die sogar Sounds als "stilistischen Tiefpunkt" geißelte). Boulevards und Fachblätter fühlten sich als "Zeuge einer langsamen, aber stetigen Demontage" des einstigen "Paten der Rockmusik" (Musik Express). Doch der hatte kein Einsehen. Das Preview-Konzert für die "Odyssee"-Tour fand in Kaunitz bei Paderborn statt, Udo hatte wieder einen Mittendrin-Gast eingeladen: Gianna Nannini. Die Dame aus Siena war sensationell. Als Udo zurückkam, pfiff das Publikum, es flogen Bierflaschen auf die Bühne, stern-Fotograf Volker Krämer war begeistert: "Das is' ja wie im Krieg!" Am nächsten Tag im Nightliner wetteten Manager Fritz Rau und Udo mit dem Berichterstatter, in München würden keine 5000 in die Olympiahalle kommen ("die mögen Udo auch nicht") um eine Panik-Orchester-Lederjacke. Es kamen gut 6000, doch die Lederjacke kam nie an. Die SZ schrieb, bald werde Udo, "kaum zu glauben", 37 Jahre alt: "ein Oldtimer". Das ist jetzt 25 Jahre her. Und der Oldtimer rumpelt noch immer über die Bühnen. Er ist der beste Nuschler der Rockgeschichte. Karl Forster

Udo Jürgens

Als Udo Jürgens zum ersten Mal in den deutschen Charts stand, war Konrad Adenauer Bundeskanzler und Kennedy der jüngste US-Präsident. Udo, der schöne, schlanke Udo, sang sich in die Herzen der Mädchen, indem er Mädchen besang: "Siebzehn Jahr, blondes Haar" wurde ein Hit, genauso wie "Merci Chérie" und "Immer wieder geht die Sonne auf". Die Sonne geht noch immer auf, und Udo Jürgens passt für jeden Anlass und für jedes Publikum: Wenn die Geburtstagsparty der Mittvierzigerin leicht dröge ist, wenn beim Betriebsfest alle müde sind, dann kommt UDO, aber bitte mit Sahne, griechischem Wein und zerrissenen Jeans in San Francisco. Noch besser wirkt das antirheumatische Aufputschmittel live: Zum gefühlten tausendsten Mal tourt er gerade wieder durch deutsche Provinzstädte; es reicht, wenn er "Einfach ich!" ruft, und die Massen kommen. Aus den Mädchen sind Omas geworden, die ganz weich werden, wenn Udo nach zwei Stunden in seinen weißen Bademantel schlüpft - ein dezenter Hinweis auf seine mythische Lendenstärke. Während die Männer seines Jahrgang dick, kahl und hüftsteif geworden sind, betont der Anti-Greis am Flügel seine Spannkraft. Vielleicht wird er irgendwann doch als Riesenschildkröte des deutschen Schlagers enden: der letzte Entertainer aus der Adenauer-Ära, der einfach nicht verstummt. Christian Mayer

Westernhagen

Stimmt doch: Wer heute auf einem Westernhagen-Konzert im ungebügelten T-Shirt und in alten verwaschenen Jeans auftaucht, ist einfach nur infantil und peinlich. Westernhagen, 60, zeigt uns, wie man in Würde altert! Armani-Anzug, Sonnenbrille, Pokerface. So jemandem kann man doch unmöglich mit einem von Motten und Pelzkäfern zerfressenen Marius-Shirt aus den 80ern gegenübertreten. Doch - psssst! - noch schlimmer als der ergraute Zammel-Fan sind all jene Düsseldorfer Ex-Revoluzzer, die sich mit kurzrasierten Haaren neben anderen Ex-Revoluzzern zu einem Gin Tonic an der Bar treffen, um sich gegenseitig ihrer Wichtigkeit zu versichern während sie sich von aufgespritzten Gottesanbeterinnen das Knie tätscheln lassen. Ihr Viagra heißt Lobbyismus. "Hey Marius! Gut schaust du aus. Theo gegen die Besten der Welt, was? Habe gehört, Du willst ein neues Album aufnehmen? In Big Apple. Da war ich auch letzte Woche." Nee, nee. Ich bin so froh, dass ich kein Schicker bin, denn Schicksein ist 'ne Quälerei. Martin Zips

AC/DC

Das erste AC/DC-Album seit acht Jahren war im vergangenen Jahr in Deutschland die meistverkaufte Pop-Platte. 700 000 Mal ging "Black Ice" über die Ladentische. In Zeiten des massenhaften illegalen File-Sharing im Netz ist das eine fast unglaublich hohe Zahl. Ganz abgesehen von den mittlerweile um die 200 Millionen Alben, die die Band in ihrer gut 35-jährigen Karriere insgesamt verkauft hat. So weit die Fakten. Jetzt würden wir Sie bitten aufzustehen. Stehen Sie bequem? Sehr gut. Jetzt stellen Sie sich bitte einen einfachen, nicht zu schnellen, aber auch nicht zu langsamen Rockbeat vor. Viervierteltakt. Deutliche Betonung auf dem zweiten und vierten Schlag. Dumm - tschak - dumm - tschak. Spüren Sie es schon? Sehr gut. Jetzt kommt die E-Gitarre ins Spiel. Mittelschwer verzerrt: A - D - A - D - G - D - A. Oder vielmehr einfach: Dadadadaa-da. Dadadadaa-da. Dadadadaa-da. Wippen Sie schon mit? Immer vor und zurück? Hervorragend. Jetzt bitte beide Arme neben dem Kopf nach oben strecken und im Takt leicht vor und zurück werfen. Und nicht vergessen: Dumm - tschak - dumm -tschak. Dadadadaa-da. Und jetzt alle, bitte mit verzerrtem Gesicht und gepresster Stimme: "Run-away Train / Runn-ing - right - off the track!" Lauter! Jaaa! Noch Fragen? Jens-Christian Rabe

Immer die alte Platte: Udo Jürgens, Marius Müller-Westernhagen, Herbert Grönemeyer, Tina Turner, Chris de Burgh, Angus Young (AC/DC) und Udo Lindenberg. Collage: S. Dimitrov Fotos: dpa (5), Sony, Getty

Pop- und Rockmusik Prominente Personen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Merkel plant Steuerreform

Bürger sollen nach der Bundestagswahl entlastet werden

Berlin - Ungeachtet der hohen Neuverschuldung infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise hat Bundeskanzlerin Angela Merkel für die nächste Legislaturperiode eine umfassende Steuerreform angekündigt. Die Steuersenkungen im Zuge des zweiten Konjunkturpakets seien nur ein erster Schritt, sagte die CDU-Chefin am Wochenende bei einer Tagung von CDU-Kreisvorsitzenden in Berlin. Damit ging Merkel auch auf die Schwesterpartei CSU zu, die seit langem für Steuersenkungen plädiert. CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer bekräftigte am Wochenende die Forderung, die CDU-Führung müsse sich klar zu mittel- und langfristigen Steuersenkungen bekennen. Auch der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, bestätigte, dass die Union nach der Bundestagswahl Steuersenkungen anstrebe.

Ein Konzept für eine Steuerreform und für Steuersenkungen soll nach den Ankündigungen Merkels und Kauders bis Ostern ausgearbeitet und dann ins Wahlprogramm der CDU aufgenommen werden. Entlastet werden sollen vor allem kleine und mittlere Einkommen, betonte Merkel. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte der Mitteldeutschen Zeitung, CDU und CSU hätten sich darauf verständigt, in diesem Jahr einen ersten Schritt mit einem Entlastungsvolumen von drei Milliarden Euro zu machen. "In der nächsten Legislaturperiode werden wir die strukturelle Steuerreform angehen." CDU und CSU würden im gemeinsamen Wahlprogramm "klare Aussagen zu einer Reform machen". Es gehöre "zu unserem Grundverständnis von Freiheit und Leistungsgerechtigkeit, dass ein Steuersystem einfach, niedrig und gerecht sein sollte".

Dagegen warnte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) erneut, die CDU könne angesichts der massiven Neuverschuldung durch die Konjunkturpakete nicht mit dem Versprechen einer grundlegenden Steuerreform in den Bundestagswahlkampf ziehen. Dem Tagesspiegel am Sonntag sagte Müller, er sehe nicht, wie die Union "kurzfristig eine Steuerreform mit einer Nettoentlastung in zweistelliger Milliardenhöhe machen kann".

Kauder fürchtet um die Wahlchancen seiner Partei, wenn sie weiter über künftige Steuersenkungen streitet. Bei der Bundestagswahl im September würden die Wähler nur die Parteien wählen, denen sie zutrauten, sie am besten aus der Wirtschaftskrise zu führen, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Union müsse größere Disziplin zeigen. Man habe vereinbart, bis Ostern ein neues Steuerkonzept zu erarbeiten und "bis dahin darüber nicht öffentlich zu debattieren". Dies sei von einigen nicht eingehalten worden. SZ

Das Steuersystem soll einfach, niedrig und gerecht sein

Steuer- und Finanzpolitik der CDU CDU/CSU-Bundestagswahlkampf 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ministerien streiten über Hartz-IV-Sätze

Berlin - Das Urteil des Bundessozialgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen für Kinder hat einen Streit im Kabinett ausgelöst. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) forderte Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am Wochenende auf, die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder von Grund auf neu festzulegen. Das Arbeitsministerium reagierte verwundert und warf der Union vor, eine Erhöhung der Leistungen lange blockiert zu haben.

Das Bundessozialgericht hatte die derzeitigen Hartz-IV-Regelsätze für Kinder jüngst für verfassungswidrig erkl rt. Kinder unter 14 Jahren erhalten derzeit 211 Euro im Monat. Für Kinder ab 14 Jahren sind es 281 Euro. Von der Leyen forderte eine Neuberechnung der Sätze. "Es muss genau festgelegt werden, was ein Kind braucht" , rügte sie. Das Arbeitsministerium betonte, die SPD habe die geplante Einführung einer dritten Altersstufe gegen den Widerstand der Union durchgesetzt und CDU/CSU "jeden Cent abringen" müssen. Auch von der Leyen habe sich nie für eine Erhöhung des Kinderregelsatzes eingesetzt. ddp

Hartz-IV-Sätze für Kinder SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Feuerwerk für Hinterbliebene

Asche im schottischen Hochland, Gedenkgärten für Fußballfans: Die seltsamen Bestattungsrituale der Briten

Von Wolfgang Koydl

Überdüngte Bergwiesen, verschmutzte Fußballrasen, dünne Aschefilme über Angelgründen - so viele Briten ziehen die Kremation mittlerweile der Erdbestattung vor, dass sich das Vereinigte Königreich mit einem Umweltproblem der eher makabren Art konfrontiert sieht: Weil immer häufiger die Asche über irgendwelchen früheren Lieblingsplätzen der Verstorbenen verstreut wird, sah sich die staatliche Umweltschutzbehörde Environment Agency nun gezwungen, erstmals Richtlinien zu erlassen. Die Folge: In den walisischen und schottischen Bergen sowie nahe Brücken, Trinkwasserreservoiren und Fischgründen sollte man vom Aschestreuen Abstand nehmen. Zur Vorsicht rät die Agency zudem an windigen Tagen. Da sei es ratsam, nah am Boden zu streuen.

