Der Müll soll im Haus bleiben

Politiker und Wirtschaftsexperten lehnen ein staatliches Geldinstitut ab, das schlechte Wertpapiere der Banken übernimmt

Von Thomas Öchsner

Berlin - Die Idee einer "Bad Bank", die hochriskante Papiere der Banken übernimmt, stößt auf verstärkte Kritik. Nachdem die Bundesregierung und der Bundesverband deutscher Banken die Einrichtung bereits abgelehnt haben, wandten sich am Wochenende Wirtschaftsexperten und Politiker verschiedener Parteien ebenfalls gegen eine staatliche Abwicklungsbank für problematische Wertpapiere. "Das wären staatlich verwaltete und finanzierte Giftmüllkippen für alles, was Banker angerichtet haben und jetzt loswerden wollen", sagte SPD-Chef Franz Müntefering der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Eine Bad Bank (wörtlich "schlechte Bank") ist ein Geldhaus, das Risiken anderer Kreditinstitute übernimmt. Solche Risiken können Papiere sein, deren Wert drastisch gefallen ist, oder finanziell problematische Kreditengagements. Die staatliche Bad Bank übernimmt dafür die Haftung und versucht später, das Beste aus den Papieren zu machen.

Die deutschen Geschäftsbanken sitzen auf Hunderten Milliarden solcher Ramschpapiere. Der Großteil davon ist noch nicht in den Bilanzen abgeschrieben. "Die Müllmassen sind bislang nur teilweise beseitigt", sagt Jochen Sanio, Chef der deutschen Finanzaufsicht (Bafin). Das internationale Finanzsystem vergleicht er mit den "Straßen von Neapel zu Zeiten des Müllnotstands".

Diesen Müll, meint auch der scheidende Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, dürften die Banken dem Staat nicht vor die Tür kehren. Wenn man unter einer Bad Bank verstehe, "dass der Staat den Banken ihre vergifteten Papiere ohne Entschädigung abnimmt, lehne ich diese Idee ab", sagte Rürup dem Spiegel. Auch der Bund der Steuerzahler, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU), Hessens Ministerpräsident Roland Koch und der FDP-Politiker Florian Toncar wandten sich am Wochenende gegen die Einrichtung einer solchen Bank. Toncar ist Mitglied im Überwachungsgremium des Bundestags für den Bankenrettungsfonds.

Anders als seine Kollegen hatte sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) für eine Bad Bank ausgesprochen, sofern die Haftung für die Papiere bei den Geschäftsbanken bleibt. Bei der Unions-Bundestagsfraktion scheint Oettinger damit aber nicht viele Anhänger zu finden. Fraktionschef Volker Kauder soll dieses Ansinnen bei der Klausurtagung der Südwest-CDU strikt abgelehnt haben. Ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums hatte bereits am Freitag erklärt, es werde keine Lösung geben, bei der der Staat und damit der Steuerzahler den Kreditinstituten alle Risiken abnehme.

Der Bundesverband des deutschen Groß- und Außenhandels (BGA) verlangte dagegen, schnell eine Bad Bank einzurichten. "Wir brauchen dringend eine Lösung für die toxischen Papiere der Banken. Der Schrott muss raus aus den Bilanzen, damit wieder das Vertrauen ins System zurückkehrt", sagte BGA-Präsident Anton Börner.

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"Atem" im All

Japanischer Klima-Satellit gestartet

Japan hat seinen ersten Satelliten zur Erforschung des Klimawandels ins All gestartet. Eine Trägerrakete vom Typ H-2A mit dem Satelliten hob am Freitag vom Weltraumbahnhof Tanegashima Space Center im Süden des Landes ab, wie die japanische Raumfahrtbehörde Jaxa mitteilte. Der Satellit Ibuki, zu Deutsch "Atem", trennte sich 16 Minuten nach dem Start erfolgreich von der Rakete. Er soll die Konzentration von Treibhausgasen in der Erdatmosphäre beobachten. Der Satellit wird über die nächsten fünf Jahre die Erde in 666 Kilometern Höhe umkreisen. Alle drei Tage soll er Daten zum Kohlendioxid- und Methangehalt an 56 000 Orten rund um den Globus sammeln. Dies schließt auch den Ausstoß von Treibhausgasen in Entwicklungsländern ein, von denen es dazu bisher nur wenige Daten gibt. Zusammen mit Ibuki wurden auch sieben kleinere Satelliten ins Weltall befördert, die von Studenten entwickelt worden waren. Sie sollen unter anderem neue Kommunikationsfunktionen testen. CO2-Werte misst unter anderem auch der europäische Umweltsatellit Envisat aus dem Orbit.dpa

Japan hat seinen ersten Satelliten zur Erforschung des Klimawandels ins All gestartet. Eine Trägerrakete vom Typ H-2A mit dem Satelliten hob am Freitag vom Weltraumbahnhof Tanegashima Space Center im Süden des Landes ab, wie die japanische Raumfahrtbehörde Jaxa mitteilte. Der Satellit Ibuki, zu Deutsch "Atem", trennte sich 16 Minuten nach dem Start erfolgreich von der Rakete. Er soll die Konzentration von Treibhausgasen in der Erdatmosphäre beobachten. Der Satellit wird über die nächsten fünf Jahre die Erde in 666 Kilometern Höhe umkreisen. Alle drei Tage soll er Daten zum Kohlendioxid- und Methangehalt an 56 000 Orten rund um den Globus sammeln. Dies schließt auch den Ausstoß von Treibhausgasen in Entwicklungsländern ein, von denen es dazu bisher nur wenige Daten gibt. Zusammen mit Ibuki wurden auch sieben kleinere Satelliten ins Weltall befördert, die von Studenten entwickelt worden waren. Sie sollen unter anderem neue Kommunikationsfunktionen testen. CO2-Werte misst unter anderem auch der europäische Umweltsatellit Envisat aus dem Orbit.

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Die Ingenieure und das Beben

Neuer Stausee hat offenbar im Mai 2008 die verheerenden Erdstöße in China ausgelöst

Die Geschichte klingt wie ein Science-Fiction-Thriller. Ingenieure bauen einen Damm, um Wasser in einem Tal zu stauen. Die Wassermasse lässt die Erde erzittern; zunächst unmerklich. Doch das Grollen wird stärker. Auf einmal zerreißt der Boden unter gewaltigem Donner. Zehntausende Gebäude stürzen ein, ganze Großstädte werden zerstört. In China ist offenbar genau das geschehen: Das katastrophale Erdbeben in Südchina am 12. Mai 2008, bei dem 80 000 Menschen starben und Hunderttausende schwer verletzt wurden, ist vermutlich von einem künstlichen Stausee ausgelöst worden. Wurde die Naturkatastrophe also von Menschenhand verursacht?

Am Nachmittag des 12. Mai um halb drei Uhr Ortszeit brach der Untergrund der südchinesischen Provinz Sichuan auf einer Länge von rund 250 Kilometern. Zehn Kilometer unter der Großstadt Jiangyou wurden Millionen Tonnen Gestein binnen Sekunden bis zu neun Meter gegeneinander verschoben. Das Erdbeben der Stärke 7,9 setzte die Energie von 700 Millionen Tonnen TNT-Sprengstoff frei. In der Nähe des Bebenzentrums blieb kaum ein Stein auf dem anderen. 90 Kilometer weiter in der Stadt Chengdu mit vier Millionen Einwohnern krachten Tausende Gebäude zusammen.

Die meisten Erdbeben ereignen sich dort, wo Erdplatten zusammenstoßen. China liegt zwar abseits der Kollisionsfronten. Doch südwestlich des Landes schiebt sich die Indische Erdplatte mit einem Millimeter pro Woche wie ein Sporn in den Eurasischen Kontinent hinein. Der größte interkontinentale Crash des Planeten setzt auch die Region nördlich des Himalajas unter Spannung. In Südchina ist der Untergrund deshalb zersprungen wie eine Glasscheibe. Die Gesteinsnähte spalten die gesamte Erdkruste bis hinunter an den Erdmantel. Der Druck aus Süden verschiebt die kilometerdicken Blöcke entlang der Fugen. Dabei staut sich Spannung, die sich regelmäßig bei Erdbeben abbaut.

In Sichuan verschieben sich die Gesteinspakete allerdings äußerst langsam, so dass es nur alle paar tausend Jahre heftig bebt. So waren Seismologen von dem Starkbeben im vergangenen Mai überrascht, sie hätten eigentlich noch viele Jahre Ruhe erwartet.

Es scheint, als hätten Menschen die "Erdbeben-Uhr" manipuliert: Im Dezember 2004 begannen Ingenieure mit dem Befüllen des Zipingpu-Stausees, der ein Wasserkraftwerk antreiben sollte. Sie hatten beim Bau ignoriert, dass in der Nähe eine spannungsgeladene Gesteinsnaht den Untergrund durchzieht. Tag für Tag ergossen sich Tonnen von Wasser ins Tal.

Nach zwei Jahren hatte der See einen Pegel von 120 Metern - ein Gewicht von 320 Millionen Tonnen lastete auf dem fragilen Untergrund. Das Gestein entlang des Bruches nahe dem Stausee geriet verstärkt unter Druck. Die Spannung im Untergrund habe sich in den gut zwei Jahren 25-mal so stark erhöht wie normalerweise, berichtet der Seismologe Christian Klose von der Columbia University in den USA.

Klose will in Kürze seine Studie veröffentlichen, hält sich jedoch mit Urteilen zurück. Das Wort "Staudamm" meidet er: "Es geht darum, die Prozesse zu verstehen, nicht wer was verursacht hat." Die Tragweite einer Studie, die den Staudamm ausdrücklich verantwortlich machen würde, ist allen Forschern bewusst. Ansonsten spricht Kloses Analyse eine deutliche Sprache. Nach dem Staudamm-Bau bewegte sich das Gestein entlang der Erdbebennaht Millimeter für Millimeter auf die Katastrophe zu. Der höhere Druck habe die Reibung der Gesteinsblöcke an der Naht vermindert. Zugleich erhöhte sich die Spannung zwischen beiden Seiten des Bruches. Am 12. Mai 2008 hielt das Gestein dem Druck nicht mehr stand und brach.

Die Blöcke seien in jene Richtung geruckt, in die der Druck-Anstieg der vergangenen zwei Jahre sie gedrängt hatte, sagt Klose. "Die Wassermassen haben die Störzone destabilisiert." Der Stausee habe das "lokale Erdbebengeschehen klar beeinflusst", bestätigen etwas nebulös Geophysiker um Lei Xinglin von der chinesischen Erdbeben-Behörde im Fachblatt Geology and Seismology.

Einen Beleg für die These erkennt Klose auch in jenen Gesteinsnähten, die dem Beben standhielten. Ein Gesteinsbruch direkt unterhalb des Sees etwa bewegte sich nicht. Die Wassermassen hätten ihn "geschlossen und zusammengedrückt". Bei einem normalen Beben wäre auch diese Naht in Mitleidenschaft gezogen worden.

Der Untergrund sendete weitere verräterische Signale. Nach einem Starkbeben erschüttern Tausende Nachbeben das Land. In China jedoch war es etwas anders: Um den See herum sei es seltsamerweise ruhig geblieben, berichtet Klose. Das sei ein Hinweis für den immensen Druck der Wasserauflast.

Das Beben ereignete sich, als der Seepegel bereits wieder fiel; ein Teil des Wassers war abgelassen worden. In der Woche vor dem Beben sank der Pegel schneller denn je. Die plötzliche Entlastung habe das Beben womöglich noch verstärkt, sagt Klose. Die Spannung im Untergrund habe sich dadurch noch effektiver abbauen können.

Schon mehrfach haben Stauseen den Boden erzittern lassen. Nachdem der Hoover-Dam im US-Bundesstaat Nevada 1939 fertig gestellt war, der den Colorado-Fluss staute, kam die Region nicht mehr zur Ruhe - mehr als 600 Beben erschütterten sie. 1967 ließ das gewaltige Wasserreservoir hinter dem Koyna-Staudamm in Indien die Erde wackeln. Mehr als 200 Menschen starben.

Ob die chinesische Regierung die Katastrophe von Sichuan 2008 ebenfalls als menschengemacht bestätigen wird, erscheint ungewiss. Daten über Mikrobeben nahe des Stausees werden nicht herausgegeben. So müssen Seismologen einstweilen den letzten Beweis schuldig bleiben. AXEL BOJANOWSKI

Bei dem Erdbeben vom 12. Mai 2008 in der südchinesischen Provinz Sichuan starben etwa 80 000 Menschen. Zehntausende Häuser stürzten ein, als die Erschütterungen die Energie von 700 Millionen Tonnen TNT-Sprengstoff freisetzten. Foto: dpa

Erdbeben in China 2008 Staudämme SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erst mal zahlt der Kunde

Welche Rechte Verbraucher haben, wenn ihr Autohändler oder Computerhersteller Insolvenz anmeldet

Von Marco Völklein

München - Rosenthal ist nur der Anfang, andere Firmen werden folgen. In einer konjunkturellen Krise nimmt auch die Zahl der Unternehmensinsolvenzen zu. Das trifft auch die Kunden: Denn deren Garantie- und Gewährleistungsansprüche bleiben unter Umständen auf der Strecke. "Diese Fragen werden in diesem Jahr an Bedeutung gewinnen", sagt Andreas Schrettl im Münchner Büro der Kanzlei Taylor Wessing. Er erläutert die juristischen Zusammenhänge am Beispiel eines Autokäufers. Sie gelten aber auch für Kunden, die zum Beispiel einen Kühlschrank oder PC gekauft haben.

Der Händler geht pleite

Der Autohändler, bei dem das Auto gekauft wurde, muss in die Insolvenz. Dann steht es nicht gut um die gesetzliche Gewährleistungspflicht. Tritt ein Mangel an dem Auto auf, wäre der Händler eigentlich verpflichtet, es zu reparieren, den Preis zu mindern oder den Kauf rückabzuwickeln. Im Falle einer Insolvenz aber "geht das Heft des Handelns auf den Insolvenzverwalter über", sagt Schrettl. "Er kann entscheiden, wie er verfahren möchte." So kann der Insolvenzverwalter des Autohauses die Reparatur schlicht ablehnen. Dem Kunden bleibt dann nur, den Wagen auf eigene Rechnung instandsetzen zu lassen und sich beim Insolvenzverwalter in die Schlange der anderen Gläubiger einzureihen. Je nachdem, wie viel Geld am Ende noch da ist, erhält er einen Teil seiner Auslagen zurück. Nach Auskunft von Schrettl liegt die Quote im Normalfall zwischen zwei und zehn Prozent. "Einen Großteil der Kosten bekommt der Käufer somit nicht erstattet", so der Anwalt.

Besser sieht es unter Umständen aus, wenn der Kunde den Wagen noch nicht voll bezahlt hat. "Dann hat der Insolvenzverwalter vielleicht ein Interesse daran, die Reparatur durchzuführen und den ausstehenden Restbetrag einzunehmen", sagt Schrettl. Angenommen, das Auto hat 40 000 Euro gekostet, 30 000 Euro sind bereits abbezahlt. Den Mangel zu beheben, würde 3000 Euro kosten. Dann kann der Insolvenzverwalter entscheiden, den Wagen zu reparieren, was laut Schrettl dann sinnvoll ist, wenn er das Material auf Lager hat und auch die Personalkosten ohnehin anfallen. Der Kunde muss ihm nach erfolgreicher Reparatur die ausstehenden 10 000 Euro zahlen. Entscheidet sich der Insolvenzverwalter gegen eine Reparatur, werden die einzelnen Posten miteinander verrechnet. Die Reparatur würde 3000 Euro kosten, der Kunde schuldet dem Autohaus noch 10 000 Euro - unter dem Strich muss der Kunde also noch 7000 Euro an den Insolvenzverwalter zahlen.

Der Hersteller geht bankrott

In diesem Fall dreht sich die Frage für den Kunden nicht um die gesetzliche Gewährleistung, sondern um die darüber hinausgehenden Garantieansprüche des Kunden. "Auch in diesem Fall sieht es schlecht für den Käufer aus", so Schrettl. "Denn anders als zum Beispiel die Arbeitnehmer gehen die Garantieansprüche der Kunden im Falle eines Verkaufs des insolventen Unternehmens nicht zwingend auf den Erwerber über." Normalerweise hat der Erwerber nur ein Interesse an einer Übernahme der für ihn interessanten Firmenteile; die Schulden, und dazu zählen auch die Garantieansprüche, gehören in der Regel nicht dazu.

Es kann allerdings sein, dass der Kunde Glück hat und der Hersteller seine Händler vertraglich dazu verpflichtet hat, im Falle einer Insolvenz die Garantieleistungen zu erbringen. "Das hängt aber vom jeweiligen Vertrag ab", so der Anwalt. "Die Pflichten der Händler sind da unterschiedlich geregelt." Auf lange Sicht gebe es ohnehin ein Problem, warnt Schrettl - nämlich dann, wenn der Hersteller keine Ersatzteile mehr liefern kann. "Im Ergebnis", urteilt der Experte, "ist die Position der Verbraucher bei einer Insolvenz ernüchternd.

Gewährleistung und Garantie

Nicht alle Verbraucher kennen den Unterschied zwischen Garantie und Gewährleistung. Doch er ist wichtig. Die Gewährleistungsansprüche stehen dem Kunden von Gesetzes wegen zu; erfüllen muss sie der Verkäufer der Ware. Er ist verpflichtet, einen Mangel zu beheben, den Kaufpreis zu mindern oder die Ware zurückzunehmen und den Kaufpreis komplett zu erstatten. Allerdings greifen Gewährleistungsansprüche nur, wenn die Ware zum Zeitpunkt des Kaufs einen Mangel hatte. Die Gewährleistungspflicht beträgt zwei Jahre vom Zeitpunkt des Kaufs an; danach kann der Käufer seine Gewährleistungsansprüche nicht mehr durchsetzen. Im Streitfall muss im ersten halben Jahr der Verkäufer beweisen, dass die Ware beim Kauf noch einwandfrei war. Danach liegt die Beweislast beim Kunden.

Eine Garantie dagegen ist stets freiwillig; einen gesetzlichen Anspruch darauf hat der Kunde nicht. Der Inhalt einer Garantie ist nicht im Gesetz geregelt, allerdings geht sie in der Regel weit über die gesetzliche Gewährleistung hinaus. Sie wird meist vom Hersteller gegeben - und greift auch, wenn ein Mangel erst eine gewisse Zeit nach dem Kauf auftritt, etwa wenn ein Auto nach fünf Jahren anfängt zu rosten und der Hersteller eine Zehn-Jahres-Garantie gegen Durchrostung gegeben hat. mvö

Meckern erlaubt: In der Krise haben es Verbraucher mitunter schwer, Mängel zu reklamieren. Foto: mauritius images

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Nachschlag für Freddie Mac

Die US-Hypothekenbank benötigt bis zu 35 Milliarden Dollar

New York - Die zweitgrößte US-Hypothekenbank Freddie Mac benötigt möglicherweise 30 bis 35 Milliarden Dollar vom US-Finanzministerium. Dies gehe aus den Schätzungen des Managements hervor, hieß es in einer Meldung des Unternehmens an die US-Börsenaufsicht SEC. Der unter staatlicher Aufsicht stehende Konzern hat am Jahresende möglicherweise einen noch höheren Verlust erlitten als im dritten Quartal, für das ein Rekord-Defizit von 25 Milliarden Dollar gemeldet wurde. Die Größe der benötigten Finanzspritze könne jedoch noch deutlich von der genannten Summe abweichen, da die endgültige Bilanz derzeit noch nicht feststehe, hieß es.

Freddie Mac und Fannie Mae stehen direkt oder indirekt für rund die Hälfte der US-Hypotheken gerade. Die Regierung hatte Anfang September die Kontrolle über die beiden angeschlagenen Institute übernommen, nachdem die Blase am Häusermarkt in den USA geplatzt war. Bereits im November hatte Freddie Mac vom Staat 13,8 Milliarden Dollar erhalten. Angesichts der andauernden Finanzkrise schließt die neue US-Regierung unter Präsident Barack Obama eine Aufstockung der Hilfen für die krisengeschüttelten Banken nicht aus. Bislang ist das Paket, das der Kongress im Oktober verabschiedet hatte, 700 Milliarden Dollar schwer. Es könnte auf eine Billion Dollar und mehr wachsen. Reuters/dpa

Freddie Mac Corporation: Liquidität Freddie Mac Corporation: Finanzen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Invasion der Insektenhorden

In Westafrika fressen Armeewürmer Felder kahl und vergiften das Trinkwasser

Armeen sind gefährlich - hungrige Armeen ganz besonders. Wo sie einfallen, sollte man am besten schnell das Weite suchen. Aber wohin sollen die armen Bauern im Norden Liberias schon fliehen? Ihre Hütten und Felder sind das einzige, was sie besitzen. Sie beackern die Erde und ernten, was sie gepflanzt haben. Aber jetzt können sie nicht mehr hinaus auf ihre Felder. Denn die haben sich quasi in ein Kriegsgebiet verwandelt.

Es wütet hier eine besonders gnadenlose Truppe, auch wenn die Angreifer gerade mal fünf Zentimeter groß sind: Spodoptera - so genannte Armeewürmer. Das zumindest vermuten die Insektenforscher, die nun gegen die unheimliche Invasion in Westafrika ankämpfen müssen. Noch werden einige Exemplare aus Liberia von Spezialisten in Ghanas Hauptstadt Accra unter die Lupe genommen, um sie zweifelsfrei zu identifizieren und das geeignete Pestizid zu finden.

Schwarz und haarig ist dieses gefräßige Insekt. Der Armeewurm ist die Raupe einer Motte und zählt zu den gefährlichsten Schädlingen, die Entomologen weltweit identifiziert haben. Er macht seinem Namen alle Ehre, denn er bewegt sich in großen Gruppen und geht "äußerst aggressiv" vor, wie Wissenschaftler warnen. Er frisst alles, was grün ist. Und er zwickt sogar Menschen, zum Beispiel wenn er von den Bäumen auf die Wege herabfällt. Diese Insekten fressen in kürzester Zeit riesige Felder kahl.

Stimmen verzweifelter Farmer dringen nun heraus aus den betroffenen Gebieten. "Diese Raupen haben meine ganze Maniok-Farm aufgefressen", klagt Bauer Eric Kollie in einem Bericht des UN-Nachrichtendienstes IRIN. Nichts sei ihm geblieben. So ergeht es tausenden Bauern der Region. Einige erzählen, dass sie sogar aus ihren Hütten flüchten mussten, weil sie von den Raupen überfallen wurden und sich nicht mehr zu wehren wussten. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO spricht von der schlimmsten Invasion seit 30 Jahren. FAO-Spezialist Winfred Hammond beschreibt die Lage als "nationalen Notstand". Wenn es keine schnelle Gegenwehr gibt, wird sich die Offensive der Armeewürmer ausweiten auf die Nachbarländer, nach Guinea, Elfenbeinküste und Sierra Leone. Die erste Vorhut der gefräßigen Raupen wurde schon jenseits der Grenze in Guinea gesichtet.

Betroffen sind bislang vor allem die Regionen Bong, Lofa und Gbarpolu im Norden Liberias. Das Land brauche Spezialisten und Hilfe aus dem Ausland, um der Plage Herr zu werden, sagt Hammond. Die FAO vermutet, dass eine besonders lange Regenzeit im vergangenen Jahr die Entwicklung der Armeewürmer begünstigt hat. Sie in den entlegenen Gebieten zu bekämpfen, ist mühsam. Es gibt dort kaum Straßen, und viele Schädlinge tummeln sich auf den Blättern von Urwaldbäumen, die höher als 20 Meter in den Himmel ragen.

Gift weitflächig aus der Luft zu versprühen, wäre eine Möglichkeit. Doch die FAO warnt, dass dies die Wasserbestände vergiften kann, die ohnehin gefährdet sind. Die Armeewürmer selbst tragen dazu bei, dass Menschen kaum sauberes Wasser finden. Wo sie in Millionen auftreten, verpesten ihre Exkremente Wasserläufe und Brunnen. Das Trinkwasser wird knapp. ARNE PERRAS

Armeewürmer fressen alles, was grün ist. Foto: AP

Schädlinge Insekten Natur und Umwelt in Afrika SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Verlorenes Paradies

Weil das Pfund stark an Wert verloren hat, müssen britische Rentner in Frankreich knapsen

Von Michael Kläsgen

Paris - Brian Cave und seine Frau haben im Monat 1000 Pfund weniger zum Leben als noch vor einem halben Jahr, einfach so, weil die britische Währung an Wert verloren hat. Der Rentner redet von Pfund, weil er immer noch in Pfund rechnet, obwohl er schon seit elf Jahren in Frankreich lebt und dort bekanntlich in Euro gezahlt wird. Im Prinzip ist das aber egal. Denn 1000 Pfund entsprechen inzwischen fast 1000 Euro. Und genau das ist das Problem der Caves und all der anderen britischen Rentner - nicht nur in Frankreich, sondern im gesamten Euroraum. Ihre in Pfund ausgezahlten Renten sind wie ihre Ersparnisse wegen des Wertverlusts der britischen Währung geschmolzen wie Camembert in der Sonne.

"340 000 britische Rentner leiden auf dem Kontinent unter dem schwachen Pfund", hat Cave errechnet. "Die meisten leben in Spanien. Aber auch in Deutschland sind es 34 000." Fast so viele wie in Frankreich. Und zwar nur Rentner. Cave zählt die arbeitenden Briten, die aus Steuergründen ihren Wohnsitz auf die andere Seite des Kanals verlegt haben, nicht mit. Allein im Südwesten Frankreichs sollen sich 150 000 Briten eine Residenz zugelegt haben. In ganz Frankreich mag es ein Vielfaches dessen sein. Der Eurostar, der Zug unter dem Ärmelkanal, und Billigflieger machten das vermeintliche Paradies in der Sonne für sie so nah - und so billig, jedenfalls als das Pfund noch schwer wog.

Als die Caves sich ihr Haus 1998 mitten im Grünen in der Dordogne im Südwesten Frankreichs kauften, gab es zwar noch den Franc. Aber der Rentner hat den Wert des damaligen Franc natürlich längst in Euro umgerechnet und ist auf 1,61 Euro gekommen. "Danach stieg das Pfund sogar auf 1,71 Euro." Heute liegt der Wert bei 1,06 Euro. "Sogar im Supermarkt muss meine Frau jetzt jeden Groschen umdrehen", klagt Cave. "Und essen gehen wir auch kaum mehr." Er weiß, manche seiner Landsleute hat es wesentlich schlimmer getroffen. Zum Beispiel das Pärchen, dem er 1998 das Haus abkaufte. "Die sind fast pleite."

Auch Heinz Stolzenberg, 68, der Nachbar von Cave, muss knapsen. Ein Deutscher, wie der Name vermuten lässt. Er war 19, als er Deutschland in Richtung England verließ. Bald darauf fand er eine Stelle als Koch auf einem Passagierschiff. 45 Jahre zahlte er in die britische Rentenkasse ein. Heute leben seine Frau und er von 1100 Euro Rente. "15 Kubikmeter Holz habe ich in diesem Winter schon verheizt", erzählt er. So muss er nicht so viel für die Stromheizung zahlen. Auch den geplanten Autokauf haben die Stolzenbergs aufgeschoben.

Cave kennt viele solcher Geschichten, er muss sich nur im Dorf umhören. Zwar haben sich britische Rentner überall in Europa niedergelassen, aber nirgends sind es wohl so viele wie in der Dordogne. Das Dorf Eymet beispielsweise nennen viele spaßhaft Dordogneshire. Es gibt dort einen Cricket-Club, einen englischen Buchladen und Köstlichkeiten wie HP Sauce und John Smith's Bitter. "Die Dordogne ist wie das England unserer Kindheit", so Cave. Ein Stück heile Welt mit Pub und Kirchturm in der Mitte. Doch nun pfeift ein rauer Wind über die Traumlandschaft.

Immobilienmakler Max Germa aus dem benachbarten Montflaquin sagt, das Geschäft sei quasi zum Erliegen gekommen. Etliche Agenturen in der Dordogne mussten schließen, andere Personal entlassen. Manche Rentner würden gern wieder auf die Insel zurückkehren. Aber sie finden keinen Käufer für ihr Haus.

Cave hält die Situation für dramatisch. Deswegen hat er sich an die Politik gewandt und einen Brief an verschiedene Abgeordnete in London geschickt. Weil das nichts bewirkte, wurde er zu Weihnachten im Alter von 76 Jahren zum spät berufenen Blogger. Seine Tochter riet ihm, das Internet zu nutzen, dort die Notlage zu schildern und Leidensgenossen zu animieren, ebenfalls Briefe an die Regierung in London zu senden. "Nur gemeinsam können wir daheim Bewusstsein für unsere Nöte schaffen." Empfänger staatlicher Pensionen, wie er sie als ehemaliger Lehrer bezieht, dürften nicht zweimal besteuert werden, argumentiert er. Außerdem könne es nicht angehen, dass Pensionäre wie er einerseits den Heizkostenzuschuss nicht erhalten, der ihnen in England zustehe, andererseits aber die Kosten für eine Haushaltshilfe nicht teilweise von der Steuer absetzen können, wie es das französische Steuerrecht erlaube. "Nicht nur das schwache Pfund schadet uns, wir werden auch steuerlich benachteiligt." Seine Haushaltshilfe beschäftigt er inzwischen nicht mehr, weil ihm die Kosten zu hoch sind.

Nicht alle Reaktionen und Zuschriften, die der pensionierte Lehrer auf seinen Internet-Blog erhält, sind positiv. Aber Cave hat die Größe, sie zu veröffentlichen. Zum Beispiel wirft dort ein Franzose den britischen Hauskäufern vor, die Immobilienpreise derart in die Höhe getrieben zu haben, dass er, der Verfasser, es sich nicht mehr leisten kann, selber ein Eigenheim zu erwerben. Spricht man Cave darauf an, erwidert er, es habe ja auch die Verkäufer gegeben, fast ausschließlich Franzosen, die gut daran verdient hätten, als die Briten hohe Preise zahlten. Noch heute würden seine Landsleute in Landstrichen wie der Dordogne die Wirtschaft am Laufen halten. Es prallen hier zwei unterschiedliche Denkweisen aufeinander, eine englische und eine französische. Cave lässt beide gelten. Er gibt sich tolerant. Er hat viel mitgemacht. Geboren in der Zeit der Großen Depression. Die Firma seines Vaters ging damals pleite. Später bombardierten die Deutschen sein Elternhaus. Danach diente er dem Staat. Nun wolle er seinen Lebensabend in Würde verbringen, und zwar in der Dordogne.

Bei seinem Nachbarn Heinz Stolzenberg schwingt ein anderer Unterton mit: "Manchmal hat mich das Heimweh in den letzten Monaten schon überkommen. Wahrscheinlich liegt das am Alter", sagt er. Vielleicht auch an den Preisen. Der aus Trier stammende Pensionär war neulich nach längerer Zeit wieder in der alten Heimat gewesen und stellte fest, wie vergleichsweise günstig dort das Leben sein kann.

"Sogar im Supermarkt muss meine Frau jetzt jeden

Groschen umdrehen. Essen gehen wir auch kaum mehr."

Brian Cave und seine Frau haben im Monat 1000 Pfund weniger zum Leben als vor einem halben Jahr. Schuld ist die britische Währung, die kräftig an Wert verloren hat. Die Caves kauften sich 1998 ein Haus in der Dordogne im Südwesten Frankreichs. Damals stand das Pfund noch hoch im Kurs. Fotos: AFP, oh

Britisches Pfund Wirtschaftslage in Großbritannien Ausländer in Frankreich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Streiflicht

(SZ) Die neue Woche beginnt, wir blicken voraus. Aber diesmal nicht auf die neue Woche, sondern auf das Jahr 2013. Genauer gesagt, auf die Bundestagswahl im Jahre 2013. Nach acht Jahren Merkel sind die Deutschen ihrer Kanzlerin müde und bereiten ihr eine vernichtende Wahlniederlage. Mit Abstand stärkste Partei werden die Grünen, ihr Triumph ist so gigantisch, dass sie bei der Wahl eines Koalitionspartners alle Optionen haben. Der Mann, der dieses Wunder, dieses politische Märchen vollbracht hat, ist der grüne Kanzlerkandidat Tarek Al-Wazir. Ihn erreichen noch am Wahlabend Glückwünsche aus allen Teilen der Welt, erster Gratulant ist der amerikanische Präsident Barack Hussein Obama, der selber im Jahr zuvor mit einem Rekordergebnis im Amt bestätigt worden ist.

Und nun ganz schnell zurück ins Jahr 2009. Dass man am Beginn der neuen Woche pl tzlich so weit und so sonnenklar in die Zukunft zu blicken vermag, ist natürlich eine Folge der soeben vergangenen Woche. Es war, nach der Hessen-Wahl, einerseits eine Al-Wazir-Woche, andererseits aber natürlich eine Obama-Woche. Ja, ein Obama-Rausch. Die Rede! Der Versprecher beim Amtseid! Die Garderobe der First Lady! Die bezaubernden Töchter! Wer in dieser Obama-Woche etwas zu schreiben oder zu reden hatte, dem gingen die Worte nicht aus. Der konnte sich zum Beispiel der hochwichtigen Frage "Wie sexy ist die First Lady?" in aller hier notwendigen Ausführlichkeit und Feinfühligkeit zuwenden. Der konnte sich ins Fernsehstudio der Talkmeisterin Maybrit Illner setzen und, wie am Donnerstagabend geschehen, die wahrscheinlich brisanteste Frage dieser Tage erörtern: Wer wird der deutsche Obama? Ja, wer denn wohl? Diese Zeitung, für ihre Unerschrockenheit auf dem Feld der politischen Prognose bekannt, gibt schon heute die Antwort. Der deutsche Obama wird Tarek Al-Wazir sein. Die Parallelen sind unübersehbar und verblüffend. Da ist die hohe Kunst der freien Rede. Die charismatische Erscheinung. Das faszinierend zweigeteilte Leben zwischen Vaterland (Jemen) und Mutterland (Offenbach). Al-Wazir selber mag noch Zweifel haben, ob er der deutsche Obama ist, wir, seine Fans, haben uns längst entschieden: Yes, er ist es!

Natürlich gibt es auch andere, die liebend gern der deutsche Obama wären, Politiker aus der Generation U 50: Ronald Pofalla, der zu Recht darauf hinweist, dass die Folge der Vokale in seinem Namen (O-A-A) exakt dieselbe ist wie bei Obama. Heil natürlich, Hubertus Hussein, wie ihn seine Freunde gern nennen. Westerwelle. Frau Nahles. Allein Markus Söder ließ uns mitteilen, er sei nicht daran interessiert, der deutsche Obama zu werden. Ihn interessiere nur eine andere Frage: Welcher US-Politiker das Zeug habe, der amerikanische Seehofer zu werden. Söders Antwort: Keiner!

Obama, Barack: Image al-Wazir, Tarek: Image al-Wazir, Tarek: Kuriosa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schmerzlos kastriert

Schonender Eingriff bei Ferkeln

Für die Fleischproduktion bestimmte Ferkel sollen vom 1. April an nur noch nach der Gabe von Schmerzmitteln kastriert werden. Das sagte ein Sprecher des Deutschen Bauernverbands am Freitag auf der Grünen Woche in Berlin. Die Vorgabe gelte für Betriebe, deren Fleisch mit einem Zertifikat des Prüfsystems QS arbeiten. Sie produzieren 90 Prozent des Schweinefleisches in Deutschland. Um das Entstehen des strengen Ebergeruchs zu verhindern, werden in Deutschland mehr als 22 Millionen männliche Ferkel pro Jahr kastriert. Bei dem Prozedere nimmt der Bauer das wenige Tage alte Ferkel auf die Hand, schneidet ihm den Hodensack auf und kastriert das Neugeborene, ohne Betäubung und ohne Schmerzmittel. "Ein Schnitt, ein Schrei und es ist vorbei", hieß es in der Fleischbranche und das Thema war vom Tisch. Monatelanger Druck von Tierschützern hat nun das Umlenken eingeleitet. Dass die Ferkel leiden, wenn der Bauer das Skalpell ansetzt, ist inzwischen klar: Quieken und Schreien, Fluchtreflexe, Verkrampfen und Cortisonausstoß belegen die Schmerzen, erklärt Hans-Joachim Götz, der Präsident des Bundesverbands Praktizierender Tierärzte. dpa

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Versuch mit Gelähmten

US-Behörde erlaubt Studie mit embryonalen Stammzellen

Die Ankündigung mochte niemand mehr hören. Seit sieben Jahren proklamiert das Biotech-Unternehmen Geron aus Menlo Park bei San Francisco unermüdlich, es werde bald die weltweit erste klinische Studie mit embryonalen Stammzellen an Menschen wagen. Doch nun scheint das lange angekündigte Vorhaben tatsächlich Wirklichkeit zu werden. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat der Firma die Genehmigung für eine Studie mit den verheißungsvollen Zellen an zehn querschnittsgelähmten Menschen erteilt. "Damit wird ein neues Kapitel der Medizin aufgeschlagen", jubelt Gerons Chef Thomas Okarma.

Dass die lang ersehnte Genehmigung so kurz auf die Inauguration von Barack Obama als US-Präsident folgte, hat offiziell nichts miteinander zu tun. Insider wie Robert Klein, der Chef des drei Milliarden Dollar schweren Stammzellprogramms in Kalifornien, vermuten trotzdem einen Zusammenhang: Immerhin hat Ex-Präsident George W. Bush sich als Republikaner und Kirchenfreund immer gegen die Forschung mit den ethisch umstrittenen embryonalen Stammzellen gewandt. Der Demokrat Obama machte hingegen schon im Wahlkampf seine liberalere Haltung deutlich.

Menschliche embryonale Stammzellen werden aus wenige Tage alten, kugelförmigen Embryonen gewonnen. Da diese hernach nicht mehr lebensfähig sind, betrachten Kritiker das Verfahren als unmoralisch, während Befürworter den möglichen medizinischen Nutzen hervorheben: Die Zellen haben großes Wandlungspotential - schließlich können aus den Zellen eines Embryos alle Zellen des Körpers entstehen, vom Herzmuskel bis zum Fußnagel. Wissenschaftler hoffen daher, dass diese Zellen auch zerstörte Gewebe im Körper Kranker flicken können. Stammzellen von Erwachsenen oder abgetriebenen Föten werden bereits zu diesem Zweck in klinischen Studien eingesetzt. Aber diese Zellen haben ein geringeres Wandlungspotential als die Stammzellen aus Embryonen.

Nun können die Embryo-Zellen ihre Fähigkeiten erstmals bei Menschen beweisen. Geron hofft, dass sie helfen, die zerstörten Nervenbahnen von Querschnittsgelähmten wieder zu verbinden. An Ratten hat das Biotech-Unternehmen dies schon viele Male ausprobiert. Mehr als 2000 Tiere haben die Forscher insgesamt behandelt. Dabei hätten sie "dramatische Verbesserungen" erzielt, sagt Geron-Vorstand Okarma. Allerdings muss, was mit Nagetieren funktioniert, noch lange nicht bei Menschen klappen. Die Medizin wäre sonst um einige Innovationen reicher, die nach vielversprechenden Ergebnissen an Ratten letztlich in Studien am Menschen scheiterten. "Wenn Sie eine Maus wären und Krebs hätten, könnten wir Ihnen wunderbar helfen", ist ein gern gehörter Satz des Krebsforschers Judah Folkman.

Auch beim Thema Querschnittslähmung gibt es zwischen Ratten und Menschen so einige Unterschiede. Immerhin ist das Rückenmark der Tiere erheblich kürzer - die zu überbrückenden Distanzen sind damit deutlich kleiner als beim Menschen. Außerdem werden die Ratten sofort behandelt, nachdem ihnen die Forscher absichtlich das Rückenmark durchtrennt haben. Menschliche Unfallopfer können die Stammzellbehandlung dagegen kaum direkt am Unfallort erhalten.

Geron will seine ersten Patienten deshalb gezielt auswählen. Sie sollen die Therapie ein bis zwei Wochen nach ihrer Verletzung erhalten - danach sei ihnen nicht mehr gut zu helfen, heißt es. ";Leichte Verbesserungen der Beschwerden", das ist zunächst alles, was sich die Firma erhofft. "Wir erwarten nicht, dass jemand, der von der Hüfte abwärts komplett gelähmt ist, nach sechs Monaten wieder tanzen kann", sagt Okarma.

Außer enttäuschten Hoffnungen lauern jedoch noch weitere Risiken. Kritiker halten eine Therapie mit embryonalen Stammzellen bei Menschen derzeit für verantwortungslos. Denn die Embryozellen bergen ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotenzial: Sie können auch Krebsherde bilden.

Geron will die Patienten deshalb nicht direkt mit embryonalen Stammzellen behandeln. Vielmehr sollen die Zellen in der Kulturschale dazu angeregt werden, sich in spezialisiertere Zellen zu verwandeln, in Oligodendrozyten. Das sind Zellen, die Nervenzellen unterstützen. Diese sollen den Patienten dann ins Rückenmark gespritzt werden. Von ihnen geht keine Krebsgefahr mehr aus.

Aber wie kann man sichergehen, dass nicht doch einige nicht verwandelte Embryo-Zellen in der Rückenmark-Spritze bleiben? "Es gibt seit kurzem Zellen, die so sauber sind, dass man sie beim Menschen nutzen kann", sagt der Herzspezialist Wolfgang-Michael Franz, der am Münchner Klinikum Großhadern das Verhalten embryonaler Stammzellen erforscht. In den Ratten jedenfalls haben Gerons Zellen auch nach einem Jahr noch keinen Krebs gebildet. In den Ratten. CHRISTINA BERNDT

Forschung mit embryonalen Stammzellen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Wochenschau

Schöngerechnet

Der Aktienmarkt ist nicht so günstig, wie es scheint

Von Catherine Hoffmann

Große Krisen bieten große Kaufgelegenheiten, heißt es an der Börse. Seit den markanten Kursverlusten im Herbst mehren sich die Stimmen der Optimisten, die davon überzeugt sind, dass die Aktienkurse zu niedrig sind. Ein prominentes Mitglied ist Warren Buffett, der legendäre Chef von Berkshire Hathaway. "Kaufen!", riet er im Oktober, die Gelegenheit sei günstig.

Sollen Anleger jetzt tatsächlich wieder Unternehmenspapiere kaufen? Um das beurteilen zu können, hilft manchmal ein Blick auf Kennzahlen. Eine der wichtigsten ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das besagt, in welchem Verhältnis der erwartete Gewinn zum Kurs einer Aktie steht. Je tiefer das KGV liegt, desto günstiger ist eine Aktie bewertet. Legt man dieses Maß zugrunde, scheinen die Märkte mittlerweile sehr attraktiv zu sein. Der Deutsche Aktienindex (Dax) etwa weist - gemessen an den für 2009 erwarteten Unternehmensgewinnen - ein KGV von 9,2 aus. Im historischen Vergleich sieht der Dax nach einem Schnäppchen aus. Er ist so günstig wie seit 25 Jahren nicht. Die niedrige Aktienmarktbewertung erweckt den Eindruck, dass die Rezession und der damit verbundene Druck auf die Unternehmensgewinne bereits ausreichend in den Gewinnprognosen und damit auch in den Aktienkursen vorweggenommen ist.

Doch das könnte ein großer Irrtum sein. Das Problem mit dem KGV ist, dass es nur die Relation zweier Zahlen ist. Im Zähler steht der Kurs, im Nenner der erwartete Gewinn. Niedrig wird das KGV also, wenn die Kurse sinken oder die Gewinnerwartungen steigen. Billig sehen die Aktien vor allem deshalb aus, weil die Kurse so dramatisch eingebrochen sind. Ob die Zahl tatsächlich aussagekräftig ist, hängt entscheidend von der Qualität der Gewinnprognosen ab. Auf die Auguren ist inmitten einer Finanz- und Wirtschaftskrise aber kein Verlass. Glaubt man den Erwartungen der Analysten, so dürften die Gewinne der 30 größten deutschen Unternehmen in diesem Jahr spürbar steigen - im Durchschnitt um neun Prozent. "Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich", sagt Antje Laschewski, Aktienstrategin der Landesbank Baden-Württemberg.

Viel realistischer scheint ein dramatischen Rückgang der Gewinne - auch wenn in den Erwartungen der Analysten davon noch nichts zu sehen ist. In den beiden jüngsten Rezessionen brachen die Gewinne der Dax-Unternehmen um 40 und 50 Prozent ein, bislang wurde erst ein Rückgang um 20 Prozent verzeichnet - und dabei soll dieser Abschwung so heftig sein wie kein anderer in der Geschichte der Bundesrepublik. Angenommen, die Dax-Gewinne schrumpfen in diesem Jahr um 50 Prozent, dann würde sich das KGV auf 18,4 verdoppeln - ein Wucherpreis. Angesichts der wirtschaftlichen Lage scheint das nicht sonderlich vielversprechend. Denn selbst langfristig kann man mit Aktien nur ruhig schlafen, wenn man billig einkauft.

Die Analysten scheinen recht hohe Erwartungen hinsichtlich der Wirksamkeit der Konjunkturprogramme zu hegen. Dieser Optimismus dürfte angesichts der Heftigkeit und Tiefe des globalen Konjunkturabschwungs übertrieben sein. In den kommenden Tagen stehen die Unternehmensberichte für das vierte Quartal an und Ausblicke auf 2009. Beides wird ernüchternd sein: Selbst gesunde Konzerne, die bislang heil durch die Finanzkrise kamen, wurden Ende 2008 wohl von der Rezession infiziert. So solide Unternehmen wie BASF und Linde dämpften bereits die Erwartungen, erst Recht Siemens und BMW. Am tiefsten ist die Krise freilich bei den Banken. Sie reißt Löcher in die Bilanzen, die größer sind als jemals erwartet. Das strahlt auf andere Unternehmen ab: In vielen zyklischen Branchen gibt es Firmen, die Finanzierungsprobleme haben. Für sie geht es ums Überleben.

Dass die Aktionäre ihre Zukunft in Frage stellen, zeigen die extrem niedrigen KGVs von zwei, drei oder vier, die sämtliche Banken im Dax aufweisen und etliche Werte im MDax - von Arcandor über Continental bis Heidelberg-Cement. In einer konservativen Berechnung des Markt-KGV dürfte man sie gar nicht mehr berücksichtigen, so schlecht ist es um sie bestellt. Dann zeigte sich umso deutlicher: Der Aktienmarkt ist nicht so billig, wie er aussieht.

Anleger müssen sich also nicht beeilen, an der Börse einzusteigen. Im Bärenmarkt ist Geduld die goldene Regel. Wer Geld investieren will, bleibt besser vorsichtig, bis der nächste Bullenmarkt beginnt, vielleicht später in diesem Jahr. Das hängt von den Unternehmensgewinnen, dem Schicksal der Weltwirtschaft und dem Krankheitsverlauf des Finanzgewerbes ab. Foto: dpa

Wohin laufen die Aktienmärkte? Was bewegt die Währungen? Wer zahlt hohe Zinsen? Antworten gibt es immer montags in der neuen "Wochenschau".

Deutscher Aktienindex SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Tüfteln und denken

In Deutschland fehlen Ingenieure. Ein Grund: Technisches Wissen kommt in Kindergärten und Schulen zu kurz

Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) ist mit 135 000 Mitgliedern einer der größten technisch-wissenschaftlichen Verbände in Europa. Seit 2007 ist Bruno O. Braun, 66, Präsident des VDI. Der habilitierte Maschinenbau-Ingenieur lehrt an der Universität Stuttgart Energietechnik.

SZ: Herr Braun, in Deutschland bleiben viele Ingenieurstellen unbesetzt, die Unternehmen suchen händeringend nach kompetenten Arbeitskräften. Um wie viele offene Stellen handelt es sich?

Braun: Im vergangenen Jahr lag die Zahl der offenen Ingenieurstellen in Deutschland bei knapp 90 000; das waren etwa 2000 mehr als im Vorjahr und immerhin fast 16 000 mehr als noch vor drei Jahren. Am stärksten betroffen waren die Bundesländer Baden-Württemberg mit 18 000, Nordrhein-Westfalen mit 15 000 sowie Bayern mit etwa 12 000 offenen Stellen. Arbeitslos gemeldet waren etwa 19 000 Ingenieure, von denen allerdings - davon gehen wir aus - nur die Hälfte aktiv nach Beschäftigung sucht. Aber selbst wenn alle arbeitslosen Ingenieure aktiv nach Arbeit suchten, müsste man den jetzigen Zustand als durchaus beängstigend bezeichnen. Die derzeitige Rate der Hochschulabsolventen liegt bei etwa 45 000 pro Jahr, damit haben wir etwa doppelt so viele offene Stellen wie fertig ausgebildete Ingenieure. Das ist keine gesunde Situation.

SZ: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass sich so wenige Schulabgänger für ein Ingenieurstudium interessieren?

Braun: Wir sind seit Jahrhunderten das Land der Dichter und Denker. Die Zukunft liegt aber stärker in den Händen der Tüftler und Denker. Würden wir die Ingenieurdisziplinen anders und stärker in die Bildung einbauen, wäre das gut für Deutschland - immerhin leben wir als Volkswirtschaft vom Können der Ingenieure. Das sehen wir schon in der Schule: Die Schüler werden erst spät beziehungsweise gar nicht mit entsprechendem Unterricht an die Welt der Technik herangeführt. Da sich aber Berufswünsche bereits in der Schule entwickeln, verpassen wir hier eine große Chance. Der VDI fördert und unterstützt seit Jahren Projekte, die einen eigenen Technik-Unterricht an den Schulen etablieren - im föderalen Bildungssystem Deutschland leider kein leichtes Unternehmen. Auch im Kindergarten sollte man den kreativen und unbefangenen Umgang der Kinder mit Technik, etwa mit der Spielzeug- Eisenbahn, viel stärker dafür nutzen, ihre Begeisterung für Technik zu fördern.

SZ: Ingenieurberufe sind in Deutschland oftmals negativ behaftet. Woher kommt das?

Braun: Jeder junge Mensch sucht sich seinen Weg in den Beruf, manche mit dem Ziel des materiellen Erfolges, andere mit dem Ziel hoher Work-Life-Balance. Ein Ingenieurstudium ist da kein leichter Weg: Man muss abstrakt denken können und einiges an Basiswissen mitbringen beziehungsweise erlernen, das schreckt viele Studienanfänger - Frauen wie Männer - von vorneherein ab. Nach dem Studium soll möglichst ein sehr gut dotierter Job winken. Nun verdient ein Ingenieur zwar nicht schlecht, aber er wird im Laufe seines Arbeitslebens auch nicht zwangsläufig zum Millionär. Was aber meiner Meinung nach daran liegt, dass Ingenieure häufig zu sachorientiert und bescheiden sind und deshalb ihre Möglichkeiten, Kompetenzen und ihre Verantwortung unterschätzen.

SZ: Wenn also in Deutschland der Mangel an Ingenieuren so groß ist, warum holen die Unternehmen dann nicht mehr Kräfte aus dem Ausland?

Braun: Ingenieure können leider nicht so einfach nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten. Sprache und Ausbildung können Hemmnisse sein; zudem haben wir heute weltweit die Situation, dass Ingenieure in jeder Industrienation dringend gesucht werden. Der Druck, ins Ausland - etwa nach Deutschland - zu kommen, hat abgenommen. Zudem erteilt unsere Gesetzgebung nur dann eine Arbeitsgenehmigung, wenn ein Verdienst von etwa 64 000 Euro nachgewiesen werden kann. Der VDI hätte da gerne eine andere Regelung mit niedrigeren Hürden, damit auch dem volkswirtschaftlichen Schaden von jährlich sieben Milliarden Euro durch die Nicht-Besetzung der offenen Stellen entgegengewirkt wird.

SZ: Vor kurzem tagte der Bildungsgipfel in Dresden. Sind Sie als VDI-Präsident zufrieden mit den Ergebnissen?

Braun: Die Ergebnisse sind als eher dürftig zu bezeichnen. Es ist leider nicht viel passiert, außer der Abgabe von Absichtserklärungen. Das ist zwar besser als gar nichts, aber nicht ausreichend. Es muss einfach mehr in Bildung investiert werden. Deutschland liegt mit 5,1 Prozent an Ausgaben für Bildung - gemessen am Bruttoinlandsprodukt - im Vergleich zu anderen Wirtschaftsnationen im hinteren Drittel. England gibt ein Prozent mehr für Bildung aus, von Schweden oder Dänemark gar nicht zu sprechen. Das Bildungssystem ist unsere Zukunft.

SZ: Und wie könnte man diesen Zustand ändern? Was schlägt der VDI vor?

Braun: Wir brauchen einen Nationalen Technikrat, der beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist und vorrangig Themen der technischen Bildung behandelt. Aber auch Themen wie Atomenergie und Folgen des Klimawandels könnten dort diskutiert werden. Dafür müssten allerdings zunächst alle wichtigen Akteure wie Industrie und Länder an einen Tisch kommen; Kultusminister können dort ja herzlich wenig ausrichten. Durch einen solchen Technikrat könnte sicher das Bewusstsein der Öffentlichkeit für solche Themen geschärft werden und der Stand der Ingenieure verbessert.

Interview: Claudia Bell

"Wir haben doppelt so viele offene Stellen wie fertig

ausgebildete Ingenieure"

"Als Volkswirtschaft leben wir vom Können der Ingenieure": VDI-Präsident Bruno O. Braun. Foto: oh

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Kampf gegen die Wirtschaftskrise

Obama will die Wall Street zähmen

Der neue US-Präsident plant stärkere Kontrolle des Finanzmarkts und wirbt für größtes Konjunkturpaket aller Zeiten

Von Christian Wernicke

Washington - Die neue US-Regierung will den heimischen Finanzmarkt schärfer kontrollieren und Hedge-Fonds, Hypothekenhändler und Großbanken strenger beaufsichtigen. Auch will Washington Rating-Agenturen, die zuletzt die Risiken von Fonds und Finanzderivaten völlig unterschätzt hatten, neuen Regeln unterwerfen. Zugleich warb Präsident Barack Obama für ein umfassendes Konjunkturpaket.

Mit einer weitaus strengeren Regulierung des Finanzmarktes als bisher zieht die Obama-Regierung Konsequenzen aus der aktuellen Krise, in der faule US-Immobilienkredite und weitgehend unkontrollierte Spekulationen mit riskanten Derivaten das weltweite Bankensystem an den Rand des Abgrunds getrieben haben. Als Leitfaden dient ein "Rahmenplan zur Finanzstabilität", den kürzlich der frühere US-Notenbankpräsident Paul Volcker für die sogenannte Gruppe der 30, einen Kreis internationaler Finanz- und Währungsexperten, verfasst hatte. Volcker ist Vorsitzender eines im Weißen Haus neu geschaffenen Beraterstabs für wirtschaftliche Erholung und genießt Obamas Vertrauen. Volcker geht so weit, dass er internationalen Großbanken generell verbieten will, selbst hochriskante Hedgefonds zu betreiben.

Konkret will die Regierung offenbar erwirken, dass "Credit Default Swaps" (CDS), eine Art Versicherung gegen geplatzte Kredite, von einer zentralen Clearingstelle erfasst und nur an wenigen, streng überwachten Börsen gehandelt werden dürfen. Nach Informationen der Zeitung New York Times erwägen die Obama-Berater zudem, den Finanzinstituten in Handelsvorschriften abzuverlangen, beim Verkauf ihrer Derivate fortan wenigstens für einen Teil der Kapitalsumme selbst zu bürgen. Bisher konnten findige Hedge-Fonds praktisch das gesamte Kreditrisiko ihrer Anlagenpapiere auf den Käufer abwälzen. Eine weitere Reform sieht vor, fortan sämtliche Hypothekenhändler einer einheitlichen US-Bundesaufsicht zu unterwerfen.

Eine andere Neuerung zielt auf die Rating-Agenturen, die in den vergangenen Jahren die Risiken vieler Fonds und Finanzinstitute massiv unterschätzt hatten. Experten wie Mary L. Schapiro, die von Obama ernannte Chefin der New Yorker Börsenaufsicht, führen dies darauf zurück, dass die Agenturen für ihre Analysen just von jenen Banken und Fonds per Gebühr bezahlt werden, deren Papiere und Bilanzen sie bewerten. Ähnliche Forderungen hatten zuletzt auch zahlreiche europäische Regierungen erhoben.

Insgesamt dürfte die Stoßrichtung der US-Reformen es erleichtern, sich bei dem für Anfang April in London geplanten Weltfinanzgipfel der G-20-Staaten auf globale Standards zu einigen. Vor allem Deutschland und Frankreich hatten in der Vergangenheit ähnliche Vorschläge zur strengeren Regulierung der Weltfinanzmärkte vorgelegt, waren aber wiederholt an amerikanischen und britischen Einwänden gescheitert.

Barack Obama sprach sich am Wochenende eindringlich für ein Milliardenprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft aus. Massive Investitionen würden in den nächsten zwei Jahren "drei bis vier Millionen Jobs schaffen oder sichern", erklärte er. Die Republikaner im US-Kongress verschärften zuletzt ihre Kritik an dem rund 825 Milliarden Dollar teuren Paket und sprachen von "wahlloser Verschwendung". In seiner wöchentlichen Radioansprache erklärte Obama, das Geld diene nicht nur zur kurzfristigen Schaffung von Jobs, sondern auch der langfristigen Investition in eine bessere Infrastruktur, in die Energiepolitik, in Erziehung und die Krankenversicherung. (Seiten 4 und 8)

Zukünftiges Regierungsprogramm Präsident Obamas Finanzpolitik in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Träume aus Silizium

Den High-Tech-Firmen in Dresden geht die Luft aus - nun richten sich alle Hoffnungen auf das Überleben von Infineon

Von Christiane Kohl

Sachsens Wirtschaftsminister Thomas Jurk war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Tags zuvor hatte er noch eine Debatte im Landtag über die Zukunft des Chipherstellers Qimonda von der Tagesordnung nehmen lassen, jetzt musste er im Plenarsaal am Elbufer ans Rednerpult treten, um das Aus für das Elektronik-Unternehmen zu erläutern. Aufgeben aber mochte der Sozialdemokrat selbst an diesem Freitag noch nicht: "Wir werden alles tun, um die Möglichkeiten zu nutzen, die sich im Insolvenzverfahren noch ergeben", sagte Jurk - und kündigte damit gleichsam einen Kampf bis zum letzten Atemzug des gescheiterten Chip-Unternehmens an. Die Landesregierung stelle jedenfalls weitere Fördermittel zur Verfügung, wenn ein Investor ein überzeugendes Konzept vorlege. Auch von Seiten Qimondas wurde signalisiert, dass man weiter nach Finanzierungsmöglichkeiten suchen wolle. All diese Bekundungen aber änderten nichts am schwarzen Freitag für Dresden.

Gegen 22.00 Uhr am Donnerstag hatte der Aufsichtsratsvorsitzende von Qimonda, Peter Fischl, sich telefonisch bei der sächsischen Landesregierung gemeldet: Man müsse davon ausgehen, dass keine zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeiten mehr aufzutreiben seien, sagte der Manager, und bereitete damit Jurk auf das nahe Ende der Firma vor. Freitagmorgen kurz nach acht informierte Fischl dann das Wirtschaftsministerium über den Insolvenzantrag. In den Tagen zuvor hatte es noch einige hektisch einberufene Verhandlungen in Dresden wie auch im Berliner Kanzleramt gegeben. Dabei hatte die sächsische Landesregierung - zusätzlich zu dem bereits vereinbarten Betriebsmittelkredit in Höhe von 300 Millionen Euro - staatliche Bürgschaften von bis zu 1,2 Milliarden Euro zugesagt, für die der Freistaat gemeinsam mit dem Bund geradestehen wollte.

Doch das neue Finanzloch in Höhe von weiteren 300 Millionen Euro ließ sich damit nicht stopfen. Weitere Darlehen aber wollte die sächsische Landesregierung keinesfalls gewähren. Schon der zuvor bewilligte 150-Millionen-Kredit war in der sächsischen CDU-Fraktion äußerst umstritten gewesen: "Jesus kann Tote zum Leben erwecken", die Politiker hingegen könnten das nicht, hatte etwa der einstige Innenminister Heinz Eggert gespottet. Auch andere Politiker bezweifelten, dass mit Finanzhilfen etwas zu retten sei - allzu unberechenbar schien ihnen zu sein, wie das Management mit immer neuen Offenbarungen aufwartete.

Qimonda ist mit rund 3000 Beschäftigten in Dresden der größte Arbeitgeber. Zunächst soll die Chip-Produktion dort aufrechterhalten werden; Weiteres wird der Insolvenzverwalter entscheiden. Experten schätzen, etwa die Hälfte der Dresdner Mitarbeiter würden einen neuen Job finden: In "Silicon Saxony", wie sich die High-Tech-Branche im Elbtal selbstbewusst nennt, werden Fachkräfte gesucht. Wenn jedoch auch die Qimonda-Mutter Infineon ins Trudeln geriete, sähe die Lage sehr ernst aus. Dabei hatte der Freistaat einst rund 1,5 Milliarden Euro an Fördermitteln in die Entwicklung der IT-Branche gesteckt.

Licht aus: Schon vergangenen Oktober demonstrierten Qimonda-Mitarbeiter in Dresden für ihre Arbeitsplätze. dpa

Qimonda AG: Konkurs Wirtschaftsraum Sachsen Halbleiter-Fertigung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Bewusste Denunziation"

Linkspartei weist Vorwurf von SPD-Chef Müntefering zurück, sie verfolge eine "nationale soziale Politik"

Von Nico Fried

Berlin - Die Linke hat Kritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, sie verfolge eine "nationale soziale Politik", scharf zurückgewiesen. Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch hielt Müntefering vor, er wolle die Linke mit einer Assoziation zum Begriff nationalsozialistisch "bewusst denunzieren". Der SPD-Chef ziele darauf ab, "uns in eine Ecke zu stellen, mit der wir und unsere Politik nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun haben", sagte Bartsch am Sonntag der Süddeutschen Zeitung. Er werte dies als Zeichen der hohen Nervosität in der SPD, rate den Sozialdemokraten aber, "im Wahlkampf auf solche unfairen Mittel zu verzichten".

Der SPD-Vorsitzende hatte die Linke zuvor als "ökonomisch ignorant" und "sozial romantisch" bezeichnet. "Sie ist ablehnend Europa gegenüber und stellt alle Bundeswehrsoldaten, die wir in die Welt entsenden, als aggressive Krieger dar", sagte der SPD-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. "Kurzum: Die Linkspartei vertritt auf Bundesebene eine nationale soziale Politik."Bartsch wies den Vorwurf auch als inhaltlich unbegründet und irreführend zurück. So fordere die Linke zum Beispiel die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes: "Natürlich ist das eine nationale Entscheidung, genauso wie es eine nationale Entscheidung der großen Koalition war, eine unsoziale Gesundheitsreform zu machen."

M ntefering hatte den Begriff einer nationalen sozialen Politik mit Blick auf die Linkspartei bereits im November 2008 benutzt, kurz nach seiner Wiederwahl zum SPD-Vorsitzenden, in einem Interview mit der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Damals hielt er Teilen der Linken unter anderem vor, sie verstünden nicht, "oder wollen nicht verstehen, dass Ökonomie und Ökologie und Soziales Dinge sind, die zusammengehören. Weil sie im Grunde eine nationale soziale Politik machen wollen und nicht akzeptieren, dass die Globalisierung die Bedingungen für nationales Handeln grundlegend verändert hat".

In seinem jüngsten Interview sagte Müntefering, die Positionen der Linkspartei machten es der SPD unmöglich, auf Bundesebene mit ihr zusammenzuarbeiten. Auf Landesebene schloss Müntefering Koalitionen mit der Linken indes erneut nicht aus: "Wenn auf Länderebene eine vernünftige Zusammenarbeit klar vereinbart wird zu unseren Bedingungen, ist das in Ordnung", sagte der SPD-Vorsitzende, ohne diese Bedingungen allerdings auszuführen. Vor allem in Thüringen und im Saarland, wo noch vor der Bundestagswahl neue Landtage gewählt werden, könnte es zu Ergebnissen kommen, mit denen rot-rote Koalitionen möglich wären.

Den Versuch der inzwischen zurückgetretenen hessischen Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti, eine rot-grüne Minderheitsregierung mit Duldung der Linken zu bilden, missbilligte Müntefering allerdings unter Verweis auf gegenteilige Versprechen vor der Wahl: "Den Bruch eines Versprechens, diesen Schaden für die Glaubwürdigkeit von Politik, bekommt man nicht mehr weg. Man kann ihn nur noch begrenzen", sagte der Parteichef. Bartsch wiederum nannte Münteferings Haltung, in den Ländern Koalitionen mit der Linken zuzulassen, sie im Bund aber auszuschließen, "widersprüchlich und völlig unglaubwürdig".

SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier zeigte sich unterdessen trotz der klaren Festlegung der FDP und ihres Vorsitzenden Guido Westerwelle auf eine Koalition mit der Union nach der Bundestagswahl zuversichtlich, dass die Liberalen im Zweifelsfalle auch als Partner für die Sozialdemokraten zur Verfügung stünden. Wenn die SPD stark genug abschneide, "werden sich ganz sicher Koalitionspartner einstellen", sagte Steinmeier dem Tagesspiegel. "Die FDP wird die Dinge sehr nüchtern betrachten", meinte Steinmeier weiter. "Ich glaube, dass Guido Westerwelle nach elf Jahren Opposition wieder Lust auf Regierung und Gestaltung hat. Er ist klug und erfahren genug, um keine Ausschlussklauseln festzulegen."

Westerwelle selbst bekräftigte seine Abneigung gegen eine Ampel-Koalition. "Dabei geht es nicht um persönliche Gefühle, sondern um den Mangel an inhaltlichen Übereinstimmungen mit SPD und Grünen", sagte der FDP-Chef Bild am Sonntag. Westerwelle äußerte zudem die Meinung, dass SPD, Grüne und Linkspartei eine Regierung bilden würden, wenn es nach der Bundestagswahl rechnerisch möglich sei - "auch wenn die SPD es heute noch so sehr bestreitet". Auch CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte: "Die Schwüre der SPD, keinesfalls mit der Linkspartei auf Bundesebene zu paktieren, sind nichts wert."

Jenseits der Kritik an der Linkspartei kündigte Müntefering an, die SPD auch über das Jahr 2009 hinaus führen zu wollen. Er habe sich "einiges vorgenommen". (Seite 4)

Wohlkalkulierte Attacke: SPD-Chef Franz Müntefering grenzt die SPD scharf von der Linkspartei ab. Foto: dpa

Müntefering, Franz: Reden Verhältnis der SPD zur Partei DIE LINKE SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Gesetz, das nicht wirkt

Ehemalige jüdische Ghettoarbeiter müssen weiter auf eine Rente warten

Von Robert Probst

München - Auch mehr als 63 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist der Kampf zahlreicher NS-Opfer um eine finanzielle Entschädigung noch lange nicht beendet. Für ehemalige jüdische Ghettoarbeiter in den von den Nazis besetzten osteuropäischen Gebieten gab es jüngst eine gute und zwei schlechte Nachrichten: All die hochbetagten Menschen, die seit Jahren vor Gericht um ihre Rentenansprüche ringen, mussten erkennen, dass es auch künftig keinesfalls schneller vorangehen wird - das Bundessozialgericht kam nicht zu einer erhofften Grundsatzentscheidung. Andererseits haben nun schon mehr als 10 000 NS-Opfer eine Anerkennungsleistung aus einem Bundesfonds in Höhe von einmalig 2000 Euro bekommen. Doch noch immer stehen Zehntausende jüdische Antragsteller aus aller Welt ohne Geld da - trotz des Fonds und trotz eines Gesetzes, das genau zu dem Zweck entworfen wurde, diese bisherige Lücke im Entschädigungsrecht zu schließen.

Seit 2002 können jüdische NS-Opfer ihre Arbeit in einem von den Nazis eingerichteten Ghetto in Osteuropa auf ihre Rente anrechnen lassen. Mehr als 70 000 Anträge gingen ein, die deutschen Rentenversicherungen lehnten allerdings 95 Prozent davon rundheraus ab - denn die Opfer müssen laut Gesetz nachweisen, dass sie ihre Arbeit "freiwillig" und "gegen Entgelt" geleistet haben. Selten aber ist der Unterschied zur Zwangsarbeit im allgemeinen Terror der Besatzer klar zu definieren, und oft hatten die Betroffenen in den 50er und 60er Jahren bei Entschädigungsfragen undifferenzierte Angaben gemacht. Das Gesetz stellt also für viele eine kaum zu überwindende Hürde dar. Seitdem werden die Sozialgerichte von einer Klageflut überschwemmt - Zehntausende sind noch anhängig, zäh ziehen sich die oft komplexen Fälle durch die Instanzen, während die oft über 80 Jahre alten Kläger verzweifelt auf eine Entscheidung warten.

Grünen-Antrag abgelehnt

Vielen Experten gilt das Gesetz als zu kompliziert und die Gerichte urteilen extrem unterschiedlich. Doch auch der Große Senat des Bundessozialgerichts in Kassel kam im Dezember zu keiner Lösung. Der Große Senat tagt, wenn zwei Senate des Gerichts unterschiedlich Ansichten vertreten. Die vorgelegte Frage zu den Ghettorenten sei aber "unzulässig" gewesen - und so weigerte sich der Große Senat, zu dem umstrittenen Gesetz Stellung zu nehmen und womöglich zu Klarheit in Auslegungsfragen zu kommen (Aktenzeichen: GS 1/08).

Juristen gehen davon aus, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis in allen strittigen Fragen Rechtssicherheit besteht. Dann werden aber die meisten Betroffenen wohl gestorben sein. Eine weitere ungünstige Nachricht für die NS-Opfer: Am vorigen Donnerstag lehnte die große Koalition im Bundestag einen Antrag der Grünen-Fraktion ab, die gefordert hatte, die Renten-Auszahlung massiv zu erleichtern und das Gesetz zu reformieren. Grünen-Abgeordneter Jerzy Montag zeigte sich enttäuscht, will aber in einigen Wochen "noch mal nachhaken".

Auch aufgrund von Protesten der Betroffenen und ihrer Verbände hatte die Bundesregierung im Oktober 2007 einen Fonds mit 100 Millionen Euro aufgelegt, aus dem frühere Ghettoarbeiter, die bislang keine Rentenzahlungen durchsetzen konnten, einmalig 2000 Euro als "Anerkennungsleistung" erhalten können. Dabei waren die Hürden etwas niedriger angesetzt als im Gesetz. Doch auch hier zog sich die Bearbeitung der Anträge in die Länge. Nun - mehr als 15 Monate nach dem Start - sind nach Angaben des Bundesfinanzministeriums von 44 000 Anträgen etwa 14 000 bewilligt worden. Mehr als 10 000 Menschen hätten das Geld erhalten. Die Regierung rechnet mit weltweit 50 000 Anspruchsberechtigten. "Die anfänglichen technischen Schwierigkeiten wurden inzwischen bewältigt, grundsätzliche Auslegungsfragen gelöst", heißt es aus dem Ministerium. Die Bundesregierung arbeite "weiter an Vereinfachungen im Sinne der hochbetagten Verfolgten". Kritiker loben zwar die Einrichtung des Fonds, monieren aber, alles gehe viel zu langsam.

Entschädigung von NS-Opfern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der große Lausangriff

Das Stigma von Schmutz und Armut: Die Parasiten stürzen Millionen Eltern in Schrecken, bringen Pharmafirmen schöne Gewinne und Forscher zum Schmunzeln. Wer der Spur der Tiere folgt, der lernt, dass sie nicht nur auf dem Kopf ein Problem sind, sondern auch im Kopf

Von Renate Meinhof

Düsseldorf/Berlin - Will man wissen, was geschieht, wenn man nichts tut, wenn man sie also am Leben lässt und zeugen lässt, und Eier legen und Blut saugen und zeugen und Eier legen und saugen und . . ., dann muss man ins Medizinhistorische Museum der Berliner Charité gehen. Hierher pilgern Menschen, die sich, als Beispiel nur, im Angesicht des Hässlichen und Morbiden ihrer körperlichen Unversehrtheit versichern möchten, was nirgends so leicht ist, so widerstandslos auch und leise wie hier, wo zirrhotische Lebern zur ewigen Anschauung verdammt sind und Föten in Formalin schweben wie untotes Wachs, ein Auge nur inmitten der Stirn. Oder Janusköpfe, die in Nächten, die der Angst gehören, wieder auftauchen wie ungebetene Gäste. Gleich rechts neben den "Syphilitischen Gummen" einer 1949 gestorbenen Frau steht das Präparat mit der Nummer 106/1859. In einem Glas eine dunkelbraune klumpige Spindel. Man möchte sich vorstellen, wie es mal Schleifen trug, dieses Haar, und glänzend und leicht auf dem Kopf eines Kindes durch Berlin wippte. "Weichselzopf 1859", steht dabei, "Verfilzung und Verklebung der Haare durch Nissen und Ekzemkruste bei hochgradiger Kopfverlausung".

Aha. Dieses Büschel also hatte Peter Fischer in seinem schrankumstellten Zimmer des Kreuzberger Gesundheitsamtes gemeint, als er sagte: "Nu gucken Se sisch das doch erstmol an." Aber sowas wie den Weichselzopf da im Museum bekäme er heute nur noch sehr selten zu sehen, bei Obdachlosen manchmal.

Und Heinz Mehlhorn, der Parasitologe, hatte gesagt, dass er bei ägyptischen Straßenkindern mit seinen Studenten schon mal fünfhundert Läuse von einem Schopf herunterkämme, richtig gute Experimentiermengen also, in Deutschland seien die Tiere aber eher ein Problem des Kopfes. Er meinte nicht Haut, nicht Haare. Er meinte die Psyche, den Wahn.

"Läuse? Die gibt es noch?", fragen Ältere, die den Krieg erlebt haben. "Läuse!", kreischen Mütter an der Tür zum Kindergarten und raunen der Tochter, später zum Abschied, ins Ohr: "Also mit Shirin, Kevin und Soraya spielste jetzte mal nich, die ham Läuse."

Es sind Frauen, die aussehen, als fürchteten sie den Abstieg in die Unterschicht, den Einbruch der Wildnis in ihr reinliches Leben. Als würden die Blutsauger ihre Kinder leertrinken, zu anämischen Elendsgestalten, solche Phantasien. Als brächten sie Krankheiten wie die Kleiderlaus. Die tat ja schon ihr Übriges, um Napoleons Armee in Russland durchs Fleckfieber zu Fall zu bringen. Wie mächtig sind die eigentlich, die Läuse?

Man schreibt am besten über sie, wenn man welche hat. Dann ist man, sind mehrere in der Familie betroffen, ganz nah dran am Tier und am Wahn, und wenn es nicht Heinz Mehlhorn, den Wissenschaftler, gäbe, säße man womöglich schon in der Sprechstunde von Wolfgang Harth, der im Grenzbereich zwischen Dermatologie und Psychiatrie mit allem schon zu tun hatte, alles schon gesehen hat, was Tiere, und insbesondere die Kopflaus, bei Menschen auszulösen vermag, vorausgesetzt, sie haben gewisse Dispositionen.

Läuse lassen sich nicht zählen. Nirgends gesicherte Daten. Die Pedikulose, der Kopflausbefall, ist nach dem Infektionsschutzgesetz keine meldepflichtige Krankheit, auch wenn Eltern dem Kindergarten oder der Schule mitteilen müssen, wenn ihr Kind verlaust ist. Sie müssen es auch selbst behandeln. Aus Scham aber, als schmutzig zu gelten, sagen viele nichts. Mit Läusen ist das Stigma von Armut und Dreck verbunden, eine alte Geschichte ist das. Wer in Bibliotheken sucht, stößt zum Beispiel auf die Abhandlung "Ueber den Weichselzopf" aus dem Jahr 1879. Ein gewisser Stanislaus Ostyk von Narbutt "aus Szawry in Lithauen" hat sie verfasst. Er beschreibt den verlausten Kopf eines bitterarmen polnischen Bauern. Seine "verklebten Haarlocken waren wie mit dickem gelbem Lehm angestriechen", schreibt er, "wie gesprenkelt von . . . Läusen, denen die beste Gelegenheit zur raschen Entwicklung geboten war". Es sind 16 Seiten sauber aufgearbeiteten Ekels, Narbutts Dissertation. Das Stigma hat sich über die Jahrhunderte ins Unterbewusstsein gegraben. Da ist es bis heute.

Es trifft aber jeden. Wissenschaftler der Charité haben Schätzungen veröffentlicht, wonach in Deutschland in der Gruppe der Sechs- bis Zehnjährigen rund 1500 Kinder, gerechnet auf 10 000, im Jahr neu erkranken. Kinder, besonders kleine, stecken im Spiel ständig die Köpfe zusammen. Als die Schüler einer Düsseldorfer Grundschule befragt wurden, sagten 85 Prozent der Kinder, dass sie schon mindestens einmal Läuse gehabt hätten. Etwa 30 Millionen Euro im Jahr werden in Deutschland für Läusemittel ausgegeben. Wie viele Schultage versäumt werden, wie viele Arbeitstage verlorengehen, weil Eltern mit den Kindern zu Hause bleiben, um täglich die Bettwäsche auszukochen, um Kuscheltiere einzufrieren, die Wohnung zu desinfizieren, den kratzenden Kindern übel riechende Flüssigkeiten auf den Kopf zu tröpfeln - alles ungezählt.

Der Parasitologe. "Bei mir rufen Mütter an, die psychisch am Ende sind", sagt Heinz Mehlhorn, was daran liege, dass sie sich schämten und kaum etwas wüssten über die Laus, ihre Gewohnheiten, ihre zwei "Gehirne", die "Grandioses leisten". Und wie sensibel sie ist, die Laus.

Mehlhorn schwärmt. Mehlhorn weiß alles über sie, alles. Er leitet das Institut für Zoomorphologie, Zellbiologie und Parasitologie an der Düsseldorfer Universität. Wenn man mit ihm die schweren Schleusen zu den Klimakammern passiert, dem hektischen Krabbeln der Schaben zusieht, den Schmeißfliegen, Maden, Flöhen, Wanzen und Würmern aus aller Welt, die hier zur Forschung gehalten werden, dann ist es einzig Mehlhorns echte Begeisterung, die man nicht beleidigen möchte, und die einen davon abhält, sich auf der Stelle zu übergeben.

Mehlhorn ist ein fülliger fröhlicher Mann, dem es gelungen ist, sich nicht nur in der Welt der Wissenschaft einen Namen zu machen, sondern auch einem breiten Nachmittagspublikum bekannt zu werden, mindestens doch im Sendegebiet des Westdeutschen Rundfunks, wo er gelegentlich in "Daheim&unterwegs" auftritt, um unter der Rubik "Mensch und Tier" zum Beispiel zu erklären, ob es sinnvoll ist, Schlupfwespengeschwader gegen Kleidermotten einzusetzen oder nicht. Oder ob man die Bettwäsche wirklich täglich auskochen muss, weil die Kinder Läuse haben. Nein, soll man alles nicht. Dass Mütter bei ihm Rat suchen, weil sie sich über Wochen, manchmal Monate, im Krieg mit dem Tier befinden, hat also einen Grund.

"Nur dumme Läuse fallen vom Kopf", sagt Mehlhorn. "Die Laus hat sich vor fünf Millionen Jahren an den Menschen gekettet, sie ist ein Spezialist geworden. Sie tut alles, um ihn nicht zu verlieren." Ist doch ganz einfach. "Wenn Sie wissen, Ihr Essen steht immer da auf dem Tisch", (Mehlhorn klopft auf den Tisch), "warum sollten Sie dann woanders herumturnen?" Ohne einen Menschenkopf überlebt die Laus nur etwa einen Tag, vorausgesetzt, es ist warm, feucht und sie hatte gerade eine Blutmahlzeit. Mehlhorn spricht das Wort mit Genuss aus. Blutmahlzeit. Alle zwei bis drei Stunden muss die Laus Blut saugen. Im Laufe der Evolution hat sie gelernt, dass der Mensch ein endliches Wesen ist, deshalb rennt sie mit ihren Krallenbeinen nach jeder Blutmahlzeit einmal das Haar ganz herunter, bis ans Ende, und schaut, ob sie nicht Haarkontakt zu einer anderen Person bekommen kann. Da sitzt sie dann eine Weile und wartet. Wenn niemand kommt, rennt sie wieder in die Wärme und Feuchte, nah der Kopfhaut, wo sie ihre Eier ans Haar klebt.

"Da an der Haarspitze, da ist der Moment des Übergangs!", ruft Mehlhorn und springt vom Schreibtisch auf, "fast ausschließlich von Haar zu Haar!"

"Es ist also Unsinn, wenn Krankenschwestern oder Apotheker Eltern raten, die ganze Wohnung, das Auto noch, auf den Kopf zu stellen? Vielleicht hat man ja Pech und dumme Läuse erwischt?"

"Das kann man vernachlässigen und rechtfertigt nicht diesen Wahnsinn", sagt Mehlhorn. Je länger man ihm zuhört, umso mehr verliert die Laus ihren Schrecken. Mit seinen Kollegen hat der Professor selbst ein Mittel gegen Kopfläuse entwickelt. Es ist ein Shampoo, ein Medizinprodukt, das biologisch wirkt, vor allem mit dem Öl des Neem-Baum-Samens, der aus Indien stammt. An den Wochenenden arbeiten manchmal 30 Studenten mit in der Firma auf dem Uni-Gelände, verdienen sich Geld, sonst käme man gar nicht nach mit der Arbeit. "Denken Sie daran", sagt Heinz Mehlhorn beim Abschied, "die Laus war immer da und wird immer da sein, aber sie ist so harmlos wie die Flechte am Baum." Amen. Er lacht. Er steigt in sein Auto, fährt los. NE-HM ist das Letzte, was man von ihm sieht, hinten auf dem Nummernschild seines Wagens.

Der Unternehmer. Eduard R. Dörrenberg am Apparat. Dörrenberg ist aufgeregt, noch immer. Dabei liegt das Ganze schon bald ein Jahr zurück. "Läuse haben keine Lobby, das ist es doch!", ruft er in den Hörer, "es geht ja nur um ein paar Millionen Kinderköpfe, es stirbt ja keiner dran!" Dörrenberg ist Mittelständler, Geschäftsführer von Dr. Wolff Arzneimittel in Bielefeld. Vor knapp einem Jahr hatte er in großen Zeitungen den offenen Brief, den er an Gesundheitsministerin Ulla Schmidt geschrieben hatte, als Anzeige abdrucken lassen. Er fühle sich im Wettbewerb behindert, hieß es da, sein Mittel habe in Studien gezeigt, dass es ohne chemisch wirkende Insektizide Läuse töte, aber in die staatlich geprüfte Entwesungsmittelliste sei es noch nicht aufgenommen worden. Auf der Liste sein heiße aber: Geld verdienen. Alles dauere zu lange, die Bürokratie . . . Dann stand da ein Satz, der seinen großen Konkurrenten, den Marktführern in der Branche, nicht gefallen konnte: "Insektizide gehören nicht auf Kinderköpfe."

Dr. Wolff Arzneimittel ist eine der Firmen, die ein Läusemittel vertreibt, das physikalisch wirkt. Dimeticon heißt der Stoff, mit dem es wirkt, und Silikon, ein Kunststoff, ist dessen Basis. Die Läuse und deren Eier, wenn man es einfach ausdrückt, werden mit einer dicken Schicht Kunststoff bedeckt und auf diese Weise erstickt. Die meisten anderen Läusemittel wirken chemisch, mit Schädlingsbekämpfungsmitteln. Das Eine gilt vielen Eltern als schonend, das Andere als aggressiv. Was wohl werden sie kaufen?

"Wir sind von den Wettbewerbern mit Prozessen überzogen worden", sagt Dörrenberg, "die verdienen ja ordentlich Geld mit ihren Präparaten." Er verdient noch nicht so viel, aber bitte, keine Zahlen. Er habe selten so viel Herzblut in eine Sache gesteckt wie in diesen Kampf. Auf der Liste ist sein Mittel immer noch nicht. Dafür hatte Dörrenberg die Idee mit dem "Läuseatlas". Er hat alle Läusemittelverkaufszahlen mit der Kinderdichte in allen Postleitbezirken Deutschlands verrechnet. Ein Klick im Internet. Da steht eine Frau vor der Deutschlandkarte. "Erfahren Sie schnell und einfach, in welchem Umfang an ihrem Wohnort mit Kopfläusen zu rechnen ist", sagt sie. Klick. Postleitzahl eingeben. Klick. Berlin-Schöneberg. "Hier können Läuse bei bis zu sieben von zehn Kindern vorkommen, also etwa dreimal so häufig wie der Durchschnitt", sagt die Frau. "Vorsicht ist geboten." Klick. Wegen der betonten Dehnung der Worte "siiieben" und "dreeiiimal" spürt man sofort, dass man in Schöneberg einem dramatischen Risiko ausgesetzt ist. Aber was heißt das: vorsichtig sein? Die Kinder mit Badekappen in die Schule schicken?

Der Dermatologe. Nehmen wir eine 58-jährige Frau, alleinstehend. Sie hatte ihre kleine Enkelin zu Besuch. Die Enkelin hatte den Kopf voller Läuse. Die Oma hat sie entdeckt, ist in die Apotheke gegangen, hat ein Mittel gekauft, das Kind entlaust. Gut soweit. Die Enkelin ist wieder weg. Die Läuse aber, sie sind geblieben bei der Frau. Nicht die Tiere selbst natürlich, die sind tot, längst weggespült. Aber der Gedanke an sie ist geblieben. Sie spürt die Läuse, glaubt, dass die Tiere auch unter die Haut gekrochen sind. Die führen da ihr Eigenleben. Nachts steht die Frau auf, duscht eine Stunde, zwei, kratzt sich, kämmt ihre Haare aus. Bohrt sich mit Scheren und Pinzetten die Arme auf, angelt etwas hervor, etwas, das aussieht wie . . . Sie tut es in eine Streichholzschachtel, schnell zumachen, bohrt weiter, wird das dem Arzt zeigen, was sie da hat. Dem achten Arzt, dem neunten, den sie aufsucht.

"Haben Sie schon einmal Bilder von den Körpern solcher Menschen gesehen?", fragt Wolfgang Harth und holt ein Buch aus dem Regal in seinem Sprechzimmer. Er ist Dermatologe am Klinikum Berlin-Friedrichshain. Wenn er den Prototyp einer Patientin mit Dermatozoenwahn beschreibt und Bilder zeigt von "aufgeknubberten" Armen, wie er es nennt, ahnt man das Ausmaß einer Krankheit, die so selbstzerstörerisch ist, dass man nicht glauben mag, sie könne durch harmlose Läuse ausgelöst werden. Wie mächtig sind die eigentlich?

Harths Gebiet ist die Psychodermatologie. Nicht viele Spezialisten gibt es da, in Deutschland sind es etwa 45. Nicht viele, die es verstehen, sich an Menschen heranzutasten, die, zum Beispiel, krankhaft Angst haben, von Parasiten, Läusen, Flöhen, Würmern, befallen zu sein, ohne dass man etwas sieht oder gar medizinisch nachweisen kann. Für die Kranken aber sind die unsichtbaren Tiere: Realität, Wahn-Realität. Manchmal übernehmen in einer Familie sogar die Gesunden den Wahn des Kranken. Eine Art "psychotischer Ansteckung" finde da statt, sagt Wolfgang Harth. "Folie à famille" nennt man das. Er schlägt das Buch wieder zu, aber die Bilder bleiben einem im Kopf: der wunde Rest von Menschen.

"Das kann also jeden treffen, wenn nur ein auslösendes Moment kommt, eine Laus zum Beispiel?"

Harth schaut einen mitleidig an. "Nein, es muss schon eine Prädisponierung geben", sagt er, eine Anfälligkeit, "aber, mein Gott, kein Mensch weiß, wie Psychosen zustande kommen".

Der Desinfektor. Zu Peter Fischer kommen auch manchmal Menschen, die glauben, Läuse zu haben, und haben aber keine. Dann wieder kommen Menschen, die haben welche und wollen das nicht glauben. Neulich kam eine Frau mit ihrem Kind, das hatte den Kopf voll der Tiere. Fischer untersucht den Jungen mit Sorgfalt. Läuse. Fischer sagt der Mutter, was sie jetzt tun muss. Auf der Bescheinigung des Gesundheitsamtes, die zu stempeln er ermächtigt ist, kreuzt er an: "Kopflausbefall. Es besteht somit automatisch ein Besuchsverbot in Gemeinschaftseinrichtungen." Ohne Behandlung kein Kindergarten. Der Mutter steigt die Wut ins Gesicht, die sie Fischer auf den Tisch spuckt: "Mein Sohn hat keine Läuse!" Sie schreit den Satz, zerreißt das Gestempelte, rennt raus. Fischer blieb zurück in seinem Zimmerchen im Gesundheitsamt, an seinem Schreibtisch, hinter sich drei schmale Schränke, vor sich drei und rechts die Schautafel mit der riesigen Laus zur Anschauung. "Die Laus fliegt nich. Die Laus springt nich", sagt er hier den Leuten, die nichts wissen, außer, dass ihnen der Kopf juckt. "Die Laus hat ja kein Sprungbein wie der Floh." Aber für den Floh gibt es keine Tafel. Manchen zeigt er auch die Laus, der er vor Jahren schon unter durchsichtiges Klebeband auf Papier gepappt hat. Gefangen am 8. 2. 1996, steht darunter. Das Papier ist mürbe, das Klebband vergilbt. Die Laus? Ein Matsch.

"Der Job is nich ohne", sagt Peter Fischer, "aber die große Masse der Bürger ist einsichtsvoll." Er stammt aus Thüringen. Nach der Wende musste er ganz neu anfangen, jetzt ist er 52. Draußen im Flur knattern Bohrer. Draußen im Hof krächzen die Krähen. Dazwischen Fischer, der nicht aussieht, als sei das Suchen von Läusen das Ziel seiner Träume.

"Soll ich jetzt mal bei Ihnen . . .?"

Also. Platz nehmen bitte. Fischer arbeitet genau, sucht hinter den Ohren, den Scheitel entlang, Strähne um Strähne, dann den Hals. Nein, nichts, gar nichts. Er zieht ein Buch aus dem Schrank, "Kopflauskontrolle Band III", notiert Namen, Geburtsdatum, Adresse. "Muss scho Ordnung sein auf der Strecke", sagt Peter Fischer. "Sie werden jetzt hier wie jede Bürgerin behandelt, die kontrolliert wurde." Er füllt die Bescheinigung aus. "Kein Kopflausbefall. Der Besuch der Gemeinschaftseinrichtung kann ab sofort wieder erfolgen." Fischer unterschreibt. Stempeln auch? Stempeln, ja bitte. Weil der Stempel so machtvoll ein Ende setzt. Dingen wie Läusen.

"Mit Shirin, Kevin und Soraya spielste jetzte ma nich . . ."

16 Seiten Ekel, sauber aufgearbeitet für die Dissertation

Nach jeder Blutmahlzeit rennt sie los, um Ausschau zu halten

Einer erstickt sie, die anderen vergiften sie

Der Doktor und der wunde Rest von Menschen

Von Menschen und Läusen: Im Museum kann man die Insekten auch als Modell in stattlicher Größe betrachten (Bild oben). Zum Berliner Psychodermatologen Wolfgang Harth (Mitte) kommen auch Patienten, die krankhafte Angst vor Parasiten entwickeln. Unter dem Mikroskop ist zu sehen, wie sich die bis zu 3,3 Millimeter großen Tiere mit ihren Beinen am Haar festklammern. Fotos: Rumpf, Meinhof, Mehlhorn

Kampfzone Kopf: Mit Nissenkamm und Lupe sucht eine Mutter nach den Blutsaugern in den Haaren ihrer Tochter. Foto: Wolfgang Maria Weber

Läuse SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Papst holt Holocaust-Leugner zurück in die Kirche

Benedikt XVI. hebt Exkommunikation von vier konservativen Bischöfen auf / Juden in aller Welt empört

Von Stefan Ulrich

Rom - Papst Benedikt XVI. hat die Exkommunikation von vier Bischöfen der ultrakonservativen Pius-Priesterbruderschaft aufgehoben und damit in der jüdischen Welt Empörung ausgelöst. Die Entscheidung des Papstes "verseuche" die ganze Kirche, sagte der Rabbiner David Rosen, der maßgeblich am jüdisch-christlichen Dialog beteiligt ist. Der Präsident der italienischen Rabbiner, Giuseppe Laras, kritisierte: "Wir können nicht in den Kopf des Papstes sehen, aber das ist sicher kein Handeln, das Entspannung bringt." Unter den vier Bischöfen ist der Brite Richard Williamson. Er leugnet seit Jahren den Holocaust und behauptet, es habe die Gaskammern in den Konzentrationslagern der Nazis nie gegeben.

Kirchenvertreter distanzierten sich am Wochenende von den Äußerungen Williamsons, verteidigten aber zugleich den Schritt des Papstes. So sagte der Vatikan-Sprecher Federico Lombardi, die Rücknahme der Exkommunikation sei eine "Geste des Friedens" und eine "Quelle der Freude" für die ganze Kirche. Zwar seien die Behauptungen des Bischofs Williamson inakzeptabel. Sie hätten aber nichts mit der Exkommunikation zu tun.

Die vier Bischöfe sind Anhänger des 1991 verstorbenen traditionalistischen französischen Erzbischofs Marcel Lefebvre. Er hatte die Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils wie die Erklärung zur Religionsfreiheit, den Dialog mit anderen Konfessionen und Glaubensrichtungen sowie eine Liturgiereform bekämpft. 1988 weihte er trotz eines päpstlichen Verbotes vier Priester seiner Bruderschaft zu Bischöfen und löste eine Kirchenspaltung aus. Lefebvre und die vier Bischöfe wurden exkommuniziert. Papst Benedikt XVI. bemüht sich seit seinem Amtsantritt im Jahr 2005 darum, das Schisma zu überwinden. So erlaubte er 2007, dass wieder in allen Bistümern Messen nach dem alten tridentinischen Ritus gefeiert werden können.

Nach der Aufhebung der Exkommunikation erwarten Beobachter, dass es bald zur Wiedereingliederung der "Priesterbruderschaft Pius X." in die katholische Kirche kommen wird. Der Bruderschaft sollen nach eigenen Angaben etwa 500 Priester angehören und 600 000 Gläubige anhängen. In einem Kommuniqué des Vatikans, das am Samstag veröffentlicht wurde, heißt es, Benedikt XVI. hebe "mit Wohlwollen" und "aus pastoraler Sorge und väterlicher Barmherzigkeit" die Exkommunikation auf. "Der Papst ist bei dieser Entscheidung von dem Wunsch erfüllt, dass man möglichst rasch zu einer vollständigen Versöhnung und zu voller Gemeinschaft gelangt." Die vier Bischöfe hatten zuvor versichert, das Primat des Papstes anzuerkennen.