Nur noch eine Minderheit der Briten wünscht sich eine Erdbestattung, wie Roger Arber von der Cremation Society mit einem Schuss von Selbstzufriedenheit mitteilt. Mehr als 71 Prozent verfügen letztwillig eine Einäscherung, und damit liegt das Königreich nach Arbers Worten weltweit gut im Spitzenfeld. Nur in Japan - unangefochtener Spitzenreiter mit 99 Prozent Kremierungen -, in der Schweiz und in der Tschechischen Republik finden mehr Kremationen statt als auf den britischen Inseln. Mit einer weiteren Zunahme in Britannien rechnet Arber freilich nicht: "Muslime, die einen immer größeren Anteil an der Bevölkerung ausmachen, lehnen Feuerbestattungen aus religiösen Gründen ab", sagt er.

Verstreut in alle Winde

Da es in Großbritannien im Gegensatz etwa zu Deutschland keine Friedhofspflicht gibt, können Hinterbliebene mit der Asche tun, was sie - oder der Verstorbene - für richtig entschieden haben. Es muss ja nicht jeder so weit gehen, wie Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards, der behauptet hatte, er habe die Asche seines Vaters geschnupft; aber die Zeiten, in denen man Oma und Opa in der Urne lediglich auf dem Kaminsims abstellte, sind in Großbritannien lange vorbei. Es muss schon etwas Spektakuläreres sein, und in mehr als 60 Prozent aller Kremierungen nehmen die Hinterbliebenen die Asche aus dem Krematorium mit nach Hause anstatt sie in einem Urnengrab beizusetzen.

Fußballvereine wie Manchester United oder Manchester City etwa bieten deshalb schon seit langem spezielle Gedenkgärten für die sterblichen Überreste ihrer Fans an. So viele von ihnen wollten auf dem geweihten Stadionrasen verstäubt werden, dass die Grasnarbe darunter litt. Das ist kein Wunder, wenn man weiß, das nach einer Kremierung immerhin ein stattliches Häufchen von rund zwei Kilogramm Asche von einem erwachsenen Menschen übrigbleibt. Bei jährlich 420 000 Feuerbestattungen ergibt das mehr als 800 Tonnen. Vergleichbare Probleme haben daher auch Naturschützer in den schottischen Highlands oder in der kargen Bergwelt von Wales registriert. Weil sich immer mehr Wanderer, Naturfreunde oder Vogelkundler auf einsamen Matten und Kuppen verstreuen lassen, führt das in der Knochenasche enthaltene Phosphat zu einer Überdüngung des Wald- und Wiesenbodens. Die Folge: Unkontrollierter Pflanzenwuchs wo Jahrhunderte lang der Wind über kahle Höhen strich.

Bestattungstechnisches und umweltpolitisch weniger umstrittenes Neuland beschreitet man indessen bei der Firma Heavens Above Fireworks in der ostenglischen Grafschaft Essex. "Die Welt wird immer säkularer", hat ihr Präsident Fergus Jamieson erkannt, der das Unternehmen vor vier Jahren gründete. "Man will nicht mehr so sehr einen Toten betrauern, sondern ein erfülltes Leben feiern. Und wir merken es an unserem Auftragsbuch: Wir können uns vor Anfragen kaum retten." Und was wäre knalliger als ein Feuerwerk? Ab umgerechnet gut 1000 Euro schon füllt Jamieson die Asche der Schwiegermama oder des Onkels in eine Rakete mit bengalischem Feuer oder in einen China-Kracher. Patriotische Briten bekommen das Feuerwerk in den Nationalfarben rot, weiß, blau mit entsprechender Musikbegleitung. Wer etwas tiefer in die Tasche greift, kann wählen zwischen "A Spectacular Goodbye" ("eine ausgewogene Vorstellung für jeden Geschmack") und dem Tableau "Go Out with A Bang" ("mit einer Betonung des Dramatischen und viel Lärm"). Nicht zu vergessen: Jeder Feuerwerker hat die "Trauerweide" in seinem Arsenal, eine Rakete, die in langen, feurigen Schnüren zurück zum Boden regnet.

Mr. Enterprise im Orbit

Vollends umweltverträglich freilich ist "The Final Frontier" - die ultimative Grenze. Dazu schließt sich Jamieson mit dem kalifornischen Unternehmen Celestis zusammen, das soeben angekündigt hat, Gene Roddenberry, den Schöpfer der Fernsehserie "Raumschiff Enterprise" auf seine allerletzte Reise zu schicken. Der 1991 gestorbene Autor hatte verfügt, dass seine Asche in die unendlichen Weiten des Weltalls gefeuert wird. Ein wenig wird er sich noch gedulden müssen. Erst 2012 ist die Rakete mit dem schönen Namen "Der Flug der Gründer" startklar. Mit an Bord werden seine Frau Majel sein sowie der Schauspieler James Doohan, der - "Beam mich hoch, Scottie" - den Chefingenieur der Enterprise spielte. Ein paar Gramm von Gene Roddenberry freilich befinden sich schon seit 1995 in einer Umlaufbahn um den Globus. Bei dieser erdnahen Bestattungsvariante wird die winzig kleine Aschekapsel ausgestoßen, sobald das Trägerraumschiff seinen Orbit erreicht hat. Sie kreist solange um die Erde, bis sie durch die Anziehungskraft hinabgezogen wird und in der Atmosphäre verglüht.

All diese Lösungen sind letzten Endes vergänglich. Wer wirklich für die Ewigkeit plant, der kommt um das Unternehmen LifeGems in Sussex südlich von London nicht herum. 2500 Euro kostet es, und die Asche des teuren Verblichenen wird zu einem funkelnden Diamanten gepresst - ein bleibender Gruß des liebenden Ehemannes an die trauernde Witwe. Denn sie weiß ja: Diamonds are forever.

So schön eine Landschaft auch ist (im Bild die schottische Insel Canna), so viele Erinnerungen sich mit ihr auch verbinden: Laut der britischen Umweltschutzbehörde Environment Agency darf die Asche verstorbener Angehöriger nicht mehr wahllos verstreut werden. Letzter Wille hin oder her. Fotos: Rex Features, ddp

Die klassische Urne will im Vereinigten Königreich keiner mehr. Schließlich kann man den lieben Verblichenen auch als Rakete in die Luft schießen lassen.

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Eklat im Prozess um Morsals Tod

Gutachterin spricht von verminderter Schuldfähigkeit - Staatsanwalt empört

Hamburg - Ein heftiger Streit über eine Gutachterin hat den Prozess um den Mord an der 16 Jahre alten Deutsch-Afghanin Morsal kurz vor dem Ende ins Stocken gebracht. Der Staatsanwalt kritisierte die Psychiaterin am Freitag als inkompetent und forderte, sie wegen Befangenheit abzulehnen. Das Landgericht Hamburg unterbrach die Verhandlung bis zum kommenden Donnerstag, um über den Antrag zu entscheiden. Die Gutachterin wies die Vorwürfe entschieden zurück und sprach von Unterstellungen. Sollte das Gericht die Gutachterin als befangen ablehnen, würde der Prozess platzen und müsste dann mit einem neuen psychiatrischen Experten wieder aufgerollt werden.

In dem Prozess muss sich der 24 Jahre alte Bruder von Morsal wegen Mordes verantworten. Laut Anklage hat er seine Schwester am 15. Mai 2008 auf einem Parkplatz in Hamburg-St.Georg mit 23 Messerstichen heimtückisch getötet, weil er ihren Lebensstil ablehnte. Die Gutachterin hatte dem Täter eine krankhaft gestörte Persönlichkeit und verminderte Schuldfähigkeit bescheinigt. Der Staatsanwalt indes wertet das als "reine Behauptung". Sie sei voreingenommen und habe ihre eigenen Interpretationen mit unvollständigen Tatsachen vermengt, sagte er. Die Sachverständige wies die Kritik entschieden zurück. Sie habe "mit großer Akribie" gearbeitet, sagte sie. Dem Anklagevertreter warf sie vor, ihre Ausführungen nicht verstanden zu haben. "Was ich hier sage, kommt ja wohl nicht an", so die 64-Jährige. "Ich kann nicht zehnmal das Gleiche sagen." Selbst wenn man die für den Angeklagten ungünstigsten Annahmen zugrunde lege, halte sie diesen in jedem Fall für vermindert schuldfähig. dpa

Obeidi, Morsal SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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LEUTE

Dieter Hallervorden , 73, Komiker, wollte SED-Chef Walter Ulbricht ermorden, berichtet der Tagesspiegel. Hallervorden war 1958 in den Westen geflohen und hatte sich einer Burschenschaft angeschlossen. Dort lernte er Kurt Eberhard kennen, der später als Psychotherapeut bekannt werden sollte. Die beiden überlegten, wie man das verhasste SED-Regime im Osten beseitigen könnte und planten ein Attentat: Sie wollten aus der fahrenden S-Bahn auf Ulbricht schießen, zwischen den Bahnhöfen Greifswalder Straße und Zentralviehhof in Prenzlauer Berg. Ulbricht spielte in der Nähe öfter Tennis. "Es war ein Dumme-Jungs-Plan", sagt Hallervorden. Eine Freundin hätte sie schließlich davon abgebracht. Hallervordens weitere Umsturzversuche beschränkten sich auf das Verteilen von Flugblättern.

Robbie Williams , 34, Popsänger, kann nach der Rückkehr in seine britische Heimat nicht einmal unbeobachtet ein Fahrrad kaufen. Williams hatte sich für den Besuch in einem Fahrradladen zwar mit Skimaske und Sonnenbrille getarnt, wie die Daily Mail berichtet. Dennoch erkannten ihn mehrere Dutzend Schaulustige vor dem Geschäft in der Stadt Swindon. Williams war Anfang dieser Woche nach fünf Jahren aus Los Angeles nach England zurückgekehrt. Er kaufte ein Rennrad für etwa 6100 Euro und wurde von Bodyguards begleitet. Der Sänger soll in der Grafschaft Wiltshire im Südwesten Englands für 7,8 Millionen Euro einen Landsitz erworben haben.

Amy Winehouse , 25, Sängerin, will offenbar ihren Mann Blake Fielder-Civil zurückerobern. Sie habe ihr Profil beim Onlineportal Facebook so geändert, dass sie dort nun als "Mrs. Civil WA7614" zu finden sei, meldet die britische Zeitung The Sun. WA7614 ist die Nummer von Fielder-Civils Gefängniszelle. Der drogenabhängige Fielder-Civil war wegen Angriffs auf einen Barkeeper zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte aus dem Gefängnis heraus die Scheidung eingereicht, nachdem er erfahren hatte, dass seine Frau beim Urlaub in der Karibik zwei Romanzen hatte.

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MITTEN IN . . .

Buenos Aires

Tikrit

Moskau

Sderot

Stippvisite auf dem "Journalistenhügel" vor den Toren der israelischen Stadt Sderot. Während des Gaza-Kriegs haben sich auf dem Erdhügel die berühmtesten Reporter der Welt auf die Füße getreten, weil der Gaza-Streifen für Journalisten gesperrt war und man von hier den besten Blick auf das Kriegsgebiet hatte. Heute haben nur Japans Israel-Botschafter und sein Fahrer den Wall erklommen und schauen durch ihre Ferngläser auf den Gaza-Streifen. Zu ihren Füßen klauben zwei Müllmänner von Sderot den Dreck der vergangenen drei Wochen zusammen. Plastikflaschen, Zigarettenschachteln, Fast-Food-Verpackungen. Plötzlich ruft einer den anderen und hält eine Kondom-Packung hoch. Später fällt mein Blick in Sderot auf eine Karikatur, die Soldatenuniformen auf einer Wäscheleine zeigt und den Satz: "Make Love not War". Thorsten Schmitz

Gelegentlich erinnert sich Buenos Aires, dass am Häusermeer der breiteste Fluss der Welt vorbei fließt. Bei vielen Einwohnern ist das dann der Fall, wenn sie mit dem Schnellboot über den Rio de la Plata nach Uruguay fahren. Oder wenn ein Kreuzfahrtschiff im Hafen ankommt, gerade landete die schwimmende Kleinstadt namens Mariner of the Sea. Aber die edlen Badeanstalten am Strom sind Vergangenheit, die braune Brühe ist längst zu dreckig. Trotz Badeverbots hat der Bürgermeister an zwei Uferstellen immerhin Sand aufschütten, gelbe Plastikstühle aufstellen und für diesen Hochsommer bis Ende Februar das Motto "Buenos Aires Strand" ausrufen lassen. Das habe sich in Paris, Berlin und Amsterdam bewährt. So weit ist es gekommen, dass sich die Metropole am Silberfluss von Binnenstädten inspirieren lassen muss. Peter Burghardt

Kunst kann man mögen. Oder auch nicht. Das Kunstwerk, um das es hier geht, steht in Tikrit, Irak. In einem Park einer Wohltätigkeitsorganisation für Kinder, deren Eltern nach Einmarsch der US-Truppen durch Gewaltakte umgekommen sind. Der Schuh ehrt den als Schuhwerfer bekannt gewordenen irakischen Journalisten Muntasser al Saidi. Die Bronze von Laith al Ameri, einem irakischen Bildhauer, trägt an der Seite ein Gedicht, das al Saidi als Helden lobt. Er hatte seine Schuhe nach George W. Bush, der mal US-Präsident war, geworfen. Das kann man mögen. Oder auch nicht. Al Saidi jedenfalls sitzt seitdem in Haft. Er wartet auf den Beginn seines Prozesses. Karin El Minawi

Meist stoppen ja ameisengroße Schigulis, für die die Abwrack-Prämie 30 Jahre zu spät kommt. Aber manchmal passiert auch dies, wenn man ein Taxi sucht: Eine Limousine öffnet die Tür, die Sitze sofa-dick, der Sicherheitsgurt. . . Der Fahrer zeigt auf eine Marke hinter der Scheibe, irgend etwas Offizielles. "Ich fahre sie alle", trumpft er auf, "Putin, Medwedjew, Luschkow. Alle." - Ah. Und? - "Was glauben Sie, was auf dem Rücksitz los ist, wenn die ihre Mädchen mitbringen." - Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow verführt Frauen wie im Autokino? Der Mann ist 72! - "Aber natürlich. Wenn ich's doch sage!" - Kontrollfrage: Und, wie sind sie sonst, Russlands Alphatiere? - "Was heißt sonst?" - Sind sie höflich, arrogant, so rein menschlich? - Kurzes Innehalten: "Menschlich? Keine Ahnung, was sie meinen." Na, jedenfalls sitzt man hier recht bequem. Sonja Zekri

Fotos: AFP (3), dpa

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Die Verdienste des Herrn Zumwinkel

Es gibt keinen Grund, den fr heren Postchef milde zu bestrafen

Für das Urteil im Steuerprozess gegen Ex-Postchef Klaus Zumwinkel ("Zumwinkel muss nicht ins Gefängnis", 27.Januar) zeigen Leser wenig Verständnis:

Die rhetorischen Figuren der "Zum-Winkel-Advokaten" ähneln auffallend den politisch abgestimmten Argumentationsfloskeln, wie sie seinerzeit bei Graf Lambsdorff  und anderen "verdienstvollen" Dienern unserer Republik zu hören waren. Ja, die politische Klasse weiß natürlich, welches Dank  sie Herrn Zumwinkel schuldet.  Hat er doch die politisch mit Fleiß betriebene Zerschlagung der, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, hervorragend funktionierenden und weltweit bewunderten "Deutschen Bundespost"  ganz im Sinne seiner Auftraggeber ausgeführt. Die  Steuervergehen stellen in der Tat lässliche Sünden gegenüber den  fiskalischen und sonstigen Folgelasten  dar, die mit der gelungenen Zerstörung eines effizienten Postsystems dem Bundesbürger entstanden sind. Sind denn bereits die Massenentlassungen und die Politik der Billiglöhne des "Betriebes Post" vergessen?  Dass die Verhökerung  wesentlicher Teile des Volksvermögens, wie sie die Post und die Bahn darstellt, ungestraft und sogar als strafmildernde Tugend betrachtet wird, dies ist allerdings Ausdruck eines erschreckenden  Verfalls unseres politischen und allgemeinen Rechtsbewusstseins. Dr. Reinhard Baden

Tübingen

In anderen

Sphären

Das ist ja schön, dass Herr Zumwinkel den "Fehler seines Lebens" einsieht und auch noch einen Schlussstrich unter seine Straftaten ziehen will. Aber ich lese kein Wort darüber, dass er sich bei den Menschen, bei der Gesellschaft, entschuldigt, denen er seine Steuern vorenthalten wollte. Und so kreist er wie all die anderen, die unser Geld verzockt haben, nur um sich selbst. Der Bezug zu den ganz normal arbeitenden Menschen ist diesen Herren schon längst verloren gegangen. Monika Ried

Germering

Wo bleibt

die Abschreckung?

Die Begründung für den Ausgang des Zumwinkel-Prozesses mag juristisch korrekt sein. Für den außenstehenden Laien bleibt sie dennoch höchst fragwürdig. Denn wenn man ein Vergehen nach der "Lebensleistung" des Angeklagten und nicht mehr neutral bewertet, dann dürfte künftig kaum noch eine reiche Person ohne starke Strafmilderung verurteilt werden. Die Folge ist, dass für potentielle Nachahmer des ehemaligen Postchefs der Abschreckungseffekt entfällt, ihr Geld nicht auch in Steueroasen zu verstecken. Ein verheerendes Signal, das die Richter in ihrer Urteilsfindung übersehen haben! Rasmus Ph. Helt

Hamburg

Ein Täter

ohne Reue

Klaus Zumwinkel hat seine Liechtensteingeschäfte als den größten Fehler seines Lebens bezeichnet und offenbar als ein Zeichen tätiger Reue nicht nur die seit 2001 hinterzogene Steuer von etwa einer Million Euro nachgezahlt, sondern den in den letzten zehn Jahren entstandenen Gesamtschaden von 3,9 Millionen Euro. Rein formal musste er das nicht, alles vor 2001 war verjährt. So ein reuiger Sünder könnte man denken, würde man nicht auch lesen, dass Herr Zumwinkel schon seit 1986 Steuern hinterzogen hat. Wenn er wirklich so große Reue empfände, wie er offenbar vorgibt, dann hätte es ihm doch eine Ehrensache sein müssen, die gesamte hinterzogene Steuer samt Zins und Zinseszins an den Fiskus zu zahlen. Dr. Hans Becker

München

Die Großen

lässt man laufen

Meine Frau, Altenpflegerin, reichte ihre Steuererklärung ein. Diese wurde von einem ehemaligen Finanzbeamten erstellt. Es wurde festgestellt, dass etwas nicht korrekt war. Meine Frau wurde mit einer für sie hohen Geldstrafe belegt, die sie in Monatsraten abzahlen musste. Begründung: "Sie hätten prüfen müssen, was Sie unterschreiben." Was ich daraus schließe: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Nein, wir Bürger haben zu unserer Führung kein Vertrauen mehr, kein Vertrauen zu deren Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Das sind für unsere Führenden überholte Begriffe, über die sie nur noch lächeln können. Karl Vogt

Wolfratshausen

Gedanken

eines Häftlings

Ich bin Strafgefangener der JVA Aachen, bin wegen schweren Raubes zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt und seit etwa zwei Jahren in Haft. Vor Gericht legte ich ein umfassendes Geständnis ab, sah und sehe mein Fehlverhalten ein und stelle mich meiner Schuld. Ich glaube mir eine Meinung bilden zu können, was Schuld, Reue und Buße ganz persönlich für einen Straftäter bedeutet, auch was die Auseinandersetzung darüber im Vollzug - der Zelle - betrifft. Herrn Zumwinkel aber bleibt eine Auseinandersetzung mit seiner Straftat, seiner Person, seinem Charakter, all das, was jeden Straftäter im Vollzug erwartet, erspart.