Die Entscheidung Benedikt XVI. stieß auch in der Kirche auf Kritik. So erklärte die Bewegung "Wir sind Kirche", der Schritt des Papstes zeige die "rückwärtsgewandte Ausrichtung" seines Pontifikats. Die Bewegung warnte davor, Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils rückgängig zu machen. Vertreter des Judentums vermissten eine scharfe Verurteilung der Behauptungen Williamsons. Der Bischof hatte jüngst bei einem Besuch in Deutschland gesagt, er glaube, dass es "keine Gaskammern gegeben hat". Zudem seien in den deutschen Konzentrationslagern nicht sechs Millionen Juden getötet worden, sondern bis zu 300 000. Die Staatsanwaltschaft Regensburg ermittelt gegen den Bischof wegen Volksverhetzung. (Seiten 2 und 4)

Benedikt 16, Papst Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum Katholische Bischöfe Leugnen des Holocaust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Attraktiv, aber teuer

Wachsender Wohnraum-Bedarf prägt den Standort München

Von Christoph Neuschäffer

Eine der wenigen positiven Auswirkungen der Finanzkrise bekommen Immobilienbesitzer und Autofahrer seit einigen Wochen zu spüren. Da die weltweite Nachfrage nach Erdöl stark zurückgegangen ist, sind nicht nur die Benzinpreise, sondern auch die Heizölpreise drastisch gesunken. Kosteten 100 Liter Heizöl im Juli 2008 noch mehr als 95 Euro, so liegt der Preis derzeit bei etwas mehr als 50 Euro. Damit sind zumindest die Betriebskosten für das Wohnen wieder etwas günstiger geworden. Aus Sicht der Verbraucher weniger erfreulich stellt sich die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt dar. "Der Großraum München liegt in Bayern preislich weiterhin auf höchstem Niveau", sagt IVD-Vorstandsmitglied Martin Schäfer. Doch während nach Angaben des Immobilienverbandes Deutschland Süd die Mieten in Bayern landesweit betrachtet stabil geblieben sind, steigen sie in München ungebremst.

Die höchsten Zuwächse verzeichneten in München laut dem im Dezember 2008 vorgelegten Marktbericht des IVD Wohnungen aus dem Bestand mit einem Plus von 9,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Doppelhaushälften in Erstvermietung legten dagegen nur um 1,4 Prozent zu. "Die Wirtschaftssituation ist in Bayern und speziell im Großraum München, wie auch die Immobilienwirtschaft, bodenständig aufgestellt. Und deshalb nicht in dem Maße anfällig für die Verwerfungen der Finanzmarktkrise wie andere Standorte, speziell einige Standorte im Ausland", betont Stephan Kippes, Leiter der Marktforschung beim IVD Süd. Daher rechnet der Experte mit einer weiterhin stabilen Nachfrage am Münchner Immobilienmarkt.

Dieser stabilen Nachfrage steht aber ein eklatanter Mangel an Neubauten gegenüber. So befindet sich die Zahl der Baugenehmigungen in Bayern auf einem historischen Tiefstand. Mit insgesamt 31 771 Baugenehmigungen und 38 333 Baufertigstellungen war 2007 ein vorläufiger Tiefpunkt. Schließt man von den ersten drei Quartalen des Jahres 2008 auf das Gesamtjahr, dann ist mit einem weiteren Negativrekord zu rechnen. Auch in München sieht die Situation nicht besser aus: Mit 4498 Baugenehmigungen und 4200 Baufertigstellungen wurde 2007 das von der Stadt München postulierte Ziel von 7000 fertiggestellten Wohnungen im Jahr klar verfehlt und auch für 2008 sehen die Zahlen nicht sonderlich anders aus. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, ist mit einer Verschärfung der Situation auf dem Wohnungsmarkt zu rechnen. Das Forschungsinstitut Empirica geht davon aus, dass bis zum Jahr 2025 allein in der Region München etwa 265 000 Wohnungen fehlen. Besonders betroffen von der ungünstigen Entwicklung ist der soziale Wohnungsbau. In Bayern gibt es ohnehin nur noch 200 000 Sozialwohnungen, von denen in den kommenden fünf Jahren 70 000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen werden.

Der steigende Bedarf an Wohnraum resultiert zum einen aus dem positiven Wanderungssaldo nach Bayern und München. So wuchs die bayerische Bevölkerung in den vergangenen elf Jahren um eine halbe Million Menschen. Genauso stark ins Gewicht fällt aber auch die Zunahme an Privathaushalten, deren Zahl in Bayern bei mittlerweile fast sechs Millionen liegt. Den stärksten Zuwachs verzeichnete die Zahl der Einpersonenhaushalte, die mit circa 38 Prozent mittlerweile höher ist als die Zahl Haushalte mit Kindern (knapp 31 Prozent).

In Bayern müssten laut Staatsregierung jedes Jahr 60 000 Wohnungen gebaut werden, um den Bedarf zu decken. Doch im Jahr 2007 wurden nur 44 000 Wohnungen errichtet. Und auch 2008 sei das Soll nicht erfüllt worden, beklagt der Verband bayerischer Wohnungsunternehmen (VdW), in dem knapp 500 bayerische Wohnungsunternehmen zusammengeschlossen sind. Und auch die Aussichten für das Jahr 2009 sehen düster aus, meldet der VdW Bayern. "Durch die Finanzkrise wird die Kreditversorgung für Wohnungsunternehmen immer schwieriger", betont Verbandsvorstand Xaver Kroner. Deshalb appellierte er bereits im Dezember an die Staatsregierung, die Wohnraumförderung für 2009 zu erhöhen, um damit auch konjunkturelle Anreize für Handwerk und Bauwirtschaft zu geben. "Ohne ausreichende Förderung werden sich die Investitionen der Wohnungsunternehmen verringern", sagt Kroner.

Bislang steckt die Staatsregierung circa 200 Millionen Euro in die Wohnraumförderung. Ginge es nach dem Willen des VdW, so würde dieser Betrag um weitere 100 Millionen Euro aufgestockt. "Wenn die Förderung nicht erhöht wird, geht der Wohnungsbau noch weiter zurück und die ehrgeizigen Klimaschutzziele werden unerreichbar", erklärt Kroner. Mit den steigenden Mindestanforderungen bei energetischen Sanierungen von Altbauten durch die Energieeinsparverordnung (EnEV) sieht er weitere Belastungen auf die Wohnungsunternehmen zukommen. Verschärfte Baustandards verteuerten jede Einzelmaßnahme, weshalb bei gleichbleibender Investitionskraft immer weniger Gebäude gebaut und modernisiert werden könnten, so die Kritik des Verbandsvorstandes.

VdW fordert mehr Mittel

für die Bauwirtschaft

Gute Perspektiven für die Anbieter moderner Wohnungen in München und Umgebung: Die Nachfrage ist deutlich größer als das Angebot. Daran dürfte sich in naher Zukunft nicht viel ändern. Die Finanzierung von Bauvorhaben ist schwieriger geworden; zusätzlich bremsen verschärfte Gesetze die Investoren. Foto: A. Heddergott

Wohnungswesen in München Wirtschaftsstandort München SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Werthaltiger Markt"

Die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk zur lokalen Situation

Trotz Finanzkrise steigen die Mieten in München für alle Objekttypen ungebremst an. Denn während die Nachfrage nach Wohnraum stabil geblieben ist, hält die Zahl der Fertigstellungen mit dem Bedarf nicht Schritt. Die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk skizziert die Perspektiven des Wohnungsmarktes an der Isar.

SZ: Um die Wohnraum-Nachfrage zu decken, müssten in München jährlich circa 7000 Wohnungen fertiggestellt werden. Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahren jeweils nur zwischen 4000 und 5000 Wohnungen gebaut. Wie kann die Stadt diese Lücke schließen?

Merk: Sie sieht ihren Beitrag für den Wohnungsmarkt im Rahmen des Stadtratsbeschlusses "Wohnen in München IV". Das darin formulierte Ziel, Baurecht für 3500 Wohneinheiten zu schaffen, wird im langjährigen Vergleich umgesetzt. Dazu kommen Realisierungen aus dem Bestandsbaurecht in teils erheblichem Umfang. Zudem räumt OB Christian Ude generell der Schaffung von Wohnungen sehr hohe Priorität ein, etwa in der Münchner Initiative für Mietwohnungen. "Wohnen in München IV" ist das größte kommunale Wohnbauförderprogramm, doch es kann weder den Rückgang privater Neubautätigkeit, noch die Skepsis der Investoren ausgleichen. Die gestiegenen Anforderungen der Banken an die Immobilienentwickler in puncto Eigenkapital und Qualität der Konzepte lassen sich ebenfalls nicht auffangen .

SZ: Woran knüpfen Sie die Hoffnung auf eine Rückkehr privater Investoren?

Merk: Sie werden in Zukunft den Wohnungsmarkt als nachhaltigen, stabilen und werthaltigen Markt wiederentdecken. Der geringe Leerstand und die stabile Preis- und Mietenentwicklung in München sprechen für sich. Der Beitrag der Stadt zur langfristigen Stabilisierung des Mietwohnungsmarkts wird in der qualitativen Weiterentwicklung von Wohnen in München - Stichworte sind hier beispielsweise die Energiepreisentwicklung und das Wohnen für Familien - sowie der Schaffung des notwendigen Baurechts liegen. Bauen müssen die Wohnungen die Bauträger, Wohnungsgesellschaften, Genossenschaften, Baugruppen und andere interessierte Investoren.

SZ: Wo kann München nach Vollendung der Projekte entlang der Achse Hauptbahnhof-Laim-Pasing in einem vergleichbar starken Ausmaß wachsen?

Merk: Insgesamt gibt es in München mittel- bis langfristig Flächenpotentiale für circa 60 000 Wohneinheiten. Sie verteilen sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher Standorte. Den größten Beitrag in den kommenden Jahren wird sicher die Entwicklung in Freiham-Nord leisten. Daneben gibt es die Bauprojekte, die außerhalb der Bebauungsplangebiete im Rahmen des Paragraphen 34 Baugesetzbuch, also im Bestand, realisiert werden. In welchem Umfang die Investorengruppen diese Optionen wahrnehmen, ist von der Entwicklung der Bankenkrise und der Konjunktur abhängig, weniger vom Akteur Landeshauptstadt München.

SZ: Welche Chancen sehen Sie, zusätzlichen Wohnraum durch Sanierung und Umbau zu schaffen?

Merk: Sanierung und Umbau schaffen nicht immer neuen Wohnraum. Sie tun dies immer nur dann, wenn etwa nach dem Abbruch in höherer Dichte wiederaufgebaut wird. Dies tun sowohl Bauträger als auch die kommunalen Wohnungsgesellschaften, die auf diesem Weg auch zu besser bewirtschaftbaren und energetisch moderneren Wohnungsbeständen kommen. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung arbeitet derzeit an einem Konzept, bei dem es insbesondere um Prinzipien der Nachverdichtung, wie etwa auch Aufstockungen - dort, wo sie verträglich sind. Dies ist die Grundlage für die Sicherung der Entwicklungsfähigkeit der Landeshauptstadt München bei gleichzeitigem Erhalt ihrer Qualitäten.

Interview: Christoph Neuschäffer

Elisabeth Merk Foto: privat

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Heftige Strategie-Debatte in der CDU

Regierungschefs Oettinger und Müller in Sorge um eigenständiges Profil der Union

Von Nico Fried und Dirk Graalmann

Berlin/Düsseldorf - Die CDU debattiert nach dem schwachen Abschneiden bei der hessischen Landtagswahl weiter über ihre politische Selbstdarstellung. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger äußerte die Erwartung, "dass die Union in der großen Koalition keinerlei Entscheidungen mehr trifft, die in der Stammwählerschaft von CDU und CSU zu Irritationen führen." Im Hamburger Abendblatt kündigte er an, Baden-Württemberg werde den jüngsten Beschlüssen zur Ausweitung von Mindestlöhnen im Bundesrat "mit Sicherheit nicht zustimmen".

Saarlands Regierungschef Peter Müller kritisierte, der Union sei es "nicht ausreichend gelungen", in der großen Koalition eigene Positionen deutlich zu machen. Zwar sagte Müller einerseits, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ihre Aufgabe als Parteivorsitzende der CDU "keinesfalls" vernachlässigt. Dennoch plädierte er für eine Aufgabenteilung, in der Merkel für das Regierungshandeln zuständig sei und die CDU-Ministerpräsidenten für die programmatische Profilierung der Partei. Während Oettinger und Müller sich zurückhaltend über die Möglichkeit weiterer Steuersenkungen nach der Bundestagswahl äußerten, forderte CSU-Chef Horst Seehofer weitere Entlastungen und entsprechende Festlegungen im Wahlprogramm.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) verteidigte seine Idee zur möglichen Staatsbeteiligung an Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. "Wer die Banken rettet, muss auch was für die Menschen tun", sagte der Landesvorsitzende beim Neujahrsempfang der NRW-CDU in Düsseldorf. Die Kritik an seiner Idee, die auch in der CDU heftig umstritten ist und von Gegnern als "Verstaatlichung" verhöhnt wird, bezeichnete Rüttgers "als den größten Unsinn, den ich je gehört habe. Und das von Leuten, die meinen, sie hätten Ahnung von Wirtschaft." Zugleich ermahnte Rüttgers, der in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit der FDP regiert, die Liberalen zur Mäßigung. Mancher in der FDP könne "nach der Hessen-Wahl vor Kraft kaum laufen". Die Liberalen sollten nicht vergessen, dass sie im Bundesrat "keine Gestaltungs-, sondern nur eine Verhinderungsmöglichkeit" besäßen. Etwas bewirken könnten sie nur mit der CDU.

Die Kanzlerin solle regieren, die Ministerpräsidenten der Union die Partei formen, schlägt Saarlands Regierungschef Peter Müller vor. Foto: ddp

Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU): Image SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Moderne Wunderkammer

Das Foire des Antiquaires in Brüssel heißt jetzt Brafa und kann zur Vernissage gute Verkäufe vermelden

Belgien versteht sich aufs Paradoxe: Die traditionsreichste Antiquitätenmesse des Landes geht verjüngt in ihr 54. Jahr und hat sich einen neuen Namen zugelegt: Aus der angesehenen "Foire des Antiquaires de Belgique" ist "Brafa" geworden, die "Brussels Antiques & Fine Art Fair", die es geschafft hat, von einer nationalen Veranstaltung zum international wahrgenommenen Ereignis zu mutieren. In den lichten Industriehallen des ehemaligen Verladebahnhofs der Thurn & Taxis bleibt sie mit 130 Ausstellern angenehm überschaubar. Und dass mehr als die Hälfte aus dem Ausland anreist - überwiegend aus Frankreich, aber auch aus Deutschland, Holland, Italien oder Portugal und den USA, aus Ungarn und Russland - bestätigt ihr Renommee.

Brüssels Erfolg ist die geglückte Melange der Spezialisten und eine ungebrochen Freude an Objekten, die Geschichten erzählen. Die Messe belohnt auch eklektische Sammler mit außergewöhnlichen Stücken. Beispielsweise einem Sarkophagfragment, das die Ägyptologin Eberwein (Göttingen) zu ihren Prunkstücken zählt, oder die rare Altmeistertafel einer "Bauernkirmes" von David Vinckboons, die, worauf die Pariser Händlerin Voldère verweist, in den Dresdner Gemäldesammlungen ihr Pendant hat.

Barometer für die ganze Saison

Bester flämischer Sammlertradition entspricht die Auswahl asiatischer Werke und das ebenso exzellente Spektrum afrikanischer Skulpturen. Belgische Spezialisten wie Claes haben eine früh gesammelten Luba-Maske aus Zaire mit 45 000 Euro ausgezeichnet, während der Galerist Axel Verwoordt mit seinen Interieurs zweifellos als Vorreiter der Stil- und Epochenmixturen gilt. Heute pflegen auffallend viele Händler der Messe ein erfrischendes Crossover, wie die moderne Wunderkammer der Londoner Firma Finch & Co., in der Jahrtausende alte neolithischen Flintsteinen und osmanischen Löffeln des 19. Jahrhunderts in einen Dialog treten, barockes Elfenbein und ein bärtigen Männerkopf, den die Kelten aus hartem Stein schlugen (28 000 Euro).

Brüssel bietet ausgezeichnete Qualität, bleibt aber für Sammler erschwinglicher als die Tefaf in Maastricht. Das bedeutet für die Abteilung Malerei allerdings, dass die Händler mit kleinen Formaten anreisen: Die Neuaussteller aus Budapest und Moskau huldigen der heimischen Avantgarde mit Blättern aus den späten Zwanzigern von Laszlo Moholy-Nagy und Natalia Gontscharowa für 90 000 und 60 000 Euro und die New Yorker Galerie Sophie Scheidecker hat eine hervorragende Portraitzeichnung von James Ensor auf Lager.

Die Brüsseler Messe gilt als ausgezeichnetes Marktbarometer für die künftige Saison: Wer die bestens frequentierte Eröffnung erlebte, konnte von der Krise nichts entdecken. Den Optimismus der Händler, die eine Rückkehr zu den stabilen Werten Alter Kunst prophezeien, rechtfertigen die Verkäufe der ersten Stunde: Beim Modern Design des Brüsselers Vincent Colet griff ein belgischer Sammler bei einem Schreibset von Willi Guhl zu, ein mehrteiliges Ensemble holländischer Möbel im Stil des französischen 18. Jahrhunderts verkaufte der Niederländer Mischo van Kollenburg an einen mexikanischen Sammler. Und die erwarteten 40 000 Besucher sollten auch noch ein paar Wünsche mitbringen.DOROTHEA BAUMER

Bis 1.Februar. Geöffnet täglich von 11 bis 19 Uhr, donnerstags bis 22.30 Uhr. Eintritt 20 Euro, Katalog 10 Euro.

Kunstmessen und Antiquitätenmessen in Europa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Landesbanken-Chaos

Der normale Bürger kommt bei diesem Zahlen-Stakkato schon längst nicht mehr mit: Im Oktober hatten die Manager der BayernLB noch Verluste von drei Milliarden Euro für 2008 ausgerechnet. Jetzt hat man noch einmal nachgezählt. Und siehe da, jetzt sind es schon fünf. Fünf Milliarden Euro, die die Landesbank im vergangenen Jahr an Miesen gemacht hat. Dass das Institut in nur drei Monaten weitere Milliarden verbrannt hat, zeigt nicht nur, in welch' rasantem Tempo es mit den Landesbanken in der Finanzkrise weiter bergab geht. Das eigentlich Beunruhigende an der Nachricht ist: Sie legt den Schluss nahe, dass es so weitergehen dürfte. Neue Quartale, neue Milliardenverluste. Aufkommen muss dafür der Staat mit seinen Milliardenhilfen - der Steuerzahler also.

Das Münchener Institut steht nicht allein, woanders ist es nicht viel besser. In Stuttgart brauchen die Landesbanker mindestens fünf Milliarden Euro; die Düsseldorfer WestLB will sich in ihrer Verzweiflung gleich aufspalten: Giftige Wertpapiere und riskante Geschäfte im Wert von bis zu 100 Milliarden Euro sollen in eine eigene Gesellschaft ausgelagert werden, um so die Bilanzen der Bank zu säubern. Je dramatischer die Krise, desto phantasievoller die Rezepte. Auch die BayernLB geht ihren eigenen Weg: Sie baut Tausende Arbeitsplätze ab und dampft ihr Auslandsgeschäft ein. Die ganz große Lösung aber scheuen zurzeit alle Akteure. Es wäre die radikalste und wohl auch die beste von allen: Statt sich allein gegen die milliardenschweren Folgen der Finanzkrise zu stemmen, sollten sich die verbliebenen Landesinstitute zusammenschließen. Deutschland braucht ohnehin keine sieben Landesbanken. thf

Bayerische Landesbank: Finanzen Landesbanken in Deutschland Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neuer Schuldenrekord

Bund benötigt möglicherweise mehr als 50 Milliarden Kredit

Berlin - Wegen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise steuert der Bund auf die größte Verschuldung aller Zeiten zu. "Wenn man alles zusammenrechnet, sind wir zwischen 50 und 60 Milliarden Euro", sagte der Chef des Haushaltsausschusses im Bundestag, Otto Fricke (FDP). Auch im Bundesfinanzministerium wurde nicht ausgeschlossen, dass in diesem Jahr die Marke von 50 Milliarden Euro überschritten wird. Bislang beläuft sich der Rekord bei der Neuverschuldung auf 40 Milliarden Euro. Dies war 1996 unter Finanzminister Theo Waigel (CSU) der Fall.

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) wird am Dienstag im Kabinett den Nachtragsetat für 2009 vorlegen. Die Neuverschuldung beläuft sich dabei auf 36,8 Milliarden Euro. Das ist etwa doppelt so viel, wie noch im Herbst 2008 vorgesehen war. Hinzu kommt der Investitions- und Tilgungsfonds für Konjunkturhilfen in Höhe von 21 Milliarden Euro. Auch dieser wird über Schulden finanziert. Die Mittel sind aber für zwei Jahre gedacht. Der Fonds ist Teil des Konjunkturpaketes II, das zum Beispiel Entlastungen bei Sozialabgaben und eine Abwrackprämie für das Verschrotten von Altautos vorsieht. Insgesamt hat der Etat ein Volumen von 297,5 Milliarden Euro. Die Steuereinnahmen sollen sich auf 233,2 Milliarden Euro belaufen. Das sind knapp elf Milliarden Euro weniger als bisher angenommen.

FDP-Haushaltsexperte Jürgen Koppelin warf Steinbrück vor, die Nettokreditaufnahme mit Hilfe des Tilgungsfonds künstlich kleinzurechnen. Das Finanzministerium wies dies zurück. Der Fonds habe einen konkreten Tilgungsplan, Ziel sei weiter ein ausgeglichener Etat. Der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Peter Keitel, sagte, die Schulden hätte eine Obergrenze erreicht. Mehr dürfe der Staat "zukünftigen Generationen nicht mehr zumuten".

Nach dem Grundgesetz soll die Neuverschuldung nicht höher ausfallen als die Ausgaben für Investitionen. Die Regierung kann aber höhere Schulden aufnehmen, wenn sie eine "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" abwehren muss. Dies ist nun der Fall: Die Investitionen belaufen sich auf 28,7 Milliarden Euro. Die Neuverschuldung ist höher. Deshalb muss Steinbrück am Dienstag eine "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" erklären, um die höheren Schulden rechtfertigen zu können. (Seite 4) Thomas Öchsner

Schulden der Öffentlichen Hand in Deutschland Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Kraft von Sonne und Wind

Mehr als 100 Staaten gründen Agentur für erneuerbare Energie

Der Name steht längst fest, er erinnert an ein Mädchen. Als Geburtshelfer wirken an diesem Montag in Bonn Delegierte aus mehr als hundert Staaten. Irena heißt das Kind, die Buchstaben stehen für "International Renewable Energy Agency". Auf dem Gründungskongress sollen die Statuten einer neuen logistischen Basis festgelegt werden, die ein ehrgeiziges Ziel hat: Die Agentur soll nach den Worten des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier den erneuerbaren Energiequellen global zum Durchbruch verhelfen.

Die Ausstattung ist angesichts der gewaltigen Aufgabe noch bescheiden: Etwa 25 Millionen Dollar sind es in der Startphase, ungefähr 100 Fachleute sollen zu Beginn die Wissensbasis dafür schaffen, dass der Übergang von einer auf Öl, Gas und Kohle basierenden Energiewirtschaft zu einer klimaverträglichen, langfristig gesicherten Versorgung beschleunigt wird. Es ist eine gewaltige Aufgabe, auch angesichts der unterschiedlichen Strukturen in Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländern. Wenn die Statuten einmal ratifiziert sind, wenn das nach dem UN-Beitragsschlüssel aufgebaute Budget mitsamt einem Arbeitsprogramm steht, dann soll die Agentur nach und nach Wirkung entfalten - mit politischer Beratung, dem Aufbau eines internationalen Netzwerks sowie der Förderung von Forschung und Technologietransfer.

Je nach Blickwinkel entsteht so eine Ergänzung oder gar ein Gegengewicht zur Internationalen Energieagentur (IEA) und zur Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA), die beide in einer Zeit gegründet wurden, als das Ende der fossilen Energiequellen noch weiter entfernt und der Klimawandel kaum ein Thema war. Deutschland richtet nicht nur den Gründungkongress aus, es war auch maßgeblich an der langen Vorbereitungsphase beteiligt. Der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer (SPD), der auch Präsident der Organisation "Eurosolar" ist, hatte sich schon Anfang der neunziger Jahre für das Projekt eingesetzt. Als 2004 die erste Konferenz der Vereinten Nationen zur Förderung erneuerbarer Energie in Bonn stattfand, nahm Irena Gestalt an. Die stärkste Unterstützung kam in der Folge von den Regierungen in Dänemark und Spanien.

Wind, Sonne, Erdwärme und Biomasse haben in Deutschland einen Anteil von ungefähr neun Prozent am gesamten Endenergieverbrauch, zur Stromerzeugung tragen sie etwa 15 Prozent bei. In der weltweiten Statistik liegt der Anteil an der Endenergie bei 18 Prozent, aber dieser Wert ist trügerisch. Er wird ganz überwiegend mit Hilfe großer Wasserkraftwerke und der traditionellen Nutzung von Brennholz erreicht. Wo aber nicht wieder aufgeforstet wird, wo schlimmstenfalls sogar Wüstenbildung gefördert wird, handelt es sich nur theoretisch um eine erneuerbare Energieressource.

Es wird Aufgabe der Irena sein, eine den jeweiligen Verhältnissen angepasste Alternative zu entwickeln. Sie ist für die Bewohner in vielen Gegenden der Erde lebenswichtig, weil es für die Stromkonzerne nie rentabel sein wird, abgelegene Regionen an das Leitungsnetz anzuschließen. Die dezentrale Nutzung von Wind und Sonne ist dort die einzige Lösung.

Wenn die Irena so gedeiht, wie es sich die Gastgeber vorstellen, könnte 2010 die erste Sitzung der Versammlung stattfinden, die als oberstes Organ der Agentur fungiert. Bekäme das Sekretariat seine Heimat in Deutschland, wäre das keine Überraschung. Wolfgang Roth

Irena: Gründung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Städtetag beklagt sich über die Länder

München - Im Streit um die Verwendung der Mittel aus dem Konjunkturpaket hat sich der Deutsche Städtetag scharf gegen Versuche der Länder ausgesprochen, einen großen Teil des Geldes für sich zu behalten. "Das ist verwerflich und gegen alle Absprachen", sagte Hauptgeschäftsführer Stephan Articus der Süddeutschen Zeitung: "Der Föderalismus zeigt sich hier von seiner schlechtesten Seite." Vorstellungen, bis zu 50 Prozent des Geldes in die Länderkassen fließen zu lassen, seien abwegig. "Dann verliert das ganze Konjunkturpaket seinen Sinn."

Das Anfang des Jahres vereinbarte Paket in Höhe von 13,3 Milliarden Euro sieht eigentlich vor, dass gut zehn Milliarden direkt an die Kommunen für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur fließen. Für die Verteilung des Geldes sind die Länder zuständig. Articus zufolge liegt der "Löwenanteil öffentlicher Investitionen mit bis zu 70 Prozent ohnehin bei den Kommunen", auch sei aus Geldmangel der Stau an öffentlichen Aufträgen in den Städten besonders hoch. Deshalb müsse das Konjunkturpaket hier ansetzen, um Wirkung zu entfalten.

Der Städtetag kündigte Konsequenzen aus dem Verteilungsstreit mit den Ländern an und verlangt eine Verfassungsänderung. Auf der Hauptversammlung im Mai wolle sich die Vertretung der großen Städte dafür einsetzen, "die Kommunen aus der Bevormundung durch die Länder zu befreien". Nötig seien durch eine Neufassung des Artikels 84 wieder direkte Durchgriffsrechte vom Bund zu den Kommunen ohne Einschaltung der Länder. Dies war im Zuge der Föderalismusreform abgeschafft worden. Zudem müssten die Kommunen während des Gesetzgebungsvorgangs grundsätzlich zu den finanziellen Folgen von Vorhaben konsultiert werden, die sie nachher bezahlen müssten. Eine Änderung des Artikels 28 zur kommunalen Selbstverwaltung sollte ein verbindliches Anhörungsrecht festschreiben, fordert Articus.

Am Dienstag legt der Städtetag den Gemeindefinanzbericht 2008 vor, der keine erfreuliche Entwicklung darstellt. Zwar sind im vorigen Jahr die Einnahmen vor allem aus der Gewerbesteuer trotz Finanzkrise nochmals gestiegen, was vor allem an den in der Wirtschaft üblichen Vorauszahlungen liegt. 2009 erwartet der Verband stark spürbare Rückgänge bei den Einnahmen und einen dramatischen Anstieg der Sozialausgaben. Der Bericht zeigt, dass die Schere zwischen armen und reichen Kommunen immer weiter aufgeht. Articus befürchtet: "Noch ist die Armut in den schwachen Städten verborgen, aber das wird nicht so bleiben." (Seite 4) Joachim Käppner

Deutscher Städtetag Finanzen deutscher Städte und Gemeinden SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Desaster bei den Landesbanken

BayernLB rutscht noch tiefer

Institut meldet fünf Milliarden Euro Verlust. Gerüchte über neue Finanznot der Stuttgarter LBBW

Von Thomas Fromm und Klaus Ott

München - Die Lage der BayernLB wird von Woche zu Woche kritischer: Das Institut rechnet für 2008 mit einem Verlust von fünf Milliarden Euro. Im Oktober war noch von einem Minus von drei Milliarden Euro die Rede gewesen. Die WestLB will nun die Reißleine ziehen - und Milliardenrisiken auslagern.

Die BayernLB gehört zu den Banken in Deutschland, die von der Finanzkrise am stärksten betroffen sind. So steht die Landesbank heute schlechter da als die Deutsche Bank, die für das abgelaufene Jahr ein Minus von 3,9 Milliarden Euro gemeldet hatte. Als Grund für den dramatischen Einbruch im vierten Quartal gab die Bank weitere hohe Abschreibungen auf faule Wertpapiere an. Die Bank sitzt zurzeit auf wackeligen Anlagen in Höhe von insgesamt 22 Milliarden Euro. Ein Portfolio, das nach Angaben von BayernLB-Chef Michael Kemmer allein zwischen Oktober und November 2008 mit 1,7 Milliarden Euro auf die Bilanzen schlug.

Belastet wird die Landesbank in München zusätzlich durch ihr Engagement in Island, wo sie Kredite von 1,5 Milliarden Euro ausgegeben hat. In der Bank ist in Bezug auf das Geschäft in Island von einer "dramatischen Entwicklung" die Rede. Für dieses Engagement wurde schon vor Monaten im Aufsichtsgremium der BayernLB, dem Verwaltungsrat, auch der stellvertretende Vorstandschef Rudolf Hanisch verantwortlich gemacht. Am Freitag gab die Landesbank bekannt, dass der 62-Jährige Anfang Mai in Ruhestand gehen werde. Das hatte sich schon vor Monaten abgezeichnet. Sein Vertrag wäre offenbar noch bis Mitte 2010 gelaufen. Hanisch war früher Amtschef der Staatskanzlei in Bayern und einer der engsten Vertrauten des damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber.

Um seine Landesbank zu retten, muss der Freistaat Bayern zehn Milliarden Euro frisches Kapital in die Bank einbringen. Damit sind die im vergangenen Jahr angefallenen Verluste in Höhe von voraussichtlich fünf Milliarden Euro nach Angaben der Bank bereits abgedeckt. Das gelte auch für andere zusätzliche Belastungen, beispielsweise durch die Tochterbank Hypo Alpe Adria in Österreich, die auch auf dem Balkan stark präsent ist. Die BayernLB musste bei der Hypo Alpe Adria kürzlich mit 700 Millionen Euro einspringen.

Über die vom Freistaat Bayern zur Verfügung gestellten zehn Milliarden Euro hinaus seien auf absehbare Zeit keine weiteren Kapitalhilfen für die BayernLB nötig, sagte ein Banksprecher. Die Landesbank in München kann außerdem auf eine Garantieerklärung des Bundes in Höhe von 15 Milliarden Euro zurückgreifen, mit der sie beispielsweise die Ausgabe von Anleihen absichern kann. Zusätzlich existieren Bürgschaften des Landes Bayern für mögliche Wertpapierverluste in Höhe von fünf Milliarden Euro.

Spekuliert wird dagegen über die finanzielle Situation der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). So hatte es zunächst geheißen, LBBW-Chef Siegfried Jaschinski habe bankintern den Kapitalbedarf des Hauses von fünf auf acht Milliarden Euro nach oben korrigiert - eine Meldung, die der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) schließlich dementierte. In Finanzkreisen heißt es dagegen, man stelle sich intern bereits auf einen Kapitalbedarf im "zweistelligen Milliardenbereich" ein. Ein Sprecher des Instituts erklärte dazu, man habe "keine Hinweise darauf, dass die fünf Milliarden Euro nicht ausreichen". Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger hat in dieser Woche einen neuen Vorstoß für eine Fusion der LBBW mit der BayernLB unternommen. "Wir sind in konkreten Gesprächen", sagte Oettinger.

Radikal-Lösung in NRW

Die bislang ablehnende Haltung von Bayerns Regierungschef Horst Seehofer (CSU) kommentierte Oettinger mit den Worten: "Ich glaube, dass Seehofer weiß, dass die BayernLB allein auf Dauer nicht ideal aufgestellt ist." In Bayern stießen die Äußerungen von Oettinger auf Zurückhaltung. Seehofers Regierung will die BayernLB gesundschrumpfen und später verkaufen, um so einen möglichst großen Teil der für die Rettung der Staatsbank ausgegebenen zehn Milliarden Euro wieder einzunehmen.

Während BayernLB und LBBW noch ihre Verluste zählen, plant die WestLB einen radikalen Neuanfang ohne riskante Wertpapiere. Die Düsseldorfer Landesbank will kritische Vermögenswerte und Kredite im Wert von bis zu 100 Milliarden Euro in eine Zweckgesellschaft auslagern, um sich so auf eine mögliche Fusion im Landesbankensektor vorzubereiten. Diskutiert wird seit langem ein Zusammengehen der WestLB mit der Deka-Bank und Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba). Ein Sprecher des Instituts bestätigte am Freitag Gespräche des Vorstands mit den Eigentümern der Bank. "Einzelheiten möglicher Strukturen" befänden sich "in der Abstimmung". Die deutschen Sparkassen wollen als Miteigentümer der Landesbanken deren Zahl durch Fusionen auf zwei oder drei reduzieren. (Seite 28, Bayern)

Auslöser

Die Landesbanken, die in der Regel den jeweiligen Bundesländern und den Sparkassen gehören, sind von der Finanzkrise stärker betroffen als viele Privatinstitute. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Landesbanken bis Mitte des Jahrzehnts in Geld schwammen. Bevor die Haftung der Bundesländer für deren Banken auslief, weil die EU das so wollte, hatten sich die öffentlichen Kreditinstitute am Kapitalmarkt viele Milliarden Euro auf Vorrat besorgt - dank der Staatshaftung zu günstigen Konditionen. Mehrere Landesbanken wussten nicht, wohin mit dem vielen Geld, und steckten es hauptsächlich in jene Finanzanlagen im US-Immobilienmarkt, die nun drastisch an Wert verlieren. o.k.

Bayerische Landesbank: Krise Landesbank Baden-Württemberg: Krise Landesbanken in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Diskussions-Bahnhof

Nach 20 Jahren Planung, Verzögerungen und Protesten soll die unterirische Station "Stuttgart 21" jetzt gebaut werden

Das, was in der Realität viele Jahre brauchen wird, dauert hier nicht einmal fünf Minuten. Gräben tun sich auf, Schienen wandern, Bäume verschwinden - und plötzlich ist alles untertunnelt. Das geht schön geräuschlos auf Computeranimationen und Modellen im Turm des Stuttgarter Bahnhofes, wo auf vier Ebenen gezeigt wird, wie das alles einmal aussehen soll: Stuttgart 21, der unterirdische Bahnhof und die Schnellbahnstrecke nach Ulm. Und es sieht gut aus auf den Modellen, die Stadt verwandelt sich in wenigen Minuten, es macht ein paar Mal "pft, pft", die Ebenen des Modells verschieben sich durch Pressluft. Ansonsten macht die Verwandlung keinen Lärm und keinen Dreck und es ist auch niemand da, der gegen das Milliardenprojekt Einspruch erheben würde. Es ist nämlich gar niemand da im Turm des Stuttgarter Bahnhofes an diesem Nachmittag, der sich anschauen will, wie dramatisch die Stadt sich in den nächsten Jahren verändern wird. Die Stadt wird danach nicht mehr dieselbe seien. Das ist der Plan.

Die Stuttgarter strömen wahrscheinlich auch deshalb nicht in die Ausstellung im Bahnhofsturm, weil in der Stadt eine gewisse Stuttgart-21-Müdigkeit herrscht. Es wird schließlich schon so lange darüber geredet und diskutiert, zwei Jahrzehnte, dass kaum noch jemand glaubte, dass es tatsächlich einmal passieren wird. Das wird es aber, in diesen Tagen wollen die Bundesregierung, die Bahn, das Land Baden-Württemberg und die betroffenen Städte die Verträge über das Projekt unterschreiben, das mindestens 5,1 Milliarden Euro kosten soll. Vor 20 Jahren, als die ersten Pläne gemacht wurden, dachten manche noch, es werde die ganze Sache vielleicht umsonst geben. Es war eine revolutionäre Idee und eine recht einfache dazu: Die Bahnhöfe in besten Innenstadtlagen werden unter die Erde verlegt, die überirdischen Gleise werden entsorgt und die frei werdenen Flächen an Investoren verkauft, was wiederum den unterirdischen Bahnhofsbau finanziert. Und alle sind glücklich. Viele Städte zeigten sich interessiert, es gab Überlegungen zu München 21, Frankfurt 21 und eben die Pläne in Stuttgart, die als einzige übrig blieben, weil es den anderen zu teuer war. Zwei Jahrzehnte debattierte man in Stuttgart und rechnete und machte Probebohrungen. Mehrere hundert Millionen Euro wurden bereits ausgegeben, die dann schließlich auch zu einem Argument für den Bahnhof wurden, da sie sonst verloren seien.

Im Jahr 2010 soll es nun wirklich losgehen. Es wird eine logistische Großtat werden. Der Stuttgarter Bahnhof soll bei laufendem Betrieb unter die Erde gelegt werden, 33 Kilometer Tunnel müssen allein im Stadtgebiet gegraben werden. Der neue Bahnhof liegt quer zur derzeitigen Fahrtrichtung. Aus dem Sackbahnhof wird eine Durchgangsstation mit nur noch acht anstatt 16 Gleisen. Die Züge werden von etwa 2018 an nicht mehr durch das Neckartal in Richtung Ulm fahren, sondern über den Stuttgarter Flughafen und ab Wendlingen über eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke, die entlang der Autobahn A 8 verlaufen wird. Die Fahrtzeit von Stuttgart nach Ulm wird sich im ICE von 54 Minuten auf 28 fast halbieren. Dazu müssen 28 Brücken und 24 Tunnel gebaut werden. Letztere mit 60 Kilometer Länge. Bisher mussten die ICE-Züge mit 80 km/h die Schwäbische Alb hinaufschleichen - untragbar für ein Land wie Baden-Württemberg, fand nicht nur Ministerpräsident Günther Oettinger, der das Projekt Stuttgart 21 nach langen Stillstand wieder vorantrieb.

In Stuttgart selbst herrscht seitdem die Sorge, dass die gutbürgerliche Ruhe in der Stadt erheblich gestört werden könnte, dass der Mercedes beim Einkaufsbummel stark verschmutzen könnte. Insgesamt 2400 Lastwagenfahrten soll es zu Spitzenzeiten auf der Baustelle geben, die Bahn will sie aber zu einem großen Teil innerhalb der Baustelle abwickeln. Schutt und Baumaterial sollen mit Zügen gebracht und abgeholt werden. Auch die Zugreisenden werden die Umbauten sehr bald nach Baubeginn spüren. Denn die Gleise des bisherigen Hauptbahnhofs werden 2011 um etwa 120 Meter nach hinten verlegt; zwischen der alten Bahnhofshalle und den Gleisen wird die Grube für die neue Strecke ausgehoben, die Bahngäste werden von Brücken aus in die Tiefe schauen können.

Die Gegner des Bahnhofes, von denen es nicht wenige gibt, halten das ganze Projekt für größenwahnsinnig und sind empört, dass für Stuttgart 21 der bisherige Bahnhof teilweise abgerissen wird. Damit werde ein Baudenkmal zerstört, protestierten auch renommierte Architekten. Die Frage aber ist, ob diese Architekten den bisherigen Stuttgarter Bahnhof auch tatsächlich einmal selbst gesehen haben; auch vielen Reisenden war bisher nicht bewusst, dass es sich um eine einzigartige Schönheit handelt. Innen ist er matschbraun angestrichen, alles ist schon in die Jahre gekommen, der Boden teilweise aus Teer und recht brüchig. Über den Gleisen hängen seltsame Glaskonstruktionen, die wohl vor Kälte schützen sollten, was aber nie gelingt - Stuttgart ist wohl Deutschlands kältester Großstadtbahnhof. Von dem bisherigen Bahnhof, dem von 1914 an errichteten Bonatzbau, werden nur die Seitenflügel abgerissen, die bisher keine öffentliche Nutzung haben. In Stuttgart selbst wird ihnen kaum einer nachweinen. Die große Schalterhalle wird auch künftig ein Eingang der unterirdischen Station sein. Und zumindest nicht hässlicher als bisher. Dort wo heutzutage die Züge hinausfahren, sollen Restaurants entstehen.

Der Entwurf für den ersten unterirdischen Bahnhof Deutschlands stammt vom Büro Ingenhoven, Overdiek und Partner. 1997 gewannen die Düsseldorfer den Wettbewerb - und warten seitdem darauf, dass es losgeht. Sie haben einen Bahnhof entworfen, der unter der Erde liegt und dennoch Licht von oben bekommt. Die Ebene, in der künftig die Züge halten, hat der Statiker Frei Otto mit futuristischen Hängekonstruktionen gestaltet, die in oberirdische Lichtaugen übergehen. Man sieht raus und kann reinschauen. So war der Plan. Sicher ist aber auch der nicht. Die Stadt Stuttgart setzte vor einigen Monaten eine Arbeitsgruppe ein, um nochmals über den Siegerentwurf nachzudenken. Und Bahnchef Hartmut Mehdorn sagte in Stuttgart vor einigen Monaten, er könne auch nicht sagen, wie Stuttgart 21 endgültig aussehen würde. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich in Wahrheit nicht um einen Durchgangsbahnhof, sondern um einen Diskussionsbahnhof handelt. Es ist wenig übriggeblieben von dem Schwung der Idee, von der Begeisterung erster Entwürfe. Dabei ist es für Stuttgart eine große Sache.

Stuttgart liegt in einem Kessel und könnte ohne Stuttgart 21 nicht mehr wachsen. In der Innenstadt wurde nach dem Krieg nochmal mehr an alter Bausubstanz zerstört, als durch die Bomben kaputtging. Straßen waren damals wichtiger als Orte, an denen man sich gerne aufhält. Durch die Verlegung der Gleise unter die Erde wird eine Freifläche von 100 Hektar entstehen, eine neue Innenstadt. Auf der Fläche sollen Büros und Läden entstehen für etwa 22 000 Menschen und Wohnungen für 12 000 - das alles mit Blick auf den Stadtpark, der noch einmal um 20 Hektar größer wird. Es soll ein lebendiger Stadtteil werden ohne riesige Straßen, die die übrige Innenstadt Stuttgarts zerschneiden. Vor einigen Wochen gab es den ersten Spatenstich, für die Bibliothek 21 des koreanischen Architekten Eun Young Yi.

Bevor die Bauarbeiten an Stuttgart 21 aber richtig beginnen, wollen Stadt und Bahn nochmal laut für das Projekt und um die Gunst der Bürger werben. Dafür soll in der Innenstadt ein Pavillon aufgestellt werden, der nicht so versteckt ist wie die Ausstellung im Bahnhofsturm. Und prompt gibt es wieder Streit um den Standort. Bernd Dörries

Schöne neue Welt: Bis zum Jahr 2018 soll das Mammutprojekt Stuttgart 21 fertig sein (oben). Dann werden die Züge mitten in Stuttgart unter der Erde halten; darüber sollen Wohnungen für 12 000 Menschen entstehen, dazu Büros und Geschäfte (links). Gläserne Kuppeln und Durchbrüche in der Betondecke des neuen Bahnhofes sollen für angenehmes Tageslicht sorgen (unten). Abbildungen: DB Projektbau

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Mit Rüttelstreifen gegen das Einschlafen

Gefräste Streifen am Rand von Autobahnen können die Zahl übermüdungsbedingter Verkehrsunfälle deutlich reduzieren - das zeigt ein Pilotprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). In dem dreijährigen Feldversuch an der A 24 in Brandenburg sank die Zahl der Unfälle, in deren Verlauf ein Fahrzeug nach rechts von der Fahrbahn abkam, um 43 Prozent; die Zahl der Unfälle mit Getöteten und Schwerverletzten sank um 15 Prozent.

Die Rüttelsteifen sind 13 Millimeter tief rechts der Fahrbahnrandmarkierung in den Asphalt eingefräst. Werden sie überfahren, spürt und hört der Autofahrer, dass er von der Spur abkommt - das gilt auch für Brummi-Fahrer, die wegen Übermüdung am Steuer als besonders gefährdet gelten. So ist innerhalb der Testreihe allein bei den Lkw-Unfällen ein Rückgang um 40 Prozent zu verzeichnen.

Ebenfalls positiv ist die Kosten-Nutzen-Bilanz. Der 35 Kilometer lange Teststreifen kostete zirka 170 000 Euro; durch die geringere Zahl verletzter Personen auf diesem Autobahnabschnitt reduzierte sich der volkswirtschaftliche Schaden aber um 690 000 Euro pro Jahr. mz

Verkehrsunfälle in Deutschland Straßenbau in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mit Volldampf vor Anker

Wegen weltweit sinkender Frachtaufträge müssen immer mehr Containerschiffe stillgelegt werden / Auch die Charterraten gehen dramatisch zurück

Die weltweite Wirtschaftskrise schlägt nun auch in der Handelsschifffahrt Wellen. Immer mehr Seeschiffe werden stillgelegt, der Verkehr in den Seehäfen lässt spürbar nach. So kletterte zum Beispiel in Hamburg die Zahl der arbeitslos im Hafen liegenden Schiffe - Auflieger genannt - seit Oktober rasant: Mehr als 20 Containerfrachter sind es derzeit nach Angaben des zuständigen Oberhafenamtes, davon 15 "für längere Zeit". Überwiegend handelt es sich bei diesen Frachtern um sogenannte Feederschiffe, die in den Großhäfen Container von den Überseeschiffen übernehmen und dann durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Osteuropa oder Skandinavien bringen. "In Folge der Krise hat das Ladungsvolumen zum Jahresende rapide abgenommen", klagt Jann Petersen von der Schiffsmaklerei United Canal Agency. Das trifft auch die gebührenpflichtigen Kanäle. So sank im Nord-Ostsee-Kanal die Zahl der Passagen im Januar auf 40 bis 60 Schiffe pro Tag; noch im Herbst waren es täglich mehr als 100 Schiffe. Ähnlich ist die Situation im Suez- und Panamakanal.

Dem Einbruch bei den Warenströmen folgt konsequenterweise der Verfall der Fracht- und Charterraten. Wurden vor einem Jahr für ein Containerschiff mit 1600 Containerstellplätzen (TEU) noch 15 000 Dollar Tagescharter bezahlt, so sind es heute gerade mal 6000 Dollar. Verschärft wird die Situation zusätzlich durch die vielen Neubauten, die bereits vor zwei und drei Jahren bestellt worden waren. Nach einer aktuellen Übersicht des britischen Branchendienstes AXS

Alphaliner haben allein die 20 größten Containerlinien noch 645 neue Schiffe im Zulauf. Die beiden Branchenführer Maersk Line und Mediterranean Shipping Company (MSC) haben zusammen 123 Schiffe mit einer Gesamtkapazität von mehr als einer Million TEU geordert. Weltweit sind derzeit 6058 Containerschiffe unterwegs, die zusammen Platz für mehr als 13 Millionen TEU haben. Und mehr als 200 Containerschiffe liegen inzwischen weltweit auf.

Die für die Seeschifffahrt dramatische Entwicklung war vor kurzem Anlass für den in Hamburg ansässigen Germanischen Lloyd (GL), in seiner Funktion als Schiffs-TÜV einen Leitfaden für Reeder herauszugeben. Der GL gibt darin Tipps für die richtige Wartung der aufliegenden Schiffe; so soll verhindert werden, dass die Technik an Bord während der oft wochen- und monatelangen Wartezeit Schaden nimmt. Und die sinkenden Frachtraten führen noch zu einem weiteren Problem: Mittlerweile fahren sogar nagelneue Containerschiffe nach dem Stapellauf direkt von der Werft in die Arbeitslosigkeit. Statt dringend notwendiger Chartererlöse fallen dann neben den Finanzierungs- und Betriebskosten täglich Liegeplatzgebühren von rund 140 Euro an.

Diese Situation weckt bei vielen älteren Seeleuten Erinnerungen an das Jahr 1975. Damals starteten Großtanker wie die Wilhelmine Essberger von der Werft HDW zur Jungfernfahrt. Diese führte das Schiff aber nicht zu den arabischen Ölterminals, sondern auf direktem Kurs in die beschauliche Geltinger Bucht am Eingang zur Flensburger Förde. "Unsere Lotsen haben die Tanker dorthin gebracht; dann lagen die Schiffe dort jahrelang untätig vor Anker", erinnert sich der ehemalige Lotse Klaus Firnhaber von der Brüderschaft NOK II aus Kiel. Die Geltinger Bucht steht jedoch im Jahr 2009 für Containerschiffe nicht mehr als Ankerplatz zur Verfügung - die Bucht ist heute Gebiet der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, was die Verankerung großer Schiffe verbietet. Frank Behling

Warten auf Arbeit: Weil Aufträge fehlen, liegen viele Containerschiffe oft für Wochen fest. Allein im Hamburger Hafen sind es mehr als 20 Schiffe. Foto: fbe

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Ein Macho und ein Softie

Amerika schickt seine Spitzendiplomaten an die Front und signalisiert damit eine neue Außenpolitik

Von Christian Wernicke

Es sind zwei altbekannte Gesichter, die das erste Zeichen setzen für Amerikas neuen Kurs. Zwei Herren im Rentenalter, ergraut im Dienst am Vaterland, weltweit respektiert für den Frieden, den sie in ihren langen Karrieren bereits gesät haben. George Mitchell und Richard Holbrooke gelten als Amerikas erfolgreichste Diplomaten seit dem Ende des Kalten Krieges. Wo sie sind, dort liegen Washingtons Prioritäten. Wann immer die Weltmacht nach einer Feuerpause oder einem Frieden auf Erden sucht - eine bessere Waffe als einen der beiden Herren kann sie nicht an die Front schicken.

Beide aber, Mitchell wie Holbrooke, riskieren nun, ihren Nimbus als Friedensstifter zu ruinieren. Denn keinem dürfte ein ähnlicher Erfolg vergönnt sein wie in den neunziger Jahren. Mit Engelsgeduld vermittelte Mitchell 1998 jenes Karfreitags-Abkommen, das den ehernen Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland mit trickreichen Formeln und Fußnoten besiegelte. Und auf ganz andere Art war es zuvor Holbrooke gelungen, 1995 den Dayton-Frieden für Bosnien-Herzegowina auszuhandeln: Dieser Macho pflegt stets einen Stil, den Freund wie Feind als Fortsetzung des Krieges mit diplomatischen Mitteln erleben. Beide Male vermochten Amerikas Emissäre die Gewalt zu stoppen, weil die Konfliktparteien müde, erschöpft, ja ausgeblutet am Verhandlungstisch erschienen. Und weil ihr Dienstherr, der damalige US-Präsident Bill Clinton, den Frieden im Namen von Amerika zu seiner persönlichen Sache gemacht hatte.

Immerhin, solch persönlichen Einsatz hat jetzt auch Barack Obama versprochen. Das ist, im Vergleich zur Politik seines Vorgängers, ein großer Fortschritt. Sieben Jahre hatte George W. Bush gebraucht um zu begreifen, dass der Nahost-Konflikt sich ohne US-Engagement nicht lösen lässt, dass Palästinenser und Israelis allein niemals einen Pfad zum Frieden finden werden (und dass europäische Wegweisung niemanden in Jerusalem schert). Zugleich stand der Kampf gegen Taliban und al-Qaida, den Amerika und Nato seit nun über sieben Jahren an Hindukusch und Khyber-Pass führen, viel zu lange im Schatten von Bushs Marsch in die irakische Wüste. Obama denkt um, er riskiert sein persönliches Prestige in Nahost - und lenkt Amerikas Power (die zivile, wie die militärische) um nach Afghanistan und Pakistan.

Stil und Charakter der beiden Diplomaten, die Obama und seine Außenministerin Hillary Clinton nun auf die Welt loslassen, deuten an, in welche Richtung Amerikas Außenpolitik sich bewegt. Dem Softie George Mitchell dürfte es zwar kaum gelingen, als "Sondergesandter für den Nahost-Frieden" auch wirklich Versöhnung zu schaffen. Aber er verkörpert, nach Jahren radikal einseitiger Parteinahme Washingtons Versuch, wieder mehr Vermittler sein zu wollen. Derweil signalisiert Holbrooke, dass Obama in den Schluchten des Hindukusch jene Härte demonstrieren will, die er - auch als Kompensation für den Rückzug aus Bagdad - innenpolitisch wie international für nötig hält. In Afghanistan träumt Amerika nicht von irgendeinem Frieden - es will den Sieg. In Kabul, in Islamabad und ebenso in Brüssel, bei den Verhandlungen um die Verteilung der Kriegslasten mit den oft zaudernden Nato-Alliierten, wird die Stimme Amerikas grollender, rauer, fordernder klingen.

Mitchell und Holbrooke fangen erst an. Wie ihre Missionen enden werden, wissen sie selbst nicht. Anders als einst in Nordirland oder Bosnien lautet ihr Auftrag nicht, schlicht die letzten Details eines sich längst abzeichnenden Friedens auszutüfteln. Nein, diesmal müssen sie helfen, für die Weltmacht überhaupt erst eine Politik, eine Strategie zu entwerfen, die mit viel Mühsal und Glück vielleicht zu Durchbrüchen wie einst in Belfast oder Dayton führt. Ob in Jerusalem oder Ramallah, in Kabul oder Karachi - die Welt muss dem Sofie wie dem Macho den Erfolg wünschen.

Holbrooke, Richard Mitchell, George J. Außenpolitik der USA: Grundsätzliches Regierung Obama 2009 Beziehungen der USA zum Nahen Osten Beziehungen der USA zu Afghanistan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Gefangenenlager spaltet die Koalition

Union und SPD streiten über Aufnahme von Guantanamo-Häftlingen

Berlin/Brüssel - Nach der von US-Präsident Barack Obama angeordneten Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo streiten deutsche Politiker über die Aufnahme entlassener Häftlinge. Bislang liegt zwar noch keine Bitte der USA um Mithilfe vor, doch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte dem Berliner Tagesspiegel am Sonntag, es gebe Signale, dass Obama "wegen der Aufnahme einiger Weniger auch auf die Europäer zukommen" werde. Es wäre nach seinen Worten nicht zu verantworten, die Auflösung des Gefangenenlagers daran scheitern zu lassen. Deutschland gehöre zu den Ländern, "die am lautesten die Schließung" gefordert hätten.

CSU-Generalsekretär Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg warf Steinmeier in der Passauer Neuen Presse vor, sich bei Obama anzubiedern. "Hier zu schreien, wenn einen keiner gerufen hat und dann noch ohne Absprache mit den Innenministern, ist keine seriöse Politik." Nach Ansicht des CSU-Politikers wäre es "das deutlichste Zeichen an die Welt, wenn die USA ihre eigenen Fehler selbst wieder gutmachen und nicht die Europäer". Auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) lehnt eine Aufnahme von Insassen des Lagers ab. Die Grünen warfen Bundeskanzlerin Angela Merkel dagegen Untätigkeit vor. Merkel ergreife in der Auseinandersetzung zwischen Steinmeier und Schäuble nicht das Wort, sagte Fraktionschefin Renate Künast der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Das ist beschämend."

Vor dem Treffen der EU-Au enminister am Montag in Brüssel machte unterdessen Frankreich Druck, dass sich Europa auf eine Entscheidung vorbereitet. Dem Spiegel zufolge legte das französische Außenministerium den EU-Partnern ein detailliertes Konzept für ein Verfahren vor. Dabei gehe es um etwa 60 Personen, die von den US-Militärs als unschuldig eingestuft würden, aber nicht in ihre Heimat zurückkehren könnten, weil ihnen dort weitere Verfolgung oder Folter drohten.

Dem französischen Plan zufolge solle jeder Staat selbst entscheiden, ob er Ex-Häftlinge aufnehme und welche. Eine "Clearingstelle" solle sie auf terroristische und kriminelle Flecken untersuchen. Die EU solle zudem Geld bereitstellen zur Unterstützung der teilweise traumatisierten Neuankömmlinge. Zudem könne versucht werden, auch Nicht-EU-Länder wie Norwegen oder die Schweiz für das Vorhaben zu gewinnen. Die Schweiz hat bereits angekündigt zu prüfen, ob sie Guantanamo-Häftlinge aufnehmen könne.

Die Außenminister der 27 EU-Staaten werden an diesem Montag jedoch keine Entscheidungen treffen, sagten EU-Diplomaten. Einhellig wollten sie die von Obama angekündigte Schließung begrüßen. In der Guantanamo-Frage befinde sich die EU "ganz am Anfang des Bemühens um eine abgestimmte Haltung", sagte ein EU-Diplomat. Es gebe in Guantanamo Häftlinge, von denen offenbar wenig Gefahr ausgehe - und andere "mit höherem Gefährdungspotenzial". EU-Diplomaten sagten, da die EU die Schließung Guantanamos lange gefordert habe, sähen viele EU-Regierungen das Problem als erste Gelegenheit, "guten Willen" gegenüber der neuen US-Regierung zu zeigen. Reuters/ddp/dpa

60 Inhaftierte werden als unschuldig eingestuft, können aber nicht in ihre Heimat zurück

Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo Regierung Merkel: Konflikte der großen Koalition SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Karikatur

Notleidender Wicht SZ-Zeichnung: Murschetz

Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - Steuerzahler in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Laurent Nkunda Kongolesischer Rebellen-Chef mit intellektuellem Image

Lange Zeit war er das Gesicht der Rebellion: Mit seiner randlosen Brille, seiner asketischen Statur und seiner stets tadellosen Uniform pflegte General Laurent Nkunda das Bild vom edlen Intellektuellen, der um eine gerechte Sache im Kongo kämpfte: Er war der tapfere Beschützer aller Tutsis, er war der Mann, der gegen Korruption und Misswirtschaft, Ausbeutung und Rechtlosigkeit zu Felde zog - so wollte er gesehen werden, so setzte er sich in Szene. Doch das konnte kaum davon ablenken, dass unter seinem Kommando schreckliche Verbrechen im Osten des Kongo begangen wurden.

Nun wurde Nkunda überraschend in Ruanda verhaftet. Zunächst verblüffte diese Meldung, denn der General galt stets als enger Verbündeter der Machthaber in Kigali, er war ihr Statthalter im benachbarten Kongo. Doch seit Nkundas Offensive im vergangenen Jahr ist der internationale Druck auf Kigali und Kinshasa gewachsen, den Krieg im Kongo zu beenden. Beide Länder wollen nun gemeinsam gegen ruandische Hutu-Milizen kämpfen, die Nkunda stets als größte Bedrohung der kongolesischen Tutsis bezeichnet hatte. Nkunda aber gefiel die neue Allianz nicht. Und so hat Kigali den General offenbar fallengelassen, weil er in der neuen Strategie keine Platz hatte.

Die Regierung in Kinshasa fordert die Auslieferung Nkundas, er wird dort von einem Militärtribunal gesucht. Ihm werden Kriegsverbrechen in Kisangani 2002 und in Bukavu 2004 zur Last gelegt. Auch nach Kämpfen im Herbst 2008 sind schwere Vorwürfe gegen seine Truppen erhoben worden, weil sie wehrlose Zivilisten ermordet haben sollen. Allerdings gibt es gegen den General bislang keinen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Laurent Nkunda, der in wenigen Tagen 42 Jahre alt wird, ist im Kongo geboren. Er ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Er studierte einige Semester Psychologie in Kisangani und arbeitete als Lehrer. Später kämpfte er in der Rebellen-Armee RPF unter Führung des Tutsi-Generals Paul Kagame, der 1994 die Macht im ruandischen Kigali übernahm. Vor der RPF flohen die Hutus, die in Ruanda Völkermord begangen hatten, in den Kongo. Dort wurden sie später von Kagames Soldaten gejagt. So kam Nkunda zurück in den Kongo.

Der General kommandierte dort nicht nur seine Truppe. Ihm gehören in den Hügeln von Kivu auch einige Farmen, auf denen große Kuhherden grasen. Seine Kämpfer sollte er schon mehrmals in die Armee integrieren, doch der General ließ die Versuche platzen. Stets warnte er vor einem neuen Genozid, den die Hutu-Milizen angeblich an den kongolesischen Tutsi verüben wollten. Um seine Macht zu festigen, ging er mehrfach in die Offensive, zuletzt im Herbst 2008, mit verheerenden Folgen für die Zivilisten. Er selbst sprach von Selbstverteidigung.

Kongos Präsident Joseph Kabila betrachtet Nkunda als erbitterten Feind, nun verkündet die Regierung in Kinshasa, dass durch die Festnahme des Rebellenchefs ein großes Hindernis für den Frieden weggeräumt sei. Aber noch ist die Lage zu verworren, um Laurent Nkundas Haft tatsächlich als Wende zu feiern. Arne Perras

Foto: AP

Nkunda, Laurent SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der endgültige Chefredakteur

Weil angeblich kein anderer wollte, leitet Leo Fischer, 27, Deutschlands wichtigstes Satiremagazin "Titanic"

Ein sonniger Januarmorgen, Frankfurt-Bockenheim. Gegenüber einer großen Baustelle findet man das Klingelschild der Titanic-Redaktion, man muss aber danach suchen, wie nach einer Briefkastenfirma. Wer erwartungsvoll den Flur betritt, denkt an die Simpsons-Folge, in der Bart die Redaktion des MAD-Magazines besucht: Als er schon enttäuscht gehen will, weil es doch nicht der verrückte Spielplatz ist, den er sich vorgestellt hat, da öffnet sich eine Tür, Alfred E. Neumann schaut heraus und verlangt ein doppelt-geschnackseltes Riesensandwich, während im Hintergrund die MAD-Zeichner auf Pogostäben hüpfen und mit Saugnäpfen an der Decke gehen. Leo Fischer geht leider nicht mit Saugnäpfen an der Decke. Er telefoniert mit Hans Zippert, einem der Titanic-Herausgeber. Es geht ums Cover der nächsten Ausgabe. "Jetzt drehen die Russen uns auch noch den X ab" ist einer der unfertigen Vorschläge. "Das X wäre noch das Problem", sagt Leo. Er hat Ende vergangenen Jahres Thomas Gsella als Redaktionsleiter ersetzt. Im für einen Chefredakteur zarten Alter von 27 Jahren leitet Leo jetzt ein Magazin mit einer Auflage von immerhin fast 100 000 Exemplaren. Und es ist nicht irgendein Magazin, das ihm da anvertraut wurde, sondern die wichtigste Satirezeitschrift in Deutschland.

"Merkel verstaatlicht sich selbst", lautet der nächste Vorschlag. "Rollt nicht", sagt Leo.

Im Konferenzraum steht ein runder alter Tisch, auf dem fast jedes Magazin der Welt liegt. Leo Fischer hat sein Telefongespräch beendet und setzt sich, er trägt ein schwarzes Hemd von New Yorker für sechs Euro, das erzählt er später selbst stolz in der Konferenz. Man weiß nicht genau, was einen erwartet, wenn man den Chefredakteur der Titanic interviewt. Auf Spiegel Online prognostizierte er in einem Gastbeitrag den Untergang des Internets, man bereite sich daher frühzeitig auf die Offline-Ära vor: "Unsere Web-Präsenz wird schon seit Wochen sukzessive zurückgebaut; am Ende soll nur mehr ein Link zum Focus übrigbleiben." Das seien, sagt Leo, "ganz verlässliche und seriöse Informationen" gewesen und er habe "das auch alles so gemeint." Überhaupt lässt er es nicht gelten, wenn man mutmaßt, etwas könne ironisch gemeint gewesen sein. "Ironie ist, dass man nicht unterscheiden kann, ob es ernstgemeint oder ist oder nicht", sagt Leo Fischer.

Eigentlich hatte er sich auf eine ernstgemeinte akademische Karriere vorbereitet. Magisterarbeit über "Glück und Rede bei Jean Paul", dann hat er an einer Doktorarbeit zum europäischen Schauerroman gearbeitet. Tut er auch immer noch, wenn er dazu kommt. Aber Satire macht man vermutlich nicht einfach nebenbei, jedenfalls nicht solche wie er. 2007 schrieb er über "Die ARD und ihre Girls", ein brillanter Text zum Zuhause-an-die-Wand-Hängen. Leo parodiert mit einer unwahrscheinlichen Genauigkeit den Moderatorinnenportraitwahn der großen Zeitungen, der Anne Will und ihren Kolleginnen Blödsinnigkeiten wie "Fehler zu wiederholen finde ich doof" als charmant-kluge Äußerungen durchgehen ließ. Als er über Katrin Bauerfeind schreibt, scheut er aber auch vor keinem noch so doofen Wortspiel zurück: "Ihr Vater war Veteran im Bauerkrieg, ihre Mutter ißt gern Bauerjoghurt (den großen)."

"Das endgültige Satiremagazin" nennt sich die Titanic in der Unterzeile. In keiner Richtung Tabus zu kennen, auch nicht nach unten, das ist ein Garant für Endgültigkeit. Oder, wie Leo es einmal der FAZ gesagt hat, als er noch Praktikant war: ",Titanic' hat mich schon immer fasziniert. Da stehen Pimmel-Witze neben niveauvoller Satire." - "Man macht sich dort über Journalismus lustig", hat Max Goldt einmal über das Heft geschrieben; "und da ich meine, daß dies genau das ist, was man mit Journalismus machen sollte, hat es mir bei der gewiß oft allzu derben Titanic auch immer gut gefallen."

Also macht sich der Kolumnist der Männerzeitschrift über Frauen lustig, das Feuilleton macht sich über den Kolumnisten der Männerzeitschrift lustig, die Avantgarde-Magazine machen sich über das Feuilleton lustig und die Titanic über alle zusammen, einschließlich der Frauen.

Man hat manchmal das Gefühl, dass die Titanic dabei behilflich ist, ein ganz pubertäres Bedürfnis nach Orientierung zu befriedigen. Man liest zum Beispiel einen Namen, sagen wir den von Maxim Biller, und einem fällt ein: ,Ach, auf den prügeln sie in der Titanic doch immer so ein. Dann ist das wohl einer von den Bösen.'

Leo widerspricht vehement: "Nein, er ist keiner von den Bösen. Einer von den Dummen vielleicht. Und sicherlich sagt Maxim Biller auch kluge Sachen und sei es aus Zufall, das tut jeder Mensch. Es ist nicht die beabsichtigte Wirkung, dass jemand durch die Erwähnung bei Titanic komplett erledigt wird. Er wird in einem konkreten Zusammenhang komplett erledigt." Wenn man Leo Fischer zuhört, klingt alles versöhnlicher als bei der Lektüre einer Titanic-Ausgabe. Man macht so ein Heft nicht nur mit Wut. "Man soll ja Spaß daran haben. Meistens geht das über ein Kopfschütteln: Dass es das auch noch gibt! Dass es immer noch dümmer geht. Es ist eher Verblüffung und seltener Wut. Zumindest bei mir." Es sei schwierig, wütend zu werden, sagt er später sogar.

Es ist verführerisch, einen 27-jährigen Chefredakteur danach zu fragen, wie er die Situation der "Generation Praktikum" beurteile. 2007 hatte Leo außer auf der Titanic-Website nirgendwo sonst geschrieben. Irgendwann bot man ihm aber ein Praktikum in der Frankfurter Redaktion an. "Damit ging ein Traum in Erfüllung", sagt Leo. Und das meint er wohl tatsächlich so. "Ich glaube, kein anderes Presseerzeugnis ist so frei wie Titanic, wir sind nur uns selbst verpflichtet und verantwortlich." Wenn man ihn fragt, warum man gerade ihn, den Unerfahrenen, Jungen, zum neuen Chefredakteur des Heftes auserkoren hat, dann sagt er: "Es wurde überlegt, ob es nicht Zeit für einen Generationenwechsel ist. Aber ausschlaggebend war am Ende, dass kein anderer wollte."

Der Chefredakteursposten der Titanic ist mit keinen finanziellen Vorteilen verbunden, jeder bekommt das gleiche Gehalt. Leo wollte trotzdem, weil es eine Chance ist, die man wohl nur einmal im Leben bekommt.

Die anderen Redakteure, die nicht wollten, loben Fischer über alle Maßen. Er könne alles, das Akademische, das Feingeistige und das Krawallige. Er scheint so eine Art Synthese aus seinen Vorgängern Martin Sonneborn und Thomas Gsella zu sein. Außerdem sei er, heißt es, ein exzellenter Kenner des Heftes: Wenn man einen Text sucht, den ein Autor vor zehn Jahren geschrieben hat, dann fragt man die Redaktionsassistentin, die zwei Stunden danach suchen muss - oder Leo, der weiß es sofort.

Seit der fünften Klasse liest er die Titanic, in der langweiligen Mathestunde ging sie unter dem Tisch herum, er erinnert sich an unbeholfene Versuche, Schulaufsätze wie Max Goldt zu schreiben. "Das Heft hat sich mir mit der Zeit erschlossen und hat nie richtig gefehlt. Es war einfach Teil des Seelenhaushalts."

Ob und wie sich der Humor einer jungen Generation von dem der älteren unterscheidet, darüber weiß Leo aber nicht viel zu sagen. Es gebe eben andere Interessen. "Aber ich glaube Humor ist universal und nicht auf einzelne Generationen zu beziehen." Das mit dem Rückbau der Internet-Präsenz revidiert er dann indirekt doch noch: Man möchte die Titanic-Website sogar ausbauen, vor allem das Archiv.

Weil Montag ist, ist um 13 Uhr Konferenz. Kurz nach 14 Uhr sitzen dann alle Redakteure um den großen runden Tisch herum. Ein anstrengender Konferenzmarathon beginnt, denn Endgültigkeit gibt es nicht umsonst. Die Redakteure regen sich auf über die Spiegel-Berichterstattung zum Tod Merckles und über die Firma Nestlé. Sie lesen herum, in Focus, Frankfurter Rundschau und Junge Welt, sie schweigen.

Einmal steht Leo Fischer auf, blättert im Duden und setzt sich wieder hin, ohne etwas zu sagen. Und natürlich werden Witze gemacht, gute Witze, manchmal im Sekundentakt.

Dann ist es kurz doch so wie in der MAD-Redaktion, die Bart besucht - nur ohne Saugnäpfe und Pogostäbe. Man würde die Witze gerne aufschreiben und seinen eigenen Texte damit schmücken. Aber Fischer bittet bei der Verabschiedung darum, möglichst keine Ideen zu verraten, bevor das Heft erschienen ist.

Und wer wäre man, sich mit dem Chefredakteur des endgültigen Satiremagazins anzulegen?

lars-weisbrod.jetzt.de

"Humor ist universal und nicht auf Generationen zu beziehen."

"Das Heft wurde Teil meines Seelenhaushalts": 2007 begann Leo Fischer als Praktikant beim Satiremagazin "Titanic" - seit kurzem bestimmt er dort über die Titelzeilen. "Ein Traum" sagt er und meint es tatsächlich so.

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Mieser Stil

Bei allem, was mit Bundespräsident Horst Köhler zusammenhängt, wird die Tonlage von FDP-Chef Guido Westerwelle noch eine Spur schriller als sonst. Vermutlich fühlt er sich für Köhler in besonderer Weise verantwortlich, weil dessen Präsidentschaft einst auf seinem Sofa ausgekungelt worden ist. Wer die Köhler-Begeisterung des FDP-Chefs nicht sofort und uneingeschränkt teilt, muss damit rechnen, rüde angerempelt zu werden. Den Freien Wählern (FW) in Bayern hat Westerwelle jetzt einen "wirklich miesen Wortbruch" vorgeworfen. Die CSU, bei Verbalinjurien aller Art auch versiert, hat sich sogar dazu verstiegen, den FW-Vorsitzenden Hubert Aiwanger als "Ypsilanti Bayerns" zu schmähen.

Der Mann hat sich indessen keineswegs einer politischen Ruchlosigkeit schuldig gemacht, sondern ganz im Gegenteil ein selbstverständliches Recht in Anspruch genommen: Er will, bevor sich die zehn FW-Vertreter in der Bundesversammlung festlegen, wen sie zum Bundespräsidenten wählen, sowohl Horst Köhler als auch die SPD-Bewerberin Gesine Schwan zum Gespräch einladen. Käme es auf die zehn Stimmen aus Bayern nicht an, würde niemand Notiz davon nehmen. Weil Köhler aber nur dann bereits im ersten Wahlgang gewinnen kann, wenn ihn auch die Freien Wähler unterstützen, reagieren seine Unterstützer hysterisch.

Aiwanger sollte sich von dem Gekeife nicht irre machen lassen. Die Freien Wähler sind kein Anhängsel von Union und FDP. Als neue Gruppierung in der Bundesversammlung sind sie geradezu verpflichtet, sich selbst ein Bild zu machen. Von miesem Wortbruch kann also keine Rede sein. Wohl aber von miesem Stil bei FDP und CSU. fa

Aiwanger, Hubert: Angriffe Westerwelle, Guido Freie Wähler in Bayern Wahl des Bundespräsidenten 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rede ins Rampenlicht

Routiniert verläuft der Bundesparteitag der Grünen in Dortmund - bis zum Auftritt von Werner Schulz

Von Daniel Brössler

Dortmund - Europa ist eine ernste Sache. Stunde um Stunde diskutieren die grünen Delegierten über einen sozialen Binnenmarkt in Zeiten der Krise, über ökologische Erneuerung und nachhaltiges Wirtschaften. Brav wählen sie Spitzenkandidaten, die die Partei in der Europawahl im Juni zum Erfolg führen sollen. Es sind Rebecca Harms, erfahrene Parlamentarierin und Veteranin im Kampf gegen das Atomlager Gorleben, und Reinhard Bütikofer, bis vor kurzem Parteichef. Das alles läuft routiniert ab, ohne übertriebene Emotion. In Wallung gerät der Parteitag erst, als ein weißbärtiger Herr vom Rednerpult aus spricht - der achte Kandidat um Platz acht der Europaliste. Es ist Werner Schulz, Mitbegründer des Neuen Forums in der DDR und bis 2005 Bundestagsabgeordneter.

Anfangs spricht Schulz von der Vergangenheit, redet sich warm. "Die friedliche Revolution war die Selbstbefreiung einer Generation", erinnert Schulz an den Mauerfall vor 20 Jahren, daran, dass "ohne Gewalt eine Diktatur gestürzt wurde". Die Delegierten aber erobert er mit einem temperamentvollen Sprung in die Jetztzeit. Er wettert gegen den Neoliberalismus, ruft: "Die Leute haben doch mehr Angst vor ihrem Anlageberater als vor al-Qaida." Die Managergehälter müssten nach oben, die Löhne nach unten begrenzt werden, fordert er und trifft einen Ton, den die Delegierten auf diesem braven Parteitag bis dahin offensichtlich vermisst hatten. Mit 68 Prozent der Stimmen erkämpft sich Schulz in einem furiosen Comeback seinen Platz.

Einen Platz, den die Parteitagsregie so für ihn nicht unbedingt vorgesehen hatte. Den Part der Stars neben den Spitzenkandidaten war zwei Neu-Grünen zugedacht, dem Mitbegründer des globalisierungskritischen Bündnisses Attac Sven Giegold sowie Barbara Lochbihler, der Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Die Grünen sind offen für jene Bewegungen, soll das zeigen, die ihnen gerade bei jungen Leuten in vergangenen Jahren die Schau gestohlen hatten. In der Abstimmung um Platz drei auf der Liste jedoch fällt Lochbihler gegen die erfahrene Europapolitikerin Heide Rühle durch. Gewählt wird die 49-jährige Menschenrechtlerin dann auf Platz fünf mit 82 Prozent der Stimmen; die Parteioberen können aufatmen. Ohne ernsthaften Gegenkandidaten wird Giegold hingegen auf Anhieb mit 73 Prozent der Stimmen auf Platz vier gewählt. Das gelingt ihm, obwohl er dem Lissabon-Vertrag für die Neuorganisation der EU deutlich kritischer gegenübersteht als es der Parteilinie entspricht. Den Delegierten dankt er daraufhin für die "Liberalität, von der sich die Linkspartei eine Scheibe abschneiden kann". Dort würden umgekehrt nämlich alle abgestraft, die für den Lissabon-Vertrag seien. Das hören die Grünen gern, denn darum geht es ja bei der Anwerbung Giegolds: Die Lufthoheit über globalisierungskritischen Stammtischen wollen sie den Linken nicht überlassen - gerade in Zeiten der Rezession.

Das Schlagwort, mit dem die Grünen sich in der Krise empfehlen wollen, lautet "Green New Deal". Reinhard Bütikofer jedenfalls sieht die Chance für ein "grünes Gesellschaftsmodell" gekommen. Er hat sich die Vereidigung des neuen US-Präsidenten Barack Obama aus der Nähe angesehen. Obama, schwärmt er, sei es gelungen, mit einer intellektuell redlichen, differenzieren Politik eine Mehrheit zu gewinnen. "Das sollten wir Grüne uns zum Vorbild nehmen", sagt Bütikofer. Eine "europäische Wirtschaftspolitik" in der Euro-Zone fordern die Grünen im Programm; im Entwurf war noch deutlich radikaler von einer europäischen Wirtschaftsregierung die Rede gewesen.

Die Grünen wägen ihre Worte; sie wissen, dass ihre Europa-Begeisterung im Krisenjahr 2009 womöglich von weniger Menschen geteilt wird als 2004. Damals erzielten sie mit 11,9 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis bei Europawahlen. "Gut gerüstet" gingen die Grünen in den Wahlkampf, behauptet Bütikofer. Deutlich jedenfalls wird, dass sie auch in der Krise auf ihr bisheriges Rüstzeug setzen. "Es wäre fatal, das drängendste Problem - die Finanz- und Wirtschaftskrise - zu Lasten des wichtigsten Problems - dem Klimawandel - zu lösen", warnen sie im Programm. Neue wirtschaftliche Dynamik müsse "dadurch entstehen, dass wir konsequent in Klimaschutz investieren".

"Die Leute haben doch mehr Angst vor ihrem Anlageberater als vor al-Qaida."

Die Managergehälter müssen nach oben begrenzt werden und die Löhne nach unten, fordert Werner Schulz - und begeistert die Delegierten. Foto: dpa

Schulz, Werner B90/Grüne: Programmatik B90/Grüne: Parteitage SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schaeffler muss Anteile verpfänden

Frankfurt - Das Familienunternehmen Schaeffler hat seinen Gläubigerbanken neue Sicherheiten gegeben. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung haben sich die sechs Institute, die den Einstieg Schaefflers bei Continental finanziert haben, nun auch erhebliche Anteile der Schaeffler-Unternehmensgruppe als Pfand geben lassen. Bislang dienten lediglich die Conti-Aktien als Sicherheit. In Bankenkreisen hieß es, in den vergangenen Wochen sei nachverhandelt worden. Schaeffler hatte nur 49,9 Prozent an Conti übernehmen wollen, bekam aber von den Aktionären 90 Prozent angeboten und musste diese auch finanzieren. Die Banken hatten dafür einen Kreditrahmen von 16 Milliarden Euro gegeben. Schaeffler und die Banken wollten dazu auf Anfrage nicht Stellung nehmen. An diesem Samstag berät der Aufsichtsrat von Continental über die künftige Besetzung des Gremiums. (Seite 26) mhs

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Firmenübernahme SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schlechtes Zeugnis

Türken sind laut einer Studie am wenigsten integriert

Berlin - Menschen mit türkischen Wurzeln sind in Deutschland einer Studie zufolge deutlich schlechter integriert als andere Zuwanderergruppen. Selbst in der zweiten Generation verbesserten sich die Werte nur geringfügig, berichtet der Spiegel vorab aus der Untersuchung des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, die an diesem Montag vorgelegt werden soll. Erstmals werden die Integrationserfolge einzelner Migrantengruppen inklusive der Zuwanderer mit deutschem Pass verglichen. Am besten schneiden dabei die Einwanderer aus EU-Ländern, deutschstämmige Aussiedler sowie Migranten aus Fernost ab.

Laut dem Magazin ergab die Studie, dass 30 Prozent der Türken und Türkischstämmigen keinen Schulabschluss und nur 14 Prozent das Abitur haben - nicht einmal halb so viele wie in der deutschen Bevölkerung und weniger als bei den anderen Zuwanderergruppen. Auch sind Menschen mit türkischem Hintergrund beruflich weniger erfolgreich: Sie seien häufig erwerbslos, die Hausfrauenquote sei hoch und viele seien abhängig von Sozialleistungen. Besonders groß seien die Missstände im Saarland: 45 Prozent der Türken und Türkischstämmigen dort seien ohne Bildungsabschluss. Auch in der Gesamtstatistik liegt das Saarland ganz hinten, die größten Integrationserfolge kann Hessen verzeichnen.

Der Schlüssel zu Bildung und Erfolg sei die Sprache, sagte der Direktor des Berlin-Instituts, Reiner Klingholz. Er fügte hinzu: "Wir haben uns viel zu lange daran gewöhnt, dass wir Grundschulklassen haben, in denen 80 Prozent kein Deutsch verstehen." Die Gruppe der deutschstämmigen Aussiedler schneidet den Angaben zufolge im Gegensatz zu den Türken bundesweit überraschend gut ab: Nur drei Prozent sind ohne Abschluss, 28 Prozent haben sogar die Hochschulreife.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) verwies im Spiegel darauf, dass die Integrationskurse inzwischen besser angenommen würden. Wichtig sei, niemanden auszugrenzen: "Wir müssen den sozial Schwächeren, die sich über Generationen abgeschottet haben, sagen: Ihr seid wichtig. Wir schätzen Euch, Ihr seid so viel wert wie die anderen auch." Die Unterschiede innerhalb Deutschlands zeigten aber, dass bei der Integration viel von den Bundesländern abhänge. dpa/ddp

Ausländer in Deutschland Türken in Deutschland Ausländerpolitik in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Scholz pessimistisch

Berlin - Trotz der Maßnahmen zur Konjunkturbelebung rechnet Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) mit einer deutlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit. Es werde 2009 im Schnitt vermutlich 250 000 Arbeitsuchende zusätzlich geben, sagte er der Welt. Ob die Marke von vier Millionen Arbeitslosen erreicht werde, wollte Scholz weder bestätigen noch dementieren. Niemand könne das seriös errechnen. "Uns geht es darum, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu retten und gleichzeitig denen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, möglichst schnell einen neuen anzubieten", sagte er. Deshalb würden Kurzarbeit ausgebaut, Qualifizierungen gefördert und neue Vermittler in den Arbeitsagenturen eingestellt.AFP

Um 250 000 Menschen steigt die Arbeitslosigkeit im Jahresschnitt - das erwartet Olaf Scholz. dpa

Berlin

- Trotz der Maßnahmen zur Konjunkturbelebung rechnet Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) mit einer deutlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit. Es werde 2009 im Schnitt vermutlich 250 000 Arbeitsuchende zusätzlich geben, sagte er der Welt. Ob die Marke von vier Millionen Arbeitslosen erreicht werde, wollte Scholz weder bestätigen noch dementieren. Niemand könne das seriös errechnen. "Uns geht es darum, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu retten und gleichzeitig denen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, möglichst schnell einen neuen anzubieten", sagte er. Deshalb würden Kurzarbeit ausgebaut, Qualifizierungen gefördert und neue Vermittler in den Arbeitsagenturen eingestellt.

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"Atomenergie ist eine Sackgasse"

Nicht die kapitalintensive Kerntechnik, sondern die Nutzung von erneuerbaren Ressourcen vermindert die Abhängigkeit von Energieimporten, erhöht die Wertschöpfung im eigenen Land und sichert Arbeitsplätze / Von Sigmar Gabriel

Die nachhaltige Energieversorgung ist eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Verknappung fossiler Ressourcen und der Klimawandel erfordern eine grundlegende Umstrukturierung unserer Energiesysteme. Es gilt, die Abhängigkeit von konventionellen Energieträgern drastisch zu reduzieren, Energie effizienter zu nutzen und das große Potential der erneuerbaren Energien auszuschöpfen. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt einmal mehr, dass wir auf zukunftsorientierte Technologien setzen müssen, die gleichzeitig das Klima schützen und Wachstum und Beschäftigung fördern.

Die Bundesregierung hat den Klimaschutz ganz nach vorne und ins Zentrum ihres politischen Handelns gestellt. Im März 2007 wurden unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft die Zielmarken für die europäische Energie- und Klimapolitik gesetzt. Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 20 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden, im Falle eines neuen globalen Klimaabkommens, eines Kyoto-Nachfolgeabkommens, sogar um 30 Prozent. Im gleichen Zeitraum soll die Energieeffizienz um 20 Prozent und der Anteil der erneuerbaren Energien auf 20 Prozent erhöht werden. Im Dezember 2008 ist unter französischer EU-Ratspräsidentschaft das Energie- und Klimapaket inklusive eines umfangreichen Richtlinienpakets mit konkreten Maßnahmen verabschiedet worden. So verpflichtet die EU-Richtlinie zu erneuerbaren Energien jeden Mitgliedsstaat zu bestimmten nationalen Ausbauzielen, um in der EU im Jahr 2020 auf 20 Prozent zu kommen. Deutschland muss nach diesen Vorgaben 18 Prozent erreichen. Das ist ambitioniert, aber zu schaffen.

Die erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz sind die richtige Antwort auf die Herausforderungen des Klimaschutzes. Erneuerbare Energien vermindern unsere Abhängigkeit von Energieimporten, erhöhen die Wertschöpfung im eigenen Land und sichern Beschäftigung. Im vergangenen Jahr waren die erneuerbaren Energien die Boombranche in Deutschland. In der Rezession müssen wir in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren. Damit schließen wir nicht nur die Lücken für die ausfallende Nachfrage, sondern investieren in die Zukunft unserer Kinder.

Erneuerbare Energien sind auch hervorragend geeignet, den ärmsten Ländern Zugang zu sauberer Energie zu ermöglichen und somit zur Armutsbekämpfung beizutragen. Denn sie können dezentral eingesetzt werden, so dass auch entlegene Regionen Zugang zu Energie und damit Chancen auf Entwicklung bekommen. Nicht die kapitalintensive Kerntechnik, sondern vergleichsweise kostengünstigere Investitionen in dezentrale Strukturen, die den Bedürfnissen eines Landes und einer Region angepasst sind, helfen den Entwicklungsländern.

Mit dem Amtsantritt von US-Präsident Barack Obama hat eine neue Ära im internationalen Klimaschutz begonnen. Wir begrüßen den neuen Wettbewerber um die Vorreiterrolle beim Einsparen von Treibhausgasen. Die neue Regierung hat sehr ambitionierte Klimaziele angekündigt, an denen sich nun auch andere große Emittenten orientieren müssen. Um diese Ziele zu erreichen, plant Präsident Obama, massiv in den Ausbau der erneuerbaren Energien zu investieren. Das Potential von Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme und Biomasse ist so groß, dass damit der Energiebedarf einer auf über neun Milliarden Menschen anwachsenden Bevölkerung gedeckt werden könnte.

In diesen Tagen und Wochen wird einmal mehr einer vermeintlichen "Renaissance der Atomenergie" das Wort geredet. Atomenergie ist eine Sackgasse und keine Antwort auf die großen Herausforderungen. Die Aufmerksamkeit, die diese Energieerzeugung in den Medien genießt, steht übrigens in einem bemerkenswerten Missverhältnis zu ihrem Anteil am weltweiten Endenergieverbrauch: weniger als zwei Prozent, und die Zahl der Atomreaktoren nimmt seit Jahrzehnten ab.

Der technische Fortschritt bei den erneuerbaren Energien hat sich in den letzten Jahren erheblich beschleunigt. Die Technologien stehen bereit, und sie stellen eine zunehmend wettbewerbsfähige Alternative zu konventionellen Energieträgern dar. Aber zahlreiche Hindernisse behindern den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien: Nach Berechnungen der Umweltorganisation der Vereinten Nationen fließen mehr als zehnmal so viele Subventionen in konventionelle als in erneuerbare Energien. Darüber hinaus sind die Rahmenbedingungen für erneuerbare Energien oft unzureichend, und es fehlt technisches Know-how. Hier soll Irena - die Internationale Agentur für Erneuerbare Energien - ansetzen.

Irena ist die erste internationale Organisation, die sich ausschließlich auf erneuerbare Energien konzentriert und Industrie- und Entwicklungsländern gleichermaßen ihre Unterstützung anbietet. Irena wird ihre Mitglieder zu politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die oft erst den Einsatz der erneuerbaren Energien ermöglichen, konkret beraten sowie beim Technologie- und Wissenstransfer und Kompetenzaufbau unterstützen.

Neben der praktischen Hilfe geht es bei Irena aber auch um einen politischen Push für die erneuerbaren Energien. Es gibt einen starken Lobbyismus für die Atom- sowie die Öl- und Gasindustrie. Irena, die als Sprachrohr für die erneuerbaren Energien wirken wird, ist unsere Antwort darauf.

Mehr als 100 Staaten wollen am kommenden Montag an der Gründungskonferenz von Irena in Bonn teilnehmen. Der große Zuspruch zeigt deutlich, dass viele Staaten in der Welt die Chancen der erneuerbaren Energien für Klimaschutz und Versorgungssicherheit sowie wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung erkannt haben.

In erneuerbaren Brennstoffen wie Holzpellets liegt die Zukunft, sagt Sigmar Gabriel, seit 2005 Bundesumweltminister. Fotos (2): dpa

Gabriel, Sigmar: Gastbeiträge Energiewirtschaft in Deutschland Energiepolitik in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Beförderung bei der Post

Uwe Brinks, bisher verantwortlich für das deutsche Briefgeschäft der Deutschen Post, steuert nach Post-Angaben künftig auch das Geschäft mit Paketen und Päckchen in Deutschland. Grund ist eine Umstrukturierung bei der Post, die einen Teil der Doppelstrukturen für Briefe und Pakete beseitigt. SZ

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Terrordrohung aus dem Internet

Videobotschaft nennt drei deutsche Städte als Ziele

Berlin - Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen einer neuen Terrordrohung nach. In einer Video-Botschaft kündigten mutmaßliche Islamisten Anschläge in Deutschland an. "Wir werden eine Armee senden mitten in eure Stadt, besonders Berlin, Köln und Bremen", heißt es laut Focus auf eingeblendeten Texttafeln in einem auf der Internetplattform Youtube vorübergehend eingestellten Video. Deutschland und vier andere Länder würden "ab Februar 09 Probleme kriegen".

An dem Video, das laut Magazin am 12. Januar bei Youtube wieder entfernt wurde, sollen deutsche Konvertiten beteiligt gewesen sein. Es enthalte jedoch nicht die sonst üblichen religiösen Verweise. Das Bundesinnenministerium teilte mit: "Das Video fügt sich in unsere Bewertung ein, wonach die dschihadistische Propaganda gegen Deutschland eine neue Qualität erreicht hat." Deutschland werde in solchen Botschaften explizit bedroht. Zunehmend würden Botschaften von Heiligen Kriegern aus Deutschland verlesen. Deutschland und deutsche Interessen im Ausland seien "im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus". Dies zeige sich auch in den Anschlägen gegen Deutsche in Afghanistan.

Berlins Innensenator Ehrhart K rting (SPD) erklärte, es ergebe sich durch das Video keine Veränderung der Gefährdungslage in Deutschland: "Es spricht einiges dafür, dass es ein Trittbrettfahrer ist." Die Androhungen seien auch nicht so konkret, dass man daraus bestimmte Gefährdungsanalysen ableiten könnte.

Unterdessen wurde bekannt, dass der Bonner Islamist Bekkay Harrach, der ebenfalls in einem Video Deutschland drohte, nach Erkenntnissen deutscher Sicherheitsbehörden bei al-Qaida an führender Stelle mit der Planung von Anschlägen betraut ist. Wie der Spiegel berichtete, ist Harrach, der sich inzwischen "Abu Talha" nenne, offenbar in der Abteilung für "Auswärtige Operationen" aktiv; diese Gruppe kümmere sich um Anschlagsplanungen. An seinem mutmaßlichen Aufenthaltsort Waziristan soll er unter dem Schutz des Warlords Siraj Haqqani stehen. Ein Kommandeur aus dem Haqqani-Clan sagte dem Magazin, der "deutsche Gast" sei in fast alle größeren Anschlagsplanungen in der Region eingebunden. ddp

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Bewährung für Spoerr gefordert

Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat für den langjährigen Freenet-Chef Eckhard Spoerr eine Bewährungsstrafe von einem Jahr wegen verbotener Insidergeschäfte gefordert. Auch der mitangeklagte Finanzvorstand der Telekommunikationsfirma, Axel Krieger, soll nach dem Willen der Anklage zu einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt werden. Angesichts ihrer "herausragenden Vermögensverhältnisse" sollen die Manager außerdem eine Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen, verlangte Oberstaatsanwalt Uwe Hitziger - Spoerr 300 000 Euro und Krieger 150 000 Euro. Die Verteidigung verlangte Freisprüche. Den Angeklagten sei nicht das Firmenwohl wichtig gewesen, "sondern das Wohl ihrer eigenen Brieftasche", sagte Hitziger. Das Urteil wird am kommenden Freitag (30. Januar) erwartet. Nach einem Machtkampf mit freenet-Großaktionären hatte Spoerr kurz vor Weihnachten seinen Rücktritt für diesen Freitag angekündigt. Die Anklage wirft Spoerr und Krieger vor, bei Aktienverkäufen im Juli 2004 bereits von den schlechten Geschäftszahlen gewusst zu haben, die im Folgemonat zu einem dramatischen Kurseinbruch führten. Dennoch hätten sie jeweils gut 60 000 Firmenaktien aus einem Sondervergütungsprogramm für den Vorstand veräußert. dpa

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Die Zähmung des Sauriers

Mit Hybrid-Antrieb verbraucht der Mercedes ML 450 nur noch 7,7 Liter / Marktstart im Herbst

Ein Ökoauto stellt man sich irgendwie anders vor. Nicht mit der Stirnfläche einer Schrankwand und gut 2,4 Tonnen Gewicht. Entsprechend massiv ist der Grundsatzstreit, der um Geländewagen mit Elektroantrieb tobt: "Der Vollhybrid, der von Teilen der Autoindustrie gerne als erster Schritt zum Elektroauto gesehen wird, ist eine Fehlentwicklung", mahnt Brigitte Behrens. Fünf-Meter-Schiffe wie der Mercedes ML 450 BlueHybrid könnten nicht länger den technologischen Fortschritt anführen, meint die Hauptgeschäftsführerin von Greenpeace Deutschland. Umweltschützer fordern schon länger einen Paradigmenwechsel hin zu kleineren, leichteren und bescheidener motorisierten Fahrzeugen. Doch ob Kunden freiwillig in die Niederungen eines Kleinwagens absteigen, ist ungewiss. Also vergessen wir vorübergehend die XXL-Abmessungen und konzentrieren uns auf den ökologischen Fußabdruck.