Ich lernte während meiner bisherigen Haft viele junge Männen kennen, die wegen Schwarzfahrens weggesperrt wurden. Einer musste wegen einer Geldstrafe von 50 Euro zehn Tage in die Zelle. Die Verfahrenskosten betrugen 75 Euro. Welch ein Segen, wenn man sich da herauskaufen kann. Er konnte es aber nicht, verlor Job und Freundin. Dies ist leider die Realität in unserem Rechtssystem - das Gleichheitsprinzip gilt vor Gericht nicht. Sven Völker

Aachen

Wie viel Reue empfindet der Ex-Vorstandschef der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel? Foto: dpa

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Glaubensbekenntnis der Sozialromantiker

Statt höherer ALG-II-Sätze sollte der Staat lieber die Ganztagsbetreuung fördern

Es ist ein bitterkaltes Bild von Deutschland, das Daniela Kuhr vom Leben armer Kinder in diesem Land zeichnet ( "207 Euro zum Leben", 27. Januar ). Kein Kuchen steht auf dem Geburtstagstisch, keine Freunde sitzen an der Geburtstagstafel. Keine Mitgliedschaft im Verein, kein Besuch der Musikschule ist möglich. Warum? Es fehlt halt am Geld!

Hält dieses Bild einer Überprüfung stand? Die Herstellung eines Schokoladenkuchens kostet selbst bei Zuhilfenahme einer Backmischung weniger als zwei Euro, üppigere Tiefkühl-Fertigkuchen sind für unter vier Euro zu haben. Scheitert daran ein Kindergeburtstag? Und weiter: Arme Kinder gehen nicht in Vereine: Die Mitgliedschaft für Jugendliche kostet bei der TUS Koblenz fünf Euro im Monat. Andere Turn- und Sportvereine im Großraum Koblenz bieten solche Mitgliedschaften für durchschnittlich zwei bis drei Euro im Monat an. Dafür werden dann die Kinder meist mehrmals mehrere Stunden in der Woche und am Wochenende ehrenamtlich betreut. Kommunale Musikschulen helfen sozial Schwachen mit verbilligten Beiträgen - in Musikvereinen ist Musikerziehung fast zum Nulltarif zu haben. Der Ausweis der Rheinischen Landesbibliothek, der eine Ausleihe von Büchern fast aus dem Gesamtbestand von Rheinland-Pfalz ermöglicht, ist kostenlos, die Stadtbücherei Koblenz verlangt von einer Familie zehn Euro im Jahr. Kein Zugang also zu Sport, Musik und Literatur für arme Kinder?

Eltern, die von immerhin 2532 Euro im Jahr solche Beiträge für ihr Kind nicht aufbringen können, haben ganz andere Probleme. Diese mit mehr Geld beheben zu wollen, gehört zum Glaubensbekenntnis von Sozialromantikern. Sinnvoll wäre eine Untersuchung, wie viele Kinder aus armen Familien mit zehn Jahren ein Handy haben, wie hoch die Kosten dafür sind, wie viele Spielkonsolen und Fernseher in Kinderzimmern armer Kinder stehen. Und gilt wirklich der Einwand, der Verzicht auf diese Dinge würde ein Kind für sein Leben stigmatisieren und traumatisieren? Eigene Armut kann man nur durch Anstrengung und Lernen beseitigen. Dies zu unterstützen, dafür muss die Gemeinschaft Geld ausgeben. Für verpflichtende Ganztagesbetreuung der Kinder in personell gut ausgestatteten Schulen, für Krippen- und Kindergartenplätze. Mehr Geld aus den Taschen anderer zu verteilen ist einfach, löst aber das Problem nicht im Mindesten, sondern wird es nur immer weiter verschärfen.

Wolfgang Renschke

Koblenz

Lässt sich Armut bei Kindern nur mit Geld bekämpfen? Foto: dpa

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Der Lebensraum der Rehe

Wie sinnvoll ist die Jagd?

Tierbestände regulieren sich auf natürliche Weise, das ist keine neue Erkenntnis . Die Ergebnisse des Münchner Zoologen Josef Reichholf ( "Hegen und schießen", 28. Januar ) bestätigen einzig die Grundgesetzmäßigkeiten zur Wachstumsdynamik von Tierpopulationen. Damit lässt sich aber nicht die Überflüssigkeit der Jagd begründen. In nicht bejagten Gebieten und bei fehlenden natürlichen Prädatoren werden Wildtiere maßgeblich durch das vorhandene Lebensraumangebot begrenzt. Bei ungestörter Entwicklung erreichen Populationen schnell eine Kapazitätsgrenze. Die Folgen dieser maximalen Auslastung des Lebensraumes sind geringere Vermehrungsraten, schlechtere körperliche Konstitution, höhere Krankheitsanfälligkeit und vermehrter Stress unter den Wildtieren. Die angeführte Schlussfolgerung, durch die Jagd vermehrt sich das Wild stärker als unter "natürlichen" Bedingungen, ist gerade unter diesen Gesichtspunkten eine Bestätigung für die Jagd. Denn durch die Reduktion der Populationen auf ein lebensraumangepasstes Maß kehren sich die genannten negativen Folgen um.

Der Einfluss stark überhöhter pflanzenfressender Wildtierbestände auf den Lebensraum Wald ist heute schon enorm. Besonders seltene Bäume werden selektiv verbissen. Geschieht dies über längere Zeiträume, entsteht eine Artenverarmung, die das zukünftige Reaktionsvermögen unsere Wälder gefährden kann. Das Argument des Rostocker Zoologen Ragnar Kinzelbach, dass "wenn man die Rehe nicht jagen würde, würden sie sich nicht so sehr im Wald aufhalten und dort alles anknabbern", ist falsch. Rehe sind im Gegensatz zum Rothirsch klassische Waldtiere und perfekt auf das Leben im dichten Unterholz angepasst. Das "Anknabbern" von Knospen ist nicht eine Folge der Bejagung, sondern liegt einzig in der Ernährungsphysiologie des Rehwildes begründet.

Tobias Stichel

Göttingen

Relikte aus der Zeit

des Neandertalers

"Viele Politiker sind passionierte Jäger": Dieser Satz ist der Knackpunkt. Im Politikalltag meistens nicht mit allzu vielen Erfolgserlebnissen gesegnet, finden sie archaische Selbstverwirklichung im Jagdgeschehen. Jagd ist ein ständiger, schwerer Eingriff in das Gleichgewicht der Natur - ein die Umwelt schädigendes, schlimmes Überbleibsel unbewältigter Neandertal-Mentalität, das Bundespräsident Theodor Heuss als eine "Nebenform menschlicher Geisteskrankheit" bezeichnete. Der seinen Killerinstinkt mittlerweile beherrschende Normalbürger steht verständnislos wie einst der Altbundespräsident vor dieser mit viel Brimborium verbrämten (Jagd-) Lust und Freude am Töten.

Ulrich Dittmann

Kirchheimbolanden

Die Jagd polarisiert. Die einen halten sie für notwendig, um Tierpopulationen zu kontrollieren, die anderen für überflüssige Quälerei. Foto: Stephan Rumpf

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MEIN DEUTSCHLAND

Celal Özcan

Selbst die Türken in Deutschland sind verblüfft über eine Studie, die besagt, sie seien die am schlechtesten integrierte Migrantengruppe. Keiner von ihnen will es wahrhaben. Ihre "gefühlte" Integration ist viel stärker. Hatte ihnen nicht schon in den neunziger Jahren der damalige türkische Staatspräsident Süleyman Demirel nach einer Besichtigung des BMW-Werks in München zugerufen: "Die Hände, die in der Türkei den Pflug führten, haben sich in die moderne Technologie integriert." Man war stolz, das zu hören. Bis dahin hatte kein deutscher Politiker sie jemals so gelobt.

Und jetzt? Erinnert sich noch jemand daran, dass bei der Fußball-WM die Türken mit der deutschen Fahne in der Hand jubelten? "Für immer fremd" und: "Die Türken verweigern sich eisern der Integration" lauten die Schlagzeilen. Stimmen denn die Ergebnisse der neuen Studie? Wer Türken fragt, bekommt oft die Antwort: Solange man hier als Fremder angesehen wird, kann man sich schwer integrieren. Einmal fremd, immer fremd? Ein türkischstämmiger Auszubildender reagiert empört: "Das kann nicht sein. Die Türken bei BMW sind gut integriert, sie sprechen Deutsch, sind Vertrauensleute und Betriebsräte." Das ist die eine Seite - die andere schildert der Müllmann. Er klagt, dass qualifizierte Türken unter Niveau arbeiten müssen. Er hat in der Türkei die Universität absolviert, hier arbeitet er als Müllmann. Er ist nicht der Einzige, den ich kenne.

EU-Bürger und Aussiedler: Sie sind alle besser integriert als die Türken, heißt es - nach den Ursachen fragt die Studie aber nicht. Ein Spanier, der seit drei Monaten in München ansässig ist, darf über die Kommunalpolitik mitbestimmen, ein hier geborener Türke, Serbe oder Kroate nicht. Die Aussiedler bekommen kostenlose Deutschkurse am Goethe-Institut, die Türken müssen selber schauen, wie sie Deutsch lernen. Ein Italiener oder Spanier fühlt sich als Europäer, ein Türke wird hier immer wieder daran erinnert, dass sein Herkunftsland nicht zum europäischen Kulturkreis gehört und damit auch nicht zu Europa und zur EU. "Unser Land soll auch im Jahr 2020 von Kirchtürmen und nicht von Minaretten geprägt sein", verkündete Stoiber im Bierzelt und bekam tosenden Applaus.

All dies darf aber bei den Türken nicht zu dem Reflex führen, sich zurückzuziehen. Sie dürfen nicht resignieren, sondern müssen ihren Platz in dieser Gesellschaft behaupten und dieses Land als ihr eigenes betrachten. Dass 30 Prozent der Türkischstämmigen keinen Schulabschluss haben, ist eine Schande für die Türken - aber auch für Deutschland. Die Türken müssen sich bei der Bildung ihrer Kinder stärker anstrengen, aber auch Deutschland muss mehr tun.