Auf Spurensuche am Ufer des Lake

Michigan: Mercedes hat heimlich einen Prototypen des ML 450 BlueHybrid zur Autoshow nach Detroit mitgebracht. Mitten in Motown parkt ein Hoffnungsträger der Marke vor der Messehalle - und die Fachjournalisten aus aller Welt hasten ahnungslos daran vorbei.

Selten zuvor ist fürs Spritsparen mehr Aufwand getrieben worden: Der Two-Mode-Hybrid schleppt unter dem Kofferraumboden einen großen Batteriepack mit sich herum, der auch rein elektrisches Fahren ermöglicht. Zwei E-Motoren im Getriebetunnel entwickeln 45 kW (61 PS) und erlauben das emissions- und geräuschfreie Gleiten beispielsweise im stockenden Feierabendverkehr. Doch die Nickelmetallhydrid-Akkus sind schnell ausgelaugt, ein Gefährt dieser Masse kommt elektrisch nicht besonders weit. Beim Ampelhüpfen während der ersten Ausfahrt lässt sich auf dem Zentralmonitor verfolgen, wie oft die Batterie wieder geladen werden muss. Der Normverbrauch des stattlichen Offroaders kann sich allerdings sehen lassen: Mit 7,7 Liter auf 100 Kilometer genehmigt sich der Hüne kaum mehr als viele Kompaktwagen. Mehr als 250 Kilo Mehrgewicht für Batterie, Leistungselektronik und E-Maschinen fordern allerdings ihren Tribut. Beim Beschleunigen wartet der Hybrid-Fahrer vergebens auf den Katapulteffekt, der ihn bei einem reinen Elektrofahrzeug wie dem Tesla Roadster in den Sitz drückt. Der doppelt so schwere BlueHybrid wirkt mit einer Systemleistung von 250 kW (340 PS) und 480 Nm Drehmoment keineswegs übermotorisiert. Unter der Haube steckt kein Achtzylinder, sondern der V6 mit 205 kW (279 PS) aus dem ML 350. Die Kraftstoffersparnis gegenüber diesem Otto-Normal-Motor ist mit 3,5 Liter beträchtlich. Zumal die Bremsenergie im Hybrid unmerklich zurückgewonnen wird und die E-Maschinen völlig ruckfrei mit dem Verbrenner zusammenarbeiten: Ohne einen Blick auf den Info-Bildschirm, der die jeweiligen Energieströme anzeigt, würde man die Übergänge zwischen Benzin- und Elektromodus gar nicht spüren.

Um das hohe Niveau der Lexus-Hybride zu übertreffen, haben Mercedes, BMW und General Motors beim Two Mode an nichts gespart. Die Elektromotoren können als CVT-Getriebe jeweils den effizientesten Betriebspunkt ansteuern, alternativ sorgen feste Gangstufen beim Anfahren im Anhängerbetrieb für die nötige Zugkraft. Auch auf der Autobahn garantiert der direkte Durchtrieb zwischen Motor und Rädern eine optimale Leistungsausbeute. Allerdings ist der Technik-Overkill nicht ganz billig: Der ML 450 BlueHybrid wird zwischen dem ML 350 und ML 500 positioniert, was einen Einstiegspreis von mindestens 62 000 Euro bedeutet. Trotzdem wird Daimler mit dem E-Pionier kaum Profit machen, Experten gehen von Systemkosten für den aufwendigen Assistenzantrieb von rund 10 000 Euro aus. Für Skaleneffekte bei Elektromotoren und Batterien werden die Stückzahlen zunächst zu gering sein: "Es ist extrem frustrierend, dass wir pro Jahr nur 10 000 Stück des Two-Mode-Hybrids verkaufen", sagt James E. Queen, oberster Produktentwickler bei General Motors: "Es war ein großer Fehler von uns, nicht so früh wie Toyota auf die Hybrid-Karte gesetzt zu haben."

Toyota hat mit dem Prius vorgemacht, wie man ein grünes Image einfahren kann, obwohl die Produktpalette insgesamt nicht sonderlich sparsam ist. Für einzelne ökologische Feigenblätter ist aber keine Zeit mehr: Bis 2012 müssen nach Willen des EU-Parlaments 60 Prozent der Neuwagen in Europa 120 g/km CO2 ausstoßen, bis 2015 sollen es 100 Prozent sein. Die Obergrenzen je Hersteller orientieren sich auch am Durchschnittsgewicht der jeweiligen Flotte, sodass Audi, BMW und Daimler einen CO2-Zielwert von 135 g/km bis 138 g/km erreichen müssen. "Wir wollen und können unser Emissionsziel von 136 g/km bereits 2012 schaffen", erklärt Daimler-Entwicklungsvorstand Thomas Weber. Bis dann werden auch kleinere Motoren elektrifiziert: "Unser neuer Vierzylinder-Benziner mit Direkteinspritzung sowie der neu entwickelte Vierzylinder-Diesel sind schon für die Aufnahme des Hybridmoduls ausgelegt", so Mercedes-Forschungschef Herbert Kohler.

Die Vierzylinder-Hybride für alle Baureihen unterhalb des ML bis zur Mercedes C-Klasse werden nicht mit dem aufwendigen Two-Mode-System, sondern mit nur einem Elektromotor ausgerüstet. Als erster Parallel-Hybrid ist der Mercedes S 400 BlueHybrid mit 15 kW elektrischer Leistung bereits im Sommer erhältlich. Bis 2012 werden solche elektrischen Assistenzantriebe auch mit 45 und 65 kW Leistung verfügbar sein. Dann kann Daimler den Kunden auch selbst hergestellte Lithium-Ionen-Akkus anbieten. Vor wenigen Wochen haben sich die Stuttgarter bei Lit-Tec eingekauft - der einzigen deutschen Firma, die im weltweiten Wettrennen um die Batterie der Zukunft noch mithält. Joachim Becker

Hybrid

Die Kombination eines Verbrennungs- und Elektromotors wird Hybrid - "aus zwei Quellen" - genannt. Beim Bremsen fungiert der E-Motor als Generator und speist eine Hochvoltbatterie; zum Beschleunigen kann diese Energie wieder abgerufen werden. Serielle Hybride wie der Toyota Prius treiben die Vorderräder rein elektrisch an. Bei Parallel-Hybriden fließt die Kraft vom Verbrennungsmotor direkt an die Hinterräder; der E-Motor auf der Kurbelwelle wirkt dabei als Assistenzantrieb.

Die Kraft der drei Herzen: Unter der Haube des Mercedes ML 450 Hybrid steckt ein V6-Benziner vom ML 350. Zu seinen 279 PS kommen noch 61 PS dazu, die von zwei Elektromotoren im Getriebetunnel stammen. Der Hybrid-Mercedes ist allerdings 250 Kilogramm schwerer als sein Normal-Pendant.

Mercedes-Benz Car Group: Produkt Autoindustrie in Deutschland Hybridautos SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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KURZ GEFAHREN

Erfrischend normal

Der neue Honda Jazz 1.4 bietet viel Platz und einen sparsamen Motor

Honda Jazz: 1.4: 73 kW (100 PS); max. Drehmoment: 127 Nm bei 4800/min; 0-100 km/h: 11,4 s; Vmax: 182 km/h; Testverbrauch: 7,0 l Super; (lt. Werk: 5,4 l; CO2: 128 g/km); Euro 4; Grundpreis: 15 950 Euro.

Es ist erfreulich, wieder einmal auf einen Kleinwagen zu treffen, der einfach normal ist - ohne Lifestyle-Getöse und hochtrabenden Designer-Ehrgeiz. Der Honda Jazz ist so einer. Die großen Glasflächen machen den Viertürer übersichtlich, im Innenraum gibt's trotz 3,90 Meter Außenlänge viel Platz für Kopf und Beine - auch hinten - und das Armaturenbrett ist schlicht und klar.

Echte Nehmerqualitäten hat der Kofferraum. Wenige mühelose Handgriffe schaffen eine glatte Fläche, samt einem Unterfach direkt hinter der Klappe sind es maximal beachtliche 1396 Liter Volumen. Allerdings ist die Aufhängung der Abdeckung billiger Fummelkram, als hätte man alte Büroklammern neu gebogen, um die Befestigungskordeln dort einhängen zu können. Das geht netter. Wie auch das Fahrwerk. Es ist deutlich zu hart, der Jazz hüpft über Bodenwellen wie ein Springbock auf der Flucht.

Unter der kurzen Haube arbeitet ein 1,4-Liter-Benziner, der deutlich Drehzahl braucht, um die 100 PS zu mobilisieren. Deshalb geht die angezeigte Schaltempfehlung auch allzu oft ins Leere. Auf der Suche nach Vortrieb wartet man mit dem Gangwechsel lieber noch etwas. Außerdem wünscht man sich sowieso einen sechsten Gang zur Entspannung von Motor und Fahrer. Trotzdem pendelt sich der Jazz 1.4 bei sieben Liter Praxisverbrauch ein - gut so, zumal auch noch weniger möglich ist.

Positiv ist der Preis von 15 950 Euro: Dafür gibt es viel Platz, einen sparsamen Motor und vor allem ESP serienmäßig - für Kleinwagen heute immer noch keine Selbstverständlichkeit. Ein klarer Bonuspunkt für den Jazz. mz

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MARKEN UND MODELLE

Mindestens 33 900 Euro kostet der neue Ford FocusRS mit 224 kW (305 PS) starkem 2,5-Liter-Fünfzylinder, der den Fronttriebler in 5,9 Sekunden von null auf 100 km/h und maximal aus Tempo 263 beschleunigt. Zur Serienausstattung gehören Recaro-Schalensitze und eine um 40 Millimeter verbreiterte Spur.

Zwei weiß lackierte Sondereditionen bringt VW auf den Markt. Der Eos White Night, der im Sommer startet, hat außer der weißen Karosserie Dach, Kühlergrill und Spiegelkappen in Schwarz. Der Kontrast setzt sich bei den schwarzen Ledersitzen mit hellen Ziernähten fort. Als Antrieb des Cabrios, dessen Preis noch nicht festgelegt ist, dient ein 184 kW (250 PS) starker 3,2-Liter-V6. Rund 50 000 Euro kostet der Scirocco Collectors Edition (Foto), der in Kürze beim Händler steht und mit einem 147 kW (200 PS) starken 2,0-Liter-TSI motorisiert ist. Zur Ausstattung des auf 100 Exemplare limitierten Sondermodells gehören weißer Lack, weiße Ledersitze, 19-Zoll-Alufelgen, Radio-Navi und Xenon-Scheinwerfer.

Alle Varianten des Renault Modus haben nun serienmäßig ESP. Zudem erhielt der Jahrgang 2009 neu sortierte Ausstattungslinien. Die Motorenpalette umfasst drei Benziner und zwei Diesel, die Preise beginnen mit 12 400 Euro.

An Front und Heck modifiziert und in der Länge auf 4,80 Meter gewachsen, bringt Kia jetzt den überarbeiteten Magentis. Die drei zur Auswahl stehenden Motoren erhielten mehr Leistung. Der 2,0-Liter-Benziner (Preis: 22 450 Euro) hat nun 121 kW (164 PS) und soll im Durchschnitt 7,5 Liter verbrauchen. Der V6-Benziner (27 295 Euro) schöpft aus 2,7 Liter Hubraum 142 kW (193 PS), für die 110 kW (150 PS) starke und 24 185 Euro teure 2,0-Liter-Diesel-Version werden 6,0 Liter im Schnitt angegeben.

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Playmobil für Fortgeschrittene

Mit dem C3 Picasso bringt Citroën eine pfiffige Mischung aus Kombi, Van und Kinderwagen

Kind und Kegel - noch vor wenigen Jahren war der Abschied von der familienpolitischen Abstinenz gleichbedeutend mit dem Absturz ins automobile Spießertum. Wer abgebrüht genug war, fand sich gleich in einem Kombi wieder. Wer aber zunächst nicht hören wollte, musste bald darauf fühlen, wie ungeeignet jede andere Autospezies für den Transport der kleinen Kameraden und ihrer umfangreichen Ausrüstung ist.

Vergeben, vergessen. Heutzutage ist die Welt ganz gewiss nicht runder, aber bunter ist sie schon. Nach den Minivans und den Hochdachkombis mit dem Lieferwägelchencharme zündet das Diversifizierungsprogramm für Platz-ist-in-der-kleinsten-Hütte-Architektur jetzt eine weitere Stufe.

Das kann man grundsätzlich nur begrüßen. Denn die fahrenden Kisten mit den frechen Formen zeigen dem trägen Van und dem trübe aus der Wäsche guckenden Hochdachkombi gleichermaßen, dass Praxistauglichkeit nicht Langeweile heißen muss. Die Rede ist von Autos wie dem Citroën C3 Picasso. Von Autos, die uns Ältere ein bisschen neidisch auf die Jungen machen. Von Autos also, die praktisch, nützlich, wirtschaftlich sind - und trotzdem jung und frisch.

So ein Auto will der Citroën C3 Picasso sein. Der famose Franzose mit dem hochtrabenden Künstlernamen ist einer der ersten Protagonisten dieser Evolution: verspielt im Stil, aber konsequent in der Funktion. Soll heißen: Die Fuhre mit dem frechen Stupsnasengesicht, den runden Kanten und den hübschen Karosserieapplikationen bietet sehr viel Platz bei sehr kompakten Außenmaßen und das zu vergleichsweise moderaten Preisen. Betonung auf vergleichsweise, doch dazu später noch ein kleines Rechenexempel. Zunächst einmal: Der in der Slowakei produzierte C3 Picasso ist ein echtes Raumwunder, das auf einer Grundfläche von 4,08 Meter mal 1,77 Meter fünf bequeme Plätze, eine klapp- und verschiebbare Rückbank und einen riesigen Gepäckraum (500 bis 1500 Liter Ladevolumen) unterbringt.

Die Atmosphäre an Bord ist großzügig, der subjektive Platzeindruck für ein Kompaktauto erstaunlich. Die Kopffreiheit schafft Luft nach oben - der Picasso ist mit 1,63 Meter relativ hoch gewachsen -, die weit herumgezogene Panoramawindschutzscheibe weitet den Horizont. Trick der Konstruktion: Zwischen Türrahmen und A-Säulen bleibt links und rechts Platz für zusätzliche Fensterflächen, die den Blick nach seitlich vorn erheblich weiten. Gut für die Aussicht, gut für die Sicherheit.

Die Passagiere fühlen sich wohl im C3 Picasso, der Fahrer hat leichtes Spiel. Bequeme Sitzposition, einfache Bedienung, ausreichend zielsichere elektrische Servolenkung. Das Lenkrad steht allerdings gewöhnungsbedürftig schräg. Und die mittig auf dem Armaturenträger platzierten Instrumente sind immer noch nicht der Weisheit letzter Schluss - fällige Kontrollblicke führen die Augen des Fahrers weg vom Verkehrsgeschehen.

Federung und Dämpfung sind angenehm, Fahrwerk und Bremsen vertrauenserweckend, die Leistung ist ausreichend. Citroën hat seinem Playmobil die neuen Benziner aus der Kooperation mit BMW unter die Haube gepackt: einen 1,4-Liter und einen 1,6-Liter, dazu einen 1,6-Liter-Diesel. Alle drei Triebwerke - ein 90-PS-Selbstzünder folgt 2010 - sorgen für propere Fahrleistungen und moderate Normverbrauchswerte (zwischen 4,9 und 7,0 l/100 km). Moderne Spritspartechnik sucht man allerdings vergeblich im neuen Citroën. Start-Stopp-Automatik, Hybridtechnik? Fehlanzeige.

Zurück zu den Preisen und damit zum versprochenen Rechenexempel. Die Liste beginnt bei vergleichsweise moderaten 14 900 Euro für den 95-PS-Benziner in der Ausstattung Advance. Dieser Basis-Picasso bietet fast alles, was man von einem modernen Auto erwarten darf: Antischleuderschutz ESP, elektrische Fensterheber, Zentralverriegelung mit Fernbedienung. Kopfairbags sind nur in den teureren Ausstattungspaketen enthalten, Klimaanlage und CD-Radio kosten 1390 Euro Aufpreis. Und am anderen Ende der Preisliste wartet der Top-Diesel HDi 110 FAP Exclusive für stramme 21 700 Euro. Für diese Summe hätte die junge Familie vor 35 Jahren beim Citroën-Händler acht (!) Exemplare des Kultautos 2 CV 6 bekommen.

Der C3 Picasso geht in diesen Tagen auch auf dem deutschen Markt an den Start. Praktisch wie eine Plastiktüte. Optimistisch wie der jugendliche Blick in die Zukunft. Bunt wie der sprichwörtliche Hund. Oskar Weber

Knuffig und frisch: Autos wie der Citroën C3 Picasso machen uns Ältere immer ein bisschen neidisch auf die Jungen. Das kleine Raumwunder bringt auf minimaler Grundfläche fünf Plätze und bis zu 1500 Liter Gepäck unter.

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Recht und Rechtfertigung

Von Stefan Ulrich

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, das gilt besonders für die Präsidentschaft des Barack Obama. Seine ersten Beschlüsse lassen all jene hoffen, die die Vereinigten Staaten immer noch als Land der Freiheit, des Rechts, der Demokratie und praktischen Vernunft sehen. Das Schand-Lager Guantanamo wird aufgelöst, die Sonderprozesse gegen Terror-Verdächtige werden ausgesetzt, Geheimgefängnisse der CIA geschlossen, Folter-Verhöre verboten - das sind aufrüttelnde Posaunenklänge nach dem dumpfen Kriegsgetrommel der vergangenen acht Jahre unter George W. Bush.

Nur: Der Zauber kann schnell verfliegen. Denn der nächste Terroranschlag kommt bestimmt. Er kann erneut Hotels in Asien treffen oder U-Bahnen in Europa oder Hochhäuser in den USA. Womöglich werden die Ermittlungen dann ergeben, dass unter den Tätern auch Menschen sind, die die Amerikaner aus Guantanamo freigelassen haben. Spätestens dann werden die Neo-Konservativen der Bush-Ära aus ihren Schmollecken kriechen und anklagend fragen, ob der neue Mann im Weißen Haus die Nation ausreichend schützt. Obama wird unter Rechtfertigungsdruck geraten - und mit ihm all diejenigen, die Menschenrechte und Völkerrecht auch im Umgang mit Terroristen hochhalten möchten.

Das ist nur ein Szenario, gewiss. Doch es ist ein wahrscheinliches. Dies sollte bedacht werden, wenn Amerika und seine Partnerstaaten in Europa nun diskutieren, wie es weitergehen soll mit dem "Krieg gegen den Terror", mit inhaftierten Islamisten, mit Straf-, Polizei- und Völkerrecht. Letztlich stellt sich immer die Frage: Wie viel Sicherheit ist nötig, und wie viel Freiheit ist möglich, in Zeiten des Terrors.

Leviathan Amerika

Die Regierung von George W. Bush hat diese Frage radikal zugunsten der Sicherheit beantwortet. Sie hat sich an die Maximen des Philosophen Thomas Hobbes gehalten, wonach die Menschen reißende Wölfe sind und es daher eines "Leviathans" bedarf, eines übermächtigen, außerhalb des Rechts stehenden Souveräns, der Sicherheit und Frieden erzwingt. Um den Krieg aller gegen alle zu verhindern, opferte Hobbes die Freiheit der Bürger seinem Leviathan. Um Anschläge auf Amerika zu vereiteln, opferte Bush die Menschenrechte und das Völkerrecht dem Sicherheitswahn und begann, die USA in einen Polizeistaat zu verwandeln.

Viele Amerikaner - und Europäer - haben dieses leviathanische Wesen der Regierung Bush zu spät erkannt. Dabei wurde bereits vor den Attentaten des 11. September 2001 deutlich, welch Geistes Kinder der Präsident und seine Berater waren. Gleich nach ihrem Amtsantritt 2001 ging die Bush-Administration mit böswilligem Furor gegen den neuen Internationalen Strafgerichtshof vor. Sie bedrohte befreundete Staaten in Europa und erpresste Länder der Dritten Welt, um zu vereiteln, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Den Haag geahndet werden. Schon da wurde deutlich, dass diese Regierung internationale Regeln verabscheute und keine Rücksicht auf Verbündete nahm.

Nach dem 11. September ließ Bush dann endgültig den Leviathan heraus. Er nutzte die Angst der Bürger, um sich zum Oberbefehlshaber im "Krieg gegen den Terror" aufzuschwingen. Unter seiner Führung wurden Verdächtige in aller Welt von Spezialkommandos eingefangen, zwischen Geheimgefängnissen hin- und hergeschoben, ohne Anklage jahrelang eingesperrt, in quälenden Stellungen gefesselt, mit Hunden bedroht, durch Schlafentzug, dröhnende Musik und grelles Dauerlicht zermürbt, mit Schein-Ertränkungen zu Aussagen gepresst. Die Bilder aus den Gefängnissen Abu Ghraib und Guantanamo entlarven, wie sehr Bushs Krieg ausgeartet war. Sie zeigen, wie dünn der Firnis der Rechtskultur sogar in einem Staat wie Amerika ist. Das muss allen Demokraten zu denken geben. Die Angst einer an Rundum-Versicherungen gewohnten Gesellschaft vor der dunklen Macht des Terrors kann blitzschnell demokratische Prinzipien und Menschenrechte untergraben.

Bis zum nächsten Anschlag

Der Verfassungsjurist Obama verheißt nun die Rückkehr zum Rechtsstaat. Er verspricht, Terroristen künftig in einer Weise zu bekämpfen, "die unsere Werte und unsere Ideale achtet". Wie ernst er es meint, wird der Umgang mit jenen Männern zeigen, die noch in Guantanamo eingekerkert sind. Die USA sollten all diejenigen, gegen die es Beweise für Terrortaten gibt, vor ordentliche Gerichte stellen, und die anderen freilassen. Bei der Aufnahme solcher Ex-Häftlinge sollten Staaten wie Deutschland Obama helfen - auch weil Guantanamo aus Sicht vieler Muslime ein Schandfleck für die gesamte westliche Welt ist, die das Folterlager ohnmächtig hingenommen hat.

An dieser Stelle rückt wieder das Terror-Szenario in den Blick. Was, wenn sich einige Freigelassene an Attentate machen? Müssen die Staaten da keine neuen rechtlichen Waffen schmieden? Sollten sie eine Vorbeuge-Haft einführen? Womöglich passen ja die bisherigen Regeln nicht auf global operierende Bewegungen wie al-Qaida. Terroristen, die kriegsähnliche Angriffe mit Hunderten Toten führen, sind mehr als nur gewöhnliche Straftäter. Da sie aber keinem Staat als Kämpfer zuzurechnen sind, greifen die Regeln des Kriegsvölkerrechts kaum.

Die Staaten könnten neue Regeln für den Umgang mit Terroristen festlegen. Sie könnte in einem völkerrechtlichen Pakt bestimmen, wann und wie lange Terrorverdächtige interniert werden dürfen. Gerichte müssten dann überwachen, dass solche Gefangene menschenwürdig behandelt und in angemessener Zeit freigelassen werden. Es ist ungewiss, ob ein solches Sonderrecht notwendig ist. Womöglich bewältigen die Staaten den Terror auch mit herkömmlichen Mitteln - etwa durch die Zusammenarbeit der Geheimdienste und durch eine ausgleichende Politik im Nahen Osten.

Eine Raison d'etre der Staaten ist es, für die Sicherheit ihrer Bürger zu sorgen. Allerdings ist diese Sicherheit kein Selbstzweck. Niemand möchte in einem Hochsicherheits-Bunker leben. Die Sicherheit soll vielmehr den Bürgern helfen, in Freiheit zu leben. Sicherheit und Freiheit durchdringen sich also - und geraten immer wieder in Konflikt. In Zeiten des globalen Terrorismus gilt das besonders. Viele Staaten schränken die Freiheitsrechte ein, um der Gefahr zu begegnen. Jede Gesellschaft hat sich dabei zu entscheiden, wie viel Sicherheit auf Kosten von wie viel Freiheit sie möchte. Dabei muss sie bedenken: Freiheit ohne Sicherheit führt zum Sieg der Feinde der Freiheit. Sicherheit ohne Freiheit führt dagegen in die Tyrannei.

Terroristen werden weiter versuchen, die Menschen in Schrecken zu versetzen, damit sie Gleiches mit Gleichem vergelten und so ihre Werte und ihre freiheitlichen Rechtsstaaten aufgeben. Amerika mit Barack Obama scheint das zu durchschauen. Wie weit diese Einsicht trägt, wird sich nach dem nächsten Anschlag zeigen. Jean-Jacques Rousseau meinte jedenfalls: "Mir ist die gefährliche Freiheit lieber als eine ruhige Knechtschaft."

Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo Anti-Terror-Strategie der USA im Ausland Regierung Bush: Grundsätzliches Regierung Obama: Grundsätzliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nicht totzukriegen

Marcia Haydée choreographiert "Schwanensee", den Ballettklassiker schlechthin

Der Prolog gehört der eigentlichen Hauptfigur dieses "Schwanensees", dem Zauberer Rothbart. Der Unhold hält bekanntlich in Schwäne verwandelte junge Mädchen gefangen, die er als Köder für unschuldige Männer einsetzt. Wer so einer Schwanenjungfer auf den Leim gegangen ist und sie nicht vor Rothbart zu erretten vermag, muss diese endgültig ihrem traurigen Schicksal überlassen und selbst sein Leben geben. Die Choreographin des Abends, Marcia Haydée, John Crankos einstige Primaballerina und Erbwalterin am Staatstheater Stuttgart, hat nun für das Königliche Ballett von Flandern in der Antwerpener Stadtschauburg das Ballettmärchen schlechthin mit Happy End choreographiert: Schwäne als rebellierende Phalanx, Rothbart tot, das Liebespaar vereint.

Die mal mit glücklichem, mal mit tödlichem Ausgang inszenierte Geschichte um den Prinzen Siegfried und dessen Liebe zum unglücklichen Schwanenmädchen Odette, uraufgeführt 1877, hatte seinen Durchbruch in der Petersburger Version von 1895, wobei Marius Petipa die so genannten bunten Akte I und III, Lew Iwanow hingegen die zauberischen weißen II und IV choreographierte. Diese Fassung gilt nach wie vor als Standard, als Basis für alle folgenden bis heute, wobei vor allem die gut überlieferten weißen Akte weitgehend unangetastet bleiben, egal ob der Choreograph Nurejew oder Cranko heißt.

"Schwanensee" erfreut sich ungebrochener Beliebtheit, es ist der Ballettklassiker schlechthin, beliebter noch als "Dornröschen" oder "Der Nussknacker" - wenn die Leute Ballett denken, dann denken sie "Schwanensee". Es ist wie mit Beatles-Songs oder mit Beethovens Fünfter: Jeder fühlt sich berufen, mitzureden und weiß sofort, um was es geht. Das Stück selbst steht für das Genre.

Interpretationsversuche gab es viele. Tiefenpsychologische Gründler wie Mats Ek haben gefragt, warum sich der Prinz keine richtige Frau, sondern ein Geisterwesen sucht. Diese Frage veranlasste John Neumeier dazu, in der Figur des Prinzen König Ludwig II. zu spiegeln. Der Engländer Matthew Bourne ging noch weiter, ließ in seiner herzzerreißenden Version die Schwäne von Männern tanzen, als glatzköpfiges unerlöstes Federvieh mit gebrochenen Flügeln, das auf seinen schwulen Prinzen wartet.

Derart gleichermaßen tiefschürfende wie naheliegende Assoziationen interessieren den wahren "Schwanensee"-Liebhaber nur am Rande. Das empörende Moment der von Rothbart inszenierten Täuschung, dem Prinzen statt der anrührenden Odette die kaltschnäuzige Odile zuzuführen und ihn dadurch zum vermeintlichen Treuebruch zu verführen; der hintergründige Reiz, der in der Doppelrolle der Odette/Odile, also im Gegensatz des weißen und des schwarzen Schwans liegt, gepaart mit den Bravour-Nummern der Solisten, gipfelnd in den 32 Fouettés, den geschlagenen, möglichst auf der Stelle gedrehten Pirouetten der Odile, die jeder Kenner mitzählen kann - diese Mischung aus unartikulierten archetypischen Phantasien und stupender Technik, aus großen Gefühlen und phantastischen Tableaux, übt eine sich ununterbrochen selbst erneuernde Faszination aus, ohne dass das Stück wesentlich erneuert werden müsste oder könnte.

Bis zum Siegeszug des Tanztheaters in der deutschen Provinz wurde jede Ballettkompanie unausgesprochen daran gemessen, ob sie genügend Mädchen im Corps hatte, einen "Schwanensee" aufzuführen, 14 plus Solistin als Odette/ Odile mussten es mindestens sein. "Schwanensee" lautet nach wie vor das heimliche Todschlagargument zahlungsunwilliger Kulturämter, wenn es darum geht, publikumsfeindlicher Avantgarde Subventionen zu verweigern. "Schwanensee" heißt der Magnet, der auch 2009 volle Häuser und ausverkaufte Stadien wie die Münchner Olympiahalle garantiert, egal ob eine mindere Tänzergarde russischer Provenienz damit durch die Lande tingelt oder chinesische Akrobaten die Virtuosität der danse d'école als Basis für ihren "Schwanensee"-Zirkus nehmen.

Verbeugung vor Neumeier

Abgesehen von solchen Spektakeln ist eine geglückte "Schwanensee"-Aufführung noch immer der Ausweis einer jeden klassischen Ballett-Truppe, die etwas auf sich hält. Und so überrascht es nicht, dass Marcia Haydée, die berühmte Menschengestalterin des Tanzes, sich mit nunmehr 71 Jahren auf dieses Werk stürzt, um noch einmal eine ihrer wenigen abendfüllenden Choreographien vorzulegen (gerade mal ein halbes Dutzend dürften es sein). Nach "Dornröschen" und "Giselle" vollendet sie mit "Schwanensee" den Dreiklang der bedeutensten Stücke der Ballettliteratur - entsprechend groß war die Erwartung.

Intellektuelle Mätzchen sind Haydées Sache nicht. Es choreographiert die Tänzerin in ihr, die gefeierte, hochdramatische Ballerina, bemüht um größtmögliche Präsenz und Wirkung. Ihr Zauberer Rothbart herrscht in einem undurchdringlichen Dschungel, eine Mischung aus Vogel und Reptil, dabei unwiderstehlich elegant mit seinen schlängelnden Bewegungen, ein lockendes Urgetüm.

Man kennt das von Marcia Haydée. Schon in ihrem "Dornröschen" wertete sie die zentrale Pantomime zum vollwertigen Tanzpart auf, machte aus der bösen Fee Carabosse eine unvergessliche Charakterstudie für ihren einstigen langjährigen Partner Richard Cragun. Ihr Rothbart changiert nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Tier und Mensch, ein vegetabiles Wesen mit animalischem Eros. Dagegen stinkt jeder Prinz naturgemäß ab. Bei Haydée hat er auch noch eine äußerst attraktive Frau Mutter, gegen die seine Bräute in spe erst einmal ankommen müssen. Sie tanzt zum Geburtstag den weit ausschwingenden Eröffnungswalzer mit ihrem Siegfried, keine ältere Dame wie sonst, sondern Sisis Schwester mit ihrem juwelen-bestirnten Wallehaar. Soweit Haydées Verbeugung vor John Neumeier, der einst große Rollen für sie kreierte. John Crankos Witz stand Pate beim Divertissement des ersten Aktes, wo sich die gern in Kreisen oder Diagonalen zu Vierergruppen platzierten Tänzerinnen und Tänzer in weinseligen Taumel tanzen.

Sie feiern ausgelassen die bevorstehende Volljährigkeit ihres Prinzen, eines leutseligen Zeitgenossen mit unergründlich melancholischen Momenten. Man schwelgt in prächtigem Ausstattungsüberfluss, in Samt und Seide, schwer fallend und zart flatternd, pflaumenfarben, ockergelb, grün, der Prinz in kleidsamem Petrol. Er springt zum Entré ein paar Grands jetés en manège, buchstäblich ein Bruder Leichtfuß, und begibt sich gegen Ende des Umtrunks mit der Armbrust arglos zur Schwanenjagd.

Bis dahin kam man aus dem Schauen nicht heraus, berauschte sich am Augenschmaus, an temperamentvollen und flüssigen Ensembleszenen. In den uninspirierten Volkstänzen, mit denen sich im dritten Akt die Bräute vorstellen, kam dann weit weniger Freude auf. Das lag zum einen am nicht immer harmonischen Arrangement von Tschaikowskys Nummern, Brüche, die die astrein intonierenden Brüsseler Philharmoniker und das Flämische Rundfunkorchester unter der entschiedenen Leitung von Benjamin Pope nicht überspielen konnten.

Und was sich im zweiten, weißen Akt bereits angedeutet hatte, bestätigte sich nun: Die Frauen im Corps de ballet können keine geraden Linien halten, sind zu wenig synchron, was unerlässlich ist für die frappierende Wirkung perfekt symmetrisch angelegter Bilder. Was man in Antwerpen forciert bejubelte, bewegte sich letztlich auf einigermaßen solidem Stadttheaterniveau. Beim "Schwanensee" aber erwartet man Tanz in Vollendung. EVA-ELISABETH FISCHER

Der "Schwanensee" ist so beliebt und ausgereizt wie "Beatles"-Lieder oder Beethovens Fünfte. Das kann man mit Spektakel überspielen, oder mit wahrer Meisterschaft - einen Mittelweg gibt es nicht. Foto: Aki Saito

Haydée, Marcia Theaterszene in Belgien Schwanensee SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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HEUTE

FEUILLETON

Der Moment davor und danach

Der Fotograf Paul Graham rückt Verlierer in einen neuen Blickwinkel Seite 12

LITERATUR

Hintern im Mondlicht

Über die neue Mode und den großen Markt der Mädchensexbücher Seite 14

MEDIEN

Panik auf dem Klüngelberg

Alexander Wrabetz hat den ORF in die bislang tiefste Krise geführt Seite 15

www.sueddeutsche.de/kultur

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NACHRICHTEN AUS DEM NETZ

Das Anstehen entstammt jener vordigitalen Epoche, in der ein Mangel an Gütern herrschte. Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit sind Waren auf bloße Informationen zusammengeschrumpft und lassen sich beliebig oft vervielfältigen. Schlangen gibt es im Internet daher nur selten und wenn, dann weil die Serverkapazitäten begrenzt sind, also zu viele Leute an der virtuellen Warenausgabe stehen, um sich ihre Daten abzuholen.

Vor ein paar Tagen zum Beispiel konnte man sich vor den Toren des zuletzt etwas schläfrig wirkenden Softwareriesen Microsoft die Beine in den digitalen Bauch stehen. Microsoft hatte angekündigt, eine kostenlose Testversion des Betriebssystems Windows 7 auf den Markt zu werfen, das Ende des Jahres in die Läden kommen soll. Kleiner Haken: Nur die ersten zweieinhalb Millionen in der Schlange sollten zum Zuge kommen. An einer globalen Warenausgabe ist das eine verschwindend geringe Zahl. Erwartungsgemäß löste diese künstliche Verknappung also einen solchen Ansturm aus, dass die Microsoft-Server zusammenbrachen.

Das liegt auch daran, dass sich im Internet eben nie so recht eine Kultur des Anstehens herausgebildet hat. Aus der ehemaligen DDR wird berichtet, dass man sich irgendwo anstellte, einfach nur weil man eine Schlange sah; vielleicht gab es etwas Brauchbares. Das kann einem im Internet nicht passieren, man sieht die anderen nicht. Das Internet ist eben ein Medium der Vereinzelung . Stellt man sich irgendwo an, kann man umgekehrt auch nicht sehen, ob da nicht schon eine wilde Meute sich um die besten Plätze prügelt.

Hinzu kommt nämlich, dass es auch an den Techniken eines ordentlichen Schlangestehens fehlt, jedenfalls bei Microsoft. Die Leute wurden zwischen digitalen Absperrgittern eingereiht, sondern der Erste und der Letzte bildeten mit all den Anderen ein chaotisches Knäuel , von dem aus ein Dauerbeschuss auf Microsoft ausging. Das ist nicht zuletzt auch das Ergebnis einer spezifischen Mentalität: Das Internet ist ein Medium der ständigen Verfügbarkeit . Alle Inhalte werden zum sofortigen Gebrauch angeboten, auf den ersten Klick öffnet sich die begehrte Seite, der Livestream, der Download. Bei Versagungen neigt man daher dazu, auf Dauerfeuer zu stellen, also bis zu fünfzig oder sechzig Anfragen in der Minute einzugeben, als würde sich dann irgendwo eine digitale Lücke auftun, durch die man schlüpfen kann. Mit dem Ergebnis, dass sich die Anfragen der ohnehin schon Vielen ins Unendliche vervielfältigten. Es wäre anders möglich gewesen. Auf Computerbase.de , wo es das Programm ebenfalls gab, wurde ordentlich angestanden. Jeder bekam einen nummerierten Platz in der Schlange zugewiesen.

Die geradezu sozialistische Utopie des Schlangestehens ist allerdings das peer-to-peer Verfahren, das im legalen Graubereich des privaten Datentauschs gebräuchlich ist. Bei Bittorrent etwa, wo Windows 7 auch bald auftauchte, werden knappe Serverkapazitäten überwunden, indem jeder Empfänger eines Datenpakets auch Sender des Pakets wird. Je mehr Leute also in der Schlange stehen, umso schneller kommt man an das Paket - ein real existierendes Schneeballsystem. Oder aber man gehört zu den Leuten, die sich sowieso immer an den Schlangen des Lebens vorbeimogeln. Wer in den richtigen Blogs unterwegs war, konnte tatsächlich geheimen Hintertüren zum gefragten Download aufgezeigt bekommen, denn auch das Internet hat seine Schleichwege.

Auf dem normalen Weg jedenfalls wurde vorerst nichts mehr verbreitet, bis auf eben jene schlechte Nachricht, dass die Microsoft-Server zusammengebrochen waren. Das wurde von manchen Medien hämisch kommentiert, wobei man allerdings übersah, dass die eigentliche Botschaft der ganzen Geschichte natürlich die unglaublich hohe Nachfrage war.

Bleibt die Frage, wer eine unausgereiften Testversion haben will, die nur ein paar Monate lang funktioniert? Neben den überzeugten Windowsfans - auch die gibt es nämlich - dürften das die Windowsgegner sein. Die wollen Windows 7 zwar benutzen, aber nicht dafür zahlen. Dass die Version ab August 2009 nicht mehr funktioniert, stört da wenig. Angeblich lässt sich das nämlich umgehen, indem man einfach das Datum zurückstellt - am besten zurück in jene Zeit, in der es noch ein Anstehen gab. JEAN-MICHEL BERG

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Tragödie Qimonda

Die staatliche Förderung der Chipindustrie war ein Fehler - das Abenteuer muss beendet werden

Von Karl-Heinz Büschemann

Das kann heiter werden für die Bundesregierung. Sie schaut zu, wie der Chiphersteller Qimonda pleitegeht, und debattiert zugleich ein neues Rettungspaket für die Banken. Sie lässt ein High-Tech-Unternehmen mit 13 000 Beschäftigten untergehen, obwohl sie in der Finanzkrise längst Pläne ausgebrütet hat, auch angeschlagene Industrieunternehmen zu retten. Die Politiker, die Qimonda nicht helfen wollen, weil das Unternehmen die Tragfähigkeit seines Geschäftsmodells "nicht hinreichend darlegen" konnte, dürfen sich auf heftige Kritik einstellen. Zumindest die betroffenen Mitarbeiter werden ihr vorwerfen, mit unterschiedlichen Ellen zu messen.

Die Bundesregierung und die betroffenen Landesregierungen von Bayern und Sachsen tun aber gut daran, bei ihrer harten Haltung zu bleiben und kein Geld für Qimonda auszugeben. Die Sache ist zu aussichtslos. Die Wahrscheinlichkeit, dass die meist anspruchsvollen Arbeitsplätze in dem Unternehmen, das früher mal ein Teil von Siemens war, noch zu retten sind, ist zu gering. Dazu haben die Manager bei Qimonda und bei der heutigen Muttergesellschaft Infineon zu viele Fehler gemacht. Die globalen Konkurrenten sind ihnen haushoch überlegen, und zum Dritten ist das weltweite Chip-Geschäft so massiv von Subventionen der Regierungen beherrscht, dass von einem funktionierenden Wettbewerb nicht die Rede sein kann.

Es ist tragisch für die betroffenen Qimonda-Beschäftigten. Aber ihre Arbeitsplätze hatten nie eine Zukunft. Sie waren der Traum von Politikern wie Managern und konnten überhaupt nur mit Staatshilfen geschaffen werden. Allzu bereitwillig gingen die Politiker auf die Forderung des Siemens-Konzerns ein, der Mitte der achtziger Jahre das Wettrennen um die Chiptechnologie aufnehmen wollte. Die pfiffigen Konkurrenten hatten längst einen riesigen Vorsprung und die Manager des größten deutschen Technologiekonzerns fürchteten das hohe Risiko. Damals ging die Furcht vor den aggressiven Japanern um, die angeblich in allen wichtigen Technologien die Führung anstrebten. Es gehe um die Zukunft des Technologiestandortes Deutschland, hieß es.

Die klugen Rechner von Siemens begriffen aber schnell, dass sie in diesem Geschäft keine Chance hatten. Sie drehten das aussichtslose Chip-Geschäft unter dem Namen Infineon für viel Geld der Börse an, auch Kleinaktionären. Es durfte niemanden überraschen, dass dieser Neuling bald Schiffbruch erlitt. Frech war nur, dass Infineon den alten Trick erneut versuchte und die marode Speicher-Sparte als die Tochter Qimonda noch einmal abspaltete, die jetzt pleite ist.

Der Fall Qimonda belegt, dass es sinnlos ist, mit staatlichen Subventionen Arbeitsplätze zu schaffen, die ein Unternehmer nie kreieren würde, auch wenn es High-Tech-Jobs sind. Das funktioniert so gut wie nie. Der große Irrtum der achtziger Jahre ist auch durch weitere Staatshilfen nicht mehr zu korrigieren.

Qimonda AG: Konkurs Halbleiter-Fertigung in Deutschland Subventionen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ex-Finanzvorstand der Hypo Real Estate klagt gegen Rauswurf

Markus Fell geht gegen seine fristlose Kündigung vor Gericht. Das könnte die Aufklärung des Milliarden-Desasters beschleunigen

Die Hypo Real Estate (HRE), Deutschlands schlimmste Krisenbank, wird in diesen Tagen mit Klagen überhäuft. Gut 60 Anleger fühlen sich geprellt und wollen einen Teil des Geldes zurück, das sie in Aktien der Immobilienbank investiert haben. Sie haben sich an das Münchner Landgericht gewandt. Dort soll in der nächsten Woche eine weitere Klage vorliegen, in der es um einen besonders heiklen Fall geht. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung geht der kurz vor Weihnachten vom Aufsichtsrat gefeuerte, bisherige Finanzvorstand Markus Fell jetzt juristisch gegen seine fristlose Kündigung vor. Fell und sein Münchner Anwalt Knut Müller wollten sich dazu am Freitag nicht äußern.

Ob auch der frühere Vorstandschef Georg Funke gegen die HRE vor Gericht zieht, war nicht in Erfahrung zu bringen. Funke hatte nach großen Finanznöten der Bank im Oktober 2008 seinen Posten aufgegeben. Ende des Jahres schob der Aufsichtsrat dann eine fristlose Kündigung nach. Die HRE braucht, um überleben zu können, mehr Hilfen als jede andere Bank in Deutschland. Die Kreditlinien und Garantien, für die vor allem der Staat geradesteht, betragen inzwischen 92 Milliarden Euro.

Die HRE wirft dem früheren Finanzvorstand Fell dem Vernehmen nach vor, für eine zu riskante Geldpolitik bei der Tochterbank Depfa in Irland mitverantwortlich gewesen zu sein und die Strategie nicht rechtzeitig geändert zu haben, als sich die Weltfinanzkrise immer weiter zuspitzte. Das deckt sich mit der vorläufigen Einschätzung der Münchner Staatsanwaltschaft, die wegen diverser mutmaßlicher Gesetzesverstöße gegen Funke, Fell und alle anderen Alt-Vorstände sowie gegen Ex-Aufsichtsratschef Kurt Viermetz ermittelt. Dabei geht es auch um die Tochterbank Depfa, die viele Milliarden Euro langfristig an Staaten in aller Welt verliehen hat, oft für zwei bis drei Jahrzehnte.

Die Mittel für diese Kredite hat sich die Depfa ihrerseits in der Regel nur kurzfristig bei anderen Banken besorgt. Nach dem Zusammenbruch des US-Instituts Lehman Brothers Mitte September liehen sich die Banken untereinander aber kaum noch Geld, diese Strategie ging nicht mehr auf. Die HRE stand wegen der Finanznöte bei der Depfa vor dem Kollaps und musste von anderen Banken und vor allem vom Bund gerettet werden, um einen Zusammenbruch des deutschen Finanzsystems zu verhindern.

Fell will vor Gericht darlegen, dass die Vorwürfe nicht zutreffen und er zu Unrecht gefeuert wurde. Das könnte die Aufklärung der Vorgänge bei der HRE beschleunigen. Bis die Staatsanwaltschaft zu abschließenden Ergebnissen kommt, dürfte es angesichts der komplizierten Materie viele Monate, wenn nicht gar ein oder zwei Jahre dauern. Über Fells Klage wird wohl deutlich schneller verhandelt, was sicher ganz im Sinne des Managers wäre. Er ist erst 44 Jahre alt, jung genug also für weitere Jobs. Fell hatte 1989 bei der Bayerischen Vereinsbank begonnen, wo er 1995 zum Vorstandsassistenten aufstieg. Nach der Fusion zur Hypo-Vereinsbank (HVB) machte er dort weiter Karriere. Aus der HVB ging schließlich die HRE hervor. Klaus Ott

Markus Fell weist die Vorwürfe zurück, die zu seiner fristlosen Kündigung führten. Foto: Action Press

Fell, Markus Hypo Real Estate: Rechtliches HVB Real Estate Bank: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wenn ein Schläger zum V-Mann wird

Er galt als spielsüchtig und gewalttätig, dennoch heuerte das Landeskriminalamt in Mainz Talib O. als Mitarbeiter an - jetzt ist er wegen dreifachen Mordes angeklagt

Von Bernd Dörries

Frankenthal - Im Sommer 2007 bauten Beamte des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz heimlich einen kleinen Kasten in den Motorraum eines weißen Ford Escort ein und schlossen ihn an die Autobatterie an. Der Kasten war ein GPS-Sender, von außen nicht zu erkennen, der den Fahndern im LKA immer mitteilen sollte, wo sich ihr V-Mann Talib O. befindet. Alle dreißig Sekunden sollte der Sender den Aufenthaltsort des Ford nach Mainz funken, samt der Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Talib O. galt als schwieriger Geselle, spielsüchtig und verschuldet. Ein Gewalttäter und Schwindler. Da schien es ratsam zu sein, wenn man weiß, wo sich sein Auto und er gerade aufhalten.

Der Sender funktionierte aber nur wenige Wochen, dann bekam er nur noch unregelmäßig Strom. Zuerst ging der GSM-Sender kaputt, der die Daten über das Handy-Netz verschicken sollte. Danach die Einheit, die den Aufenthaltsort speicherte. Es dauerte aber noch ganze vier Monate, bis es im Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz jemanden auffiel, dass man den Kontakt zu einem V-Mann verloren hat, der als einer der wichtigsten und labilsten der Behörde galt. Man merkte es erst, als Talib O. im Februar 2008 wegen dreifachen Mordes gesucht wurde.

Seit Anfang November wird nun vor dem Landgericht Frankenthal gegen den 40-Jährigen und einen mutmaßlichen Mittäter verhandelt, gegen Ahmed H., einen 26-jährigen Somalier, den er seit Jahren bespitzelte, weil dieser Kontakte zu Islamisten gehabt haben soll. Beide sollen, so die Anklage, am 30. Januar 2008 drei georgische Autohändler umgebracht und ihnen etwa 10 000 Euro gestohlen haben. Talib O. soll den Georgiern einen Mercedes zum Kauf angeboten haben, der aber nie wirklich existierte. Beide Angeklagten bestreiten die Tat und beschuldigen den jeweils anderen. Talib O., der V-Mann, den das LKA Mainz auf die Islamisten-Szene angesetzt hatte, erzählt eine besonders seltsame Geschichte. Der Somalier Ahmed H. sei mit den Georgiern in Streit geraten, weil einer ein großes orthodoxes Kreuz um den Hals getragen habe, dann seien plötzlich zwei vermummte Islamisten aufgetaucht, zusammen hätten sie die drei georgischen Christen umgebracht. Gotteskrieg in Rheinland-Pfalz. Es klingt wie ein Märchen aus 1001 Nacht.

Ein Leben vom LKA

Mindestens so interessant wie die Frage, wer die drei Georgier ermordet hat, ist vor dem Landgericht Frankenthal aber die, wie Talib O. überhaupt ein V-Mann des LKA Mainz werden konnte. Warum er als so wichtig eingeschätzt wurde, dass die Fahnder ihm ein neues Leben in Deutschland verschafften: einen deutschen Pass, den Führerschein, die Gewerbeerlaubnis und auch den weißen Ford Escort mit dem Sender. Wenn das LKA ihn nicht angeheuert hätte, wäre Talib O. wohl schon längst nicht mehr im Land. Und es gäbe aller Wahrscheinlichkeit nach keine drei toten Georgier.

Im Jahr 1996 kommt O. mit seiner Frau nach Deutschland, er stellt einen Asylantrag, behauptet, er werde im Irak politisch verfolgt. Sein Antrag wird abgelehnt, abgeschoben wird er aber nicht. Im Jahr 2001 wirbt ihn das Polizeipräsidium Ludwigshafen als V-Mann an, die Arbeitsbeziehung dauert aber nur wenige Monate, weil Talib O. zu wenig liefert. Zwei Jahre später bietet Talib O. seine Dienste den Ermittlern des LKA Mainz an.

Die Fahnder dort wussten wohl recht genau, wenn sie da beschäftigten, wem sie einmal mehr als 4000 Euro im Monat zahlten. Mindestens dreimal ermittelt die Staatsanwaltschaft während seiner Tätigkeit gegen Talib O. Einmal zeigt ihn seine Ex-Frau wegen Körperverletzung an. Es gibt Vorwürfe wegen Schleusertätigkeit und Passfälschung. Dennoch setzt sich das LKA noch 2007 für seine Einbürgerung ein. Und hilft beim Führerschein, der Talib O. davor immer wieder verweigert worden war. Mal wegen seiner Aggressivität, mal weil er einen Prüfer bestechen wollte. "Das jahrelange Zusammenwirken von LKA Rheinland-Pfalz mit einem mutmaßlichen Mörder lässt insgesamt das Bild einer unsäglichen Symbiose entstehen", sagt Gerhard Härdle, der Anwalt des Mitangeklagten Ahmed H.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Lebensläufe von V-Männern nicht gerade für eine Bewerbung für die mittlere Beamten-Laufbahn eignen. Im Fall von Talib O. stellt sich aber doch die Frage, ob er jemals hätte beschäftigt werden dürfen. Und wie mit einem Wagen des LKA Mainz drei Leichen abtransportiert werden konnten.

In vielen anderen Bundesländern hätte ein solcher Vorfall wohl zu einem ziemlichen Skandal auf politischer Ebene geführt. In Mainz aber stellt kaum jemand unbequeme Fragen. In einer vertraulichen Sitzung des Innenausschusses informierte Innenminister Karl-Peter Bruch (SPD) die Fraktionen am 3. März 2008 über Talib O. Dieser sei ein wichtiger Kontaktmann zu Islamisten-Szene gewesen, berichtete Bruch und bat um Verschwiegenheit. Seitdem schweigen alle Parteien.

Vielleicht ist die Erregungsschwelle in Rheinland-Pfalz einfach höher als anderswo. Die CDU hat genug eigene Affären am Hals. Die Polizei steht wegen eines Abhörskandals in Landau ohnehin in der Kritik, wo sie Telefonate zwischen einem Verdächtigen und seiner Verteidigerin belauschte. Zumindest die FDP hat nun eine kurze Anfrage an die Landesregierung gestellt, als bekannt wurde, dass der GPS-Sender des V-Mannes über Monate nicht funktionierte. "So kann man doch gar nicht pennen, dass einem ein solcher Defekt nicht auffällt", sagt der innenpolitische Sprecher der Liberalen, Thomas Auler. Er war selbst jahrzehntelang bei der Polizei und kennt sich aus V-Männern. "Das ist immer ein heikler Bereich. Im Fall Talib O. ist aber vieles schiefgelaufen." Bevor O. V-Mann wurde, erwischte man ihn 1999 bei einem Ladendiebstahl. Mit den eintreffenden Polizisten lieferte er sich eine wilde Schlägerei und entwendete ihnen die Waffen. Später durfte er für die Polizei arbeiten.

Fahnder des LKA verweisen darauf, dass Talib O. gute Kontakte zu führenden deutschen Islamisten hatte. Auch sein Anwalt Stefan Allgeier sagt, seine Erkenntnisse führten "von Ulm bis ins Sauerland". Talib O. soll schon früh Kontakte zu der Ulmer Islamisten-Szene gehabt haben, zum Arzt Yehia Yousif, der als Hassprediger den Boden für eine ganze Generation von Gotteskriegern schuf, darunter Fritz Gelowicz, dem Ulmer Mitglied der Sauerland-Bomber. Auch Attila S. soll der mutmaßliche Mörder Talib O. gekannt haben, der der Sauerland-Gruppe die Zünder für ihre Bomben beschafft haben soll. Nachprüfen lässt sich das schwer, weil das LKA Mainz alle wichtigen Akten gesperrt hat. Ende Januar ist der V-Mann-Führer als Zeuge vor Gericht geladen. Die Verteidiger befürchten, dass seine Aussagegenehmigung nicht sehr weit reichen wird. Das Innenministerium in Mainz möchte zu dem Fall keine Stellung nehmen.

Der Sauerland-Gruppe waren die Ermittler über Jahre so nah, wie keiner sonst, jedes Gespräch wurde abgehört, dazu brauchte es keinen Talib O. Die Frage wäre ohnehin, wie er sich mit den Islamisten aus Ulm überhaupt verständigen wollte. Vor Gericht ist sein Deutsch so schlecht, dass er einen Dolmetscher braucht. Aber vielleicht ist das auch wieder nur so ein Trick im Leben von Talib O. Eine der vielen Geschichten.

Er lieferte sich 1999 eine wilde Prügelei mit Polizisten, wenig später arbeitete er für die Staatsmacht: Talib O., ein gebürtiger Iraker, sollte Informationen aus der Islamistenszene liefern. Nun steht er vor Gericht. Der Vorwurf: Er habe mit einem Komplizen drei Autohändler getötet. Foto: dpa

Verdeckte Ermittler Mordfälle in Deutschland Innenpolitik von Rheinland-Pfalz SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Tanz der Teufel

Soll der Staat seine Bürger vor NS-Dokumenten beschützen?

Bayern im Januar 2009. Am vergangenen Donnerstag verteilte der englische Verleger Peter McGee trotz Verwarnung und zum zweiten Mal ohne Erlaubnis den kompletten Nachdruck einer NS-Zeitung aus dem Jahr 1933 an 40 000 deutsche Zeitschriftenhändler. Am Freitag trat der Freistaat Bayern in Aktion. Der hält bis heute die Nutzungsrechte des Eher-Verlags, in dem in den zwanziger Jahren und während der NS-Zeit Nazizeitungen wie der Völkischer Beobachter, Der Angriff und Das Schwarze Korps, sowie Adolf Hitlers "Mein Kampf" erschienen. Alle im Handel befindlichen Faksimiles des Völkischen Beobachters seien sofort zu beschlagnahmen, hieß es, was zumindest in der Landeshauptstadt am Wochenende noch nicht vollständig gelang.

Nun können Wörter Dämonen zum Leben erwecken, das weiß jeder Horrorfilmfan. In Sam Raimis berühmter "Tanz der Teufel"-Reihe muss Bruce Campbell als Zombiejäger Ash oft gegen Wörter kämpfen, die in bösen alten Büchern wohnen. Vom "Necronomicon ex mortis" heißt es im dritten Teil, dass seine Leser mit den richtigen Beschwörungsformeln Dämonen wachrufen können. Im Film reicht Ash eine Kettensäge, um die "Armee der Finsternis" zu bezwingen. In der Wirklichkeit sind Dämonen nicht so schnell klein zu kriegen. Die Zeitungsverkäuferin am Münchner Hauptbahnhof meinte am Samstag zwar sehr mürrisch, "das Ding" sei bereits komplett eingestellt worden sei. Doch an vielen Kiosken lag es noch aus. "Das ist das, worüber geschrieben wird, nicht?", fragte ein Schwabinger Tabakhändler konspirativ. Genau. "3,90, bitte." Danke.

Auch gegen McGee wird ermittelt. Der Verleger, ließen die Verwaltungsjuristen wissen, habe in seinen Zeitungszeugen Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet und gegen das Urheberrechtsgesetz verstoßen. Der Publikation lagen jeweils drei Faksimiles bei, darunter jedes Mal ein NS-Blatt; erst Joseph Goebbels Angriff, nun der Völkische Beobachter, das "Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands". In der neuen Ausgabe findet man außerdem noch ein Plakat, mit dem die NSDAP den Reichstagsbrand zum Wahlkampfthema erklärte.

McGee ist da in eine Debatte geraten, die schon seit Jahren tobt, meist um die Wiederveröffentlichung von "Mein Kampf". Der Verleger hat den Konflikt kommen sehen und sich bereits vor Monaten Rechtsbeistand gesucht. Er werde nicht klein beigeben, sagte er der SZ, sich notfalls durch alle Instanzen für sein Projekt klagen. Ähnlich entschlossen klingen seine Gegner. Mit der Frage der Legalität der Nachdrucke wird sich wohl schon bald ein Gericht befassen, wahrscheinlich in München und hoffentlich öffentlich. Bleibt die Frage der Legitimität: Darf die deutsche Gesellschaft zulassen, dass man NS-Publikationen wieder eins zu eins am Kiosk kaufen und lesen kann? Denn darum geht es wirklich.

Der dünne Mantelteil von McGees Zeitungszeugen, in dem Wissenschaftler die beigelegten Faksimiles kritisch aber knapp kommentieren, ist schnell entfernt - darauf haben McGees Kritiker zu Recht hingewiesen. Ein kompletter Nachdruck, der einfach entnommen werden könne, beinhalte aber eine Missbrauchsgefahr, "die nicht akzeptiert werden kann", schrieb Bayerns Finanzministerium, das die Verlagsrechte für den Freistaat verwaltet. "Nicht viel mehr als ein Briefumschlag fürs Nazi-Dokument", empörte sich ein Rezensent in der FAZ, dem die Sache so "hautnah" ging, dass er das bürgerliche (Deutsche Allgemeine Zeitung) und das kommunistische (Der Kämpfer) Dokument in demselben Umschlag glatt zu erwähnen vergaß.

Die Debatte hinter der Debatte über McGees Zeitungszeugen aber handelt von der Frage, ob sich die Deutschen noch vor ihrer Vergangenheit beschützen müssen. Es geht dabei nicht um einen Briten, der mit betriebswirtschaftlichem Kalkül ein deutsches Verbot ignorieren wollte. Es geht um das ganze alte Zeug: Nazi-Presse, Nazi-Bücher, Nazi-Poster, sogenannte "Vorbehaltsfilme" wie "Jud Süß" oder "U-Boote westwärts!" und natürlich das deutsche Necronomicon schlechthin: Hitlers "Mein Kampf". All das ist nicht verboten, aber bis heute auch nicht richtig erlaubt. Ein Buch wie "Mein Kampf" darf man besitzen, neu auflegen darf es aber hierzulande noch bis zum 31. Dezember 2015 keiner. Ein antisemitisches Propagandawerk wie "Jud Süß" darf man sich ansehen, aber nur in geschlossener Gesellschaft und nach einem kritischen Vortrag.

Die Frage nach dem Sinn solcher Vorsichtsmaßnahmen wurde so oft gestellt, dass viele der alten Diskutanten in diesen Tagen nur noch matt abwinken. Doch vielleicht ist das geplante Zeitungszeugen-Verbot ja genau der richtige Anlass, um noch einmal grundsätzlich über böse deutsche Wörter und den richtigen Umgang mit ihnen zu diskutieren. Heute, wo die alten Nazis fast alle tot sind und ihre nationaldemokratischen und rechtsautonomen Wiedergänger allem staatlich subventionierten Antifaschismus zum Trotz in zwei Parlamenten sitzen und in Teilen Mittel- und Ostdeutschlands eine selbstbewusste Mehrheitskultur ausgebildet haben. Da fragt sich schon, ob der alte, wohlmeinende Paternalismus antidemokratische, juden- und fremdenfeindliche Strömungen wirklich aufhält oder am Ende gar befördert.

Der Verweis auf das Internet mag albern wirken, aber wer weiß, über was für Kommunikationsmittel die Damen und Herren der bayerischen Verwaltung verfügen, die offenbar immer noch glauben, sie könnten einer "ungefilterten Verbreitung" alter NS-Propaganda "in nationalsozialistischen Kreisen" vorbeugen. "Mein Kampf" kann sich jeder Interessierte ohne langes Suchen runterladen, dafür gibt sogar einen Link bei der englischen Wikipedia. Filme wie "Jud Süß" sind in Videoportalen abrufbar, meist führt schon einer der ersten Treffer bei Google dorthin.

Dem Freistaat gehe es um den Respekt vor den Opfern des Holocausts, stand in einer Pressemitteilung des bayerischen Finanzministeriums. Für diese seien Neuveröffentlichungen von NS-Hetzblättern "immer wieder ein Affront". Das klingt nobel, ist aber zynisch. Denn demnach hätte der Freistaat nur Respekt vor noch lebenden Opfern des Naziterrors. Was, will man fragen, wenn der letzte Holocaust-Überlebende verstorben ist, also kein Affront mehr droht? Dürfen die Druckmaschinen dann wieder angeworfen werden? Weiter, schreiben die Juristen, werde das Verbot "seit Jahrzehnten im In- und Ausland begrüßt und unterstützt". Wenn das mal noch stimmt. In Israel gibt es Mein Kampf inzwischen sogar auf Hebräisch.

Auch in diesen Tagen hat das Ausland wenn überhaupt, dann gelassen auf die alten NS-Blätter reagiert. "Deutsche kaufen Nazi-Nachrichten-Nachdrucke" stand vergangene Woche etwa in der Taiwan News, gefolgt von einem sehr sachlichen Bericht. Eine angehende deutsche Lehrerin bezeichnete die Nachdrucke darin als sinnvolles Unterrichtsmaterial, mit dem sie ihren Schülern zeigen könne, "wie die Originale wirklich aussahen"; ein Argument, dass der Verleger und sein wissenschaftlicher Beirat bereits bei der Vorstellung der Zeitungszeugen am 7. Januar in Berlin vortrugen.

In einem dringlichen Appell an den Freistaat, sein Verbot zu überdenken, haben die Wissenschaftler ihre Überzeugung noch einmal bekräftigt: "Nur wer Hitlers Hassreden oder Goebbels Hetztiraden nachgelesen, ja möglichst gehört und gesehen hat, kann sich ein einigermaßen authentisches Bild über den Weg in die schlimmste Katastrophe der Geschichte der Neuzeit machen", schrieben Historiker wie Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Barbara Distel, langj hrige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau und der weltweit geachtete Geschichtsgelehrte Hans Mommsen. Ein strenger Verschluss führe zum Gegenteil dessen, was der Freistaat anstrebe - zur "Mystifizierung und Überhöhung der NS-Propaganda". Erst das Etikett "böse und gefährlich" mache das Material für die extreme Rechte attraktiv.

Wozu solche Verbote führen, zeigte zuletzt das Beispiel "Thor Steinar". Als die ersten Mützen und T-Hemden der Kleidungsmarke vor sieben Jahren im Versandhandel angeboten wurden, trugen sie ein Logo, das aussah wie eine horizontale Wolfsangel mit einem Pfeil darüber. Wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (die vertikale Wolfsangel mit Querstrebe war das Zeichen des Deutschen Jungvolkes) wurde das Logo verboten - und Thor Steinar zur beliebtesten Marke autonomer Nationalisten und rechtsradikaler Hooligans. Heute hat die Firma ein anderes Logo, dafür aber eine riesige Produktpalette mit mehreren Kollektionen, auch für Frauen und Kinder. Und Läden in sechs deutschen Städten.

Neue Nazis verhindert man genauso wenig mit Verboten von Zeitungen, deren altdeutsche Lettern die meisten jungen Rechtsextremisten ohnehin nicht entziffern können, wie mit dem immer wieder und bequem beschworenen Verbot der NPD. In letzterem Fall stärkt das Gerede nur den Zusammenhalt der Szene und deren Anziehungskraft auf Jugendliche, die Verbotenes schon aus hormonellen Gründen reizt. Wer mit Abgeordneten spricht, die jeden Tag neben Neonazis im Landtag sitzen, hört oft, dass nur das Gegenteil funktioniert: die offene und immer wieder gesuchte Auseinandersetzung.

Das gilt auch für den Völkischen Beobachter, dieses angeblich immer noch so gefährliche Hetzblatt. "Ein Mann - ein Volk!" steht da im Faksimile der Zeitungszeugen über einer großen Eloge, die mit den Worten "Der eine Mann ist Adolf Hitler, das eine Volk ist das deutsche" beginnt und so auf etwa 100 Zeilen weiter stampft. Da geht es um die "Ganzheit und seligende Gemeinsamkeit" des Deutschseins und die "Urvoraussetzungen des Daseins" an sich. Am Ende schreibt der namenlose Autor, was er von "verantwortungslosen Intellektuellen" und der "Unmenge einzelgängerischer Geistesbelustigungen" hält: "Etwas Barbarischeres als die Unkultur der alle deutschen Heiligtümer zerstörenden Zivilisationsliteratur hat es ohnehin nie gegeben." Wie sagt Geisterjäger Ash im zweiten "Tanz der Teufel": "Das Tageslicht hat es verscheucht." MARC FELIX SERRAO

Jugendliche reizt Verbotenes schon aus hormonellen Gründen

"Mein Kampf" darf man besitzen, nur neu auflegen darf es keiner

Abgeordnete, die im Landtag jeden Tag neben Neonazis sitzen

Zeitschriften in Deutschland Verbotene Symbole Kultur im Nationalsozialismus Rechtsextremismus in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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IKB-Vorstand kündigt

Die Mittelstandsbank IKB verliert ihren Firmenkundenvorstand. Andreas Leimbach, 49, werde das Unternehmen zum Monatsende verlassen, schreibt die Bank. Er hatte den Posten mitten in der existenzbedrohenden Krise der IKB im vergangenen April übernommen und geht nun wieder unter Berufung auf eine Klausel in seinem Vertrag, derzufolge er bei einem Eigentümerwechsel der Bank sein Arbeitsverhältnis kündigen könne. Leimbachs Aufgaben übernimmt bis auf weiteres IKB-Chef Hans Jörg Schüttler. Die IKB stand als erste Bank in Deutschland Mitte 2007 wegen Fehlspekulationen mit US-Ramschhypotheken vor der Pleite und konnte nur mit Milliarden des Staates und der bundeseigenen Förderbank KfW gerettet werden. Die KfW war Großaktionärin und verkaufte ihre Anteile von 90 Prozent im vergangenen Herbst an den US-Finanzinvestor Lone Star, der die IKB nun radikal umbaut. Reuters

IKB Deutsche Industriebank AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neu auf DVD

Bigger than life

Werner Herzog, Ali Baba und die "armen Leute von Kombach"

Ein deutsches Märchen des 20. Jahrhunderts, von einem, der auszog vom Boden abzuheben. Ein Traum, für den das Heimatland zu eng war, der den Träumer in die Weite zog, nach Amerika. "Little Dieter Needs to Fly" nannte Werner Herzog 1997 seinen Film, in dem er Dieter Dengler sein Leben erzählen ließ, das vom Bedürfnis zu fliegen bestimmt war. In den Sechzigern hat sich dieser Traum, der im Alliierten-Bombardement geboren ward, verwirklicht, als Dieter Navy-Pilot im Vietnamkrieg wurde. Beim ersten Einsatz über Laos aber wird er abgeschossen, gerät in Gefangenschaft, flieht, irrt tagelang durch den Dschungel, der einzige Amerikaner, der es schafft, aus der Gefangenschaft zu entkommen. Ein eigenartiger Held, ideologisch unbefleckt, die Reinheit seines Traums verteidigend - einer der wenigen, die nicht daran denken, dem Vietcong ein Schuldbekenntnis zu unterzeichnen. Werner Herzog ist mit Dieter Dengler in den Dschungel zurückgegangen, aber er hat gewusst, dies ist großes Erzählkino, a character bigger than life. Mit "Rescue Dawn" hat er das 2007 eingelöst, und so souverän und leichthändig hat schon lang kein Deutscher mehr sich der Mittel bedient, die Hollywood bietet. Bei uns hat es "Rescue Dawn" freilich nicht in die Kinos geschafft.

Christian Bale spielt nun Dieter, der Batman der Christopher-Nolan-Filme, er ist so mystisch versonnen wie der dark knight, wird aber immer wieder von unerklärlicher Fröhlichkeit gepackt, wie Kaspar Hauser in Herzogs "Jeder für sich und Gott gegen alle", der immer wieder - Little Kaspar needs to ride - seinen Satz wiederholte "Ein Reiter will ich werden, wie mein Vater einer war . . ." Was für eine unbekümmerte Neugier auf die Welt - manchmal wirkt es, als sei selbst die Folter für Dieter eine aufregende Erfahrung. Kein Kriegsfilm, erklärt Herzog, but the test and trial of man. Es ist auch, was Tom Cruise mit seinem Stauffenberg so gern geschafft hätte, Essenz des amerikanischen Action-Kinos, ein Mann, der seinen Weg geht, unbeirrt. Unbeirrbarkeit auch bei Herzog, der wegen Problemen mit dem Labor, den Dreh über keine rushes zu sehen bekam, dennoch sicher war, dass alles seine Richtigkeit hatte.

Ein anderer Bayer in Hollywood, Kurt Neumann. Geboren in Nürnberg (wo Kaspar Hauser einst auftauchte), in den Dreißigern im B-Picture-Bereich schwer beschäftigt - zur Tarzan-Serie abkommandiert. Legendär sein Horrorfilm "The Fly", mit dem unglücklichen Wissenschaftler am Ende, dessen Kopf auf einen Fliegenkörper transferiert wurde, der sich von einer Spinne im Netz bedroht sieht und ein verzweifeltes "Help me!" quietscht . . . Im August 1958, eine Woche vor dem US-Start des Films, nahm Neumann sich das Leben. Er war gut in Horror und Fantasy, die Tausendundeinenacht, die er 1952 in "Sohn des Ali Baba" gestaltete, waren ihm eher ein Nebenschauplatz. Der Film ist ein wenig steif, trotz der wüsten Palastintrigen, in die Tony Curtis und Piper Laurie verwickelt werden. Ein Jahr vorher haben die beiden "Die Diebe von Marschan" gemacht, der sehr viel wendiger und lustvoller ist - Regisseur Rudolph Maté wusste als Ex-Kameramann um die Erotik des Blicks, er hatte ein paar Jahre zuvor Gilda photographieren dürfen.

Ein wildes Weltkriegsballett ist "Todeskommando Panthersprung/Cinque per l'inferno" von Gianfranco Parolini. Tarantino wurde von solchen Filmen zu seiner Kriegs-Klamotte angeregt, die er eben in Berlin dreht. Der "Panthersprung" ist ungeniert von Hollywood inspiriert - vor allem von Fred Astaire. Ein Sonderkommando zwischen Zirkusnummer und Stepptanz, und Klaus Kinski, Werner Herzogs liebster Feind, ist besonders elegant und stilvoll als SS-Mann.

Ein Räuber-Movie aus deutscher Provinz, ein Postraub im Jahr 1824, "Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach". Volker Schlöndorffs Rückkehr in die hessische Kindheit - im Moment ihres plötzlichen Erfolgs üben sich die jungen deutschen Filmer in Bescheidenheit. "Kombach" ist in lehrstückhaftem Schwarzweiß gedreht, angeleitet vom einfachsten Hollywood-Genrekino. Eine arme Familie will einen Kleintransport mit Steuergeldern überfallen - sie haben keine Chance, also nutzen sie sie. Immer wieder versuchen sie es, das ist fürchterlich komisch in seiner Armseligkeit, aber auch menschlich groß. Es sind großartige Darsteller dabei, Georg Lehn, Reinhard Hauff und der Schriftsteller Wolfgang Bächler. Er ist der ambulante Händler, der den Bauern die Idee vom Überfall in den Kopf setzt. Und der am Ende davonkommt und aufbricht nach Amerika. FRITZ GÖTTLER

Rescue Dawn, Sony. Der Sohn von Ali Baba / Die Diebe von Marschan, Koch Media. Todeskommando Panthersprung, Koch Media. Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach, Arthaus.

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Der Moment davor und danach

Essen zeigt den Fotografen Paul Graham, der Verlierer und andere Sympathieträger in einen neuen Blickwinkel rückt

"Als ich in Vegas einen Mann fotografiert habe, der an einer Bushaltestelle eine Zigarette rauchte, musste ich auf einmal innehalten, einen Schritt zurücktreten, und mir wurde klar, dass der Moment davor und der Moment danach genauso wertvoll sind wie der Augenblick, in dem er den perfekten Zug an seiner Zigarette nimmt."

Was aus dem Mund Paul Grahams klingt wie ein Statement zur filmischen Darstellung eines Ablaufes, ist in der Tradition der Fotografie ein Aufbruch. Angefangen hatte seine Laufbahn mit der Entdeckung der "Creative Camera", eines ambitionierten Magazins, das Portfolios von Walker Evans, Robert Frank, Lee Friedländer oder Diane Arbus zeigte: elegante, poetische, sozial engagierte und sehr künstlerische Aufnahmen, natürlich in schwarz-weiß. Graham, geboren im englischen Stafford, war 19, als er die Fotografie für sich entdeckte, dennoch schloss er sein Studium der Mikrobiologie ab, bevor er sich 1978 ernsthaft dem Medium zuwandte. Doch eines war klar: no black & white. Ihn schreckte der verklärte Blick, der Hauch des Sentimentalen, die Überhöhung von Geschehen durch das Auslassen seiner Farben. Als er ein Heftchen des amerikanischen Künstlers William Eggleston sah, war er wie elektrisiert. Da knipste einer schräge Raumecken, leuchtende Werbetafeln, Tankstellen im Nichts.

Ein Innenraum, irgendwo

Der Autodidakt Graham begab sich auf Reise, fuhr die A1 Richtung Norden, lichtete wie Eggleston Schilder, Straßen, Kantinen ab, und doch unterschieden sich seine Bilder von den knalligen Farbvignetten Egglestons - nicht nur, weil das Licht in England einfach anders ist als in den USA, sondern weil Grahams Blick viel emotionaler, direkter, auch menschenfreundlicher ist. Stille Aufnahmen wechseln mit Portraits, Banker, Fernfahrer, Kellnerinnen, dann wieder ein Stück Landschaft, Matsch, grauer Himmel, ein Stück Straße, ein Innenraum, irgendwo. Graham fährt die Strecke mit einem alten Mini ab, schläft meist im Auto auf dem Rücksitz; er hat nicht viel Geld, jobbt in einem Buchladen, arbeitet knapp zwei Jahre an dieser ersten großen Serie. 1984 wird sie in der renommierten "Photographer's Gallery" in London ausgestellt, geht auf Reisen, stößt auf Begeisterung, aber auch auf Ablehnung. Zu seltsam ist Grahams Ansatz.

Doch für ihn fühlt es sich richtig an. Das British Arts Council fördert seine Publikationen, und so ist für Graham von Anfang an die Arbeit an einem Projekt gleichbedeutend mit der Arbeit an einem Buch. Es ist eine in sich geschlossene Einheit mit einer eigenen Dynamik, der man sich hingeben muss. Und mit jeder Veröffentlichung geht Graham einen Schritt weiter, nie wird er sich kopieren wollen, er ist ein unruhig Suchender, nach Ausdruck und Form, nach den Grenzen des Mediums Fotografie und ihrer Überwindung.

Für die Serie "Beyond Caring" setzt er sich in die Wartesäle der Arbeitsämter und Sozialeinrichtungen der Thatcher-Ära, fotografiert unbemerkt aus der Knie-Perspektive; er ist selbst arbeitslos zu der Zeit, nimmt den Blickwinkel der gesellschaftlichen Verlierer ein. Wieder bricht er mit allen Regeln der Fotografie: Die Horizonte kippen, die Ausschnitte sind schief, doch die Verzweiflung der Menschen ist echt. "Beyond Caring" wird im MoMA in New York ausgestellt - und bald zu politischen Zwecken eingesetzt, die Abzüge landen bei Gewerkschaftsvertretern, Bürgeramtsstellen und Parlamentsabgeordneten. "Man muss am Ende zu einer vertretbaren moralischen Haltung gelangen," sagt der Künstler dazu, "und entscheiden, ob das, was man mit seinen Bildern beabsichtigt, die Mühe wert ist."

Zur gleichen Zeit entsteht ein anderer Zyklus, Grahams bekannteste Serie: "Troubled Land", 1984 bis 1986. Es sind Bilder für den zweiten Blick, aufgenommen in Nordirland, in dem eine englische Besatzungsmacht gegen die im Untergrund agierende IRA kämpft - ein Kampf, von dem man bei Graham nichts sieht und doch alles. Subtile Zeichen, eingeschrieben in Landschaft, sei es die englische Fahne in einem Baum, die Kritzeleien "P.I.R.A." und "Touts Beware" an einem Gitter, herumliegenden Steine, die als Wurfgeschoss dienten, oder ein Fahnenappell des IRA-Nachwuchses, kaum sichtbar zwischen den Häusern am Fuße eines Hügels, dessen struppiges Gras den Bildvordergrund dominiert.

Jahre später, als Graham die dreitägige Feuerpause im April 1994 dokumentiert, richtet er seine Kamera nur in den Himmel und nimmt die Wolkenformationen auf - wiederum eine neue Herangehensweise, diese Meditation über Hoffnung, Warten und zerfasernde Gedanken.

"Es geht darum, seine Arbeit zu machen", sagt Paul Graham den Studenten in Essen bei einer Vorlesung. Im Folkwang-Museum sind seine 11 wichtigsten Werkgruppen zu sehen, es ist die erste umfangreiche Retrospektive in Deutschland. Ute Eskildsen hat gemeinsam mit dem Künstler diesen Ritt nicht nur durch sein eigenes Werk, sondern auch durch die Möglichkeiten der Fotografie kuratiert. Frech wirken der Zyklus "End of an Age", in dem junge Menschen vor dem Erwachsenwerden abwechselnd im grellen Licht angeblitzt ("Die harte Realität") und im diffusen, farbsatten Clubambiente ("Die Lust am Rausch, am Loslassen") aufgenommen sind und ihre Körperbewegungen und Blickrichtungen auf den Bildern nebeneinander einen Kreis vollführen - oder die komplett überbelichteten Straßenszenen aus "American Night", denen spießige Vororthäuser in Normalbelichtung und düster abgelichtete Afroamerikaner in einem schattigen Brooklyn gegenübergestellt werden (ein Journalist der New York Times schickte das Buch zurück, er meinte es sei "fehlerhaft" gedruckt).

Völlig losgelöst gibt sich Graham in "Shimmer of a possibility", in dem gar keine Regeln mehr zu gelten scheinen. Die Kamera vollführt einen Tanz, zoomt ran, zieht sich wieder zurück, schwenkt unvermittelt zur Seite, kehrt zum ursprünglichen Geschehen zurück, erzählt so eine kurze Geschichte der Alltäglichkeit, oder zwei oder drei. Es ist diese Entscheidung "für" etwas, völlig entgegen der Street-Photography-Tradition des "entscheidenden Augenblicks" (Henri Cartier-Bresson), die hier etwas Ungeheuerliches schafft: eine Möglichkeit des Seins in der Beiläufigkeit. "Ich glaube an die Welt wie sie ist," sagt Paul Graham. Und wie er da in seinem lilafarbenen Pullover und den wirren Locken vor den Studenten steht, lässt er wiederum alles offen, weil er sich dagegen wehrt, eine Schlussfolgerung zu ziehen. Die Dinge bleiben im Fluss, die Schönheit scheint auf in den Momenten zwischen den Momenten. NADINE BARTH

"Paul Graham, Fotografien 1981-2006", Folkwang-Museum in Essen, bis 5. April. Info: www.museum-folkwang.de. Katalog (45 Euro) im Steidl Verlag. Eine Neuauflage von "A Shimmer of Possibility" erscheint im März.

"Cathy, London, 1990" aus der Serie "Television Portraits" Paul Graham, 2008

Folkwang Museum Ausstellungen in Nordrhein-Westfalen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Bespitzelte Parteifreunde

Spanischer Konservativer ließ Konkurrenten überwachen

Von Javier Cáceres

Madrid - Vor kurzem noch hatten manche Politiker der konservativen Volkspartei PP in Spanien bloß eine seltsame Ahnung. Augenpaare schienen sie zu verfolgen, und hin und wieder fiel auf, dass Unbekannte vor der Türe standen.

Doch eine richtige Erklärung dafür gab es nicht.

Seit einigen Tagen sind sie nun zumindest das Gefühl los, Opfer einer Paranoia zu sein. Denn die Zeitung El País legte offen, dass es in der spanischen Rechten eine bizarre Spionageaffäre gibt - ausgerechnet im spanischen Superwahljahr 2009, dessen Ergebnisse als wegweisend für die Zukunft des Oppositionsführers Mariano Rajoy gelten.

Im Mittelpunkt der Affäre steht der Innen- und Justizminister der Regionalregierung von Madrid, Francisco Granados. Er verpflichtete Mitte 2007 eine Gruppe von früheren Polizeibeamten und Agenten der Guardia Civil. Granados beteuert, sie seien als Sicherheitsberater angestellt und mit so unspektakulären Aufgaben wie der Überwachung von öffentlichen Gebäuden betreut gewesen.

Doch seine Männer haben im Gespräch mit El País ihr Aufgabengebiet etwas anders umrissen. So will Marcos Peña, der Chef der obskuren Sondereinheit, auf mutmaßliche Korruptionsfälle in sozialistisch regierten Gemeinden der Region Madrid angesetzt worden sein. Auch die Mafia-Strukturen im Madrider Nachtleben sollen sie durchleuchtet haben. Die Sonderberichte sollen ausschließlich Granados zur Verfügung gestellt worden sein. Mittlerweile will sich Peña an seine Einlassungen nicht mehr erinnern. Längst wird nämlich daran gezweifelt, dass es nur bei diesen Einsätzen blieb.

Denn die Zeitung veröffentlichte auch minutiöse Beschattungsprotokolle von konservativen Politikern, deren Verhältnis zu Granados und seiner Chefin Esperanza Aguirre mindestens als problematisch gilt. Esperanza Aguirre, Regierungspräsidentin von Madrid und Aushängeschild des Hardliner-Flügels der spanischen Rechten, gilt als Intimfeindin des Oppositionsführers Rajoy und des ebenfalls ambitionierten Madrider Bürgermeisters Alberto Ruiz Gallardón. Beide gelten als aufgeklärte Konservative.

Wie sich die Teile dieses Spionagepuzzles ineinander fügen, ist noch nicht ganz klar. Deutlich ist freilich, dass vor allem innerparteiliche Gegner von Esperanza Aguirre bespitzelt wurden, darunter mehrere hochrangige konservative Regionalpolitiker wie Alfredo Prada, ein ehmaliger Innenminister der Madrider Regionalregierung.

Einer der Überwachten, Ignacio González, wurde sogar bei Auslandsreisen bespitzelt. Er gilt als Gegenspieler von Granados in der Regionalregierung; als er nach Kolumbien reiste, wurde offenbar versucht, Material für Korruptionsvorwürfe zu sammeln. Die Agenten waren über das Programm von González bestens informiert, sie konnten auch aus allernächster Nähe Fotos mit versteckter Kamera aufnehmen, so dass ein Gedanke naheliegt: Sie wurden aus höchsten Kreisen der Regionalregierung gefüttert.

Die Regionalregierung versuchte derweil die Flucht nach vorn. "Warum glaubt ihr El País?", fuhr Esperanza Aguirre Journalisten an. Seither schweigt sie. Mittlerweile hat ihre Regierung Anzeige gegen unbekannt gestellt. Francisco Granados wiederum erklärte, der Spionageplot sei Teil einer "Zermürbungskampagne" gegen die Regierung Aguirres. Madrids Bürgermeister Gallardón erklärte: "Es ist nicht logisch, dass ein Minister ein solches Team aufstellt." Die Justiz müsse rasch klären, "wer gespitzelt, wer das angeordnet und wer das bezahlt hat." Auf dem Spiel steht für ihn unter anderem das Renommee Madrids; die Stadt bewirbt sich gerade um die Olympischen Sommerspiele 2016. Der konservative Parteichef Rajoy wiederum hat eine parteiinterne Pruefung verordnet - und wird intern längst gedrängt, den Spionagethriller stilecht zu beenden: Er soll Köpfe rollen lassen.

Francisco Granados engagierte Agenten für eine Spezialtruppe. Reuters

Partido Popular (PP) Innenpolitik Spaniens El Pais SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Harmloses Angebot

Anja Hillings "Bulbus" an den Münchner Kammerspielen

Vielleicht kann man Anja Hilling ein schriftstellerisches Modem nennen. Sie nimmt viele Dinge auf, künstlerische und real vorhandene, und kanalisiert diese in ihre Texte hinein, als wäre die Welt eine E-Mail und Theater ein Postfach. Nun ist wohl jeder Schriftsteller Anregungen und Einflüssen von außen unterworfen. Doch so unmittelbar wie bei Hilling funktioniert das dann doch selten. Was durchaus sympathisch ist, weil die 1975 geborene Autorin kein Hehl daraus macht. Außerdem versteht sie es, aus dem Material Texte mit einem eigenen Klang, oder besser gesagt, einem eigenen Sound zu schaffen. Dieser wirkt auf die Theater wie ein Botenstoff: Seit 2005 ist Anja Hilling die Erfolgsautorin ihrer Generation, eine der wenigen, deren Stücke nicht nur als Uraufführungssensationen gehandelt, sondern auch regelmäßig nachgespielt werden. Was daran liegen mag, dass sie bei aller Konstruiertheit der Regie große Freiheiten lassen.

Auch "Bulbus" ist so ein textliches Angebot ans Theater. Das Stück könnte auch ein Filmskript oder ein Hörspiel sein - es wäre nicht der erste vom Rundfunk adaptierte Hilling-Text. Aber "Bulbus" ist direkt am Theater entstanden, im Rahmen der Werkstatt-Tage des Wiener Burgtheaters. Dessen damaliger Dramaturg Andreas Beck nahm sich des Projektes an und formulierte - die Uraufführung war im März 2006 - auch gleich einen Paradigmenwechsel für seinen Berufsstand: Der Dramaturg werde zusehends zum Produzenten und helfe bei der Entwicklung der Stücke mit. Was zu dem erstaunlichen Umstand führt, dass nun ein Theater, die Münchner Kammerspiele, das wohlerzogene Kind eines anderen Hauses dankbar aufnimmt.

Freilich w re es müßig zu ergründen, wie viel von "Bulbus" einer Burgtheater-Anregung geschuldet ist. Die Münchner Kammerspiele haben eine mehrjährige Erfahrung mit Hilling-Stücken, die mittlerweile in eine große Gelassenheit mündet. Sie vertrauten diese deutsche Erstaufführung der Regisseurin Christiane Pohle an, die ein Händchen hat für die in Hilling-Texten stets zu entdeckenden subtilen Witzeleien, drucken dazu im Programmheft ein Gespräch zwischen Hilling und Andreas Beck ab, in dem erklärt wird, wie es zu dem Stück kam, und bestücken diese gut einstündige Petitesse mit tollen, aber weitgehend zur Untätigkeit verdammten Schauspielern. Das Ergebnis ist ein sprachlich hochwertiges, im Werkraum mit sechs verschmierten Glaskästen szenisch aufbereitetes Hörspiel um ein junges Paar, das sich als Strandgut in einer schrulligen Einöde namens Bulbus findet und sich durch eine verzwirbelte, aber letztlich überschaubare Krimihandlung forscht. Diese ist inspiriert von Krimis Alfred Komareks, die Verzwirbelung aber ist genuin Hilling, ebenso wie ein gewisses Beziehungsaroma nebst ein paar verstiegenen, aber lustigen Pointen. EGBERT THOLL

Hilling, Anja: Werk Kammerspiele München: Inszenierungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nichts wie weg

Hektik ist nicht Alan Hippes Art, doch nun will er schnell zu Thyssen-Krupp. Offenbar sieht er für Conti keine gute Zukunft mehr

Von Meite Thiede

Wie auch immer die Geschichte von Continental ausgeht - das Ende will Alan Hippe nicht mehr miterleben. Denn aus seiner Sicht, das lässt sich vermuten, hat sich da längst ein Drama entwickelt, das nicht mehr gut ausgehen kann.

Jetzt will der Conti-Finanzchef wohl zu Thyssen-Krupp wechseln, und zwar so schnell wie möglich. Was Hippe da plant, kommt einer Flucht gleich. Sein Vertrag läuft noch bis Mai 2012, doch wenn man ihn lässt, will er sich schon ab März um Stahl in Düsseldorf kümmern statt um Reifen in Hannover.

Solch eine Hektik passt gar nicht zu dem 42 Jahre alten Hippe, einem der Musterschüler unter Deutschlands Spitzenmanagern. Ziemlich zielstrebig, aber auch kontrolliert sieht seine Karriere bisher aus. Hippe hatte in der Schule Physik als Leistungskurs gewählt, später BWL studiert, promoviert, bei Aveco im Controlling begonnen, beim Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport ein börsenfähiges Controlling aufgebaut und dann im Juni 2002 als jüngster Finanzchef eines Dax-Konzerns bei Continental angefangen. In der Autobranche ist Hippe heute gut vernetzt, und den Wettbewerb scheut der frühere Leistungsschwimmer - Disziplin: Butterfly - nicht. "Da ist ein Job, der ist schwierig, mach ihn gut", hat Hippe mal als Grundsatz postuliert.

Ein paar Worte aus New York

Das Team Manfred Wennemer / Alan Hippe - Konzernchef und Finanzer - stand für die Erfolgsgeschichte, die Continental bis vor einem Jahr war. Hippe baute den Schuldenberg zunächst zügig ab. Seine Prognosen waren so präzise, dass Anleger und Analysten ihm bald vertrauten. Mehrmals hätte Hippe den Job wechseln können; bei den großen Personalvermittlern stand er ganz oben auf der Wunschliste. Doch Unerledigtes zurückzulassen und eine Chance nur für die eigene Karriere zu nutzen, das wäre bisher kein Hippe-typisches Verhalten gewesen.

Dass er jetzt geht, sagt womöglich etwas über seine Zukunftsprognosen für Continental aus. Vielleicht gibt er Conti bereits verloren, so wie es Manfred Wennemer, der frühere Conti-Vorstandschef, im Sommer mit seinem Rücktritt schon demonstriert hatte. Vielleicht bürde der neue Großaktionär Schaeffler dem Continental-Konzern untragbar hohe Schulden auf, mutmaßen manche, vielleicht zerschlage er ihn und verkaufe einen Teil, vielleicht scheitere Schaeffler auch einfach an der Zusammenf hrung der beiden unterschiedlichen Unternehmenskulturen. Horrorszenarien gibt es einige - und Hippe wäre nicht der Einzige, der sie für realistisch hält.

Dass Eigentümerin Maria-Elisabeth Schaeffler und Firmenchef Jürgen Geißinger Hippe ohnehin schon auf ihrer Streichliste haben, lässt sich spätestens seit vergangener Woche ausrechnen. In New York hatte Hippe nach einer Routine-Veranstaltung, einem Seminar der Investment-Bank Dresdner Kleinwort, offen über eine demnächst notwendig werdende Kapitalerhöhung geredet. Als das über die Nachrichtenagenturen tickerte, stürzte an der Börse der Aktienkurs ab, und in Herzogenaurach wuchs die Empörung über den plaudernden Manager. Schweren Schaden habe er mit seiner Bemerkung angerichtet, wetterten die Franken. Conti-Kenner hingegen zuckten nur mit den Achseln: Das sei doch klar, dass der Konzern demnächst frisches Kapital brauche, und es sei doch auch ganz normal, wenn der Finanzchef eines börsennotierten Unternehmens das kommuniziere. Familienunternehmer tun das allerdings eher nicht so schnell. Zwei Welten eben - und wer Hippe kennt, kann sich auch gar nicht recht vorstellen, dass so einer in der Welt des fränkischen Familienunternehmens gedeihen könnte.

Offiziell ist Hippes Wechsel nach Düsseldorf bisher noch gar nicht bestätigt. Doch in Konzernkreisen heißt es, dass Thyssen-Krupp-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme die Personalie bereits eingefädelt habe. Auf der Hauptversammlung des Stahlkonzerns an diesem Freitag sagte er den Aktionären nur, dass es vertrauliche Gespräche mit einem neuen Finanzchef gebe und dass sich ein Ergebnis abzeichne.

Grünberg muss entscheiden

Hippe soll bei dem Stahlkonzern Ulrich Middelmann ablösen, der im kommenden Jahr 65 wird. Damit wäre er auch heißer Kandidat für die Nachfolge von Konzernchef Ekkehard Schulz. Der hat mit 67 Jahren das offizielle Rentenalter längst erreicht, aber das heißt in einem Konzern, bei dem der 95 Jahre alte Berthold Beitz Ehrenvorsitzender ist, gar nichts. Trotzdem: Den Aktionären sagte Cromme am Freitag, man mache sich auch schon mal Gedanken über die Nachfolge von Schulz. Kandidaten aus dem Hause hätten den Vorrang, aber festgeschrieben sei das nicht. Der Bessere sei nun mal der Feind des Guten.

Hippe galt auch schon als Kronprinz für die Nachfolge Wennemers, der eigentlich bis Ende 2011 Conti-Chef hätte bleiben sollen. Doch als Wennemer im Sommer zurücktrat, wurde es dann nicht Hippe, sondern Karl-Thomas Neumann. Der muss im Kampf um die Macht bei Conti nun dauernd zwischen den Fronten vermitteln. Hippe hatte dagegen in Wennemers Abwehrkampf gegen Schaeffler an dessen Seite gestanden - und sich damit in Opposition zu Schaeffler und auch zu seinem Aufsichtsratschef Hubertus von Grünberg begeben, der damals gegenüber den Franken noch freundlich eingestellt gewesen war.

Grünberg muss nun auch darüber entscheiden, ob Hippe gehen darf. Schwer vorstellbar, dass er das nicht gestattet - wo er doch selbst bereits an Rücktritt denkt.

Alan Hippe war gegen die Übernahme von Conti durch Schaeffler und verlässt die Firma nun. Foto: dpa

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Tarifkonflikt, der nächste bitte

Lufthansa-Vorstand Lauer kommt aus dem Streiten nicht heraus

Der Mann ist derzeit eher nicht um seinen Job zu beneiden. Das ganze Jahr 2008 steckte Lufthansa-Personalvorstand Stefan Lauer in irgendwelchen festgefahrenen, aussichtslosen, emotional geführten Tarifkonflikten. Erst mit den Piloten der Regional-Ableger Cityline und Eurowings, dann mit den Bodendienstmitarbeitern. Strittige Fragen wie der Einsatz neuer Regionalflugzeuge schwelen immer noch unter der Oberfläche, da tun sich schon die nächsten Baustellen auf. Während Vorstandschef Wolfgang Mayrhuber die Branche mit seiner Einkaufstour durch halb Europa (Brussels Airlines, Austrian, BMI) in den Bann zieht, muss Kollege Lauer daheim mühsam um Prozente feilschen.

Am Freitag haben die Flugbegleiter einen ersten Warnstreik ausgerufen, um ihrer Forderung nach 15 Prozent mehr Geld Nachdruck zu verleihen. Schon in der nächsten Woche könnten die Streiks ausgeweitet werden, kündigte die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (Ufo) an. In der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) hat Lauer seinen wichtigsten Ansprechpartner Michael Tarp verloren. Der ehemalige Tarifvorstand hatte sich mit den mächtigen Mitgliedern der Lufthansa-Tarifkommission in seiner Gewerkschaft überworfen und Ende 2008 aufgegeben. Nun drohen die Hardliner, die Kompromisse mit dem Unternehmen ablehnen und für den verheerenden Pilotenstreik von 2001 verantwortlich waren, innerhalb der VC wieder an Einfluss zu gewinnen. Bei so viel Problemen fällt schon fast gar nicht mehr auf, dass gerade auch beim Regional-Partner Contact Air die Piloten streiken.

Lauer ist seit fast neun Jahren Personalvorstand bei der Lufthansa, er wird bald 54, und dennoch vermuten viele innerhalb des Konzerns und in dessen Umfeld, dass ihm die jahrelange Kärrnerarbeit für seine eigene Karriere wenig gebracht hat. Ende 2010 tritt Konzernchef Mayrhuber ab. Und wenn die Anzeigen nicht trügen, dann dürften Swiss-Chef Christoph Franz als Favorit, Finanzvorstand Stephan Gemkow und Lufthansa- Cargo-Chef Carsten Spohr die besseren Karten haben, an die Konzernspitze zu rücken. Lauer ist zwar politisch gut vernetzt und hat als ehemaliger Büroleiter des damaligen Frankfurter Oberbürgermeisters Walter Wallmann immer noch gute Drähte zur hessischen CDU. Und kaum einer kann so den gutgelaunten Conferencier geben. Doch intern werfen ihm Kritiker vor, zu wenig eigenes Profil entwickelt zu haben, um Lufthansa-Chef werden zu können. Aus den Strategiedebatten der vergangenen Jahre hat sich Lauer dem Vernehmen nach eher herausgehalten.

Auch eine zweite Karriereoption scheint Lauer nun verbaut zu sein. In den vergangenen Jahren war er auch immer wieder als möglicher Nachfolger von Fraport-Chef Wilhelm Bender in der Diskussion. Doch bei dem Frankfurter Flughafenkonzern hat sich mittlerweile der äußerst ehrgeizige und ebenfalls politisch gewinnbringend vernetzte Stefan Schulte als Stellvertreter Benders und Zuständiger für den Ausbau so positioniert, dass Lauer ihn kaum noch wird verdrängen können. (Seite 25) Jens Flottau

Stefan Lauer Foto: dpa

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Man muss schon etwas wissen, um wirklich hören zu können

Der große Pianist Evgeny Kissin über das Geheimnis des Schöpferischen, die wahre Interpretation, die richtige Pädagogik und über betrunkene Präsidenten

Seit seinem sensationellen Debüt als Zwölfjähriger 1984 in Moskau gehört Evgeny Kissin zu den größten lebenden Pianisten. Bevor er sich in der nächsten Saison vorübergehend zurückzieht, brachte er noch Beethovens Klavierkonzerte auf CD heraus, demnächst folgen Prokofjews zweites und drittes Klavierkonzert, beide Brahms-Konzerte und schließlich Mozarts d-Moll KV 466 und B-Dur KV 575. In München spielt er am Mittwoch, 28. Januar (20 Uhr, Philharmonie) Werke von Prokofjew und Chopin. In einem Pariser Hotel redete er über Musik und Politik, während sich im Hintergrund ein Barpianist nach Kräften um Beethoven und Chopin mühte.

SZ: Warum nehmen Sie schon in Ihrem Alter Werke ein zweites Mal auf?

Evgeny Kissin: Weil ich sie jetzt besser spiele. Zum Beispiel das Schumann-Konzert. Beim ersten Mal hatte ich gerade erst begonnen, das Stück zu studieren, und ich wurde zwei Tage vor dem Konzert gebeten, für Salvatore Accardo einzuspringen. Giulini dirigierte die Wiener Philharmoniker. Für mich war es damals die erste Gelegenheit, mit den Wienern zu spielen, und die nutzte ich natürlich. Aber das Konzert war noch nicht fertig, es war noch nicht in mir gereift. Das Stück scheint ja ganz einfach zu sein, aber darin liegt natürlich die größte Schwierigkeit.

SZ: Was macht Einfaches schwierig?

Kissin: Vielleicht schon die Tatsache, dass es einfach zu sein scheint. Das ist in höchstem Maße trügerisch. Letztlich war es dieses Schumann-Konzert, das mir zeigte, wie trügerisch alles Einfache in der Musik ist. Andererseits sollte man niemals mehr veranstalten, als vorhanden ist, es nicht verkomplizieren oder in die falsche Richtung komplexer gestalten, und natürlich keinesfalls in Manierismen verfallen. Das würde die Musik genauso ruinieren wie schiere Unbedarftheit. Es geht bei dieser Art Musik nicht immer so geradeaus, wie es den Anschein hat, und der ausführende Künstler muss die Musik mit großer Vorsicht behandeln - wie ein zerbrechliches Objekt. Dann erst kann er den Reichtum des Werkes entfalten.

SZ: Hat Schumann mehr hineingepackt, als beim ersten Blick zu sehen ist?

Kissin: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Schumann das so genau wusste. Viele Künstler sahen in ihren Werken ganz anderes als die Nachwelt. Tschaikowsky etwa schätzte sein zweites Klavierkonzert viel höher ein als sein erstes. Und Rachmaninow spielt sein drittes Klavierkonzert so schnell, dass man an die Begründung vieler Experten denkt: Er musste so schnell spielen, damit es auf eine Schallplattenseite passt. In seinen Memoiren schreibt Rachmaninow dann tatsächlich, sein 3. Klavierkonzert sei 33 Minuten lang. Aber wenn man es tatsächlich so schnell spielt, kann man kaum etwas entwickeln von den Feinheiten und von den tragischen Momenten in diesem Werk. Man braucht 40 bis 45 Minuten, um dem Stück gerecht zu werden.

SZ: Woher kommt die Diskrepanz?

Kissin: Ich glaube, dass große Künstler unter bestimmten Bedingungen eine Art Medium werden. Natürlich muss man hart arbeiten, um etwas Großes hervorzubringen. Aber nicht jeder, der hart arbeitet, bringt Großes hervor. Also entsteht das Große vielleicht erst jenseits des Künstlerwillens. Rachmaninow übrigens mochte die Darbietungen seiner Werke durch Gieseking und Horowitz, auch die des dritten Klavierkonzertes. Die Ausführung von Horowitz kam seiner eigenen sehr nahe, aber die von Gieseking war sehr viel langsamer. Folglich gab es in den Augen oder Ohren des Komponisten schon einmal mindestens zwei Möglichkeiten, seinem Werk gerecht zu werden.

SZ: Vielleicht hat Rachmaninow sein Stück innerlich immer perfekt gehört?

Kissin: Möglich, aber als ausführender Künstler geht es genau um das, was äußerlich zu hören ist. Die Voraussetzungen sind eine Sache, die Ergebnisse eine andere. Meine Lehrerin sagte mir als Kind oft: Du meinst das Richtige, aber es ist nicht zu hören. Du denkst, man hört es, weil du es hörst, aber es kommt nicht heraus aus deinen Fingern. Und in diesem Punkt muss man dem großen russischen Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus widersprechen, denke ich. Er behauptete, der Komponist sei der beste Interpret seines Werkes. Mal abgesehen von denen, die keine großen Bühnentalente sind, halte ich diese Meinung generell für falsch.

SZ: Muss man dem Komponisten die Werke entreißen, um sie angemessen zur Geltung zu bringen?

Kissin: Wir wissen natürlich nicht, was in dem Künstler während seines Komponierens vorging. Das ist wohl erst möglich, wenn die Wissenschaft da entsprechende Hilfsmittel entwickelt. Als Svjatoslav Richter einmal in Japan gebeten wurde, sich während eines Konzerts medizinischer Überwachung zu unterziehen, fragte er die Forscher, was sie denn da hören wollten. Sie sagten: die Musik Ihres Herzens. Und Richter sagte, er wünsche sich aber, dass sie sich Prokofjews Sonate anhörten.

SZ: Wenn der Komponist nicht den Diskurs über sein Werk bestimmen kann, wer darf sich dann anmaßen, die letzten Dinge über Rachmaninow zu sagen?

Kissin: Der Komponist redet durch sein Werk immer mit. Aber ich habe mich zum Beispiel schon sehr gewundert, als ich hörte, Rachmaninows Werke gälten hier als Salonmusik. Persönlicher Geschmack ist eine Sache, aber wenn der Geschmack durch Vorurteile geformt wird, ist das wirklich sehr schade.

SZ: Sind diese Vorurteile nicht in den letzten Jahren schon weniger geworden?

Kissin: Das stimmt. Im Grunde bin ich da guten Mutes: Die jüngere Generation scheint von all diesen Vorurteilen nichts wissen zu wollen. Das gefällt mir. Sie hören weitgehend unvoreingenommen und bilden sich ihr Urteil aufgrund des Gehörten, nicht umgekehrt.

SZ: Vielleicht wollen zu viele Musikliebhaber und Kenner bestimmte Komponisten gegen andere verteidigen.

Kissin: Ich denke, das ist wirklich nicht nötig, schon gar nicht in Deutschland. Ich denke, Deutschland hat der Welt mehr große Komponisten geschenkt als irgendein anderes Land, eigentlich sogar mehr als alle anderen Länder zusammen. Und: Natürlich kann man das Genie von Rachmaninow nicht mit dem Genie von Beethoven vergleichen, aber ein Salonkomponist ist er deshalb noch lange nicht. Solche Vorurteile gibt es übrigens nicht nur in Deutschland. Von einem französischen Kritiker musste ich 1992 lesen, ich hätte aus einem Showpiece von Rachmaninow ein tief empfundenes Stück gemacht. Das hat mich ehrlich schockiert.

SZ: Weil Sie sich missverstanden fühlten oder weil Sie Angst hatten, die Musik missverstanden zu haben?

Kissin: Svjatoslav Richter hat ja gesagt, gute Musik, von einem guten Künstler vorgetragen, wird immer die Herzen der Hörer erreichen. Aber das stimmt nicht. Der Geiger und Musikpädagoge Michail Kazinik hat darüber geforscht und mit Technik-Studenten experimentiert, die er zunächst unvorbereitet und später vorbereitet ins Konzert schickte. Er kam zu dem eindeutigen Ergebnis: Man muss etwas wissen, um hören zu können. Die Studenten hörten die gleichen Werke einmal völlig indifferent und fanden die Musik langweilig, im zweiten Fall aber sehr aufregend. Sie behaupteten nachdrücklich, nicht die gleichen, sondern unterschiedliche Stücke gehört zu haben. Daraufhin beschloss Kazinik, sein ganzes Leben der Vermittlung klassischer Musik zu widmen. Was er bis heute tut.

SZ: In der kommenden Saison werden Sie nur zwei Soloauftritte haben; sind Sie reisemüde?

Kissin: Ich brauche etwas Zeit für mich, für Bücher, Filme, CDs, und für Freunde. Und tatsächlich habe ich auch keine Lust mehr, von den Städten nur Flughafen, Hotel und Bühne zu sehen. Früher, zu sowjetischer und postsowjetischer Zeit, wurden wir oft von den westlichen Veranstaltern eingeladen, ein paar Tage länger zu bleiben. Wir waren ja sehr billig, und so waren die Veranstalter großzügig.

SZ: Inwiefern sind Sie denn noch von der Sowjetunion geprägt?

Kissin: Ich habe das Ende der Sowjetunion als Kind erlebt und mich als Teenager schon in Freiheit entwickeln können. Das Wichtigste war doch, dass die Grenzen geöffnet wurden. Auch wenn in den letzten Jahren alles sehr schwierig geworden ist. Alle Politiker, die zur Macht gekommen sind, klammern sich daran und übernehmen westliche Parolen wie Freiheit und Demokratie, handeln aber nicht danach. Trotzdem verbinden die meisten Menschen Boris Jelzin mit Freiheit. Deshalb sind sie für diese sogenannten Demokraten, aber das ist eine große Katastrophe. Auch wenn die Bürger im Westen ihre Rechte oft ungenügend schätzen und verteidigen, muss ich sagen: Gottseidank gibt es hier eine alte, funktionierende Demokratie. Bei uns hingegen gibt es zu schnell den Ruf nach Führern.

SZ: Ist Putin nicht auch deshalb beliebt, weil er die Oligarchen bekämpft?

Kissin: Es ist wohl etwas komplizierter. Und so viele unterstützen ihn gar nicht. Die meisten sind indifferent. Viele finden Putin wohl besser als Gorbatschow und Jelzin. Letzterer war zu machthungrig, er tat einfach alles, was ihn an der Macht hielt. Und er war natürlich ständig betrunken. Und das angesichts dieser Machtfülle. Das ist unverantwortlich.

SZ: Putin ist da eher das Gegenteil; immer nüchtern?

Kissin: Die Russen sagen: Zunächst hatten wir einen großen, guten und betrunkenen Präsidenten. Mit Putin haben wir einen kleinen, nüchternen, bösen.

Interview: Helmut Mauró

Der Pianist Evgeny Kissin Foto: SZ-Archiv

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Alte Schule

Eysoldt-Ring für Brandauer

Der Schauspieler Klaus Maria Brandauer wird mit dem Eysoldt-Ring 2008 ausgezeichnet. Er erhält den mit 10 000 Euro dotierten Theaterpreis für seine Rolle des Dorfrichters Adam in Kleists "Der zerbrochne Krug" in der Regie von Peter Stein am Berliner Ensemble. Das teilte die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste im hessischen Bensheim mit. Die Jury um Peter Iden würdigte Brandauer als "Schauspieler der alten Schule", der über "technisches Vermögen, Virtuosität und Kreativität" verfüge, wie sie nur selten zu finden seien. Der mit 5000 Euro ausgestattete Preis für junge Regisseure geht an den 1977 geborenen Maik Priebe für seine Inszenierung von John Osbornes "Blick zurück im Zorn" am Staatstheater Kassel. dpa

Brandauer, Klaus Maria: Auszeichnung Theaterpreise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Himmlische Ehren

Sundance-Erfolg für Hirschbiegel

Der Film "Push" von Lee Daniels gewann beim Sundance Filmfestival in Park City, Utah, das am Sonntag zu Ende ging, drei der wichtigsten Preise. Der deutsche Filmemacher Oliver Hirschbiegel ("Der Untergang") erhielt den Regiepreis für das Nordirland-Drama "Five Minutes of Heaven", das für England antrat. Deutscher Wettbewerbsbeitrag war Oskar Roehlers "Lulu und Jimi". dpa

Der Film "Push" von Lee Daniels gewann beim Sundance Filmfestival in Park City, Utah, das am Sonntag zu Ende ging, drei der wichtigsten Preise. Der deutsche Filmemacher Oliver Hirschbiegel ("Der Untergang") erhielt den Regiepreis für das Nordirland-Drama "Five Minutes of Heaven", das für England antrat. Deutscher Wettbewerbsbeitrag war Oskar Roehlers "Lulu und Jimi".

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Nur im Kino dürfen Attentäter weich sein

Dror Zahavis Film über einen Palästinenser, der die Liebe dem Selbstmord-Anschlag vorzieht

Ist Israel das Land, in dem alle Märchen traurig sind? Dror Zahavis Film "Alles für meinen Vater" erzählt eine Geschichte voller Illusionen. Der junge Tarek ist Palästinenser aus Tulkarem, und als er nach Tel Aviv kommt, will er nicht die Stadt genießen oder den Strand und all das, was es in seinem ärmlichen Heimatdorf nicht gibt - er will dort sein Leben und möglichst viele andere beenden, als Selbstmordattentäter den Ruf seines Vaters restaurieren. Kein Stoff, aus dem Märchen gemacht sind, aber die Geschichte hebt ab und streckt sich gen Himmel - Tarek zögert, weil seine ahnungslose Mutter ihn auf dem Handy angerufen hat, und dann bittet er in einem Kiosk, die Toilette benutzen zu dürfen und verliebt sich in das Mädchen Keren, das dort arbeitet. Er will sich in die Luft sprengen, hat er vorher gesagt, weil er von Geburt an nicht mal Träume haben durfte. Nun hat er welche, und prompt gerät seine Welt aus den Fugen.

Sein Sohn ist tot, sagt Kerens Nachbar Katz, bei dem Tarek unterkommt, weil hier alle bekloppt sind. Der Regisseur Dror Zahavi stammt aus Tel Aviv und lebt in Deutschland, und man ahnt, warum - obwohl eine solche Sehnsucht nach dieser Stadt aus seinen erdwarmen Bildern spricht. Er erzählt von Tareks schrecklichem Trip in einem sehr flapsigen Ton und in Dialogen von bitterem Witz. In Kerens Nachbarschaft wohnt ein junger Kerl, der sich zum Ordnungshüter berufen fühlt und alle Araber aus dem Viertel fernzuhalten versucht, und als er auf Tarek losgeht, prügelt ihn sein Vater ins Haus und ätzt dabei: "Ich sag den Bullen, dass du dich als Polizist, und dem lieben Gott, dass du dich als Mensch ausgibst."

Nur bleibt einem das Lachen im Halse stecken; denn Zahavi hat das so inszeniert, dass man einen Augenblick lang vergisst: Tarek ist genau das, was der rassistische Möchtergerncop in ihm vermutet - ein bombenverkabelter Attentäter. So führt einen Zahavi immer wieder auf emotionales Glatteis - man weiß nicht so recht, mit wem man mitfühlen soll, aber genau so ist ja der ganze Palästinenserkonflikt: Er schafft nur Verlierer.

Nur im Kino wird einer, der so verknöchert ist, dass er sterben will, von einer Sekunde zur anderen weich genug sein, sich zu verlieben. Am Ende gibt es keinen Ort auf der Welt, wo die Fähigkeit zur versponnenen Träumerei mehr gebraucht wird als hier und wo es einen größeren Bedarf gibt an naiven Hoffnungen, selbst an solchen, die nicht in Erfüllung gehen. SUSAN VAHABZADEH

SOF SHAVUA B'TEL AVIV, D/Israel 2008 - Regie: Dror Zahavi. Buch: Ido Dror, Jonatan Dror. Kamera: Carl-Friedrich Koschnick. Schnitt: Fritz Busse. Musik: Misha Segal. Mit: Shredy Jabarin, Hili Yalon, Shlomo Vishinsky, Rosina Kambus, Jony Arbid, Shadi Fahr-Al-Din, Oren Yadger, Dina Golan, Michael Moshonov. Kinowelt, 96 Minuten. (In München läuft der Film auch im Rahmen der Reihe "BlickWechsel - Palästina/Israel Filmwoche", die bis zum 31. Januar im Gasteig stattfindet.)

Zahavi, Dror Selbstmordattentäter Alles für meinen Vater SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wo das Lachen Methode hat

Der satirische Zeichner und Stifter von Spielzeugmuseen Ivan Steiger wird 70 Jahre alt

Kleine Dramen, schreckliche Wunder, komische Unfälle: ein Mann, der im Wasser unterzugehen droht, umklammert ein fettes Paragraphenzeichen, das wie ein Rettungsring im Wasser schwimmt; ein anderer rast über ein Gymnastiklaufband und treibt dabei die Weltkugel wie einen Trainingsball vor sich her. Oder der kleine Fisch aus der Serie der Fisch-Zeichnungen - er schwimmt einem großen, aus tausend kleinen Fischen schuppenartig zusammengesetzten Monsterfisch direkt ins Maul; Fressen und Gefressenwerden - hier wirds auf bildtechnisch schlichteste Art zum Ereignis.

Ivan Steiger hat, seit er 1961 erstmals eine Zeichnung in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat, Tausende solcher elementar verkürzter, kritisch verspielter, poetisch vertrackter Zeichnungen verfertigt. In der FAZ war er seit 1972 im Politikteil mit seinen minimalistischen Szenenandeutungen, seinen philosophischen Etüden, seinen zeichnerischen Versuchsanordnungen sogar jahrelang fast täglich gegenwärtig.

Ein paar hundert dieser stets wortlosen und doch sprechenden Zeichnungen sind in einem graphisch schön gestalteten, von Eduard Beaucamp eingeleiteten Bildband vereint, der seit seinem Erscheinen von Cartoonisten fleißig geplündert worden sein dürfte (Ivan Steiger: Das Beste aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Prestel Verlag München 2007). Denn die Vielfalt an szenischen Varianten, die Steiger einem einmal gefundenen Motiv abgewinnt, muss zwangsläufig Neid erwecken.

Eines dieser poetisch wuchernden Motive aus Steigers Bildwelt ist die von der Sprechblase des Comic abgeleitete Denkblase, mit der die gezeichneten Figuren sich Wünsche erfüllen und die Welt verändern. Jedenfalls ist das Phänomen Durst, das bildlich ja kaum darstellbar ist, selten schöner versinnlicht worden als in der hier abgebildeten Zeichnung aus der FAZ, die so zum Trinken anregt, dass ein SZ-Redakteur im künstlich beatmeten Hochhaus unmittelbar zum rettenden Wasserhahn rennen muss.

Wer auch nur einige der wunderbar linear geführten Zeichentrick- oder der drastisch komischen Puppenspielfilme aus Tschechien gesehen hat, der kennt den Boden, dem auch Ivan Steigers zeichnerische Arbeiten und seine Leidenschaft für Spielzeug aller Art entstammen. Steiger, 1939 in Prag geboren, hat von 1958 an als Schüler der dortigen Filmhochschule all die Meister des Komischen und der unerhörten Leichtigkeit kennengelernt, die Tschechien berühmt gemacht haben. Mit seinen satirischen Zeichnungen und seinen Film- und Buchdokumentationen über die Kultur des Spielzeugs sollte er, als er in den siebziger Jahren seinen Zweitwohnsitz in München nahm, dann selber einer der bewunderten Vermittler humoristisch-satirischer Ausdrucksformen werden.

Mit den Spielzeug-Museen in München und Prag jedenfalls hat er sich und der Spielkultur, der er entstammt, schöne Denkmäler gesetzt. Wir wünschen ihm zum heutigen 70. all die wunderbaren Dinge, die er sich in seinen Denkblasen erdacht hat. GOTTFRIED KNAPP

Wie alle Zeichnungen Steigers ist auch diese ohne Titel und Text Abb.: Prestel

Steiger, Ivan: Geburtstag Karikaturisten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Light" schwer verdaulich

Berlin - Viele als "leicht" gepriesene Nahrungsmittel liegen nach einer Untersuchung der Verbraucherorganisation Foodwatch schwer im Magen. Die sogenannten Light-Produkte seien oft wahre Zuckerbomben oder wiesen einen hohen Fett- oder Salzanteil auf, erklärte Foodwatch in Berlin. Im Test seien 13 Produkte, deren Verpackung mit den Hinweisen "light" oder "0,1 Prozent Fett" werbe, auf ihren Gehalt an Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz untersucht worden. Elf davon bekämen wegen eines relativ hohen Nährwerts bei einem Ampel-Kennzeichnungssystem in mindestens einer Kategorie ein rotes Signal. Derzeit erweckten Verpackungen den Eindruck, als könnten Light-Produkte "Flügel verleihen". Eine Ampel könne dagegen "Tricks der Hersteller entlarven". AFP

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12 000 Entlassungen in Chile

Santiago - Der Einbruch beim Preis für Kupfer hat 12 000 Minenarbeiter in Chile den Job gekostet. Vor allem kleine Minenbetreiber hätten im weltweit größten Kupferexport-Land zwischen September und Dezember viele Beschäftigte entlassen. Über 30 Prozent der Betriebe hätten ihre Arbeit eingestellt, erklärte die nationale Bergbaugesellschaft Sonami. Unter den Entlassenen sind 3000 Mitarbeiter großer Konzerne. Auch ein Viertel der Investitionsprojekte sei gestrichen worden, heißt es bei Sonami. Für das laufende Jahr rechnet die Gesellschaft mit einem Einbruch der chilenischen Kupferexporte auf 21,5 Milliarden Dollar, die Hälfte der Ausfuhren des vergangenen Jahres. AFP

Wirtschaftsraum Chile Bergbauindustrie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zehn Minuten Gaza

Theaterstück zu Nahost in London

Der Leiter des Londoner Royal Court Theatre Dominic Cooke hat angekündigt, dass er vom 6. Februar an ein neues Stück von Caryl Churchill in den Spielplan nehmen wird, welches sich mit dem jüngsten Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern befasst. Damit bestätigt das Haus am Sloane Square erneut seinen Ruf, rascher als jedes andere britische Theater tagespolitisch relevante Werke auf die Bühne zu bringen.

Die 70-jährige Churchill, die als bedeutendste lebende englische Dramatikerin gilt, verfasste "Seven Jewish Children - A Play for Gaza" vor zwei Wochen. Israel habe "in der Vergangenheit viele schreckliche Dinge getan", so Churchill, aber was nun in Gaza geschehen sei, erscheine ihr "besonders extrem". Diese Woche beginnen die Proben unter Dominic Cookes Regie. Die Karten für das Zehn-Minuten-Stück werden gratis sein. mea

Churchill, Caryl Theaterszene in London SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Pearl Harbor und die Rolle Roosevelts

Japanischer Journalist untermauert die These, dass die US-Regierung 1941 vom bevorstehenden Angriff wusste

Von Christoph Neidhart

Tokio - Japans Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 spielte Franklin Roosevelt jenen Kriegsgrund in die Hand, auf den der Präsident gewartet hatte. Deshalb ist immer wieder gefragt worden: Wie viel wusste Washington von den japanischen Plänen? Hat Roosevelt Pearl Harbor bewusst in Kauf genommen, um die Öffentlichkeit umzustimmen? Ein Dokumentarfilm der BBC unterstellte ihm dies schon 1989. Jetzt rollt der Tokioter Journalist Eiichiro Tokumoto das Thema wieder auf.

Nach der Attacke ohne Kriegserklärung, bei der 2402 Amerikaner ums Leben kamen, 1240 verletzt wurden und die USA 188 Flugzeuge und mehrere Schlachtschiffe verloren, sagte Roosevelt, der Tag gehe als Infamie in die Geschichte ein. Warum aber war Pearl Harbor so schlecht verteidigt, warum standen die US-Kampfflugzeuge offen auf den Rollfeldern? Warum ließ Washington, das mit einem Krieg gegen Japan rechnen musste, sich so übertölpeln? Seit 1941 haben zehn Kommissionen diese Fragen untersucht. Nach Pearl Harbor fiel es Roosevelt leicht, Kongress und Wähler von der Notwendigkeit des Kriegseintritts zu überzeugen.

Die Schuld am Debakel von Pearl Harbor schob man dem Kommandanten der Marine, Admiral Husband Kimmel, und dem Armee-General Walter Short zu. Beide mussten "wegen Pflichtverletzung" zurücktreten. Allerdings munkelten schon damals viele Offiziere, die beiden hätten als Sündenböcke für politische Versäumnisse herhalten müssen. 1999 entlastete der US-Kongress die Offiziere, denn sie hätten "kompetent und professionell" gehandelt.

Die Amerikaner hatten mehrere japanische Verschlüsselungscodes geknackt, sie lasen alle Instruktionen, die Tokio seinen Diplomaten übermittelte. Die Briten hatten den Marine-Code entschlüsselt, sie müssen von der geplanten Attacke gewusst haben, die Japans Admiral Isoroku Yamamoto seit Herbst 1940 plante und üben ließ. Washington hatte 1940 ein Handelsembargo gegen Japan verhängt, im Sommer 1941 wurde dieses um ein Öl-Embargo verschärft. Damit rechtfertigt Japans radikale Rechte Pearl Harbor bis heute: als Akt präventiver Notwehr.

Das unauffindbare Telegramm

In seinem Artikel in der Zeitschrift Gensai konzentriert Tokumoto sich auf die früheste Pearl-Harbor-Warnung, die die USA erhielten. Er glaubt zeigen zu können, dass sie im US-Außenministerium noch während des Krieges verfälscht oder unterdrückt wurde, wie andere Dokumente auch, um hochrangige Politiker zu entlasten. Am 27. Januar 1941 besuchte der peruanische Gesandte, Rivera Schreiber, den US-Botschafter Joseph Grew. Peru war einst ein wichtiges Auswanderungsland für Japaner, die Beziehungen zu Tokio eng. Nach Angaben der Witwe Rivera Schreibers hatte dessen Diener sich mit einem kleinen Informanten betrunken, dabei soll dieser erzählt haben, Japan plane, Pearl Harbor anzugreifen. Nachdem auch ein japanischer Professor und Pazifist Rivera von diesen Plänen berichteten, warnte dieser Grew, der sofort ein Telegramm nach Washington schicken wollte. Dieses Telegramm ist in den Archiven nicht zu finden.

Der dritte Sekretär der Botschaft, Frank Schuler, war ein junger ambitionierter Diplomat, der fließend Japanisch sprach. Er kehrte Anfang 1941 aus Tokio in die Fernost-Abteilung des State Department zurück. Irritiert über die Sorglosigkeit, mit der Washington Japan behandelte, verfasste Schuler im September 1941 zusammen mit fünf Kollegen ein Memo, in dem er vor einem Überraschungsangriff warnte.

Das Ministerium verlangte, die sechs sollten das Memo zurücknehmen und sich entschuldigen. Schuler weigerte sich. Dafür wurde er, obwohl im Außenministerium akuter Mangel an japanisch sprechenden Diplomaten herrschte, im November 1941 nach Antigua versetzt und nach 1944 aus dem Dienst entlassen. Bis zu seinem Tod 1996 kämpfte er mit seiner Frau Olive, die ebenfalls in der Fernost-Abteilung des US-Außenministeriums arbeitete, um seine Rehabilitierung.

Olive Schuler hatte eine Freundin, Helen Shaffer. Diese erzählte den Schulers nach ihrer Pensionierung, sie habe nach der Attacke auf Pearl Harbor, eingeschlossen in ein Büro, unter strenger Geheimhaltung Protokolle und Telegramme neu tippen müssen. Dabei seien alle belastenden Hinweise gelöscht worden. Frank Schuler sei kaltgestellt worden, weil er gewarnt hatte und zu viel wusste.

Die Hinweise im Tagebuch

Tokumoto fand Indizien, die Schulers These stützen. US-Botschafter Grew war ein pedantischer Tagebuchschreiber. In seinem Buch "Zehn Jahre in Japan” heißt es nur, in Tokio habe es damals "Gerüchte" von einem Angriff auf Pearl Harbor gegeben. Mehr nicht. Im Tagebuch jedoch hatte Grew den Besuch des peruanischen Gesandten Rivera Schreiber verzeichnet und auch, dass sie das Telegram zusammen aufgesetzt hätten. Grew war stolz auf seine Nähe zu Kaiser Hirohito. Nach Pearl Harbor wurde er, wie alle westlichen Diplomaten, in Japan interniert. In jener Zeit soll er einen Report entworfen haben, der Roosevelts Japan-Politik kritisierte. US-Außenminister Cordell Hull soll dieser Text so sehr missfallen haben, dass er anordnete, Grew solle ihn vernichten.

Das amerikanische Kriegsschiff West Virginia sank nach schweren Bombentreffern. Im Dezember 1941 kamen bei dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor 2402 Amerikaner ums Leben,1240 wurden verletzt. Die USA verloren mehrere Schlachtschiffe und 188 Flugzeuge. Foto: Reuters

USA im Zweiten Weltkrieg Geschichte der USA Japan im Zweiten Weltkrieg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eisenbahner drohen mit Streiks

Berlin - Die Bahngewerkschaften Transnet und GDBA drohen der Bahn noch in der kommenden Woche Warnstreiks an. Bei einer Sitzung der gemeinsamen Tarifkommission der beiden Gewerkschaften sei großer Unmut über die mangelnde Kompromissbereitschaft des Arbeitgebers laut geworden, sagte GDBA-Vize Heinz Fuhrmann. Eine Entscheidung werde am Montag fallen. Aus Gewerkschaftskreisen hieß es, ein Warnstreik sei nun "sehr wahrscheinlich".

Die Verhandlungen zwischen der Bahn und den beiden Gewerkschaften waren am Donnerstag abermals vertagt worden. Umstritten sind nach wie vor insbesondere die Regelungen für die Arbeitszeit. Die Tarifgemeinschaft aus Transnet und GDBA will in einem neuen Tarifvertrag günstigere Bedingungen für Schichtdienste, Ruhezeiten und Wochenenden festschreiben. Die Friedenspflicht in dieser Frage war schon Ende Dezember ausgelaufen, die Gewerkschaften können deshalb theoretisch jederzeit streiken. Parallel verlangen Transnet und GDBA, die 130 000 Beschäftigte vertreten, zehn Prozent mehr Lohn.

Die Bahn äußerte Unverständnis. Schon jetzt sei man den Gewerkschaften bei den Arbeitszeiten weit entgegengekommen, sagte Bahn-Personalvorstand Norbert Hansen der Süddeutschen Zeitung. "Wir haben deutlich angekündigt, dass es weitere Verbesserungen geben kann." Dies gehe aber nur in einem Gesamtpaket, das auch den Lohn umfasse. Beide Seiten wollen am Mittwoch wieder verhandeln. Eine Einigung noch im Januar wird immer schwieriger. miba

Tarifverhandlungen der Eisenbahner in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Kein Robin Hood der Neuzeit"

Rostocker Landgericht verurteilt Erpresser der Liechtensteiner Landesbank zu mehr als fünf Jahren Haft

Von Ralf Wiegand

Rostock - Das Landgericht Rostock hat den Mann, der die Liechtensteiner Landesbank (LLB) mit Belegen ihrer Kunden um 13 Millionen Euro erpresst hat, zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. "Er ist kein Robin Hood der Neuzeit", sagte der Vorsitzende Richter Uwe Fischer über den Angeklagten Michael F. Der 49-Jährige hatte versucht, die Daten von 2400 LLB-Kunden, die in Liechtenstein Geld vor den deutschen Finanzbehörden versteckt hatten, an die Bank zu verkaufen. Im Laufe der Hauptverhandlung hatte er die brisanten Unterlagen an die Ermittlungsbehörden übergeben. Weil dadurch Steuernacherhebungen und Strafgelder in Millionenhöhe ermöglicht worden seien, sei die Strafe milder ausgefallen als von der Anklage gefordert. Zwei Komplizen verurteilte das Gericht zu einem Jahr und zehn Monaten beziehungsweise einem Jahr und sechs Monaten jeweils auf Bewährung.

Michael F. hatte eine kriminelle Karriere der handfesteren Art mit Banküberfällen und Geiselnahmen hinter sich, ehe er 2005 durch Zufall ins Metier der "Weißen-Kragen-Kriminalität" wechselte, wie der Richter sagte. Vor knapp vier Jahren gelangte F. an 2400 Kundenbelege der LLB, die 2003 entwendet worden waren. Den Dieb, einen ehemaligen Bankangestellter, der selbst mit einer Erpressung gescheitert war, hatte F. während einer gemeinsamen Haftstrafe kennengelernt. Sofort habe er begonnen, "verschiedene Verwertungswege" für die Unterlagen zu finden, so der Richter.

Zunächst versuchte der Angeklagte demnach, Kunden der Bank direkt zu erpressen. Bis zu 400 000 Euro verlangte er von den ihm durch die Belege bekannten Steuerhinterziehern. Er war im Besitz von Namen, Kontonummern und Anlagebeträgen. Würde nicht bezahlt, drohte F., werde er die Informationen an den Fiskus weiterleiten. Die LLB-Kunden wandten sich an ihre Bank - womit der Angeklagte nach Überzeugung des Gerichts gerechnet hatte. So wuchs der Druck auf die LLB, die eine Detektei einschaltete, um F. und Komplizen zu überwachen.

Die Bank reagierte, als der Angeklagte schließlich im Sommer 2005 neun Datensätze über einen Anwalt den Finanzbehörden in Bremen zukommen und ausrichten ließ, gegen eine entsprechende Zahlung noch mehr liefern zu können: Zwei Mitarbeiter der Detektei nahmen Kontakt zu F. auf. Für die Herausgabe der kompletten Kundendateien verlangte er 13 Millionen Euro. Er sei überzeugt gewesen, sagte F. während der Verhandlung, "dass es sich die LLB nicht leisten kann, dass ihre Bankkunden mit Steuerverfahren überzogen werden. Denn dann würde ja das ganze System zusammenbrechen, das ja gerade auf diese Steuerhinterziehung ausgelegt war."

Er sollte Recht behalten. Die LLB erklärte sich zur Zahlung der Summe bereit und übergab im August 2005 im Züricher Hotel "Schweizer Hof" die erste Rate von 7,5 Millionen Schweizer Franken in bar. Zwei Jahre später folgten an gleicher Stelle weitere vier Millionen Euro. Dafür erhielt die Bank jeweils 800 Datensätze zurück. Die dritte Tranche sollte kommenden August fällig werden. Doch dazu kam es nicht mehr.

Der Angeklagte, längst mit Frau und Kind nach Thailand verzogen, wurde mit 904 500-Euro-Scheinen im Gepäck am Hamburger Flughafen festgenommen, als er nach Bangkok wollte. Die Ermittler waren auf ihn aufmerksam geworden, als er versucht hatte, 1,3 Millionen Euro bei der Commerzbank in Rostock einzuzahlen und per Blitzüberweisung nach Thailand zu transferieren, einer seiner vielen gescheiterten Geldwäscheversuche. Das Gericht habe sich lange mit der Frage beschäftigt, wie schützenswert die erpresste Bank sei, erklärte der Richter. Obwohl ein Teil ihrer Einnahmen aus Steuerhinterziehungen stammte, wertete es die Tat als besonders schweren Fall.

Der Angeklagte habe nicht, wie behauptet, gegen Steuerhinterzieher zu Felde ziehen wollen, sondern sich selbst nach dem Prinzip bereichern wollen: Gebt mir 13 Millionen ab und ihr könnt weitermachen wie bisher. Erschwerend komme hinzu, dass die erpresste Summe sehr hoch sei und er noch über den Großteil der Beute verfüge. "Von 8,5 Millionen fehlt noch jede Spur", sagte der Richter. Staatsanwaltschaft und Verteidigung kündigten Revision an.

Ins Metier der Weißen-Kragen-Kriminalität per Zufall gewechselt

Wegen Erpressung der Liechtensteinischen Landesbank musste sich Michael F. - hier vor der Urteilsverkündung - vor dem Rostocker Landgericht verantworten. Foto: AP

Liechtensteinische Landesbank Steuerskandale in Liechtenstein 2008- SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zwar keine Diva, aber doch mehr Mensch als Amöbe

Philippe Boesmans und Luc Bondy haben in Paris aus Witold Gombrowicz' "Yvonne, Prinzessin von Burgund" eine Oper gemacht

Yann Beuron sieht aus, als wäre Jean Cocteau wiedergekehrt, um noch einmal das Blut eines Dichters zu vergießen. Doch obwohl an diesem Abend im Pariser Palais Garnier ein perfide eingefädelter Mord abgewickelt wird, darf kein Tropfen Blut fließen. Und selbst wenn, dann wäre es nur eine stockend spärliche Flüssigkeit von grauer bis undefinierbarer Farbe und alles andere als ein Lebenselixier. Denn Yann Beuron gibt einen Hamlet der Moderne: perfekt gekleidet, von wundervollem Aussehen, aber von einer Rastlosigkeit und einer Melancholie geplagt, die ihm die Absurdität und Ödnis der Welt einflößen. Dieser Prinz würde gerne etwas kreieren, etwas Sinnvolles tun, Dichter werden, sich und sein Blut verschwenden, sich von seiner Lethargie befreien. Aber das einzige, was ihm in seiner prinzipiellen Opposition gegen das Dasein gelingt, ist genauso dumm und sinnlos wie alles, was sonst auf der Bühne geschieht, die wieder einmal vorgibt, die Welt zu sein.

Ein bisschen Absurdes Theater

Als Witold Gombrowicz in den dreißiger Jahren mit "Yvonne, Prinzessin von Burgund" sein erstes und berühmtestes Drama schrieb, das in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren zu einem Theaterschlager avancierte, da konnte man darüber staunen, wie die hässliche, maulfaule und society-untaugliche Yvonne in einer nicht näher definierten Hofgesellschaft für Furore sorgte. Doch weil jeder in ihr seine eigenen Defizite erkannte, musste die Frau weg, wurde kalt abserviert. Ein gewisser Schuss Gesellschaftskritik, ein Quentchen absurdes Theater, die Abwendung vom psychologischen Realismus, ein grandioses Formgefühl und eine schlicht von A bis Z erzählende, einfache Sprache mögen den Erfolg damals begründet haben. Heute aber wirkt der Text altbacken, allzu vordergründig eindimensional und etwas zu geheimnislos, als dass man einen großen Theaterabend davon erwarten könnte.

Vielleicht waren aber genau dies die Gründe, warum Komponist Philippe Boesmans, Jahrgang 1936, und sein Librettist und Regisseur Luc Bondy jetzt aus der "Yvonne" eine Oper gemacht haben. Weil sie der Ansicht sind, das nur die Musik diesem Text sein Geheimnis, seine Relevanz und seine Modernität zurückgeben kann. Gemessen am Schlussjubel im Palais Garnier ist das Projekt durchaus gelungen. Boesmans & Bondy haben mit dieser Produktion, die auch an die Brüsseler Monnaie-Oper und zu den Wiener Festwochen geht, eine Form von Musiktheater gefunden, die trotz ihrer lyrisch melancholischen Grundhaltung ein Stadttheaterpublikum zu faszinieren weiß.

Boesmans, dabei schon oft unterstützt von Bondy, bevorzugt Literaturopern. Er hat Shakespeares "Wintermärchen", Schnitzlers "Reigen" und Strindbergs "Fräulein Julie" vertont. Das sind handwerklich brillante Arbeiten. Aber mit der "Yvonne" ist ihm musikalisch mehr gelungen, hier begibt er sich auf jenes ins gebrochen Magische zielende Niveau, das er mit seinen "Trakl-Liedern" erreicht hat. Dass Boesmans' Ansatz Experimente, die Aufgabe des Narrativen und andere Errungenschaften der Moderne ausschließt, versteht sich von selbst. Doch auch wenn "Yvonne" zwar die traditionelle Theatererzählform wahrt, benutzt sie diese Form nur, um die mit allen dramatischen Konventionen brechende Titelheldin überhaupt szenisch einfangen zu können. Das verbindet Yvonne mit Hamlet und König Ubu.

Die Schauspielerin Dörte Lyssewski ist nun durchaus nicht hässlich, plump oder sonst wie unförmig. Sie spielt - sprechen darf sie nur wenige Worte - eine unabsichtlich ungelenke junge Frau, deren Antriebslosigkeit erstaunlich ist und die von dieser ihrer Disposition auch keinerlei Bewusstsein zu haben scheint. Lyssewski nutzt ihre meisterliche Körperbeherrschung, um einen ständig in sich zusammenschlaffenden Körper zu zeigen, mit wegrutschenden Beinen, einknickendem Rücken, ausleierndem Hals, verfließenden Armen - scheinbar mehr Mensch als Amöbe, aber durchaus nicht dumm, über die Maßen leidensfähig und als einzige überhaupt liebesfähig.

Nie ist man sich sicher, ob sich diese tapsige Gestalt im nächsten Moment nicht in eine Diva verwandelt. Selbst in der umtriebig aufgekratzten Karnevalstruppe, die Bondy als Hofgesellschaft auf die Bühne stellt, nimmt sich dieses verquer hampelnde Geschöpf in seinem schlichten Kleid seltsam aus. Anfangs sorgt Yvonnes Andersartigkeit für Abwechslung im übersaturierten Treiben. Bald wird sie zum Störfaktor, weil sich alle in ihr wiederzuerkennen und von ihr parodiert glauben.

Bondy gibt sich gar nicht erst die Mühe, seinen Karnevalsnarren große tragische Seelen einzuhauchen. Paul Gays König erinnert mit seinen Playboyallüren an Berlusconi; Mireille Delunschs Königin entdeckt, dass ihre Gedichte nur ihre eigene psychische Hässlichkeit dokumentieren; ein "Unschuldiger" (Guillaume Antoine) macht klar, wie wenig unschuldig Liebe sein muss, wenn sie Liebe sein will. Und Yann Beuron mit seinem betörend melancholischen Tenor bezeugt, dass Schönheit allein nur unglücklich macht. Tristesse des Mittelmaßes: Alle sind sie billige Menschenkopien, die allenfalls kleine, von anderen geborgte Gefühle ausstellen. Aber gerade dieses Kleine und Kleinliche ist es, das den Mord an Yvonne zuletzt als völlig logisch und natürlich erscheinen lässt.

Bondy hält sich vielleicht auch deshalb szenisch so stark zurück, weil er auf Boesmans' Musik vertraut. Die entpuppt sich als eigenwillig eigenständige Inszenierung des Textes, die unablässig davon spricht, was in den Menschen auf der Bühne vorgeht. Minimal die Mittel, klein die Besetzung mit dem Klangforum Wien, das Sylvain Cambreling zügig aufspielen lässt, immer um Klarheit und Klangfarbenfeuer besorgt. Boesmans schafft eine reizvolle Grundatmosphäre, die an die zwar leichte, doch lastende Statik in Debussys "Pelléas" erinnert und immer wieder zu jenen Glasmenagerien aufbricht, die an Richard Strauss' eingefrorene Sehnsuchtsmusiken erinnern.

Was in keine Tradition passt

In dieses sparsam konturierte Liniengeflecht, das sich nie zu Sturm, Pathos und Leidenschaft aufrafft und vokal geschmeidig geschwungene Phrasen zeigt, fügt Boesmans zitathaft wirkende Tonfragmente ein. Immer wieder erinnert eine Geste an ältere, meist romantische Musik. Aber was da aufscheint, ist verändertes, ausgedünntes, beschädigtes Stückwerk - Parodie. Das scheint eine Fortsetzung der Postmoderne, die aber nicht mehr ein "Alles ist möglich" anpreist, sondern eine psychische Gegebenheit kompositorisch einfängt: Dass der Mensch alles, was er erlebt, schlagartig mit ihm schon bekannten Phänomenen abgleicht. Der musikalische Sinn dieser Technik ist klar. Boesmans erinnert zwar immer wieder an die Tradition, aber nur um sie sofort zu verwerfen, um zu sagen, dass das, was da mit und durch Yvonne auf der Bühne passiert, in keine Tradition passt.

Das ist zwar kompositorisch reizvoll. Es kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Boesmans keine grundsätzlich neue Musiksprache schreibt, sondern virtuoser Weiterverwerter von bekannten Klängen ist. Aber vielleicht kann traditionell gemachtes Musiktheater heute grundsätzlich kein Versprechen auf Zukunft sein, sondern muss sich mit der - im Idealfall brillanten - Anverwandlung von Vergangenheit zufrieden geben. Das aber beschreibt das größte Problem heutiger Opernmacherei, der einigermaßen massenkompatible Neuproduktionen meist nur dann gelingen, wenn sie sich explizit mit der Vergangenheit einlassen und von einer wie auch immer gearteten Zukunft gar nicht erst träumen. REINHARD J. BREMBECK

Am Hof von Burgund Paul Gay als König und Dörte Lyssewski als Yvonne Foto: Ruth Walz / Opéra national de Paris

Boesman, Philippe Bondy, Luc Theaterszene in Paris Yvonne, Prinzessin von Burgund SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Unverkäufliche Laster

Frankfurt - Die Nachfrage nach Nutzfahrzeugen ist in Europa so stark zurückgegangen wie seit 1993 nicht. 2008 seien die Neuzulassungen um neun Prozent auf 2,5 Millionen Transporter, Lkw und Busse gefallen, meldete der Branchenverband Acea. Am stärksten betroffen waren Vans und Kleintransporter bis zu 3,5 Tonnen, deren Verkaufszahl um 10,4 Prozent zurückging. Sie machen mit 2,04 Millionen Stück die Mehrheit unter den Nutzfahrzeugen aus. Bei den schweren Lkw über 16 Tonnen sanken die Absatzzahlen um 2,2 Prozent. Das Absatzminus geht allerdings ausschließlich auf das zweite Halbjahr zurück. Während im ersten Quartal ein leichtes Plus von 1,3 Prozent verzeichnet wurde, waren die Verluste im dritten und vierten Quartal mit minus zwölf und minus 24 Prozent dramatisch. Reuters

Nutzfahrzeugindustrie Autoindustrie in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Al-Qaida-Terrorist gefasst

Bagdad - Irakische Sicherheitskräfte haben nach Angaben des Innenministeriums in Bagdad die Nummer Zwei der Al-Qaida-Terroristen im Land verhaftet. Ein Sprecher des Ministeriums sagte, Ismail Abdessattar al-Rubai sei in einem Vorort Bagdads festgenommen worden. Al-Rubai sei ein spiritueller Anführer der Terrorgruppe gewesen. Seine Aussagen hätten geholfen, weitere Terroristen zu fassen. Unterdessen töteten US-Soldaten in einem Dorf in der Provinz Salaheddin einen Offizier der irakischen Armee und dessen Frau. Die US-Armee erklärte, der Mann sei ein "gesuchter Terrorist" gewesen. Seine Frau sei erschossen worden, weil sie nach einer Pistole gegriffen habe. dpa

Bagdad

- Irakische Sicherheitskräfte haben nach Angaben des Innenministeriums in Bagdad die Nummer Zwei der Al-Qaida-Terroristen im Land verhaftet. Ein Sprecher des Ministeriums sagte, Ismail Abdessattar al-Rubai sei in einem Vorort Bagdads festgenommen worden. Al-Rubai sei ein spiritueller Anführer der Terrorgruppe gewesen. Seine Aussagen hätten geholfen, weitere Terroristen zu fassen. Unterdessen töteten US-Soldaten in einem Dorf in der Provinz Salaheddin einen Offizier der irakischen Armee und dessen Frau. Die US-Armee erklärte, der Mann sei ein "gesuchter Terrorist" gewesen. Seine Frau sei erschossen worden, weil sie nach einer Pistole gegriffen habe.

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Flugbegleiter kämpfen für 15 Prozent mehr

Jeder zweite Lufthansa-Flug von und nach Frankfurt ist am Freitag ausgefallen. Die Gewerkschaft hält das gegenwärtige Angebot für eine Mogelpackung

Von Sibylle Haas

München - Der erste Streik der Flugbegleitergewerkschaft Ufo hat am Freitagmorgen zu zahlreichen Ausfällen von Lufthansa-Flügen und zu Verspätungen geführt. Am frühen Morgen hatte Ufo zu einem dreistündigen Warnstreik am Frankfurter Flughafen aufgerufen, dem nach Angaben der Gewerkschaft 400 Flugbegleiter gefolgt waren. Eine Lufthansa-Sprecherin sprach dagegen vonetwa 100 Streikteilnehmern. Ohne Flugbegleiter dürfen Flugzeuge aus Sicherheitsgründen nicht starten. Als Folge des Warnstreiks seien 44 der 90 Flüge von und nach Frankfurt gestrichen worden, sagte sie. Lufthansa bietet täglich insgesamt 2000 Flüge an. Es seien einige hundert Passagiere von dem Streik betroffen gewesen. Lufthansa habe sie auf andere Flüge umgebucht, sagte die Sprecherin.

Der Frankfurter Flughafen ist für die größte deutsche Fluggesellschaft der wichtigste Knotenpunkt. Sie fliegt von dort aus in fast sämtliche Länder dieser Erde. Langstreckenflüge, also nach Asien oder über den Nordatlantik, seien wie geplant abgewickelt worden. Lediglich auf innerdeutschen und europäischen Verbindungen sei es zu Flugstreichungen und Verspätungen gekommen. Die Lufthansa-Sprecherin sagte weiter, im Laufe des Tages habe sich der Flugverkehr wieder normalisiert.

Hintergrund des Warnstreiks ist ein Tarifkonflikt zwischen der Gewerkschaft Ufo und Lufthansa. Der Tarifvertrag und die Friedenspflicht endeten zum 31. Dezember, seitdem sind Streiks möglich. Die Flugbegleitergewerkschaft Ufo hatte am vergangenen Wochenende die Tarifverhandlungen mit Lufthansa für gescheitert erklärt. Das Unternehmen habe auch in der dritten Tarifrunde kein verbessertes Angebot präsentiert, begründete die Gewerkschaft.

Ufo fordert für die Flugbegleiter eine Lohnsteigerung von 15 Prozent sowie verbesserte Arbeitsbedingungen im Manteltarifvertrag. Lufthansa hat nach eigenen Angaben bei einer Laufzeit des Tarifvertrags von 14 Monaten eine Erhöhung um zehn Prozent angeboten, die sich aus einer Lohnsteigerung, einer Ergebnisbeteiligung und verbesserten Arbeitsbedingungen zusammensetzt. "Das Angebot ist eine Mogelpackung. Die tatsächlich angebotene Lohnsteigerung beträgt drei Prozent", sagte der Ufo-Verhandlungsführer und Leiter der Tarifpolitik, Joachim Müller, der Süddeutschen Zeitung. Er kündigte weitere Warnstreiks an. "Das wird zeitnah sein. Warnstreiks sind schon nächste Woche denkbar", sagte Müller. Einen Zeitplan wollte er nicht nennen. Die Gewerkschaft werde die Arbeitsniederlegung kurzfristig bekannt geben, damit die Fluggesellschaft wenig Möglichkeit zum Gegensteuern habe. Angedacht sei auch die Urabstimmung über reguläre Streiks. "Da gibt es aber noch keine Beschlüsse", betonte Müller.

Lufthansa sei weiter verhandlungsbereit. "Wir fordern die Gewerkschaft auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren", sagte die Unternehmenssprecherin. Nach Ufo-Angaben sind 70 Prozent der etwa 16 000 Lufthansa-Flugbegleiter Mitglied bei Ufo. In der Branche heißt es, die Gewerkschaft Verdi habe in der Kabine nur knapp 700 Mitglieder. Verdi selbst nennt keine Zahlen. Lufthansa und Verdi hatten sich im August vorigen Jahres auf eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 4,2 Prozent geeinigt. Der Abschluss gilt für die Lufthansa-Mitarbeiter am Boden und für die Flugbegleiter. Da Lufthansa aber die Tarifeinheit bewahren will, soll der Abschluss nur dann für die Flugbegleiter gelten, wenn Ufo dem zustimmt. Das lehnt Ufo ab.

Die Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (Ufo) ist Deutschlands einzige Gewerkschaft, die sich ausschließlich für das fliegende Kabinenpersonal einsetzt. Ufo wurde 1992 gegründet, insbesondere weil die Flugbegleiter ihre Interessen in den damaligen großen Gewerkschaften nicht ausreichend vertreten sahen. Bei Ufo sind nach eigenen Angaben unter anderem Mitarbeiter der Fluggesellschaften Air Berlin, Condor und Condor-Berlin, DBA, Eurowings, Germanwings, Hapag Lloyd, LTU, Lufthansa und Lufthansa Cityline organisiert.

Mitglieder der Gewerkschaft UFO haben am Freitag auch drei Stunden lang am Flughafen in Frankfurt demonstriert. Foto: ddp

Streiks bei der Lufthansa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alles so senkrecht hier!

Barbara Honigmanns Reisetagebuch aus New York

Es ist ein typischer Fall von Stipendiatenprosa: Barbara Honigmann darf in New York zehn Wochen writer in residence sein. Sie schreibt an zwei Stellen, wie dankbar sie dem "lieben Deutschen Literaturfond" dafür ist und revanchiert sich mit dem Reisetagebuch "Das überirdische Licht."

"Touristische Pflichten habe ich mir nicht auferlegt. Die habe ich schon bei früheren Besuchen erfüllt" schreibt Honigmann stolz. Aber tatsächlich ist es doch eine höhere Form von Tourismus, den sie betreibt: Wenn sie statt Museen die Gottesdienste in den diversen jüdischen Gemeinden abklappert, ans Grab von Hanna Arendt pilgert, zum Yoga und ins Offtheater geht.

Wie fühlt es sich an, nach zwanzig Jahren als weibliches Familienoberhaupt auf einmal wieder "ledig" zu sein? Die Söhne sind erwachsen, der Mann geht in old europe friedlich seinem Beruf nach - und im Rausch des Alleinseins erinnert sich Barbara Honigmann an ihre Studentenzeit, als sie stets eine Zahnbürste mit sich trug, weil sie nie im voraus wusste, wo sie übernachten würde. Automatisch rutscht sie in die Gewohnheiten von damals: Spät aufstehen, flanieren, aus Tüten essen, in Jogginghosen auf Sofas lümmeln, lesen und Tagebuch schreiben.

Ihre Aufzeichnungen sind sehr persönlich. Und das hat sein Gutes, weil sie den Leser ins Vertrauen ziehen, als gehöre er zur Familie. Aber gleichzeitig belästigen sie ihn auch mit alltäglichen Details, die er gar nicht wissen möchte - z.B. wann Barbara Honigmann ihre Emails checkt und ihr Telefon reparieren lässt.

Nichts Neues von Andy Warhol

Das Grundproblem an der Stipendiatenexistenz in fremden Städten ist ja folgendes: Sie ist angenehm, aber nicht unbedingt mitteilenswert! Weil die Autoren dort auf die Schnelle keine Erfahrung machen, die ihnen und anderen an die Substanz geht - und dann meinen, ihre flüchtigen Impressionen zu einem Reisebericht zusammenkratzen zu müssen. Aber auch den würde man mit Neugierde lesen, wenn der Deutsche Literaturfond seine Talente nach Islamabad, Kairo, Kalkutta oder Shengzen entsendete - statt zum x-ten Mal nach New York!

Will man von Barbara Honigmann noch einmal gesagt bekommen, dass diese Metropole "senkrecht steht", multiethnisch und multinochwas ist, voll von Künstlern und Möchtegernkünstlern? Als "deeply superficial hat Andy Warhol diese Stadt und sich selbst treffend beschrieben; der hat hier auch irgendwo gewohnt," notiert Honigmann. Und diese Notiz ist symptomatisch für ihren Versuch, in der eigenen Anschauung nachzuvollziehen, was man vom Hörensagen längst wusste und in hunderttausend Filmen gesehen hat.

Honigmann ist eine sympathische Frau, die offen auf die Menschen zugeht. Und es ist keine Zumutung, an ihrer Seite durch Manhattan zu spazieren. Aber man fragt sich doch, was der literarische Ertrag dieses Buches sein soll? Zumal die Reize des Bohemelebens so oft beschworen wurden wie die Schrecken der Holocaustüberlebenden, die Honigmann in ihrer "komfortablen Diaspora" aufsucht. Man versteht nur zu gut, dass Honigmann diesmal keine Lust hat, sich diesen Schrecken narrativ zu stellen. Sie plaudert mit einer Verwandten, die ihre Eltern in Theresienstadt verloren hat ("you know, the concentration camp") und referiert deren Schicksal sozusagen im Kaffee-und-Kuchen-Modus.

Vielleicht deutet diese Lockerheit auf einen Fortschritt in der kollektiven Traumatherapie seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Honigmanns Eltern sind aus dem Exil freiwillig nach Ostberlin zurückgekehrt, um sich am Aufbau des kommunistischen Deutschlands zu beteiligen. Mit diesem Hintergrund wird die Schriftstellerin für die New Yorker Juden zu einem echten Kuriosum.

Dem deutschen Leser ihres Reiseberichts geht das anders, weil sie "gar nichts Aufregendes" erlebt und das Geschichtenerzählen gezielt vermeidet: Mitten in der entrückten Doctorow-Lektüre hört sie, dass der Schriftsteller in demselben Hochhaus wohnt wie sie. Schon hofft man auf eine spannende Begegnung, ein flirrendes Gespräch auf der Dachterrasse . . . aber nein, Barbara Honigmann geht gar nicht auf die Suche, sondern imaginiert nur kurz, wie sie sich im Aufzug gegenüberstehn. EVA CORINO

BARBARA HONIGMANN: Das überirdische Licht. Rückkehr nach New York. Carl Hanser Verlag, München 2008. 160 Seiten, 14,90 Euro.

Honigmann, Barbara: Werk SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Irritation über Freie Wähler

Berlin - Die Freien Wähler in Bayern haben mit ihren Gesprächseinladungen an die Präsidentschaftskandidaten Horst Köhler und Gesine Schwan Verwunderung und teilweise Empörung ausgelöst. Bislang hatte als sicher gegolten, dass die Freien Wähler in der Bundesversammlung am 23. Mai Köhler unterstützen würden. Die Stimmen der zehn FW-Delegierten können für Köhler entscheidend sein, um zusammen mit den Stimmen von Union und FDP die absolute Mehrheit von 613 Stimmen zu erreichen. Der FW-Landesvorsitzende Hubert Aiwanger hat nun jedoch angekündigt, seine Fraktion wolle vor einer Entscheidung zunächst mit Köhler und Schwan sprechen und damit den Eindruck erweckt, die Entscheidung der FW sei wieder offen. Bundespräsident Köhler selbst hat noch nicht entschieden, ob er der Einladung der Freien Wähler nachkommt. Ein Sprecher des Bundespräsidialamtes bestätigte am Freitag lediglich den Eingang eines entsprechenden Briefes der Freien-Wähler-Fraktion im Bayerischen Landtag. SPD-Kandidatin Gesine Schwan hatte sich bereits am Mittwoch offen für ein Gespräch mit den Freien Wählern gezeigt.

"Wackelkurs"

FDP-Chef Guido Westerwelle kritisierte das Verhalten der Freien Wähler dagegen scharf: Hier finde "ein wirklich mieser Wortbruch" statt, sagte Westerwelle. "Wenn die Freien Wähler jetzt gemeinsam mit der Linkspartei, der SPD und den Grünen versuchen, diesen hoch anerkannten Bundespräsidenten aus dem Amt zu bringen oder in Frage zu stellen, ist das ein Verrat an ihren eigenen Wählern." Er sei jedoch zuversichtlich, dass Köhler dennoch von der Bundesversammlung wiedergewählt werde.

Bayerns CSU-Landtagsfraktionschef Georg Schmid warf den Freien Wählern einen "Wackelkurs" vor: "Wenn die Freien Wähler jetzt neu überlegen, ob sie Gesine Schwan oder Horst Köhler zum Bundespräsidenten wählen, dann brechen sie entweder ihre Wahlversprechen vor der Landtagswahl oder sie führen nur ein Politspektakel auf, um sich wichtig zu machen." Wenige Tage vor der bayerischen Landtagswahl im September sei Aiwanger mit der Beliebtheit von Köhler "auf Stimmenfang gegangen". Damals habe Aiwanger erklärt, es sei definitiv so, dass sich Köhler um die Freien Wähler keine Sorgen zu machen brauche, wenn es darauf ankomme in der Bundesversammlung. Schmid fügte hinzu: "Wenn das Wort ,definitiv' jetzt nach der Wahl nicht mehr gilt, dann ist es mit der von Herrn Aiwanger so gerne strapazierten Glaubwürdigkeit nicht weit her." (Seite 4) nif

Aiwanger, Hubert: Angriffe Westerwelle, Guido: Zitate Freie Wähler in Bayern Wahl des Bundespräsidenten 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hier ist das Fleisch nicht Wort geworden

Hintern im Mondlicht: Seit "Feuchtgebiete" sind Mädchensexbücher so erfolgreich, dass es jetzt sogar eine extra Verlagsreihe dafür gibt

Es sind die Frauen, die lesen, das ist bekannt. Allerdings bekommen die Frauen nicht immer das, was sie lesen wollen. Junge Frauen zum Beispiel lesen gerne Romane über Sex aus der Sicht von jungen Frauen, sagt zumindest Jennifer Hirte vom Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Davon gebe es allerdings viel zu wenige, und schon gar keine guten. Schwarzkopf & Schwarzkopf will diese Lücke nun mit einer eigenen Reihe schließen. Sie trägt den etwas hausbackenen Namen Anais und wird bestückt von Frauen zwischen 18 und Mitte 30, die über Sex und Erotik schreiben. Vier Romane sind gerade herausgekommen, zwei von deutschen Autorinnen, zwei Lizenzen. Weitere acht Bücher folgen im Frühjahr.

Die Bücher handeln von jungen Frauen, die Adele, Julia oder Raquel heißen und Sex mit dem Handwerker, einem Transsexuellen, dem besten Kumpel, der Nachbarin, einer Domina oder allen zusammen haben. Es kommen Peitschen, Wachskerzen, Schlagsahne, Wäscheklammern, Seidenschals, Intimpiercings und schwarze Riesendildos vor, und es geht zum Beispiel darum, dass Lippen aussehen "wie pralle, reife Beeren” oder "sein Schwanz im Takt mit ihrer viel zu lange schon vernachlässigten Muschi pochte".

Nicht, dass das uninteressant wäre. Im Roman "Spieler wie wir" von Cornelia Jönsson, in dem sich eine junge Frau namens Pauline in der Sado-Maso-Szene umtut, erfahren wir zum Beispiel, dass Sadomasochisten kaum One-Night-Stands haben. In der kurzen Zeit eines One-Night-Stands könnten sich nämlich nicht die für S/M-Spiele erforderlichen Machtverhältnisse ausbilden. In Rebecca Martins "Frühling und so" begleiten wir eine 18-Jährige, die den besten Freund ihres Ex-Freundes verführt, außerdem den Freund ihrer Freundin, einen griechischen Barbesitzer, und einen kolumbianischen Musiker. Eine Köchin, die nichts anbrennen lässt, ist wiederum die Hauptfigur von Anna Clares Roman "Adele hat den schönsten Mund". Und in der Geschichtensammlung "Lara, Jill & Lea" von Jaci Burton, Shannon Stacey und Ann Wesley Hardin nimmt jemand an einer Benefizveranstaltung teil, "bei der es darum ging, wie viele Stunden man masturbiert".

Verantwortlich für das Programm von Anais ist Jennifer Hirte. Sie hat eine Magisterarbeit über Frauen und Selbstbefriedigung geschrieben und war bei Schwarzkopf & Schwarzkopf für die Lizenzen zuständig, ehe sie die Erotik-Schiene übernahm. Ihr Büro befindet sich in der Berliner Kastanienallee, die wegen des sich hier darbietenden Kreativprekariats auch Castingallee genannt wird. Auch sonst hat Jennifer Hirte einiges zu erzählen. Erotische Literatur sei seit etwa 2005 ein Wachstumsmarkt. In Großbritannien betreibt ein Verlag wie Virgin Books drei Imprints für erotische Romane, darunter eines, das sich speziell an junge Leute richtet. In Amerika, einem Land der Vielleserinnen und -schreiberinnen erotischer Romane, würden die Bücher überhaupt gleich im Supermarkt verkauft. Vor allem Frauen bestreiten dieses Genre, die paar männlichen Autoren, die es gibt, legen sich stets ein weibliches Pseudonym zu.

Inhaltlich dominierten die längste Zeit historische Geschichten im Gothic-Gewand, Werwölfe und Aliens, "vermutlich weil Aliens mehr Schwänze haben und man als Werwolf länger kann", sagt Hirte. Wenn es ein wenig hipper zugehe, handle es sich meistens um Galeristinnen, die sich in einen Künstler verlieben, "und auf den Covern dieser Bücher sind immer Silhouetten von einem Hintern im Mondlicht". Den Hintern im Mondlicht will Anais nun etwas "Jüngeres und Cooleres" entgegensetzen. "Aufregende Storys, komplexe Charaktere und vielfältige Neigungen" verspricht der Verlagsprospekt (auf dessen Cover eine nackte Schulter auf einer Blumenwiese zu sehen ist).

Wie man das Genre erfolgreich sprengt, hat Charlotte Roche mit "Feuchtgebiete" bewiesen, dem bestverkauften Buch des Jahres 2008. Junge Frau plus Sex plus schmutzige Dinge - das gilt auf dem Literaturmarkt seither als eine Art Zauberformel, die man sich nur zunutze machen muss. In welches Verlagsprogramm man blickt, es findet sich immer eine junge Frau, die aus ihrem Sexleben erzählt. Bei Ullstein ist das Buch "Fucking Berlin - Studentin und Teilzeithure" erschienen, Kiepenheuer und Witsch (das ist der Verlag, der "Feuchtgebiete" einst ablehnte) bringt jetzt den Titel "Bitterfotze" heraus. Neues Sexspiel, neues Glück.

Und was macht einen guten erotischen Roman aus? Jennifer Hirte nennt drei Dinge: "eine interessante Protagonistin, einen nachvollziehbaren männlichen Charakter und eine eigene Sprache." Interessante Protagonistin, nun ja, da wäre Lara aus der gleichnamigen Erzählung von Jaci Burton: "Himmel, wie schön sie war. Die Bluse offen, die Brüste bloß . . . und der Rock war weit aus der Bluse gerutscht." Die männlichen Charaktere sind allerdings extrem nachvollziehbar. "Allein beim Gedanken, wie sich sein Schwanz in ihre enge, heiße Höhle bohrte, wurden seine Eier hart und waren kurz vorm Explodieren." Die eigene Sprache, die Hirte einfordert, ist dagegen ein echtes Problem der Reihe. Das beginnt schon damit, wie man das Ding nennt. Spätestens beim fünften "hämmernden Schwanz", der in eine "schmatzende Muschi fährt", wird einem klar, warum das Medium der Pornographie nun mal das Bild ist. Bei Anais ist das Fleisch jedenfalls nicht Wort geworden.

Ganz gut hat das noch Cornelia Jönsson in "Spieler wie wir" hingekriegt. Ob sich da eine Frau bei einer Freundin ausheult, weil ihr Lebensgefährte eine andere Frau "begurkt" hat ("Aber ich will auch eine begurkte Möse haben!") oder die Wohnung vor dem Besuch der Mutter "entsext" werden muss ("Gut, Peitschen und Handschellen müssen weg. Aber was ist beispielsweise mit Kochlöffeln?") - Jönssons Sado-Maso-Welt entbehrt nicht der sprachlichen Komik. Und die Zeit zwischen den ermüdend langen Sexszenen nützt Jönsson, um sich dem Milieu Kreuzberger Akademiker in der Midlife-Crisis zu widmen. Jönsson beschreibt die depressiven Erben der sexuellen Revolution, die nicht wissen, ob sie nun ausgepeitscht werden wollen oder doch lieber zum Yoga.

Ansonsten kann man schwer sagen, was die Anais-Romane erzählen wollen. Anders als in den "Feuchtgebieten", deren urwüchsige Sexualpraktiken in eine Art Zurück-zur-Natur-Diskurs eingebettet waren, steht Sexualität in den Anais-Romanen für nichts. Sie ist kein Spiegel von Machtverhältnissen, dazu sind die Romane zu harmlos. Es geht auch nicht um die Emanzipation weiblichen Begehrens, die Protagonistinnen sind allesamt erotische Alphamädchen, die sich nehmen oder sich nehmen lassen. Sex hat man, weil es sich gerade ergibt. Vielleicht ist das ja die Botschaft des neo-erotischen Romans: Dass weibliche Sexualität gar nichts transportieren muss, sondern für sich selbst stehen kann.

Das geht dann so: Junge Frau trifft einen Busfahrer und hat Sex; junge Köchin schnappt sich einen Bisexuellen in der Restaurantküche und wird fast erwischt; junge Frau hat Sex auf einem Autositz und klemmt dabei fest. Sex ist für jede dieser jungen Frauen eine Art Abenteuer, das es zu bestehen gilt. Am Ende geht sie (sexuell) gestärkt daraus hervor, vielleicht wird eines Tages auch geheiratet. Und mit einem Mal wird einem klar, warum sich dieses Genre an junge Frauen richtet. Die Geschichten erinnern einen an die naive Fröhlichkeit von Pony-Romanen. Nur dass das Mädchen nicht mit seinem Pferd durch Dick und Dünn geht, sondern mit dem Klempner oder Busfahrer durch Peitschensex und Gruppenorgasmen. Schon die Titel klingen wie die Fortsetzung von Wendy- und Conny-Büchern: "Anna und ihre Männer", "Lucy früh am Morgen", "Charlottes heißer Sommer".

"Ich lauere Ida vor der Badezimmertür auf und mein Leben ist ein rosa-silber Barbieglitzer-Pony", heißt es in Rebecca Martins Roman "Frühling und so." Rebecca Martin ist eine 18-jährige Abiturientin aus Berlin-Kreuzberg und hat noch das interessanteste Mädchensexbuch geschrieben. Es geht um junge Leute in Berlin, die von Party zu Party ziehen, ständig miteinander telefonieren und sämtliche Codes des Großstadtlebens kennen. So sicher sich diese Jugendlichen durch die unterschiedlichsten Subkulturen bewegen, so verloren wirken sie auf der anderen Seite. Sex ist etwas, das sich ergibt oder auch nicht, so wie man eine Einladung zu einem Casting bekommt oder sich auf einer Party betrinkt. "Dann tanze ich mit Tobias. Vielleicht flirte ich mit Tobias, so genau weiß ich das nicht. Jedenfalls sagt er irgendwann: ,Das geht nicht, ich habe eine Freundin' . . . und ich antworte irgendetwas Blödes wie: ,Okay dann tanzen wir halt', weil ich einerseits enttäuscht bin, andererseits sowieso nicht existiere."

Anders als es in den meist lüsternen Porträts der jungen Autorin zu lesen war, stellt Rebecca Martin Sexualität nicht in den Vordergrund. "Frühling und so" ist das Porträt einer Jugend, die von ihren Eltern alle Freiheiten bekommen hat und trotzdem nicht aus ihrer Haut kann. Sex ist nur eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten, sich dem behüteten Leben für einen Moment zu entziehen. Der Schlüsselsatz lautet: "Wenn ich dagegen Dinge unternehme, die aus dem Alltag herausfallen, einen Film drehen zum Beispiel, an einem Workshop teilnehmen, eine Reise machen, mit einem Mann schlafen - ja, mit Männern schlafen gehört auch dazu -, bilde ich mir ein, glücklich zu sein." Rebecca Martins Debüt wird ihre weibliche Zielgruppe finden. Und wenn es nur Mütter sind, die wissen wollen, wie ihre jugendlichen Töchter ticken. VERENA MAYER

Wenn es hipper zugeht, handelt es sich meistens um Galeristinnen, die sich in einen Künstler verlieben.

Die eigene Sprache ist ein echtes Problem. Das beginnt schon damit, wie man das Ding nennt.

Die Soziologie war in den sechziger Jahren eines der beliebtesten Studienfächer und auch der Schulabbrecher Jerry Berndt war fasziniert. Statt ein Studium zu absolvieren, wurde er Fotograf. In den Kaschemmen des Rotlichtviertels von Boston entstand der Kern einer Arbeit, die das Fotozentrum C/O Berlin nun als erste eigene Buchpublikation herausgab (JERRY BERNDT: "Insight", Steidl Verlag, Göttingen 2008, 248 Seiten, 42 Euro, die gleichnamige Ausstellung läuft bis 15.2., Info: www.co-berlin.info). Berndts Blicke in die Nacht sind heftig und schließen die Lücke zwischen Robert Franks "Americans" und Larry Clarks "Tulsa". eye

Erotische Literatur Buchverlage in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Platz eins

Daniel Kehlmanns Roman "Ruhm"

Daniel Kehlmann ist mit seinem neuen Buch an die Spitze der Bestsellerlisten gestürmt. Eine Woche nach dem Erscheinen von "Ruhm - ein Roman in neun Geschichten" ist das Buch sowohl beim Focus als auch beim Spiegel der Toptitel. Bereits 160 000 Exemplare hat der Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg ausgeliefert, sagte Pressesprecherin Ursula Steffens. Weil damit schon fast die Startauflage von 200 000 Exemplaren erreicht sei, habe der Verlag 100 000 Bücher nachdrucken lassen. Mit so einem Erfolg habe man nicht rechnen können, "aber wir haben es natürlich gehofft", sagte Steffens. Kehlmanns Bestseller "Die Vermessung der Welt" verkaufte sich bislang 1,4 Millionen Mal.dpa

Daniel Kehlmann ist mit seinem neuen Buch an die Spitze der Bestsellerlisten gestürmt. Eine Woche nach dem Erscheinen von "Ruhm - ein Roman in neun Geschichten" ist das Buch sowohl beim Focus als auch beim Spiegel der Toptitel. Bereits 160 000 Exemplare hat der Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg ausgeliefert, sagte Pressesprecherin Ursula Steffens. Weil damit schon fast die Startauflage von 200 000 Exemplaren erreicht sei, habe der Verlag 100 000 Bücher nachdrucken lassen. Mit so einem Erfolg habe man nicht rechnen können, "aber wir haben es natürlich gehofft", sagte Steffens. Kehlmanns Bestseller "Die Vermessung der Welt" verkaufte sich bislang 1,4 Millionen Mal.

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Wer nicht denken will, muss fühlen

Ein enttäuschter Wiener Charmeur: Friedrich Torberg schreibt sich mit Marlene Dietrich von 1946 bis 1979, ohne in ihren Memoiren erwähnt zu werden

Auch wenn Großgermanisten und Kleineditoren, vielfach subventionierte Verleger und Drittmittelbewilliger jetzt aufschreien: es muss nicht alles veröffentlicht werden, was ein Schriftsteller seiner Lebtag geschrieben hat. Andererseits wird das papierne, also das fassbare Material eher weniger; bei der Textproduktion am Computer verschwinden Fehlversuche und Entwürfe hinter tausend Pixeln, und die zu Zehntausenden, aber in der stupid-gleichförmigen Arial verfassten Mails dürften inzwischen auch den eifrigsten Literaturschatzsammler von der Marbacher Höh nicht mehr zu reizen.

Gleichwohl ist es natürlich schön, dass das österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur diese Prachtausgabe des wenig umfangreichen Briefwechsels zwischen dem Literaten Friedrich Torberg und der Schauspielerin Marlene Dietrich finanziert hat. Die beiden kennen sich aus der Film-Welt, sind aber in der Sprache zuhause, wie Marlene Dietrich zum Ende ihres Lebens immer mehr merkt. Der Autor hat Hollywood oder, wie er es nennt, "Arschlochopolsk", glücklos hinter sich. Mein Englisch, schreibt er einmal an Robert Neumann, "hat gerade noch für den Film gereicht, wo es nicht so sehr drauf ankommt wie etwas gesagt wird, weil ja schon das, was gesagt wird, vollkommen gleichgültig ist."

In dieser Korrespondenz erscheint Torberg, wie sollte es anders sein, als altösterreichischer Charmeur, der die heimatlose und ewigweiblich zwischen allerlei Männern schwankende Schauspielerin berät, tröstet, beschwatzt oder in seiner unnachahmlich gschaftlhuberischen Art vollratscht. Da er nicht zu ihren Liebhabern zählt, empfiehlt er ihr onkelhaft Vernunft in der Liebe ("Wer nicht denken will, muss fühlen") und schreibt ihr einmal sogar eine Fabel, um sie über den Verlust des Geliebten Erich Maria Remarque hinwegzutrösten.

Torberg muss gar nicht den Pygmalion machen, um dem Kunst-Geschöpf Marlene geistiges Leben einzuhauchen. Schließlich ist er der Empfangende, der gierig die Klatschgeschichten aus der in den Nachkriegsjahren rasch ausdünnenden Emigrantenkolonie einsaugt, die sie ihm von ihren Dreharbeiten, von Tourneen und Galas in und aus aller Welt berichten kann. Trotzdem ist es keine schlechte Pointe, dass dieser Star sich eines Abends Heinrich Manns Roman "Professor Unrat" ausleiht, um nach fünfzehn Jahren endlich zu erfahren, worum es im "Blauen Engel" eigentlich ging. Großmutter wird sie auch in diesen Jahren, nicht gern, weil sie damit doch gealtert ist, aber am liebsten kocht sie, die Marlene.

Verdächtig linke Neigungen

Ein gründlicher Kommentar von Marcel Atze hat das alles mustergültig erschlossen (danke, o du mein Österreich!), wenn der kleine Hinweis auch nicht geschadet hätte, dass Friedrich Torberg seine amerikanische Denunziantentätigkeit als "Source A" bei seiner Rückkehr nach Wien in aller Öffentlichkeit und von der CIA liebevoll betreut fortzusetzen wusste, als er den Boykott gegen Brecht-Aufführungen organisierte. Als Flüchtling hatte Torberg dem FBI 1943 gesteckt, dass die Flüchtlinge Bert Brecht und Hanns Eisler vor 1933 "zusammen einen Marsch mit dem Titel ,Solidaritätslied' verfasst" hatten und sowieso unheilbare Kommunisten seien.

"Vorwärts und nie vergessen,/worin unsere Stärke besteht!", hieß es da zwar, und "Beim Hungern und beim Essen,/vorwärts, nicht vergessen: / die Solidarität!" - aber wenn sich mit solchen weltkriegsentscheidenden Informationen der eigene schwache Stand in Kalifornien verbessern ließ?

Trotz verdächtig linker Neigungen wird die Diva geschont. Als sie nach Deutschland kommt, um zu singen, schimpft man sie eine Vaterlandsverräterin, hat sie doch im Krieg "gegen uns" gekämpft. Torberg, ganz Charmeur und stets verehrungsbereiter Freund, tröstet sie seufzend über den recht feindseligen Empfang durch die Deutschen und Österreicher: "Sie kommt, weil es für Damen ihres Alters nicht mehr ganz so leicht ist, ein Gesprächsthema zu bilden; weil sich Eier- und Tomatenflecke notfalls auch aus Dior-Kreationen entfernen lassen", formuliert der Spiegel im Jahr 1960 mit aller Süffisanz, um dann gleich so ressentimental zu werden wie sonst nur anonyme Leserbriefschreiber, wenn er in Marlenes Auftritt in Berlin vor allem die "Publicity" sieht, mit der sie dann fortfahren könne, "das Land ihrer Väter zu verabscheuen". Sie tat es, und ließ sich nicht in Berlin oder München oder Hamburg nieder, sondern in Paris.

Ihre Memoiren wollte sie selber schreiben, kein Geisterschreiber sollte ihr Deutsch verbessern dürfen, zumal sie von der Anglisierung ihrer geliebten Sprache bei jedem Blick in die Illustrierten aufs Neue zu entsetzen war, aber der strenge Onkel Torberg war ein gern befragter Berater. Dann ist ihr Buch fertig, sie schickt es dem Brieffreund, der sich sogleich drauf stürzt - "und ein bisschen traurig" ist. Zwar habe er sich nicht "über einen Mangel an Freundschaften mit berühmten Zeitgenossen zu beklagen", versichert er ihr, aber dass sie ihm das antut: Böll und Grass kämen vor in ihrem Leben, aber er nicht, er, der liebe, liebste Torberg, kommt nicht vor beziehungsweise wurde "von Dir auch nicht der leisesten Erwähnung für wert befunden". Ach ja.

Seinen frühen Höhepunkt hatte der Briefwechsel bereits 1950 in einem Telegrammdoppel gefunden, als Marlene ihren notgedrungen keuschen Verehrer aufforderte, sich mit Remarque darüber zu beraten, welchen Wein sie einem "Genießer" servieren könne. Welchem? "dream come true cooking for fleming", meldet sie Torberg. Der "Blaue Engel" ging wieder einmal seiner Lieblingsbeschäftigung nach und durfte diesmal für den Endecker des Penicillins kochen, für Alexander Fleming, dessen Medikament sie ihre Gesundheit verdankte. (Falls Sie es wissen müssen: Ja, es kam zu Berührungen, und seine Erst-Züchtung schenkte er ihr auch.) Torberg schreibt in einer Mischung aus konkreter Poesie und lodernder Eifersucht zurück: "best rhine schloss johannisberg or steinberger kabinett best mosel wehlener sonnenuhr or berncastler doctor best years fortynine fortyfive watch auslese or spätlese dont mix with penicillin serve cold stay hot be embraced." WILLI WINKLER

MARLENE DIETRICH, FRIEDRICH TORBERG: "Schreib. Nein, schreib nicht." Briefwechsel 1946-1979. Herausgegeben von Marcel Atze. Synema Verlag, Wien 2008. 272 Seiten, 25 Euro.

Friedrich Torberg um 1970 und Marlene Dietrich 1956 in Paris Fotos: Imagno/Austrian Archive (links) und Paul Popper/SZ

Dietrich, Marlene: Freund Torberg, Friedrich: Freund SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Beschleunigte Gespräche

Schon in dieser Woche wird Barack Obamas Sonderbeauftragter in den Nahen Osten reisen

Gaza/Washington - Der neue US-Präsident Barack Obama will bereits in dieser Woche seinen Sonderbeauftragten George Mitchell in den Nahen Osten reisen lassen, um den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern voranzubringen. Mitchell soll zudem den Waffenstillstand im Gaza-Streifen festigen. Diplomaten zufolge wird der frühere Senator nach Ägypten, Israel, Jordanien und in die Palästinensergebiete reisen. Direkte Gespräche mit der radikalislamischen Hamas, die im Gaza-Streifen herrscht, seien nicht geplant. Möglich sei auch ein Abstecher nach Saudi-Arabien, nicht aber nach Syrien. Mitchells Nahost-Reise wird voraussichtlich eine Woche dauern. Das Tempo, mit dem Obama sich in den Konflikt eingeschaltet hat, löste in der Region Überraschung aus.

Israel hatte seit Ende Dezember einen 22 Tage währenden Krieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen geführt und am Samstag vor einer Woche einseitig einen Waffenstillstand verkündet. Die israelische Weigerung, die Blockade des Küstenstreifens aufzuheben, ließ jedoch Zweifel an den Bemühungen um den Wiederaufbau aufkommen. Auch die Hamas erklärte sich am Wochenende zu einer Waffenruhe von maximal 18 Monaten bereit. Der Hamas-Vertreter Aiman Taha sagte dem Nachrichtensender Al-Arabija , einer unbefristeten Waffenruhe werde man nicht zustimmen.

Ein Telefonat mit Ban Ki Moon

Der Dialog zwischen Ägypten und der Hamas sollte am Sonntag weitergehen. Ebenfalls am Sonntag wollten in Brüssel die EU-Außenminister mit ihren Kollegen aus der Türkei, Ägypten, Jordanien und der palästinensischen Autonomiebehörde über eine Friedenslösung beraten. Diplomaten zufolge wird allmählich die Zeit knapp, weil die rechtsgerichtete Likud-Partei, die dem von den USA unterstützten Friedensprozess kritisch gegenübersteht, die Parlamentswahl in Israel am 10. Februar gewinnen könnte.

Im Gaza-Streifen haben die Schulen und die wenigen während des israelischen Bombardements nicht zerstörten Ministerien am Sonntag ihre Arbeit wieder aufgenommen. Die Hamas kündigte an, besonders hart getroffenen Familien mit jeweils 4000 Euro zu helfen. Bisher hat Israel jedoch verhindert, dass die palästinensische Autonomiebehörde Geld in den Gaza-Streifen transferiert.

Angesichts internationaler Forderungen nach der Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen sagte die israelische Regierung ihren Soldaten Schutz vor ausländischer Strafverfolgung vor. Während des Krieges waren laut Rettungsdiensten etwa 1300 Palästinenser, darunter mindestens 700 Zivilisten, ums Leben gekommen.

Obama kündigte unterdessen eine enge Zusammenarbeit seiner Regierung mit den Vereinten Nationen an. Die USA und die UN sollten im Kampf gegen Klimawandel, Armut und Terrorismus wirkungsvoll zusammenarbeiten, sagte Obama nach US-Angaben in einem Telefonat mit UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Freitag. US-Außenministerin Hillary Clinton sprach mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Ban und Obama hätten sich neben dem Klimawandel und der Finanzkrise auch über Krisenregionen wie den Nahen Osten ausgetauscht, erklärten die UN. Ban und Obama diskutierten Möglichkeiten, die Arbeit der Vereinten Nationen effektiver zu gestalten. Die beiden hätten über die Notwendigkeit gesprochen, die UN mit einer angemessenen "politischen und finanziellen" Unterstützung auszustatten. Reuters/AFP/dpa

Ein Bild von einem diplomatischen Politiker: Barack Obama vor einem Auftritt. Foto: dpa/White House Photo

Gaza-Streifen Beziehungen der USA zum Nahen Osten SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Feld der Ehre

Immer wieder Pocher. Oder: Rundfunkräte und Satire

Eines der größeren Missverständnisse im öffentlich-rechtlichen Fernsehsystem ist das von der ARD und ihren Gremien. Die Rundfunkräte wurden gerade erst aufgewertet durch die EU-Wettbewerbskommission. Sie hat die Gremien der gebührenfinanzierten Anstalten ermächtigt, neue digitale und internetfähige Programme von ARD und ZDF künftig zu genehmigen oder zu untersagen.

Nun gibt es viele, die bezweifeln, dass deutsche Rundfunkgremien in der Lage sind, alle ordnungspolitischen, wirtschaftlichen und alle fernsehspezifischen Faktoren und Argumente in ein begründetes, unabhängiges Urteil einfließen zu lassen. Anders ausgedrückt: Rundfunkräte haben - nicht erst seit Günther Jauch sie als "Gremlins" bezeichnete, denen er sich nicht aussetzen wollte - kein ganz gutes Image. Das mag oft ungerecht sein, doch zuletzt bemühte sich der Rundfunkrat des Südwestrundfunks (SWR), Vorurteile zu bestätigen.

Weil Oliver Pocher in der ARD-Latenight-Show Schmidt & Pocher am Donnerstag vergangener Woche den Kinostart des Hollywood-Thrillers Operation Walküre satirisch kommentierte, will ihn die Stuttgarter Gremienmacht aus dem Ersten entfernen lassen. Die veröffentlichten Zitate zweier Mitglieder, so sie denn stimmen, reichen von "pietätlos" über "ehrabschneidend" bis man solle ihn "den Privaten überlassen".

Das passt insofern, weil es wohl nicht mehr lange dauern wird, bis Pocher, 30, von RTL engagiert wird. Seit feststeht, dass Harald Schmidt von Herbst an nicht mehr mit Pocher zusammenarbeiten möchte, verhandelt ARD-Programmdirektor Volker Herres mit dem oft zotigen Komödianten. Herres will Pocher unbedingt weiter beschäftigen, sucht ein neues Format für ihn. Doch ein weiteres großes Missverständnis ist das von der ARD und dem jungen Publikum. Der SZ sagte Herres am Sonntag: "Wer es ernst meint damit, dass wir die jüngeren Zuschauer noch erreichen wollen, der muss auch aushalten können, was ihm selbst nicht zusagt."

Völlig absurd und unverständlich ist es, Pocher jetzt zu kritisieren. Er trat mit Augenklappe in einer Satiresendung auf und sagte: "Mit dem Ersten sieht man besser" - in Anspielung an die ZDF-Kampagne, bei der Prominente ein Auge mit der Hand verdecken und versprechen: "Mit dem Zweiten sieht man besser." Auch Pochers Sätzchen: Valkyrie sei ein Film, "der die Welt verändern wird: Viele werden sich freuen, vor allem mein Opa, dass er das noch einmal erleben darf", taugt nicht für eine moralische Entrüstung. Gerne lächeln deutsche TV-Manager über ein flaches Programm der amerikanischen Networks oder Kabelsender, wenn es um politische Berichterstattung geht. Tatsächlich bietet das Fernsehen der USA eine kompromisslose politische Satire, namentlich durch Jon Stewart oder Stephen Colbert, gegen die Pocher zu einem Stand-up-Comedian in Ausbildung schrumpft. Harald Schmidt kann so eine Stauffenberg-Nummer viel schärfer, wirkungsvoller präsentieren.

Man braucht Pocher - der verpflichtet wurde, um ein junges Publikum für die ARD zu interessieren, was ihm gelang - nicht komisch oder scharfsinnig zu finden. Man kann ihn ziehen lassen. "Mit Programmkritik", sagt Programmchef Herres, "kann ich gut leben." Probleme bereite ihm "der öffentliche Vertreibungsversuch". In diesem Punkt sind die Fälle Jauch und Pocher vergleichbar.

Wie wird nun der SWR-Intendant Peter Boudgoust reagieren, der seit 2009 auch ARD-Vorsitzender ist? Der SWR-Rundfunkrat erregte sich schon einmal über Schmidt & Pocher ("Nazometer"). Vorführen lassen kann sich Boudgoust, der intern bisher angeblich sehr auf Satire hielt, nicht von seinen Räten. CHRISTOPHER KEIL

Pocher, Oliver: Beruf Kabarett und Comedy im Fernsehen Schmidt & Pocher SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ohne Gewähr

Thyssen-Krupp will Jobabbau vermeiden, gibt aber keine Garantie

Von Hans-Willy Bein

Bochum - Seit fast 40 Jahren arbeitet Ekkehard Schulz in der Stahlindustrie. Während der Boomzeit der Branche bis vergangenen Herbst war der erfahrene Chef des Thyssen-Krupp-Konzerns mit seinen Geschäftsprognosen stets zu vorsichtig und wurde dafür von der Börse regelmäßig abgestraft. Jetzt, in der Stahlkrise, wagt Schulz vorerst überhaupt keine Vorhersage. "Einen derart abrupten Einbruch wie in den letzten Monaten habe ich noch nicht erlebt. Das macht die Situation nur schwer einschätzbar", sagte Schulz am Freitag auf der Hauptversammlung in Bochum. Deswegen könne er keine seriöse Prognose abgeben.