Die Studie stellt Deutschland und den hier lebenden Türken ein Zeugnis aus. Sie hat auf beiden Seiten Verwunderung und Empörung ausgelöst - und das kann durchaus Positives bewirken. Sie kann dazu führen, dass sich beide Seiten auf ihre Pflichten und Aufgaben neu besinnen. Der Naturwissenschaftler Jerome Wiesner sagte, die materiellen Ressourcen, die nicht genutzt werden, sind nicht verloren; ungenutzte menschliche Ressourcen dagegen sind für immer verloren.

Vier Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Celan Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hurriyet.

Integration von Türken in Deutschland SZ-Serie Mein Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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SPRACHLABOR

WAS WAREN DAS noch für gemütliche Zeiten, als man in den Zeitungen mit dem arbeiten konnte, was im bairisch-österreichischen Raum "Kursiverl" genannt wurde. Darunter verstand man ein glossierendes Textchen von nur wenigen Zeilen, das für eine Nachricht zu persönlich und für einen Kommentar zu unwichtig war. Beides, die Nichtigkeit wie auch deren individuelle Präsentation, signalisierte man dem Leser dadurch, dass man die Kursivschrift verwendete. Die sieht so aus: kursiv.

Ungeachtet dessen, dass sie eine lange Geschichte und schon deswegen eine gewisse Würde hat, ist mit der Kursivschrift heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Sie zählt zu den "Auszeichnungsschriften", doch so prächtig, wie sich das anhört, ist es damit in der Wirklichkeit nicht bestellt. Die meisten Blätter beschränken sich darauf, sie für Namen von Personen (siehe unten) oder Medien - Handelsblatt - und für Zitate aus fremden Sprachen zu verwenden: si tacuisses und so Sachen.

Wozu der Lärm? Nun, kürzlich wollte ein Streiflicht-Schreiber das, was in der gesprochenen Rede durch Anheben der Stimme oder Hochrecken der Faust ausgedrückt wird, auch in der Schrift darstellen, und er wählte dafür die Kursive: "Man stellte sich vor, man musste sich vorstellen . . ." Bei uns ging das durch, nicht jedoch beim Leser A. aus Wien, der uns "missbräuchlich angewandte Kursiv-Schreiberei" vorhielt und damit drohte, dass es, sollte "dieses Generve auch vor dem Allerheiligsten" nicht haltmachen, "einen Leser aus dem befreundeten Ausland weniger" gebe.

Das ist jetzt das, was man eine Bredouille nennt. Einerseits kann man jemandem, der das Streiflicht für das Allerheiligste hält, nur schwer widersprechen. Andererseits handelt es sich bei Herrn A. um den Dichter Reinhold Aumaier, der in seinen Gedichten auch gelegentlich zu einer Auszeichnungsschrift greift, nur eben nicht zur Kursive, sondern zur Sperrung. Hier aus seinen "Mottogedichten" ein Beispiel: "verdichte dein leben / in eine sekunde / stopf in ein wort / (d)einen ganzen / roman . . ." Ist das wirklich besser?

Was übrigens den Titel "Streiflicht" betrifft, so schreiben wir ihn nach altem Hausbrauch ebenfalls gern kursiv. Fürs Allerheiligste ist uns nichts zu schade. Hermann Unterstöger

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"Das Vertrauen ist erschüttert"

GDBA-Chef Hommel über die Datenaffäre der Bahn

Klaus-Dieter Hommel, Vorsitzender der Bahngewerkschaft GDBA, fordert von Bahnchef Hartmut Mehdorn eine Entschuldigung für die Überprüfung von 173 000 Mitarbeitern.

SZ: Herr Hommel, was muss Hartmut Mehdorn tun, um sich in der Datenaffäre aus der Affäre zu ziehen?

Klaus-Dieter Hommel: Wir hoffen, dass Herr Mehdorn und der Bahnvorstand noch die Kurve kriegen und erkennen und erklären, dass sie Mist gebaut haben. Das wird langsam Zeit, sonst wird die Belegschaft noch unruhiger, als sie es ohnehin schon ist.

SZ: Sie fordern also eine Entschuldigung?

Hommel: Mehdorn soll sich bei der Belegschaft entschuldigen und einräumen, dass Fehler gemacht wurden. Und er soll sicherstellen, dass so etwas nicht mehr passiert. Da ziehen die Bahngewerkschaften Transnet und GDBA an einem Strang. Wir sind erschüttert über Mehdorns Aussage, er würde das wieder tun.

SZ: Wie ist derzeit die Stimmung in der Belegschaft?

Hommel: Die Leute sind sauer. Es ergibt doch keinen Sinn, Lokführer, Fahrdienstleiter und viele andere Kollegen daraufhin zu überprüfen, ob sie krumme Geschäfte machen. Die vergeben doch keine Aufträge, da ist jedes Maß verlorengegangen. Die Mitarbeiter wollen nun wissen, wann sie überprüft wurden und was mit ihren Daten geschehen ist. Einige erwägen sogar, Strafanzeigen gegen die Bahn zu stellen. Das Vertrauen der Belegschaft in den Vorstand ist stark erschüttert.

SZ: Die Bahn hat den Betriebsrat nicht informiert, weil der "zu geschwätzig" sei.

Hommel: Diese Aussage der Bahn ist eine Unverschämtheit. Das zeigt, dass der Vorstand vorsätzlich gegen das Betriebsverfassungsgesetz verstoßen hat, das eine Unterrichtung der Arbeitnehmer-Vertreter über solche Vorgänge vorschreibt.

SZ: Was soll die von den Gewerkschaften geforderte Sondersitzung des Aufsichtsrats bringen?

Hommel: Wir wollen vom Vorstand wissen, wer hat wann was angeordnet und gewusst. Wir erwarten eine vollständige Aufklärung.

Interview: Klaus Ott

Mehdorn, Hartmut Hommel, Klaus-Dieter: Interviews Deutsche Bahn AG DB: Personal Deutsche Bahn AG (DB): Betriebsrat Verkehrsgewerkschaft GDBA Spitzelaffäre bei der Deutschen Bahn AG 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Böhmer lehnt befristete Zuwanderung ab

Integrationsbeauftragte bezweifelt, dass zugezogene Fachkräfte wieder in ihre Heimat zurückkehren würden

Von Roland Preuß

Stuttgart - Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, hat Pläne von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) für eine zeitlich befristete Zuwanderung aus armen Ländern kritisiert. "Für Deutschland ist das nicht der richtige Weg", sagte die CDU-Politikerin am Rand einer Tagung zum Ausländerrecht in Stuttgart-Hohenheim. Sie bezweifle, dass auf diesem Weg die passenden Arbeitskräfte kämen für eine hochtechnisierte Wirtschaft wie die deutsche. Außerdem sei fraglich, ob die Menschen wieder in ihr Herkunftsland zurückgingen, so lange die Wohlstandsunterschiede zu Entwicklungsländern so groß seien, sagte Böhmer.

Schäuble will Menschen aus einzelnen armen Ländern wie etwa Moldawien erlauben, für ein paar Jahre in einem EU-Land zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen. Sie müssten sich jedoch von vornherein dazu verpflichten, nach Ablauf der Frist wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Die Herkunftsländer sollen als Gegenleistung zusagen, die Migranten später wieder aufzunehmen und zudem mehr in Sicherheitsfragen mit der EU zu kooperieren, etwa beim Vorgehen gegen illegale Einwanderer. Einen entsprechenden Vorstoß hatte Schäuble 2007 mit dem damaligen französischen Innenminister, Nicolas Sarkozy, initiiert, noch in diesem Frühjahr will die EU-Kommission eine Vorlage zu dieser sogenannten zirkulären Migration präsentieren.

Der Europaabgeordnete Wolfgang Kreissl-Dörfler (SPD) sagte auf der Tagung, Schäubles Vorschlag werde "so nicht funktionieren", weil man die Einwanderer nicht mehr ohne weiteres in ihre Heimat zurückschicken könne. Das Konzept stoße auch in der EU-Kommission auf Skepsis. Ähnlich äußerte sich Herbert Brücker, Migrationsexperte am wissenschaftlichen Institut der Bundesagentur für Arbeit (IAB). Brücker stellte neue Forschungsergebnisse zum Thema Zuwanderung vor.

Demnach führt die Zuwanderung qualifizierter Ausländer zu höheren Löhnen und einer geringeren Arbeitslosigkeit in Deutschland. Beim Zuzug Unqualifizierter lasse sich dagegen ein leichter Anstieg der Erwerbslosigkeit feststellen. "Insgesamt werden die Auswirkungen von Zuwanderung in der Öffentlichkeit aber stark überschätzt", sagte Brücker. Die stärksten Folgen spürten die bereits im Land lebenden Ausländer. "Sie sind die dramatischen Verlierer der Zuwanderung." Der Professor kritisierte die seit Jahresbeginn geltenden Erleichterungen für ausländische Fachkräfte als unzureichend. Zum 1. Januar hatte die Koalition die Einkommensgrenze für hochqualifizierte Zuwanderer von etwa 86 000 Euro pro Jahr auf 63 600 gesenkt. "Das wird am Problem des Fachkräftemangels überhaupt nichts ändern", sagte er. "Wenn die Konjunktur wieder anzieht, sollten etwa 200 000 Hochqualifizierte pro Jahr ins Land kommen", sagte der Wissenschaftler.

Böhmer forderte eine zentrale Stelle zur Anerkennung ausländischer Berufs- und Bildungsabschlüsse. Laut einer Studie aus dem Jahr 2007 leben eine halbe Million Einwanderer in der Bundesrepublik, die zwar einen Berufsabschluss mitgebracht haben, der aber in Deutschland nicht anerkannt werde.