Die Aktionäre hatten hierfür wenig Verständnis. Thomas Hechtfischer, der Sprecher der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, sprach von einer "großen Enttäuschung". "Wagen Sie eine konkretere Prognose", forderte er - dem schlossen sich viele andere Aktionäre an. Doch Schulz räumte nur ein, dass Konzernumsatz und Gewinn im Geschäftsjahr 2008/2009, das am 30. September endet, "deutlich" sinken werden. Die Edelstahlsparte werde auch wegen ihrer hohen Abschreibungen bei Nickel, Chrom oder Schrott gar mit Verlust abschließen.

Entlassungen schließt Schulz inzwischen nicht mehr aus. "Ich halte es für unseriös, öffentlichkeitswirksame Garantien abzugeben, die möglicherweise von der wirtschaftlichen Entwicklung überholt werden", sagte er. Angesichts der großen Unsicherheit könnten weitere Produktionsstillstände, Kurzarbeit oder Personalanpassungen nicht ausgeschlossen werden. Der Thyssen-Krupp-Chef bezeichnete es aber als falsch, "von kurzfristigen Erwägungen getrieben auf qualifizierte Mitarbeiter zu verzichten".

Die deutsche Stahlindustrie hatte in den ersten neun Monaten des Jahres 2008 noch ein Auftragsplus von acht Prozent verbucht. Seither sind die Aufträge teilweise um 40 bis 50 Prozent eingebrochen - auch bei Thyssen-Krupp. Die deutsche Produktion von Rohstahl sank im November um 15 Prozent und im Dezember um annähernd ein Drittel. Heraus kam für 2008 insgesamt ein Produktionsrückgang um 5,6 Prozent auf knapp 46 Millionen Tonnen.

Thyssen-Krupp reagiert mit einer Drosselung der Produktion und massiver Kurzarbeit auf die Krise. In den Sparten Stahl und Edelstahl werden im Februar annähernd 20 000 Mitarbeiter von Kurzarbeit betroffen sein. An der 2005 gestarteten Wachstumsstrategie will der Dax-Konzern trotz der Krise aber festhalten.

Thyssen Krupp Stahl AG: Personalabbau SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heikles Schweigen

Die BBC weigert sich, einen Hilfsaufruf für Gaza zu senden

Die Abkürzung BBC steht für British Broadcasting Corporation, aber die mehr als 2000 Demonstranten, die sich am Samstag vor der Zentrale des britischen Rundfunk- und Fernsehsenders in London versammelten, fanden eine andere, wenig schmeichelhafte Deutung für die drei Buchstaben: "Biased, Bigotted, Cowardly" stand auf einem Transparent - voreingenommen, bigott, feige.

Der Zorn der britischen Politik und der Öffentlichkeit hat sich an einer Entscheidung der Anstalt entzündet, einen Spendenaufruf für die Bewohner des Gaza-Streifens nicht auszustrahlen. Das Disasters Emergency Committee (DEC), ein Zusammenschluss von 13 meist hoch angesehenen britischen Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz und Oxfam, bittet darin um Hilfe für die Palästinenser nach dem Ende des mehrwöchigen Bombardements durch israelische Truppen.

Die BBC stellt sich nach den Worten ihres Generaldirektors Mark Thompson auf den Standpunkt, dass eine Ausstrahlung des Aufrufes die Unparteilichkeit des Senders infrage stellen könnte. "Es besteht die Gefahr für die BBC, dass man dies so interpretieren könnte, als ob wir einen politischen Standpunkt in einem laufenden Konflikt einnehmen würden", schrieb Thompson in einem Blog. Außerdem gebe es Bedenken, ob die Hilfe die Bedürftigen wirklich erreiche.

Andere britische Sender teilen diese Vorbehalte nicht: ITV, Channel 4 und Channel 5 wollen den Aufruf am Montag zum ersten Mal senden. Der Satellitenkanal Sky des australischen Medienmoguls Rupert Murdoch hat noch keine Entscheidung getroffen. In der Vergangenheit hat auch die BBC Spendenappelle des DEC ausgestrahlt. Dabei handelte es sich freilich um Hilfsaufrufe nach Naturkatastrophen. "Im Falle von Katastrophen, die von Menschen verursacht werden, ist die Sache sehr, sehr viel komplizierter", erklärte denn auch Caroline Thomson, die leitende Geschäftsführerin der BBC.

Mindestens zwei Regierungsmitglieder haben die Entscheidung des Senders bereits gerügt. Entwicklungshilfeminister Douglas Alexander vertrat die Ansicht, dass "die Öffentlichkeit sehr wohl zwischen der Unterstützung humanitärer Hilfe und einer Parteinahme in einem Konflikt unterscheiden" könne. Ministerin Hazel Blears erklärte, sie hoffe "aufrichtig, dass die BBC vorrangig ihre Entscheidung überdenken" werde. Tony Benn, der große alte Mann der Labour-Partei warf dem Sender gar einen "Verrat" an seinem öffentlichen Auftrag vor.

Die massive Kritik hat mittlerweile auch den Vorsitzenden des BBC Trust, des obersten Aufsichtsorgans der Anstalt, auf den Plan gerufen. In einem Brief an Generaldirektor Thompson äußerte Michael Lyons seine Besorgnis, dass angesichts dieser Vorwürfe die redaktionelle Unabhängigkeit des Senders bedroht sei.

Unterdessen hat sich auch der für seine Freimütigkeit bekannte anglikanische Erzbischof von York, John Sentamu, in die Debatte eingeschaltet. "Hier geht es nicht um einen Aufruf von Hamas um die Lieferung von Waffen sondern um humanitäre Hilfe", erklärte der Geistliche, der einen Ruf als moralische Instanz im Land genießt. "Indem sie die Bitte (um die Ausstrahlung des Aufrufes) ablehnt, hat die BBC bereits Position bezogen und ihre Unparteilichkeit aufgegeben." WOLFGANG KOYDL

British Broadcasting Corporation (BBC): Image Hilfsaktionen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Beziehungen Großbritanniens zu Palästina SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nach der Schlacht

Die WAZ hält am Sparkurs fest und verteidigt ihren dpa-Ausstieg

An den nüchternen Zahlen wird sich kaum etwas ändern: 30 Millionen Euro will die WAZ-Mediengruppe bei ihren vier nordrhein-westfälischen Titeln einsparen, 261 der rund 890 Redakteurstellen sollen dabei wegfallen. Doch der Schlachtenlärm ist verklungen, die Zeit der Kooperation und stillen Verhandlungen gekommen. Die Betriebsräte haben nun ein eigenes Umbau-Konzept vorgelegt, dass WAZ-Geschäftsführer Bodo Hombach lobend "als sehr konstruktiv und hilfreich" bewertet. Auch, wenn der Gegenentwurf nicht an Kritik spart. Es müsse "mehr geschehen als ein radikaler Personalabbau per Taschenrechner", heißt es in der Vorlage, die neben Änderungen am geplanten Mantelkonzept für drei Titel auch vorsieht, die geplanten Schließungen von Lokalredaktionen bei zwei konkurrierenden WAZ-Titeln im gleichen Verbreitungsgebiet zu verhindern. So soll erreicht werden, was die Betriebsräte als Motto gewählt haben: "Qualität wird sich behaupten."

Das wiederum sieht die Geschäftsführung genauso, die ihr Konzept als "strategische Entscheidung für eine Autorenzeitung" empfindet. Dazu gehörte auch, den Vertrag mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) nicht zu verlängern - und nebenbei drei Millionen Euro einzusparen. Vorwürfe, die WAZ-Gruppe - immerhin noch dpa-Gesellschafter - verlasse damit die Solidargemeinschaft, konterte Geschäftsführer Christian Nienhaus: "Niemand kann verpflichtet werden, einen schlechten Deal dauerhaft fortzuführen." Journalistisch sollen die WAZ-Titel nicht mehr auf die dpa-Dienste angewiesen sein, und WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz hat noch "keinen einzigen Fall" gehabt, wo man die dpa gebraucht hätte. Auch die Schreiber seien vom Konzept der Autorenzeitung begeistert. Reitz: "Mir sagen Redakteure: ,Danke, dass du mir den Journalismus zurückgegeben hast.'" DIRK GRAALMANN

Westdeutsche Allgemeine Zeitungsverlagsgesellschaft (WAZ): Sparmaßnahmen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Pharmabranche vor 60-Milliarden-Dollar-Fusion

Mitten in der Wirtschaftskrise verhandelt der Weltmarktführer Pfizer mit dem Konkurrenten Wyeth über den größten Zusammenschluss seit Jahren

Von Moritz Koch

New York - In den Vereinigten Staaten zeichnet sich die größte Pharma-Fusion seit Jahren ab. Der Branchenführer Pfizer plant offenbar, seinen kleineren Konkurrenten Wyeth zu kaufen. Als sich die Nachricht am Freitag verbreitete, schossen Wyeth-Aktien an der Frankfurter Börse um mehr als 13 Prozent in die Höhe, Pfizer-Papiere dagegen fielen um 2,5 Prozent. Zwar wollten die Unternehmen keine Stellungnahme abgeben. Doch nach Berichten aus Branchenkreisen sind die Verhandlungen bereits fortgeschritten. Schon am Montag könnte eine Einigung bekanntgegeben werden. Doch auch ein Scheitern sei weiterhin möglich, heißt es, zumal die Frage der Finanzierung noch nicht geklärt wurde.

Der Preis für die Übernahme wird auf mehr als 60 Milliarden Dollar geschätzt.

Pfizer will diese Summe offenbar aufbringen, indem es Bargeldreserven anzapft und Aktien ausgibt. Die Fusion beider Konzerne war schon länger im Gespräch. Ihr Angebot an Medikamenten ergänzt sich. Zudem sehen Analysten großes Potential für Einsparungen, vor allem im Bereich der Erforschung und Entwicklung neuer Arzneien, der bei den größten Pharmakonzernen etwa ein Fünftel der Verkaufserlöse verschlingt.

Aktie abgestürzt

Pfizer erwirtschaftete 2007 mit einem Umsatz von 48,4 Milliarden Dollar etwa acht Milliarden Dollar Gewinn. Wyeths Umsatz betrug im selben Zeitraum 22,4 Milliarden Dollar, der Gewinn 4,6 Milliarden Dollar. Die Ergebnisse des vergangenen Jahres liegen noch nicht vor. Wyeth hat die Krise an den Aktienmärkten bisher vergleichsweise gut überstanden. Pfizer-Aktien hingegen notierten Ende 2008 auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Das Management um Konzernchef Jeffrey Kindler geriet daher zuletzt immer mehr unter Druck. Der von der Konzernführung eingeschlagene Sparkurs konnte Investoren und Analysten nicht zufriedenstellen.

Pfizer hat seit der Amtsübernahme Kindlers im Jahr 2006 weltweit 15000 Arbeitsplätze gestrichen, mehrere Labore geschlossen und Fabriken verkauft - allerdings ohne zu jenen hohen Gewinnmargen zurückzukehren, die den Konzern in den 1990er Jahren ausgezeichnet und bei Anlegern beliebt gemacht hatten.

Billige Nachahmer-Medikamente setzten dem Unternehmen stärker zu als den meisten seiner Konkurrenten, weil es von wenigen Produkten sehr abhängig ist. So erzielt Pfizer mit dem Anti-Cholesterin-Mittel Lipitor mehr als 40 Prozent seines Gewinns. In weniger als drei Jahren aber läuft der Patentschutz ab. Von Dezember 2011 an darf der Generika-Hersteller Ranbaxy in den USA eine Billigversion des Blutfettsenkers auf den Markt bringen.

Insgesamt drohen Pfizer der Ratingagentur S&P zufolge durch das Auslaufen von Patenten ein Umsatzrückgang von mehr als 40 Prozent und ein Gewinneinbruch von mehr als 50 Prozent. Dies sei ohne Akquisitionen nicht aufzufangen, urteilen die Experten.

Zukunft bei Biotechnologie

Wachstum durch Übernahmen ist eine in der Pharmabranche besonders beliebte Strategie. Im Jahr 2003 kaufte Pfizer das Unternehmen Pharmacia für gut 64 Milliarden Dollar. Es ist die bis heute größte Pharma-Fusion. Auch die Pfizer-Konkurrenten Astra Zeneca, Glaxo Smith Kline und Sanofi Aventis sind durch Zusammenschlüsse entstanden. Immer wieder wurde in Branchenkreisen spekuliert, dass Pfizer-Chef Kindler weitere Fusionen anstrebt. "Das Hauptziel ist es, den Umsatz zu steigern", sagte er kürzlich in einem Interview. "Wir schauen uns ständig nach Gelegenheiten um, egal ob groß, klein oder dazwischen." Mit zunehmender Größe ist es für Pharmahersteller leichter, den Kauf von Biotechnologiefirmen zu stemmen, die nach Ansicht vieler Experten die Medikamente der Zukunft entwickeln werden. Da es Jahre dauert, bis neue Wirkstoffe marktreif werden und sich die Investitionen auszahlen, müssen die Konzerne in der Lage sein, Biotech-Verluste mit dem Verkauf herkömmlicher Medikamente auszugleichen.

Auch Wyeth hatte in den vergangenen Jahren mit Problemen zu kämpfen. Das neue Antidepressiva Pristiq verkaufte sich erheblich schlechter als erhofft, und die Testergebnisse für ein Alzheimer-Mittel enttäuschten Investoren. Insgesamt aber verfügt Wyeth über eine Reihe vielversprechender Produkte, besonders im Bereich der Impfstoffe, in dem Pfizer als schwach gilt.

Forschungsstandort von Pfizer in den Vereinigten Staten: Der Konzern sucht schon seit längerem nach Übernahmezielen. Analysten sehen bei einer Fusion von Pfizer und Wyeth viele Sparmöglichkeiten. Foto: AP

Pfizer Inc.: Fusion Wyeth Pharmaceuticals: Fusion Konzentration in der Pharmaindustrie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Panik auf dem Klüngelberg

"Nicht mehr zu retten": ORF-Chef Alexander Wrabetz hat Österreichs Rundfunkanstalt in ihre tiefste Krise geführt

Hitzing ist eine der nobelsten Gegenden Wiens. Hier stehen Villen mit Erkern und hübschen Türmchen am Dach, hier kann man nachmittags im Café Dommayer Melange aus handbemalten Tassen trinken und danach durch die Parkanlage im Schloss Schönbrunn flanieren. Hitzing hat aber auch einen trostlosen Teil und dort, am Küniglberg, liegt das Zentrum des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ORF: ein verschachtelter Betonbau aus den siebziger Jahren mit schmutzgrauer Fassade und Rissen in der Außenmauer.

Im sechsten Stock, gleich unter dem Dach, sitzt Alexander Wrabetz in einem Büro mit grauen Wänden und einem grauen Tisch. Wrabetz, 48, ist seit zwei Jahren Generaldirektor des ORF. Er sieht ziemlich zerzaust aus. Der Friseurbesuch sei in den vergangenen Wochen einfach nicht drin gewesen, sagt er. In den vergangenen Wochen, da war Wrabetz damit beschäftigt, die Rundfunkanstalt vor der Pleite zu bewahren - und sich selbst vor dem Rauswurf. Der ORF steckt in der Krise und zwar so tief, dass der frühere Generaldirektor Gerd Bacher bereits verlauten ließ, man müsse den Sender neu gründen, anders sei er "nicht mehr zu retten".

Er lächelt. Alles wird gut.

Tatsächlich steht der ORF nach den ersten zwei Jahren der Ära Wrabetz nicht gut da: 2008 wurden mehr als 100 Millionen Euro Verlust gemacht, ein Viertel der 3400 Jobs soll gestrichen werden. In seinem jüngsten Prüfbericht kritisiert der Rechnungshof "ineffiziente Organisationsstrukturen" und mangelndes Kostenbewusstsein. Prekär: Wrabetz war vor seiner Bestellung zum ORF-Chef der kaufmännische Direktor der Sendeanstalt, ist also seit zehn Jahren in höchster Position für die wirtschaftliche Situation des Unternehmens verantwortlich. Entsprechend unwirsch fiel die Reaktion im Stiftungsrat aus, dem Aufsichtsgremium des ORF, als Wrabetz im November den zu erwartenden Rekordverlust öffentlich machte.

Er verstehe nicht, "wieso der Herr Generaldirektor da plötzlich so überrascht getan hat, schließlich hat er sich jahrelang mit nichts anderem beschäftigt", sagt ein Ratsmitglied. In den vergangenen zwei Jahren habe man beim ORF "eine der größten Wertvernichtungsaktionen in der Geschichte der zweiten Republik" beobachten können.

In diesen Tagen melden sich viele, die zu wissen glauben, wie man es besser macht: Neben dem früheren Generaldirektor Bacher etwa Monika Lindner, 64, die 2006 als amtierende Generaldirektorin die Wahl gegen Wrabetz verloren hatte. Dessen Programmentwicklung sei "in großem Maße gescheitert" konstatiert sie. Und der Flurfunk vermeldet, dass er, Wrabetz, "es einfach nicht kann". Es ist die Stunde der alten Gegner.

Wrabetz hatte als Finanzverantwortlicher für den ORF jahrelang Geld angelegt - ziemlich erfolgreich. Mit den Erträgen wurden die Verluste kompensiert, die im operativen Geschäft seit langem erwirtschaftet werden. Der ORF finanziert sich zur Hälfte aus Werbung, die Finanzkrise trifft ihn deshalb doppelt hart: Anlage-Gewinne fallen weg, und Unternehmen reduzieren ihre Werbeausgaben.

Jetzt mache sich bemerkbar, dass beim ORF wichtige Reformen versäumt worden seien, meint der frühere RTL-Chefredakteur Hans Mahr, 59, ein Österreicher, der immer wieder als möglicher Nachfolger Wrabetz' gehandelt wird. "Der ORF bräuchte eine grundlegende Strukturreform, damit dort effizient gearbeitet werden kann", sagt Mahr. So leistet man sich in Wien eine eigene Technikabteilung - etwas, das von anderen europäischen Medienhäusern längst ausgegliedert wurde, um Kosten zu sparen.

Auch beim Ankauf von Sportrechten gibt sich der einstige TV-Monopolist ORF großzügig: So liefert ORF 1 den Österreichern nicht nur Skifahren, Skispringen und die Nordische Kombination in die Wohnzimmer, sondern auch die Formel 1, die Spiele der nationalen Fußball-Bundesliga, den UEFA-Cup und die Champions League. Dazu kommen Großereignisse wie die Olympischen Spiele sowie Welt- und Europameisterschaften in diversen Disziplinen. Insgesamt besitzt der ORF etwa so viele Sportrechte wie ARD, ZDF, Sat 1 und RTL zusammen.

Damit soll Schluss sein. "Die Champions League werden wir uns zu den derzeitigen Bedingungen nicht mehr leisten können", sagt Wrabetz und spricht von Auslagerungen, Abfindungsangeboten und davon, dass die Gehälter in diesem Jahr nur wenig erhöht würden. Und er sagt, dass der ORF "im Kern" ja ein gesundes Unternehmen sei. Er sagt das ziemlich souverän und lächelt dabei. Wenn man ihn nur machen lässt, wird alles gut werden, das ist die Botschaft.

Franz Küberl ist Präsident der Caritas in Österreich, ein Mann der Kirche also, und doch will er die Botschaft nicht so recht glauben, nicht die von Wrabetz. Genau wie alle anderen 34 Mitglieder des Stiftungsrats erteilte Küberl, 55, den Sparplänen des ORF-Generaldirektors bei der jüngsten Sitzung des Gremiums eine Absage. Bevor man zustimme, wolle man erstmal ein ordentliches Strategiekonzept sehen, verlautete aus dem Gremium. Und Kirchenmann Küberl spricht davon, dass man der ORF-Geschäftsführung "die Rute ins Fenster gestellt" habe.

Längst kursieren in Hietzing die Namen potentieller Wrabetz-Nachfolger. Neben Mahr wird auch Gerhard Zeiler genannt, der Chef der RTL Group. Auch er ist Österreicher, und er stand von 1994 bis 1998 schon einmal an der Spitze des ORF. Zeiler genießt am Küniglberg bis heute großen Respekt. Ebenfalls gehandelt werden Rudi Klausnitzer, früher Geschäftsführer der Gruner + Jahr-Tochtergesellschaft Verlagsgruppe News, und der ehemalige n-tv-Chef Helmut Brandstätter. Nicht-österreichischen Kandidaten werden indes kaum Chancen eingeräumt. Die Österreicher nennen den ORF nicht umsonst "Intrigantenstadl". Wer dort überleben will, muss die spezifisch österreichischen Ränkespiele von der Pieke auf gelernt haben.

Im nationalen Wehklagen über den Zustand des ORF geht bisweilen freilich unter, dass das Programm der Rundfunkanstalt durchaus Höhepunkte aufzuweisen hat: Das Satireformat Wir sind Kaiser etwa, die bissigen Kommentare der Kabarettisten Dirk Stermann und Christoph Grissemann in Willkommen Österreich oder auch das Konsumentenmagazin Konkret. Wichtiger noch: Die Redakteure verspüren heute deutlich weniger politischen Druck als noch in der Ära Monika Lindners, deren unverblümt gelebte Nähe zu den Konservativen bisweilen Zweifel an der journalistischen Unabhängigkeit des ORF geschürt hatte.

Der "heiße Draht" für Interventionen zwischen den Parteizentralen und der Chefredaktion ist merklich abgekühlt, und auch Werner Mück hat wesentlich weniger zu tun als früher. Mück, 64, erzkonservativ, war unter Monika Lindner zentraler Chefredakteur der ORF-Information, er verantwortete zu dieser Zeit alle Nachrichtensendungen und politischen Magazine. Mit der Ablösung Lindners durch den Sozialdemokraten Wrabetz waren zwar Mücks Tage in dieser mächtigen Position gezählt, nicht aber als Chefredakteur: Mück leitet nun den ORF-Tochtersender TW1, ein Spartenkanal, der mehrere Stunden täglich Bilder aus Wetterkameras überträgt. Man wird nicht gefeuert, sondern versetzt, so lautet ein ungeschriebenes Gesetz am Küniglberg.

Schreibtische für Elefanten

Aber nicht alle, die von ihrer alten Aufgabe entbunden werden, bekommen wirklich eine neue. Viele sitzen die Zeit bis zum Ruhestand als "weiße Elefanten" ab. So nennen sie beim ORF Menschen, die zwar ein Büro haben und jeden Monat ihr Gehalt bekommen, dafür aber keine Leistung bringen müssen. Wie viele "weiße Elefanten" in den endlosen Gängen des ORF-Zentrums versteckt sind, ist unklar, aber Stiftungsrat Küberl findet, die Geschäftsführung solle doch "endlich dafür sorgen, dass alle, die beim ORF angestellt sind, auch tatsächlich für den ORF eine Leistung erbringen."

Leistung ist nun vor allem von Alexander Wrabetz verlangt. Bis zum Frühjahr muss der Generaldirektor dem Stiftungsrat ein Konzept vorlegen, wie er den ORF wirtschaftlich sanieren und inhaltlich positionieren will. Es ist "seine letzte Chance", wie der Vorsitzende des Stiftungsrats, Klaus Pekarek, sagt. Sorgen macht sich Wrabetz deshalb trotzdem nicht. Er denkt lieber an die Zeit seiner Wahl zurück, vor zwei Jahren, als er hinter dem Rücken seiner damaligen Chefin Monika Lindner für sich eine Mehrheit im Stiftungsrat organisiert und den Chefsessel übernommen hatte. Aus lauter Begeisterung über die Ablöse der viel geschmähten Lindner hatte ihm die Presse damals den Spitznamen "Super-Alex" verpasst. "Meine Wahl war mit einer unglaublich hohen Erwartungshaltung verbunden", sagt Wrabetz rückblickend. "Jeder hat gedacht, jetzt wird das Fernsehen genau so, wie er es immer schon haben wollte." Zumindest aus diesem Traum sind sie heute schon erwacht, in Österreich. ANGELIKA SLAVIK

Als Alexander Wrabetz vor zwei Jahren Chef des ORF wurde, nannten sie ihn in Österreich "Super-Alex". Die Zeiten sind vorbei. 2008 machte der Sender mehr als 100 Millionen Euro Verlust, ein Viertel der 3400 Jobs soll gestrichen werden. Foto: Reuters

Wrabetz, Alexander Österreichischer Rundfunk (ORF): Management Österreichischer Rundfunk (ORF): Krise Österreichischer Rundfunk (ORF): Produkt ORF: Finanzen Österreichischer Rundfunk ORF: Personal Österreichischer Rundfunk ORF: Image SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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So ein netter Mörder

In der sechsten "Nachtschicht" des ZDF sind Gut und Böse wieder kaum zu unterscheiden

Geht es um ein neues Gesicht im Tat-ort, ist häufig von Ehre die Rede. Mehmet Kurtulus und Simone Thomalla gaben sich geschmeichelt, in der traditionsreichen Kultserie ermitteln zu dürfen. Mit Lars Beckers loser Krimireihe Nachtschicht verhält es sich schon nach sechs Jahren ähnlich. Deutsche Fernsehprominenz wie Cosma Shiva Hagen, Uwe Ochsenknecht und Jan Josef Liefers köderte der Regisseur bereits mit Leichtigkeit. Dieses Mal geben sich Gegen die Wand-Star Sibel Kekilli, Uwe Kockisch und Fritz Karl in Gastrollen die Ehre - und haben offensichtlich Spaß, für Beckers Reihe um den Hamburger Bereitschaftsdienst zu mimen. Das bedeutet zwar stundenlange Drehs in kaltfeuchten Nächten, aber auch in einer Serie mitzuwirken, die erfrischend abseits des deutschen Mainstreams experimentiert.

Das Genre als Vorwand

Auch Blutige Stadt, der sechste Teil der Reihe (Buch: Lars Becker), ist ein humoriger Neo-Noir-Thriller im Dunkel einer Nachtschicht. Ein anonymer Anrufer verkündet, Todesurteile an Drogendealern zu vollstrecken. Gerade mal zwölf Stunden bleiben den Kommissaren Brenner (Barbara Auer), Erichsen (Armin Rohde) und Hu (Minh-Khai Phan-Thi), um Schlimmeres zu verhindern - was nur leidlich gelingt. Vier Menschen, davon drei Polizisten, schickt Autor Becker im Laufe des Films unter die Erde. Ermittler Teddy (Ken Duken) schied bereits in der Vorfolge aus. Schnell geht es hier zu, cool und trotzdem erstaunlich realistisch. Wieder mal interessiert weniger die Lösung des Falls als das Profil der Beteiligten und ihr Milieu. "Das Genre", sagt Armin Rohde über seinen Regisseur, "ist eigentlich nur ein Vorwand für Becker, um Menschen zu zeigen".

So erfährt man schon in der Hälfte des Films, wer der Anrufer ist. Wenn der mordende Mann unterm Schlapphut mit frei liegendem Gesicht in die Kamera läuft, scheint es, als wolle sich Becker über das Krimi-Genre lustig machen: Da, hier habt ihr euren Täter. Doch Bösewichte gibt es noch ganz andere. Nichts ist bei Becker ganz schwarz oder weiß. Der Polizeichef (Uwe Kockisch) ist mal komisch-bedauernswert, wenn er versucht, die Fahrerflucht seiner nervösen Frau zu vertuschen, und mal abstoßend, wenn er Morde zulässt. Aber nie ist er sympathischer als der Schlapphut-Mörder, der alles versucht, um seine drogenabhängige Tochter aus dem Koma zu erwecken.

Mit dem schwedischen Shootingstar Thure Lindhart - ein Blondschopf mit Zahnlücke, Kinderlächeln und freundlichem Akzent - agiert endlich ein untypischer Bösewicht im deutschen Krimi. Und auch Beckers Polizisten dürfen mal durchtrieben und cool sein. Wenn sich die drei Wächter der Nacht schließlich nach harter Arbeit an der Bar einen Whiskey erpressen, scheint es, als wäre ein norddeutscher Western zu Ende. "Du bist Bulle, Mann", sagt einer Ermittler, "was Besseres gibt's doch gar nicht." ANTJE HARDERS

Nachtschicht: Blutige Stadt, ZDF, 20.15 Uhr

Mimi Hu (Minh-Khai Phan-Thi) und ihre Kollegen jagen diesmal einen Mann, der Dealer hinrichten will. Der Täter hat in Lars Beckers Neo-Noir-Krimi ein gutes Motiv, und lächeln kann er so schön wie die junge Kommissarin. Foto: ZDF

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Der Tag der Entscheidung

An diesem Samstag dürfte sich klären, wie rasch Schaeffler die Macht bei Continental übernimmt

Von Martin Hesse, Meite Thiede und Uwe Ritzer

München - Es ist ein Machtkampf, der an diesem Samstag fürs Erste entschieden wird. In Hannover trifft sich der Aufsichtsrat der Continental AG zu einer außerordentlichen Sitzung. Hintergrund: Der neue Großaktionär Schaeffler will die Kontrolle über Conti übernehmen. Um im Idealfall Ruhe ins Unternehmen zu bringen, müssten drei Interessenslagen ausbalanciert werden: Jene von Schaeffler, Conti und den Banken.

Die Banken: Sie wollen Geld

Sechs Banken haben Schaeffler für die Conti-Übernahme einen Kreditrahmen von 16 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Mehr als zehn Milliarden davon musste Schaeffler dem Vernehmen nach in Anspruch nehmen, um 90 Prozent der Anteile für je 75 Euro zu bezahlen. Zwar bleiben nur 49,9 Prozent der Aktien bei Schaeffler, den Rest parkte die Familie jeweils zur Hälfte bei den Privatbanken Metzler und Sal Oppenheim. Das wirtschaftliche Risiko trägt jedoch Schaeffler. Die noch an der Börse gehandelten Conti-Papiere sind nur noch 17 Euro wert. Damit schmolz auch ihr Wert als Sicherheit für die Kreditgeber Schaefflers. Darum haben Commerzbank, Dresdner Bank, Hypo-Vereinsbank, Royal Bank of Scotland, Landesbank Baden-Württemberg und UBS nach SZ-Informationen nachverhandelt. Maria-Elisabeth Schaeffler willigte nach Angaben aus Bankenkreisen ein, auch Anteile ihres Unternehmens zu verpfänden. Dem Vernehmen nach sehen die Banken nun ausreichend Puffer. Sie drängen aber darauf, dass Schaeffler möglichst schnell die Kontrolle über Conti gewinnt, um Synergien optimal zu nutzen und die Gesamtverschuldung der Gruppe zu senken. Die Banken sähen gerne rasch Schaeffler-Vertreter im Aufsichtsrat, fürchten aber auch, dass wegen des ruppigen Vorgehens der Familie Conti-Manager davonlaufen.

Schaeffler: Eine Frau will alles

Begleitet von ihrem obersten Manager Jürgen Geißinger will Maria-Elisabeth Schaeffler in Hannover ihre Interessen persönlich vertreten. Der Conti-Aufsichtsrat wird die neue Eigentümerin kaum vor der Tür stehen lassen können, wenn sie mit dem Gremium sprechen möchte. Auch ein freundliches Gespräch, das Schaeffler und Geißinger diese Woche bei einem Branchentreff in Berlin mit Conti-Aufsichtsratschef Hubertus von Grünberg führten, ändert nichts an der Haltung der Franken: Das Vertrauen zu Grünberg ist zerstört; man will ihn loshaben. Maria-Elisabeth Schaeffler will selbst Aufsichtsratschefin werden.

Zudem will man so schnell wie möglich vier Aufsichtsratsmandate haben. Andernfalls will Schaeffler eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen und die komplette zehnköpfige Arbeitgeberbank in dem Gremium freiräumen und diese mit vier eigenen Vertretern und weiteren sechs Vertrauten besetzen. Dies lässt die Investorenvereinbarung beider Firmen zu. Hinter all dem steckt ein Ziel: Die durch die Übernahme hoch verschuldete Schaeffler-Gruppe will schnellstmöglich die Kontrolle übernehmen und die Geschäfte bündeln.

Conti: Firma will Luft zum Atmen

Als Manfred Wennemer im vergangenen Sommer nach verlorenem Übernahmekampf als Vorstandschef von Continental zurückgetreten war, hielt er mit seiner Skepsis nicht länger hinterm Berg: Er habe größte Sorge, dass sich Schaeffler an dem großen Brocken Conti überheben könnte, sagte er. Wennemer war nicht der einzige, der die Zukunft des Zulieferkonzerns, der jahrelang so vorbildlich und stetig gewachsen war und stets Rekord-Renditen erwirtschaftete, nun plötzlich düster einschätzte. Gerade hat Conti selbst größte Mühe, den jüngsten, viel zu teuren VDO Kauf zu verdauen - es hakelt bei der Integration. Conti bräuchte alle Kraft und alles verfügbare Kapital, um die interne selbstgemachte und die externe Wirtschaftskrise heil zu überstehen.

Und in dieser heiklen Situation will die Schaeffler-Gruppe das Steuer in Hannover in die Hand nehmen - ein Konzern also, der in ähnlich prekärer Lage steckt. Schaeffler ächzt ebenso unter der Branchenkrise und hat mit Conti selbst gerade einen Einkauf zu verdauen, der viel teurer geworden ist als gedacht. Die Sorge bei Conti ist nun, dass sich Schaeffler mit Hilfe des Neuerwerbs gesundstoßen will. So wird kolportiert, dass Schaeffler das eigene Automotive-Geschäft zu Conti schieben will - für null Euro, aber mit fünf bis sechs Milliarden Euro Schulden als Zugabe. Wert sei die Schaeffler-Sparte aber nur drei Milliarden Euro, meint man in Hannover. Das würde Conti nicht verkraften.

Das Misstrauen in Hannover rührt aus der mangelnden Transparenz der Schaeffler-Gruppe. Man ist sich nicht sicher, was der Familienkonzern im Schilde führt. Deshalb besteht der Aufsichtsrat darauf, dass die Investorenvereinbarung eingehalten wird, dass nur vier Aufsichtsratsmandate besetzt werden. Andernfalls würde Conti die Luft zum Atmen genommen - damit Schaeffler wieder tief durchatmen kann. (Seite 24)

Conti-Hauptverwaltung: In Hannover wird sich der Aufsichtsrat an diesem Samstag treffen. Foto: dpa

Schaeffler Gruppe Finanzholding: Firmenübernahme Continental AG: Firmenübernahme SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der "rote Hugenberg"

Das Leben des Kommunisten Willi Münzenberg

Sein langjähriger Mitarbeiter Arthur Koestler schrieb, eine Biographie Willi Münzenbergs würde eines der erhellendsten Dokumente über die Welt zwischen den Weltkriegen darstellen. Alain Dugrand und Frédéric Laurent, Mitbegründer der Zeitung Libération, haben das Leben eines der wichtigsten Propagandisten der kommunistischen Bewegung der 20er und 30er Jahre nachgezeichnet. Münzenberg lernte als junger Arbeiter in Zürich Lenin kennen. Er organisierte in seinem Auftrag eine Hilfskampagne für die Hungernden in Russland, und dies war der Beginn einer beispiellosen Attacke auf die Seelen und die Geldbörsen auch bürgerlicher Sympathisanten. Mit der Internationalen Arbeiterhilfe und einem Presseimperium (etwa die Arbeiter Illustrierte Zeitung/AIZ), mit dem Verleih russischer Filme und mit Solidaritätskundgebungen veränderte "der rote Hugenberg" das Bild der Sowjetunion. Er ersetzte Mitleid durch Solidarität und wurde so zum Begründer des Systems der "fellow travelers". Nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933, floh Münzenberg nach Paris. Wieder gründete er Zeitungen und Komitees, verlegte das berühmte "Braunbuch" und setzte sich für eine Volksfront aller Hitlergegner im Exil ein. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 brach er mit der Partei. Am 10. Mai 1940 erschien die letzte Ausgabe seiner Zeitung Die Zukunft, fünf Tage später wurde Münzenberg in der Nähe von Lyon interniert. Im Oktober fanden Jäger seine Leiche unter einem Baum. Die Frage, ob es Selbstmord oder ein Racheakt des sowjetischen Geheimdienstes oder der Gestapo war, entzweit die Historiker bis heute. Die Autoren berufen sich auf die vorhandene Literatur und Archivfunde. Die politische Ideenwelt der Zeit, die Entstehung der III. Internationale, die Politik von KPD und Komintern während der Weimarer Republik, die Gründe für den Spanischen Bürgerkrieg werden ausführlich dargestellt. Trotz einiger Längen und unsauberer Quellenangaben bleibt das Verdienst des Buches, von einem Mann zu erzählen, der sein Leben einer Idee widmete, die nicht primär mit der Vermehrung von Geld zu tun hatte. TANIA SCHLIE

ALAIN DUGRAND / FREDERIC LAURENT: Willi Münzenberg. Artiste en révolution (1899-1940). Fayard, Paris 2008. 634 Seiten mit Abb., 26 Euro.

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Foltern für die Freiheit

Abu Ghraib und Guantanamo sind keine Ausnahmefälle

Was dieses Buch enthüllt, ist eine Schmach für die USA, ein wahrhaft erschreckender Befund. Denn Egmont R. Koch weist anhand akribischer Quellenarbeit nach, dass es sich bei den Folterungen in Abu Ghraib und Guantanamo nicht um bedauerliche Einzelfälle und Entgleisungen handelt. Denn diese Fälle stellen nur einen Bruchteil der Menschenrechtsverletzungen dar, die sich die USA in ihrem "Krieg gegen den Terror" geleistet haben, sodass der 83-jährige ehemalige Präsident Jimmy Carter meinte: "Unser Land hat erstmals in meinem Leben die Prinzipien der Menschenrechte aufgegeben."

Sollte jemand die PR-Sprüche der mittlerweile abgetretenen Regierung von George W. Bush je geglaubt haben ("Diese Regierung foltert nicht!"), so wird er nun gründlichst eines Besseren belehrt. Koch führt den Nachweis, dass "kreative Verhörtechniken" - Bushs Terminus für physisches und psychisches Foltern - nach dem 11. September 2001 systematisch und in großem Stil in Gefängnissen und Lagern gegen (vermeintliche) Terroristen angewandt wurden: Scheinertränken, totale Isolation, Schlafentzug, Hängefolter, Drogeneinsatz - alles mit Wissen und Billigung der US-Regierung. Dienlich war dabei ein Folterhandbuch der CIA mit dem Codenamen "Kubark", das Diktaturen und Geheimdienste in aller Welt benützen.

Kochs Recherchen ergaben, dass allein 2002 die CIA Hunderte Verdächtige in Lager und Gefängnisse rund um den Globus verschleppt hat; in Länder, die zur "Kooperation" bereit waren und "deren Geheimpolizei sich mit Folter bestens auskennt", schreibt er, etwa Saudi-Arabien und Pakistan. Etliche Inhaftierte in den "geheimen CIA-Gulags" wurden zu "Geistergefangenen" ohne offizielle Registriernummern gemacht, "um spätere Nachforschungen des Roten Kreuzes unmöglich zu machen". Sollten diese ghost detainees "bei Folterungen ums Leben kommen, ließen sich Leichen und Spuren leicht beseitigen".

Koch geht auch den historischen Wurzeln der offiziell stets bestrittenen Folterpraxis nach und landet beim Nationalsozialismus. Die Amerikaner engagierten nach dem Krieg einige von Hitlers Experten, etwa den Chemiker Friedrich Hoffmann oder Walter Schreiber, der für Menschenversuche in KZs verantwortlich war. Sie halfen den USA zur Zeit des Kalten Kriegs, einen politisch-militärisch-wissenschaftlichen Komplex der Folterforschung aufzubauen. Regierung, CIA, Armee, Krankenhäuser und Hochschulen arbeiteten am "Manhattan-Projekt der Verhaltensmanipulation" (Koch) zusammen, um herauszubekommen, wie Menschen zu willenlosen Werkzeugen gemacht werden können. So wurde an Patienten, ohne sie aufzuklären, mit Psychodrogen herumexperimentiert, zum Teil mit tödlichem Ausgang. Ferner ließ die CIA mittels Gehirnoperationen erforschen, ob sich damit "das Gedächtnis auslöschen lässt, damit sich Gefangene nicht an ihre Folter erinnern".

Was zunächst als Forschung zur Abwehr kommunistischer Foltermethoden legitimiert wurde, wandten CIA und Pentagon bald selbst aktiv an: im Spionagekrieg mit der Sowjetunion, im Koreakrieg oder in Vietnam, wo die CIA 1967 im Rahmen der Operation "Phoenix" Verhör- und Foltertechniken einsetzte, denen laut Koch "Tausende (möglicherweise mehr als zwanzigtausend) Vietnamesen zum Opfer fielen" - meist Zivilisten, die man der Konspiration mit den Kommunisten verdächtigte. Der ehemalige "Phoenix"-Officer Barton Osborne berichtete später: "Ich wüsste von keinem Häftling, der während der Durchführung all dieser Operationen ein Verhör überlebt hätte. Sie starben alle." Dass die Leichen spurlos zu entsorgen waren, ergab sich für die CIA-Leute aus den Verhaltensempfehlungen des Kubark-Folterhandbuchs. Disposal of the bodies nannte man das.

Dieses Buch ist schockierend, die realistisch-brutalen Schilderungen von Gefolterten sind kaum zu ertragen, aber nötig, um Empörung über das Unrecht zu erzeugen, das Bushs Regierung zu verantworten hat. Koch glaubt, dass es dem abgewählten US-Präsidenten, seinem Vize und dem Verteidigungsminister "wohl auch um Rache" ging und sie deshalb im Krieg gegen den Terror auf die harte Tour setzten, "auch um den Preis, amerikanisches Gesetz zu brechen und das weltweite Ansehen des Landes zu ramponieren". Nun will Barack Obama die USA als moralisch-politische Führungsmacht rehabilitieren. Ob das gelingen kann? NIKOLAUS GERMAN

EGMONT R. KOCH: Die CIA-Lüge. Folter im Namen der Demokratie. Aufbau-Verlag, Berlin 2008. 224 S., 19,95 Euro.

Koch, Egmont R.: Veröffentlichung Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Späte Einsichten eines Präsidentenberaters

McGeorge Bundy kam vor seinem Tod zum Schluss, eine Menge Fehler begangen zu haben

Als John F. Kennedy 1961 der 35. Präsident der Vereinigten Staaten wurde, brachte er eine Generation junger Pragmatiker ins Weiße Haus, die als die "New Frontiersmen" bekannt wurden. Zu den namhaftesten gehörten Verteidigungsminister Robert S. McNamara und McGeorge Bundy als sein Nationaler Sicherheitsberater. Während McNamara zu einem der umstrittensten Politiker der Neuzeit wurde, erhielt Bundy weniger Aufmerksamkeit. In "Lessons in Disaster", Gordon Goldsteins höchst ungewöhnlichem Buch, stellt Bundy sich nun als die interessanteste Figur in der Vietnam-Tragödie heraus - weniger wegen seiner unglücklichen Rolle im Kriegsverlauf als für seine gequälten Versuche, 39 Jahre später sich selbst zu verstehen. Bundy war die Quintessenz eines Republikaners aus dem Establishment der Ostküste, das Mitglied einer Familie, deren Wurzeln in Boston bis 1639 zurückgehen. 1953 wurde Bundy Dekan der Fakultät in Harvard - eine erstaunliche Verantwortung für einen gerade mal 34-Jährigen.

Als er seine Regierungsmannschaft zusammenstellte, störte sich Kennedy nicht an Bundys republikanischen Wurzeln - sein Stil, der kühle und analytische Verstand und die Empfehlungsschreiben aus Harvard waren wichtiger. Und so hielt Bundy Einzug in die Geschichte - ein Mann, dem nichts unmöglich erschien. Fünf Jahre lang war er an den kritischsten Entscheidungen der Eskalation des Vietnamkrieges beteiligt. Er war einer der Hauptarchitekten und -verteidiger des Feldzuges - er war aber auch ein Getriebener. Er wusste, dass seine Leistungen im Weißen Haus hinter den eigenen anspruchsvollen Standards zurückgeblieben waren. Immerhin kehrte er der Regierung des Kennedy-Nachfolgers Lyndon B. Johnson schon 1966 den Rücken - nach einem Streit über das Vorgehen im Krieg, wenn auch nicht über den Krieg an sich.

Nachdem er 30 Jahre lang weitestgehend stumm blieb - abgesehen davon, dass er gelegentlich die beiden Präsidenten verteidigte, denen er gedient hatte - fing Bundy 1995 an, über Vietnam zu schreiben. Als Mitarbeiter entschied er sich für Gordon Goldstein, einen Politik-Studenten mit dem Spezialgebiet "Internationale Beziehungen". Gemeinsam durchforsteten sie die Archive, und Goldstein führte eine Reihe von Interviews.

Zu dieser Zeit fing Bundy an, gequälte Notizen an sich selbst zu schreiben - eine Art privater Dialog mit dem Mann, der er 30 Jahre zuvor war. Bundy notierte Sätze wie: "Die Tauben hatten recht"/"Ein Krieg, den wir niemals hätten führen sollen"/"Ich leistete einen Beitrag zu einem gewaltigen Fehlschlag. Ich machte Fehler bei Wahrnehmung, Empfehlung und Ausführung" "Welche sind meine größten Irrtümer?" Für diejenigen, die nur den selbstbewussten, arroganten Brahmanen aus Harvard kennen, sind diese Bemühungen, die eigenen Fehler zu verstehen, erstaunlich und berührend.

Noch während der Recherchen für das Buch starb Bundy, fünf Tage nach der letzten Sitzung mit Goldstein. Bundys Witwe Mary, die Goldstein zu seinem Projekt überhaupt erst ermutigt hatte, zog ihr Einverständnis für die Veröffentlichung zurück. Goldstein produzierte daraufhin ein anderes Buch, ohne die Beteiligung der Familie Bundy. Als Grundlage dienten ihm nun seine Interviews und Bundys Anmerkungen an sich selbst, die sich mittlerweile in der öffentlichen Sammlung der John F. Kennedy Library in Boston befinden. Goldstein schreibt dadurch aus einer ungewöhnlichen Perspektive - er taucht nicht gänzlich in Bundys Kopf ein, ist aber auch kein äußerer Betrachter.

Das Ergebnis ist ein fesselndes Porträt eines einst gelassenen und selbstbewussten Mannes, der Jahrzehnte später versucht, sich selbst zu verstehen. Was für den heutigen Leser am wichtigsten ist, sind nicht die Details, wie die USA in einen Krieg stolperten; diese Geschichte wurde in Hunderten anderer Bücher erzählt. Goldsteins Leistung ist eine andere: Er gewährt Einblicke, wie Bundy, ein Mann von überragender Fähigkeit und Reputation, zwei Präsidenten so schlecht beraten konnte. Die Unvollkommenheit von Bundys Selbstbefragung erhöht ihre Eindringlichkeit, Authentizität und Schärfe.

Goldstein hat sein Buch chronologisch abgefasst, jedem Kapitel gibt er den Titel einer "Lehre", die Bundy aus seiner Karriere gezogen hat. Das ist eine stille Hommage an eine von Bundys offensichtlichsten Eigenschaften - sein verschrobener, ironischer Sinn für Humor. Aus der Invasion an der Schweinebucht von 1961 gewinnt Bundy beispielsweise die Erkenntnis: "Traue der Bürokratie niemals zu, es richtig zu machen" - eine belanglose Einsicht, verglichen mit den menschlichen und politischen Kosten, aber charakteristisch für Bundys Fixierung auf den Fortgang der Ereignisse, statt die Ursachen zu untersuchen. Im selben Ton sind Johnsons wichtige Entscheidungen, die Vietnam unwiderruflich zu einem amerikanischen Krieg machten, so zusammengefasst: "Setze niemals militärische Mittel zur Erlangung ungewisser Ziele ein".

Selbst wenn er nach Wahrheit sucht, bleibt Bundy sich treu. Es ist frappierend, wie wenig Interesse er an Vietnam selbst hat und wie wenig Teilnahme er angesichts des gewaltigen Blutzolls des Krieges zeigt. Einmal rät er Johnson gleichgültig, Bodentruppen zu schicken, obwohl die Erfolgsaussichten "zwischen 25 und 75 Prozent liegen". Es sei besser für Amerika, zu verlieren, nachdem man Truppen entsandt habe, als erst gar keine zu senden.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse Bundys findet sich in Goldsteins letztem Kapitel "Intervention ist eine Wahlmöglichkeit des Präsidenten, keine Unvermeidlichkeit". Mehr als 40 Jahre wurde darüber diskutiert, ob Kennedy, wenn er noch gelebt hätte, denselben Kurs in Vietnam verfolgt hätte wie Johnson. Nachdem er beide Präsidenten aus der Nähe kannte, kommt Bundy zu einem klaren Schluss: Ein wiedergewählter Kennedy "hätte sich in Vietnam nicht beweisen müssen". Bundy selbst sah nie Chancen in Verhandlungen mit den Vietkong oder den Nord-Vietnamesen. Dies, gepaart mit unerschütterlichen Glauben an die militärische Macht, waren seine größten Fehler. Sie trugen zu seinem tragischen Scheitern bei. Heute, da die Nation einen neuen Präsidenten bekommen hat, der die Kampftruppen aus dem Irak abziehen und Erfolge in Afghanistan vorweisen will, sind die Lehren aus Vietnam immer noch gültig. McGeorge Bundys Geschichte ist eine außergewöhnliche Mahnung für alle Amerikaner. RICHARD HOLBROOKE

GORDON M. GOLDSTEIN: Lessons in Disaster. McGeorge Bundy and the Path to War in Vietnam. Times Books, New York. 320 Seiten, 25 Dollar (etwa 20 Euro).

(Der Rezensent war Mitglied der "Vietnam Task Force" unter Präsident Johnson und ist jetzt Sonderberater von Präsident Barack Obama. Übersetzung: Jakob Biazza)

Besprechung im Garten des Weißen Hauses: Präsident John F. Kennedy und McGeorge Bundy (Mitte rechts) im Juni 1962. Foto: John-F.-Kennedy-Library

Bundy, McGeorge: Biographie Vietnamkrieg SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vision einer Weltgesellschaft

Die Globalisierung darf nicht nur eine ökonomische sein

Politisches Denken ist im 21. Jahrhundert nur noch im Zusammenhang der Weltgesellschaft erkenntnisbringend, politisches Handeln nur noch im Zusammenhang der Weltgesellschaft wirklich wirksam und problemlösend." Mit dieser apodiktischen Kernaussage leitet Christoph Zöpel sein Opus Magnum ein - zugleich Synthese und Vision des 65-Jährigen, der hier Erfahrungen seiner Vita activa verarbeitet: als SPD-Parlamentarier in Land und Bund, Landesminister in NRW und Staatsminister im Auswärtigen Amt, als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und hochrangiger Funktionsträger in seiner Partei und der Sozialistischen Internationale. Und der zahlreiche Anregungen aus Wissenschaft, Politik und UN-Organisationen aufgreift, kritisch verarbeitet und weiterentwickelt, wie auch das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des voluminösen Bandes ausweist.

Sein Buch weist drei Schwerpunkte auf. Der erste setzt sich mit der Wirkungsmächtigkeit nationaler Traditionen auseinander, die er beklagt; die Bindung des Gesellschaftsbegriffs an den Nationalstaat sei zu lösen und Welt und Menschheit als gesellschaftliche Einheit zu sehen. Der zweite Fokus ist auf die Begründung der Weltgesellschaft gerichtet. Der promovierte Ökonom moniert die Beschränkung der Weltgesellschaft auf die Wirtschaft und verweist auf die durch die weltweite Kommunikation, Entkolonialisierung und die Implosion des Kommunismus geschaffenen neuen Möglichkeiten. Der dritte Schwerpunkt handelt von der Gleichberechtigung aller Menschen und dem Imperativ, die wachsende Zahl der Menschen nicht Not leiden zu lassen - auch um eine Stabilisierung der Weltbevölkerungszahl nach 2050 zu erreichen, die dann neun Milliarden betragen wird.

Gebot der Nachhaltigkeit

Angesichts dieser Perspektive muss

gutes oder besseres Leben erreicht werden - für Zöpel das allgemeine Ziel von Entwicklung in jeder Zeit und in jeder Gesellschaft. Politisches Denken und Handeln habe sich an vier globalpolitischen Maximen zu orientieren: der ewigen Aufgabe der Friedenssicherung, dem Recht auf Menschliche Sicherheit, dem Gebot der Nachhaltigkeit und bei allem an

dem institutionellen Erfordernis von Demokratie.

Globale Politikfelder wie Umwelt, wirtschaftliche Entwicklung und soziale Integration, Rohstoffe und Energie, Währung und Finanzen seien, so Zöpel, zu einer "integrierten Weltentwicklungspolitik" fortzuschreiben. So neu ist das meiste nicht. Auch das deutsche Entwicklungsministerium spricht bereits seit Jahren von globaler Strukturpolitik und dem Erfordernis einer gerechten Globalisierung. Die internationale Gemeinschaft verpflichtet sich in der Millenniumserklärung von 2000 zu Zielen wie Frieden, Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Demokratie. Da fällt es schwer,

auf die faktische Kraft einer "integrierten Weltentwicklungspolitik" zu hoffen.

Es wäre schon viel erreicht, wenn die Kluft, die oft zwischen Wort und Tat klafft, von den jeweiligen Akteuren verringert würde.

Alles ist denkbar

Die Global Players, G8- und Euro-Gipfel üben "direktoriale Richtlinienkompetenzen" (der Sozialwissenschaftler Hauke Brunkhorst) aus - meist an Parlamenten und Öffentlichkeit vorbei. Hier setzt Zöpel an, hier liegt auch der besondere Wert seiner Überlegungen. Dem nicht demokratisch kontrollierten Handeln will er mit dem politischen System der Weltgesellschaft Grenzen setzen. Die universalen Menschenrechte sollen den Grundrechtsteil einer "Globalverfassung" bilden. Sein Strukturprinzip ist die Gewaltenteilung, primär föderal, aber auch nach Montesquieu. Die Eine Weltdemokratie ist für ihn "keine Utopie, sondern mögliche Realität".

Eine globale Demokratie brauche zugleich Initiativen für globalen Parlamentarismus. Zöpel unterstreicht die Bedeutung globaler Parteiengemeinschaften. Der ehemalige Delegierte bei der Interparlamentarischen Union (IPU) ruft den Bundestagsbeschluss von 2005 in Erinnerung, in dem eine "Parlamentarische Versammlung" der Vereinten Nationen gefordert wurde - mit der IPU als Plattform.

Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Politik in der Weltgesellschaft sind drei Konzepte zu entwickeln: globale Rohstoffpolitik, Weltsozialbudget und harmonisiertes Weltsteuersystem - Konzepte, die bislang nicht mal auf der EU-Ebene greifen. Aber alles ist denkbar. Ebenso wie seine Auffassung, letztlich sei globale Freizügigkeit nötig, oder die Welt solle sich in neun handlungsfähigen Regionen organisieren. Zöpels Visionen katapultieren uns aus der Gegenwart und bieten Projekte und Entwürfe, die für Politik und Demokratie essentiell sind. Sein Buch liefert wichtige Denk- und Handlungsanstöße für Politik und Wissenschaft. UWE HOLTZ

CHRISTOPH ZÖPEL: Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft. Vorwärts Buch, Berlin 2008. 635 Seiten, 29,80 Euro.

Zöpel, Christoph: Veröffentlichung Umwelt und Wirtschaft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Kein Shop wollte die Dinger kaufen"

Jake Burton, Mit-Erfinder des Snowboards, über Snurfer, grüne Bretter und Barack Obama

n Jake Burton tropft. Mit Handtuch auf dem nassen Haar steht er im Appartement des modernen Laaxer Hotels RocksResort, ist gerade von der Piste gekommen, wo er Gast seiner eigenen Veranstaltung war: den Burton European Open, dem Treff der weltbesten Snowboarder. Die Talabfahrt nahm der 54-Jährige mit dem bekanntesten Gesicht der Szene: Shaun White. "Very inspiring", sagt er. Jetzt fehlen noch die Socken - aber egal, die Zeit mit dem Lord of the Board ist knapp, da muss es auch barfuß gehen.

SZ: Jake, wie viele Tage haben Sie in dieser Saison schon auf dem Board verbracht?

Jake Burton: 58. Ich zähle immer von Juni an. Das sind die letzten Schneetage bei uns am Mount Washington. Seit dem Jahreswechsel bin ich erst sechs Tage gefahren - in Neuseeland.

SZ: Erinnern Sie sich an Ihren letzten Tag auf Skiern?

Burton: Oh ja. Als ich 1977 die Firma gründete, habe ich bald darauf damit aufgehört. Erst als meine drei Söhne Skifahren lernten, musste ich wieder auf zwei Bretter. Mein Jüngster wollte unbedingt zwischen meinen Beinen fahren, 1992 war das. Ich wollte wissen, wie der Stand beim Ski-Equipment ist, probierte das Neueste vom Neuen aus - es war furchtbar. Ich fühle mich einfach so viel wohler auf dem Snowboard.

SZ: Kein Wunder, Sie befassen sich ja schon eine Weile mit dem Thema.

Burton: Klar. Als ich anfing, gab es den Snurfer. Der war zehn Zentimeter breit, knapp einen Meter lang, hatte keine Bindung, nur dieses Seil da vorne, wie Zügel. Ich wusste gleich: Die Bretter müssen breiter und länger sein und irgendeine Art von Bindung haben. Bevor ich die Firma gründete, habe ich bestimmt hundert Prototypen gebaut, mit 15 oder 20 unterschiedlichen Konstruktionen, mit Fiberglas wie bei Surfbrettern, laminiertem Holz wie beim Skateboard. Ich begann im Dezember 1977 und dachte, noch im selben Winter Snowboards verkaufen zu können - und habe es gerade so für die nächste Saison geschafft.

SZ: Ihre Boards haben erstmal nicht gerade eingeschlagen . . .

Burton: Nein, kein Shop wollte die Dinger kaufen. Mit zwei Verwandten und einem Freund wollte ich 50 Boards am Tag bauen, doch am Ende des ersten Jahres hatten wir gerade mal 300 Bretter verkauft. Wir waren kräftig im Minus; im Sommer musste ich kellnern und Tennisstunden auf Long Island geben, um Geld zu verdienen.

SZ: Warum war es so hart?

Burton: Der Snurfer kostete zehn Dollar, unser Brett fast 90 Dollar. Im zweiten Jahr habe ich mit einem Helfer allein gearbeitet. Ich erinnere mich noch, wie wir unser 700. Board gebaut haben und dachten: Wow! Dabei wollten wir mal 50 am Tag machen. Aber dann haben wir es geschafft, unsere Produktion in jedem Jahr zu verdoppeln - und das 15 Jahre lang. Jedes Jahr doppelt so viel.

SZ: Nach all den Jahren des Verbesserns: Wie nahe an der Perfektion sind die Bretter heute?

Burton: Nicht sehr nahe. Snowboarden ist sehr dreidimensional. Wie Wellenreiten. Reden Sie mal mit Kelly Slater: Eine minimale Veränderung am Brett ändert alles.

SZ: Was muss besser werden?

Burton: Es gibt noch so viele Möglichkeiten. Nicolas Müller zum Beispiel arbeitet für uns an einem grünen Snowboard, am ökologischen Aspekt. Ein Board besteht aus so vielen nicht recyclebaren Materialien: Metall, Fiberglas, Holz, Stahl - das kann anders werden. Wir produzieren derzeit in Österreich, Polen und China - letzterer nicht gerade ein Musterschüler in Sachen Umweltschutz. Auch bei Kleidung und Verpackung forscht unser Green Mountain Project an Verbesserungen. Was die Ökologie angeht, haben wir noch einen langen Weg vor uns.

SZ: Der Snowboardsport lebt auch von spektakulären Events, aber die Sponsoren sind schon seit einiger Zeit ziemlich zurückhaltend geworden. Das Air&Style-Spektakel hatte nach dem Rückzug von Nokia ganz schöne Schwierigkeiten, einen neuen Geldgeber zu finden. Wie wirkt sich die derzeitige Wirtschaftskrise auf Ihr Unternehmen aus?

Burton: Wir sind zum Glück kein börsennotiertes Unternehmen; uns sagt nicht die Wall Street, was wir zu tun oder zu lassen haben. Darüber bin ich schon sehr froh. Generell trifft diese Krise in unserer Branche eher einige kleinere Anbieter; Burton bleibt in den Shops weiterhin präsent.

SZ: 2004 nahmen Sie eine Auszeit, um mit Ihrer Familie zehn Monate lang alle Kontinente zum Snowboarden zu bereisen, immer dem Winter hinterher. Wie war das?

Burton: Wir wollten einerseits unseren Kindern die Welt mit ihren verschiedenen Kulturen zeigen. Und ich wollte nicht mehr so geschäftsmäßig reisen: eine Woche Japan für eine Messe, Neuseeland für zehn Tage. Kaum fühlt man sich irgendwo wohl, muss man weiter. Das macht einen bitter: Mist, jetzt muss ich schon wieder nach Japan. Ich wollte mal länger bleiben, Afrika und Asien anschauen. Ich war vorher noch nie in Australien - und dann einen ganzen Monat lang. Ich war beim Rugby, Snowboarden, hab mich von der Surf-Kultur vereinnahmen lassen. Für die Kids war es phantastisch. Amerikanische Kinder sind so isoliert. Als ich mal ein paar unserer Snowboardfahrer aus Kalifornien zu unserem Europa-Hauptsitz in Innsbruck mitbrachte, stiegen sie aus dem Flieger und sagten: "Hey, die sprechen gar kein Amerikanisch hier!" Der Satz hätte auch von Bush stammen können.

SZ: Haben Sie seinen Abgang gefeiert?

Burton: Oh ja! Wir waren zu Barack Obamas Vereidigung eingeladen. Ich weiß noch, dass wir 2004 auf unserer Weltreise allen anderen immer zuerst klarmachen mussten: Wir sind gegen George Bush! Wir waren gerade im Irak einmarschiert - eine schwierige Zeit, als Amerikaner durch die Welt zu reisen. Als Kerry damals gegen Bush verlor, konnte meine Frau Donna gar nicht mehr aufstehen. Es war furchtbar.

SZ: Ist Obama eigentlich auch ein Snowboarder?

Burton: Nein, aber er ist ein guter Bo-dy-Surfer. Haben Sie die Bilder gesehen? Der ist in richtig große Wellen rein! Auf Hawaii!

SZ: Jake, Sie müssen Obama aufs Snowboard stellen . . .

Burton: Stimmt, das sollten wir tun.

SZ: Sie haben drei Söhne. Wie groß ist deren Interesse am Snowboarden und an der Firma?

Burton: George, Taylor und Timmy sind gute Boarder, gehen lieber ins Gelände statt in die Pipes, sind keine Wettkampf-Typen. Der Mittlere arbeitet in einem Snowboard-Shop und kommt schon mal mit Brettern anderer Firmen heim, der Gauner. Sie alle haben schon mal ein Snowboard gebaut - in der Schule. Aber ich wünsche mir, dass sie offen für vieles sind. Snowboarden hat sicher eine große Zukunft, aber ich möchte meine Jungs nicht bedrängen. Sie sollen viele Möglichkeiten haben. Klar, es ist ein Familienunternehmen, meine Frau Donna leitet die Women's Leadership Initiative. Aber: Was passiert, wenn mein Sohn ein Mädchen aus Wilson, Texas kennenlernt?

Interview: Thomas Becker

Jake Burton

Jake Burton, 54, heißt mit Nachnamen eigentlich Carpenter, was treffenderweise übersetzt Zimmerer heißt. Er stammt aus New York, wuchs auf Long Island auf, schloss ein Wirtschaftsstudium ab und gründete in einer Scheune in Londonderry, Vermont, seine Firma - die heute der weltweit größte Snowboard- und Boardequipment-Hersteller ist. Für das einstige Zwei-Mann-Unternehmen arbeiten mehr als 500 Angestellte in Innsbruck, Australien, Japan und im Stammhaus in den USA.

An der Leine: Mit den Snowboards unserer Tage hatten die ersten Bretter nicht viel zu tun - in den siebziger Jahren fuhr man noch mit Zügel (oben), wie ein Foto aus dem Privatfundus von Jake Burton (links) zeigt.

Carpenter, Jake Burton : Interviews Snowboard SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Verteilungskampf ums Konjunkturpaket

Länder wollen viel weniger Geld als bisher geplant an die Kommunen geben

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Zwischen Bund und Ländern ist ein Streit darüber entbrannt, wer im Zuge des geplanten zweiten Konjunkturprogramms wie viel Geld für die Sanierung von Straßen und öffentlichen Gebäuden ausgeben darf. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung fordern die Länder, dass sie von der gesamten Investitionssumme in Höhe von 13,3 Milliarden Euro einen erheblichen Teil für sich behalten dürfen. Das Nachsehen hätten in diesem Fall die Städte und Gemeinden, denen ein Anteil von 75 Prozent in Aussicht gestellt worden war. Wie aus Verhandlungskreisen verlautete, gibt es über den Verteilungskonflikt hinaus eine ganze Reihe weiterer Probleme bei der Umsetzung des Konjunkturpakets.

Union und SPD hatten Mitte Januar vereinbart, dass der Bund zehn Milliarden und die Länder insgesamt 3,3 Milliarden Euro für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur zur Verfügung stellen. Nach bisheriger Planung sollten davon zehn Milliarden Euro direkt an die Kommunen fließen, damit diese Schulen, Kindertagesstätten und Krankenhäuser sanieren oder besser ausstatten können. Bei einem Treffen von Kanzleramtsminister Thomas de Maizière (CDU) mit den Chefs der Länderstaatskanzleien am Freitag in Berlin war davon plötzlich keine Rede mehr. "Es ist wie beim Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine: Statt die Mittel des Bundes an die Kommunen durchzuleiten, wollen die Länder einen erheblichen Teil für sich abzwacken", hieß es in den Kreisen.

Entsprechende Erfahrungen hatte der Bund nach eigenem Bekunden in der Vergangenheit immer wieder gemacht, wobei eine Überprüfung schwierig ist. Die Länder streiten dies entsprechend regelmäßig ab. Sie müssen zwischengeschaltet werden, weil der Bund laut Grundgesetz keine direkten Finanzbeziehungen zu den Kommunen unterhalten darf.

Nach Angaben aus den Kreisen wollen die Länder Milliarden für die Sanierung und Ausstattung eigener Gebäude, also etwa Universitäten, Landeskrankenhäuser oder Polizeistationen, ausgeben. Damit bestehe nicht nur die Gefahr, dass bei den Kommunen weniger Geld ankomme, sondern auch, dass die Landesregierungen bereits bestehende Investitionsvorhaben einfach mit dem Geld des Bundes statt mit ihrem eigenen bezahlten. Das Konjunkturprogramm könne aber nur wirken, wenn die Mittel - wie vereinbart - zusätzlich ausgegeben würden. Darüber hinaus wehren sich die Länder dem Vernehmen nach gegen die Forderung des Bundes sicherzustellen, dass vor allem finanzschwache Städte und Gemeinden in den Genuss zusätzlicher Mittel kommen. "Jeder weiß, dass hier der Bedarf am größten und die Investition am sinnvollsten ist. Dennoch weigern sich die Länder, nachprüfbare Zusagen zu machen", hieß es in den Kreisen.

Offiziell wollte keine der beteiligten Seiten zu dem Konflikt Stellung nehmen. Dass das Programm am Ende am Streit um Details scheitert, ist allerdings kaum vorstellbar, weil der Imageschaden für die gesamte Politik immens wäre.

Weniger Geld für kommunale Einrichtungen - wie Kliniken. picture-alliance

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Sanierung von Häusern Föderalismus in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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40 Menschen ertrinken bei Fährunglück

Hanoi - Etwa 40 Menschen sind am Sonntag in Vietnam beim Untergang einer überladenen Fähre ertrunken. Das Boot war auf dem Fluss Gianh in der Provinz Quang Binh in Zentralvietnam unterwegs, berichtete der Radiosender Stimme Vietnams. An Bord sollen mehr als 70 Menschen gewesen sein, fünf Mal so viele, wie das Boot transportieren durfte. Nach unbestätigten Berichten wurden 36 Menschen gerettet. Viele der Opfer seien Frauen, die auf dem Weg zu einem Markt waren, um letzte Einkäufe für die Neujahrsfeier "Tet" am Montag zu machen, berichtete der Sender. dpa

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Die perfekte Kulisse

Südafrikas Filmindustrie rüstet auf: Bei Kapstadt entstehen moderne Studios für 35 Millionen Euro

Von Michael Bitala

Wenn es Sommer ist in Kapstadt, erscheint die Stadt mitunter surreal. Nahezu jeder Platz ist dann atemberaubend schön, ob der blau schimmernde Tafelberg, die Altstadt mit ihren knallbunt gestrichenen Häusern, der blendend weiße Sandstrand, das tiefblaue Meer oder auch der Hafen mit seinen Fischer- und Ausflugsbooten. Im gleißenden Sonnenlicht wirkt alles so perfekt, als hätte ein Bühnenbildner die südafrikanische Metropole samt ihrer spektakulären Natur in Szene gesetzt.

Bei solch einer Kulisse ist es kein Wunder, dass man an manchen Tagen vor lauter Filmteams kaum noch durchkommt. Dann sind ganze Straßenzüge gesperrt, Strandabschnitte oder auch die Zufahrt zum Tafelberg. Pro Jahr werden in der Kapregion zwischen 500 und 700 internationale Werbespots gedreht und mehr als 30 Fernseh- oder Kinofilme, darunter Hollywood-Produktionen wie "Blood Diamond" mit Leonardo DiCaprio, "Lord of War" mit Nicolas Cage oder "10 000 BC" von Roland Emmerich.

Doch obwohl es mehrere Hundert Unternehmen in Südafrika gibt, die darauf spezialisiert sind, internationale Filmteams zu unterstützen, leidet das Land noch immer unter einem Imageproblem. Das sagt zumindest Kathy English-Brower, die das Branchenbuch "The Filmmakers Guide to South Africa" herausgibt. "Viele denken, wir sind Dritte Welt", sagt sie, mit staubigen Straßen, leerstehenden Autowerkstätten und kaputten Cola-Automaten. Regisseure fragten schon mal nach, ob der Flughafen der Stadt eine asphaltierte Landebahn habe, Produzenten reisten mitunter mit Koffern voller Konservendosen an, weil sie sich vor dem Essen fürchteten.

Diese Ängste sind natürlich unbegründet. Dennoch gab einen Bereich, in dem das Land bislang nicht mit internationalen Standards mithalten konnte. In der Kapregion, wo die meisten Produktionen entstehen, gibt es keine modernen Filmstudios. Als zum Beispiel Nicolas Cage für "Lord of War" eine Liebesszene drehen musste, fand dies in einer ehemaligen Kunstdünger-Fabrik statt, so dass Anwesende danach vor allem über den beißenden Geruch in den Hallen berichteten. Spätestens im Februar 2010 sollen solche Provisorien nicht mehr notwendig sein. Vor kurzem haben 25 Kilometer östlich von Kapstadt die Bauarbeiten für einen hochmodernen Studiokomplex begonnen. Umgerechnet knapp 35 Millionen Euro werden die neuen Filmstudios kosten. Das ist die bislang größte Investition in die südafrikanische Filmwirtschaft, die rund 20000 Menschen beschäftigt. Der Chef der "Cape Town Film Studios", Nico Dekker, möchte dann das gleiche bieten können, was es auch in Hollywood oder Bollywood gibt. Jahrelang wurde über dieses Projekt gestritten, vor allem um die Finanzierung, aber auch die südafrikanische Regierung ist jetzt daran beteiligt, sie zahlt rund ein Zehntel des Geldes, das dieses 200 Hektar große Areal kosten wird.

Viele Produktionen werden übrigens nicht allein wegen der grandiosen Kulisse in der Kapregion gedreht. Zum Beispiel in dem Los-Angeles-Drama "Ask the Dust" mit Colin Farrell und Salma Hayek. Es wurde 2004 komplett in Kapstadt verfilmt. Für den Produzenten Tom Cruise spielten damals andere Gründe auch eine wichtige Rolle: Am Kap kann man aufgrund des schwachen Rands sehr kostengünstig drehen und bekommt trotzdem hochqualifizierte südafrikanische Mitarbeiter. Deren Gehälter liegen weit unter dem internationalen Durchschnitt. So wirbt dann auch die südafrikanische Filmwirtschaft damit, dass sie mit der richtigen Dekoration fast jeden Ort der Welt "erschaffen" könne, ob Peru, Mittelmeer oder friesisches Dorf.

Sollten die neuen Studios im kommenden Jahr eröffnet werden, dann gibt es wohl überhaupt keine Einschränkung mehr. "Die Weltstars werden hier weinen und lieben und Krieg spielen", sagt Studio-Chef Dekker - und zwar nicht nur wie bisher im Sommer, sondern auch im Winter.

Mehr als 30 Kino- und Fernsehfilme werden schon jetzt jedes Jahr in der Kapregion gedreht - darunter auch "Blood Diamond" mit Leonardi DiCaprio. Foto: AP

Kultur in Südafrika Filmindustrie Wirtschaftszweige in Südafrika SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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GESEHEN & GELESEN

Darauf haben viele Skifahrer gewartet: Die Winterversion der "Bergtouren für Langschläfer" ist da. Endlich muss man nach einer anstrengenden Woche nicht mehr um sechs Uhr am Samstagmorgen aufbrechen, sondern kann sich gemütlich nochmal umdrehen. Denn Michael Pröttel hat nach Touren gesucht, die man auch mittags noch in Angriff nehmen kann - und 25 gefunden. Wobei das mit dem späten Aufstehen bei Skitouren so eine Sache ist: Schließlich fährt man nicht auf präparierten Pisten und will möglichst guten und lawinensicheren Schnee erwischen. Außerdem sollte man im Winter spätestens um 16 Uhr nicht mehr in Kammlagen unterwegs sein, weil Wildtiere diese Plätze dann zur Nahrungssuche brauchen - darauf weist Pröttel ausdrücklich hin.

Die meisten der Strecken sind auch für Anfänger gut zu meistern; allein schon, weil die maximale Gehzeit unter drei Stunden bleibt und nicht mehr als 1000 Höhenmeter aufgestiegen werden müssen. Und es hält einen ja niemand davon ab, diese Touren auch schon um acht Uhr morgens zu beginnen. bilu

Michael Pröttel: Skitouren für Langschläfer in den Bayerischen und Nordtiroler Alpen; J. Berg-Verlag; 96 Seiten; 80 Abbildungen; 14,95 Euro.

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Ein teurer Umzug

Chefjustiziar Peter Y. Solmssen ist seit Anfang Oktober 2007 im Siemens-Vorstand. Der gebürtige Amerikaner ist einer der Topverdiener im Münchner Konzern. 2008 erhielt er laut Geschäftsbericht gut fünf Millionen Euro und ist damit im Vorstand die Nummer zwei hinter Konzernchef Peter Löscher, der knapp zehn Millionen Euro im Jahr bezieht. In der Vergütung für 2008 sei jedoch eine einmalige Zahlung von etwa 1,65 Millionen Euro enthalten, heißt es bei Siemens. Solmssen habe diese sogenannte Umzugspauschale zum Ausgleich finanzieller Nachteile aus dem Wechsel des Dienstsitzes erhalten. Der studierte Jurist war zuvor Chefjustiziar der Sparte Medizintechnik des US-Konzerns General Electric, die in Großbritannien sitzt. Der Betrag, den Solmssen beim Wechsel zu Siemens ausgehandelt hatte, erscheint trotzdem ungewöhnlich hoch.

Die Umzugspauschale ist aber noch nicht alles: Solmssen hat zudem bei seinem Antritt einen Betrag von 10,518 Millionen Euro erhalten - für "erlittene kurz- und langfristige Vermögensnachteile", wie Siemens im Geschäftsbericht mitteilt. Die Summe wurde im Januar seiner Siemens-Altersvorsorge zugeführt. Dass Siemens recht großzügig mit seinem Führungspersonal verfährt, zeigen weitere Einzelheiten. So haben die ehemaligen Vorstandsmitglieder Rudi Lamprecht, Uriel Sharef und Klaus Wucherer bei ihrer vorzeitigen Vertragsauflösung per Ende 2007 jeweils 3,372 Millionen Euro erhalten, Eduardo Montes 6,12 Millionen Euro.

Darüberhinaus wurden die früheren Top-Manager, gegen die Siemens teilweise Schadenersatzansprüche geltend machen will, mit gut dotierten Beraterverträgen ausgestattet. Aufgabe: Integration der von ihnen betreuten Bereiche in die neue Struktur und Überleitung bestehender Geschäftskontakte. Lamprecht, Sharef und Wucherer - alle drei waren schon zu Zeiten Heinrich von Pierers im Amt - sollen laut Geschäftsbericht ein Beraterhonorar von 78 000 Euro erhalten. Im Monat. cbu

Solmssen, Peter Siemens AG: Management SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lawine tötet drei Wanderer in Schottland

London - Drei Bergsteiger sind am Samstag in einer Lawine in den schottischen Highlands ums Leben gekommen. Die Schneemassen hatten eine Gruppe von neun Menschen am Berg Buachaille Etive Mor in der Nähe des Ski- und Wanderorts Glencoe mitgerissen, teilte die Polizei mit. Ein weiterer Bergsteiger wurde verletzt, die übrigen fünf Menschen blieben unversehrt. Ein Schneesturm erschwerte die Rettungsaktion, an der zwei Militärhubschrauber beteiligt waren. Am Tag des Unglücks hatte das Lawinenrisiko auf einer Skala von 1 bis 5 bei Stufe 3 gelegen. dpa

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Mann soll 300 Körper in Säure aufgelöst haben

Mexiko-Stadt - Die mexikanische Bundespolizei und Einheiten der in den Drogenkrieg eingebundenen Streitkräfte haben in Nordmexiko einen Mann festgenommen, der mindestens 300 Körper von Ermordeten in Säure aufgelöst haben soll. Der 45-jährige Santiago Meza López ließ die Toten nach eigenen Angaben im Auftrag des Drogenbosses Teodoro García Simental verschwinden. Die Behörden begannen am Wochenende mit der Suche nach den Überresten der Opfer in der Stadt Tijuana. Simental ist eines der meistgesuchten Mitglieder des Drogenkartells von Sinaloa. dpa

Mafia in Mexiko SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Alte Bekannte

Peter Löw kauft seiner früheren Firma die Nachrichtenagentur ddp ab

Von Caspar Busse und Martin Hesse

München/Frankfurt - Es gibt Dinge, an denen hängt man so sehr, dass man sie sogar zweimal kauft. So war es offenbar bei Peter Löw und Martin Vorderwülbecke. Die Nachrichtenagentur ddp hatten die beiden Finanzinvestoren 2004 schon einmal übernommen, damals noch als Chefs der Beteiligungsgesellschaft Arques. Verkäufer war Pro Sieben Sat 1. Jetzt haben Löw und Vorderwülbecke mit ihrer neuen Firma BluO noch einmal zugeschlagen: Sie nahmen Arques die Agentur ab - und drei weitere Firmen: den Elektrotechnikbetrieb BEA, den Pack- und Klebebandproduzenten Evotape sowie das Spezialchemieunternehmen Rohner. 30 Millionen Euro zahlte BluO - 20 Millionen Euro flossen an Arques, der Rest waren übernommene Schulden.

In Finanzkreisen heißt es, Löw habe ein Schnäppchen gemacht. Die vier Firmen stünden noch mit 60 Millionen Euro in den Arques-Büchern, es handele sich also um einen Notverkauf. Die Schulden von Arques werden auf einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag geschätzt. Wegen der Rezession verschlechtern sich auch bei Firmen im Besitz von Finanzinvestoren wie Arques die Zahlen. Die Preise, zu denen sie ihre Unternehmen weiterveräußern können, sind unter Druck. Die Arques-Aktie ist deshalb binnen 18 Monaten von mehr als 40 Euro auf zuletzt 1,79 Euro gefallen. Pikant ist der Verkauf der vier Firmen, die zu den gesünderen im Arques-Portfolio zählen, an Ex-Arques-Eigentümer auch deshalb, weil Arques über einen Zusammenschluss mit dem Finanzinvestor Aurelius verhandelt. Aurelius wird von Dirk Markus geführt, ebenfalls ein ehemaliger Arques-Manager. Die Fusionsgespräche gestalten sich jedoch schwierig.

Profiteur der Situation könnte Löw sein. Die Nachrichtenagentur ddp hat nach eigenen Angaben im vergangenen Geschäftsjahr ihre Zahlen verbessert. Der Umsatz stieg leicht auf zwölf Millionen Euro, der operative Gewinn verbesserte sich von 1,8 auf 2,5 Millionen Euro. Beschäftigt werden derzeit knapp 150 Mitarbeiter. Das Unternehmen sei schuldenfrei, hieß es. Die Agentur, die ursprünglich aus dem Zusammenschluss der westdeutschen ddp und der ostdeutschen ADN entstanden war, hatte früher mit großen Problemen zu kämpfen und wurde umgebaut. Nun sei ddp aber "für die jetzige schwierige Marktlage gut aufgestellt", teilte ddp-Geschäftsführer Matthias Schulze am Freitag mit.

Der Markt für Nachrichtenagenturen ist hart umkämpft. Neben den großen internationalen Anbietern wie Reuters, Bloomberg oder Associated Press (AP) sind in Deutschland die Deutsche Presse-Agentur (dpa) und der deutsche Dienst der französischen AFP stark. Dpa spürt derzeit selbst den Abschwung und die wirtschaftlichen Probleme der Zeitungen. So verzichtete die WAZ-Gruppe aus Essen zuletzt auf dpa und hat sich für ddp entschieden.

Deutscher Depeschendienst SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Pelz vom glücklichen Fuchs

Das Berliner Label "Friendly Fur" bietet ökologisch korrekte Fell-Produkte an - Naturschützer sind skeptisch

Von Titus Arnu

Einen Fuchs könne man immer mal brauchen, sagt Nikolas Gleber. "Wenn man zum Beispiel verschwitzt aus dem Fitnessstudio kommt und sich auf dem Weg zu seinem Porsche nicht verkühlen will," erklärt der Berliner Designer, "dann ist ein Fuchskragen schon sehr angenehm." Mit der von ihm entworfenen "Après-Ski Fox Champagne Bag", einer Flaschen-Tragetasche aus Fuchspelz, könne man stilvoll im Schnee feiern. Zu Glebers Pelz-Kollektion gehören auch Fuchs-Handtaschen, Fuchs-Mützen, Fuchs-Schlafmasken und Fuchs-Nackenkissen.

Auf grellgrünen Etiketten an den Pelz-Produkten prangt das Markenzeichen seiner Kollektion: ein stilisierter Rotfuchs, dazu der Slogan "Friendly Fur - Happy Nature." Das Logo soll wirken wie ein Öko-Gütesiegel. "Die Pelze, die wir verwenden, stammen ausschließlich aus der fallen- und bleifreien Jagd in deutschen Revieren", verspricht Nikolas Gleber. Seinen Angaben zufolge werden für "Friendly Fur"-Produkte ausschließlich Felle verwendet, die ansonsten in der Tierkörperbeseitigung landen oder im Wald verrotten würden. Einheimische Füchse müssten ohnehin zu Hunderttausenden getötet werden, argumentiert er. Der Erwerb der Pelze sei also sogar ein aktiver Beitrag zum Naturschutz. Glebers These: Ökologie kann extrem glamourös sein.

Das Konzept scheint perfekt in die Zeit zu passen, denn das Tragen von Pelz ist in diesem Winter plötzlich wieder Trend. Lange Jahre waren Pelze mit einem Pfui-Faktor behaftet, aber in letzter Zeit werden Pelze in Modezeitschriften wieder so selbstverständlich gezeigt wie Jeans. Modehäuser wie Armani, Versace oder Fendi schicken ungeniert Models in Pelzen über den Laufsteg. Auch Karl Lagerfeld verwendet gerne Pelze für seine Kollektionen und findet Anti-Pelz-Aktionen von Tierschützern "kindisch": "Solange wir Fleisch essen, können wir uns nicht über Pelze beschweren." Nikolas Gleber sieht das ähnlich, er ist der Meinung, dass man Leder und Pelze von Tieren, die nicht vom Aussterben bedroht sind, in Maßen nutzen kann.

Der Friendly-Fur-Gründer legt Wert auf die Feststellung, dass er kein Modedesigner sei, sondern Künstler, denn er mache keine Wegwerfprodukte: "Mode ist extrem vergänglich, ein Pelz dagegen nicht." Als Sohn eines Försters habe er von Anfang an einen respektvollen Umgang mit der Natur gelernt, sagt er. Sein Großvater war Schmetterlingsforscher und besaß eine der größten Schmetterlingssammlungen Europas. Einige besonders prachtvolle Exemplare, blau schimmernde Riesenfalter, hängen in Nikolas Glebers Atelier in Berlin-Friedrichshain an der Wand, gleich neben dem Kleiderständer mit den Fuchs-Klamotten.

Manche Tierschützer reagieren erwartungsgemäß eher unfreundlich auf "Friendly Fur". Tanja Wiemann von der Organisation Peta Deutschland ist "generell gegen Pelze", denn man sehe einem Fuchskragen schließlich nicht an, ob er aus der Zucht stammt oder aus der Jagd. Leute, die Pelz tragen und Pelz vermarkten, sind seit Jahren im Visier der Tierschützer. Die Geschwister Mary-Kate und Ashley Olsen wurden für die Modekollektion "Row" von Peta-Aktivisten als "Pelz-Schlampen" beschimpft. Die amerikanische Peta-Präsidentin Ingrid Newkirk warf Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, im Hotel Four Seasons mal einen toten Waschbären auf den Teller. Genutzt hat es wenig - der Legende nach bedeckte Wintour, die in der Vogue gerne opulente Pelz-Modestrecken drucken lässt, das tote Tier mit einer Serviette und bestellte ungerührt einen Espresso.

Bislang hat Nikolas Gleber "nur drei Drohanrufe von Tierschützern" bekommen, wie er sagt, und er klingt fast ein wenig enttäuscht. Er ist ein guter Selbstvermarkter, und jede PR ist ihm willkommen. Der Argumentation der Tierschützer, das Tragen von Pelzen fördere das sinnlose Töten von Tieren, mag er nicht folgen. "Die Jäger bekommen kein Kopfgeld", versichert er. Nach seinen Angaben werden keine Füchse eigens für seine Firma erlegt. 650 000 Füchse werden nach Angaben der Jagdverbände jedes Jahr in Deutschland getötet. Die meisten Kadaver landen im Müll oder werden im Wald verscharrt - "eine sinnlose Vergeudung", findet Gleber. Aus Sicht der Jagdverbände ist die Fuchsjagd notwendig, um ausufernde Bestände und die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern. Die Tierrechtsorganisation Peta sieht das anders: "Eine Überpopulation von Beutegreifern wie Füchsen ist nicht möglich, weil sie auf Beutetiere angewiesen sind. Die Natur regelt das selbst", heißt es dort.

Eine Gewissensentscheidung

Magnus Herrmann, Referent für Artenschutz beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), sieht die Sache differenziert. "Die Benutzung von Pelzen bleibt eine individuelle Gewissensentscheidung," sagt er, "und der Rotfuchs ist in seinem Bestand schließlich nicht bedroht." Ist das Tragen von freilaufenden Bio-Füchsen aus Deutschland also ökologisch korrekt - oder Etikettenschwindel auf Kosten der Tiere? "Ohne Bedenken kann man sich einen Pelz nicht um den Hals hängen", meint Herrmann, denn die Gefahr dabei sei, dass man damit "Tür und Tor öffnen könnte für Bejagung auch von bedrohten Arten".

Bleibt die Frage, wer sich mit einem toten Fuchs um den Hals überhaupt auf die Straße traut. Nikolas Gleber ist da optimistisch und zählt auf ein urbanes Publikum, das seine Naturprodukte auf einigermaßen exaltierte Weise in Bars, Theatern und auf Vernissagen vorführt. Es muss ja nicht gleich eine Pelzmütze oder ein kompletter Fuchs mit Glasaugen und Krallen sein, zur Kollektion gehören auch kleine Accessoires wie die Pelz-Überzieher für Brillenbügel. Der "ursprüngliche und respektvolle Umgang mit der Natur" in Form solcher Luxuswaren hat natürlich seinen Preis. Glebers "Objekte" kosten 500 bis 1500 Euro. Bei der Begründung ist der Designer gewieft wie ein Fuchs: "Das ist wie mit Walderdbeeren oder Wildlachs - wenn es wild ist, ist es teuer."

Ob es dem Rotfuchs (oben) gefällt oder nicht: Sein prächtiges Fell ist in diesem Winter wieder schwer en vogue, es verbrämt Kapuzen und wärmt Hände. Auch die amerikanischen Schauspiel-Zwillinge Ashley (li.) und Mary-Kate Olsen tragen mit Begeisterung Pelz - Tierschützer sind entsetzt. Fotos: dpa

Pelzbranche in Deutschland Alternative Viehzucht in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wenn die Zeit läuft

Wer einen Verschütteten lebend aus einer Lawine retten will, braucht vor allem Training - und die richtige Ausrüstung

Die Lawine reißt Werner König mit. Einen Kilometer weit wirft und schleudert sie ihn ins Tal. Als die Schneemassen zum Stillstand kommen, ist über ihm ein Luftloch. Nur deshalb lebt der 29-Jährige noch, als man ihn nach anderthalb Stunden findet, schwer verletzt. Werner König war der schillernde Inhaber einer Münchner Filmhandelsfirma, sein Leben kam im vergangenen Jahr in dem beeindruckenden Film "Lawine" in die Kinos.

König hat Glück gehabt, 1993, in seiner ersten Lawine. Denn das Zeitfenster für eine Rettung ist kurz: Laut Statistik sind nach 18 Minuten zwar noch 91 Prozent der Verschütteten am Leben. Nach einer halben Stunde aber ist jeder Zweite tot. Wer sieht, wie jemand im Schnee untergeht, muss vor allem schnell sein, und er muss wissen, was zu tun ist. Wer zu lange braucht oder sowieso auf die Bergrettung warten muss, wird nur noch einen Toten ausgraben können.

In den Wintern 2005/06 und 2006/07 hat der Deutsche Alpenverein (DAV) unter seinen Mitgliedern 135 Bergnotfälle gezählt, sagt Sprecher Thomas Bucher. In nur 22 Prozent der Notrufe war eine Lawine die Ursache. Doch von den 16 verzeichneten Bergtoten starben 70 Prozent in Lawinen. Der Alpenverein untersucht seit Jahren, mit welcher Ausrüstung und welchem Wissen Skitourengeher in die Berge aufbrechen, um in der Prävention adäquat ansetzen zu können. "Wir haben Tourengeher auf bekannten Routen nach ihrer Sicherheitsausrüstung gefragt - und festgestellt, dass bei weitem nicht alle die Mindestausrüstung dabei haben", sagt Bucher. Dazu zählt: Ein Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), eine Sonde für die Feinsuche und eine Schaufel. Ratsam ist außerdem ein Handy und ein Erste-Hilfe-Set. Wichtig ist, dass das komplette Set mitgenommen wird. Fehlt zum Beispiel nur die Sonde, liegt die Auffindezeit laut Statistik bei 26 Minuten - und damit acht über der Überlebenszeit von 18 Minuten. Ist nur das LVS-Gerät im Gepäck, dauert es statistisch betrachtet sogar 59 Minuten, bis der Verschüttete ausgegraben ist - und der hat dann nur noch geringe Überlebenschancen.

Ziel der Sicherheitsforscher ist aber, dass es so weit erst gar nicht kommt. Um sich im unverspurten Gelände sicher bewegen zu können, braucht es einige Erfahrung. Dazu gehört das Lesen des Lawinenlageberichts, der täglich im Internet veröffentlicht wird. Darin wird eine allgemeine Warnstufe angegeben, kombiniert mit besonderen Gefahrenstellen, die sich je nach Schneefall, Wind, Temperatur und Sonneneinstrahlung im Gelände entwickeln können. An diesem wurde in den vergangenen Jahren einiges optimiert, sagt Stefan Winter, DAV-Sicherheitsexperte. "Wir haben festgestellt, dass viele Tourengeher den Bericht zwar lesen, aber im Gelände nicht richtig anwenden, weil sie sich die Einzelheiten nicht merken - und gerade darin läge der große Nutzen." Deshalb wurde der Lawinenbericht unter anderem um Grafiken und Piktogramme erweitert.

Zusätzlich gibt es einige strategische Instrumente, die schon bei der Tourenplanung helfen sollen: So hat der DAV mit dem Lawinenexperten Martin Engler die Snowcard entwickelt. Basierend auf den Angaben des aktuellen Lawinenberichts, der Hangneigung und Exposition, die man der Landkarte entnehmen kann, zeigt die Snowcard, welche Hänge man besser umgehen sollte. "Wer im unverspurten Gelände unterwegs ist, muss auf jeden Fall gut Karten lesen können", sagt Engler. Außerdem solle man die Suche trainieren, zum Beispiel an einer der Suchstationen wie am Brauneck oder am Nebelhorn. Engler warnt außerdem davor, sich in Sicherheitsfragen auf andere zu verlassen: "Spuren im Schnee hinterherzufahren, ist einer größten Fehler von Tourengehern im Gelände. Es kann sein, dass die alle Glück hatten oder sich die Bedingungen verändert haben. Und ich dann Pech habe."

Werner König sagte nach seinem ersten Lawinenerlebnis, es müsse toll sein, so zu sterben. Am 12. November 2000 war es so weit. Birgit Lutz-Temsch

Strategisch planen: Mit der Snowcard (oben) kann man schon vor der Tour die Gefährlichkeit mancher Hänge berechnen. LVS-Geräte (rechts) senden und empfangen Suchsignale - aber um schnell zu sein, muss ihr Umgang geübt werden. Und ein Erste-Hilfe-Set gehört im Sommer und Winter in jeden Rucksack.

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STILKRITIK

Das Lottofieber

Nehmen wir bloß mal den Zumwinkel, Ex-Post-Boss: unzählige Millionen auf dem Konto, und trotzdem nichts wie ab nach Liechtenstein. Oder der Madoff, Finanzjongleur: 50 Milliarden hat er fallen lassen, aber selbst natürlich alle Schäfchen im Trockenen, wir sagen nur Immobilien von der Upper East Side bis Paris und eine schamlos lange Yacht mit Namen Bull. Schon klar, oder? "Bulle"! Wie das Hoch an der Börse! Ist das nicht ekelhaft? Überhaupt diese Hedgefonds-Hallodris, die uns das alles erst eingebrockt haben. Schwammen ja geradezu im Geld wie Dagobert Duck in seinem Dukatensee, und wir müssen das jetzt ausbaden. Konnten den Hals eben nicht voll genug kriegen, die Herren Manager. Hier noch 'nen Bonus, dort 'ne Maximalrendite, das Geld zum Jonglieren war zwar nur noch virtuell, dafür parkten zwei reale Porsches und ein Rolls in der Hausauffahrt. Apropos Haus: "Hoffentlich ist deine Villa sicher", hat damals einer auf das Richard-Fuld-Plakat geschrieben, das sie an der Wall Street aufgestellt hatten, anlässlich der Lehman-Pleite. Der Mann hat im Jahr 40 Millionen Dollar verdient, geht's noch?! Die Gier, sagen wir immer. Die Gier ist nichts Gutes. - Momentchen, hier kommen gerade die Lottozahlen rein. Spielen ja sonst eher selten, aber 25 Millionen, da macht man schon mal mit. Geht uns finanziell auch gar nicht schlecht, im Gegenteil. Betrachten uns als zufrieden. Aber Häuschen im Grünen, neuer Wagen, kleiner Designerfummel, kuscheliges 5-Sterne-Resort auf den Bahamas. . . Wär' doch auch mal was, nicht wahr? 2, 12, 14, 16, 36, 46. Zusatzzahl 33. Superzahl 0. Wieder nichts. So ein Mist, so ein blöder! Tanja Rest

Foto: dpa

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Deutsche in Mali entführt

Auswärtiges Amt bestätigt Überfall auf Reisegruppe

Berlin/München - Die Bundesregierung hat die Entführung einer deutschen Touristin im westafrikanischen Mali bestätigt. "Wir müssen in der Tat davon ausgehen, dass eine deutsche Staatsangehörige in Mali verschleppt worden ist", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Freitag. Offenbar handelt es sich um eine 75-jährige Frau aus Darmstadt. Im Auswärtigen Amt sei ein Krisenstab eingerichtet worden, der am Freitag unter Leitung von Staatssekretär Reinhard Silberberg getagt habe, sagte der Sprecher. Das Gremium stehe in Kontakt mit den Behörden in der Schweiz und Großbritannien sowie lokalen Stellen in Mali. Mit der Deutschen wurden auch ein Schweizer Paar und ein Brite entführt.

In der Wüste gestoppt

Die Touristen seien am Donnerstag von einem Volksfest der Tuareg zurückgekommen, berichtete Spiegel Online. Sie waren in der Grenzregion zwischen Mali und Niger mit weiteren Touristen und Reisebegleitern in drei Autos unterwegs, als sie überfallen wurden. Die Insassen von zwei Wagen hätten flüchten können, das Auto mit der Deutschen sei in der Wüste gestoppt und die Insassen seien entführt worden, bestätigte der deutsche Reiseveranstalter, der die Tour organisierte. Das Gebiet liege außerhalb der Region, für die es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts gebe, sagte er. Ein Sprecher des Amtes appellierte an Touristen und Reiseveranstalter, die Hinweise des Ministeriums ernst zu nehmen. "Alles andere wäre aus unserer Sicht unverantwortlich", sagte er.

Bei den Entführern soll es sich um Tuareg handeln. Die Gesellschaft für bedrohte Völker warnte allerdings davor, die Tuareg vorab zu verurteilen. Sie wies darauf hin, dass hinter der Entführung von 32 europäischen Touristen 2003 in Algerien die islamistische "al-Qaida des Maghreb" gestanden hatte. Im Dezember sind in Niger zwei UN-Mitarbeiter und deren Fahrer verschleppt worden. Von ihnen fehlt jede Spur. In Niger und Mali kommt es immer wieder zu gewaltsamen Aufständen der Tuareg. Sie leben in ärmlichen Verhältnissen und werfen den Regierungen vor, versprochene Entwicklungsprojekte nicht umzusetzen. Im Norden von Niger wollen die Tuareg am lukrativen Geschäft mit dem Uran-Abbau beteiligt werden. Die Regierungssoldaten gehen oft mit großer Brutalität gegen die Tuareg-Aufständischen vor. (Seite 2) Nico Fried/Judith Raupp

Tuareg Entführungen und Geiselnahmen von Touristen im Ausland Tourismus in Mali Deutsche Touristen im Ausland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hass gedeiht in den Ruinen

Zerstörte Leben, zerstörte Häuser, zerstörte Hoffnungen: Israels Armee hinterlässt im Gaza-Streifen blutige und tiefe Spuren. Die Bewohner kämpfen noch mit Trauer und Wut, doch oben auf den Trümmern stehen schon die Hamas-Führer und verkünden den Sieg

Von Tomas Avenarius

Gaza-Stadt - Womit beginnen? Mit Iman Abu Amira, die im Schifa-Krankenhaus vor Schmerzen aufschreit, als der Arzt ihr die Verbände von den Wunden löst? Mit Salah al-Samouni, der in den Trümmern seines Hauses steht, Vater, Mutter und Tochter verloren hat und nun vom Irrsinn getrieben ein Fernseh-Interview nach dem anderen gibt? Oder doch mit dem bekannten Psychiater? Iyad Saradj analysiert seit 30 Jahren die Befindlichkeiten anderer Menschen, und stellt nun fest, dass es Dinge gibt, die selbst sein Leben und Denken auf den Kopf stellen können. Und dann gibt es ja auch noch den Hamas-Minister, der trotz all der Zerstörungen von einem militärischen und politischen "Sieg" spricht. Oder der Vater, der seinen Sohn als Hamas-Kämpfer verloren hat, und nun umringt von seinen überlebenden Söhnen sagt: "Ich bin stolz. Er starb für die Sache des palästinensischen Volkes."

Der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas hat eine gute Woche gehalten - nach 22 Tagen Krieg im Gaza-Streifen, mehr als 1300 toten Palästinensern und etwa 5000 Verletzten, 13 toten Israelis. Zur Bilanz gehören noch 20 000 zerstörte oder beschädigte Häuser, ungezä;hlte entwurzelte Oliven- und Zitronenbäume, tote Ziegen, Esel und Hühner, zerschlagene Wasserpumpen, viele Quadratkilometer von Panzerketten zerwühlter Felder für Tomaten, Gurken und Getreide. Also "Sachschäden" in Höhe von weit über zwei Milliarden Dollar. Sachschäden an Dingen, die für die Menschen im Gaza-Streifen das Ergebnis lebenslanger Arbeit waren, die Grundlage einer Zukunft. Aber die Geschäfte sind nun wieder offen, die Kinder gehen wieder zur Schule, die Ersten der während des Kriegs abgetauchten Hamas-Politiker tauchen wieder auf und geben ihre Interviews.

Rückkehr also zu einer Art Normalität an einem Ort, an dem es seit Jahren kaum noch Normalität gibt. Und an dem es nach diesem Krieg auf viele weitere Jahre keine wirkliche Normalität mehr geben kann. Die Frage ist also nicht mehr nur, was dieser Krieg angerichtet hat in Gaza und bei den Menschen. Die Frage ist, was er in Zukunft anrichten wird - in den Köpfen. In Gaza leben 800 000 Menschen, die jünger als 18 Jahre sind. Für sie ist nun die Detonation von zusammengerechnet weit mehr als einer Million Kilogramm Sprengstoff aus israelischen Bomben und Raketen, Artillerie-, Panzer und Schiffsgranaten sowie den Rohren von Mörsern und Panzerfäusten die prägende Erfahrung ihres Lebens. Das sagt viel über die Zukunft in Gaza.

 Nehmen wir Iman, die Achtjährige im Schifa-Krankenhaus. Sie liegt auf einer abgestoßenen Liege. Bis zum Bauch ist sie nackt. Der Arzt beugt sich über sie, zieht die durchnässten und verklebten Binden von den Wunden. Beide Beine und Füße sind verbrannt, es sind Verbrennungen des 3. und 4. Grades. Iman schreit vor Schmerz, ihre Mutter hält ihren Kopf. Sie kann ihr nicht helfen. Iman wird zwei Monate im Krankenhaus liegen. In mehreren Operationen wird Haut transplantiert werden müssen. Die Narben werden ein Leben lang bleiben. Iman kann froh sein, wenn sie jemals wieder richtig laufen kann. Sicher ist das nicht.

Doktor Alaidin Ali hat dunkle Ringe unter den Augen, er hat die Klinik seit vier Wochen nicht verlassen. Er schaut kurz in die Krankenakte: "Zehn Prozent des Körperoberfläche sind verbrannt. Das ist ein leichterer Fall." Dann blättert er die Akte um: das nächste Kind, der nächste Verbandswechsel, Schmerzen, Schreie, ein weiteres ruiniertes Leben. Was nicht in der Akte steht, weil es sich von selbst erklärt: Iman war keine Hamas-Kämpferin. Sie geht in die dritte Klasse.

Und dann Salah al-Samouni. Der 30-jährige Lastwagenfahrer steht im Stadtteil Zeitun zwischen den Trümmern, einen Verband um den Kopf. Es riecht nach Verwesung. Tote Hühner, Tauben, Eselskadaver liegen zwischen den Schutthaufen, die einmal Häuser waren mit Wohn-, Schlaf und Kinderzimmern. Nun steht hier ein Trauerzelt für Kondolenzbesucher, aus dem Lautsprecher kommen klagende Koranverse. Ein Plakat hängt am Zelt mit 29 Namen. Sie lauten alle Samouni. Die Großfamilie hat traurige Berühmtheit erlangt: In ihren Häusern in einer einzigen Straße starben 29 Menschen. Beim Einschlag einer israelischen Rakete in eines der mit Alten, Frauen und Kindern vollen Häuser wurden 22 Menschen gleichzeitig zerrissen. Sie gehörten alle zur Familie. Die anderen sieben starben in Nebenhäusern. Die Samounis waren von den israelischen Soldaten aufgefordert worden, sich in dem einen Haus zu versammeln. Zu ihrem Schutz. Weshalb in dieses Haus dennoch eine Rakete einschlug? Salah al-Samouni weiß es nicht. Er sagt: "In unserer Straße waren keine Hamas-Kämpfer." In dem Haus aber waren seine Mutter, sein Vater, seine zweieinhalbjährige Tochter. Dazu ein Onkel, Cousins und Cousinen.

Ein TV-Team hat die Kamera auf dem Schutt des Samouni-Hauses aufgestellt. Bevor das Interview anfängt, vereinbart Salah al-Samouni bereits das nächste. Er gibt Interviews wie am Fließband. Um nicht nachdenken zu müssen. Er sagt: "Als ich vor Jahren zur Schule ging, kam der heutige Verteidigungsminister Israels nach Zeitun zu Besuch. Damals brachte Ehud Barak uns Kindern Süßigkeiten. Heute schickt er den Kindern Raketen. Ich will diesem Mann eine Botschaft senden."

Salah al-Samouni hält die ganze Zeit über ein Foto in der Hand. Es ist eine Bildmontage, wie sie im Nahen Osten oft an Wohnzimmerspiegeln hängt neben den Hochzeitsbildern. Es zeigt seine Tochter Asa. Ihr Kopf ragt aus einem aufgebrochenen Hühnerei. Daneben ist ein sonnengelbes Küken zu sehen. Salah al-Samouni hat seine Tochter sterben sehen. "Die Eingeweide hingen heraus, sie rief nach der Mutter. Dann war sie tot." Er schaut auf das Foto: "Das da war also ein Hamas-Kämpfer."

Doktor Iyad Saradj trägt runde Brillengläser, einen Pulli und ein ausgebeultes Jacket. Er könnte auch in Berlin oder Brüssel lehren. Der palästinensische Psychiater und Friedensaktivist ist einer, der immer auf Vernunft und Verstand gesetzt hat in dem oft von Irrationalität befeuerten Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Er hat bei seinen Reisen rund um die Welt Versöhnung gepredigt, zu seinen Freunden zählen der frühere US-Präsident Jimmy Carter und der südafrikanische Bischof Desmond Tutu. Saradj hat den Hamas-Führern immer wieder gesagt, dass sie besser keine Raketen mehr schießen sollten nach Israel. Dennoch sagt der Doktor nun: "Wenn ich einer Rakete hätte habhaft werden können in diesen drei Wochen Krieg - ich hätte sie abgefeuert nach Israel."

Doktor Saradj wird keine Raketen schießen. Der Analytiker des Seelenlebens anderer wundert sich nur darüber, was mit ihm selbst geschehen ist in diesen drei Wochen der Gewalt. Ja, er setzt weiter "auf den gewaltlosen Widerstand". "Aber Frieden mit dem Rassistenstaat Israel? Jetzt nicht mehr, niemals! Wenn Palästinenser-Präsident Abbas nach diesem Krieg einen Friedensvertrag mit Israel unterschreibt, ist er ein Verräter." Der Psychiater, der einen britischen Pass hat, hätte den Gaza-Streifen verlassen können zu Kriegsbeginn. Er hat es bewusst nicht getan. Er sagt: "Es war Tag und Nacht wie Blitz und Donner direkt über dem eigenen Kopf. Ich hatte furchtbare Angst." Dass dieser Krieg der Hamas neuen Zulauf verschaffen wird, hält er für ausgemacht. "Sie werden die nächsten Wahlen wieder gewinnen, im Gaza-Streifen und im Westjordanland. Der Einzige, der hier verloren hat, ist Palästinenserpräsident Abbas."

Der Psychiater hat viele Aufsätze geschrieben darüber, wie Terror entsteht. Er hat den Mechanismus erklärt, wie aus Gewalt, Unfreiheit, Armut, Chancenlosigkeit und Ungerechtigkeit ungezügelte Gewaltbereitschaft erwächst unter den Palästinensern. Er hat vielbeachtete Vorträge gehalten. Auch in Tel Aviv. Für ihn ist klar, dass die nächste Generation in Gaza nach diesem Krieg keine Generation des Friedens sein wird, sondern eine neuer Gewalt. "In Israel hätten sie das eigentlich wissen können. Sie haben dort so viele kluge Psychologen."

Der Doktor ist keiner, der leichtfertig daherredet. Er weiß, was der Holocaust war, was den Juden in Deutschland widerfahren ist. Zornig und verzweifelt, wie er ist, meint er, Israel habe die traumatische Erfahrung der Juden im Holocaust in Gewalt umgesetzt gegen die Palästinenser. Saradj nennt den Einsatz der israelischen Kriegsmaschine gegen die Hamas mit ihren Raketen, Panzerfäusten und Gewehren unverhältnismäßig, für militärisch ungerechtfertigt. Er sagt: "Israels Verhalten ist ein psycho-pathologisches Phänomen."

Und die Hamas-Kämpfer? Die israelische Armee spricht von mehreren hundert getöteten Militanten. Die Hamas selbst nur von 48 sowie etwa 55 toten Kämpfern anderer Gruppen. Zu glauben ist keiner Seite im Krieg. Aber ob es nun Hunderte tote Militante sind oder doch nur etwas mehr als 100 - die Kampfkraft der auf 10 000 Mann geschätzten Hamas wird das kaum schwächen. Und den Kampfeswillen schon gar nicht.

Ohne jeden Zweifel haben die Hamas-Männer in diesem Krieg Raketen abgeschossen zwischen den Häusern mit den Zivilisten und mitten aus den Olivenhainen, sich auf den Dächern von Wohnhäusern verschanzt, zwischen den Frauen und Kindern gekämpft und diese als menschliche Schutzschilde missbraucht. Auf der anderen Seite aber hat die israelische Armee auf die menschlichen Schutzschilde erkennbar wenig Rücksicht genommen im Kampf gegen die Hamas. Und deshalb stellt sich die Frage, wem die Menschen in Gaza die Schuld geben werden an der Katastrophe.

Die Familie von Khalil Misbah al-Attar hat sich im Schlafzimmer versammelt, ein Doppelbett-großes Loch klafft in der Wand. Es gibt den Blick frei auf das nächste Haus. Es gehörte einem der Söhne von Khalil al-Attar. Das dreistöckige Haus ist in sich zusammengestürzt, die Decke hängt schräg über zusammengesackten Betonpfeilern. Zerschlagene Möbel ragen aus dem Schutt, so wie in den anderen Nachbarhäusern - ganze Straßenzüge im Dorf Al-Attatra liegen in Trümmern. Die Familie reicht Fotos herum: Ein muskulöser Mann mit dichtem Bart liegt in Pose in den Wellen: Wael war Rettungsschwimmer am Strand von Gaza. Auf dem nächsten Bild ist der älteste Sohn von Khalil al-Attar im Kampfanzug zu sehen: das Gewehr vor der Brust, zwei Handgranaten an den Schulterriemen. Wael al-Attar war Mitglied der Kassam-Brigaden. Ein Hamas-Kämpfer. Er ist am ersten Kriegstag umgekommen. Der Vater schaut auf das Bild, seine Gesichtszüge verschwimmen: "Es war den Tod wert. Er ist als Märtyrer für die palästinensische Sache gestorben." Der alte Mann weiß, dass es jederzeit wieder Krieg geben kann. Er sagt: "Ich sehe mein Haus. Ich bin entsetzt." Khalil al-Attar hat noch weitere Söhne und eine Reihe von Enkeln. Sollte einer von ihnen nun auch für die Hamas kämpfen wollen, wird ihr Vater und Großvater keinen Einspruch erheben.

Bassem Naim hat in Deutschland Medizin studiert. Er mag Deutschland, erinnert sich, wo in Erlangen und Münster seine Kliniken waren, wo der Kaufhof, wo Karstadt. Naim ist ein überzeugter Hamas-Mann. Sonst säße er kaum als Gesundheitsminister in der Islamisten-Regierung von Gaza. Der Chirurg Naim sagt das, was alle nun wieder auftauchenden Hamas-Vertreter sagen: "Mit Gewehren und Panzerfäusten hat die Hamas der israelischen Armee mit ihren Jets und Panzern drei Wochen standgehalten. Das war ein militärischer Sieg für die Hamas." Von den mehr als 1300 toten Palästinensern und den mehr als 5000 Verletzten sprich der Minister nur, wenn es um die Unverhältnismäßigkeit der israelischen Militärmittel geht: "Das war kein Krieg gegen die Hamas. Das war ein Krieg gegen Frauen und Kinder, gegen das palästinensische Volk."

Geht es darum, Verantwortung zu tragen dafür, dass die Hamas zwischen Zivilisten kämpfte, spricht er vom "Recht auf Widerstand gegen eine Besatzungsmacht". Oder davon, dass Israels Panzer Kliniken in Gaza mit Phosporgranaten beschossen hätten. "Selbst wenn die Kämpfer sich zwischen zehn Häusern verschanzen, ist es für eine Armee nicht akzeptabel, gleich alle zehn Häuser dem Erdboden gleich zu machen."

Diese Version der Ereignisse ist es, die in den Köpfen der Mehrheit in Gaza ihren Platz finden wird. Jene Menschen, die anders denken, haben keine Stimme. Und schon gar keinen Minister, der ihnen öffentlich die seine leiht. In einem aber stimmt dieser Hamas-Minister doch nachdenklich. Er sagt: "Das war auch ein politischer Sieg für uns." Israel sei "an den Fernsehschirmen weltweit und live als Macht mit einem hässlichen Gesicht entlarvt worden". Der Minister versteigt sich dann sogar zu dem Vergleich: "Die Opfer der Nazis sind 60 Jahre später selbst die Kriegsverbrecher." In den USA sitze jetzt ein neuer Mann im Weißen Haus. Der wisse, dass es so nicht weitergehen könne in Palästina: "Nach diesem Krieg werden sie mit der Hamas reden müssen."

Mit jener Hamas also, die 2006 freie Wahlen gewonnen hat bei den Palästinensern, die dann 2007 die Macht mit Gewalt übernahm in Gaza, die Israel immer wieder mit Raketen beschossen hat. Und die in den USA und Europa als Terror-Organisation verzeichnet ist und kein Verhandlungspartner sein soll. Die Rechnung des Ministers ist ebenso zynisch, wie sie am Ende richtig sein könnte. Die Hamas hätte sich den politischen Durchbruch von Israel mit 1300 Menschenleben quittieren lassen. Und Israel hätte das Gegenteil dessen erreicht, was es beabsichtigt hatte mit seinem Krieg, nämlich die Hamas von der Macht zu vertreiben, mit einer brutalen Strafaktion gegen eineinhalb Millionen Menschen im Gaza-Streifen.

Aber bis es zu solchen politischen Gesprächen kommen könnte, ist es noch lange hin, wenn es überhaupt so weit kommt. Erst einmal sitzt Djuan Murad auf dem Schulhof der UN-Jungenschule. In den Klassenzimmern haben sie ausgebombte Flüchtlinge untergebracht, ihre Familie gehört dazu. Die 19-Jährige hat sich chic gemacht, wie aus Protest. Sie trägt eine gehäkelte Schiebermütze, das Rosa passt zum Umhang mit den Bommeln. Die eigene Schullaufbahn hat Djuan längst abgebrochen. Der Vater ist seit Jahren krank, die UN-Hilfe hat ihrer Familie schon vor diesem Krieg nicht gereicht für Bildung. Djuan sagt nicht viel. Sie sagt nur: "Wir werden diesen Krieg niemals verzeihen." Und dann fragt sie: "Was für eine Zukunft? Was für ein Frieden? Die Zukunft ist schwarz. Alles ist kaputt. Es gibt keine Bildung, keine Jobs. Wir in Gaza haben keine Zukunft."

Auf dem Zettel stehen die Namen von 29 Toten, und alle heißen Samouni

Was bleibt vom Sohn, ist ein Heldenbild mit Handgranate

"Die Zukunft ist schwarz. Alles ist kaputt"

"Er ist als Märtyrer gestorben": Von seinem zerschossenen Schlafzimmer aus kann Khalil al-Attar auf das völlig zerstörte Haus seines Sohnes Wael schauen. Er war ein Hamas-Kämpfer und wurde am ersten Kriegstag getötet. Foto: Katharina Eglau

Hamas: Image Hamas: Parteiführung Zivile und militärische Opfer im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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24 STUNDEN MIT . . .

. . . dem Akkuschrauber Black & Decker AS36 LN

Seit wann sind eigentlich Kekse so schwer? Ach so, es ist tatsächlich ein

Akkuschrauber, der da in einer Blechdose steckt. Black & Deckers AS36 LN ist aber auch eher süß, mehr ein Schoßhündchen unter den Werkzeugen als ein Gerät für den rauen Handwerkeralltag. Muss man einem Dachdecker sagen, welches Drehmoment er einstellen soll für welche Schrauben? Nein. Braucht er eine Anzeige dafür, ob die Maschine auf Links- oder Rechtslauf gestellt ist? Nein. Oder ist für einen Profi eine ausziehbare magnetische Schraubenhalterung nicht nahe an der Beleidigung? Ziemlich.

Aber für den Profi ist das knuffige kleine Ding, das rund 40 Euro kostet, auch nicht gemacht. Sondern dafür, die Zeit zu verkürzen, die es braucht, um Bjursta aufzubauen, Grevbäck, Grimle oder wie die Schränke bei Ikea sonst noch heißen mögen. Für Menschen, die wenig wissen vom Drehmoment, sich aber ärgern, wenn Schrauben abreißen oder sich auf halber Strecke nicht mehr weiterdrehen mögen. Zudem hat der kleine Schrauber auch keinen Nickel-Cadmium-Akku, sondern wie Handys und MP3-Player einen Lithium-Ionen-Akku. Der verzeiht es, wenn das Gerät halb aufgeladen ein paar Monate im Keller herumliegt und dann an die Steckdose kommt. Bis zu 18 Monate behält das Schrauberchen wenigstens einen Teil seiner Ladung, behauptet Black&Decker.

Dafür gibt es eine Ladestation, an der praktischerweise auch die Bits angebracht sind - die Aufsätze also, die man für die verschiedenen Schrauben braucht. Zehn Stück davon sind in unterschiedlichen Größen in der Keksdose mit drin, dazu noch ein Bohrer mit einer Senkkopffräse. Mit diesem Werkzeug lassen sich Bohrlöcher konisch anfräsen, sodass Schrauben mit Senkkopf darin verschwinden und nicht mehr aus der verschraubten Fläche herausragen. So schnell geht dem Kleinen der Saft nicht aus, dafür dauert aber das Laden mit bis zu neun Stunden sehr lang - am besten also erst anstecken und dann zum Möbelkaufen fahren. ma

Klein, aber mit einem Schraubenhalter: Black & Deckers Akkuschrauber lässt sich einhändig bedienen.

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Bittersüßes aus Großbritannien

Die Liebe macht, was sie will: Chelsy Davy verlässt nach fünf Jahren ihren Prinzen Harry, dafür will Paul McCartney wieder heiraten

Von Wolfgang Koydl

London – Bittere Trennung oder süßes neues Glück? Die britische Öffentlichkeit konnte es sich aussuchen, an wessen Schicksal sie sich weiden wollte: An der Trennung des Prinzen Harry von seiner Freundin Chelsy Davy? Oder an der Nachricht, dass Ex-Beatle Paul McCartney abermals in den heiligen Stand der Ehe treten will? "Sie hat ihr ganzes Herz ausgeschluchzt", berichtete das Boulevardblatt News of the World über die 23-jährige Jurastudentin Chelsy, die nach fünf Jahren ihrem königlichen Freund den Laufpass gab. "Sie konnte seine Playboy-Allüren nicht mehr ertragen", schrieb die Zeitung. Außerdem habe sich die Nummer Drei der englischen Thronfolge auch in anderen Fällen nicht als Gentleman erwiesen. So habe er sie mehrmals lange auf ihn warten lassen.

Offiziell wollte ein Sprecher von Clarence House, der Residenz von Harrys Vater Charles, die Trennung nicht kommentieren. Inoffiziell aber verlautete, dass die beiden jungen Leute in aller Freundschaft voneinander geschieden seien. Beide hätten einen Lebensabschnitt erreicht, in dem sie weniger Zeit miteinander verbringen wollten. Die weltweite Gemeinde der Facebook-Mitglieder freilich brauchte keinen königlichen Sprecher. Wer Chelsys Profil auf der Netzwerk-Website aufrief, konnte lesen, dass sie ihre persönlichen Angaben in einem entscheidenden Punkt bereits verändert hatte: Sie befinde sich derzeit "in keiner Beziehung", hieß es. Die geborene Simbabwerin, deren Vater ein wohlhabender Geschäftsmann in Südafrika ist, schließt demnächst ein Jura-Studium in der nordenglischen Stadt Leeds ab. Ursprünglich wollte sie dann in eine Londoner Anwaltskanzlei eintreten. Nun aber soll sie eine Rückkehr nach Südafrika erwägen. "Sie mochte das Wetter in England noch nie", verriet ein Freund der Presse.

Solche klimatischen Probleme hat Nancy Shevell nicht. Die 49-jährige amerikanische Multimillionärin hat die Dezemberwochen auf dem Landsitz ihres Freundes Paul McCartney in England verbracht. So glücklich seien die Turteltauben, steckten Vertraute dem Sunday Mirror, dass der 66-jährige Sänger daran denke, seiner neuen Liebe einen Heiratsantrag zu machen. Nach dem Debakel mit Heather Mills solle diesmal alles anders werden. Zum einen habe Tochter Stella den Segen zu dem Bund gegeben; zum anderen sei Nancy nicht auf McCartneys Geld scharf. Ihr Vermögen wird auf 250 Millionen Pfund geschätzt.

Da waren sie noch glücklich: Chelsy und Harry im Juli 2007, bei einem Gedenkkonzert für Lady Di im Wembley Stadion. Foto: dpa

Harry, Prinz: Trennung McCartney, Paul: Liebesleben SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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24 STUNDEN MIT . . .

. . . dem Wurfzelt 2 seconds

Es war vor ein paar Jahren in einem Olivenhain am Gardasee, stockdunkle Julinacht, gerade hatte sich mal wieder eine Glasfaserstange im kniehohen Gras verabschiedet. So ein Zelt ist was Herrliches, wenn man erst mal drinliegt; bis dahin ist es die Pest. Jedenfalls Riesengewurschtel, unterbrochen von der Ankunft zweier weiterer Wildcamper. Leise Hallos durch die Finsternis, sie zogen ihr Zeltbündel aus dem Kofferraum, wir wühlten im Gras, wir brauchten diese verdammte Stange, und dann machte es Popp! Als wir uns umdrehten, stand dort ein Zelt. Am nächsten Morgen haben wir es uns angesehen - es war mittelgroß, halbrund und grasgrün. Es war Magie.

Ein sich selbstaufbauendes Zelt, das ist so großartig und so unwahrscheinlich wie sich selbstwechselnde Autoreifen, sich selbstschreibende Texte oder sich selbstaufhängende Wäsche. Trotzdem existiert es. Der Hersteller Quechua behauptet in der Gebrauchsanleitung, es dauere nur zwei Sekunden, dieses Wunderding aufzubauen, aber das stimmt gar nicht. Es dauert maximal eine. Man reißt das gefaltete Material aus der Verpackung, wirft es in die Luft, und es segelt als Zelt zu Boden. Daher auch der Name: Wurfzelt.

Seitdem wir es damals zum ersten Mal gesehen haben, hat das Wurfzelt die Campingplätze im Sturm erobert, was nicht weiter verwundert: Die explosive Selbstentfaltung bringt nämlich kaum Nachteile mit sich. Die Doppelmembran hält selbst mehrtägigem Regen stand, Lüftungsfenster sind vorhanden und stabil ist das Modell ebenfalls. Sogar der Preis geht in Ordnung, die geräumige Zwei-Mann-Version kostet je nach Hersteller und Ausführung zwischen 30 Euro und 80 Euro. Einziger Wermutstropfen: Das Wurfzelt springt zwar regelrecht aus seiner Hülle hinaus, will aber nur sehr ungern wieder in diese zurück. Und wenn man die Sache dann doch noch irgendwie hingebogen hat, hält man eine Art Frisbee-Scheibe von einem Meter Durchmesser in Händen. Die passt zwar prima in den Kofferraum, aber wer beim Wandern nicht in der Vegetation hängenbleiben will, sollte besser ein herkömmliches Modell auf den Rucksack schnallen. Davon abgesehen jedoch: ein wirklich großer Wurf. Tanja Rest

Kurz werfen statt lang wurschteln: das Zelt ohne Aufbauzicken.

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DIE FRAGE

Wie glücklich sind die Deutschen?

Die Forscher der britischen Ideenschmiede New Economics Foundation haben 40 000 Menschen aus 22 europäischen Ländern nach ihrem persönlichen Wohlbefinden befragt.

Das Ergebnis: Die Deutschen sind nur Mittelmaß im Glücklichsein. Auf einer Skala der 22 befragten Nationen landete die Bundesrepublik vor Spanien und Großbritannien auf Platz 11. Deutschland schließt bei sozialen Kontakten zu Familie oder Freunden unterdurchschnittlich ab, auch bei der Arbeit ist das Wohlbefinden eher gering: Platz 16. Dagegen erzielten die Deutschen in punkto "Vitalität" sowie "Belastbarkeit und Selbstbewusstsein" einen überdurchschnittlichen Wert. Spitzenplätze belegen Dänemark und die Schweiz, Schlusslichter sind Bulgarien und die Ukraine.

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Die Geständnisse des Nikolai H.

Am letzten Tag des Holzklotzwurf-Prozesses ist noch immer ungewiss, ob der 31-Jährige der Täter ist

Von Hans Holzhaider

Oldenburg - Seit fast drei Monaten wird vor dem Landgericht Oldenburg gegen Nikolai H. verhandelt, und noch immer steht nicht fest, ob der 31-jährige Russlanddeutsche wirklich der Mann ist, der am Ostersonntag 2008 von einer Brücke über die Autobahn A 29 bei Oldenburg einen Holzklotz auf die Fahrbahn geworfen und dadurch den Tod der 33-jährigen Olga K. verursacht hat, die zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern auf der Heimfahrt nach Telgte war. Handfeste Beweise gegen Nikolai H. hat die Verhandlung bisher nicht erbracht; andererseits ließ sich aber auch der von der Verteidigung geäußerte Verdacht, ein früheres Geständnis des Angeklagten sei durch unzulässige Vernehmungsmethoden erzwungen worden, nicht belegen. Auch der Umstand, dass Nikolai H. vor zehn Jahren schon einmal ein falsches Geständnis abgelegt hatte, dürfte der Verteidigung kaum weiterhelfen. Die Umstände damals, das kam am letzten Prozesstag zutage, waren völlig andere als im Holzklotz-Fall.

Der drogenabhängige und arbeitslose Nikolai H. hatte sich selbst bei der Polizei gemeldet und angegeben, er sei kurz vor dem tödlichen Ereignis mit dem Fahrrad über die Brücke gefahren, habe dort einen Holzklotz liegen sehen und diesen aus Sorge um die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zur Seite geräumt. Das erschien der Polizei unwahrscheinlich. Im Garten des Anwesens, wo Nikolai H. wohnte, wurden Holzklötze gefunden, die dem Tatwerkzeug ähnelten, und eine äußerst aufwändige Untersuchung vieler tausend Mobilfunkdaten ergab, dass Nikolai H. sich zur Tatzeit in unmittelbarer Nähe der bewussten Brücke aufgehalten hatte. Er legte, nach anfänglichem Leugnen, zunächst vor den Vernehmungsbeamten der Polizei und dann vor dem Haftrichter ein Geständnis ab.

Die Pantomime des Wurfs

Später wechselte Nikolai H. seine Verteidiger und widerrief sein Geständnis. Die neuen Anwälte machten geltend, er habe während der Vernehmungen unter Entzug gestanden und sei erst nach dem Geständnis mit der Ersatzdroge Methadon versorgt worden, man habe das Geständnis also von ihm erpresst. Die Polizisten dagegen schilderten, H. habe auf mehrmaliges Nachfragen versichert, es gehe ihm gut, er sei damit einverstanden, wenn zuerst die Vernehmung beendet und er danach mit Methadon versorgt werde. Ähnliches berichtete der Haftrichter; er schilderte auch, wie Nikolai H. pantomimisch vorgemacht habe, wie er den Holzklotz mit beiden Armen vor sich hielt und dann auf die A 29 fallen ließ.

Mit dem früher einmal abgelegten falschen Geständnis verhielt es sich so: Am 29. März 1998 war auf einer Landstraße bei Rastede spät nachts ein mit fünf Personen besetztes Auto in einer Kurve von der Fahrbahn abgekommen und hatte sich überschlagen. Als die Polizei am Unfallort eintraf, lag einer der Insassen tot im Straßengraben, ein zweiter schwer verletzt unter dem Auto. Auf Befragen gab Nikolai H. noch am Unfallort an, er habe am Steuer gesessen. Der Schwerverletzte starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Nikolai H. wurde festgenommen. Jetzt änderte Nikolai H. seine Aussage: Nicht er, sondern der Verstorbene sei gefahren. Dieser sei hoch verschuldet gewesen und habe ein kleines Kind; er habe den Mann, sagte Nikolai H., schützen wollen, damit er nicht seinen Führerschein und seinen Job verliere. Die anderen beiden überlebenden Fahrzeuginsassen bestätigten, dass Nikolai H. in Wirklichkeit auf der Rückbank gesessen habe. Auch ein Gutachter kam zu diesem Schluss. Zum Nachweis, dass Nikolai H. sozusagen notorisch dazu neige, falsche Geständnisse abzulegen, taugt dieser Vorgang also nicht. Im Holzklotzfall gibt es niemanden, den der 31-Jährige zu schützen hätte; ein Motiv für ein falsches Geständnis ist nicht zu erkennen.

Ein Ende des Prozesses ist noch nicht abzusehen. Mit Sicherheit werden H.'s Verteidiger noch eine Reihe von Beweisanträgen stellen, um abzuklären, ob die Polizei auch Hinweise auf andere mögliche Täter mit dem nötigen Nachdruck verfolgt hat. Der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann gab am Ende des letzten Verhandlungstages einen rechtlichen Hinweis, der für die Verteidigung eher besorgniserregend ist. Zu dem in der Anklage enthaltenen Vorwurf des heimtückischen Mordes in einem Fall könnten auch noch drei Fälle des versuchten Mordes kommen, weil das Fahrzeug, das von dem Holzklotz getroffen wurde, mit vier Personen besetzt war.

Erst gestanden, dann widerrufen: der Angeklagte Nikolai H. Foto: dpa

Anschläge auf Verkehrsteilnehmer in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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TECHNIK-LEXIKON

Megapixel

Um anzugeben, wie viele Bildpunkte digitale Kameras aufnehmen können, hat sich der Begriff Megapixel eingebürgert. Mega steht für eine Million, Pixel ist ein Kunstwort - zusammengesetzt aus den englischen Begriffen "Picture" und "Element". Die ersten Digitalkameras für den Massenmarkt konnten Bilder nur stark gerastert aufzeichnen, sie schafften etwa 0,3 Megapixel. Neue Generationen von Kameras nahmen mehr Pixel auf und machten damit bessere Bilder. Bald wurde in Millionen gezählt und die Megapixelzahl zum Marketing-Argument Nummer eins. Weil aber die Geräte immer kleiner und schlanker wurden, mussten auch die Sensoren, Siliziumbausteine mit lichtempfindlichen Elementen, immer kleiner werden. Sensoren, wie sie in heutigen Kompaktkameras verbaut werden, haben eine Fläche von nur noch 15 bis knapp 60 Quadratmillimeter. Die vielen Millionen empfindlicher Sensoren sitzen also dicht nebeneinander, sodass ein Lichtpunkt mehr als ein Pixel belichtet. Außerdem liefern sie ein schwaches Signal, das verst rkt werden muss. Das wiederum führt zum sogenannten Rauschen, das herausgefiltert werden muss. Dadurch geht den Bildern Detailschärfe verloren. Die Hersteller aber haben Jahr für Jahr die Pixeldichte nach oben geschraubt, weshalb Kritiker vom Megapixelwahn sprechen. Von etwa sechs Megapixel an, so Experten, liefern Kameras mit kleinen Sensoren schlechtere Bilder. Für digitale Spiegelreflexkameras gilt das aber nicht. Ihre Sensoren sind weitaus größer und deshalb nicht empfindlich für Bildrauschen.ma

Um anzugeben, wie viele Bildpunkte digitale Kameras aufnehmen können, hat sich der Begriff Megapixel eingebürgert. Mega steht für eine Million, Pixel ist ein Kunstwort - zusammengesetzt aus den englischen Begriffen "Picture" und "Element". Die ersten Digitalkameras für den Massenmarkt konnten Bilder nur stark gerastert aufzeichnen, sie schafften etwa 0,3 Megapixel. Neue Generationen von Kameras nahmen mehr Pixel auf und machten damit bessere Bilder. Bald wurde in Millionen gezählt und die Megapixelzahl zum Marketing-Argument Nummer eins. Weil aber die Geräte immer kleiner und schlanker wurden, mussten auch die Sensoren, Siliziumbausteine mit lichtempfindlichen Elementen, immer kleiner werden. Sensoren, wie sie in heutigen Kompaktkameras verbaut werden, haben eine Fläche von nur noch 15 bis knapp 60 Quadratmillimeter. Die vielen Millionen empfindlicher Sensoren sitzen also dicht nebeneinander, sodass ein Lichtpunkt mehr als ein Pixel belichtet. Außerdem liefern sie ein schwaches Signal, das verstärkt werden muss. Das wiederum führt zum sogenannten Rauschen, das herausgefiltert werden muss. Dadurch geht den Bildern Detailschärfe verloren. Die Hersteller aber haben Jahr für Jahr die Pixeldichte nach oben geschraubt, weshalb Kritiker vom Megapixelwahn sprechen. Von etwa sechs Megapixel an, so Experten, liefern Kameras mit kleinen Sensoren schlechtere Bilder. Für digitale Spiegelreflexkameras gilt das aber nicht. Ihre Sensoren sind weitaus größer und deshalb nicht empfindlich für Bildrauschen.

Digitale Photographie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heimkehr des Helden

Tausende feiern den Piloten Chesley "Sully" Sullenberger

Danville/USA - Er ist jetzt ein amerikanischer Held, und er hat den Empfang bekommen, der einem Retter zusteht: Rund 3000 Menschen haben den Piloten Chesley "Sully" Sullenberger nach der spektakulären Notwasserung auf dem Hudson mit Begeisterung zuhause empfangen. In Danville, einem Vorort von San Francisco, spielte eine Blaskapelle, während die Zuschauer das Star-Spangled-Banner und Spruchbänder schwenkten und dem Piloten zu seiner Meisterleistung gratulierten. Sullenberger gab sich wie stets seit dem Unglück zurückhaltend und lobte die Leistung der gesamten Besatzung.

"Die Umstände waren nun einmal so, dass an diesem speziellen Tag diese spezielle Crew im Einsatz war", sagte der 58-Jährige, der bei dem Festakt nicht in seiner Uniform, sondern im dunklen Anzug auftrat. "Aber ich weiß, dass ich für die gesamte Besatzung spreche, wenn ich Ihnen sage, dass wir einfach nur die Arbeit gemacht haben, für die wir ausgebildet wurden." Es waren seine ersten öffentlichen Äußerungen seit dem Unglück vom 15. Januar, das alle 155 Menschen an Bord überlebten. Sullenberger und seine Crew wollen sich nicht näher zu dem glimpflich ausgegangenen Unglück äußern, so lange es noch untersucht wird.

Seine Ehefrau Lorraine Sullenberger sagte unter Tränen, die Leistung ihres Mannes habe sie nicht überrascht: "Ich habe ihn immer als vorbildlichen Piloten gekannt." Er und seine vier Crew-Mitglieder waren am Dienstag zur Amtseinführungvon Barack Obama nach Washington eingeladen geworden. Nun wurde Sullenberger zum Polizisten ehrenhalber von Danville ernannt und bekam symbolisch einen Rathaus-Schlüssel überreicht. SZ

"Ein großer amerikanischer Held": In seiner Heimatstadt Danville bei San Francisco wird der Pilot Chesley Sullenberger (kleines Bild) begeistert gefeiert. AP, rtr

Sullenberger, Chesley Flugzeugunglücke in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Willkommen auf Alcatraz

Die Bürger fühlen sich überrollt, die Flüchtlinge in der Falle - Italiens Regierung hat mit ihrer Politik die Ferieninsel Lampedusa ins Chaos gestürzt. Nun droht der Aufruhr

Von Stefan Ulrich

Rom - Der Absturz in der Gunst der Insulaner ist schmerzhaft für Angela Maraventano. Früher galt die 44 Jahre alte Schönheit noch als "La Pasionaria" von Lampedusa, als leidenschaftliche Frontfrau. Unermüdlich attackierte die Senatorin die linke Regierung in Rom, weil diese wegsehe, während das kleine Eiland im Kanal von Sizilien von Elendsflüchtlingen aus Afrika überschwemmt werde. Doch seit Mai stellt Maraventanos eigene Partei, die Lega Nord, den Innenminister einer Rechtsregierung in Rom. Die Zahl der Flüchtlinge hat seitdem noch zugenommen. Daher steht La Pasionaria an diesem Sonntag auf dem Rathausplatz von Lampedusa plötzlich als Buh-Frau da. Die Menschen pfeifen. Sie wollen die Rednerbühne stürmen. Sie brüllen: "Du Bastard, du hast uns verraten!"

Aufruhr liegt in der Seeluft von Lampedusa. Die 6000 Bürger haben das Gefühl, das Flüchtlingsproblem werde allein auf dem felsigen Rücken ihrer Insel ausgetragen. Seit Tagen ist das für 850 Menschen errichtete Auffangzentrum überfüllt. Zeitweise bis zu 1800 Flüchtlinge sind dort zusammengedrängt, in der Mehrzahl Nordafrikaner, die eine lebensgefährliche Fahrt über das Wintermeer überstanden haben. Nun fühlen sie sich in der Falle auf Lampedusa. Die Regierung in Rom lässt sie nicht aufs Festland. Am Samstag eskalierte die Situation. Die Flüchtlinge kletterten über die Metallzäune und durchbrachen das Eingangstor. Dann marschierten sie aufs Zentrum des Inseldorfes zu. "Libertà! Libertà!", skandierten sie. "Freiheit!"

Auf dem Rathausplatz demonstrierten gerade die Bürger. Sie protestierten dagegen, dass die Regierung Berlusconi nun auch noch ein zweites Zentrum auf ihrer Insel errichten will, ein Abschiebelager, von dem aus die Flüchtlinge direkt zurück in ihre Heimatstaaten gebracht werden sollen. Lampedusa werde wie Alcatraz, die Gefängnisinsel vor San Francisco, schimpften die Einwohner. Damit werde der Tourismus endgültig ruiniert.

So bildete sich am Samstag eine ungewöhnliche Allianz: Als die Flüchtlinge auf der Piazza einliefen, klatschten ihnen die Bürger zu. Die Menschen aus Nordafrika und aus Lampedusa stießen auf die Freiheit an und schmausten in einem Zelt auf der Piazza. Einige Bürger luden die Flüchtlinge nach Hause ein, eine Dusche zu nehmen. Die Stimmung war gut. Denn beide Seiten forderten dasselbe: Die Flüchtlinge sollten aufs Festland gebracht werden, um sich von dort aus in Italien und Europa verstreuen zu können - eben so, wie das bislang geschah.

Dann kippte die Situation. Etliche Nordafrikaner deckten sich in den Läden mit Bier und Schnaps ein. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so betrunkene Leute gesehen", wunderte sich ein Polizeibeamter. Auf einmal gingen Gerüchte um: Flüchtlinge hätten Ferienhäuser aufgebrochen, um zu stehlen und sich zu verstecken, sie liefen mit Messern herum oder drohten, sich mit Glasscherben die Adern aufzuschneiden. Schließlich gelang es einigen Bürgern, die meisten Flüchtlinge zu überreden, in das Auffanglager zurückzukehren. Etliche Dutzend von ihnen machten sich dagegen auf der 20 Quadratkilometer großen Insel davon. So fuhr der Bürgermeister Lampedusas, Dino De Rubeis, ein zwei Meter großer Hüne, am Abend mit einigen anderen Männern im Auto herum, um die Flüchtlinge aufzugreifen. Italienische Zeitungen schrieben am Sonntag von einer "Menschenjagd", die eine Schande für Italien sei. De Rubeis wehrte sich: "Wo war denn eigentlich die Polizei, die auf der Insel eingesetzt ist?"

Damit begann am Sonntag die politische Abrechnung. Die Senatorin Maraventano warf dem Bürgermeister De Rubeis vor, dieser habe die Flüchtlinge selbst aufgestachelt, um die Regierung Berlusconi unter Druck zu setzen. "Auf der Insel droht nun eine Explosion." Die Bürger Lampedusas dagegen halten Maraventano vor, sie mache sich zum Büttel ihres Parteifreundes von der Lega Nord, des Innenministers Roberto Maroni. Der Minister wiederum will den Bürgermeister strafrechtlich verfolgen lassen und sagt: "Ich gebe nicht nach. Die Flüchtlinge bleiben auf der Insel, bis sie abgeschoben werden." Dabei scheint es ihn nicht zu stören, dass die Zustände im Auffanglager von der Opposition als "menschenunwürdig" kritisiert werden.

Eine Lösung war am Sonntag nicht zu erkennen. Auf Lampedusa ging die Angst um, dass alles in Gewalt umschlägt. Auch die Regierung in Rom ist in der Bredouille. Schließlich hatte Premier Silvio Berlusconi die Wahl im Frühjahr auch mit dem Versprechen gewonnen, das Flüchtlingsproblem rasch zu beheben. Stattdessen trafen laut dem Innenministerium im vergangenen Jahr fast 32 000 Bootsflüchtlinge auf Lampedusa ein - 75 Prozent mehr als im Vorjahr.

Berlusconi meinte am Wochenende dennoch: "Auf Lampedusa ist alles in Ordnung." Die Flüchtlinge könnten ja nicht weg, sie seien doch vom Meer umgeben. Außerdem sei doch nichts dabei, wenn sie ins Dorf gingen, um ein Bier zu trinken. Dem Premier ist jedoch klar, dass er handeln muss, wenn der Unmut nicht von Lampedusa auf ganz Italien überschwappen soll. Daher soll Innenminister Maroni am Dienstag nach Tunesien fahren, um die Rücknahme von Flüchtlingen auszuhandeln. Die meisten der Menschen, die derzeit im Lager von Lampedusa ausharren, sind Tunesier. Was passiert, wenn sie abgeschoben werden sollen, mag man sich auf der Insel gar nicht ausmalen. Am Samstag schrieen viele Flüchtlinge bereits: "Tunis, Tunis, du kannst uns mal."

"Freiheit!": Hunderte Flüchtlinge brachen aus dem Auffanglager aus und protestierten. Erst klatschten ihnen die Bürger zu. Dann kippte die Situation. Foto: AFP

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Krippen-Morde: Motiv weiter unklar

Der Messerstecher hatte Adressen von drei weiteren Kitas bei sich

Brüssel - Nach dem Blutbad in einer belgischen Kinderkrippe rätseln die Ermittler weiter über die Motive des Amokläufers. Der Verdächtige habe noch nichts zugegeben und sei nicht bereit, mit der Polizei zu kooperieren, sagte Staatsanwalt Christian Du Four am Wochenende. Gegen den 20-Jährigen wurde Haftbefehl erlassen. Er wird des dreifachen Mordes beschuldigt. Dem Mann wird vorgeworfen, am Freitag in einer Kinderkrippe in Dendermonde zwei Babys und eine Erzieherin mit einem 20 Zentimeter langen Messer erstochen sowie zwölf weitere Menschen verletzt zu haben, darunter zehn Kinder. Nach Angaben Du Fours lebte der alleinstehende Arbeitslose in Belsele, rund 20 Kilometer nördlich von Dendermonde. Er sei nicht polizeilich bekannt gewesen und habe sich nicht in psychiatrischer Behandlung befunden, wie zunächst spekuliert worden war.

Der mutmaßliche Täter - von belgischen Medien wegen seiner Gesichtsbemalung "Joker" genannt - habe unter seiner Kleidung eine schusssichere Weste getragen und neben dem Messer eine Axt und eine Schusswaffen-Attrappe mit sich geführt, sagte Du Four. Justizbeamte berichteten ferner, dass der Verdächtige die Adressen von drei weiteren Kinderkrippen bei sich trug. Die Frage, ob der Mann auch dort Angriffe geplant habe, wollte Du Four nicht beantworten. "Wir wissen nichts über sein Motiv, und wir wissen auch nicht, ob es eine Verbindung zwischen dem Mann und Dendermonde gibt", sagte Du Four auf einer Pressekonferenz. Die Krippe wird nicht wieder geöffnet. Nach Angaben der Stadtverwaltung soll das Gebäude künftig anderen, kommunalen Zwecken dienen. AP, dpa

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Schön und stark

Die neue Ducati 1198S kommt serienmäßig mit einer Traktionskontrolle

Ducati 1198S: 125 kW (170 PS); max. Drehmoment: 131 Nm bei 8000/min; Vmax: 280 km/h; Leergewicht: 185 kg; Tankinhalt: 15,5 l; Euro 3; G-Kat; Grundpreis: 21 990 Euro (ohne Nebenkosten).

Mehr Hubraum, mehr Leistung, weniger Gewicht - an dieser Formel orientieren sich bislang die meisten Sportmotorräder. Ducati ist dieses Basis-Credo nicht genug; schließlich bauen die Bologneser Motorräder, in die sich Zweiradfans allein der Optik wegen verlieben können. Und beim Design macht den Italienern so schnell keiner etwas vor.

Die technischen Neuerungen der 1198S verbergen sich vor allem hinter der roten Schale in Form des neuen 90-Grad-Desmo-Twin. Der flüssigkeitsgekühlte Vau legt mit 170 PS und 131 Newtonmeter Drehmoment die Messlatte nicht nur für Zweizylinder schwindelerregend hoch. Zum modifizierten Innenleben mit handtellergroßen Schmiedekolben kommt ein neues Kurbelgehäuse, das durch ein neuartiges Vakuum-Druckgussverfahren allein drei Kilo gegenüber der Vorgängerin einspart. Insgesamt zeigt die Waage 185 Kilo.

Eingebettet ist die Kraftquelle in den typischen Ducati-Gitterrohrrahmen. Ein hochwertiges Öhlins-Fahrwerkspaket mit einstellbarem Lenkungsdämpfer und Marchesini-Schmiederäder sorgen dafür, dass das Bike leichtfüßig ist: Umlegen, Einlenken, Wechselschräglagen gehen fast spielerisch von der Hand. Darüber hinaus lockt die Neue mit der ersten serienmäßigen Traktionskontrolle für Sportmotorräder. Weil nicht jeder die Arbeit der Traktionskontrolle am Kurvenausgang spürt, signalisieren Leuchtdioden im Cockpit deren Einsatz. Oder man lässt sich die DTC-Aktivität wie die Motordaten dank USB-Port auf dem Laptop anzeigen - bei 21 990 Euro für die edle Rote sollte dieses wohl kaum noch ins Gewicht fallen. rkm

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Mutter und zwei Kinder mit Beil getötet

Saarlouis - Vermutlich bei einem Familiendrama sind am Samstag in Saarlouis drei Menschen getötet worden. Dabei handelt es sich um eine 40-jährige Frau, deren sechsjährigen Sohn und eine 20 Jahre alte Tochter, wie die Polizei mitteilte. Als dringend Tatverdächtigen nahm die Polizei den 47-jährigen Ehemann fest, der volltrunken neben der getöteten Frau auf der Couch schlief. Ein drittes Kind, ein dreijähriger Junge, blieb unverletzt. Der Täter ging den Angaben zufolge mit "massiver Gewalt" vor, als Tatwaffen gelten ein Beil und ein Schlachtermesser. Eine Freundin der Ehefrau hatte die Leichen am Samstag in dem Einfamilienhaus entdeckt. Offenbar war es in jüngster Zeit zu Zerwürfnissen zwischen den Eheleuten gekommen. Der Verdächtige war noch nicht vernehmungsfähig. ddp

Morde an Kindern in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aktionäre setzen Chefgehälter fest

Schweizer Konzerne lassen erstmals abstimmen

Von Gerd Zitzelsberger

Zürich - Die Schweizer Kampagnen für transparentere und bescheidenere Managervergütungen zeigen einen ersten Teilerfolg, der auch nach Deutschland ausstrahlen dürfte: Drei Großkonzerne lassen bei den kommenden Hauptversammlungen erstmals die Anteilseigner über Managervergütungen abstimmen. Das teilte die Genfer Anlagestiftung Ethos am Freitag mit. Die Wirkung solcher Abstimmungen ist jedoch in der Eidgenossenschaft umstritten.

Als das Desaster bei der Schweizer Großbank UBS immer deutlicher wurde, hatte Ethos zusammen mit Schweizer Pensionskassen bei fünf Konzernen für die kommenden Hauptversammlungen einen Antrag auf getrennte Abstimmung über den Vergütungsbericht gestellt. Nach dem Schweizer Aktienrecht kann es sich zwar dabei nur um eine konsultative Abstimmung, sprich um ein unverbindliches Meinungsbild handeln. Eine große Zahl von Nein-Stimmen aber, so die Überlegung von Ethos, kann sich mit Blick auf das öffentliche Ansehen kein Konzern leisten. Zudem führe die Abstimmung auf jeden Fall zu mehr Transparenz über das Vergütungssystem für das Spitzenmanagement, argumentiert Ethos-Sprecher Vinzenz Mattys. Inzwischen stehen 30 Schweizer und internationale Institutionen, die zusammen ein Vermögen von 170 Milliarden Euro verwalten, hinter der Ethos-Initiative.

Die beiden Großbanken UBS und Credit Suisse (CS) sowie Nestlé, der weltweit größte Nahrungsmittelhersteller, haben nun gegenüber Ethos erklärt, dass sie bei den kommenden Hauptversammlungen Vergütungsabstimmungen auf die Tagesordnung setzen werden. Nicht nachgeben wollen dagegen der Pharmamulti Novartis und - überraschenderweise - der Elektrokonzern ABB; er hatte in den letzten Jahren bei den Managerbezügen durchaus Maß gehalten.

Kritik an dem Ethos-Erfolg übt der Schweizer Unternehmer Thomas Minder, der als Initiator der "Volksinitiative gegen die Abzockerei" bekannt geworden ist. Wegen des Depot- und Organstimmrechts würden auch völlig überzogene Vergütungen in den Hauptversammlungen eine hoher Zustimmung bekommen, sagte Minder zur SZ. "Die Abstimmung streut den Kleinaktionären nur Sand in die Augen." Die Schweizer Regierung muss das Volk über seine Initiative, die erheblich weitergehende Forderungen erhebt, in den nächsten zwei Jahren abstimmen lassen. Einen brisanten Vorschlag hat jetzt der Schweizer FDP-Abgeordnete und Unternehmer Johann Schneider-Ammann gemacht. Er will bei so genannten systemrelevanten Unternehmen wie den Großbanken durchsetzen, dass Vorstände und Verwaltungsräte bei einer massiven Schieflage mit ihrem privaten Vermögen haften.

Unternehmen in der Schweiz Einkommen von Führungskräften SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Rettungspaket für die Privatuni

Die von Schließung bedrohte Hochschule Witten/Herdecke gewinnt doch noch Investoren - neue Studiengänge sollen sie attraktiver machen

Von Tanjev Schultz und Johannes Nitschmann

Düsseldorf/München - Die private Universität Witten/Herdecke ist vorerst gerettet. Investoren, Vertreter der Hochschule und der nordrhein-westfälische Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) verständigten sich in der Nacht zu Freitag auf ein "Zukunftskonzept", Kapitaleinlagen von 16 Millionen Euro und eine Bürgschaft in Höhe von zehn Millionen Euro. Pinkwart sagte, Witten-Herdecke soll im Jahre 2013 "eine schwarze Null schreiben".

Die Universität plant neue Studiengänge wie "Gesundheitsökonomie" oder "Management, Philosophie und Kultur". Sie sollen die bestehenden Schwerpunkte in Medizin, den Wirtschafts- und Kulturwissenschaften ergänzen. Die Zahl der Studenten soll von derzeit 1200 auf mehr als 1500 steigen, der Anteil der Studiengebühren am Etat von sieben auf mindestens 20 Prozent wachsen.

Die Hochschule habe "die Chance zu einem Neuanfang genutzt", sagte Minister Pinkwart. Es sei "ein Rettungsakt in letzter Sekunde" gewesen. Pinkwart kündigte an, das Land werde für die Universität 2009 und 2010 jeweils 6,75 Millionen Euro zahlen, je 2,25 Millionen Euro davon würden als Sonderzuschuss gewährt. Kurz vor Weihnachten hatte Pinkwart die Subventionen gestoppt und der Universität vorgeworfen, keinen soliden Finanzplan zu haben. Die Uni-Leitung trat daraufhin zurück.

Für das neue Präsidium präsentierten Geschäftsführer Michael Anders und der Mediziner Martin Butzlaff in der fast achtstündigen Nachtsitzung den Sanierungsplan. Sie wollen die Verwaltung der Uni umbauen, die Personalkosten sollen um sieben Millionen Euro sinken. Derzeit hat die Hochschule etwa 400 Vollzeitstellen. Die Lehre und vor allem die Forschung in der Medizin sollen jedoch ausgebaut werden. Dies ist nötig, um entsprechenden Forderungen des Wissenschaftsrats zu genügen. Im kommenden Jahr muss sich die Universität erneut einem Prüfverfahren des Wissenschaftsrats stellen, der die privaten Hochschulen evaluiert. Der Rat hatte bemängelt, die Witten/Herdecke sei in der medizinischen Forschung zu schwach. Wegen ihrer patientennahen Ausbildung, guter Examina und wegen ihres Brückenschlags zwischen Medizin und Pflegewissenschaft genießt die Uni aber bei vielen Ärzten einen sehr guten Ruf. Bekannt ist Witten/Herdecke außerdem für das Studium fundamentale: An einem Tag in der Woche gibt es für alle Studenten ein disziplinübergreifendes Programm.

Als neue Gesellschafter und Geldgeber wurden das Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke, die Software AG Stiftung, ein Alumni-Verein und die Familie Droege, Gründerin der gleichnamigen Unternehmensberatung gewonnen. Die Familie Droege war bereits vor zwei Jahren als Retter vorgestellt worden, hatte sich dann aber mit der damaligen Universitätsleitung überworfen. Sie soll nun eine Bürgschaft in Höhe von zehn Millionen Euro zugesichert haben.

An der Finanzierung will sich nach Angaben der Universität außerdem ein Verbund katholischer Krankenhäuser beteiligen, für die der Rechtsanwalt Artur Maccari als Verhandlungsführer auftrat. In den nächsten drei Jahren wolle dieser Verbund jeweils drei Millionen Euro als Kapitaleinlage zahlen.

Die Spitze der Universität trat Befürchtungen entgegen, das Profil der Hochschule könnte unter der Sanierung leiden. "Wenn es uns nicht gelingt, das Besondere dieser Universität zu erhalten, brauchen wir sie nicht mehr", sagte Geschäftsführer Michael Anders der Süddeutschen Zeitung. Anders war zuvor Kanzler an der privaten, anthroposophisch ausgerichteten Alanus Kunsthochschule in Alfter. Martin Butzlaff sagte, Witten besinne sich auf seine Stärken und setze weiterhin auf die Mitsprache der Studenten. Der "umgekehrte Generationenvertrag" bleibe erhalten.

Dabei geht es um ein von Studenten verwaltetes Gebühren-Modell: Studenten brauchen erst zu zahlen, wenn sie im Beruf genügend Geld verdienen. Als die Uni 1983 gegründet wurde, gab es noch keine Gebühren, mittlerweile müssen Mediziner etwa 32 000 Euro für ihr Studium zahlen, künftig könnte der Betrag auf mehr als 40 000 Euro steigen.

Der SRH Konzern, der mehrere Kliniken und private Fachhochschulen betreibt und das Wittener Gebührenmodell als zu riskant ablehnt, zog sich aus dem Kreis der möglichen Geldgeber zurück. Ein SRH-Sprecher sagte, der Zeitraum bis 2013 für eine Sanierung sei zu lang: "Was nach drei Jahren nicht saniert ist, bekommt man nie saniert." Man wünsche der Uni dennoch viel Glück, da deren Insolvenz für alle privaten Hochschulen ein herber Rückschlag wäre.

Minister Pinkwart kündigte an, nach derzeitigem Stand könnte das Land die Universität auch über das Jahr 2010 hinaus fördern. Für ihren Lehrbetrieb erhielten private Hochschulen kein Geld, bei Witten sei ein Zuschuss für die medizinische Forschung aber geboten. Kurz nach seinem Amtsantritt im Sommer 2005 hatte Pinkwart im Landtag noch gesagt, Witten/Herdecke sei ein wichtiges Experiment, aber man müsse sehen, ob man es dauerhaft weiterfördern wolle oder ob es ganz in den privaten Wettbewerb entlasse. "Letzteres ist mein Ziel", sagte Pinkwart damals. Die Universität Witten/Herdecke kann sich jedoch darauf berufen, dass ihre Studienplätze in Medizin für den Staat günstiger sind als die Plätze an den staatlichen Hochschulen.

Die Personalkosten sollen sinken - um sieben Millionen Euro

Die neue Spitze will das Profil der Hochschule auf jeden Fall erhalten

Anders als an anderen Hochschulen ist das Studium in Witten/Herdecke: Einmal wöchentlich müssen die Studenten Kurse im sogenannten "Studium fundamentale" besuchen, das ihrer Allgemeinbildung dienen soll. Ein weiterer Unterschied zu den staatlichen Universitäten ist, dass die Hochschüler für ihr Studium viel Geld ausgeben müssen. So kostet ein Medizinstudium derzeit insgesamt etwa 32 000 Euro. Das Geld müssen Studenten aber erst zahlen, wenn sie im Beruf genug verdienen. Bald sollen die Gebühren weiter steigen. Foto: ddp

Pinkwart, Andreas Anders, Michael Private Universität Witten/Herdecke GmbH: Finanzen Finanzen im deutschen Hochschulbereich Private Hochschulen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Spanien ermittelt in Arzneimittel-Skandal

Madrid - Die spanische Justiz ermittelt gegen die Verantwortlichen eines Arzneimittel-Skandals in Panamá, bei dem mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen sind. In dem mittelamerikanischen Land waren nach offiziellen Angaben in den Jahren 2006 und 2007 wenigstens 119 Bewohner nach der Einnahme von vergiftetem Hustensaft gestorben. Bei etwa 400 weiteren Todesfällen wird ermittelt, ob sie mit dem Hustensaft zu tun hatten. Wie die Zeitung El País am Sonntag berichtete, ließ der Nationale Gerichtshof eine Klage gegen ein spanisches Unternehmen zu. Die Firma soll verunreinigtes Glyzerin nach Panamá geliefert haben, das mit einem giftigen Lösungsmittel gepanscht war. Die Kläger werfen dem Unternehmen vor, Lieferunterlagen gefälscht zu haben, um höhere Gewinne zu erzielen. dpa

Kriminalität in Panama Vergiftungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Banken können auf längere Staatshilfen hoffen

Das Finanzministerium will die Garantien womöglich von drei auf fünf Jahre ausweiten. "Bad Bank" immer unwahrscheinlicher

Berlin - Deutsche Banken können die staatlichen Milliarden-Garantien womöglich länger nutzen als bisher vorgesehen. Im Bundesfinanzministerium gibt es Überlegungen, die Frist für Garantien des staatlichen Banken-Rettungsfonds Soffin von drei auf fünf Jahre und damit über 2012 hinaus zu verlängern. Damit könnten sich die Banken länger günstig mit frischem Geld versorgen, was am Ende das schleppende Kreditgeschäft ankurbeln dürfte. Vertreter der Koalition begrüßten am Freitag die Überlegungen.

Weiter offen ist, wie Banken von faulen Wertpapieren entlastet werden. Dabei geht es um mehrere hundert Milliarden Euro. Eine staatliche "Bad Bank", die auf Kosten des Steuerzahlers die Risikopapiere der Banken aufkauft und entsorgt, lehnen Bundesregierung sowie Union und SPD ab. Es handele sich um eine "sehr komplexe Frage", sagte Torsten Albig, Sprecher von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD). "Wir sind mit dem Nachdenken noch nicht am Ende." Es werde aber keine Lösung geben, die "ausschließlich" zulasten der Steuerzahler gehe. Es müsse aber nicht in kürzester Zeit entschieden werden.

Für die Soffin-Bürgschaften stehen bis zu 400 Milliarden zur Verfügung. Damit will die Regierung erreichen, dass die Banken sich untereinander wieder Geld leihen zur Refinanzierung. Bisher haben mehrere Banken dies im Umfang von etwas mehr als 100 Milliarden Euro genutzt. Die Garantien zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen gelten für Verbindlichkeiten, die nach Inkrafttreten des Gesetzes und bis Ende 2009 eingegangen wurden. Dafür wird ein Entgelt fällig. Der Staat springt erst ein, wenn ein Kredit platzt. Für dieses Risiko stellt der Bund vorsorglich 20 Milliarden bereit.

Bisher haben die Garantien eine Laufzeit von bis zu 36 Monaten, die letzte Bürgschaft liefe Ende 2012 aus. Laut Albig wird erwogen, "zumindest bei Teiltranchen auf 60 Monate" zu verlängern. Es gehe um Optimierung und kein zweites Hilfspaket für Finanzdienstleister.

Auch Regierungssprecher Ulrich Wilhelm betonte, es gehe nicht um eine grundlegende Änderung des seit Oktober bestehenden Rettungsschirms von 480 Milliarden Euro, sondern um mehr Flexibilität bei den bestehenden Instrumenten. Das Hilfspaket wirke und habe die rapide Abwärtsbewegung gestoppt.

Die direkten Finanzspritzen des Bundes können insgesamt bis zu 80 Milliarden Euro ausmachen. Im Gegenzug kann sich der Soffin an Banken beteiligen. Dies nutzte bisher die Commerzbank. Im Gespräch ist inzwischen eine Mehrheitsbeteiligung des Staates am angeschlagenen Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate (HRE). Der Soffin kann ferner "faule" Positionen der Banken aufkaufen. Dieses Instrument wird bisher aber nicht genutzt, weshalb auch die Debatte über eine Bad Bank geführt wird.

Als Grund wird genannt, dass die Risikopapiere nach drei Jahren wieder vom Fonds an die Banken zurückgegeben werden könnten. Bei Verabschiedung des Gesetzes im Oktober hieß es, die Hilfen des Fonds sind bis Ende 2009 möglich. Danach werde der Fonds abgewickelt. Das Finanzministerium stellte indes klar, dass es hier, entgegen bisheriger Darstellungen, keine Befristung gebe. Dies habe die EU zunächst gewünscht. Dies sei dann aber bei Billigung der Rettungspläne aufgehoben worden. dpa

Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - Diskussion um Bad Bank in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Tödlicher Sturm

Der heftigste Orkan seit zehn Jahren kostet in Spanien und Frankreich mindestens 15 Menschen das Leben

Barcelona/Paris - Ein Orkan hat am Samstag in Spanien und im Südwesten Frankreichs mindestens 15 Menschen das Leben gekostet und schwere Verwüstungen angerichtet. Allein in Barcelona starben vier Kinder beim Einsturz des Daches einer Sportanlage. In Frankreich waren 1,7 Millionen Haushalte von der Stromversorgung abgeschnitten. Umgestürzte Bäume blockierten Straßen und Schienen. Die Flughäfen von Bordeaux und Toulouse wurden vorübergehend geschlossen. Bei dem Orkan wurden in Spanien Windböen bis 160 Kilometer in der Stunde gemessen, in Frankreich gar 190 Stundenkilometer. Beim Einsturz des Tribünendaches in Barcelona wurden zudem 15 Menschen verletzt, wie Behörden und Augenzeugen berichteten. Von den Verletzten schwebten noch drei Kinder in Lebensgefahr. Eine Frau, die das Unglück beobachtete, sagte im Sender TVE, dass sich die Kinder für ein Spiel auf einem Baseball-Feld vorbereitet hätten und dann unter einer Tribüne mit einem rostigen Eisendach vor dem Unwetter Schutz gesucht hätten.

In anderen Teilen Spaniens kamen mindestens fünf Menschen infolge des Unwetters ums Leben. Von einstürzenden Mauern wurden in Barcelona eine Frau und in Alicante ein Mann erschlagen. Mindestens zwei Menschen wurden von entwurzelten Bäumen getötet. Vor der Hafenstadt La Coruña im Nordwesten kam ein Fischer ums Leben. In Frankreich gab es einen Toten, als ein Baum auf ein Auto stürzte. In der Nähe der Stadt Nucia mussten drei Dörfer wegen eines Waldbrands evakuiert werden, nachdem der Sturm Hochspannungsmasten umgerissen hatte.

In Frankreich waren Hunderttausende auch am Sonntag noch ohne Strom, Zehntausende hatten weder Festnetz- noch Handy-Anschluss. Der Stromversorger EDF erklärte, die Reparaturen würden Tage dauern. Für das Atomkraftwerk Blaye nordöstlich von Toulouse wurde zeitweise der Notfallplan aktiviert. Météo France verglich den Sturm mit dem Wintersturm Lothar, der im Dezember 1999 weite Gebiete West- und Mitteleuropas verheert hatte. Damals waren allein in Frankreich 92 Menschen umgekommen. Seitdem hat Frankreich ein Warnsystem eingeführt. Météo France verhängte erstmals wegen Sturms Alarmstufe Rot in neun Départements. Die Zahl der Opfer sei diesmal viel niedriger, weil das Warnsystem funktioniert habe und der Sturm sich auf drei Regionen beschränkte, hieß es. AP, dpa

Vier Kinder starben beim Einsturz einer Sportanlage bei Barcelona. AP

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"Das richtige Instrument"

Arbeitsmarkt-Experte optimistisch

SZ: Herr Professor Möller, ist Kurzarbeit ein probates Mittel in der Krise?

Möller: Unbedingt! Sie ist das richtige, angemessene Instrument und man kann sich nur wünschen, dass die Unternehmen es auch einsetzen. Denn so halten sie ihre Stammbelegschaft, in die sie viel investiert haben, die viel betriebsspezifische Kenntnisse besitzt und die sie nach der Krise brauchen werden. Ideal wäre es, Kurzarbeit mit Weiterbildung zu kombinieren.

SZ: Wie stark wird die Kurzarbeit zunehmen?

Möller: Kurzarbeit hat ja einen administrativen Vorlauf. Die Betriebe müssen sie bei der Bundesagentur für Arbeit beantragen. Dadurch haben wir einen Frühindikator für die Entwicklung. Dass es einen weiteren Anstieg geben wird, zeigen die Dezember-Zahlen. Da gingen Anträge auf Kurzarbeit für etwa 400 000 Beschäftigte ein. Bei einem Viertel handelte es sich um Beschäftigte in saisonabhängigen Gewerben wie der Landwirtschaft oder dem Bau, etwa drei Viertel waren konjunkturbedingt. Zum Vergleich: Im Dezember 2007 gab es ohne Landwirtschaft und Bau Anträge für gerade einmal 11 000 Beschäftigte. Daran sieht man die enorme Dimension und die Dynamik, die derzeit im Thema Kurzarbeit steckt.

SZ: Wird dieser Trend anhalten?

Möller: Das hängt vom Verlauf der Konjunktur ab. Diese dürfte zumindest im ersten Halbjahr weiter nach unten gehen. Daher ist anzunehmen, dass die Kurzarbeit steigt oder auf sehr hohem Niveau bleibt.

SZ: Wann wird aus Kurzarbeit Massenarbeitslosigkeit?

Möller: Entscheidend ist, wie stark die politischen Maßnahmen zur Konjunkturbelebung greifen. Wir arbeiten mit zwei Szenarien. Das düstere Szenario wäre, dass die Konjunktur langfristig schwächelt und wir in eine Depression rutschen. Dann wird Kurzarbeit ein stumpfes Schwert und es käme zu Massenentlassungen. Aber von diesem Worst Case sind wir noch weit entfernt. Ich warne daher vor Schwarzmalerei und Pessimismus.

SZ: Und das zweite Szenario?

Möller: Wir halten es für wahrscheinlicher, dass es im Laufe des Jahres 2009 bereits eine Wende zum Besseren geben wird. Dann hätte die Kurzarbeit als Instrument zur Überbrückung eines solchen konjunkturellen Einbruchs ihren Zweck voll und ganz erfüllt.

SZ: Ist Kurzarbeit für alle Branchen gleichermaßen ein probates Instrument?

Möller: Im produzierenden Gewerbe wird sie viel stärker eingesetzt als im Dienstleistungssektor. Aber grundsätzlich ist sie für jede Branche ein adäquates Mittel.

SZ: Wie wirkt sich das auf die Finanzen der BA aus? Müssen vielleicht sogar die Arbeitslosenbeiträge erhöht werden?

Möller: Das ist natürlich auch eine politische Frage. Zwangsläufig ergeben sich höhere Belastungen. Die BA hat aber durch hohe Rücklagen gut vorgesorgt. Für die Finanzierung der Kurzarbeit werden daher auf jeden Fall genügend Mittel bereitgestellt werden können.

Interview: Uwe Ritzer

Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Foto: ddp

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Obama bleibt auf Sendung

Der US-Präsident darf weiterhin E-Mails und SMS versenden - muss allerdings das Handy wechseln

Im Januar 2001, ein paar Tage vor seiner ersten Inauguration als 43. US-Präsident, schickte George W. Bush eine E-Mail an seine Freunde: "Ich möchte nicht, dass meine private Korrespondenz ausgespäht wird. Um das zu verhindern, habe ich nur die Möglichkeit, überhaupt nicht im Cyberspace zu kommunizieren." Worauf Bush noch zähneknirschend verzichtet hat - E-Mails während seiner Präsidentschaft zu schreiben -, ist für den neuen Mann im Weißen Haus undenkbar. Barack Obama hat bereits während seines Wahlkampfs sein Multimedia-Handy, einen Blackberry, ausgiebig genutzt, um per E-Mail oder SMS mit Wählern, Beratern, Freunden und der Familie Botschaften auszutauschen.

Doch seine Berater drängten Obama zu einer elektronischen Entziehungskur im Amt. Denn nach US-Recht muss sämtliche Korrespondenz des Präsidenten dokumentiert und archiviert werden, also auch die SMS. Zudem bestanden große Sicherheitsbedenken: Ist Obamas Blackberry eingeschaltet, könnte über die eingebaute Positionsbestimmung GPS preisgegeben werden, wo sich der Präsident gerade aufhält. Darüber hinaus wäre es möglich, die E-Mails abzufangen; Hacker könnten die Server des Blackberry-Herstellers RIM (Research in Motion) knacken, über die die gesamte E-Mail-Kommunikation läuft. Ein weiterer Minuspunkt für die Sicherheitsbehörden: RIM ist kein US-amerikanisches, sondern ein kanadisches Unternehmen.

Doch nun haben das Weiße Haus und der Geheimdienst NSA eine Lösung für Barack Obama gefunden. Er bekommt ein Gerät namens Sectera Edge. Das Gerät, ein sogenanntes Smartphone, hat der Rüstungskonzern General Dynamics entwickelt. Die NSA hat es für den militärischen Gebrauch freigegeben und hält es damit für sicher. Das Gerät, das 3350 Dollar (rund 2500 Euro) kostet, basiert auf dem Palm Treo 750, verfügt über ein 2,8 Zoll großes Display, 64 000 Farben und allerlei Erweiterungen: Wasserfest und äußerst robust geht es über Wlan, GSM oder CDMA ins Netz. Der Akku soll eine Stand-by-Zeit von lediglich 35 Stunden haben und für ein dreistündiges Gespräch reichen. Die Software-Ausstattung stammt von Microsoft. Das Betriebssystem ist Windows Mobile, das dafür allerdings speziell angepasst oder, wie die Experten sagen, gehärtet wird. Die wichtigste Sicherheitsfunktion: Per Knopfdruck kann der Besitzer von offener auf verschlüsselte Kommunikation wechseln - Gespräche und Dokumente, die der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegen, sollen so nicht mehr in unbefugte Hände geraten können.

Nicht nur US-Rüstungskonzerne, auch deutsche Unternehmen bringen Geräte auf den Markt, die die mündliche Kommunikation verschlüsseln können. So hat das Berliner Unternehmen Rohde und Schwarz SIT ein Krypto-Gerät entwickelt, das sich über den Kurzstreckenfunk Bluetooth mit Handys verbinden lässt. Somit ist man nicht an eine bestimmte Marke gebunden. Mit dieser Lösung hätte Barack Obama vielleicht sogar seinen geliebten Blackberry behalten können. Mirjam Hauck

Auf Knopfdruck Krypto: Präsident Obama erhält ein verschlüsseltes Handy. Foto: S. Tufankjian/Polaris/laif

Obama, Barack Handy-Geräte SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Tausend Bilder pro Sekunde

Die Hersteller digitaler Kameras lassen ab vom Pixelwahn und setzen auf zusätzliche Fähigkeiten

Vorurteile können langlebig sein, vor allem dann, wenn sie aus Ziffern bestehen und den Verkauf von Produkten fördern. Auch auf vielen neuen Digitalkameras für den Hausgebrauch prangen noch immer Aufkleber, die angeben, wie viele Millionen Bildpunkte der elektronische Sensor einer Kamera hat. Dabei ist der Megapixelwahn in etwa genauso sinnvoll wie einen Kleinwagen mit 300 PS anzubieten. Aber die Zeiten scheinen sich zu ändern. Auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas setzte sich die 2008 begonnene Abkehr vom Pixelwahn nun fort - mit durchaus erstaunlichen Ergebnissen.

Konnten manche Kameras schon zu Zeiten des herkömmlichen Films das Datum in die Aufnahmen einblenden, geht die jetzige Technik einen ganzen Schritt weiter. Sony beispielsweise bietet im GPS-CS3KA ein kleines Zusatzgerät an, das man auf Reisen mitnehmen und seine Bilder über GPS-Satelliten mit exakten Breiten- und Längengraden versehen kann. Damit können sie später automatisiert an Dienste wie Google Earth weitergegeben werden. Das etwa zigarettenschachtelgroße batteriebetriebene Gerät für das sogenannte Geotagging soll für rund 140 Euro zu haben sein.

Kameras mit einem Chip für Drahtlos-Netzwerke (Wlan) gibt es zwar schon länger, Sonys Cybershot G 3 allerdings ist die erste mit einem Internet-Browser, der beliebige Adressen ansteuern kann. Über diese Software lassen sich wie von einem Computer aus Bilder auf Fotoportale oder das eigene Blog übertragen.

Casio hatte bereits vergangenes Jahr die Konkurrenz aufhorchen lassen und eine Kamera gezeigt, die nicht bloß Bilder schießt und Filmchen aufzeichnen kann, sondern auch beeindruckende Videos in Superzeitlupe. Die F1 lieferte extreme Zeitlupen mit bis zu 1200 Bildern pro Sekunde, kostete aber stolze 800 Euro. Nun kommen in der FC100 und der FS10 zwei Geräte für weniger als die Hälfte dieses Preises auf den Markt, die sich davor kaum zu verstecken brauchen. Bei Extrem-Zeitlupen-Filmen etwa von platzenden Luftballons ist allerdings die Auflösung beschränkt. Filme mit 1000 Bildern pro Sekunde schaffen die Kameras nur noch mit 224 mal 56 Bildpunkten. Für YouTube reicht das allerdings. Die Geräte sollen im Frühjahr auf den Markt gebracht werden.

Mit Kompaktkameras war es bisher nicht so einfach, in Innenräumen die gesamte Geburtstagsgesellschaft aufs Bild zu kriegen; aber auch weiter entfernte Motive konnte man nicht besonders nah heranzoomen. Auch das wandelt sich nun. Olympus beispielsweise bietet mit der SP-590 UZ eine Kamera an, die vom Weitwinkel-Bereich bis zum extremen Teleobjektiv alles abdeckt. Ins herkömmliche Kleinbildformat umgerechnet, reicht die verfügbare Brennweite von 26 bis 676 Millimeter. Samsungs WB 500 beginnt sogar schon bei 24 Millimeter, endet dafür aber bei nur 240 Millimeter. Das könnte letztlich aber die sinnvollere Alternative sein, denn ein so extremes Teleobjektiv wie das der Olympus kann man eigentlich nur am Stativ verwenden. Ansonsten kommt es zu Verwackelungen, mit denen erfahrungsgemäß auch die besten Korrekturmechanismen der Kameras nicht mehr fertig werden. Die Samsung-Kamera kann zudem auch Videos in hoher Auflösung aufzeichnen.

In Polaroids PoGo-Kamera feiert schließlich auch noch das gute alte Sofortbild fröhliche Urständ. Mit Kristallen beschichtetes Papier wird dabei von einem Druckermodul ausgegeben, das direkt in die Kamera eingebaut ist. Den Drucker alleine gab es schon seit Mitte 2008, nun kommt er also auch noch mit integrierter Kamera. Die Bildqualität erinnert Testberichten zufolge an Polaroid-Bilder der siebziger und achtziger Jahre - nichts für Qualitätsfreaks, mehr ein Partyspaß.

Für alle, die es ernster meinen mit der Fotografie, kommt aber fast nur eine Spiegelreflex-Kamera in Frage. Die Mittelklasse-Modelle bieten nicht nur Mischungen aus Automatikprogrammen und manuellen Einstellmöglichkeiten und ein reichhaltiges Sortiment an Wechselobjektiven und anderem Zubehör. Sie versuchen auch wie beispielsweise Nikons D 90 mit der Möglichkeit von HD-Video-Aufnahmen zusätzliche Kaufanreize zu bieten. Das ist durchaus ernstzunehmen. Amateurfilmer schätzen die guten M glichkeiten, aufzunehmende Szenen vorab zu beurteilen. Da es für die Spiegelreflexkameras zudem auch ein großes Sortiment an Wechselobjektiven gibt, werden sie zumindest für den ambitionierteren Amateur zu einer interessanten Alternative. Helmut Martin-Jung

Scharfer Blick: Ob Zoom- objektive von Weitwinkel bis Extrem-Tele oder Superzeitlupen-Funktion - Kamerahersteller versuchen sich mit teils spektakulären Zusatzfunktionen von der Konkurrenz abzusetzen.

Digitale Photographie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sparpläne mit Fonds rentieren sich auf zehn Jahre kaum

Wer 12 000 Euro auf deutsche Aktien setzte, hat heute weniger als 5000 Euro übrig. Gut sind die Ergebnisse nur auf lange Sicht

Von Alexander Hagelüken

München - Jeden Monat 100 Euro oder mehr in Investmentsfonds ansparen, halten mehr als zehn Millionen Deutsche für eine gute Idee. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die monatlich feste Überweisung für den Sparplan zwingt einen, wirklich etwas anzulegen, statt das Geld auszugeben. Läuft es gut, wird aus dem Investment ein schöner Betrag. Bei der Anlage in Aktienfonds mit Schwerpunkt Deutschland wurde im Schnitt nach dreißig Jahren aus 36 000 Euro bis Ende 2008 ein Betrag von 106 000 Euro - eine jährliche Rendite von mehr als sechs Prozent nach Abzug aller Kosten.

Wie die Daten des Fondsverbands BVI zeigen, sind solche Ergebnisse aber nur eine Momentaufnahme. Auf kürzere Sicht sind die Ergebnisse ungünstiger (siehe Grafik). Wer nur im vergangenen Jahrzehnt auf deutsche Aktien setzte, verbuchte bis Ende Dezember im Schnitt einen Verlust von fast zehn Prozent pro Jahr. 12000 Euro schrumpften zu weniger als 5000 Euro - ein Desaster. Bei Sparplänen mit globalen oder europäischen Fonds war das Ergebnis mit minus acht Prozent pro Jahr nicht besser. Und das, obwohl der Deutsche Aktienindex Dax im selben Zeitraum insgesamt nur vier Prozent nachgab. Ein Teil der Erklärung dafür ist, dass der angesparte Betrag mit der Zeit immer größer wird. Die jeweils letzten Jahre mit dem Börsencrash 2008 schlagen viel stärker zu Buch als frühere Erfolge. Deshalb rät der BVI ja auch, das Geld einige Jahre bevor man mit dem Sparplan aufhören und die Erträge vielleicht ausgeben will in Rentenfonds oder andere sichere Fonds umzuschichten.

Die Bilanz der Sparpläne fällt auch auf längere Sicht bescheiden aus. Nach 20 Jahren liessen sich bei deutschen Aktienfonds nur drei Prozent erzielen - trotz allem Risiko nicht mehr als mit sicherem Festgeld. Wer sich für Mischfonds mit Aktien und Renten entschied, vermied im vergangenen Jahrzehnt Verluste. Auf Sicht von 20 Jahren wirkt eine Rendite von knapp vier Prozent nicht besonders üppig.

Wie häufig kommt es darauf an, welche Fonds ein Anleger ins Portfolio nahm. So schafften es bei internationalen Aktien der FT Global Dynamik und der PEH Universal Value gegen den Trend, in einem Jahrzehnt aus 12000 Euro sogar etwas mehr zu machen. Wer Hitlisten über einen längeren Zeitraum studiert, kann größere Unterschiede feststellen und vielleicht bei der Auswahl seiner Investments davon profitieren. Aber natürlich ist der vergangene Erfolg nie eine Garantie dafür, dass sich ein Fonds auch in Zukunft besser schlägt als die anderen. Bei Sparplänen mit Aktienfonds müssen die Anleger ausserdem künftig beachten, dass ab diesem Jahr die Abgeltungssteuer auf die Erträge des neu eingezahlten Geldes fällig wird - ein herber Renditeknick.

Aktiv gemanagte Fonds sind häufig schlechter als der vergleichbare Aktienindex. Angesichts solch magerer Ergebnisse ist es die Frage, ob Anleger nicht teils mit passiven Indexfonds besser fahren. "Bei Sparplänen auf einen Indexfonds sparen sie sich die jährlichen Managementgebühren von etwa 1,5 Prozent", sagt Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Besonders Direktbanken wie DAB, Consors, Comdirect oder Augsburger Aktienbank bieten solche Sparpl ne. Nauhauser rät, möglichst breit zu streuen und sich nicht auf eine Region zu beschränken. Solange die Börse ingesamt mau ist, steht natürlich auch kein Indexfonds im Plus. Aber das soll ja auf längere Sicht wieder anders werden.

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Hartz IV verteidigt

Berlin - Das Bundesarbeitsministerium sieht trotz der steigenden Zahl von Klagen gegen die Umsetzung der Hartz-IV-Gesetze keinen unmittelbaren Handlungsbedarf. Ein Sprecher sagte, in den vergangenen Jahren seien bereits "einige Änderungen" vorgenommen worden. Das Sozialgesetzbuch II, Grundlage der Hartz-IV-Regelungen, zeichne sich gerade dadurch aus, dass möglichst weitgehend auf Einzelfälle eingegangen werden könne. Umgekehrt werde es aber deshalb auch immer mehr Klagen gegen die Umsetzung geben. 2008 waren es 137 374 Klagen, mehr als je zuvor. nif

Berlin

- Das Bundesarbeitsministerium sieht trotz der steigenden Zahl von Klagen gegen die Umsetzung der Hartz-IV-Gesetze keinen unmittelbaren Handlungsbedarf. Ein Sprecher sagte, in den vergangenen Jahren seien bereits "einige Änderungen" vorgenommen worden. Das Sozialgesetzbuch II, Grundlage der Hartz-IV-Regelungen, zeichne sich gerade dadurch aus, dass möglichst weitgehend auf Einzelfälle eingegangen werden könne. Umgekehrt werde es aber deshalb auch immer mehr Klagen gegen die Umsetzung geben. 2008 waren es 137 374 Klagen, mehr als je zuvor.

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Kassen brauchen Geld

Berlin - Als Folge der Finanzkrise muss der Bund der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Jahr mehr als eine Milliarde Euro zuschießen. Die Beitragsausfälle würden auf eine bis 1,3 Milliarden Euro geschätzt, sagte ein Regierungsvertreter am Freitag. Für das zusätzlich benötigte Geld muss der Bund den Krankenkassen ein Darlehen gewähren. Die Krankenversicherung soll zudem bis Ende 2011 und damit länger als vorgesehen Zeit bekommen, um das geborgte Geld zurückzuzahlen. Reuters

Berlin

- Als Folge der Finanzkrise muss der Bund der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Jahr mehr als eine Milliarde Euro zuschießen. Die Beitragsausfälle würden auf eine bis 1,3 Milliarden Euro geschätzt, sagte ein Regierungsvertreter am Freitag. Für das zusätzlich benötigte Geld muss der Bund den Krankenkassen ein Darlehen gewähren. Die Krankenversicherung soll zudem bis Ende 2011 und damit länger als vorgesehen Zeit bekommen, um das geborgte Geld zurückzuzahlen.

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Aktuelles Lexikon

Pius-Bruderschaft

Am 30. Juni 1988 weihte der konservative Kirchenrebell Marcel Lefebvre vier seiner Priester zu Bischöfen. Weil diese Weihe ohne Mandat des Papstes erfolgte, wurden Lefebvre und seine vier Anhänger exkommuniziert - es war der Höhepunkt eines Konflikts, der sich fast zwei Jahrzehnte hingezogen hatte. Denn Lefebvres im Jahr 1970 gegründete Pius-Bruderschaft wandte sich vehement gegen die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 - 1965): Es sei ein fataler Irrtum, alle Religionen auf eine Stufe zu stellen, denn Christus habe nur eine Religion gestiftet, die katholische. Der geheiligte lateinische Ritus müsse erhalten bleiben, sonst drohe den Messebesuchern ein Verlust des Glaubens. Viele Vermittlungsversuche, die auch Joseph Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation unternahm, ließen den Konflikt ungelöst. Bald nach seiner Wahl zum Papst bemühte sich Benedikt XVI. um ein besseres Verhältnis zu den Traditionalisten. Schon im August 2005, vier Monate nach Amtsantritt, empfing er Bernard Fellay, der die Bruderschaft seit Lefebvres Tod im Jahr 1991 leitete. Benedikts Anerkennung des lateinischen Ritus im Jahr 2007 kam den Lefebvre-Anhängern weiter entgegen. Die Bruderschaft, deren Zentrale im schweizerischen Menzingen steht, besteht nach eigenen Angaben derzeit aus 480 Priestern auf allen Kontinenten; sie soll 150 000 bis 200 000 Anhänger haben. fex

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Doppelhaushälfte, 19 Euro

Ein Münchner will sein Haus verlosen - und kämpft erst einmal um die Genehmigung der Behörden

Von Simone Gröneweg und Wolfgang Simonitsch

München/Wien - Volker Stiny und seine Freundin haben mächtig zu tun: Der Mann aus München will das Haus im Internet verlosen, in dem bisher seine Mutter wohnte. Die Rechtslage ist allerdings noch unklar. Trotzdem ist das Interesse groß und das Telefon steht nicht mehr still. "Mein Lebensgefährte ist rund um die Uhr beschäftigt, nächste Woche ist er vermutlich bei Jauch", erklärt die Freundin einem Anrufer, um kurz darauf ans andere Telefon zu hetzen.

Alle möchten wissen, wie Stiny die 156 Quadratmeter Wohnfläche im Vaterstettener Ortsteil Baldham bei München an einen Gewinner bringen möchte. 48 000 Lose will er verkaufen, ein Los kostet 19 Euro. Täglich melden sich mehrere Tausend Leute im Internet an, um mitzuspielen. Da eine reine Verlosung in Deutschland rechtlich nicht möglich ist, versucht es Stiny mit einem Geschicklichkeitsspiel. Das Ganze ist von den bayerischen Behörden noch nicht genehmigt. "Meine Anwälte und ich gehen aber davon aus, dass wir das hinkriegen", sagt Stiny.

Zuvor hatte er versucht, die Doppelhaushälfte zu verkaufen. "Die Interessenten haben keine Kredite von den Banken bekommen." Stiny entschied sich für den unkonventionellen Weg. Nun erhält er täglich bis zu 40 Anrufe von Menschen, die ihre Immobilie auf die gleiche Art loswerden wollen. "Die unterschätzen den Aufwand", sagt er. So habe er gerade ein Interview mit der BBC geführt. "Das war ganz schön kompliziert, in einer fremden Sprache über den Glückspielstaatsvertrag zu reden", erzählt Stiny.

Dieser Vertrag zwischen den 16 Bundesländern ist die rechtliche Grundlage für eine solche Aktion. Behörden des jeweiligen Bundeslandes müssen sich mit den Details auseinandersetzen und entscheiden, ob sie so etwas zulassen. In Stinys Fall muss die Regierung von Mittelfranken jetzt sagen, ob das Spiel ums Haus genehmigt wird oder nicht. Die große Frage: Ist das Ganze ein Glückspiel? Stiny beharrt darauf: "Es handelt sich um ein Geschicklichkeitsspiel."

Bisher hat es einen solchen Fall in Bayern nicht gegeben, anders sieht es in Österreich aus. Da die Klagenfurterin Traude Daniel für ihre Immobilie im Wert von etwa 800 000 Euro keinen Käufer fand, verloste sie ihr Haus. Der Gewinner, ein Bauer aus dem Gurktal, hatte zwei von insgesamt 9999 Losen zum Stückpreis von 99 Euro erworben und den Zuschlag für die Villa bekommen. Die Idee, ein Haus zu verlosen, hat in Österreich bereits viele Nachahmer gefunden. Eigentümer versuchen landauf, landab ihre Immobilien auf diesem Weg loszuschlagen.