Wenn die Konjunktur anzieht, sollen 200 000 Hochqualifizierte pro Jahr ins Land kommen

Böhmer, Maria Einwanderungspolitik in Deutschland Fachkräfte und Führungskräfte in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Denkmal für Heuss

Brackenheim - Bundespräsident Horst Köhler hat das erste deutsche Staatsoberhaupt Theodor Heuss zu dessen 125. Geburtstag als "Glücksfall für Deutschland" geehrt. "Er war nicht nur der erste, sondern der unvergleichliche Bundespräsident", sagte Köhler am Samstag in Heuss' Geburtsort Brackenheim bei Heilbronn. Heuss kam dort am 31. Januar 1884 zur Welt. Köhler enthüllte in dort gemeinsam mit seiner Frau Eva Luise und Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) eine bronzene, lebensgroße Statue seines Amtsvorgängers. Köhler sagte, aus seiner persönlichen Erfahrung des Nationalsozialismus habe dieser eine Aufgabe für den Aufbau der Demokratie nach 1945 abgeleitet. "Das war vielleicht auch Reue", sagte Köhler unter Hinweis auf Heuss' Zustimmung als Reichstagsabgeordneter zu Hitlers Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933. Heuss amtierte von 1949 bis 1959 als Staatsoberhaupt. dpa

Bundespräsident Horst Köhler und Ministerpräsident Günther Oettinger (links) enthüllten die Statue von Theodor Heuss. dpa

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Gysi lehnt "Spinner" ab

Berlin - Die Linkspartei will künftig härter gegen interne Kritiker vorgehen. "Wir müssen nicht jeden Spinner akzeptieren", sagte Linke-Fraktionschef Gregor Gysi. Wer der Linken bewusst schaden wolle, "der gehört nicht in die Partei". Hintergrund sind unter anderem Querelen im hessischen Landesverband der Linken. Gysi betonte, aus Rücksicht auf die SED-Vergangenheit der neuen Partei sei die Linke bisher eher zurückhaltend gegen Spalter in den eigenen Reihen vorgegangen. Diese Rücksichtnahme erweise sich angesichts des Verhaltens einiger Mitglieder nun aber als "Strukturmangel". ddp

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Harte Attacken auf Bahnchef Mehdorn

Gewerkschaften fordern wegen der Ausspähung von Mitarbeitern eine Sondersitzung des Aufsichtsrats

Von Klaus Ott

München - Zumindest in einem Punkt hatte Vorstandschef Hartmut Mehdorn Recht, als er sich dieser Tage in der Datenaffäre bei der Deutschen Bahn (DB) an den Aufsichtsrat wandte. "Es ist uns bisher nicht gelungen", schrieb der Konzernchef, "in der Öffentlichkeit und den Medien Vertrauen und Verständnis für unsere Position zu finden." Das ist freilich noch recht milde ausgedrückt. Der bullige Bahnchef, der von sich selbst sagt, er sei kein Diplomat, hat wieder einmal viel Kritik auf sich gezogen. Frühere Aufregungen über ein schier undurchschaubares neues Ticket-System, über seine Privatisierungspläne für das Staatsunternehmen und andere Konfliktstoffe hat Mehdorn stets überstanden, auch weil Bundeskanzlerin Angela Merkel und deren Vorgänger Gerhard Schröder ihn immer wieder gestützt haben. Doch die Überprüfung von 173 000 Mitarbeitern, bei denen die Bahn mit dem Abgleich von Daten nach Anhaltspunkten für Korruption, Betrug oder andere kriminelle Geschäfte forschte, könnte ihn den Job kosten.

In diese Lage hat sich Mehdorn nach Ansicht von Aufsichtsräten selbst gebracht. Mitglieder des Kontrollgremiums, Gewerkschafter und Politiker sind empört, wie barsch der Bahnchef jede Kritik an der Massen-Kontrolle der Belegschaft zurückweise, wie sehr er diese Aktion bagatellisiere, und wie er auf diese Weise Öl ins Feuer gieße. Die Bahngewerkschaften fordern eine Sondersitzung des Aufsichtsrats und eine Entschuldigung bei der Belegschaft (siehe Interview). Aufsichtsratschef Werner Müller, ehedem Bundeswirtschaftsminister, will an diesem Montag mit den Gewerkschaftschefs Alexander Kirchner (Transnet) und Klaus-Dieter Hommel (GDBA) darüber reden. "Wenn die Spitzenvertreter der Belegschaft im Aufsichtsrat kurzfristig eine außerordentliche Sitzung wünschen, dann wird diese anberaumt", sagte ein Sprecher Müllers am Sonntag.

Der Aufsichtsrat wird also rasch zusammenkommen. Noch vor dem 11. Februar, an dem sich der Bundestag erneut mit der Affäre befassen will, soll das nach dem Willen der Gewerkschaften geschehen. Dann wird sich wohl Mehdorns Schicksal entscheiden. Transnet und GBDA attackieren den Bahnchef härter denn je, sogar von "Rasterfahndung" in der Belegschaft ist die Rede. Die Gewerkschaften fordern eine Entschuldigung. Tue er das nicht, dann hätte er das Vertrauen des Arbeitnehmerflügels im Aufsichtsrat verloren. "Dann ist die Partie gelaufen", hieß es am Sonntag aus dem Aufsichtsrat. "Die Lage ist hochgefährlich für Mehdorn." Der frühere Flugzeugmanager hat es offenbar selbst in der Hand, ob er Bahnchef bleibt. Aber nichts fällt ihm so schwer wie zuzugeben, dass er sich falsch verhalten habe.

In seinem Brief an den Aufsichtsrat vom Donnerstag vergangener Woche beklagte sich Mehdorn, die "Behandlung des angeblichen Datenschutzskandals bei der Deutschen Bahn im Verkehrsausschuss des Bundestags hat erneut zu einer für das Unternehmen sehr negativen Medienberichterstattung geführt". Angesichts der großen Anstrengungen der Bahn beim Kampf gegen die Korruption sei das "sehr enttäuschend", schrieb Mehdorn. Nicht die Massen-Kontrolle der Belegschaft, sondern der Umgang des Parlaments damit ist aus Mehdorns Sicht das Problem. Im Bundestag hatte der oberste Korruptionsbekämpfer der Bahn, der frühere Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner, auf Nachhaken von Abgeordneten Details wie die Überprüfung der 173 000 Mitarbeiter mitgeteilt. Diese Aktion habe "nichts mit guter Unternehmenskultur zu tun", kritisierte Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) am Wochenende. Tiefensee arbeite auf Mehdorns Rauswurf hin, heißt es im Aufsichtsrat der Bahn, während die Kanzlerin abwarte, wie sich die Sache entwickele. Aus Regierungskreisen ist zu hören, Mehdorn stütze sich vor allem auf Merkel, aber das könne auch schiefgehen. Wie falsch der Bahnchef die Lage einschätze, habe sich am Freitag gezeigt. Da wollte sich der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats vom Vorstand über die Datenaffäre informieren lassen. Mehdorn war anfangs nicht zugegen. Er musste erst geholt werden.

Nichts fällt Mehdorn schwerer als zuzugeben, dass er sich falsch verhalten hat

Noch weist Bahnchef Hartmut Mehdorn alle Vorwürfe in der Datenaffäre als "polemisch" zurück. Der kritisierte Datenabgleich sei in vielen internationalen Unternehmen Standard und werde von Wirtschaftsprüfern empfohlen. Der Bahnchef wies auch die Kritik von Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee zurück, der gesagt hatte, es mache keinen Sinn, dass 173 000 einfache Mitarbeiter auf Korruption überprüft worden seien. Foto: Georg Moritz

Mehdorn, Hartmut: Angriffe Deutsche Bahn AG (DB): Aufsichtsrat Verkehrsgewerkschaft GDBA Transnet Gewerkschaft GdED Spitzelaffäre bei der Deutschen Bahn AG 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Koalitionsvertrag gebilligt

Bad Camberg/Buseck - CDU und FDP in Hessen haben am Samstag den Koalitionsvertrag für eine Regierung unter Ministerpräsident Roland Koch gebilligt. Beide Parteien stellten sich auf kleinen Parteitagen in Bad Camberg und Buseck einstimmig hinter den Vertrag. Die konstituierende Sitzung des Landtags mit der Wahl Kochs zum Ministerpräsidenten findet am Donnerstag statt. Erst am Tag davor will Koch die Besetzung der sieben CDU-Ministerposten bekannt geben. Die drei FDP-Minister stehen bereits fest: Fraktionschef Jörg-Uwe Hahn wird Justizminister, der frühere Wirtschaftsminister Dieter Posch kehrt in das Wirtschaftsressort zurück, die Landtagsabgeordnete Dorothea Henzler erhält das Kultusministerium. AFP

Regierungen Hessens SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Münteferings Sirenengesang

Der SPD-Chef will die Liberalen für eine Ampelkoalition gewinnen

Berlin - Dem FDP-Vorsitzenden müssen an diesem Wochenende die Ohren geklungen haben. Ganz ungewohnte Töne schollen ihm aus dem Lager der Sozialdemokraten entgegen. "Auch Guido Westerwelle ist älter und klüger geworden", bescheinigte SPD-Chef Franz Müntefering dem liberalen Kollegen per Interview. Die SPD-Linke Andrea Nahles entdeckte gar Übereinstimmungen mit der FDP "selbst in meinem Themengebiet, der Arbeits- und Sozialpolitik", wenngleich sie zur Person Westerwelle noch ein bisschen Distanz wahrte.

Als Alternative zu einem Bündnis mit der Union bot Müntefering der FDP die Mitwirkung in einer Ampelkoalition unter einem Kanzler Frank-Walter Steinmeier an. In ihren Kernbereichen Liberalität, Bürgerrechte, Bildung, Menschenrechte "und sogar in ökonomischen Fragen" könne sich die FDP mit SPD und Grünen arrangieren, sagte Müntefering der Welt am Sonntag. Auf die Frage, ob er dem FDP-Vorsitzenden das von ihm angestrebte Amt des Außenministers zutraue, meinte Müntefering: "Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand."

Münteferings Stellvertreterin im Parteivorsitz, Andrea Nahles, sah "Übereinstimmungen" mit der FDP auch in der Außen- und der Innenpolitik. "Ich komme aus Rheinland-Pfalz, wir haben da 15 Jahre mit denen eine Regierung gebildet, die dem Land gutgetan hat", sagte Nahles dem Spiegel. Um dann rasch hinzuzufügen: "Vielleicht weil Westerwelle da nicht soviel zu sagen hatte?"

Derzeit sehen sich die Liberalen von zwei Seiten umworben. Für Union wie SPD ist ein Bündnis mit der FDP der einzige Ausweg aus der großen Koalition - für die SPD zumindest solange, wie sie an ihrem strikten Nein zu einer Kooperation mit der Linken auf Bundesebene festhält. Allerdings versucht es die CSU im Gegensatz zu Münteferings Sirenengesang augenscheinlich mit Zuckerbrot und Peitsche. War sie vor kurzem noch mit einer Koalitionsaussage zugunsten der FDP vorgeprescht, so schlug ihr Landesgruppenchef Peter Ramsauer am Wochenende wieder andere Töne an. "Ich warne die bürgerlichen Wähler vor der FDP. Wer auf Nummer sicher gehen will mit der Stimme für das bürgerliche Lager, muss seine Stimme der Union geben" sagte Ramsauer. Die Stimme für die FDP könne im Bund verloren sein, wenn die Liberalen eine Ampel-Koalition eingehen sollten. Peter Blechschmidt

Müntefering, Franz Verhältnis der SPD zur FDP Ampelkoalitionen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Streit um Schuldenbremse

Berlin - Der Plan für eine gemeinsame Schuldenbremse für Bund und Länder steht offenbar kurz vor dem Aus. Grund ist Uneinigkeit unter den Ländern, was eine Einigung in der Abschlusssitzung der Föderalismuskommission am Donnerstag erschwert. Die Koalition plant deshalb nun eine Regel allein für den Bund, inklusive einer Grundgesetzänderung, wie das Magazin Spiegel berichtet. Der stellvertretende Vorsitzende der Föderalismuskommission, Ernst Burgbacher (FDP), sagte, das Mindeste, was erreicht werden müsse, sei die Verankerung einer wirksamen Schuldenbremse für Bund und Länder im Grundgesetz. Diese müsse in normalen Zeiten ein Neuverschuldungsverbot bedeuten. AP

Zweite Föderalismusreform 2006- Schulden der Öffentlichen Hand in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Brüchige Waffenruhe

Israel droht mit "harter Reaktion" auf Raketenbeschuss

Jerusalem - Nach neuen Raketenangriffen radikaler Palästinenser hat der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert Vergeltung angekündigt. Während der Kabinettssitzung am Sonntag in Jerusalem sagte er: "Wenn die Bürger im Süden Israels beschossen werden, wird Israels Reaktion hart sein." Man werde "nicht zu den Spielregeln zurückkehren, die die Terrororganisationen uns aufzwingen wollten". Er habe Verteidigungsminister Ehud Barak angewiesen, das Armee für eine Reaktion vorzubereiten.

Militante Palästinenser im Gaza-Streifen hatten auch am Wochenende Raketen auf israelische Ortschaften gefeuert. Ein Militärsprecher bestätigte, es seien insgesamt vier Kassam-Raketen eingeschlagen, eine davon neben einem Kindergarten. Über Verletzte oder Sachschaden wurde nichts bekannt. Bereits am Samstag war eine aus dem Gazastreifen abgefeuerte Grad-Rakete nahe der Küstenstadt Aschkelon eingeschlagen. Seit Beginn einer Waffenruhe nach der israelischen Offensive im Gaza-Streifen vor zwei Wochen war es mehrmals zu vereinzelten Angriffen auf Israel gekommen. Die Hamas übernahm aber keine Verantwortung für die neuen Angriffe, zu denen sich meist kleinere Gruppen bekannten.

Laut dem arabischen Nachrichtensender Al-Arabija hat die Hamas im Ringen um eine dauerhafte Waffenruhe einem Vorschlag Ägyptens zugestimmt. Ein Sprecher von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem "Durchbruch". Abbas will offenbar an diesem Montag Ägyptens Präsident Hosni Mubarak in Kairo treffen. Einzelheiten zum ägyptischen Friedensplan wurden nicht genannt.

Der im syrischen Exil lebende Hamas-Chef Khaled Meschaal kam am Sonntag zu Gesprächen mit der iranischen Führung in Teheran zusammen. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Irna meldete, sollte Meschaal unter anderem Präsident Mahmud Ahmadinedschad treffen. Maschaal besucht regelmäßig Iran, dessen Regierung einer der wichtigsten Verbündeten der Hamas ist.

Der Kandidat mit den besten Aussichten auf das Amt des israelischen Ministerpräsidenten bei den vorgezogenen Neuwahlen, Oppositionsführer Benjamin Netanjahu, bezeichnete unterdessen Iran als größte Bedrohung für Israel. Sollte er das Amt des Regierungschefs übernehmen, werde er sicherstellen, dass die Regierung in Teheran nicht länger eine atomare Bedrohung darstelle, sagte Netanjahu am Samstag. Iran "wird nicht mit einer Atomwaffe bewaffnet sein", fügte er hinzu und schloss einen Militäreinsatz gegen Teheran nicht aus. dpa/AP/AFP

Kampfhandlungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Schmuggeltunnel zwischen Gaza und Ägypten Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Obama der Republikaner

Washington - Erstmals in ihrer Geschichte haben die US-Republikaner einen schwarzen Politiker an die Spitze ihrer Partei gestellt. Mit der Wahl des Afro-Amerikaners Michael Steele wollen Amerikas Konservative nach acht Jahren Bush-Regierung einen Neuanfang versuchen. Steele soll wieder mehr unabhängige und vor allem nicht-weiße Wähler umwerben: Bei der Wahl im November hatten mehr als 90 Prozent der Schwarzen und zwei Drittel aller Latinos den Republikanern ihre Stimme verweigert.

Steeles bisherige Karriere beschränkte sich auf seinen kleinen Heimatstaat Maryland. Dort diente der heute 50-jährige Politiker vier Jahre lang als Vize-Gouverneur. Im Jahr 2006 scheiterte er mit einer Kandidatur für den US-Senat: Der mediengewandte und rhetorisch begabte Steele machte vor allem die Ablehnung der Bush-Regierung für seine Niederlage verantwortlich: Das "R" der Partei habe ihm geschadet "wie ein Brandzeichen auf der Stirn".

Steele gilt als stramm konservativ und ist als überzeugter Abtreibungsgegner auch für den evangelikalen Parteiflügel akzeptabel. Unter den fünf Kandidaten, die sich in der Nacht zum Samstag um den Parteivorsitz bewarben, hatte Steele zunächst nur moderate Parteifreunde hinter sich. Überraschend setzte er sich dann im sechsten Wahlgang gegen Katon Dawson durch, den Parteichef von South Carolina. Dawson, bis voriges Jahr noch Mitglied eines rein weißen Country Clubs, baute vorrangig auf Delegiertenstimmen aus den Südstaaten, wo die Republikaner ihre Hochburgen haben. Steele hingegen hatte betont, eine Partei in der Tradition des Präsidenten Abraham Lincoln müsse auch im weniger konservativen Nordosten und Mittleren Westen wählbar bleiben. Als Zeichen des Bruchs mit George W. Bush werteten Beobachter, dass der bisherige Parteichef Mike Duncan seine Bemühungen um eine Wiederwahl früh hatte aufgeben müssen.

Generell haben die Vorsitzenden des sogenannten Nationalkomitees der beiden Großparteien nur wenig Einfluss. Steele kündigte an, er wolle nun "die direkte Auseinandersetzung" mit Obama suchen. Am Rande des Parteitages räumten mehrere Republikaner ein, sie wollten mit der Wahl Steeles auf Obamas Triumph reagieren: "Hätte Obama im Herbst nicht gewonnen," so sagte ein Delegierter aus Texas, "hätten wir nie einen Afro-Amerikaner zum Vorsitzenden gewählt." (Seite 4) Christian Wernicke

Neuer Vorsitzender der US-Republikaner: Michael Steele. Foto: Reuters

Steele, Michael Republican Party: Parteiführung Republican Party: Strategie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kirill will Vorherrschaft der Orthodoxie festigen

Moskau - Der neue Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kirill, ist in Moskau mit einem prunkvollen Gottesdienst in sein Amt eingeführt worden. An der Inthronisationsfeier in der Erlöserkathedrale unweit des Kremls nahmen am Sonntag mehrere tausend Gläubige teil, darunter auch Präsident Dmitrij Medwedjew und Regierungschef Wladimir Putin. Der als vergleichsweise liberal geltende Kirill, 62, war Ende Januar zum neuen Kirchenoberhaupt gewählt worden. Er ist der Nachfolger des im Dezember gestorbenen Patriarchen Alexi II. Kirill kündigte an, er wolle die Vormachtstellung der russisch-orthodoxen Kirche auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken festigen. Als erster Gratulant trat Kremlchef Medwedjew zum Patriarchen. "Dieses Ereignis eröffnet eine neue Epoche der Orthodoxie in unserem Land", sagte er. Eine enge Zusammenarbeit mit der Kirche sei für den russischen Staat von großer Bedeutung. Im Anschluss segnete der Patriarch Medwedjew und Putin. Kirill hatte sich als Außenminister des Patriarchats um die Aussöhnung der Kirchen verdient gemacht.dpa

Moskau

- Der neue Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kirill, ist in Moskau mit einem prunkvollen Gottesdienst in sein Amt eingeführt worden. An der Inthronisationsfeier in der Erlöserkathedrale unweit des Kremls nahmen am Sonntag mehrere tausend Gläubige teil, darunter auch Präsident Dmitrij Medwedjew und Regierungschef Wladimir Putin. Der als vergleichsweise liberal geltende Kirill, 62, war Ende Januar zum neuen Kirchenoberhaupt gewählt worden. Er ist der Nachfolger des im Dezember gestorbenen Patriarchen Alexi II. Kirill kündigte an, er wolle die Vormachtstellung der russisch-orthodoxen Kirche auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken festigen. Als erster Gratulant trat Kremlchef Medwedjew zum Patriarchen. "Dieses Ereignis eröffnet eine neue Epoche der Orthodoxie in unserem Land", sagte er. Eine enge Zusammenarbeit mit der Kirche sei für den russischen Staat von großer Bedeutung. Im Anschluss segnete der Patriarch Medwedjew und Putin. Kirill hatte sich als Außenminister des Patriarchats um die Aussöhnung der Kirchen verdient gemacht.