"Da muss man sehr vorsichtig herangehen", sagt der Notar Stefan Lindner, der die Verlosung in Kärnten organisiert hat. So könnten Verlosungen auch in Österreich rasch mit dem Glückspielmonopolgesetz in Konflikt geraten. Sie dürfen in Österreich jedenfalls nur privat, nicht gewerblich organisiert werden. Auch in den Vereinigten Staaten und Großbritannien gibt es solche Lotterien. Aber auch dort diskutieren Behörden und Anwälte über deren Zulässigkeit.

Lust am Zocken

Jürgen Michael Schick, Vizepräsident des Maklersverbandes IVD, sieht den Trend jedenfalls kritisch: "Da geht es um die Lust am Zocken", lautet sein Urteil. Unter Umständen gewinne jemand ein Haus, das er gar nicht brauche und wieder verkaufen müsse. "Dieses Modell hat keine Zukunft", glaubt er. Wer sich eine Immobilie anschaffe, solle sich die vorher gut anschauen. "Bei einer Verlosung weiß man doch gar nicht, worauf man sich einlässt." Alice Wotsch, Anwältin von Wolfgang Stiny, verweist auf die Teilnahmebedingungen, die jeder Mitspieler akzeptieren muss. Dort seien in der Regel die wichtigsten Details genannt. Zum Beispiel, dass auf der Immobilie keine Hypotheken mehr lasten. Was für einen Gewinner äußerst ärgerlich wäre.

In Österreich gibt es mittlerweile schon etliche Betreiber von Internet-Plattformen für solche Hausverlosungen. Kenner des neuen Immobilien-Lottos warnen dort jedoch vor Fallen: So könnte ein Hausverkauf sogar Gefängnis bis zu sechs Monaten zur Folge haben, wenn der erzielte Preis den Wert des Objektes übersteige, heißt es. Weil dies den Tatbestand des "verbotenen Glückspiels" erfüllen könne. Verkäufer sollten sich mit einem Wertgutachten absichern.

Los-Käufer und Verkäufer müssen auch steuerlich auf der Hut sein. So muss in Österreich der Gewinner einer Immobilien-Verlosung Grunderwerbsteuer bezahlen. Sie bemisst sich laut Finanzministerium am Gesamtwert aller Lose und beträgt 3,5 Prozent, falls im "Glücksvertrag" nicht andere Regelungen fixiert worden sind. Bei der ersten Verlosung in Klagenfurt hat der Verkäufer dies übernommen. Ähnlich hält es Stiny: "Grunderwerbssteuer, die Notar- und Eintragungskosten in Höhe von etwa 46 560 Euro werden von mir übernommen", schreibt er. Falls es einen Gewinner gibt, wird der sich freuen.

Die Kärntnerin Traude Daniel (Mitte) hat vergangene Woche ihr Haus verlost und auf diese Weise knapp 990 000 Euro erlöst. Foto: dpa

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Erster Immofonds wieder offen

München - Die Fondsgesellschaft Degi traut sich: Sie öffnet zum 30. Januar den Degi International wieder. Wie elf andere offene Immobilienfonds wurde der Degi International im Oktober vergangenen Jahres geschlossen. Zu viele Kunden hatten in zu kurzer Zeit ihre Anteile zurückgeben wollen. Nun hat sich die Lage beruhigt. Seit Schließung überwiesen Privatanleger mehr als 65 Millionen Euro an den Degi International. Das bedeutet, die Liquidität reicht jetzt wieder aus. Anders sieht es dagegen beim Degi Europa aus. Der Fonds bleibe erst einmal weiter geschlossen, teilte die Gesellschaft am Freitag mit.

Auch die anderen Fondsgesellschaften belassen es bisher überwiegend bei der Schließung ihrer Fonds. So nimmt etwa die Gesellschaft Kanam erst einmal weder für den Kanam grundinvest noch für den Kanam US-grundinvest Anteile zurück. Bei beiden Fonds prüft das Management derzeit Maßnahmen, um die Fonds so bald wie möglich wieder für Anteilsrücknahmen zu öffnen. Die tägliche Anteilspreisermittlung werde in gewohnter Weise fortgeführt, auch der Erwerb von Anteilen sei nach wie vor möglich, heißt es. Und bei Axa Investment Managers ist man ebenfalls vorsichtig. Der Axa Immoselect bleibt weiter geschlossen. Das bedeutet, dass auch nach dem 28. Januar Verkaufsaufträge nicht ausgeführt werden. Der Fonds werde weiterhin aktiv verwaltet, um die Liquidität weiter zu erhöhen, heißt es bei der Fondsgesellschaft. groe

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Haut bloß ab mit euren Ab-Preisen

Von Marco Völklein

Okay, den Mann "Wok-Wichtel" zu nennen, ist sicher despektierlich. Aber er nervt halt einfach, da in seinem Vietnam-Thai-Asia-Imbiss. Aber nicht wegen seines Essens. Das ist tadellos. Auch nicht wegen seiner Art; der Mann ist immer freundlich, nett, zuvorkommend, hilfsbereit. Nein, wegen seiner Preisgestaltung. Die nervt halt. Wirklich.

Ein großes Schild hat er draußen drangeschraubt an seinen Laden: "Alle Gerichte ab 3,50 Euro." Aha, na das ist ja mal günstig. Denkt man sich so. Doch beim Blick auf die große Speiseanzeigentafel im Inneren direkt über den beiden riesigen Wok-Pfannen sieht man recht schnell, was es mit dem kleinen Wörtchen "ab" draußen vor dem Laden auf sich hat. Ein (in Ziffern: 1) Gericht ("Khao Kiau Wan Gai" - Hühnerbrust mit Bambus, Champignons und Auberginen in grünem Thai-Curry, scharf) kostet tatsächlich 3,50 Euro. Für alle anderen verlangt er deutlich mehr: "Gäng Phet Däng Gai", saftiges Rindfleisch in rotem Thai-Curry, scharf, kommt auf 5,60 Euro; "Khao Ped Yang", Entenfleisch mit grünen Bohnen, Peperoni in rotem Thai-Curry, scharf, geht für 6,20 Euro über den Ladentisch. Was soll dann eine Aussage "Alle Gerichte ab 3,50 Euro"? Is' doch ein Schmarrn!

"Was willst?", antwortet der kleine Mann hinter den Woks, wie immer auffällig freundlich. "Das machen doch alle in Deutschland." Ach ja? Der Mann hat recht: Ob Banken, Autoversicherer, Kaufhausketten oder Elektronikläden - sie alle werben mit nichtssagenden, aber teuflisch niedrigen Ab-Preisen.

Einen Kredit ab einem effektiven Jahreszins von 1,99 Prozent? Klar gibt es den. Aber eben nur für Kunden, die bei der Kreditauskunft Schufa noch keinen einzigen Eintrag haben, noch kein Handy besitzen und sich die Fingernägel rot lackieren (die mit rosa lackierten Nägeln zahlen nämlich ihre Schulden nur ungern zurück, haben US-Statistiker herausgefunden). Alle anderen zahlen 4,99 oder auch mal 9,99 Prozent. Bonitätsabhängiges Zinsangebot nennen das die Marketing-Leute.

Oder eine Autoversicherung ab 9,99 Euro Beitrag im Monat? Na sicher. Aber eben nur für Kunden, die ihr Fahrzeug nicht aus der Reihenhaussiedlung rausbewegen, am besten bereits mehrfach verbeamtet wurden, den Wagen nachts in der Garage abstellen und zusätzlich noch in Plastikfolie einpacken.

Klar hat der Mann hinterm Wok recht. Alle arbeiten in Deutschland mit Ab-Preisen. Und alle nerven damit. Ab-hauen!, möchte man ihnen zurufen. Haut ab mit euren Ab-Preisen. Am besten dort hin, wo die Wichtel wohnen.

SZ-Serie Abgerechnet SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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DIE BESTEN BLOGS ZU Obamas erster Woche

Seit seinem Amtsantritt als 44. Präsident der USA am 20. Januar hat Barack Obama bereits tiefgreifende Kursänderungen in der amerikanischen Politik vorgenommen. Die eingeleiteten Reformen und die Grundlinien, die Obama in seiner Antrittsrede deutlich gemacht hat, kommentieren Autoren zahlreicher Blogs.

Für seine Exekutiv-Order, das Gefängnis Guantanamo auf Kuba zu schließen, hat Barack Obama weltweit Zustimmung geerntet. Aber nicht nur: Brandt Goldstein, Gastprofessor an der New York Law School, kritisiert in seinem Blog der Huffington Post (www.huffingtonpost.com/brandt-goldstein) , dass Obama in der Art und Weise, wie er das Lager schließen will, einen Fehler begehe: "Obama müsste jetzt gemeinsam mit dem Kongress ein Gesetz erarbeiten, das verbietet, Guantanamo jemals wieder als Gefängnis zu benutzen. Das Problem der Exekutivorder ist, dass sie geändert werden kann - ganz leicht. ... Die Geschichte ist uns da eine Warnung. Guantanamo war schon früher ein Gefängnis, in den frühen 1990er-Jahren. Der erste Präsident Bush benutzte es, um 300 unschuldige haitianische Aktivisten dort einzusperren, die nach einem Militärputsch ihre Heimat verlassen mussten. ... Es ist höchste Zeit Lager wie Guantanamo abzuschaffen. Eine Exekutivorder reicht dazu nicht aus."

Dick Morrisfragt sich vor allem, wie die Ära Obama die USA selbst verändern wird. Er prognostiziert einen harten Schnitt, einen echten Paradigmenwechsel. Auf thehill.com/dick-morris titelt er: "Die Obama-Präsidentschaft: Hier kommt der Sozialismus". Morris sieht folgende Entwicklung: "Vereinfacht gesagt, wir beginnen die Regierungszeit als unternehmerzentriertes, marktdominiertes Laissez-faire-Amerika. Schon bald werden wir wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Schweden sein - eine Sozialdemokratie, in der die Regierung die Wirtschaft dominiert, auf dem privaten Sektor die Prioritäten vorgibt und eine große Bandbreite von Dienstleistungen für viel mehr Menschen zu weit höheren Steuersätzen anbieten wird."

An seinem zweiten Tag im Amt legte Barack Obama großen Wert auf Gespräche mit den führenden Politikern im nahen Osten. Auf Realclearpolitics kommentiert Tom Bevan (realclearpolitics.blogs.time.com/2009/01/21/obama-dials-up-middle-east) : "Offenbar geht Präsident Obama unvoreingenommen an den Nahost-Konflikt heran, und es ist klar, dass er Amerikas Engagement im Friedensprozess Priorität einräumen will. Was aber nicht klar ist, ist die Frage, ob er wohlmeinenden Gesprächen konkrete Handlungen folgen lassen und dabei helfen kann, eine Lösung für ein unlösbar scheinendes Problem zu finden."

Auch deutsche Blogger äußern sich über die neue Obama-Administration. Klaus Eck sieht auf seiner Seite PR-Blogger (klauseck.typepad.com/prblogger) eine neue Transparenz, die das Web 2.0 auf die Politik übertrage: "Barack Obama macht deutlich, was man von einer Regierungspolitik 2.0 erwarten kann und sollte. Sie nimmt die Bürger ernst und gibt ihnen Möglichkeiten der direkten Artikulation - online wie offline. Außerdem verpflichtet sich die neugewählte Regierung der Vereinigten Staaten auf mehr Transparenz und Partizipation. Sie nutzt dazu nicht nur die Medien auf brillante Art und Weise, sondern schafft selbst durch ihre Politik 2.0 die Voraussetzungen dafür, indem die US-Regierung selbst als Medium agiert und ihre Ansicht via Blogs, Twitter, Flickr- und Video-Kanäle der Welt unmittelbar mitteilt."

Zusammengestellt von Katja Riedel

Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Koalition in der Sackgasse

Ministerien können sich nicht auf neues Konzept für Kfz-Steuer einigen

Berlin - Die Bundesregierung hängt bei der Reform der Kfz-Steuer abermals fest. Bei einem Treffen der Staatssekretäre am Freitagmorgen konnten sich die Ressorts nicht auf einen neuen Anlauf für die Reform verständigen. Eine ursprünglich geplante Kompromissformel hatten die SPD-Minister zuvor nach heftiger Kritik gekippt. Sie hätte ausgerechnet die Besitzer besonders großer Autos bevorzugt. Dies hätte den eigentlichen Zweck der Steuer, den Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxids zu verteuern, ins Gegenteil verkehrt.

Das unionsgeführte Wirtschaftsministerium hatte darauf gepocht, eine Obergrenze für die Besteuerung einzuführen. Hersteller großer Fahrzeuge wie Mercedes, BMW oder Audi sollten so vor möglichen Absatzrückgängen bewahrt werden. "Wir haben nun einmal drei Firmen, die im oberen Bereich Weltmeister sind", sagte Otto Bernhardt, finanzpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, der Süddeutschen Zeitung. Ausgerechnet diese drei zusätzlich zu belasten, sei in der Unionsfraktion "nicht mehrheitsfähig". Das Wirtschaftsministerium selbst wollte sich nicht äußern. Dagegen stellte sich Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) gegen Ausnahmen für schwere Fahrzeuge. "Auch die Union kann kein Interesse haben, die klimapolitischen Ziele der Kanzlerin zu konterkarieren", sagte er in Berlin. Auch müsse die Koalition nicht um jeden Preis an dem Plan festhalten, die Reform der Kfz-Steuer nächsten Dienstag im Kabinett zu verabschieden.

Dennoch solle nun "auf höchster Ebene" bis Dienstag eine Lösung gefunden werden, hieß es am Freitag in Regierungskreisen. Das dürfte vor allem die Beamten von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) fordern. Sie sollen einerseits eine Steuer ersinnen, die saubere Autos belohnt und klimafeindliche bestraft. Gleichzeitig soll aber das Steueraufkommen von zuletzt 8,8 Milliarden Euro nicht zu sehr sinken. Werden die Autos immer sauberer, gehen auch die Einnahmen aus der Steuer zurück. Eine zweite Komponente, die sich nach dem Hubraum gerichtet hätte, sollte dies im Kompromissentwurf verhindern. Das aber will die Union nur hinnehmen, wenn es eine Obergrenze für die Hubraum-Steuer gibt - eben zugunsten großer Fahrzeuge. Zwar würde die Union auch bei einer reinen CO2-Steuer mitmachen, sagte Verkehrspolitiker Hans-Peter Friedrich (CSU) am Freitag. Wie Steinbrück mit den geringeren Einnahmen zurechtk me, sei dann aber allein das Problem des Finanzministers. Michael Bauchmüller

Große Autos dürfen nicht zusätzlich belastet werden, fordert die CDU. dpa

KFZ-Steuer in Deutschland Steuer- und Finanzpolitik der SPD Steuer- und Finanzpolitik der CDU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine einfache Lösung

Bürokratieschonend, kostengünstig, umweltfreundlich und gerecht: Die Kraftfahrzeugsteuer sollte sich allein am Treibstoffverbrauch orientieren

Zur geplanten Reform der Kfz-Steuer schreiben Leser:

Jetzt haben unsere Politiker die Lösung: Man bevorzugt bei der Novellierung der Kfz-Steuer die spritfressenden Autos und kompensiert die CO2-Belastung entsprechend dem Vorschlag aus dem Umweltbundesamt durch den Verzicht von etwas Fleischgenuss - beides natürlich subventioniert. Fehlende Visionen kann man keinem vorwerfen, aber dass unsere regierenden Politiker nicht in der Lage sind, real existierende Probleme etwa auf dem Automarkt USA zu erkennen und diese als Vorlage für Lösungsansätze zu begreifen, grenzt an vorsätzlichen Missbrauch unserer Steuergelder. Statt Innovationen und Alternativen zu fördern, werden wohl anschließend weitere Hilfspakete für die notleidende Automobilindustrie geschnürt werden müssen. Denn bei wieder steigenden Benzinpreisen wird die Verwunderung sehr groß sein, dass der Markt entgegen allen Annahmen doch nur nach sparsamen Fahrzeugen verlangt.

Jürgen Mrosko

München

Ein Umweltminister,

der leid tun muss

Es ist einfach unbegreiflich, wie man wider besseren Wissens Politik betreiben kann. Unglaublich, wie selbst gesteckte Ziele einfach so widerrufen werden. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der bisher nicht den Eindruck vermittelte, dass er aus tiefer Überzeugung sein Amt ausführt, ist derzeit das ärmste Schwein in der Regierung. Jetzt tut er mir sogar wirklich leid. In der Konjunkturkrise auch noch über (nachhaltige) Umweltpolitik reden wollen - wo kämen wir den da hin! Und das wird von einer Partei mit angetrieben, die früher zumindest den Anschein erweckte, einigermaßen grüne Umweltpolitik zu unterstützen. Die gesamte Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer umzulegen, ist überhaupt kein Problem. Wie viele Bürger wohnen denn wirklich in sogenannten Randgebieten, die zum Tanktourismus einladen? Und in wie vielen Ländern ist denn das Benzin wirklich billiger, damit sich der Tanktourismus lohnt? Das betrifft nur wenige.

Michael Hauck

Nürnberg

Nützlich

für das Klima

Die ganze Diskussion um die Festsetzung der neuen Kfz-Steuer ließe sich beenden, wenn eine auf dem absoluten Jahreskraftstoffverbrauch  basierende Steuer erhoben wird. Dies ist möglich, durch Umlage der Steuer  auf den Kraftstoffpreis. Verbraucht ein Autofahrer 2000 Liter Kraftstoff im Jahr, ist dies unabhängig davon, ob der Verbrauch durch ein Auto mit wenig CO2- Ausstoß, aber hoher jährlicher Laufleistung oder durch ein Auto mit hohem CO2-Ausstoß, aber niedriger Laufleistung  entsteht. Dies wäre gerecht, da die Steuer nach dem Verursacherprinzip  und dem tatsächlichen Verbrauch erhoben wird. Es würde  der Umwelt und dem Klima nützen, weil jede Fahrt direkt mit einer CO2-Abgabe  belastet würde und es würde zudem Kosten sparen, da die Erhebung der Steuer und die Vereinnahmung  über die entsprechenden Verwaltungseinrichtungen in den Bundesländern ersatzlos entfallen könnte.

Karl Laufer

München

Ein Auto, das nicht fährt,

stößt kein CO2 aus

Das Einzige, was die Umwelt im Zusammenhang mit CO2 belastet, ist der Betrieb eines Fahrzeugs - und nicht seine technischen Kenndaten. Es wird der Eindruck vermittelt, die Anschaffung eines Neufahrzeugs mit moderner Technik vermindere die Belastung des Klimas, während eine alte Kiste die Umwelt belaste. Diese Sichtweise dient nur dem Verkauf von Fahrzeugen und dem Ziel des nie aufhörenden Wachstums, das aber in einer Sackgasse enden muss. Verzicht ist die langfristige Lösung, um der Natur Raubbau zu ersparen. Ein Auto, das nicht fährt, stößt kein CO2 aus. Ein Wagen, der sehr häufig benutzt wird, setzt viel Kohlendioxid frei. Die Lösung liegt darin, die Steuer über den Treibstoff zu erheben. Obwohl diese Art der Steuererhebung kostengünstiger, weil einfacher und absolut gerecht ist, wird sie wohl kaum machbar sein, da es schwierig ist dieses zentral erhobene Geld den Ländern zuzuweisen. Auch spielt wohl der Neidfaktor und ein Desinteresse der Automobilbranche an solch einer Lösung eine Rolle.

Burckhard Schirmer

Petershausen

Entscheidend ist nur

der Verbrauch

Nicht der Ausstoß an CO2 oder der Treibstoffverbrauch pro Kilometer ist entscheidend, sondern allein der effektive Verbrauch. Dazu könnte man noch alle anderen CO22- Erzeuger wie Rasenmäher, Motorsägen und sonstige benzin- und dieselgetriebene Geräte erfassen.

Manfred Tode

Kiel

Die Lobby

hat gut gearbeitet

Ist der Klimawandel vergessen? Anstatt mit Ernst nach Lösungen zu suchen, missbrauchen Politiker ihr Amt in Sachen Kfz-Steuer zum Ausleben ihrer Profilneurose. Der letzte Beweis ist die Überlegung, Fahrzeuge mit großvolumigen Motoren steuerlich zu entlasten. Da hat die Lobby aber saubere Arbeit hingelegt!

Die Steuer an der CO2- Emission aufzuhängen, ist der erste grundlegende Fehler, da die Messunsicherheit und Fehlertoleranz bei diesem Gas, das auch noch aus dem ganzen Abgasgemisch irgendwie separiert werden muss, zu hoch sind. Meine Wasserrechnung wird doch auch nicht an Hand eines Bestandteils meines Abwassers errechnet. Dagegen ist der Volumenstrom einer Flüssigkeit, in diesem Fall der Kraftstoff, sowohl gerätetechnisch als auch verfahrenstechnisch absolut exakt. Und weil der Verbrauch im Motor in einem festen Verhältnis zu CO2-Emission steht, sollte man Fahrzeugen mit Normverbrauch unter drei Litern die Steuer erlassen. Anstatt solche einfache Lösungen zu prüfen, wird eine Automobilindustrie vom Staat unterstützt, die sich noch vor zwei Jahren mit Rekordgewinnen so gebrüstet hat, dass sie die Entwicklung zukunftsfähiger Fahrzeuge schlichtweg vergessen hat. Wo ist denn das viele Geld geblieben?

Und wer hat denn in Berlin diese idiotische Abwrackvergütung aus Steuergeldern zu verantworten, die Arbeitsplätze bei Daihatsu oder Kia sichert? Und warum lassen sich die Politiker die Idee des Elektroautos aufschwatzen, das infolge der mehrfachen Energieumwandlung von Kohle in Strom ökologischer und ökonomischer Blödsinn ist?

Winfried Vogt

Aalen

Schont die Weißwurst!

Eine Weißwurst darf niemals in der Mikrowelle zubereitet werden ( Streiflicht, 20. Januar ). Da platzt sie unweigerlich und versaut nicht nur den Kleinofen, sondern auch noch den Geschmack. Die Weißwurst ist so ziemlich das Sensibelste, was München zu bieten hat. Leider wird jeden Tag tausendfach ihre zarte Seele misshandelt. Zu heiß und zu lange gebadet, hat noch niemandem gut getan. Zu kalt serviert auch nicht.

Dr. Werner Siegert

Stockdorf

Krieg

auf der Skipiste

Es herrscht Krieg auf der Skipiste, da hat Titus Arnu Recht ( "Bissig, präzise, brutal", 20. Januar ). Die Werbung bedient sich wahrlich brutaler Sprache und es muss nicht wundern, wenn sich so manches Möchtegern-Ski-As auf der Piste dann auch so benimmt, nämlich brutal! Allerdings kamen mir ähnliche Gedanken, als ich im Sportteil der SZ das Foto einer Skirennläuferin sah. Kommen da nicht auch brutale und aggressive Assoziationen auf? Da hilft dann technische Aufrüstung mit Sturzhelm, Rückenprotektor, Schienbeinschutz auch nicht mehr - im Gegenteil: Sie fördert vielmehr Leichtsinn und Brutalität bei weniger routinierten Skifahrern auf bevölkerten Pisten. Ist das Sport? Gleiches gilt übrigens auch für andere "sportliche Betätigungen" wie dem Motorradfahren. Müssen denn wirklich "Vorbilder" gezeigt werden, die in fast waagrechter Lage mit den Knien scheinbar über den Asphalt schrammen?

Heidi Zeltner

Steinebach

Raucherschutz

für alle

Das bayerische Rauchverbot war weder streng noch konsequent ( "Neue Rauchzeichen", 20. Januar ). Konsequent wäre einzig und allein eine Richtlinienkompetenzentscheidung durch die Bundeskanzlerin, eine Chefsache Nichtraucherschutz, welche alle Bürger beim Schutz vor Berauchung gleichgestellt hätte. Es gibt keinen unteren Schwellenwert für die Gefährlichkeit von Tabakabgasen, darauf sollte man alle die Bürger hinweisen, welche weiterhin an ihren Arbeitsstätten beraucht werden. Es geht doch gar nicht darum, jemandem das Rauchen zu verbieten, sondern Menschen vor Belästigung, Krankheit und Tod zu bewahren. Es ist ein Trauerspiel, dass die CSU und andere Politiker nicht die Courage haben, eine bundeseinheitliche Lösung, und damit Einheit und Gleichheit beim Arbeitsschutz zu fordern.

Clas Hillebrand

Meerbusch

Qimonda:

fernab vom Wettbewerb

Das Management des Chipherstellers hat Jahre lang konzeptlos viel zu teuer produziert und sich mit den Fördermittel von der Europäischen Gemeinschaft und dem Land Sachsen dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt fern gehalten ( "Qimonda braucht noch mehr Geld", 23. Januar ). Im internationalen Wettbewerb für Chiphersteller sind aber die Preise aufgrund der weltweiten Überproduktion derart unter Druck geraten, dass die Qimonda- Produkte seit Jahren zu teuer waren und es keine Nachfrage mehr nach den Chips aus Sachsen gab. Da helfen in Zukunft auch keine weiteren Steuergelder. Die Dummen dieser Managementfehler sind mal wieder die 4600 Qimonda-Mitarbeiter, die die Fehler der Politik und des Managements ausbaden müssen. Über Auffanggesellschaften und Umschulungsmaßnahmen landen sie in wenigen Monaten in der Arbeitslosigkeit und werden zu Hartz-IV-Empfängern.

Albert Alten

Wernigerode

Zu viel Beifall

für Mariss Jansons?

"Weib, macht mir die Palmen nicht verhasst, worunter ich so gerne wandle." Diese Äußerung des Tempelherrn gegenüber Daja in Lessings "Nathan der Weise" schießt mir häufig durch den Kopf, wenn ich eine Kritik von Rainer Brembeck über ein Konzert von Mariss Jansons lese, zuletzt "Zartheit und Gemetzel" (19. Januar ). Bereits mehrmals vermisste Herr Brembeck bei Jansons eine Metaebene. Wie aber kommt er zu der Annahme, dass Jansons das Frühlingsopfer als das Opfer einer totalitäre Macht interpretiert - etwa aus der Tatsache heraus, dass Jansons in der Sowjetunion aufgewachsen ist? Man hat den Eindruck, dass der frenetische Beifall für Mariss Jansons Herrn Brembeck suspekt ist, und er das Urteil der - in seinen Augen - unwissenden Zuhörer mit seinen musikwissenschaftlichen Kenntnissen auf den richtigen ( seinen) Pfad der Interpretation bringen wolle.

Eleonore Schecker

München

Ob ein Auto viel verbraucht und wenig fährt oder wenig verbraucht und viel fährt, ist für das Klima letztlich egal. Entscheidend ist der gesamte Kohlendioxid-Ausstoß übers Jahr gesehen. Foto: ddp

Das Sensibelste, was München zu bieten hat: Weißwürste. Foto: AP

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So funktioniert die Abwrackprämie

Von Dienstag an können Autokäufer die einmalige Zulage von 2500 Euro beantragen. Die wichtigsten Fragen und Antworten

Von Marco Völklein

München - Die einen sprechen von der "Umweltprämie", die anderen nennen sie die "Abwrackprämie". Wie auch immer: 2500 Euro soll derjenige erhalten, der sein altes Auto verschrotten lässt und sich einen neuen Wagen kauft. Von kommendem Dienstag an können die Anträge dazu beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) gestellt werden. Antworten auf die wichtigsten Fragen, die sich Verbraucher jetzt stellen.

Wer erhält die Prämie?

Die 2500 Euro bekommt, wer seinen mindestens neun Jahre alten Wagen verschrotten lässt und sich als Ersatz dafür einen Neu- oder Jahreswagen kauft. Neu ist, dass die Prämie auch erhalten soll, wer ein Neufahrzeug least. Bedingung ist zudem, dass das Auto in der Zeit vom 14. Januar bis 31. Dezember 2009 gekauft und zugelassen oder geleast wurde.

Welche Bedingungen gelten für das Auto, das verschrottet wird?

Er muss mindestens neun Jahre alt sein, und zwar zum Stichtag 14. Januar 2008. Das war der, Tag nachdem das Bundeskabinett die Abwrackprämie grundsätzlich abgenickt hat. Konkret heißt das, dass "die Erstzulassung vor dem 14. Januar 2000 stattgefunden haben muss", so das Bafa. Außerdem muss das Fahrzeug mindestens ein Jahr lang auf denjenigen zugelassen gewesen sein, auf den das neue Auto zugelassen wird. Sich jetzt schnell eine alte Rostlaube kaufen und sie verschrotten lassen, um die Prämie zu kassieren - das funktioniert nicht.

Gibt es auch Bedingungen, die an das neue Auto gestellt werden?

Der Nachfolge-Wagen muss mindestens die Schadstoffnorm Euro-4 erfüllen. Wer sich für einen Jahreswagen entscheidet, muss außerdem darauf achten, dass dieser "längstens ein Jahr auf einen in Deutschland niedergelassenen Kfz-Händler oder Kfz-Hersteller zugelassen war", erläutert das Bafa. Oft fahren auch Mitarbeiter von Autokonzernen Jahreswagen und verkaufen diese anschließend von privat an privat. Für ein so erworbenes Fahrzeug gibt es die Prämie nicht.

Wie beantragt man die Prämie?

Von Dienstag an will das Bafa auf seiner Internetseite (www.bafa.de) ein Antragsformular bereitstellen. Dem Antrag beizufügen sind ein Nachweis über die Verschrottung und eine Abmeldebestätigung für den Altwagen. Außerdem müssen die Käufer für den Neuwagen die Zulassungsbescheinigung vorlegen sowie eine Kopie der Rechnung beziehungsweise des Leasingvertrags. "Man kann das ganze aber auch direkt vom Händler abwickeln lassen", sagt Sabine Götz vom Automobilclub von Deutschland (AvD). In einem solchen Fall wird es nach AvD-Angaben voraussichtlich so laufen, dass der Händler einfach den Kaufpreis um 2500 Euro verringert und die staatliche Zahlung anschließend selbst einkassiert. Götz: "Aber das sollte man erst ganz am Ende der Verhandlungen klären - wenn der eigentliche Rabatt für das Auto mit dem Händler bereits festgezurrt wurde." Ohnehin rät die Verbraucherzentrale Sachsen, bei den Verhandlungen die Abwrackprämie außen vor zu lassen.

Muss man schnell sein?

Der ADAC warnt bereits: Unter Umständen könnte die Abwrackprämie "zur großen Lotterie werden". Denn laut Kraftfahrtbundesamt sind rund 16 Millionen aller in Deutschland zugelassenen Autos älter als neun Jahre. Insgesamt stehen 1,5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie bereit - rein rechnerisch könnte die Prämie also an 600 000 Autokäufer ausgezahlt werden. Zudem gilt das Prinzip: Wer zuerst beantragt, kriegt zuerst Geld. "Das könnte dazu führen, dass Käufer von Autos mit langen Lieferzeiten, die ihr Fahrzeug zum Beispiel erst im Oktober geliefert bekommen, leer ausgehen", kritisiert Maximilian Maurer vom ADAC. "Nämlich dann, wenn am Tag der Erstzulassung der Prämientopf bereits leer ist."

Lässt sich die Prämie mit anderen

Vergünstigungen kombinieren?

Ja. Das erste Konjunkturpaket der Bundesregierung aus dem Herbst enthält einen Steuerbonus für Neuwagenkäufer: Wer sich bis Ende Juni 2009 einen Neuwagen mit Euro-4-Norm zulegt, muss für 2009 keine Kfz-Steuer bezahlen. Wer sich für einen schadstoffärmeren Wagen mit Euro-5- oder gar Euro-6-Norm entscheidet, muss für die Jahre 2009 und 2010 keine Kfz-Steuer abführen. Der ADAC führt unter www.adac.de/steuer sämtliche Autos auf, die die Euro-5- oder Euro-6-Norm erfüllen und somit von diesem Steuernachlass profitieren. Eine Auswahl aus dieser sehr umfangreichen Liste zeigt die Tabelle unten.

Lohnt sich jetzt Leasing?

Da auch bei Abschluss eines neuen Auto-Leasingvertrags die Abwrackprämie fließt, werden sich viele diese Frage stellen. Als Faustregel gilt: Leasing lohnt sich vor allem für Selbständige, da sie die Leasingraten als Betriebskosten steuerlich geltend machen können; "private Fahrten müssen allerdings rausgerechnet werden", sagt Detlev Lau vom Internet-Ratgeberportal Steuerberaten.de. Angestellte profitieren von diesem Steuervorteil dagegen nicht. Dennoch kann Leasing interessant sein, da die Hersteller derzeit versuchen, mit extrem niedrigen Raten den Absatz anzukurbeln. "Das muss man im Einzelfall konkret durchrechnen", sagt AvD-Expertin Götz.

Was ist noch zu beachten?

Keiner sollte ein Auto verschrotten, das am Markt mehr wert ist als 2500 Euro, warnt der Autoclub Europa (ACE). Ein zehn Jahre alter Golf mit Dieselmotor könne noch rund 9000 Euro wert sein. Orientierung, wieviel ein Auto noch bringt, bietet die DAT-Schwacke-Liste (www.dat.de). Wer kein Internet hat, kann bei seinem Automobilclub nachfragen. ADAC-Mann Maurer rät, das Auto selbst zum Schrottplatz zu bringen. So lasse sich vielleicht aushandeln, dass der Verwerter das Auto zu einem Restwert ankauft. "Dann gibt es zur Umweltprämie noch einen schönen Aufschlag."

Der Kran packt die Autos in die Schrottpresse. Auch die Bürger wollen zugreifen: Das Interesse an der Abwrackprämie ist riesig. Foto: Mauritius

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Autorecycling in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mieses Jahr für geschlossene Fonds

Die Nachfrage in der Beteiligungsbranche bricht seit dem Herbst ein

München - Auch die Anbieter geschlossener Fonds leiden unter der internationale Finanzkrise. Das Fondsvolumen im Jahr 2008 betrug 18,12 Milliarden - das sind 21,6 Prozent weniger als noch 2007. Das platzierte Eigenkapital ging um 19,3 Prozent auf 10,21 Milliarden Euro zurück. Dies ist das Ergebnis einer von Feri Euro-Rating Services herausgegebenen Studie.

Zum Hintergrund: Geschlossene Fonds sind keine Wertpapiere, sondern langfristige Beteiligungen an einer Unternehmung. Dem Anleger gehört ein Stück einer Immobilie, eines Flugzeugs oder einer Solaranlage. Eine solche Beteiligung ist sehr risikoreich, Anleger müssen im schlechtesten Fall sogar mit dem Verlust all ihrer Einlagen rechnen. Da die Wertentwicklung dieser geschlossenen Beteiligungen grundsätzlich unabhängig vom Kapitalmarkt ist, gelten sie gerade in Krisenzeiten eigentlich als sichere Investmentalternative. Nichtsdestotrotz hinterließ die Finanzkrise nun ihre Spuren: Als am 15. September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers in die Pleite schlitterte, brach auch die Nachfrage nach geschlossenen Fonds ein. Besonders die geschlossenen Immobilienfonds litten: Mit etwa 3,47 Milliarden Euro platziertem Eigenkapital erzielten sie ihr schlechtestes Ergebnis seit Beginn der Erhebung im Jahr 1993. hawi

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Ein Geschenk für alle

Die neuen Regelungen bringen der Autoindustrie fast nur Vorteile - und auch die Politik kann sich damit über die Zeit des Wahlkampfes retten

Von Michael Kuntz

Die neue Form von Kurzarbeit besitzt für die Autoindustrie einen Nachteil, aber sonst nur Vorteile. Der Nachteil besteht darin, dass jetzt jeden Tag Schlagzeilen produziert werden, die bei vielen Menschen den Eindruck erwecken, der Untergang von Volkswagen, BMW, Daimler, Audi und Opel sowieso stehe unmittelbar bevor. Das muss aber nicht so sein. Zwar hat die Finanzkrise die Autoindustrie auch hierzulande schwer erwischt, mit zweistelligen Rückgängen bei den Verkäufen im Dezember.

Doch anders als die Wirtschaftsforscher überbieten sich die Manager der Autohersteller nicht in pessimistischen Prognosen. Audi-Chef Rupert Stadler sagt: "Ich werde nicht fürs Jammern bezahlt." Viele neue, attraktive Autos und nicht nur die Abwrackprämie sollen die Menschen wieder in die Schauräume der Händler locken. Spätestens im Herbst soll alles wieder besser werden. Der neue BMW-Personalvorstand Harald Krüger glaubt, im April sei die Kurzarbeit schon wieder vorbei. An ihrem derzeit schlechten Image in der Öffentlichkeit tragen die Konzerne eine Mitschuld. Denn täglich teilen sie scheibchenweise neue Ausfallschichten mit und erzeugen damit selbst den Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit - obwohl hinter den Kulissen eifrig nach Lösungen gesucht wird.

Zum Beispiel bei einem Gespräch der Personalvorstände deutscher Großkonzerne mit Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) in Berlin. Die Herren halten sich zum Inhalt zwar bedeckt, aber nach Informationen der Süddeutschen Zeitung lief die Sache so: Der Minister schwor die Manager aus der Industrie darauf ein, von der jetzt im Rahmen des Konjunkturpaketes geänderten Kurzarbeit nun auch Gebrauch zu machen.

Das tun sie fast alle. Sie tun es bereitwillig, denn es passt gut in ihre Strategie, einerseits keine Autos zu bauen, die derzeit nicht verkauft werden können, andererseits aber auch kein Personal zu entlassen, das nach der Krise wieder gebraucht wird. Denn nach Auskunft von Experten aus der Autoindustrie hat die kontinuierliche Steigerung der Produktivität längst dazu geführt, dass es praktisch keine überflüssigen Leute an den Fließbändern mehr gibt. Die Nachfragespitze der vergangenen Jahre wurde über Leiharbeiter bewältigt. Sie mussten nun gehen, die Stammbelegschaft behält ihre Arbeitsplätze und wird auch bei der Kurzarbeit relativ gut behandelt.

BMW zum Beispiel erhöht das Kurzarbeitergeld der Bundesagentur für Arbeit bei Tarifbeschäfttigten auf 93 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens. Anders als früher gibt es Kurzarbeitergeld aus dem Topf der Solidargemeinschaft aller Beitragszahler nicht mehr erst, wenn die Arbeitszeitkonten leergeräumt sind. Bei einem Spielraum zwischen plus 300 und minus 300 Arbeitsstunden und bisher gerade einmal etwas verlängerten Weihnachtsferien hätte das bei BMW noch eine Weile gedauert.

Die Politiker helfen der Autoindustrie mit der Neuregelung der Kurzarbeit nicht ganz uneigennützig. Das wird an einem, nicht unwesentlichen Detail deutlich: Künftig kann die Kurzarbeit auf 18, ja sogar bis zu 24 Monate ausgedehnt werden. Bisher war sie auf sechs Monate beschränkt - sie wäre also in vielen Fällen kurz vor der Bundestagswahl Ende September ausgelaufen, mitten im Wahlkampf. Dazu kommt es nicht mehr. Kurzarbeit kann es nun bis weit in das nächste Jahr geben. "Das ist klar ein Wahlgeschenk", sagt ein Automanager, der damit nicht zitiert werden will.

Die neue Regelung der Kurzarbeit bringt also Vorteile vielfältiger Art. Doch ein Problem kaschiert sie nur: Niemand kann heute sagen, ob die neuen Automodelle tatsächlich dafür sorgen, dass die Absatzkrise im Herbst vorüber ist.

Komfortable Kurzarbeit - BMW garantiert 93 Prozent vom Lohn. Foto: dpa

Kurzarbeit in Deutschland Folgen der Finanzkrise für die deutsche Autoindustrie Wahljahr 2009 in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zsa Zsa Gabor: Millionen weg

Ihr Mann hat sie überredet, Geld in Madoff-Fonds anzulegen

Von Hannah Wilhelm

München - Schauspieler Kevin Bacon hat es erwischt. Ebenso Hollywoods Star-Regisseur Steven Spielberg. Und nun scheinen auch Schauspielerin Zsa Zsa Gabor und ihr Ehemann Prinz Frederic von Anhalt von dem Milliardenbetrug Bernard Madoffs betroffen zu sein: 4,5 Millionen Dollar sollen die beiden verloren haben. Das berichtet die US-Zeitschrift National Enquirer in ihrer neuesten Ausgabe.

Die 91-Jährige und ihr Gatte, im Übrigen ihr neunter, seien untröstlich. Von Anhalt wird mit den Worten zitiert: "Wir leiden sehr und wir wollen unser Geld zurück." Das Paar müsse eventuell sein Haus in Bel-Air verkaufen, außerdem Autos, Kunstwerke und vielleicht sogar Zsa Zsa Gabors Schmuck - und das alles wegen dieses "kranken Mannes", wie es der 65-Jährige formuliert. Wie das Klatsch-Magazin weiter berichtet, nimmt der Prinz die Schuld auf sich: Er fühle sich schlecht, weil Gabor sich nun Sorgen um ihre Finanzen machen müsse. Er habe sie damals überredet, das Geld in Madoffs Fonds anzulegen. Er werde nun vor Gericht versuchen, etwas von dem Geld zurück zu bekommen. Sonst drohe dem prominenten Paar der finanzielle Ruin.

Milliardenjongleur Madoff war im vergangenen Dezember verhaftet worden. Der Vorwurf: Er soll 50 Milliarden Dollar, die er von Anlegern eingesammelt hat, nicht wie versprochen investiert haben. Stattdessen soll er ein riesiges Schneeballsystem aufgezogen haben und angebliche Gewinne, die er ausschüttete, in Wirklichkeit nur durch die Einlagen neuer Kunden finanziert haben.

Prinz Frederic von Anhalt ist nicht der einzige, der sich wohl von seinen Autos trennen muss. Auch der Fuhrpark von Madoff selbst soll nun aufgelöst werden. Wie die New York Times berichtet, versucht der Treuhänder, der mit der Abwicklung des Investmentunternehmens beauftragt ist, gerade die Leasing-Verträge für sechs Luxuswagen zu kündigen. Der Treuhänder will nicht weiter die Raten für einen Range Rover, einen Cadillac DTS, zwei S-Klasse-Mercedes, einen Mercedes Geländewagen und einen Lexus zahlen. Er möchte die Wagen an die Autohäuser zurückgeben. Madoff wird der Verlust der Autos wohl weniger schmerzlich treffen als Zsa Zsa Gabor und ihren Mann: Er steht unter Hausarrest und wartet in seinem Luxus-Apartment auf die Gerichtsverhandlung.

Bangen um Geld, Schmuck, Autos: Zsa Zsa Gabor, 91, und ihr Ehemann Prinz Frederic von Anhalt, 65. Foto: dpa

Gabor, Zsa Zsa: Vermögensverhältnisse Betrugsfall Madoff SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kurzarbeit statt Entlassungen

Die Wirtschaftskrise verschont so gut wie keine Branche. Immer mehr Unternehmen greifen deshalb zu einem von der Politik deutlich verbesserten Mittel: Kurzarbeit. Damit können die Lohnkosten gesenkt werden, ohne dass Mitarbeiter gehen müssen, die man nach der Krise wieder braucht. Das Kurzarbeitergeld der Bundesagentur für Arbeit deckt bis zu 67 Prozent des entgangenen Lohnes ab.

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China demonstriert Stärke

München - China hat von der neuen US-Regierung einen umsichtigen Umgang mit sensiblen Themen gefordert. Die Beziehung beider Länder sei eine der wichtigsten bilateralen Beziehungen der Welt, sagte Chinas Außenminister Yang Jiechi in einem Telefonat mit seiner US-Kollegin Hillary Clinton, wie das chinesische Außenministerium am Samstag mitteilte. Jede Seite müsse die Kerninteressen der anderen respektieren und beachten. Differenzen und sensible Themen müssten in angemessener Weise gehandhabt werden. Beinahe gleichzeitig entzündete sich jedoch ein erster Streit über Chinas Währungspolitik. Der designierte US-Finanzminister Timothy Geithner hatte China am Donnerstag vorgeworfen, seine Währung zu manipulieren, um sich auf ungerechte Weise Handelsvorteile zu verschaffen. In einer ersten offiziellen Reaktion aus China wies die Zentralbank die Vorwürfe zurück.

China hatte in dieser Woche schon einmal Selbstbewusstsein gezeigt. Just am Tag des Amtsantritts von Barack Obama veröffentlichte das Verteidigungsministerium ein sogenanntes Weißbuch der Landesverteidigung. In dem 105-seitigen Dossier listet China seine militärischen Bestände auf und entwirft die Grundlinien seiner Verteidigungsstrategie. Weißbücher der chinesischen Regierung suggerieren Offenheit, der Inhalt muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden.

In dem aktuellen Weißbuch präsentiert sich China als rein defensive Macht im internationalen Kontext. Der Schritt an die Öffentlichkeit lässt jedoch vermuten, dass größere Reformen anstehen und das Militär deutlicher Präsenz zeigen soll. Dazu passt, dass China in dieser Woche die erste Militärparade seit 1999 angekündigt hat. Sie soll im Oktober, am 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, die Stärke von Partei und Volksbefreiungsarmee demonstrieren.

Für die neue US-Regierung enthält die Schrift eine klare Ansage: Dass die USA "weiterhin Waffen an Taiwan liefern und damit die Prinzipien der drei gemeinsamen chinesisch-amerikanischen Verlautbarungen verletzen", wird als "ernsthafte Bedrohung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen und als Bedrohung der Stabilität jenseits der Taiwanischen Meerenge" gesehen. Der Militäretat Chinas soll 13-mal kleiner sein als der der USA. Das Pentagon äußerte deutliche Zweifel an den Angaben Chinas und geht von einer mindestens dreimal so hohen Summe aus.

So sehr China sich als defensiv präsentiert und Einsätze im Namen der UN, jüngst im Kampf gegen die Piraten, herausstellt - so hart zeigt Peking sich in der Abwehr "destabilisierender Faktoren". Als solchen sieht China an erster Stelle Taiwan, das es als abtrünnige Provinz betrachtet. Zu den Gegnern im Innern zählt China alle, die Unabhängigkeit fordern: Tibeter wie Uiguren, die im ölreichen Ostturkistan in der Provinz Xinjiang leben. Mit ihnen wie mit einer angeblich wachsenden äußeren Bedrohung begründet China eine anstehende Modernisierung der Armee. Katja Riedel

Beziehungen der USA zu China SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Weniger arbeiten, um den Job zu behalten

Die Hoffnung, Entlassungen zu vermeiden: Warum die Bundesregierung Kurzarbeit attraktiver gemacht hat

Von Sibylle Haas

Die Liste der Unternehmen, die Kurzarbeit planen, wird täglich länger. Allein am vergangenen Freitag gab es Meldungen von den Chemieunternehmen BASF und Bayer, dem Stahlkonzern Thyssen-Krupp Steel, den Autofirmen Audi, Ford und Daimler, der Deutschen Bahn und der Klebstoffsparte Tesa von Beiersdorf - die Firmen-Manager prüfen, ob sie die Arbeitszeit verkürzen oder haben dies bereits beschlossen.

Die Wirtschaftskrise hat inzwischen sämtliche Branchen erfasst. Den Unternehmen brechen die Aufträge weg und kaum ein Konjunkturforscher kann derzeit sicher sagen, wie sich die Lage entwickeln wird. Festzustehen scheint bisher nur: Die deutsche Wirtschaft steuert auf den schärfsten Abschwung der Nachkriegsgeschichte zu. Die Bundesregierung erwartet in diesem Jahr einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 2,25 Prozent. Die Gefahr eines massiven Stellenabbaus ist daher groß. Deshalb hat der Koalitionsausschuss am 12. Januar in einem zweiten Konjunkturpaket zahlreiche Beschlüsse gefasst, um die Firmen in der Wirtschaftskrise zu entlasten. Dazu gehört, dass Kurzarbeit für Unternehmen attraktiver wird. Das Ziel ist, über Kurzarbeit Entlassungen zu vermeiden.

Was ändert sich?

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) wird während der Kurzarbeit die Hälfte der Beiträge zur Sozialversicherung übernehmen. Bisher mussten Arbeitgeber die Sozialbeiträge für Arbeitsstunden, die wegen Kurzarbeit entfallen, übernehmen, also auch den Arbeitnehmeranteil.Werden Beschäftigte in der Kurzarbeit weiterqualifiziert, dann übernimmt die BA die Versicherungsbeiträge komplett. Vereinfacht wird das Antragsverfahren beim Kurzarbeitergeld. Künftig reicht der Nachweis, dass die Arbeitszeitverkürzung zu einem monatlichen Lohnausfall von zehn Prozent führt. Es muss also nicht mehr wie bisher nachgewiesen werden, dass mindestens ein Drittel der Beschäftigten von dieser Lohnkürzung betroffen ist. Die Änderungen müssen noch endgültig beschlossen werden. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren soll aber bis Mitte Februar beendet sein.

Was ist Kurzarbeit?

Bei der Kurzarbeit handelt es sich um eine Arbeitszeitverkürzung. Sie kann so weit gehen, dass gar nichts mehr produziert wird, weil die Aufträge komplett weggebrochen sind. Kurzarbeit bedeutet aber nicht, dass Unternehmen "einfach so" ihren Mitarbeitern die Arbeitsstunden streichen können. Vielmehr muss Kurzarbeit bei der BA angemeldet werden. Dabei müssen die Firmen nachweisen, dass der Arbeitsausfall vorübergehend und unvermeidbar ist. Im Dezember 2008 waren nach Angaben der BA etwa 295 000 Beschäftigte als sogenannte konjunkturelle Kurzarbeiter gemeldet. Das ist die Kurzarbeit in wirtschaftlichen Notzeiten. Zum Vergleich: Im Dezember 2007 lag die Zahl der konjunkturellen Kurzarbeiter gerade mal bei etwas mehr als 9100. Neben der konjunkturellen gibt es auch die Saison-Kurzarbeit. Sie soll während der kalten Jahreszeit, wenn etwa in der Bauwirtschaft wegen Schnee und Eis die Außenarbeiten ruhen - die Winterarbeitslosigkeit vermeiden. Im Dezember vorigen Jahres gab es laut BA knapp 104 000 Saison-Kurzarbeiter, im Jahr davor waren es fast 88 000.

Verdient man weniger?

Ja. Der Arbeitgeber bezahlt nur für die tatsächlich geleistete Arbeit. Wenn also die Arbeitszeit um die Hälfte verringert wird, dann bekommen die Beschäftigten auch nur die Hälfte des Lohns von ihrem Arbeitgeber. Für die andere Hälfte ist die Bundesagentur für Arbeit "zuständig". Allerdings gleicht sie diesen Verdienstausfall nur teilweise aus: durch das Kurzarbeitergeld. Die Höhe entspricht dem Arbeitslosengeld. Damit erhalten Arbeitnehmer 60 Prozent des ausgefallenen Nettolohns als Kurzarbeitergeld oder 67 Prozent, wenn ein Kind in ihrem Haushalt lebt.

Gibt es eine Höchstdauer?

Kurzarbeitergeld wird nach dem Sozialgesetzbuch für sechs Monate gezahlt. Durch Rechtsverordnung kann der Bundesarbeitsminister die Dauer der Kurzarbeit bis zu 24 Monate verlängern, beispielsweise um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Im Oktober 2008 wurde die Bezugsdauer auf zwölf Monate erhöht. Im ersten Konjunkturpaket hatte die Bundesregierung eine weitere Verlängerung des Kurzarbeitergeldes auf 18 Monate beschlossen.

Was ist steuerlich zu beachten?

Das Kurzarbeitergeld ist steuerfrei. Die Arbeitnehmer bleiben außerdem in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Die Deutsche Rentenversicherung weist aber darauf hin, dass die Beiträge zur Rentenversicherung sich am verringerten Verdienst des Beschäftigten orientieren. Damit sinken also nicht nur Versicherungsbeiträge, sondern auch die spätere Rentenhöhe.

Leere Montagehallen - hier bei Opel in Eisenach - werden bald häufiger zu sehen sein. Immer mehr Unternehmen beantragen Kurzarbeit. Foto: ddp

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Die WoPo-Woche

Bewährungsprobe für den Porsche Aufsichtsratschef Wolfgang Porsche - die Hauptversammlung des Konzerns am kommenden Freitag ist erst der Anfang

Von Michael Kuntz

München - Alle waren sie da in der Allerheiligenhofkirche, dem säkularisierten Festsaal in der Münchner Residenz. Hier lädt immer Mitte Januar der ADAC zur Verleihung von fünf Gelben Engeln. In der ersten Reihe nimmt Platz, wer im Autoland Deutschland Rang und Namen besitzt. Links vom bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer saß diesmal aufgereiht die Führungstruppe des größten Autokonzerns in Europa: Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, Volkswagen-Aufseher Ferdinand Piëch, VW-Konzernlenker Martin Winterkorn, flankiert vom jungen Audi-Boss Rupert Stadler, 45.

Deutlich abseits, am rechten Flügel, war Wolfgang Porsche zu sehen, so als habe er mit den anderen wenig zu tun. Der Eindruck trügt. Denn "WoPo", wie seine Familie und Freunde den 65-jährigen Diplom-Kaufmann aus München nennen, zieht im Zentrum des drittgrößten Autokonzerns der Welt die Fäden.

Das wird in der bevorstehenden Woche so deutlich wie nie. Es wird eine Art Festwoche für Porsche - die Firma und den Mann. Erst weiht er am Mittwoch das neue Museum neben der Hauptverwaltung in Zuffenhausen ein. Es kostet nun zwar hundert Millionen Euro statt der ursprünglich veranschlagten fünfzig Millionen, doch der Polyeder für 82 Autos ist dafür besonders schön geraten. Am Freitag folgt dann in der Porsche-Arena an der Mercedesstraße in Stuttgart die Hauptversammlung der Porsche SE, der Holding nach europäischem Recht. Es wird ein spannendes Treffen und Wolfgang Porsche führt dabei als Aufsichtsratsvorsitzender Regie.

Denn mit dem Aktionärstreffen in Schwaben wird ein neues Kapitel deutscher Industriegeschichte aufgeschlagen. Es ist die Geburtsstunde eines neuen Mega-Konzerns: Die Marken VW, Audi, Skoda, Seat, Bentley, Bugatti, Lamborghini, VW Nutzfahrzeuge, Scania und Porsche - alles wird eins. Jede Marke bleibt einzeln, doch vieles geht zusammen besser. Auch der MAN-Konzern gehört schon fast zur Familie, ist VW hier doch mit knapp einem Drittel der Anteile größter Aktionär.

Erstmals könnte es nun aber auch eine Menge kritischer Fragen geben - ein Novum fast für Porsche-Hauptversammlungen. Zwar könnten die Aktionäre zufrieden sein angesichts einer guten Dividende und eines Gewinns, der dank der VW-Optionsgeschäfte von Porsche-Finanzvorstand Holger Härter höher war als der Umsatz. Doch die Optionsgeschäfte, mit denen die Mehrheit bei VW gesichert wurde, werfen noch Fragen auf.

Mehr als drei Jahre bereits halten Wiedeking und Härter die Börsianer mit netten Geschichten aus Zuffenhausen in Spannung - und erwarben derweil 52 Prozent am VW-Konzern. David übernimmt Goliath, nennt Wiedeking das Spiel, bei dem wie beim Schach nie verraten wird, wie es weitergeht. Genügt Porsche die Mehrheit an VW? Geht er auf 75 Prozent, auf 98 oder 100? Es muss wirtschaftlich sinnvoll sein, das ist alles, was Wiedeking sich dazu entlocken lässt.

Verprellt hat der Porsche-Chef aber auch so ziemlich alle in Wolfsburg. Vor allem der VW-Betriebsrat weigerte sich, eine Geheimvereinbarung zu akzeptieren, die ihm als Vertreter von 320 000 Mitarbeitern nur so viel Einfluss gegeben hätte wie den Vertretern der 11 000 Porsche-Arbeitnehmer. Der Streit scheint mit der Nominierung für den Aufsichtsrat am Freitag fast beigelegt, es steht allerdings immer noch ein Gerichtstermin Ende März im Kalender. Den müsste der VW-Betriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh noch absagen.

Auch führenden Manager in Wolfsburg fiel es schwer, sich an die insistierenden Fragen der Aufsichtsräte Wiedeking und Härter zu gewöhnen. Beide sind im Vorstand der Holding - noch allein. Doch Wolfgang Porsche wird ein neues Führungsmodell präsentieren und dann könnte es gut sein, dass Wiedeking und Härter sich mit VW-Chef Winterkorn und vielleicht auch seinem Finanzvorstand Pötsch arrangieren müssen. Denn die beiden rücken wahrscheinlich in den Vorstand der Porsche SE auf, dessen Sprecher wohl Wiedeking bleibt.

Bislang kann sich der Porsche-Chef der Unterstützung der Großaktionäre sicher sein. Das Doppel Wiedeking und Härter machten den aus 60 Mitgliedern bestehenden Clan der Familien Porsche und Piëch von Millionären zu Milliardären. Doch in der Familie haben sich die Gewichte verschoben. Noch gilt das VW-Urgestein Ferdinand Piëch, im Februar wird er 72 Jahre, als der starke Mann. Doch Piëch ist als Aufsichtsratsvorsitzender von VW nur noch Chefaufseher einer faktischen Tochtergesellschaft.

Gern auf der Jagd

Im Machtzentrum des Aufsichtsrates der Porsche Holding SE agiert der Vorsitzende Wolfgang Porsche. Das ist eine beachtliche Karriere im späteren Leben eines Mannes, der jahrelang als Ehemann einer Filmregisseurin durch die Gazetten geisterte, der abwechselnd in München, Stuttgart und Zell am See lebt, gern zur Jagd geht und auch ein Schlosshotel in Österreich besitzt. Er besuchte Lehrlings-Treffen und Fanclub-Rallyes, doch seine Tätigkeit im Aufsichtsrat von Porsche fiel lange nicht weiter auf. Zweieinhalb Jahrzehnte immerhin gehörte er dem Gremium bereits an, als er im Januar 2007 dessen Vorsitz übernahm.

"WoPo" gilt als selbstbewusster Träger eines starken Namens, aber auch als ein umgänglicher Mensch. Und so richten viele Mitarbeiter in seinem Riesenreich voll widerstrebender Interessen ihre Hoffnungen auf ihn als einen Mann des Ausgleichs.

Wolfgang Porsche saß bei der ADAC-Vormittagsparty in der Allerheiligenhofkirche zwischen BMW-Entwickler Klaus Dräger und Franz Fehrenbach, dem Boss von Bosch, dem größten Zulieferer der Autoindustrie weltweit. Der ADAC verleiht auch immer einen Gelben Engel an eine bedeutende Persönlichkeit der Industrie, sozusagen den Mann des Jahres. Wenn Wolfgang Porsche die Integration der Sportwagenfirma mit dem dreißigfach größeren VW-Konzern erfolgreich moderiert, keiner von den 400 000 Mitarbeitern mehr intrigiert oder gar prozessiert, dann könnte es sein, dass er den Gelben Engel bekommt. Die Lobesrede müsste dann Franz Fehrenbach halten, der diesjährige Preisträger, ein guter Freund von "WoPo".

VW im Huckepack - doch harmonisch ist das neue Dreamteam noch keineswegs. Moderation ist nötig. Fotos: AP, oh; Collage: SZ

Porsche, Wolfgang Porsche Automobil Holding SE SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Klammheimliche Verführer

Viele Showgrößen und Politiker machen Werbung für umstrittene Firmen und deren Produkte. Verbraucherschützer beobachten diesen Trend mit Sorge

Von Reinhold Rühl

München - Essen ist Enricos größte Leidenschaft. Vor allem Buffets ziehen ihn magisch an, weil er dort "zum Festpreis" soviel vertilgen kann wie er mag. Es müssen gewaltige Portionen sein, denn der 30-jährige Groß- und Einzelhandelskaufmann bringt mit seiner Körpergröße von 1,83 Meter exakt 191,6 Kilo auf die Waage. Enrico ist das absolute Schwergewicht in der Pro-Sieben-Doku-Show "The Biggest Loser", die der Sender derzeit donnerstagabends ausstrahlt. 14 dicke Kandidaten treten hier auf einer "Hacienda" nahe Budapest gegeneinander an. Das Prinzip ähnelt "Big Brother" oder der RTL-Dschungelshow: Die Mannschaft, die insgesamt weniger Gewicht verloren hat, muss pro Woche einen aus ihren Reihen nach Hause schicken. Wer zum Schluss übrig bleibt und prozentual am meisten abspeckt, ist "der größte Verlierer" und darf die Siegprämie in Höhe von 100 000 Euro einstreichen.

Die Moderatorin der Sendung ist optisch gesehen das krasse Gegenstück der Protagonisten: Ex-Eiskunstläuferin Katarina Witt, die sich angeblich nie auf eine Waage stellt, begleitet die Schwergewichte auf dem "Weg in ein neues Leben", jubelt Pro Sieben. Denn Menschen, die "jahrelang Raubbau an ihrem Körper betrieben haben, lernen bei ,The Biggest Loser', was es heißt, gesund zu leben." Zwei Fitnesstrainer, ein Arzt und ein Ernährungscoach stehen den Kandidaten in den insgesamt sechs Folgen zur Seite.

Katarina Witt gewann als Eiskunstläuferin zwei Mal olympisches Gold. Die 43-Jährige ist vierfache Weltmeisterin, sechsfache Europameisterin und achtfache DDR-Meisterin. "Mit Fitness und ausgewogener Ernährung kennt sich der Eiskunstlauf-Star aus", behauptet der Sender. Zumindest das letztere scheint fraglich. Denn Katarina Witt hat neben ihrer TV-Rolle einen Nebenjob: Sie ist "Partner" der Firma Herbalife, die mit umstrittenen Produkten zur Nahrungsergänzung und ebensolchen Werbemethoden Geschäfte macht. Herbalife sponserte auch die Abschiedstournee von Katarina Witt, bestätigt eine Herbalife-Sprecherin: "Frau Witt kennt die Produkte von Herbalife schon länger und ist von den Herbalife-Produkten begeistert." Auf der Homepage der Firma wird die erfolgreiche Eiskunstläuferin sogar zitiert: "Die Formula.Shakes von Herbalife mische ich mir als Pulver in einen Joghurt. Ich habe alle Geschmacksrichtungen in der Küche stehen und wähle ganz spontan meinen Lieblingsgeschmack aus."

Solche Ernährungsgewohnheiten hält Jola Jaromin für "völligen Quatsch". Die diplomierte Ernährungsberaterin aus Köln ist Coach der Kandidaten in "The Biggest Loser." Mit derartigen Formula-Diäten, so der Fachbegriff für viele der von Herbalife vertriebenen Produkte, nehme man zwar schnell ab, aber ebenso schnell wieder zu. Der von Abnehmwilligen gefürchtete "Jo-Jo-Effekt" sei die Folge. Deshalb seien bei der "The Biggest Loser"-Show Formula-Produkte absolut verpönt, sagt Jaromin. "Zwischen den Werbeaktivitäten von Katarina Witt und ,The Biggest Loser' gibt es keinerlei Überschneidungen", beteuert Sandra Scholz von Pro Sieben.

Dass Prominente für Gummibärchen, die Telekom oder Flugtickets werben, daran haben sich die Zuschauer notgedrungen gewöhnt. Doch zunehmend treten Sportler, Showgrößen, selbst Politiker für Firmen auf, die von Verbraucherschützern kritisch beobachtet werden. Firmen wie Herbalife. Edda Castello, Rechtsexpertin der Verbraucherzentrale Hamburg, hat zahlreiche Beschwerden über diese Firma gesammelt. Umstritten ist vor allem auch die Vertriebsweise. Die Produkte werden nämlich ausschließlich im so genannten "Network-Marketing" verkauft. Dabei können die Käufer zugleich Verkäufer sein, indem sie in ihrem Bekanntenkreis oder über Anzeigen nach Abnehmern suchen. So werden "persönliche Beziehungen für geschäftliche Zwecke ausgenutzt", kritisiert die Verbraucherschützerin.

"Blödsinn", sagt Elisabeth Gottmann von der Agentur Arts und Promotion zu den Vorwürfen der Verbraucherschützer. Sie ist Managerin der Eis-Prinzessin und hat den Deal mit Herbalife eingefädelt. Katarina Witt werde lediglich mit Produkten der Firma ausgestattet und werbe darüber hinaus nicht für das Vertriebssystem. 950 Herbalife-Vertriebspartner haben im November letzten Jahres in Salzburg etwas anderes erlebt. "Ich sehe Eure Begeisterung. Ich sehe, Euer Herz ist in Eurem Job und in den Produkten und Ihr seid motiviert", rief da Katarina Witt von der Bühne.

Der auf Video dokumentierte Auftritt ist nicht die erste Pirouette von Witt im Auftrag fragwürdiger Firmen. Vor drei Jahren drehte die Sportlerin auf einer Eisbahn am New Yorker Time Square ein paar Runden für Tahitian Noni International. Die Firma vertreibt ein umstrittenes Wellnessgetränk via Network-Marketing. Wieviel Geld die Eisprinzessin für den Fototermin kassiert hat, mag Witts Managerin nicht verraten. Insider schätzen jedoch, dass selbst Promis aus der zweiten Liga unter 5000 Euro für solche Auftritte nicht zu haben sind.

Nicht immer profitieren sie davon. Wirtschaftsdetektiv Medard Fuchsgruber, der sich auf die Geldanlagebranche spezialisiert hat, weiß, dass Prominente auch ihr gutes Image durch Werbung verlieren können. Zum Beispiel Manfred Krug. "Wenn die Telekom jetzt an die Börse geht, geh' ich mit", warb der Schauspieler einst für die T-Aktie. Fuchsgruber: "Mit dem Kursverfall der Telekom ist anscheinend auch Krug verschwunden."

Die Spots der Telekom hat Fuchsgruber ebenso gesammelt wie die Werbevideos von großen Vertriebsgesellschaften, die mit manchmal harten Methoden Lebensversicherungen, oder Geldanlagen unters Volk bringen. Diese im Fachjargon Strukturvertriebe genannten Firmen halten ihre Verkäufer gerne mit aufwendigen Jubelfeiern, Galas und Motivationsseminaren bei der Stange. Dabei treten auch Gäste von Rang und Namen auf. Zum Beispiel Günther Jauch. Bereits 1991 moderierte der schlaksige TV-Star eine Gala des Allgemeinen Wirtschaftsdienstes (AWD), nicht ohne sich vorher bei seinem Kumpel Thomas Gottschalk nach der Seriosität der Firma zu erkundigen. "Kannst Du hingehen", habe ihm dieser gesagt. "Hab' ich auch schon gemacht. Die Leute sind prima und der Chef ist auch in Ordnung". Mit ein wenig Recherche hätten die ausgebildeten Journalisten freilich auch ein anderes Bild von Carsten Maschmeyer erhalten können. Manch kritischer Kollege aus der Medienbranche sah Maschmeyer zu jener Zeit eher als Chef einer "Drückertruppe".

Günther Jauch fand anscheinend Gefallen an solchen Auftritten. Kurze Zeit später schwä;rmte er in einem 20-minütigen Werbefilm von den segensreichen Produkten von Amway. Die amerikanische Firma vertreibt Kochtöpfe, Reinigungsmittel und Kosmetikartikel nach dem umstrittenen Network-Marketing. Als zwei Jahre später Jauchs Auftritt bei Amway ruchbar wurde, sagte der Stern-TV-Chef der Süddeutschen Zeitung, er habe damals recherchiert, dass die Firma Amway noch niemanden "richtig reingelegt, also betrogen" hätte.

Die wenigsten Prominenten machen sich die Mühe und stellen Fragen - sofern das Honorar stimmt. Besonders gut zahlten von jeher Anbieter von unseriösen Finanzprodukten für prominenten Beistand, weiß Volker Pietsch, Chef des Deutschen Instituts für Anlegerschutz (DIAS) in Berlin. Denn mit einem bekannten Konterfei lasse sich "so mancher Anleger eine gewisse Zeit über die Seriosität einer Firma täuschen." Manchmal beissen dann auch Politiker an, etwa beim European Kings Club (EKC). Rund 80 000 Menschen verloren insgesamt eine Milliarde Mark bei diesem betrügerischen Pyramidensystem, das 1994 mit viel Getöse zusammenbrach. Geprellte Anleger erinnern sich noch gut an den Auftritt von Michail Gorbatschow bei einer EKC-Gala in Köln. 200 000 Mark soll die kriminelle Organisation für Gorbatschows Auftritt an seine gemeinnützige Stiftung gezahlt haben, der später sagte, er habe damals von den umstrittenen Aktivitäten nichts gewusst.

Auch Carsten Maschmeyers AWD hat als "unabhängiger Finanzoptimierer" einen in Anlegerschutzkreisen nicht unumstrittenen Namen. Der Gründer zählt mit einem geschätzten Privatvermögen von 550 Millionen Euro zu den reichsten Deutschen. Nicht zuletzt deshalb ist "Maschi", wie ihn seine Fans nennen, in der Promi-Welt wohl gelitten. Als er im Sommer letzten Jahres zum 20. Geburtstag des AWD in die TUI-Arena nach Hannover einlud, wurden Weltstars wie Seal, Pink, Nelly Furtado und Mel C eingeflogen. Gemessen an diesem Aufgebot zählten selbst Thomas Gottschalk, Veronica Ferres, Heiner Lauterbach und die Scorpions zur zweiten Garnitur. Als Gastgeschenk gab es für ausgesuchte Promis eine Flasche 82er Chateaux Petrus, "Preis 4000 Euro", notierte die Bunte.

Diese fürs Geschäft offenbar wichtigeren Menschen wurden vorher in Maschmeyers Walmdachvilla mit bretonischem Hummer und Taubenbrust bewirtet: Neben Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Gattin Doris zählten der frühere Uno-Generalsekretar Kofi Anann und Klaus-Peter Müller, der Präsident des Bankenverbandes, zur exklusiven Runde. Neu im erlauchten Kreis war Bert Rürup. Der Wirtschaftsweise wird künftig sogar auf der Gehaltsliste des AWD stehen - als frisch ernannter "Chefökonom" des AWD. Der Erfinder und Namensgeber der Rürup-Rente verhelfe dem AWD zu "praktisch unbezahlbarem Renommee", empört sich Anlegerschützer Volker Pietsch. Man dürfe gespannt sein, wer als nächster Politiker die Seiten wechselt.

Wenn er bloß nicht Walter Riester heißt, der ebenfalls auf der AWD-Party gesichtet wurde. Der Ex-Arbeitsminister und Namensgeber der Riester-Rente zählt aber offenbar nicht zum engen Kreis der Maschmeyer-Bekannten. Vorerst jedenfalls nicht.

"Frau Witt kennt die Produkte

von Herbalife schon länger

und ist davon begeistert"

Claudia Harteneck-Kohl, Herbalife

"Mancher Anleger lässt sich

so über die Seriosität

einer Firma täuschen"

Volker Pietsch, Anlegerschützer

Eislaufstar Katarina Witt wirbt für Diät-Drinks der Firma Herbalife. Ernährungsberater halten die Produkte für "völligen Quatsch". Foto: Herbalife

Günter Jauch moderierte eine Gala des umstrittenen Finanzdienstleisters AWD. Foto: ddp

Sachverständiger Bert Rürup wechselt die Fronten: Er wird Berater des AWD. Foto: dpa

Warb für den betrügerischen Anlegerklub EKC: Michail Gorbatschow. Foto: AP

Verbraucherschutz in Deutschland Prominente in der Werbung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kandidatin wider Willen

Rachida Dati muss Ministerposten in Paris aufgeben

Von Gerd Kröncke

Paris - Sie war eine der Vorzeige-Frauen in der französischen Regierung, fast eine persönliche Favoritin des Staatschefs. Rachida Dati, 43 Jahre alt, gelernte Richterin, hatte sich dem Kandidaten Nicolas Sarkozy als Wahlkampfhelferin empfohlen, hatte mit Charme und Sachverstand so nachhaltig überzeugt, dass sie der Präsident im Mai 2007 als Justizministerin ins Kabinett berief. Nun, keine zwei Jahre später, ist sie in Ungnade gefallen. Vorige Woche musste Rachida Dati, gedrängt von Sarkozy, ihre Kandidatur für die Europawahl im kommenden Juni bekannt geben - obwohl sie noch wenige Tage zuvor gegenüber dem Figaro entsprechende Meldungen heftig dementiert hatte: Davon könne absolut nicht die Rede sein, erst kürzlich habe der Präsident bekräftigt, dass sie ihre Arbeit wenigstens bis 2009 fortsetzen werde.

Inzwischen musste sie klein beigeben. Am Wochenende versuchte sie mit Mühe, Contenance zu bewahren und wollte ihren Abgang als Loyalität gegenüber Sarkozy verklären. Ihr sei nur wichtig, "dem Präsidenten und dem französischen Volk zu dienen", sagte sie.

Dabei war Rachida Dati ein Beispiel dafür, wie weit es eine Frau aus kleinsten Verhältnissen in Sarkozys Republik bringen kann, selbst wenn sie zu den, wie es in Frankreich heißt, "sichtbaren Minderheiten" gehört. Ihre Berufung, so hatte Sarkozy betont, sollte auch als Symbol gelten. Als Tochter eines marokkanischen Arbeiters und einer algerischen Mutter war sie in einer Sozialsiedlung in Chalon-sur-Saône aufgewachsen. Ihr Ehrgeiz und ihre Durchsetzungsfähigkeit hatten den Präsidenten beeindruckt. Zudem wurde er von seiner damaligen Frau Cecilia bestärkt, die für Rachida Dati geradezu schwesterliche Gefühle offenbarte. Doch in der nüchternen Welt der Justiz stieß die junge Frau auf Widerstand. Selbst dem Präsidenten, der keinen Konflikt scheut, wurden die ständigen Proteste des Justizapparats gegen die Ministerin auf Dauer lästig.

Gelegentlich wurde sie sogar öffentlich bloßgestellt. Als sie zum Beispiel die Idee ventilierte, die Strafmündigkeit für Delinquenten auf zwölf Jahre zu senken, wurde sie von Premierminister François Fillon zurück gepfiffen. Vor Rachida Dati hatte Sarkozy bereits die junge schwarze Staatssekretärin Rama Yade zur Kandidatur bei den Europawahlen drängen wollen. Doch hatte diese sich mit dem Hinweis entzogen, ihr Interesse gelte eher der nationalen als der europäischen Politik.

Rachida Dati wurde eine solche Ausflucht nicht gestattet. Im Gegenteil, durch ihr Zögern ging ihr sogar ein Spitzenplatz verloren. Statt ihrer wird der jetzige Landwirtschaftsminister Michel Barnier die Liste für die Île de France anführen. Für Barnier bedeutet der Weg nach Brüssel und Straßburg freilich keine Abschiebung, sondern eine Rückkehr. Der frühere Außenminister hat einen Faible für die europäische Politik. Bis 2004 war er EU-Kommissar für Regionalpolitik.

Dati, Rachida: Karriere Regierung Fillon 2007- SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wer ein Überflieger wird - und wer nicht

Wesentlich für das Selbstverständnis der US-Amerikaner ist die Definition ihres Landes als eines der unbegrenzten Möglichkeiten: "Wer begabt und fleißig genug ist, seine Chancen zu nutzen, kann es auch heute noch vom Tellerwäscher zum Millionär bringen." Diese Vorstellung attackiert das neue Buch des Bestsellerautors Malcolm Gladwell Überflieger. Warum manche Menschen erfolgreich sind - und andere nicht. Die Geschichte von Selfmade-Männern ist nur ein Märchen, meint Gladwell. Er knöpft sich Unternehmer, Topanwälte, Musikstars und Software-Entwickler vor und analysiert, warum der so beliebte Mythos vom selbstbestimmten Aufstieg oberflächlich und falsch ist: "Erfolg lässt sich nicht als Ergebnis persönlicher Anstrengungen erklären. Niemand kommt aus dem Nichts."

Schon gar nicht Profisportler. Im Eishockey etwa ist der Stichtag zur Zulassung für eine Altersgruppe der 1. Januar. Ein Junge, der im Januar zehn Jahre alt wird, spielt also in einer Mannschaft mit Jungen, von denen viele dieses Alter erst Monate später erreichen. Das Januarkind ist also einfach größer und stärker als die jüngeren Kinder, wirkt daher begabter, wird öfter aufgestellt und landet in der Fördergruppe. Die Statistik gibt Gladwell Recht: In ganz Nordamerika ist kaum ein Profi-Eishockeyspieler später als im März geboren. Ähnliche Verzerrungen herrschen in der Schule. Statistische Untersuchungen zeigen: Von zwei gleich intelligenten Kindern, von denen eines zu Beginn und das andere zum Ende seines Jahrgangs geboren wurde, erreicht das ältere zwischen 80 und 100 Prozent, das jüngere zwischen 60 und 80 des Leistungsspektrums. Das kann bedeuten, dass sich das ältere Kind für ein Förderprogramm qualifiziert und das jüngere nicht. An den Unis setzt sich das Muster fort: Die jüngste Gruppe eines Jahrgangs bleibt gegenüber der ältesten um etwa 11,6 Prozent unterrepräsentiert.

Doch nicht alles ist schicksalsbestimmt. Betrachtet man Konservatorien, so kommt heraus, dass Elitemusiker im Alter von 20 Jahren bereits etwa 10000 Stunden geübt haben. "Im Gegensatz dazu kamen die ,guten' Studierenden nur auf etwa 8000 Stunden Spielpraxis und die künftigen Musiklehrer auf knapp über 4000", schreibt Journalist Gladwell. Mit dieser Erkenntnis analysiert er die Karrieren von Bill Gates, Bill Joy und den Beatles. Jeder einzelne dieser Überflieger hatte das Glück, dass er die nötigen 10000 Stunden auch leisten konnte. Wer etwa schon als Kind jobben muss, hat zum Geigespielen oder Programmieren meist keine Zeit.

Der Rest ist Erziehung: Kinder, die zu Hause Bücher vorfinden und lernen, ihre Ideen überzeugend zu formulieren, haben später die Nase vorn. Wir wollen es uns nicht eingestehen, meint Gladwell, aber Erfolg ist im Grunde nur ein akkumulierter Vorteil: "Erfolgreiche Menschen arbeiten sich nicht von allein nach oben. Es spielt eine ganz entscheidende Rolle, wo sie herkommen. Sie sind immer das Produkt ihrer Umwelt und ihrer Umstände."

Gladwells Buch ist zutiefst unamerikanisch und dennoch oder gerade deswegen in den USA ein Bestseller. Den meisten Europäern wird die These, dass Erfolg nur auf individueller Leistung beruht, ohnehin spanisch vorkommen. Dennoch ist das Buch auch diesseits des Atlantiks lesenswert. Weil es eine gefühlte Wirklichkeit in Fakten verankert und weil es immer nutzt, über die Grundlagen eigenen und fremden Erfolgs nachzudenken. Manche Erkenntnisse wirken tröstlich, andere inspirierend, denn Überflieger sind am Ende alles andere als Überflieger. Das macht sie ein wenig menschlicher und uns Normalsterbliche ein wenig machtvoller - der Rest ist offenbar Glückssache. Barbara Bierach

Zum Thema

Die Elite von morgen

Julia Friedrichs: Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008, 256 Seiten, 17,95 Euro.

Die Journalistin Friedrichs hat an Elite-Instituten recherchiert. Sie taucht ein in eine Welt, in der Menschen, die weniger als siebzig Stunden pro Woche arbeiten, "Minderleister" heißen.

Welche Werte?

Daniel F. Pinnow: Elite ohne Ethik? Die Macht von Werten und Selbstrespekt. Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt, September 2007, 196 S., 24,90 Euro.

Autor Pinnow analysiert - mit Blick auf die deutsche Geschichte - das Unbehagen gegenüber Eliten und diskutiert den Anspruch, moralisch zu handeln.

Wirtschaftsbuch

Malcolm Gladwell:

Überflieger. Warum manche Menschen erfolgreich sind - und andere nicht. Campus Verlag 2008,

256 Seiten, 19,90 Euro.

Gladwell, Malcolm: Veröffentlichung Menschliches Verhalten und Eigenschaften SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Karsai greift USA scharf an

Afghanistans Präsident: Zivile Opfer stärken Terroristen

Kabul/Islamabad - Nach einem umstrittenen Einsatz der amerikanischen Truppen in Ostafghanistan hat der afghanische Präsident Hamid Karsai scharfe Kritik an den USA geübt. Die Operation habe 16 Zivilpersonen das Leben gekostet, sagte Karsai am Sonntag. Der Tod unschuldiger Afghanen "stärkt die Terroristen". Nach US-Angaben kamen bei dem Einsatz ausschließlich Aufständische ums Leben. Karsai erklärte, das Verteidigungsministerium habe den Entwurf einer Vereinbarung nach Washington geschickt, den zuvor bereits die Nato erhalten hatte. Danach soll die afghanische Regierung größere Kontrolle über die Einsätze der US-Streitkräfte erhalten.

Die Amerikaner erklärten in einer Stellungnahme, der Einsatz in der Provinz Laghman vom Samstag habe sich gegen einen Taliban-Kommandeur gerichtet. Dabei seien die Soldaten von Aufständischen beschossen worden. Unter den Toten sei eine Frau, die einen Granatwerfer bei sich gehabt habe. Gouverneurssprecher Sayed Ahmad Safi sagte dagegen, elf Zivilpersonen seien getötet worden, darunter drei Kinder und zwei Frauen. Zwei der Toten seien Aufständische.

Bei einem Angriff der Taliban auf einen regierungstreuen Stammesältesten kamen im Nordwesten Afghanistans vier Zivilisten ums Leben. Wie die Polizei in der Provinz Badghis mitteilte, erschossen die Angreifer den Stammesältesten, dessen Schwiegertochter sowie zwei weitere Menschen. Bei dem anschließenden Feuergefecht mit afghanischen Polizisten seien 13 Aufständische getötet worden. In der Provinz Paktia starb ein Zivilist bei einem Selbstmordanschlag. Nach Regierungsangaben vom Sonntag wurden neun Menschen verletzt, als sich der Attentäter auf einem Markt an der Grenze zu Pakistan in die Luft sprengte.

Die Regierung in Islamabad verurteilte am Sonntag den ersten US-Raketenangriff auf ihr Territorium nach dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama. Wie ein Sprecher von Präsident Asif Ali Zardari mitteilte, machte der Regierungschef bei einem Treffen mit der US-Botschafterin deutlich, dass derartige Angriffe dem Kampf gegen den Terror nicht dienten. Einem Bericht der Daily Times zufolge warnte Zardari die Diplomatin, dass Pakistans Kooperation im Kampf gegen den Terror beeinträchtigt werden könnte. Vermutlich in Afghanistan gestartete US-Drohnen hatten am späten Freitagabend mehrere Raketen auf Ziele im Norden Pakistans abgefeuert. Dabei waren nach Angaben aus Geheimdienstkreisen mindestens 22 Menschen getötet worden. Die USA werfen Pakistan vor, das Eindringen von Extremisten nach Afghanistan nicht zu unterbinden. Sowohl Taliban als auch Al-Qaida-Kämpfer finden im Norden Pakistans Unterschlupf. Die Regierung hat in den dortigen Stammesgebieten kaum Einfluss. SZ

Auch unter Obama schießen die USA Raketen auf pakistanisches Gebiet ab

Karsai, Hamid Beziehungen der USA zu Afghanistan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Rücktritt wegen Stillstands

Der Vermittler Miroslav Lajcak verlässt Bosnien-Herzegowina nach anderthalb Jahren erfolgloser Bemühungen

Von Enver Robelli

Zagreb - Sein Rücktritt kommt nicht überraschend. Anderthalb Jahre lang residierte Miroslav Lajcak in Sarajevo als Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft und übte sich in der unbequemen Rolle des Mahners. Fast täglich forderte der slowakische Diplomat die zerstrittenen Politiker aller Ethnien auf, Verantwortung für die Zukunft von Bosnien-Herzegowina zu übernehmen.

Im Unterschied zu seinen sechs Vorgängern, die aus Westeuropa stammten, konnte Lajcak seine Botschaften in der Landessprache vortragen. Die Bilanz ist trotzdem ernüchternd: Das Land kommt nicht vom Fleck, die von der EU geforderte Verfassungsreform ist blockiert. Lajcak, der gleichzeitig EU-Sondergesandter war, verlässt Bosnien in einer der größten Krisen seit dem Ende des Krieges vor 13 Jahren.

Lajcak soll an diesem Montag offiziell zum Außenminister der Slowakei ernannt werden. Er will nur noch wenige Tage in Sarajevo bleiben, bis der Friedensimplementierungsrat, ein internationales Gremium zur Überwachung des Dayton-Abkommens, einen Nachfolger gefunden hat. Der Hohe Repräsentant verfügt über umfangreiche Befugnisse, mit denen er Politiker entlassen und Gesetze außer Kraft setzen kann.

In der internationalen Gemeinschaft herrscht seit Monaten Streit darüber, ob Bosnien aus der Bevormundung entlassen werden kann. Solche Forderungen stellen vor allem Russland und die Regierung der im Krieg durch ethnische Säuberungen entstandenen Republika Srpska, der von Serben dominierten Hälfte Bosniens. Dagegen warnen muslimische Politiker in Sarajevo vor dem Zerfall des fragilen Landes, wenn der Westen die militärische Präsenz reduziert und seine Statthalter zurückzieht. Dieser Meinung sind auch einflussreiche westliche Diplomaten wie der frühere US-Vermittler Richard Holbrooke und der Brite Paddy Ashdown, der von 2002 bis 2006 Hoher Repräsentant in Sarajevo war.

Zwar hat Bosnien im Juni als letzter Balkanstaat ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet. Doch seither ist der Reformwille erlahmt. Das bosnische Parlament hat 2008 nur 20 von 100 geplanten Gesetzen verabschiedet, darunter auch eine Novelle, die eine hundertprozentige Lohnerhöhung für die Volksvertreter vorsieht. Während der Durchschnittslohn in Bosnien etwa 600 Euro beträgt, verdienen die Politiker mehr als 3500 Euro im Monat. Für Schlagzeilen in der Region sorgt derzeit der Fall des bosnischen Kroaten Vjekoslav Vukovic, der in Rijeka verhaftet wurde. Der Chef der Einheit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität im bosnischen Innenministerium wird beschuldigt, einen Bombenanschlag auf das Auto zweier Anführer einer rivalisierenden Bande geplant zu haben, die in Rijeka Nachtclubs bewacht.

Noch mehr Sorgen bereitet westlichen Diplomaten aber das rhetorische Kräftemessen zwischen dem Ministerpräsidenten der bosnischen Serben Milorad Dodik und Haris Silajdzic, der die bosnischen Muslime im dreiköpfigen Staatspräsidium vertritt. Die beiden gelten als Hauptverantwortliche für den politischen Stillstand in Bosnien. Während Silajdzic die bosnisch-serbische Republik am liebsten abschaffen würde, stellt Dodik regelmäßig die Zukunft Bosniens in Frage. Er will die Urteile muslimischer Richter nicht akzeptieren und ließ unlängst eine Vertretung der Republika Srpska in Brüssel eröffnen. Viele Bosnier sind des Streits zwischen den beiden Politikern überdrüssig. Anfang Januar gingen einige Dutzend Bürger von Sarajevo auf die Straße und bewarfen die Bilder der Politiker aller Ethnien mit Schuhen. Als Vorbild diente ihnen die Schuh-Attacke eines irakischen Journalisten auf den US-Präsidenten George W. Bush.

Schuh-Angriff: Auch in Sarajewo protestierten Bürger gegen Politiker. Reuters

Lajcak, Miroslav: Rücktritt Regierungen Bosnien-Herzegowinas SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Singh am Herzen operiert

Delhi - Indiens Premierminister Manmohan Singh hat eine komplizierte Herzoperation gut überstanden und ist auf dem Weg der Besserung. Wie das Büro des Regierungschefs am Sonntag mitteilte, war der Gesundheitszustand des 76-Jährigen am Tag nach dem elfstündigen Eingriff stabil. Dem Premier waren am Samstag fünf Bypässe gelegt worden. Nach Angaben von Ärzten könnte Singh bereits in zwei bis drei Wochen einen Teil seiner Amtsgeschäfte wieder aufnehmen. Mitte März soll Singh dann wieder voll einsatzfähig sein. Bis dahin vertritt Außenminister Pranab Mukherjee den Regierungschef. Spätestens im Mai wird in Indien ein neues Parlament gewählt. dpa

Manmohan Singh wurde erfolgreich behandelt, so die Ärzte. AP

Delhi

- Indiens Premierminister Manmohan Singh hat eine komplizierte Herzoperation gut überstanden und ist auf dem Weg der Besserung. Wie das Büro des Regierungschefs am Sonntag mitteilte, war der Gesundheitszustand des 76-Jährigen am Tag nach dem elfstündigen Eingriff stabil. Dem Premier waren am Samstag fünf Bypässe gelegt worden. Nach Angaben von Ärzten könnte Singh bereits in zwei bis drei Wochen einen Teil seiner Amtsgeschäfte wieder aufnehmen. Mitte März soll Singh dann wieder voll einsatzfähig sein. Bis dahin vertritt Außenminister Pranab Mukherjee den Regierungschef. Spätestens im Mai wird in Indien ein neues Parlament gewählt.

Singh, Manmohan: Krankheit SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Löwe diesmal nicht im Schnee

Die BayernLB sagt Ski-Wochenende mit Kunden ab, und die WestLB teilt sich auf: Bei den Landesbanken bleibt nichts, wie es war

Von Caspar Dohmen, Thomas Fromm und Klaus Ott

München - Wenn sich die Ski-Elite beim Hahnenkammrennen im österreichischen Kitzbühel todesmutig den Berg hinterstürzte, standen in den vergangenen Jahren die Vorstände und die wichtigsten Kunden der Bayerischen Landesbank (BayernLB) mit an der Piste. Im vornehmen Bio-Hotel Stanglwirt mit "Felsen-Sauna" und "Vitaljause" hieß die Staatsbank internationale Geschäftspartner willkommen, man führte Fachgespräche und plauschte über Privates. Doch beim diesjährigen Hahnenkammrennen am Wochenende ist die BayernLB nicht mehr in Kitzbühel zu Gast - sehr zum Bedauern des Stanglwirts. Angesichts der tristen Lage und des neuen Geschäftsmodells, das einen weitgehenden Rückzug aus den internationalen Aktivitäten vorsieht, hat die Bank ihre "Winterveranstaltung", wie sie es nennt, kurzerhand abgesagt.

Das ist verständlich: Es hätte in der Öffentlichkeit wohl keinen guten Eindruck gemacht, erst einen Rekordverlust für das vergangenen Geschäftsjahr in Höhe von voraussichtlich fünf Milliarden Euro bekannt zu geben und anschließend dann in die Berge zu fahren.

Ohnehin ist die Bank zurzeit eher auf Talfahrt. Fünf Milliarden Euro Verlust, so schätzt der Vorstand der BayernLB, hat das Haus im vergangenen Jahr eingefahren. Ein Rekord - wenn auch nicht auf Skiern. Für BayernLB-Chef Michael Kemmer läuft die Zeit: Zurzeit kann er auf öffentliche Finanzspritzen und Garantien in Höhe von 30 Milliarden Euro zurückgreifen; gleichzeitig aber wird von ihm erwartet, dass er sein Haus saniert. 5600 Stellen sollen in den kommenden Jahren abgebaut werden; das einst internationale Geschäft soll auf den Heimatmarkt zurückgestutzt werden.

Ob es in naher Zukunft zu einem Zusammenschluss mit der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) kommt, ist fraglich. Zwar hatte Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger erst in diesen Tagen wieder eine Fusion der beiden Institute ins Gespräch gebracht. Doch sowohl in München als auch in Stuttgart gibt es Zweifel an dem Modell. Vom Freistaat weiß man, dass er die BayernLB nur ungern mit der größeren LBBW vermählen möchte. Jetzt machte auch die SPD-Landtagsfraktion in Stuttgart Front gegen einen solchen Zusammenschluss. "Wir würden den Bankenplatz Bayern retten", sagte Fraktionschef Claus Schmiedel. Eine Fusion sei mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. "Was die BayernLB noch an kritischer Masse in den Büchern hat, lässt sich noch gar nicht absehen", mahnte er.

Bei der LBBW könnte es nicht viel anders aussehen. Finanzkreise berichten von einer Gremien-Sitzung der Eigentümer am vergangenen Mittwoch, bei dem der Eindruck entstanden sei, der wahre Kapitalbedarf der Bank sei weitaus höher als die bislang kommunizierten fünf Milliarden Euro und könne sogar im zweistelligen Milliardenbereich liegen. "Die Teilnehmer der Sitzung haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen", fasst ein Insider die Reaktionen zusammen. Ein LBBW-Sprecher betonte dagegen, an den bisherigen Aussagen habe sich nichts geändert. "Es bleibt bei den fünf Milliarden."

Im Westen was Neues

Während im Süden noch alles auf Eis liegt, kommt die Landesbankenlandschaft im Nordwesten offenbar in Bewergung. Die WestLB arbeitet an einer Zweiteilung der Bank. Damit wollen deren Eigentümer - Land, Sparkassen und Kommunen aus Nordrhein-Westfalen - die WestLB für eine Fusion mit anderen Landesbanken vorbereiten. Bislang gilt ein Zusammengehen als außerordentlich schwierig, weil der genaue Wert vieler Aktiva der Landesbanken unklar ist.

Nun soll die drittgrößte Landesbank riskante Geschäfte in eine neue Bank ausgelagern. "Dies prüfen wir", bestätigte eine Sprecherin des nordrhein-westfälischen Finanzministeriums am Freitag. Die Rede ist unter anderem von Krediten über bis zu 80 Milliarden Euro. Vergangenes Jahr hatte die Bank schon einmal riskante Papiere mit einem Volumen in Höhe von 23 Milliarden Euro in eine Zweckgesellschaft ausgelagert. Dafür bürgten Sparkassen und Land NRW mit fünf Milliarden Euro. Allerdings können Kredite nur in eine Bank, keinesfalls in eine Zweckgesellschaft ausgelagert werden.

Offen ist noch, wer die neue Bank mit dem notwendigen Eigenkapital ausstattet. Hier bahnt sich neuer Streit zwischen den WestLB-Eigentümern an. So heißt es, im Sparkassenlager gehe die Angst um, nach einer Aufspaltung gehe "alles so weiter wie bisher". In der alten Bank sollen die Bereiche Kapitalmarkt, Mittelstandsfinanzierung und das Firmenkundengeschäft bleiben.

Über die Pläne wollen die Eigentümer am 6. Februar bei einer Aufsichtsratssitzung beraten. Geht es nach deren Willen, dann würde die Restbank schon bald mit der Dekabank und der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba) verschmolzen. Die WestLB-Eigentümer wollen, dass sich der Rettungsfonds Soffin "maßgeblich" an dem Projekt beteiligt.