Kirill, Metropolit Russisch-Orthodoxe Kirche in Russland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Livni fordert Türkei zu mehr Respekt auf

Tel Aviv - Nach dem Wutausbruch des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan hat Israels Außenministerin Tzipi Livni mehr Respekt für die Positionen ihres Landes gefordert. Livni sagte im Rundfunk Israel unterhalte wichtige strategische Beziehungen mit der Türkei. Gleichzeitig gebe es einen "nicht einfachen Streit" zwischen den Partner über Israels Politik gegenüber der radikalislamischen Hamas im Gaza-Streifen. Erdogan hatte die von Israel kontrollierten Palästinensergebiete als "Freilichtgefängnis" bezeichnet. In einem Interview mit der Washington Post stellte er die politische Isolierung der Hamas infrage: "Hamas ist als politische Partei bei den Wahlen angetreten. Hätte die Welt ihnen die Chance gegeben ein politischer Akteur zu werden, wären sie nach dem Wahlsieg vielleicht nicht in diese Situation gekommen. Die Welt hat den politischen Willen des palästinensischen Volkes nicht respektiert", sagte Erdogan.dpa

Tel Aviv

- Nach dem Wutausbruch des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan hat Israels Außenministerin Tzipi Livni mehr Respekt für die Positionen ihres Landes gefordert. Livni sagte im Rundfunk Israel unterhalte wichtige strategische Beziehungen mit der Türkei. Gleichzeitig gebe es einen "nicht einfachen Streit" zwischen den Partner über Israels Politik gegenüber der radikalislamischen Hamas im Gaza-Streifen. Erdogan hatte die von Israel kontrollierten Palästinensergebiete als "Freilichtgefängnis" bezeichnet. In einem Interview mit der Washington Post stellte er die politische Isolierung der Hamas infrage: "Hamas ist als politische Partei bei den Wahlen angetreten. Hätte die Welt ihnen die Chance gegeben ein politischer Akteur zu werden, wären sie nach dem Wahlsieg vielleicht nicht in diese Situation gekommen. Die Welt hat den politischen Willen des palästinensischen Volkes nicht respektiert", sagte Erdogan.

Livni, Tsipi Erdogan, Recep Tayyip Militärischer Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Beziehungen der Türkei zu Israel Weltwirtschaftsforum 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Island erhält neue Regierung

Sozialdemokratin führt Übergangskoalition bis April

Stockholm - Nach tagelangen Verhandlungen haben sich Islands Parteien am Wochenende auf eine neue Regierung geeinigt. Als Ministerpräsidentin wird Präsident Olafur Grimsson die Sozialdemokratin Johanna Sigurdardottir vereidigen. Sie steht einer Koalition mit der Partei der Links-Grünen vor, deren Parteichef Steingrimur Sigfusson Finanzminister wird. Das alte Regierungsbündnis aus Sozialdemokraten und Konservativen war vorige Woche an den Folgen der Finanzkrise zerbrochen. Sigurdardottirs Mannschaft soll die Geschicke des Landes nun übergangsweise bis zu den vorgezogenen Neuwahlen Ende April lenken.

Da Sozialdemokraten und Links-Grüne im Parlament keine eigene Mehrheit haben, ist die Regierung auf die Unterstützung der rechtsliberalen Fortschrittspartei angewiesen. Die Einigung zwischen den drei Partnern war schwierig, denn sie vertreten in wichtigen Fragen sehr unterschiedliche Positionen. So befürworten Sozialdemokraten und Fortschrittspartei einen zügigen EU-Beitritt, von dem sie sich eine Stabilisierung der angeschlagenen Inselwirtschaft erhoffen. Die Links-Grünen lehnen jedoch die Mitgliedschaft ab. Parteichef Sigfusson, der neue Finanzminister, brachte am Wochenende als Alternative eine stärkere Bindung an das nicht zur EU gehörende Norwegen und die norwegische Krone ins Gespräch.

Vermutlich wird die neue Regierung den Walfang wieder begrenzen oder gar ganz verbieten. Der scheidende Fischereiminister hatte an seinem letzten Arbeitstag die Abschussquoten für Finnwale und Zwergwale kräftig erhöht und damit Proteste im In- und Ausland ausgelöst.

Es wird auch erwartet, dass Sigurdardottir als eine ihrer ersten Amtshandlungen den umstrittenen Zentralbankchef David Oddsson entlässt. Viele Isländer geben ihm eine Mitschuld an dem Zusammenbruch der drei größten Banken des Landes, der im Oktober Island an den Rand eines Staatsbankrotts brachte.

Bei dem Fiasko, das auch eine Folge der internationalen Finanzkrise war, verloren viele Isländer ihrer Ersparnisse. Zahlreiche Firmen mussten Konkurs anmelden und Mitarbeiter entlassen. Die isländische Krone verlor drastisch an Wert, was die Preise auf der Insel in die Höhe trieb. Seit Monaten protestieren aufgebrachte Bürger wöchentlich in Reykjavik, teilweise kam es dabei zu Ausschreitungen. Gunnar Herrmann

Oddsson, David Sigurdardottir, Johanna Sigfusson, Steingrimur Regierungen Islands SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Diskreter Berater mit besten Beziehungen

Kölner Lokalpolitiker muss wegen undurchsichtiger Geschäfte mit der Sparkasse zurücktreten

Von Johannes Nitschmann

Köln - Pünktlich zum rheinischen Karneval sorgt in Köln eine neue Klüngel-Affäre für politischen Wirbel. Ins Zwielicht ist der prominente CDU-Lokalpolitiker Rolf Bietmann geraten, der jetzt auf Druck der eigenen Parteiführung als bereits nominierter Direktkandidat für die kommende Bundestagswahl zurückgetreten ist. Der Politskandal um den Kölner Christdemokraten bietet viel Stoff für die heimischen Büttenredner. Bietmann ist in Verdacht geraten, die Sparkasse Köln/Bonn ausgenommen zu haben, und zwar mittels eines dubiosen Beratervertrags, der dem 54-jährigen Anwalt binnen zwei Jahren 900 000 Euro eingebracht hat. Zudem soll Bietmann von der Kölner Sparkasse kurz vor Abschluss seines Beratervertrags im Jahr 2005 ein zinsloses Darlehen in Höhe von 700 000 Euro erhalten haben, was der CDU-Politiker allerdings bestreitet.

Die undurchsichtigen Geschäfte Bietmanns mit der örtlichen Sparkasse, als deren Verwaltungsratsvorsitzender der damalige CDU-Fraktionschef im Kölner Stadtrat bis zum Jahr 2003 fungiert hatte, seien in der Öffentlichkeit "nicht vermittelbar", meinte die Kölner CDU-Führung. Bietmann, dem seine Parteifreunde "eine unstillbare Geldgier" vorwerfen, sei als CDU-Bundestagskandidat "untragbar geworden". Konrad Adenauer, der Enkel des gleichnamigen Kanzlers und eine Autorität in der Kölner CDU, hatte den Anwalt öffentlich unter Klüngelverdacht gestellt: "Rolf Bietmann fragte man und beauftragte man nicht wegen seiner Rechtskunde, sondern wegen seiner Beziehungen."

Das enggeknüpfte Beziehungsgeflecht des streitbaren Christdemokraten reicht weit über die Domstadt hinaus - bis in die Bundeshauptstadt Berlin. Dort ist Bietmann Partner der "Wirtschafts- und Politikberatungsfirma PKS GmbH", gemeinsam mit dem früheren Regierungssprecher Friedhelm Ost (CDU) und Ex-Wirtschaftsstaatssekretär Georg Wilhelm Adamowitsch (SPD). Beiratsvorsitzender des Unternehmens ist der ehemalige Bundeswirtschaftsminister und Sozialdemokrat Wolfgang Clement.

Bietmanns Kundschaft lässt sich dessen Beraterdienste offenkundig viel kosten. Bei der Sparkasse Köln/Bonn erhielt er pro Monat ein Beratungshonorar von 25 000 Euro sowie am Ende seiner zweijährigen Tätigkeit, die ursprünglich für vier Jahre vereinbart worden war, eine "Erfolgsprämie" in Höhe von 300 000 Euro. Ein Wirtschaftsprüfer konnte aber in den Akten der Bank keine Belege und Dokumente über Beraterleistungen Bietmanns finden. Für diesen ist das freilich nicht verwunderlich: Schließlich, so sagte Bietmann der Süddeutschen Zeitung, habe er mit der Sparkasse einen "Vertrauensvertrag" abgeschlossen.

Nach seinem Rücktritt als Bundestagskandidat war der Anwalt in die Offensive gegangen und hatte die ADK-Prüfungsgesellschaft mit der Begutachtung seiner Beratertätigkeit für die Sparkasse Köln/Bonn beauftragt. Diese Prüfungsgesellschaft hat laut Bietmann festgestellt, dass er für die Bank im Rahmen seines Beratervertrages drei "Großprojekte" im Immobiliensektor betreut und "ordnungsgemäße anwaltliche Leistungen" erbracht habe. Bei dem angeblich zinslosen Kredit in Höhe von 700 000 Euro soll es sich nach Angaben von Bietmann-Anwalt Thomas Kurth in Wirklichkeit um "eine vergleichsweise getroffene Vereinbarung" zwischen der Bank und dem CDU-Politiker handeln. "Es gab kein zinsloses Darlehen", versichert Anwalt Kurth.

Immerhin scheint die Führung der Sparkasse Köln/Bonn über mögliche Klüngel-Geschäfte mit der Kölner CDU-Größe alarmiert zu sein. Für diesen Montag wurde der Verwaltungsrat der Bank wegen der Causa Bietmann zu einer Sondersitzung einberufen. Der neue Chef der Sparkasse, Artur Grzesiek, will die von seinem Vorgänger Gustav Adolf Schröder an Bietmann vergebenen Mandate kritisch durchleuchten. Bis Mitte Februar soll ein Bericht des Wirtschaftsprüfers vorliegen. Diesen Bericht soll auch die Kölner Staatsanwaltschaft erhalten, die gegen den CDU-Politiker bisher nicht ermittelt.

"Ich habe nichts Verbotenes getan", beteuert Bietmann, der bereits bei zurückliegenden Müll- und Korruptionsaffären ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten war, ohne dass ihm am Ende etwas nachgewiesen werden konnte. Wegen seiner "Mandatswahrnehmung" für die Sparkasse Köln/Bonn könnten ihm weder "rechtliche noch politisch-moralische Vorwürfe" gemacht werden. Über das Misstrauen seiner Parteifreunde ist Bietmann empört. Der CDU-Politiker sieht "eine gegen mich gerichtete Kampagne" mit "politischer Diffamierung", bei der seine anwaltliche Leistung unzulässig mit seinen politischen Mandaten verquickt werde. "Ich werde mich mit allen juristischen Mitteln gegen jeden wehren, der zukünftig behauptet, meinen anwaltlichen Leistungen lägen erkennbare Gegenleistungen nicht zugrunde", droht Bietmann.

Parteifreunde in Köln werfen Bietmann "unstillbare Geldgier" vor

Offerierte teure Beraterdienste: CDU-Politiker Rolf Bietmann. Foto: Visum

Bietmann, Rolf Sparkasse KölnBonn Politikeraffären in Deutschland Nebeneinkünfte von Politikern in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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