Der Löwe aus Stein ist das Symbol der BayernLB: Normalerweise luden die Vorstände um diese Zeit immer Geschäftskunden zur Weltcup-Abfahrt auf der Kitzbühler Streif. Diesmal fällt die Veranstaltung aus. Foto: Getty Images

Bayerische Landesbank: Krise Landesbanken in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wieder Geld für Abtreibungen

Obama erlaubt Zuschüsse an Hilfsorganisationen

Washington - Präsident Barack Obama hat am Freitag einen von der Bush-Regierung verhängten Zahlungsstopp aufgehoben, der jeden US-Zuschuss an internationale Organisationen verbot, die Frauen in Entwicklungsländern direkt oder indirekt den Abbruch einer Schwangerschaft ermöglichen. Konservative Abtreibungsgegner hatten seit Tagen in Washington gegen den Politikwechsel demonstriert. Obama wie auch Außenministerin Hillary Clinton hatten die Kurskorrektur im Wahlkampf versprochen.

Die USA zählen mit rund 400 Millionen Dollar jährlich zu den größten Gebern internationaler Hilfe zum Zwecke der Familienplanung. Seit einem Vierteljahrhundert ist jedoch umstritten, wofür diese Mittel ausgegeben werden dürfen. Die konservativen Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush verfügten, keine Organisationen zu bezuschussen, die Abtreibungen durchführen oder in Beratungsgesprächen auch nur als Option erwähnen. Zugleich sperrten sie auch dem UN-Bevölkerungsfonds UNFPA die Mittel.

In Afrika, wo Präsident Bush die US-Hilfe im Kampf gegen die Verbreitung von Aids massiv ausgeweitet hatte, floss zugleich sehr viel Geld an Organisationen, die sexuelle Enthaltsamkeit propagierten. Der Streit um eine mutmaßliche Förderung der Abtreibung durch amerikanische Steuergelder mobilisiert alljährlich hitzigen Widerstand konservativer Abgeordneter bei den Haushaltsberatungen im Kongress.

Die Abtreibungsregelung habe in den vergangenen acht Jahren Bemühungen um eine sichere und effektive Familienplanung in Entwicklungsländern "untergraben", erklärte Obama nach der Unterzeichnung seines Erlasses, zu der er demonstrativ Journalisten eingeladen hatte. Der Präsident kehrt mit seiner jetzigen Entscheidung zu einer Linie zurück, wie sie auch Präsident Bill Clinton verfolgt hatte: In den neunziger Jahren hatte die Regierung versucht, die US-Fördermittel für Familienplanung deutlich zu steigern. Dies scheiterte jedoch mehrfach am Widerstand des republikanisch beherrschten Repräsentantenhauses. Während des UN-Bevölkerungsgipfels in Kairo 1994 arbeiteten US-Unterhändler eng mit Frauenverbänden zusammen und forderten, Abtreibungen sollten "sicher, legal und selten" sein. Christian Wernicke

Regierung Obama 2009 Schwangerschaftsabbruch Auslandshilfe der USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kopfschütteln über den Bundesanwalt

Mit lakonischen Kommentaren zu angeblicher US-Folter in Mannheim verwundert ein Beamter den BND-Ausschuss

Von Peter Blechschmidt

Berlin - Man trifft immer wieder auf Staatsdiener, auf deren Hilfe man als Bürger nicht angewiesen sein möchte. Eine besondere Begegnungsstätte dieser Art ist der BND-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Dort hatte in dieser Woche ein Vertreter der Bundesanwaltschaft einen Auftritt, der bei den Abgeordneten von rechts bis links Kopfschütteln, ja Empörung auslöste.

Es ging um den Verdacht, dass in den Jahren 2003 und 2006 mutmaßliche Terroristen in einem amerikanischen Militärgefängnis in Mannheim gefoltert worden sein sollen. Der Vorwurf wiegt schwer, und er darf die deutsche Justiz nicht kalt lassen. Warum er dennoch kein Fall für den Staatsanwalt wurde, versuchte im Ausschuss der Bundesanwalt Wolf-Dieter Dietrich, Vertreter der obersten Strafverfolgungsbehörde der Republik, zu begründen.

Die Anschuldigungen wurden der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt (BKA) im Spätsommer 2006 bekannt. Der Brite Peter Wright hatte bei der Mannheimer Polizei Strafanzeige erstattet. Wright bezog sich auf einen angeblichen amerikanischen Soldaten namens John Pierce, der ihm berichtet habe, in der US-Kaserne Coleman Barracks seien monatelang drei arabisch sprechende Männer als mutmaßliche Terroristen gefangengehalten worden. Die Häftlinge seien von Spezialisten, welche die US-Soldaten für Angehörige des Geheimdienstes CIA gehalten hätten, mit Elektroschocks an den Genitalien gefoltert worden. Man habe sie tagelang auf Metallbetten gefesselt, wo sie auch ihre Notdurft verrichten mussten; Männer und Liegen seien bei Bedarf mit Feuerwehrschläuchen abgespritzt worden.

Zur gleichen Zeit erfuhr das BKA, dass ein Mannheimer Bürger im Jahr 2003 in den Coleman Barracks drei Gefangene in orangefarbenen Overalls gesehen haben wollte, die menschenunwürdig behandelt worden seien. Orangefarbene Overalls als Bekleidung arabisch aussehender Menschen stehen seit 2002 als Symbol für das US-Gefängnis Guantanamo und die darin praktizierten Foltermethoden. Der Mannheimer, inzwischen 72, sagte diese Woche im Untersuchungsausschuss aus. Die Gefangenen seien mit Ketten gefesselt und "wie Außerirdische" bewacht über das Kasernengelände geführt worden. Dies sei ein "entwürdigendes Schauspiel" gewesen, "das mich sehr erbost hat", sagte der Zeuge, der keineswegs als Anti-Amerikaner auftrat oder geistig verwirrt wirkte.

Der BKA-Hauptkommissar Andrew Mielach nahm in beiden Fällen Ermittlungen auf; Herr des Verfahrens war Bundesanwalt Dietrich. Der entschied, wie er jetzt im Ausschuss bestätigte, im Herbst 2006, als Guantanamo in aller Munde und auch der Untersuchungsausschuss schon an der Arbeit war: die Beobachtung des Mannheimer Bürgers reicht für ein Ermittlungsverfahren nicht aus. "Die Frankfurter Müllabfuhr trägt auch orangefarbene Overalls", erklärte Dietrich im Ausschuss ungerührt.

Im Fall John Pierce genügte Dietrich die Auskunft der Amerikaner, dass es einen Soldaten dieses Namens nicht gebe. Weitere Befragungen etwa von US-Soldaten, wie sie auch Kommissar Mielach für richtig gehalten hätte, lehnte Dietrich ab. Ebenso die sogar von den Amerikanern angebotene Besichtigung des US-Gefängnisses. Wenn sich gezeigt hätte, "dass den Gefangenen Metallbetten zur Verfügung stehen", hätte das ja auch nichts bewiesen, so sein Argument.

Dem Zeugen Wright sprach Dietrich die Glaubwürdigkeit ab, weil er gern "im Schottenrock und mit Dudelsack" gegen die USA demonstrierte. Das war selbst dem SPD-Abgeordneten Michael Hartmann zu viel, der sonst als Verteidiger der USA und ihrer Helfer agiert: "Das macht den Mann ja noch nicht unglaubwürdig", stellte er fest. Hellmut Königshaus (FDP) und Hans-Christian Ströbele (Grüne) wiederum konnten es nicht fassen, wie schnell sich ein deutscher Staatsanwalt mit der Unschuldsbeteuerung eines Verdächtigen zufrieden gab.

Dietrich, Wolf-Dieter Untersuchungsausschuss zur BND-Affäre 2006- Streitkräfte der USA in Deutschland Folter SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sager will Direktmandat

Hamburg - Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Krista Sager will die Schwäche der Hamburger SPD für sich nutzen und den Sozialdemokraten das Direktmandat im Kreis Eimsbüttel abjagen. Dort ist die SPD nach einem erbitterten Streit um die Nominierung des Direktkandidaten tief zerstritten. Die frühere Hamburger Senatorin und einstige Zweite Bürgermeisterin Sager ist auch von Sozialdemokraten aus dem Wahlkreis zu dieser Direktkandidatur ermuntert worden, die ihren eigenen Kandidaten Danial Ilkhanipour nicht unterstützen wollen. Der Hamburger Juso-Chef Ilkhanipour hatte die Kandidatur im Herbst in einer Kampfabstimmung gegen den derzeitigen direkt gewählten SPD-Abgeordneten Niels Annen errungen. Ihm wird jedoch von Genossen aus dem Bezirk vorgeworfen, sich die Kandidatur durch Trickserei "erschlichen" zu haben. Der bis heute anhaltende interne Streit führte auch zu vielen Parteiaustritten.jsc

Hamburg

- Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Krista Sager will die Schwäche der Hamburger SPD für sich nutzen und den Sozialdemokraten das Direktmandat im Kreis Eimsbüttel abjagen. Dort ist die SPD nach einem erbitterten Streit um die Nominierung des Direktkandidaten tief zerstritten. Die frühere Hamburger Senatorin und einstige Zweite Bürgermeisterin Sager ist auch von Sozialdemokraten aus dem Wahlkreis zu dieser Direktkandidatur ermuntert worden, die ihren eigenen Kandidaten Danial Ilkhanipour nicht unterstützen wollen. Der Hamburger Juso-Chef Ilkhanipour hatte die Kandidatur im Herbst in einer Kampfabstimmung gegen den derzeitigen direkt gewählten SPD-Abgeordneten Niels Annen errungen. Ihm wird jedoch von Genossen aus dem Bezirk vorgeworfen, sich die Kandidatur durch Trickserei "erschlichen" zu haben. Der bis heute anhaltende interne Streit führte auch zu vielen Parteiaustritten.

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Eine Himbeere aus Hollywood

Uwe Boll gilt als schlechtester Regisseur der Welt - das könnte ihm einen besonderen Preis einbringen

Von Christian Mayer

Es ist ungeheuer schwer, einen Film von Uwe Boll in Worte zu fassen; man kann die Kinokritiker verstehen, wenn sie es in diesem Fall vorziehen, zu schweigen. Boll, ist das nicht dieser Verrückte aus Wermelskirchen, der in Kanada und sonstwo einen billigen Action-Film nach dem anderen dreht? Immerhin, der DVD-Verleiher um die Ecke kennt Werke aus der Boll-Produktion. Mit sicherem Griff zieht er den Film "Postal" hervor, "der ist gar nicht mal schlecht". Zwei Stunden später fragt man sich staunend, was man da gerade gesehen hat: Hat der Wahnsinn vielleicht Methode? Oder lässt dieser Mann seinen Phantasien einfach nur freien Lauf, ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen, auch nicht auf die innere Logik einer Fiktion?

Hier der unzureichende Versuch einer Handlungsbeschreibung: In "Postal" herrscht ein bizarrer Kleinkrieg in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September. In einem tristen Ort namens Paradise lässt ein Sektenguru seine gut gedrillten Bikini-Fundamentalistinnen mit Hakenkreuz-Armbinden aufmarschieren, um durch den Raub von kostbaren Stofftieren seine Steuerschulden zu begleichen. Gleichzeitig versucht eine Gruppe verhaltensgestörter Al-Qaida-Selbstmörder, in den Genuss der versprochenen 99 Jungfrauen zu kommen, die ihr geistiger Führer Osama bin Laden wegen der großen Nachfrage aber nicht mehr garantieren kann. Osama, bei Boll eine Comedy-Knallcharge mit Rauschebart, besucht derweil lieber ein amerikanisches Management-Seminar. Klingt krude, ist aber noch viel toller.

Auch der Urheber des filmischen Massakers hat einen verdienten Auftritt: Uwe Boll spielt sich selbst, er gibt einen teutonischen Regisseur in Lederhosen, der seine Filme mit Nazigold finanziert und durch einen Schuss in den Lendenbereich aus dem Verkehr gezogen wird. Der Mann kennt kein Pardon, nicht mit dem Publikum und nicht mit sich selbst. Das alles ist gelegentlich sogar irre komisch; manchmal zumindest kann man nicht anders als lauthals loszulachen.

"Natürlich will ich gewinnen!"

Gerade erst ist der promovierte Literaturwissenschaftler als schlechtester Regisseur nominiert worden. Zum dritten Mal in Folge geht er ins Rennen um die Goldene Himbeere in Hollywood, eine Auszeichnung eher zweifelhafter Art, und dass er nebenbei am Vorabend der Oscar-Verleihung auch noch für sein Lebenswerk geehrt werden soll, lässt auch nichts Gutes ahnen. Also Anruf bei Boll, der zufällig gerade in Frankfurt weilt. "Natürlich möchte ich jetzt auch mal gewinnen", sagt der 43-Jährige, der sich vor allem mit der Verfilmung von Videospielen einen Namen gemacht hat. Hat er die gefürchtete Himbeere nun verdient? "Viele Kritiker haben noch nie einen Film von mir gesehen. Die kennen mich nur aus dem Internet", kontert der oft Geschmähte - und verweist auf seine Erfolge. Ein wenig traurig sei nur, dass er inzwischen in ein "ungutes Fahrwasser" geraten sei - zu Unrecht, wie er findet. Schließlich sei sein Film "Postal" als gnadenlose Satire auf das Amerika der Bush-Ära völlig unterschätzt: "Ich bin jedenfalls stolz, dass ich nicht mit dem Mainstream schwimme."

Boll, der Außenseiter, könnte gar nicht so erfolgreich sein, wenn es nicht weltweit ein Publikum gäbe, das auf blutrünstigen Nervenkitzel und Actionhelden unter Dauerbeschuss steht. Sein Kostümfilm "Schwerter des Königs" stand in Russland, Thailand und Indien auf Platz eins der Kinocharts; die DVD spielte allein in den USA 43 Millionen Dollar ein. "Mit dem DVD-Geschäft holen wir regelmäßig das Eisen aus dem Feuer", sagt der Filmemacher. Zuletzt brachte die an der Frankfurter B rse notierte Boll AG das Action-Drama "Far Cry" heraus, in dem Til Schweiger neben Udo Kier und Ralph Moeller wild herumballern durfte - 85000 Zuschauer wollten das in Deutschland im Kino sehen.

Zur Methode Boll gehört, dass alles in einer Hand bleibt. Der Chef schafft an, er muss mit dem Weiterverkauf von Filmen über die Boll AG die Finanzierung stemmen. Boll hat die Filmidee, Boll verpflichtet seine Darsteller selbst, Boll führt Regie und arbeitet im Schneideraum, Boll regelt die Vermarktung. "Uwe ist die ultimative One-Man-Show, der macht alles, vom Script bis zum Plakat", sagt Ralph Moeller, der schon drei Mal bei Boll-Filmen mitgespielt hat.

Nun wagt sich der in Hollywood einschlägig bekannte Deutsche an einen deutschen Mythos: Im Mai beginnen die Dreharbeiten zu einem Kinofilm über Max Schmeling. Die Hauptrolle soll Henry Maske übernehmen, der bisher noch nicht als herausragender Mime in Erscheinung getreten ist und derzeit ein Trainingscamp für Schauspieler absolviert. "Maske kann richtig zuschlagen und hat die richtige Größe", glaubt sein Regisseur. Ob Boll sein Image verbessern kann, wenn er das Boxidol in den Krieg schickt? "Mal sehen, vielleicht kriege ich für Schmeling ja zum ersten Mal Filmförderung - wäre mal was Neues!"

Til Schweiger (oben bei Dreharbeiten zu "Far Cry") zählt zu den Schauspielern, die ganz gerne mal mit Uwe Boll arbeiten. Der 43-Jährige (unten) ist bereits zum dritten Mal in Hollywood als schlechtester Regisseur für die "Goldene Himbeere" nominiert. Fotos: Picture Alliance, dpa

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Einmal in Venedig Pipi machen: drei Euro

Venedig - Wer in Venedig ein dringendes Bedürfnis verspürt, der muss künftig tief in die Taschen greifen. Vom 1. Februar an kostet eine WC-Tageskarte in der Lagunenstadt drei Euro. Billiger wird es für die Millionen Touristen nur, wenn sie ihren Klo-Besuch so wie andere Eintrittskarten oder Fahrscheine vorab im Internet buchen, berichtet die Tageszeitung La Repubblica. Angesichts der Flut von insgesamt über 21 Millionen Besucher jährlich suche die Lagunenstadt neue Mittel, sich finanziell über Wasser zu halten, hieß es. Wer indes in der Nebensaison ein öffentliches WC aufsucht und sich zuvor online angemeldet hat, kommt mit 1,50 Euro Gebühr davon. dpa

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In Tempelhof ist viel Platz

Die Modemesse "Bread & Butter" kehrt wohl nach Berlin zurück

Von Rebecca Casati

Berlin - Nächste Woche, ganz kess vor allen anderen, beginnt sie: Die Modewoche in Berlin. Das fühlt sich für die Beteiligten selbstverständlich ganz anders an, als wenn die Pariser Schauen stattfinden, wo man kein Taxi kriegt, obwohl man ständig an entgegengesetzte Plätze der Stadt muss. Es ist auch nicht so wie New York, wo man die stets wie aus dem Ei gepellten Moderedakteurinnen beim Power-Präsentieren, Power-Warten und zwischendurch beim Power-Shopping im Jeansladen trifft.

Erst 2004 begann sich so etwas wie eine Modelandschaft in Berlin neu zu konstituieren. Geld war natürlich schon damals wenig da, aber dafür gab es andere Standort-Faktoren, Dinge wie Abertausende von preiswerten Quadratmetern, acht Modeschulen und junge Menschen aus aller Welt, die nach Berlin strömten, um kreativ zu sein. Auch wenn sich das bei vielen nur auf die Planung des Party-Wochenendes und auf die Zutatenkombination im Venti-Becher einer bekannten Kaffeehauskette bezog. Doch bald schon gab es handfeste, vom Senat immer wieder stolz heraustrompetete Zahlen. Die Wirtschaft verzog sich, die Kreativszene boomte. Laut aktueller Erhebungen arbeiten heute in Berlin rund 160 000 Menschen in der sogenannten Kreativwirtschaft. Neben Logistik und Gesundheitswesen gilt die Branche als diejenige mit dem größten Wachstum in der verarmten Hauptstadt.

Barcelona war gestern

Mit diesem Potential gründeten sich 2002 und 2003 in Berlin die große Streetwear-Messe "Bread and Butter", die vorher in Köln logiert hatte und sich 2007 nach Barcelona verabschiedete, und die etwas kleinere, elegantere Messe "Premium". 2005 kam der vom Senat unterstützte Sponsor Mercedes Benz an Bord, nebst einer Fünfjahres-Zusage. Unter deren Banner finden Schauen von mittlerweile mehr als 20 Labels statt.

Kehrt die "Bread & Butter" zurück nach Berlin? Es sieht danach aus. Immerhin brachte es die Berliner Modewoche in den letzten Jahren zu mehr und mehr Aufmerksamkeit, auch international. Und in diesen Tagen macht wieder einmal Karl-Heinz Müller von sich reden. Er war es, der die Messe 2007 nach Barcelona verlegte (was die alteingesessene Messe-Konkurrenz aus Düsseldorf, die Igedo mit großer Genugtuung registrierte). Berlin liegt nunmal nicht am Meer, vor allem aber sei die Nachfrage der Aussteller unbefriedigend gelaufen, sagte er damals. Außerdem habe es Probleme mit der Anmietung beziehungsweise dem Verkauf der B&B-Messehallen gegeben, die damals noch in Spandau waren.

Müllers endgültiger Rückzug sorgte seinerzeit für lange Gesichter in Berlin. Doch angeblich, heißt es jetzt, seien die Gespräche mit dem Berliner Senat über eine Rückkehr nie abgerissen. Am Freitag, bei einer Pressekonferenz in Barcelona, machte Müller merkwürdig vage Andeutungen: "Wir sehen uns im Sommer 2009 in einer anderen Stadt wieder - bis dahin, see you." Nach nur zwei Jahren in Spanien zieht die "Bread & Butter" wieder weg, obwohl man in Barcelona angeblich wegen des Andrangs (80 000 Besucher) so glücklich war.

Warum aber die Geheimnistuerei? Natürlich werde die Veranstaltung zurück nach Berlin kommen, vermuten Kenner. In Tempelhof sei Platz genug für die Modeleute und ihre Entourage; die Abfertigungshalle Tempelhof ist das im nationalsozialistischen Größenwahn geplante, drittgrößte Gebäude der Welt. Es steht auf einer Fläche, die mit 386 Hektar so groß ist wie der Central Park und ebenso stadtnah gelegen. Auch entspräche dieser Plan dem Wunsch des Berliner Senats, der auf dem seit Oktober stillgelegten Flughafen-Areal einen Raum für Kultur und Medien schaffen will.

Mit diesem Trumpf eines perfekten Standorts sollen die angeblichen Mitbewerber Moskau und Istanbul aus dem Spiel sein. Es gibt stichhaltige Argumente, dieses "Geheimnis" in der kommenden Woche zu lüften. Die Fashion Week ist der ideale Zeitpunkt für eine solche Ankündigung. Man kann allerdings nicht sagen, dass die Berliner Karl-Heinz Müller, wenn er denn kommt, mit ausgebreiteten Armen empfangen. Das liegt auch an dessen früheren ußerungen: "In meinen Augen ist die Gestaltung der Schauen lieblos", hatte er im Sommer 2008 gelästert. Er glaube nicht an die Fünf-Jahres-Zusage des Veranstalters, schon gar nicht in diesen Zeiten.

Dass Müller nun möglicherweise zurückkommt, kommentieren die Berliner mit gemischten Gefühlen. Die Rückkehr der Messe sei zu begrüßen, und der Grund liege auf der Hand: "Wir haben die Fashion Week Berlin erfolgreich aufgebaut und im internationalen Kontext verankert", sagt Anita Tillmann, Gründerin der Premium-Messe. "Es ist verständlich, dass sich Herr Müller zu diesem Zeitpunkt an den Erfolg von Berlin hängt".

Ein Podest für die Mode, eine Plattform für die Medien: Die "Bread & Butter" könnte künftig wieder in Berlin stattfinden, doch noch schweigen die Beteiligten. Foto: oh

Messewesen in Berlin Modestadt Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sarrazin bleibt

Göhren-Lebbin - Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hat Spekulationen über einen Weggang von Finanzsenator Thilo Sarrazin (beide SPD) aus dem Senat dementiert. In verschiedenen Zeitungen hieß es am Freitag, Sarrazin könnte an die Spitze des Bankenrettungsfonds Soffin rücken. "Er hat keine Chance, weil er Finanzsenator in Berlin ist", sagte Wowereit am Freitag vor einer Klausurtagung der Berliner SPD-Fraktion in Göhren-Lebbin. Er habe auch nicht vor, den Senat umzubesetzen.dpa

Göhren-Lebbin

- Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hat Spekulationen über einen Weggang von Finanzsenator Thilo Sarrazin (beide SPD) aus dem Senat dementiert. In verschiedenen Zeitungen hieß es am Freitag, Sarrazin könnte an die Spitze des Bankenrettungsfonds Soffin rücken. "Er hat keine Chance, weil er Finanzsenator in Berlin ist", sagte Wowereit am Freitag vor einer Klausurtagung der Berliner SPD-Fraktion in Göhren-Lebbin. Er habe auch nicht vor, den Senat umzubesetzen.

Sarrazin, Thilo SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Solidarisch mit Althaus

Unfall schadet dem Ministerpräsident in Umfragen nicht

Von Christiane Kohl

Erfurt - Im Keller der Erfurter Staatskanzlei erläuterte Meinungsforscher Manfred Güllner vor den versammelten Landesministern seine jüngsten Erkenntnisse über die politische Stimmung in Thüringen: Nach der jüngsten Meinungsumfrage hätten die Christdemokraten im Lande wieder aufgeholt. Statt um die 35 Prozent, wie frühere Erhebungen ergeben hatten, lägen sie nun bei 39 Prozent. Vor allem der Spitzenmann sei beliebt wie lange nicht: Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus werde mit 40 Prozent Zustimmung noch besser bewertet als seine Partei. Der Angesprochene indes war nicht zugegen bei der Kabinettsklausur vergangene Woche in Erfurt.

Althaus erholt sich zurzeit in einem Rehabilitationszentrum im baden-württembergischen Allensbach. Am Neujahrstag war der Politiker auf einer Skipiste in Österreich mit einer Skifahrerin zusammengeprallt, die kurz darauf starb. Althaus erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Bei den Wählern in Thüringen scheint der schwere Skiunfall hingegen eher einen Solidarisierungseffekt mit Althaus ausgelöst zu haben. Und auch im Erfurter Landeskabinett fühlen sich die Minister jetzt erst "richtig zusammengeschweißt", wie ein Ressortchef berichtet: "Natürlich hoffen wir alle, dass er bald wiederkommt", sagt der Christdemokrat, "aber die Regierungsarbeit läuft reibungslos, auch ohne ihn."

Die stellvertretende Ministerpräsidentin Birgit Diezel, 50, hält die Zügel fest in der Hand. Vom Finanzministerium aus, dem die einstige Finanzbuchhalterin seit 2002 vorsteht, führt sie die Regierungsgeschäfte äußerst routiniert, wie Kabinettskollegen berichten - fast klappe die Koordination bei ihr besser als bislang in der Staatskanzlei. Auch in der thüringischen CDU wird Althaus zwar als Mensch vermisst - politisch aber gebe es zurzeit "keinen Handlungsbedarf", sagt eine Christdemokratin. Im Juni stehen Kommunal- und Europawahlen an, für den 30. August ist die Wahl des neuen Landesparlaments terminiert. Kein Grund zur Besorgnis, sagt CDU-Fraktionschef Mike Mohring: "Der Zeitplan ist so eingetaktet, dass vor März nichts stattfindet, woran Althaus teilnehmen muss."

In Kreisen der Landesregierung bemüht man sich, die Spekulationen um Althaus' Gesundheitszustand zu dämpfen. So wird zwar bestätigt, dass der Ministerpräsident die Ergebnisse der Hessenwahl nicht sonderlich kommentiert habe, als sie ihm im Reha-Zentrum mitgeteilt worden waren. Dies aber sei "völlig normal" angesichts der schweren Verletzung. Wann über eine mögliche Anklageerhebung entschieden wird, ist noch ungewiss. Erst wenn zwei Gutachten zum Unfallhergang vorliegen, will die Staatsanwaltschaft Althaus vernehmen. Dass ihm das Verfahren politisch schaden werde, glaubt der Meinungsforscher Güllner nicht: Was "auf der juristischen Ebene passiert", müsse nicht "negativ sein" aus Sicht der Bürger.

Die Vertreterin führt die Regierungsgeschäfte routiniert: Kollegen loben Thüringens stellvertretende Ministerpräsidentin Birgit Diezel (CDU). Foto: AP

Althaus, Dieter: Rechtliches Althaus, Dieter: Unfall Diezel, Birgit Regierungen Thüringens SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Blutbad im Märchenland

In Belgien ersticht ein offenbar psychisch kranker Mann drei Kinder und eine Betreuerin in einer Kinderkrippe

Von Martin Kotynek

Brüssel - Sein Gesicht hat er weiß geschminkt, die Augen schwarz umrandet, ein langes Messer in seinen Rucksack gepackt. Dann fährt der hagere Mann mit den knallroten Haaren mit dem Fahrrad in den Vorort Sint-Gilis der flämischen Kleinstadt Dendermonde. Es ist zehn Uhr, als er am "Märchenland" klingelt. Er habe eine Frage, sagt er, gelangt so in die Kinderkrippe und stürzt sich sofort auf die Babys. Mit dem Messer sticht er auf die Kleinen ein. Dann läuft er in die Zimmer mit den älteren Kindern, wo sich ihm Mitarbeiter der Tagesstätte in den Weg stellen. Auch auf die Erwachsenen sticht er nun ein. Jene Kinder, die bereits laufen können, versuchen zu entkommen.

Als er die Krippe verlässt, sind nach Angaben der belgischen Staatsanwaltschaft zwei höchstens dreijährige Kinder und eine Betreuerin tot, elf weitere Kinder und zwei Frauen sind verletzt. Mehrere von ihnen haben schwere Stichwunden erlitten und sind in Lebensgefahr. Am Nachmittag stirbt eines der schwerverletzten Kleinkinder im Sint-Blasius-Krankenhaus, die anderen werden ins Universitätsspital nach Gent verlegt.

Nach der Bluttat setzt sich der Mann wieder auf sein Fahrrad und fährt damit in den Nachbarort Lebbeke. Erst nach knapp drei Kilometern ist die Flucht zu Ende, eine Polizeistreife überwältigt den Täter bei einer Aldi-Filiale. Noch immer hat er das Messer dabei, mit dem er zuvor auf die Babys und Kleinkinder eingestochen hat. Zum Tatzeitpunkt befanden sich nach Angaben von Staatsanwalt Christian Du Four 18 Kinder im Alter von bis zu drei Jahren sowie sechs Erwachsene in der Einrichtung.

Am Ort des Verbrechens herrschte am Freitagmittag Chaos, zahlreiche entsetzte Eltern versammelten sich vor der Kindertagesstätte, Krankenwagen transportieren unentwegt Verletzte ins Spital. Die unverletzt gebliebenen Kinder wurden von der Polizei in ein Krisenzentrum gebracht und dort von Psychologen betreut. Katastrophenalarm wurde ausgelöst und alle Schulen, Kindergärten und Horte in der Region geschlossen. Aus Sicherheitsgründen durften die Eltern ihre verletzten Kinder im Krankenhaus zunächst nicht besuchen. Sie mussten sie zuerst auf Fotos identifizieren.

"Überall ist Blut, es ist unglaublich", sagt Theo Janssens, der stellvertretende Bürgermeister der Kleinstadt nordwestlich von Brüssel. Er war als einer der Ersten am Ort des Verbrechens. "Die kleinsten Babys waren in ihren Bettchen, sie müssen geschlafen haben", sagt Janssens. "Wir sind entsetzt über diese Tat", sagt der belgische Innenminister Guido De Padt, der sich unverzüglich nach Dendermonde begeben hat. "Viele Eltern haben einen Schock." Die Angehörigen müssten psychologisch betreut werden.

Bisher unbestätigten Medienberichten zufolge soll es sich bei dem Mann um einen psychisch Kranken handeln. Er sei bei seiner Flucht auf dem Weg zu einer psychiatrischen Anstalt gewesen, wo er angeblich in ambulanter Behandlung sein soll. Da der Mann keine Ausweispapiere bei sich trägt, ist über seine Identität jedoch wenig bekannt. Er soll etwa 28 bis 45 Jahre alt sein. Möglicherweise stammt er aus der Stadt Dendermonde. Dort war der weiß geschminkte Mann bereits am Morgen im Stadtzentrum und am Bahnhof aufgefallen, sagte der Bürgermeister Piet Buyse.

Auch über das Tatmotiv war zunächst nichts bekannt. Der Mann sollte am Freitagabend dem Haftrichter vorgeführt werden. Mit der Bluttat werden in Belgien Erinnerungen an die grausamen Mädchenmorde des Vergewaltigers Marc Dutroux wach. Er hatte seine Opfer in einem Keller eingesperrt. Die für Soziales zuständige flämische Regionalministerin Veerle Heeren kündigte Ermittlungen zu den Sicherheitsvorkehrungen der Kinderkrippe an.

In der Kindertagesstätte "Fabeltjesland" (übersetzt: "Märchenland") verbreitete der Messerstecher Angst und Schrecken. Die Behörden setzten ein Kriseninterventionsteam ein, um Eltern und Mitarbeitern beizustehen. Fotos: AP, AFP

Morde an Kindern Kriminalität in Belgien Mordfälle SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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LEUTE

Andrew Blair , 28, arbeitsloser Brite, sucht per Anzeige auf seinem Porsche nach einem neuen Job. Nachdem er seine Stelle in Dubai verloren hatte, schrieb er kurzerhand mit schwarzem Textmarker ein Stellengesuch plus Telefonnummer auf den mehr als 40 000 Euro teuren weißen Porsche. "Wenn ich keinen neuen Job finde, dann kann ich mir auch das Auto nicht mehr leisten", sagte der Ex-Bau-Manager dem Sender BBC am Freitag. "Es sind hoffnungslose Zeiten, also braucht man neue Ideen."

Hans-Josef Becker , 60, Erzbischof von Paderborn, widert das RTL-"Dschungelcamp" mit seinen Ekel-Prüfungen an. Madencocktails und Regenwurmdesserts schlügen ihm "auf den Magen", sagte er am Donnerstagabend beim Medienempfang des Erzbistums. Die "inszenierte Abscheulichkeit" sei "mit den erschütternden Bildern echter, bitterer Armut" in der Welt nicht zu vereinbaren.

Patrick Swayze , 56, krebskranker Schauspieler, will eine Autobiografie veröffentlichen. Der Darsteller aus "Dirty Dancing" und seine Frau Lisa werden bei dem Projekt zusammenarbeiten, wie seine Sprecherin dem US-Fernsehsender E! sagte. Swayze war kürzlich wegen einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Bei ihm war im März 2007 Krebs diagnostiziert worden.

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MITTEN IN . . .

Singapur

Kairo

Stockholm

Paris

Im Centre Pompidou haben sie die Maler vertrieben, was schade ist. Jetzt, da sie weg sind, vermissen wir sie. Man sah ihnen, auf einer Café-Terrasse sitzend, gerne zu, studierte verschiedene Techniken der Kundenansprache. Sie waren nicht besonders gut, nicht zu vergleichen mit denen oben an der Place du Tertre neben Sacré-Cour, aber das störte nicht. Niemand muss sich malen lassen. Erfolgreich waren die, bei denen die Ähnlichkeit ihren Modellen schmeichelte. Nun sind sie weg, die Stadtbürokratie wollte sie nicht länger dulden. Auf dem Platz Georges Pompidou locken weiterhin Gaukler, doch kann man sie vom Café aus nicht sehen: Pantomimen, Jongleure, Feuerschlucker, manchmal auch ein Maler. Einer kann Che Guevara mit verbundenen Augen malen. Wenn er fertig ist, sind alle verblüfft, spenden Beifall und Kleingeld. Eine Karriere fängt so nicht an. Gerd Kröncke

Plötzlich ist der Konsument wieder König, ja Retter in der großen Krise, und wird mit Privilegien und Aktionen umgarnt. Zum Beispiel in Singapur, einem Land mitten in der schlimmsten Rezession seiner Geschichte. Um uns in Kauflaune zu halten, verteilen nun auch all jene Restaurantketten und Kleidergeschäfte Treuekarten, die bisher noch keine hatten. Da gibt es eine thailändische Kette, die kürzt jede Rechnung grundsätzlich um 10 Prozent, 20 Prozent sind es, wenn man im Monat Geburtstag hat. Und neu kriegt man nun auch noch, kumulierbar (!), zusätzliche 5 Prozent Abschlag, wenn man zweimal in einer Woche hier isst. Alles wird billiger, sogar die Autozulassungsgebühren, sonst etwas vom Teuersten hier. Und der Mitgliederbeitrag gewisser Golfclubs bricht geradezu dramatisch ein. Es gibt schon welche ab 100 000 Singapur-Dollar. Da ist noch Spielraum drin. Oliver Meiler

Falafel brutzeln in der Pfanne, Pizzateig wird in die Luft geworfen, und überall duftet es nach frisch gemachtem Gebäck: In Kairo wurde gerade die 41. Internationale Buchmesse eröffnet, eine der wichtigsten in der arabischen Region. Sie gleicht eher einem Rummelplatz: Schreiende Kinder, die noch Zuckerwatte oder Popcorn haben wollen, überall riecht es nach Essen, und ein Zug, der die Besucher durch die Open-Air-Anlage fährt, ist mit Liebespärchen und Großfamilien besetzt. Der Andrang ist groß. 28 Länder, darunter auch Deutschland, sind auf der Messe durch 743 Verleger vertreten. Doch Literatur ist auf dieser Buchmesse nicht das Wichtigste. Man kann sich ja auch an anderen Dingen erfreuen: Pizza aus Italien etwa, Hamburger aus Amerika und Shawerma, ein Fleischgericht, aus dem Libanon. Wie heißt es in Ägypten? Ein leerer Bauch studiert nicht gern. Karin El Minawi

Summ. Ratsch! Klonk! Polternd frisst der Dosenpfandautomat des Supermarkts die Wertstoffe der vergangenen Woche aus meiner vollen Plastiktüte. Zeit, mal wieder über sein Konsumverhalten nachzudenken: Wer hat eigentlich die ganzen Biere und Colas getrunken? Da sind doch viele, zu viele Kalorien drin? Pfand hin oder her - ist das nicht umweltschädlich? Sollte ich mehr Leitungswasser trinken? Es ist ein Moment des Zweifelns, der nach einer guten Tat verlangt. Schwedische Supermärkte haben extra für diesen Moment einen wunderbaren Knopf an ihren Pfandautomaten angebracht. Er ist gelb und heißt "Biståndknappen" - auf Deutsch: "Beistandsknopf". Per Daumendruck spende ich meine gesamten 11,50 Kronen Pfand (gut 1 Euro) für Entwicklungshilfeprojekte in Afrika. Wie leicht das geht! Mit leerer Tüte und gutem Gewissen gehe ich - zum Einkaufen. Gunnar Herrmann

Fotos: Kröncke, ddp(2), AP

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Schlag gegen Kinderporno-Ring

Polizei durchsucht bundesweit Wohnungen von 465 Verdächtigen

Kassel - Erstmals ist in Deutschland ein Ring von Pädophilen gesprengt worden, der Kinderpornographie per Mobiltelefon verbreitet hat. Bei 465 Razzien in ganz Deutschland seien Zehntausende Telefone, Computer und Datenträger beschlagnahmt worden, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitag in Kassel mit. Festnahmen habe es bei der „Operation Susi" nicht gegeben. "Es ist nicht der größte Fall in der deutschen Geschichte, aber er hat eine ganz außerordentliche Dimension. Und zum ersten Mal sind MMS (Bild-SMS) in großem Umfang zur Verbreitung genutzt worden", so die Staatsanwaltschaft. An den Durchsuchungen in allen 16 Bundesländern waren am Dienstag und Mittwoch etwa 1000 Polizisten beteiligt. Dabei seien mehr als 600 Telefone, Hunderte Computer, Tausende Festplatten, USB-Sticks, Speicherkarten und mehr als 16 000 CDs, DVDs und Videos beschlagnahmt worden. "Wir wissen jetzt noch nicht, ob es einen führenden Kopf gab oder nicht", sagte Einsatzleiter Klaus Quanz. Nach Angaben von Oberstaatsanwalt Hans-Manfred Jung wird gegen den Großteil der Verdächtigen wegen des Besitzes oder der Beschaffung von Kinderpornographie ermittelt, was Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren nach sich ziehen kann. dpa

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Aqua Gaga

Kanalisiert, mystifiziert, privatisiert: Über unseren Umgang mit Wasser, der noch nie so irrational war wie heute / Von Stefan Gabányi

Während täglich mehrere 100 Millionen Liter Wasser durch das marode Leitungssystem Londons im Erdreich versickern, lässt sich das erlesene Publikum in den schicksten Restaurants der City Jahrtausende altes Wasser kredenzen, das aus Tiefenbohrungen in der Arktis stammt. So manch einer dieser Luxus-Junkies dürfte sein Vermögen unter anderem Margaret Thatchers Idee verdanken, die Londoner Wasserwirtschaft zu privatisieren. Dies brachte den beteiligten Investoren Gewinnspannen im zweistelligen Prozentbereich, den Kunden aber ebenso hohe Wasserpreissteigerungen. Die angekündigte Sanierung der Versorgungsleitungen kam dagegen nur sehr zögerlich voran, dafür wurde vielen Londonern in den heißen Sommern Mitte dieses Jahrzehnts eine ihrer liebsten Freizeitvergnügungen untersagt: das Rasensprengen.

Nun gehören Verschwendung und Profitgier zweifellos zum Wesen unserer Wirtschaftsordnung, im Umgang mit Wasser allerdings erscheint solches Verhalten als lebensbedrohende Dummheit. Ob Wasser überhaupt eine Ware sein kann, oder ob der Zugang zu sauberem Trinkwasser nicht eher als Menschenrecht zu gelten hat, das ist seit längerem ein heiß umstrittenes Thema diverser UN-Gremien, Welthandelsorganisationen und NGOs. Während der Weltwasserentwicklungsbericht der Vereinten Nationen angesichts einer Milliarde Menschen, die ohne sauberes Trinkwasser leben, von "Wasserdeprivation" spricht, wittern internationale Konzerne enorme Gewinne in der privatwirtschaftlichen Nutzung von Grundwasser.

Gegen den Warencharakter spricht zwar die existenzielle Bedeutung, die Wasser für jegliches Leben auf unserem Planeten hat. Angesichts der natürlichen Begrenzung und ungleichmäßigen Verteilung der globalen Vorräte ist Wasser aber auch ein strategisches Gut.

Wer den Zugang zum Wasser kontrolliert, hat die Macht. Und das gilt nicht erst, seit die Getränkeindustrie ihre Liebe zum "blauen Gold" entdeckt hat. Das wusste auch schon der Perserkönig Dareios, der als Zeugnis seiner Weltherrschaft Krüge mit Wasser aus Donau, Nil und Indus in seiner Schatzkammer verwahrte. Die frühen Reiche des Vorderen Orients wären ohne ihre ausgeklügelten Bewässerungssysteme nicht in der Lage gewesen, die stetig wachsende Bevölkerung zu ernähren. Funde von Abwasserkanalsystemen zeigen, dass bereits in der Antike bekannt war, wie wichtig sauberes Grundwasser für die Trinkwasserversorgung ist. Dieses Wissen ging im Mittelalter verloren, und so war es wegen des fäkalienverseuchten Brunnenwassers in den Städten häufig gesünder, seinen Durst mit alkoholischen Getränken zu stillen.

Den Stoff dazu lieferten vor allem Klöster. Nahezu alle Mineralwasserbrunnen und Heilquellen befanden sich bis zur Säkularisation im Besitz des Klerus. Neben ökonomischen Interessen spielte dabei auch die Kontrolle über die sakrale Macht des Wassers eine wichtige Rolle: seine Bedeutung für Reinigungsrituale, die in Form von Fußwaschungen, Taufe und ähnlichem in nahezu jeder Religion als Voraussetzung für die Kommunikation mit höheren Wesen zu finden sind.

Als sich die Kirche zahlloser Quellen bemächtigte, die bereits vorchristlichen Kulten gedient hatten, ging es auch darum, heidnische Fruchtbarkeitsriten in den Griff zu bekommen, die besonders im Volksglauben noch ihr Unwesen trieben. Das lustvolle Geplansche griechischer Nymphen musste den trügerischen Gesängen von Nixen weichen, deren einziges Ziel es war, ihre Opfer dem Ertrinkungstod zuzuführen. Die inspirierende Sinnlichkeit verwandelt sich, christlicher Moralvorstellung entsprechend, in einen bedrohlichen Strudel, der die Menschen - M nner vor allem - ins Verderben reißt.

Weitaus realer ist die Bedrohung der Stadtbevölkerung durch die prekäre Trinkwasserversorgung, und umso begehrlicher blickt das aufgeklärte Bürgertum auf die Mineralwasserquellen der Kirchenfürsten. Entsprechend groß ist dann auch der Erfolg eines gewissen Jacob Schweppe, der 1783 eine Technik zur Anreicherung von Brunnenwasser mit Kohlensäure patentieren lässt (und dessen Name bis heute in einer Limonadenmarke fortlebt).

Diese "Sodawasser" genannte Mischung wurde zwar als Heilmittel angeboten - die Kohlensäure, so dachte man, würde das Wasser reinigen -, der Mann von Welt nahm Soda allerdings lieber in Kombination mit alkoholischen Getränken zu sich. Wasser, gleich wie heilsam es sei, konnte doch nie mehr sein als ein profaner Durstlöscher. Der Gastrosoph Brillat-Savarin drückte es so aus: "Wasser ist das einzige Getränk, das den Durst wirklich stillt - deshalb kann man auch immer nur eine geringe Menge davon trinken." Es sei aber ein Vorrecht des Menschen, im Gegensatz zum Tier auch ohne Durst zu trinken, denn im Gegensatz zum Tier kenne der Mensch auch die Furcht vor der Zukunft. Nach dieser Auffassung war Wasser eher ein notwendiges Übel zur Herstellung gehaltvollerer Getränke. (In reiner Form scheint es noch heute allemal für Tiere gut genug: in einem niederbayerischen Dorf, dessen Brunnen für die angeblich lebensverlängernde Wirkung seines Wassers bekannt ist, werden neuerdings russische Neureiche vorstellig, die ihre Aquarien damit befüllen möchten.)

Möglicherweise diente die schlechte Wasserqualität früher als willkommene Ausrede für den Alkoholgenuss, womit sich auch die allgegenwärtigen Euphemismen erklären ließen, die hochprozentigen Alkohol als Lebenswasser mystifizieren; nicht nur die in romanischen Sprachen üblichen Ableitungen von aqua vitae, auch der slawische Wodka (Wässerchen) gehört hierher, ebenso wie Whisky, eine Verballhornung von uisghe, dem gälischen Wort für Wasser.

Die Geringschätzung, die Wasser hier entgegenschlägt, galt wohl vor allem der Nüchternheit des Wassertrinkers, was der große Rauschfreund Baudelaire wie folgt zusammenfasst: "Wer nur Wasser trinkt, hat etwas zu verbergen." Doch selbst die neue puritanische Bürgerelite trank Wasser vorzugsweise in Form von leistungssteigerndem Tee oder Kaffee. Die alte Elite kurte derweil in feudalen See- und Heilbädern, was darauf hinauslief, tagsüber mit Heilwasser zu gurgeln und sich abends mit Champagner volllaufen zu lassen.

Und heute?

Verglichen damit, benimmt sich der heutige Business-Adel geradezu spartanisch. Sein 24/7-Stundenplan degradiert Körper und Geist zur Ressource, auf deren Ergiebigkeit streng zu achten ist. Gesundheit hat für die ferngesteuerten Blackberry-Klons nichts mit persönlicher Lebensqualität zu tun, sondern nur noch mit Effizienz. Sichtbaren Ausdruck findet diese Haltung heute in den Plastikwasserflaschen, ohne die sich kein standesbewusster Großstädter im Büro oder Fitness-Club blicken lässt.

Da aber auch in diesen Kreisen weiterhin Alkohol getrunken wird - und sei es bloß, um Weltläufigkeit und Kennerschaft unter Beweis zu stellen -, wählt man nicht nur den passenden Wein zum Essen, sondern auch das passende Wasser zum Wein. Gerne hilft dabei der Wasser-Sommelier, die neue Sternschnuppe am Gastronomie-Himmel, erstmals Anfang des Jahrtausends in Manhattan gesichtet und nun auch in Berlin vertreten, wo einschlägige Lokale Wasserkarten mit über 40 Positionen auslegen. Nur Hedonisten alter Schule werden hier einwenden, dass man in Berlin noch nie wusste, was Lebensart ist.

Moderne Büromenschen, tüchtig, dynamisch und faltenfrei, finden es dagegen anregend, die Mineralität von Weißwein und Wasser zu diskutieren und wissen es zu schätzen, wenn die angebotenen Marken auf der Karte gleich nach ihrem Natriumgehalt geordnet sind. In beispielhafter Verinnerlichung protestantischer Verzichtsethik wird Wasser selbst zum Genussmittel deklariert - Gourmet-Wasser nennt sich das dann.

Nur Hinterwäldler bestellen so etwas, aus profaner Lust am Aroma, mit einer Zitronenscheibe drin und beeinträchtigen damit das filigrane Zusammenspiel von Mineralstoffen und Spurenelementen; auch Eiswürfel gelten als Fauxpas, es sei denn - so der Wasser-Sommelier - sie bestünden aus eben dem Wasser, das man im Glas hat.

Wasser scheint also erst interessant zu werden, wenn es einen gewissen Zusatznutzen verspricht, sei er gesellschaftlicher, gesundheitsfördernder oder spiritueller Natur (wie beispielsweise auch Weihwasser). Losgelöst von seiner eigentlichen Funktion als Lebensmittel erscheint es jetzt als sogenanntes Lifestyle-Produkt, als etwas, das in erster Linie wegen einer extravaganten Verpackung, exotischen Herkunft oder spezieller Eigenschaften gekauft werden soll. Im Angebot sind derzeit unter anderem: japanisches Quellwasser, norwegisches Gletscherwasser, tasmanisches Regenwasser, esoterische Vollmond-Abfüllungen für den harmonisierenden Schwingungsausgleich, billiges Tafelwasser in absurd teuren Designer-Flakons, teures Südsee-Vulkangesteins-Wasser in billigen Plastikflaschen (mit Kieselsäure zur Stärkung von Bindegewebe und Knochenaufbau), Brunnenwasser aus Tennessee, das vor Ort für 9,25 Dollar 12-Liter-Kasten zu haben ist, in einem mit modischen Glitzersteinchen verzierten Fläschchen dann aber 65 Dollar kostet und gerne in Händen von Klatschspalten-Größen abgelichtet wird, und schließlich noch französisches Mineralwasser im Zerstäuber für die erfrischende Gesichtsdusche - es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis wir uns auch die Haare mit Exklusivsprudel waschen.

Der globale Flaschenwassermarkt jedenfalls wächst jährlich um rund zehn Prozent. In den Industrieländern allerdings scheint ein gewisser Sättigungsgrad erreicht, und auch Boykottaufrufe machen dem Handel zu schaffen. Besonders in den USA werden zunehmend Stimmen laut, die die Rückkehr zum Leitungswasser propagieren. Sie argumentieren mit dem Vorwurf, dass ein Großteil der angebotenen Flaschen nur gefiltertes Leitungswasser enthält, sowie mit der Umweltbelastung durch weite Transportwege und die exzessive Verwendung von PET-Flaschen, deren Herstellung Rohstoffe verschwendet und reichlich chemische Gifte in die Atmosphäre absondert. Auch ihre Entsorgung bereitet Probleme: Tatsächlich landen, allen vollmundigen Recycling-Versprechen der Hersteller zum Trotz, noch immer Dreiviertel der jährlich verbrauchten 1,5 Millionen Tonnen Plastikflaschen auf dem Müll, was zu Grundwasserverschmutzung führt.

Das Hauptanliegen der Flaschengegner aber ist hochpolitisch, und tatsächlich geht es hier um eine der großen Zukunftsfragen, nämlich um die zunehmende Privatisierung von Wasserquellen: Die großen Abfüller, allen voran die beiden Marktführer Nestlé und Coca-Cola, erwerben schon seit Jahren Nutzungsrechte für Wasserreservoirs in aller Welt, die sie ohne Rücksicht auf die umliegenden Gemeinden ausbeuten. Um den Bedarf für ihre internationalen Marken zu decken, pumpen Nestlé und Co. dabei oft weit mehr Wasser ab, als die Region vertragen kann. Die Folge sind drastisch steigende Wasserpreise und sinkende Grundwasserspiegel, was besonders regenarme Gegenden in Agrarländern trifft.

Was diesen Ländern fehlt, ist der sichere Zugang zu sauberem Trinkwasser, was sie stattdessen bekommen, sind verdorrte Felder und Plastikflaschen, die gefiltertes Grundwasser enthalten und zu Preisen angeboten werden, die sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht leisten kann. Dass Nestlé sein speziell für den Markt der Schwellenländer konzipiertes Wasser unter dem Namen "Pure Life" anbietet, erscheint nicht minder zynisch als der Spruch, mit dem Coca-Cola sein Konkurrenzprodukt "Dasani" in Indien bewirbt, wo die Firma einen Brunnen nach dem anderen abpumpt: "Can't live without it."

Die Rechtfertigungsversuche der Wasserproduzenten können getrost als Augenwischerei abgetan werden: Weder ist das abgefüllte Wasser so hochwertig wie behauptet (im Gegenteil: Um durch längere Lagerung mögliche Eintrübungen zu vermeiden, wird selbst wertvolles, mineralreiches Quellwasser vor der Abfüllung destilliert), noch steht der Nutzen der ökologischen Projekte, mit denen sich die Konzerne auf ihren Internetauftritten schmücken, in einem halbwegs akzeptablen Verhältnis zum Schaden, den ihre Wasserbewirtschaftung anrichtet. Tatsache bleibt: Wasser, das privatwirtschaftlich genutzt wird, soll Profit bringen.

Dem Human Development Report der Vereinten Nationen zufolge wäre pro Jahr ein Betrag von 10 Milliarden US-Dollar nötig, um die Anzahl derjenigen Menschen, die keinen Anschluss an Leitungs- und Abwasserkanäle hat, bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Das entspricht, so der Bericht weiter, nicht einmal der Hälfte dessen, was in reichen Ländern jährlich für Flaschenwasser ausgegeben wird.

Verschärft wird die Lage durch die Folgen von Klimawandel und Bevölkerungswachstum. Einmütig konstatieren Gegner wie Befürworter der Wasserprivatisierung eine weltweite Wasserkrise, und das US-Geheimdienstzentrum NIC sieht eine wachsende Gefahr in zunehmenden Ressourcenkriegen (wie ja auch die in Darfour begangenen Grausamkeiten ursprünglich nicht von religiösen Konflikten oder der Willkür ominöser Reitermilizen ausgelöst wurden, sondern von zunehmender Dürre und damit verbundenem Migrationsdruck).

Angesichts solcher Horrorszenarien stellt sich die Frage, ob es weiterhin notwendig ist, Wasser über alle Weltmeere nach Deutschland zu verfrachten, wo man bereits die Wahl zwischen 500 einheimischen Marken hat. Ob der Welt auf ihrem Weg zu einem dringend nötigen Bewusstseinswandel vielleicht etwas von dem naiven Pragmatismus der Amerikaner gut täte, die den Konsum von Flaschenwasser kurzerhand als stilistischen Fehlgriff brandmarken?

"Bottled water is now unforgivably '90s", hieß es kürzlich im Time Magazine, und weil Wasser aus Flaschen also von vorgestern ist, bieten die ersten New Yorker Restaurants ihren Gästen lieber nur noch Leitungswasser an.

Zugang zu Trinkwasser sollte ein Menschenrecht sein. Ist es aber nicht.

Der Wasser-Sommelier weiß: Nur Hinterwäldler bestellen Zitrone dazu.

Wasser über das Meer zu fahren ist eine Frage der Moral und des Stils.

Sie baden gerade Ihre Füße darin! Mrs. Winston F. C. Guest (aka CZ Guest) an ihrem neogriechischen Pool, vor der Villa Artemins am Ozean in Palm Beach, Florida, 1955. Foto: Slim Aarons/Getty Images

Trinkwasser SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Berlin, Französische Straße

von Evelyn Roll

Die Schlagzeile hieß: "Ministerpräsident Oettinger wirbt für Bad Bank". Beim Weiterblättern dachte ich: Bad Gastein, Bad Tölz, Bad Orb. Aber Bad Bank? Kenne ich gar nicht, muss ein Kurort in Baden-Württemberg sein, auf der Schwäbischen Alb wahrscheinlich, da war ich erst einmal. Nun sprach Günther Oettinger nicht in seiner Eigenschaft als Tourismusexperte, sondern als zu den Staatsmonopolkapitalisten übergelaufene schwäbische Hausfrau, weswegen man sich Schwäbische Alb zukünftig bitte nur noch mit "p" geschrieben denken darf.

Bad Bank ist kein Kurort, sondern Englisch: eine schlechte, böse Bank. Bad Bank, Good Bank. Demnächst gründen wir von den zukünftigen Steuergeldern unserer Kinder, Enkel und Urenkel so eine schlechte, böse Bank, die den dann schon allein durch diesen kleinen sprachlichen Trick wieder reingewaschenen armen "notleidenden", guten Banken alle Risikopapiere abkauft. Die Verluste müssen, so hat Stamokap-Oettinger das formuliert, "sozialisiert, gestempelt und verwaltet" werden.

Die Inflation von unverschämter Umdeutungs- und Verschleierungssemantik, mit der die Finanzjongleure versuchen, ihre Verantwortung auf die Allgemeinheit abzuwälzen, ist eine bemerkenswerte Begleiterscheinung dieser Finanzkrise. Als aus sagenhaften Rendite- und Profitchancen faule Kredite und Nichts-mehr-Wertpapiere geworden waren, wurden sie wie von Zauberhand umgetauft in "notleidende Kredite" und "notleidende Papiere". So wurden die Händler, die das Risiko mit dem Geld ihrer Kunden eingegangen und nebenbei hohe Beträge in die eigene Tasche gescheffelt hatten, über Nacht von Tätern zu Opfern, zu Notleidenden, wie ihre notleidenden Banken.

Weil aber immer noch niemand hinreichend Mitleid hatte, hießen die notleidenden Papiere plötzlich in allen Wirtschaftsteilen "toxisch", "giftig" und "verseucht". Sie "kontaminierten Portfolios" und "brannten Milliardenlöcher" in die Bankbilanzen. Alarmvokabeln aus der Abteilung Umwelt signalisieren: Jetzt ist die Allgemeinheit bedroht. Der Staat muss was tun. Rettet die Brandstifter. Vor Schreck nahm die deutsche Regierung der reichen Allianz die Entsorgung der Dresdner Bank ab. Die Briten planten eine Versicherung "für den Fall, dass sich notleidende Vermögenswerte in noch katastrophaleren Giftmüll verwandeln".

Inzwischen hat die Deutsche Bank rund ein Viertel ihres Wertes verloren und die Müllhaldenmetaphorik ist auch schon nicht mehr, was sie einmal war. Also muss jetzt die Bad Bank her. So sind die armen, notleidenden Banken nicht nur auf einen Schlag ihre Verantwortung und Verpflichtungen los, sondern, weil wertende Sprache nun einmal mit Gegensatzpaaren operiert, auch sofort wieder gute Banken. Tolle Sache. Kostet 200 Milliarden Euro. So viel wie der Bundesetat für Bildung und Forschung. Für die nächsten 20 Jahre. Und bis es wieder losgeht mit den Profiten, legen sich die Guten in das, was sie früher soziale Hängematte nannten: auf Staatsknete nach Bad Bank. Gute Erholung!

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Fragen der Leser

Bissiger Liebling

Frau Lydia Koller aus München interessieren die schlafenden Hunde, die man nicht wecken soll

von Birgit Weidinger

Sehr geehrte Frau Koller,

im wintrigen Monat Januar, wenn das Bett für den hundemüden Menschen auch tagsüber der einzig wahre Aufenthaltsort wäre, beantworten wir gerne Ihre Frage, streifen dabei auch das Thema "Tierschlaf". Der ist intensiver erforscht als beispielsweise der Büroschlaf. Denn das Einnicken während der Arbeit findet in der Regel eher kurzfristig statt und macht ausführliche Beobachtungen bürorelevanter Ruhe-Reaktionen schwierig. Im Fall des Tierschlafs hat die Forschung viel Staunenswertes und Kurioses ermittelt. Dem Laien ist bekannt, dass die Katze im Schlaf schnurrt, die Ente vorsichtshalber beim Ruhen ein Auge offen lässt, der schlafende Haushund mit dem Schwanz wedeln kann.

Wachend oder schlafend - eine Menge kontrastreicher Redensarten bezieht sich auf den Hund, einen guten Hund heißt man ihn gerne. Häufiger jedoch sind negative Beurteilungen: Da ist einer hundsgemein, ein krummer Hund oder Hundsfott. Ein anderer kommt auf den Hund, sieht aus wie ein begossener Pudel, und bei einem Hundewetter ("It rains cats and dogs", sagen dazu die Engländer) schickt man nicht mal einen Hund vor die Tür.

So gehört er zu den Menschen, als Gefährte und Begleiter einerseits, aber auch geschmäht , beschimpft, gehasst:"Unter Hunden wird gefunden /auch eine Menge von Lumpenhunden, /wie unter uns - gemeine Köter,/ Tagediebe, Neidharde, Schwerenöter," dichtete illusionslos Heinrich Heine. Ob Lumpenhund oder Schwerenöter: "In warmen Morgenländern, wo man die Hunde wegen ihres Geruches nie in den Zimmern und Häusern duldet, ist der Hund oft ein Gegenstand der äußersten Verachtung". (Adelungs Wörterbuch). Verächtlich sagt man, da sei einer auf den Hund gekommen oder er sehe aus wie ein begossener Pudel.

Die Warnung Ernst Jandls: "Zerbrechlich ist das Hundevieh, drum wirf es aus dem Fenster nie" dürfte manchem übertrieben erscheinen. Doch dass man keine schlafenden Hunde wecken, also ein Problem nicht unnötig zur Sprache bringen sollte, ist unbestritten. Und gilt auch für die Katze: "Il ne faut pas reveiller le chat qui dort", das beherzigen die Franzosen. Diese Mahnungen richten sich seit jeher an Frauen, die ihre gutmütigen Männer mit absurden Ideen reizen. Übrigens: Wenn der Hund im Schlaf erschreckt wird, könnte er zubeißen. Achtung also vor Streicheleinheiten während der Liebling ruht. Man zitiere lieber Schopenhauer, der sich "vor der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke der Menschheit" nur erholt, weil es die Hunde gibt, "in deren ehrliches Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann".

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Illustration: Images.com/Corbis

Medizin und Wahnsinn, Folge 63

Lust auf mehr

von Werner Bartens

Der Speiseplan tendiert zum Kleinteiligen. Einmal B124, aber ohne Gurken und Benzoesäure, bitte. Auf den Tellern wimmelt es von Omega-3-Fettsäuren, Isoflavonoiden, Carotinoiden und Tausenden bedrohlich klingenden Substanzen, die verdächtig oft auf -iden enden. Appetit macht das nicht. Vollständige Lebensmittel scheinen hingegen bedrohlich zu sein. Darf man überhaupt essen, was sich nur mit Mühe in seine molekularen Bestandteile aufspalten lässt?

Apfelsinen zum Beispiel. Weiß denn niemand, wie gefährlich Apfelsinen sind? Isst man zu viele, kann das zum akuten Darmverschluss führen. Das faserige Fruchtfleisch bläht sich im Darm auf und kann ihn verstopfen - steht in jedem Chirurgie-Buch. Man muss allerdings mindestens zwei bis drei Kilogramm Orangen auf einmal essen, bis es so weit kommt - das hat selbst Onkel Dittmeyer zu seinen besten Zeiten nicht geschafft.

Auch Lakritze ist gefährlich. Nicht für die Zähne, das sind Kollateralschäden. Die auch als Bärendreck bezeichnete Süßigkeit kann vielmehr den Kalium-Haushalt und die Nierenleistung beeinträchtigen. Zumindest, wenn man drei, vier Tüten hintereinander verschlingt. Verantwortungsvolle Menschen wissen von solchen Gefahren. Kürzlich wollte ein Kollege, der ohne Süßigkeiten nicht leben kann, wissen, ob es auch für Marmorkuchen einen Grenzwert gibt und ob der nach oben verschoben werden kann, wenn der Marmorkuchen mit Milchkaffee verdünnt wird.

Verdünnt - schönes Stichwort. Denn immer mehr Menschen saufen sich zu Tode. Mit Wasser. Sie verdünnen ihr Blut, bis die Mineralien verrückt spielen. Kaum eine Studentin ohne Nuckelflasche im Seminar. Selbst Marathonläufer straucheln ins Delirium, weil sie trinken, "bevor der Durst kommt" und dann ihre Elektrolyte entgleisen. Warum gibt es wohl den Durst? Man soll auf den Körper hören und ihn nicht bevormunden.

Wenigstens für den Verzehr von Kaugummis kann man Entwarnung geben. Es heißt, die verkleben den Magen, wenn man sie schluckt. Stimmt auch, allerdings muss man mindestens 1,5 Kilogramm hinunterwürgen, damit der Magen zugekleistert ist. Das ist selbst bei Menschen, die sich schlecht von etwas trennen können, unwahrscheinlich.

Umgekehrt gibt es natürlich eine Menge guter Dinge, die man zu sich nehmen kann. Walnüsse haben beispielsweise einen immensen gesundheitlichen Nutzen. Sie senken den Cholesterinspiegel und damit womöglich das Infarktrisiko. Man muss nur täglich mindestens 300 Gramm zu sich nehmen und alle anderen Fette durch Walnüsse ersetzen, damit die Wirkung einsetzt. Ähnliches gilt für Bananen. In ihnen ist Serotonin enthalten, ein molekularer Muntermacher, der als Glückshormon gilt. Allerdings haben es auch Probanden, die nicht den ganzen Tag Walnüsse knacken mussten, nicht geschafft, so viele Bananen zu schälen und zu essen, dass sich ihr Serotoninspiegel nennenswert erhöhte.

Bevor man seine Lebensgewohnheiten umstellt, sollte man sich besser bei einem Chemiker seiner Wahl erkundigen, ob das Zeug auch ankommt, wo es hin soll. Kollagen ist zwar der Stoff, der die Haut elastisch macht. Ihn mit einer teuren Creme von außen draufzupacken, bringt aber nichts, da Kollagen-Moleküle zu groß sind, um die Haut zu durchdringen.

Bleibt noch Senf. Der soll dem Volksglauben zufolge dumm machen. Letztens fragte mich ein Mann, ob es stimme, dass Senf in Wirklichkeit unbedenklich sei. Er müsse ihn aus gesundheitlichen Gründen in rauen Mengen zu sich nehmen. Kiloweise. Ja, er könne ihn unbesorgt essen. Damit gab der Mann sich nicht zufrieden. Er wollte einen Grenzwert. Erst später fiel mir ein, dass ich vergessen hatte zu fragen, welchen gesundheitlichen Grund es geben könnte, kiloweise Senf zu sich zu nehmen.

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Drama

Männer von gestern

von Benjamin Henrichs

1. Szene

Im Berliner Willy-Brandt-Haus, kurz vor Mitternacht. Neben der weltberühmten Willy-Brandt-Statue sitzen zwei müde alte Männer, die Sozialdemokraten Frank-Walter und Franz. Sie schweigen betrübt vor sich hin, eine Minute lang, vielleicht sogar zwei. Es herrscht eine Stille, wie es sie im Theater vorher wohl noch nie gegeben hat. Nach einer langen Szene des Schweigens fällt plötzlich der Vorhang.

2. Szene

Mitternacht, am selben Ort. Franz und Frank-Walter schweigen noch immer, doch nun fängt plötzlich die Statue zu sprechen an.

WILLY: Männer! Liebe Genossen!

Franz und Frank-Walter sind wie vom Blitz gerührt.

WILLY: Männer! Genossen! So kann es nicht weitergehen. Es ist hier ja sogar noch trauriger als im Totenreich.

Die Statue verstummt. Franz und Frank-Walter gewinnen nur langsam ihre Fassung zurück.

FRANZ: Das ist ja unglaublich! Hast du gesehen, was ich gesehen habe? Hast du gehört, was ich gehört habe? Oder habe ich gerade geträumt?

FRANK-WALTER: Nein. Das war kein Traum. Das war Willy.

FRANZ: Willy hat recht.

FRANK-WALTER: Willy hat immer recht.

FRANZ: Wir müssen etwas tun. Aber was? Was sollen wir tun?

FRANK-WALTER: Keine Ahnung. Fragen wir doch Willy!

Frank-Walter stellt sich vor die Brandt-Statue, räuspert sich, schweigt, ermannt sich, dann spricht er zu Willy.

FRANK-WALTER: Lieber Willy! Bitte sag uns, was wir tun sollen! Damit die SPD wieder auf die Beine kommt.

Franz und Frank-Walter schauen die Statue erwartungsvoll an, doch das Standbild schweigt.

FRANZ: Willy sagt nichts mehr.

FRANK-WALTER: Und nun? Was tun wir nun?

FRANZ: Wir warten. Auf den Wähler.

FRANK-WALTER: Also warten wir.

FRANZ: Und was, wenn er kommt, der Wähler?

FRANK-WALTER: Dann sind wir gerettet. Und wenn er nicht kommt, sind wir vernichtet.

Franz und Frank-Walter warten, und während sie warten, schauen sie abwechselnd zur Tür, durch die der Wähler hereinkommen muss, und zum zerknitterten Willy Brandt. Vorhang.

3. Szene

Am selben Ort, Franz und Frank-Walter warten immer noch. Um sich die Zeit zu vertreiben, lesen sie Zeitung.

FRANK-WALTER: Und? Was liest du? Das Drama?

FRANZ: Nein. Nicht das Drama. Ist mir zu blöd. Den Leitartikel lese ich. In der Süddeutschen Zeitung.

FRANK-WALTER: Und was schreiben sie in der Süddeutschen Zeitung?

FRANZ: Dass wir die Partei von gestern sind. Dass du ein Mann von gestern bist. Ein Bürokrat. Kein Charismatiker. Keiner wie Willy.

Die Willy-Brandt-Statue lächelt, Franz und Frank-Walter bemerken es nicht.

FRANZ: Keiner wie Kennedy. Keiner wie Obama.

FRANK-WALTER: Ausgerechnet die Süddeutsche Zeitung! Ausgerechnet die!

FRANZ: Wie meinst du das?

FRANK-WALTER: Eine Zeitung von gestern.

FRANZ: Das kannst du laut sagen!

Die beiden Alten schweigen bitter vor sich hin, und weil dies ein eher deprimierender Anblick ist, fällt nun rasch der Vorhang.

4. Szene

Am selben Ort, später. Franz und Frank-Walter sitzen immer noch brütend da und warten auf den Wähler. Da öffnet sich die Tür, und herein tritt eine sehr blonde Frau. Sie könnte aussehen wie Scarlett Johansson, vielleicht aber auch wie Annemarie Renger.

BLONDINE: Ich komme vom Wähler. Ich soll euch sagen, dass der Wähler heute nicht mehr kommt. Aber morgen kommt er bestimmt, der Wähler.

FRANZ: Dann sind wir gerettet!

FRANK-WALTER: Endlich gerettet!

Die Blondine geht zur Brandt-Statue, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst Willy auf die zerknitterte Stirn. Willy lächelt. Und jetzt lächeln endlich auch Franz und Frank-Walter. Vorhang.

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Die gefährliche Arbeit russischer Anwälte

Nach den Morden in Moskau klagen Juristen über staatliche Repressionen und fürchten um ihre Kollegen

Von Sonja Zekri

Moskau - Wenn Karina Moskalenko Angst hat, dann nicht um sich selbst. Dabei sah es einmal schon so aus, als hätte es sie selbst erwischt. Kurz vor dem Prozessbeginn wegen des Mordes an Anna Politkowskaja kam die Meldung aus Straßburg, dass Moskalenko, Anwältin der Familie der ermordeten Journalistin, mit Quecksilber vergiftet worden sei. Es hätte niemanden erstaunt - Tschetschenien, Russlands Ruf, die internationale Aufmerksamkeit, das war keine gute Mischung. Am Ende stellte sich heraus, dass das Quecksilber nicht ihr galt. Davor wollte man ihr als Verteidigerin von Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowskij die Zulassung nehmen. "Das war ein absurder Versuch, uns einzuschüchtern und den Ruf der Anwälte in den Schmutz zu ziehen", sagt Moskalenko in der Prozesspause im Politkowskaja-Verfahren. Der Fall wird im Militärgericht an Moskaus Kitschmeile Arbat verhandelt, es ist eine Justiz-Farce mit gegängelten Geschworenen und mäßigem Aufklärungswillen. Und derzeit wird er überschattet vom Doppelmord an Moskalenkos Kollege Stanislaw Markelow, und seiner Begleiterin, der Journalistin Anastasija Baburowa. Am Montag wurden beide erschossen, am Freitag ist Markelow auf dem Friedhof in Ostankino im Norden Moskaus beigesetzt worden.

In millionenschweren Geschäftsverfahren gab es schon früher Anschläge und Morde auf Juristen. Und politisch motivierte Prozesse konnten den Verteidigern immer zum Verhängnis werden, etwa den Yukos-Anwälten wie Swetlana Bachmina, die vor kurzem im Gefängnis ein Kind zur Welt brachte. Aber der Mord an Markelow hat den Tod in eine Zunft gebracht, die sonst die Schuld am Sterben anderer verhandelt. Trotzdem sagt Moskalenko: "Früher hab' ich mir Gedanken gemacht. Das ist vorbei." Heute fürchtet sie um jene jungen Anwälte, die mit ihr Tschetschenen vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof verteidigen. "Wir gewinnen jedes Jahr mehr Fälle", sagt sie, "2007 waren es 14, aber allein in diesem Jahr 28. Natürlich reizt das die russische Führung." Und deshalb, so Moskalenko, trägt diese Mitschuld am Tod Markelows: "Sie tut, als wäre einer wie Markelow ein Feind des Staates und des russischen Volkes, und irgendein Radikaler greift dann zur Waffe. Wir Anwälte wären so leicht zu schützen: Man bräuchte nur eine normale Gesellschaft."

Aber Russland ist kein Rechtsstaat. Allein das Niveau der Ermittlungen, sagt Jurij Kostanow, liege noch unter jenem aus Sowjetjahren. "Natürlich gab es damals Rechtlosigkeit, sogar jede Menge. Aber ich habe als Staatsanwalt wegen Mangels an Beweisen die Freilassung eines Angeklagten durchsetzen können, der erschossen werden sollte", sagt er: "Heute ist Gesetzlosigkeit die Regel." Kostanow war 25 Jahre Staatsanwalt und arbeitet seit 15 Jahren als Anwalt, er gehört zum Rat Unabhängiger Juristen; die Ermittlungen im Fall Markelow und Baburowa findet er haarsträubend. Am Tag nach dem Doppelmord habe ein Passant eine Patronenhülse gefunden. "Danach hat das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft eine neue Spurensicherung durchgeführt. Ja, was haben sie denn bei der ersten gemacht?", fragt er. Die Ermittlungen in Kriminalfällen führten heute die Sicherheitsdienste durch, und deren Methode sei einfach: "Sie greifen sich den Erstbesten und schlagen ihn mit dem Kopf gegen die Wand, bis er gesteht." Der russische Präsident Dmitrij Medwedjew ist Jurist, wie Ministerpräsident Wladimir Putin, und beschwört den Rechtsstaat in jeder Rede. Ausgerechnet er aber hat ein Gesetz unterzeichnet, das die Zuständigkeit von Geschworenenprozessen einschränkt, die nun nicht mehr über Fälle von Terrorismus oder Umsturzversuchen entscheiden dürfen. Seit zehn Jahren, sagt Kostanow, werde das russische Recht härter. "Medwedjews Justizreform hat dazu geführt, dass die Richter sich neuerdings mit einer Aura der Unabhängigkeit umgeben. Für unsere geknechteten Richter ist das paradiesisch. Aber das ist auch alles."

99 Prozent aller Strafverfahren in Russland enden mit einem Schuldspruch. Die Tätigkeit als Anwalt sei "eigentlich hoffnungslos", sagt Kostunow. Jungen Leuten, die Juristen werden wollen, rät er ab. Sich selbst sieht er manchmal als Feigenblatt zur Kaschierung eines Unrechtsstaates. Andererseits: "Ein Arzt gibt einen hoffnungslosen Fall auch nicht auf."

"Eine öffentliche Hinrichtung": Freunde und Bekannte trauern um Stanislaw Markelow. Foto: Reuters

Moskalenko, Karina Markelow, Stanislaw Baburowa, Anastasija Anschläge auf Journalisten Mordfälle in Russland Justizwesen in Russland Russisch-Tschetschenischer Konflikt: Grundsätzliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zu nah dran

Reporter kommen - und gehen. Aber was passiert, wenn sie wieder weg sind? Die heikle Geschichte einer Rückkehr / Von Stefan Klein

Ein Brief von B.W. Gnanawathie. Ein Brief mit einer Karte darin. Darauf steht, dass alle meine Träume wahr werden mögen im neuen Jahr. Als sie eintrifft, ist das neue Jahr schon eine Woche alt, aber es ist ja auch ein langer Weg von Nuwara Eliya nach München. Die Adresse hat Gnanawathie, die mit lateinischen Buchstaben nicht vertraut ist, akkurat und in Druckschrift rechts auf den Umschlag geschrieben. Fast akkurat, aber Kreittmarystraße (statt Kreittmayrstraße) ist eigentlich eine Verbesserung, und die Post hat es nicht gestört. Es ist eindeutig ein Neujahrsgruß, aber vielleicht ist es ja mehr als das. Vielleicht soll die Karte sagen, dass ihre Absenderin nicht nachtragend ist und dass sie vergeben hat, was man wohl Schuld nennen muss. Obwohl sie das Wort nicht in den Mund genommen, vielleicht noch nicht mal gedacht hat bei meinem Besuch im Dezember. Sie hat stattdessen einen Ingwertee aufgesetzt. Weil sie nach zwölf Jahren immer noch wusste, dass ich den gerne mag.

Bei Reportern ist das so: Sie bekommen oder suchen sich ein Thema, dann reisen sie los und recherchieren es so gut sie können. Recherchieren heißt: Leuten auf die Pelle rücken, Verstockte zum Reden bringen, Spuren nachgehen, Verborgenes ans Licht holen, Zusammenhänge herstellen und vielleicht auch mal etwas tun, was, nun ja, nicht so ganz den Regeln entspricht. Dann kommt man zurück, schreibt seine Geschichte, und wenn am Ende der Redakteur sagt, da warst du aber ganz nah dran, dann soll das heißen, dass man die Pelle förmlich hat riechen können beim Lesen. Ein hohes Lob. Wie es demjenigen mit der Pelle geht, wenn er sie in der Zeitung beschrieben findet und was überhaupt solche Recherchen mitunter anrichten, erfährt der Reporter vielleicht mal aus einem Leserbrief, vielleicht aus einem empörten Anruf. Aber da ist er dann meistens schon sehr intensiv mit der nächsten Recherche beschäftigt, und an den Tatort zieht es ihn, anders als den Verbrecher, sowieso nur selten zurück.

Im Dezember 1996 hat der Chef der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung eine Idee. Weihnachten, sagt er, ist doch das Thema einer Geburt unter ärmlichsten Verhältnissen, und ob sich daraus für die Weihnachtsausgabe nicht eine Geschichte basteln ließe - über eine Geburt unter ärmlichsten Verhältnissen irgendwo in Asien? Die Frage stellt er mir. Ich bin damals Asienkorrespondent der Zeitung mit Sitz in Singapur. Mir gefällt das Thema, aber ich halte es für kaum machbar. Es sind nur noch zwei Wochen bis Weihnachten, und wo soll ich in der Kürze der Zeit eine arme Hochschwangere hernehmen, die rechtzeitig für den Redaktionsschluss niederkommen wird? Ich rufe Athula an, meinen Mitarbeiter in Sri Lanka, und Athula macht sich auf die Suche. Ein paar Tage später ruft er zurück. Ja, da sei eine im Hochland von Sri Lanka, eine Teepflückerin, und die Geburt sei voraussichtlich nur mehr eine Frage von Tagen. Sie sei einverstanden mit dem Projekt, und ich solle mich auf den Weg machen.

Einverstanden mit dem Projekt: Aber kann sich eine ungebildete Frau aus den Bergen Sri Lankas so ein Projekt, so einen Einbruch in intime Sphären, überhaupt vorstellen? Ist es das in Aussicht gestellte Honorar, das sie so ohne weiteres zustimmen lässt? Egal, Hauptsache einverstanden. Athula führt mich nach der Ankunft in Nuwara Eliya bei den Protagonisten ein, bei der schwangeren Vasantha, bei der Hebamme Gnanawathie, aber nicht als Journalist, sondern als Arzt. Als eine Art Arzt, der sich informieren will über das Kinderkriegen in einem unterentwickelten Land. Das ist zwar gelogen, aber es macht die Recherche einfacher, und was soll schon schlimm sein an so einer kleinen Notlüge? Die Niederkunft ist pünktlich, die Redaktion glücklich, und wenn da eine Irritation sein sollte bei der Hebamme und bei der Mutter, dass der vermeintliche Arzt überall dabei sein muss, auch im entscheidenden Moment, dann ist sie am nächsten Tag wieder vergessen, denn für die Beteiligten hat sich die Sache gelohnt.

Es ist das Jahr 1996, die Süddeutsche Zeitung schwimmt noch in Geld, man darf als Reporter seinen Dank sehr großzügig zum Ausdruck bringen. Die Hebamme Gnanawathi bekommt ein Geschenk, in Deutschland würde man es ein Fresspaket nennen, und für das neugeborene Mädchen wird ein Konto eingerichtet. Ein für srilankische Verhältnisse stattlicher Betrag wird eingezahlt und die Sache so geregelt, dass die Mutter jeden Monat maximal 700 Rupien, seinerzeit knapp zwanzig Mark, abheben darf - für das Kind. Damit wären seine Grundbedürfnisse, oder jedenfalls ein guter Teil davon, gedeckt für die kommenden Jahre. Vasantha, die Mutter, bringt ihr Glück durch die Namensgebung zum Ausdruck. Zwar trägt sie dem Rat des Tempelpriesters Rechnung, der einen Namen empfiehlt, der entweder mit "Poo" oder mit "Mee" oder mit "Qu" beginnt und nennt das Baby Meeduna. Aber sie gibt ihm auch noch einen zweiten Namen, und der lautet Stefanie.

Als ich abreise, habe ich das gute Gefühl, gründlich recherchiert und mich anständig verhalten zu haben. Die kleine Notlüge, gewiss, aber war es letztlich nicht zum Besten der Notbelogenen? Der Stachel ist zu klein, als dass mein Gewissen ihn lange spürte, und selbst wenn da noch etwas anderes wäre, ein Makel, eine unerwünschte Folge des Projekts Armengeburt, wie sollte ich je davon erfahren? Es ist tatsächlich so, unsereins kehrt kaum je an den Ort seiner Recherche zurück, warum auch? Das Thema ist abgehakt, die Geschichte ist geschrieben, in anderen Ländern warten andere Reportagen, Reporter sind beschäftigte Menschen. Doch dann fragt, Jahre später, eine Kollegin in der Redaktion, eine mit einem guten Gedächtnis: Dieses Mädchen aus Sri Lanka, bei dessen Geburt du seinerzeit gewesen bist, du weißt doch, die Geburt im Teefeld, hast du zu dem eigentlich noch Kontakt? Was mag aus dem Mädchen wohl geworden sein? Weißt du, wie alt es jetzt ist?

Solche Fragen, und dann ist da wieder eine Idee. Das Archiv fördert die alte Weihnachtsgeschichte zutage, ein Flug wird gebucht, der srilankische Mitarbeiter von damals erinnert sich gut, ja klar, sagt er am Telefon, natürlich werde er noch mal mitkommen ins Hochland. Ein paar Tage später, wieder ein Tag im Dezember: Der Himmel über den Teefeldern von Nuwara Eliya ist blau, aber die Regenwolken lauern schon. Es regnet oft hier oben in den Bergen, doch jetzt ist die kleine Asphaltstraße noch trocken, und ein Paar Flipflops trommelt hektisch darüber hinweg. Stefanie ist nicht zu Hause, als wir eintreffen in der Siedlung der Teepflückerinnen, die Mutter auch nicht, aber die Nachricht vom Besuch spricht sich schnell herum, und es ist die Tochter, die als Erste auftaucht. Atemlos stürzt das Mädchen herbei, hübsch sieht es aus mit seinen großen, schwarzen Augen, es lacht, es strahlt, es verschwindet im Haus, frisch frisiert und umgezogen stürzt es wieder heraus und beginnt Stühle anzuschleppen für die Besucher. Dann sieht es die Mutter kommen, und erneut trommeln die Flipflops. So ein Tag, so eine Aufregung.

Es ist ein schöner Empfang. Alle freuen sich über das Wiedersehen, und in die Freude scheint sich auch ein bisschen Stolz zu mischen, dass sich doch alles recht gut gefügt hat in den vergangenen zwölf Jahren. Meeduna Stefanie hätte ja eigentlich ein Junge werden sollen, endlich ein Junge nach den beiden Töchtern, aber die Eltern haben die Enttäuschung nicht an ihr ausgelassen. Sie haben ihre Jüngste nicht in die Teeplantage geschickt, sondern in die Schule, wo sie sich gut macht. Sie ist jetzt in der siebten Klasse und träumt davon, einmal Ärztin zu werden. Die zweitälteste Subaletchumy ist drei Klassen weiter und will Lehrerin werden, und die älteste Shanmugaswary ist fertig mit der Schule und arbeitet in einer Fabrik, in der falsche Wimpern hergestellt werden. Drei, die ihren Weg zu machen scheinen wie überhaupt die ganze Familie: Aus der Bretterbude von einst ist ein kleines Häuschen aus Stein geworden, sogar mit elektrischem Strom.

Wir besuchen B. W. Gnanawathie, die Hebamme. Vasantha kommt mit, Stefanie auch. Es ist nicht weit. Die kleine Straße führt am Tempel vorbei, an der Kirche, dann kommt schon das kleine Krankenhaus, und dahinter ist die Dienstwohnung der Hebamme. Gnanawathie begrüßt mich freundlich - oder ist da etwas Distanziertes in ihrem Blick? Kann eigentlich nicht sein, wir hatten uns damals im besten Einvernehmen getrennt. Dachte ich jedenfalls. Um das Eis zu brechen, rede ich über dies und das und erwähne auch, dass der Artikel recht gut angekommen sei damals. Da blickt sie mich nachdenklich an und sagt: "Ach, Sie sind gar kein Arzt?" Der Boden der Wohnung ist zu hart, als dass man darin versinken könnte, ich versuche es mit einer Entschuldigung, einer Erklärung, einem Witz. Am Ende lachen wir alle, puuhh, Kurve gerade noch gekriegt. Da sagt Gnanawathie, dass sie nach meinem Besuch damals ihre Arbeit verloren habe.

Sie sagt es nicht vorwurfsvoll, nicht böse, sie teilt es mit. Aus ihren Erzählungen wird nicht ganz klar, was letztlich der Grund für ihre Suspendierung war, aber es ist offensichtlich, dass Neid und Missgunst eine Rolle gespielt haben. Im Nachhinein ist es eigentlich logisch. Da kommt in der Siedlung ein Fremder wichtig mit dem Auto vorgefahren, sucht Kontakt zur Hebamme, die Hebamme verschafft ihm Zugang zum Kreißsaal, der Fremde bedankt sich mit einem üppigen Geschenk, und das soll in der Siedlung, in der jeder jeden kennt und alle alles sehen, keine Eifersucht wecken? Ein Vorwand für das Vorgehen gegen Gnanawathie findet sich, und bald danach ist sie ihren Job los. Sie klagt dagegen, das Urteil lässt auf sich warten, Jahre schon, und so lange darf sie wenigstens weiter in ihrer Dienstwohnung wohnen. Aber den Strom hat man ihr abgedreht.

Draußen fallen die ersten Regentropfen des Tages. Gnanawathie setzt einen Ingwertee auf. Sie hat einen Kocher, der von der Stromversorgung der Siedlung unabhängig ist. An die 200 Kinder hat sie hier zur Welt gebracht, seit ihrer Suspendierung macht sie Vor- und Nachbetreuung von Schwangeren, aber die Teepflückerinnen der Siedlung verdienen 1,70 Euro am Tag, da ist nicht viel zu holen. Also versuche sie mit Näharbeiten über die Runden zu kommen, sagt Gnanawathie. Ein beklommenes Schweigen entsteht. Der Regen rauscht, und im Zimmer wird es duster. Schließlich sagt die Hebamme, und man merkt, dass sie sich dazu überwinden muss: "Also - können Sie mir helfen?"

Klar kann ich helfen, aber eine Arbeitsstelle wieder herzaubern kann ich nicht. So sehr ich es möchte. Reporter neigen ja gelegentlich zu der Meinung, dass sich mit Hartnäckigkeit und geduldigem Bohren, mit guten Kontakten und der richtigen Dosis Chuzpe so ziemlich alles erreichen lässt. Doch hier nun, in der sehr bescheidenen Wohnung einer srilankischen Hebamme, sitzt einer, und der dreht verlegen eine dampfende Tasse Ingwertee in der Hand und kommt sich ausgesprochen hilflos vor. So gut hatte der Tag begonnen, das strahlende Mädchen, die erfreute Mutter, die kleine Erfolgsgeschichte, aber jetzt diese Sorgen - und prompt kommt noch eine weitere dazu.

Durch strömenden Regen geht es zur örtlichen Filiale der "Hatton National Bank". Der Banker trägt ein blaues Hemd mit weißem Kragen und dazu passender Krawatte. Er könnte wissen, dass man als Banker in diesen Zeiten viel Grund hätte, bescheiden und zuvorkommend aufzutreten und auf diese Weise etwas fürs Image seines Berufsstandes zu tun. Aber dieser hier weiß es nicht. Er ist arrogant, herablassend und so wenig hilfreich wie er nur kann. Nein, sagt er, da könne er gar nichts machen. Vasantha und Stefanie warten draußen im Auto. Für sie hängt ein bisschen was ab von diesem Gespräch, denn irgendetwas ist schief gelaufen seinerzeit nach der Einrichtung des Kontos für Stefanie. Die Mutter sagt, sie habe nicht, wie geplant, fünf Jahre lang Geld bezogen - sondern nur das erste. Danach sei das Konto leer gewesen. Wie kann das sein? Der Banker zuckt die Achseln. Kontobewegungen ließen sich so lange nicht zurückverfolgen, vielleicht könnten sie es in der Zentrale in Colombo.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Dogooders Albtraum.

Die Teefelder sind in dicke, nasse Wolken gehüllt, als wir abfahren. Du weißt, dass da noch eine Recherche in der Bank auf dich wartet, sage ich zu meinem Mitarbeiter. Athula sagt, er wisse es.

So ist das also, wenn man sich auf seine eigenen Spuren begibt. Ganz nah ran sollte ich und ganz nah ran wollte ich, denn es ist die Grundvoraussetzung für das, was man in diesem Teil der Welt unter einer guten Reportage versteht. Und was hätte denn auch dagegen gesprochen? Das Thema war, jedenfalls aus der Sicht eines altgedienten Reporters, so unschuldig wie nur was, eine Geburt, meine Güte, eine Allegorie auf Weihnachten, viel harmloser geht es nicht. Nur dass eben die Folgen nicht so harmlos waren. Die berufliche Existenz verlieren, das ist schlimm, und wenn man die Ursache dafür ist, dann nagt es, auch wenn sich eines Tages in der Post eine Versöhnungskarte findet. Es ist eine schöne Karte mit einem romantischen Landschaftsmotiv, Wasser, Boot, Berge - Happy New Year and Happiness always.

Vielleicht sollte man eben doch nicht zurückkehren an den Ort der Tat. Oder mehr darauf achten, dass man immer zurückkehren kann.

Ich sage, ich sei Arzt. Das ist gelogen, aber es schadet ja keinem.

Dem Besucher zu Ehren: Meeduna heißt mit zweitem Namen Stefanie.

Verlegen drehe ich die Tasse mit Ingwertee in meinen Händen herum.

Wiedersehen in Sri Lanka: : Meeduna Stefanie und ihre Mutter Vasantha vor ihrem Haus in der Siedlung der Teepflückerinnen. Foto: Stefan Klein

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Wir sehen uns

Phantomdialoge im Büro, hochdeprimierte Chefs, schlafende Neubauten: Peter Piller macht aus dem deutschen Alltag wie absichtslos große Kunst.

von Holger Liebs

Oft, wenn es noch nicht so läuft, brauchen auch Künstler einen Broterwerb. Dann müssen sie, die sensiblen Ästheten, wie alle anderen täglich durch den Abgang zur U3, sie arbeiten in engen Büros mit eigenartigen Kollegen, betteln beim Chef um Gehaltserhöhung, haben Tagträume auf dem Weg zurück vom Klo - kurz: Sie erleben Dinge des Arbeitsalltags, die man normalerweise schnell wieder vergisst. Und hasten dann abends ins Atelier, um sich wieder den wichtigen Dingen zu widmen. Oder?

Der Künstler Peter Piller, der im Jahr 1968 im Hunsrück geboren wurde und heute ein mit Preisen überhäufter Professor der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst ist, er sagt: "Alle Entdeckungen habe ich vor der Haustür gemacht." Und: "Langeweile ist nur eine Grundierung, die es dem Erstaunlichen, Interessanten, Unwahrscheinlichen ermöglicht, hervorzutreten." Walter Benjamin notierte mal in den "Passagen": "Langeweile ist ein warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist."

Piller, dessen hochsensibles wie saukomisches Werk wir auf dieser Panoramaseite vorstellen, ist besessen vom Beiläufigen - weil darin eine eigene Wahrheit zu finden ist. Jahrelang angestellt bei einer Hamburger Agentur für Medienservice, zeichnete er nebenbei die Ödnis der Büro-Möblierung auf, die bodenlosen Momente der Null-Konversation oder die Einsamkeit des Chefs - heimlich und hastig skizziert, in einer Zeit, die nicht ihm gehörte, ebenso wenig wie der Edding oder das Firmenbriefpapier der Agentur "Carat".

In Pillers Zeichnungsserie "Vorzüge der Absichtslosigkeit" wird die Arbeitswelt zum Glaskasten wie zum Irrenhaus - und der Künstler zum alles sehenden Auge. Hilfreiche "Büroregeln" werden aufgestellt ("Verkatert nichts erzählen", "Im Gegenüber den feinsinnigen Privatmenschen vermuten"). Der Terror der unerwünschten Intimität wird erfasst. Die Zeichnung "4 im Aufzug morgens" etwa zeigt anhand einer verloren dahinbaumelnden, überfüllten Fahrgastzelle, warum Kabinengespräche meist einen grausamen Kältetod sterben.

Klaustrophobie und Fluchtträume entstehen. Sehr schön etwa die Skizze "10. Phantasie": "Habe nach mehr Geld gefragt. Chef dreht sich wortlos zum Fenster." Man sieht einen leeren Sessel und den Rücken eines Hünen. Eine für Bittsteller und Boss sicherlich deprimierende Erfahrung. Kein Wunder mithin, dass der Chef abends, "todmüde auf der Bettkante" sitzend, nur mehr ein gekrümmter Strich ist. Mehr braucht es dann auch nicht als zwei sparsame Striche, um die Last und Verantwortung zu versinnbildlichen, die den Vorgesetzten niederdrückt. Im Übrigen, das weiß auch Piller, ist es nur ein kleiner Schritt von den "Proseccogläsern in Schwerelosigkeit" bei der Betriebsfeier (2001) zur "welkenden orientalischen Pflanze am Platz meines entlassenen Kollegen" (2002).

Nein, dies ist nicht die Wunschwelt kreativer Dienstleister, die sich die CEOs der New Economy ausgedacht haben - dies ist Deutschland in den nuller Jahren. Sprachloses Durchwurschteln und das Aushalten des Unvermeidlichen sind angesagt; wozu das tägliche Gelaber offenbar dazugehört, wie etwa im lapidar einfach aufs Blatt Papier hin notierten "Bürodialog": "Okay, ich hau ab" - "Gut". Dazu zitiert Piller Franz Kafka, der auch Lohnsklave war: "Auch wenn es keine Erlösung gibt, so müssen wir doch ständig ihrer würdig sein."

Piller stelle "nichts Maßgebliches im eigentlichen Sinne" dar, wunderte sich mal eine Kritikerin. Und doch ist seine Welt nicht grau. Man muss nicht erst suchen, bis man Schönheit, Melancholie und Witz entdeckt. Wobei es ausgerechnet Pillers Lohnjob war, der seinen Fahndungstechniken entgegenkam. Seine Aufgabe war es, in Provinzzeitungen zu überprüfen, ob dort Firmenanzeigen richtig platziert waren. Einige hunderttausend Ausgaben von Lokalblättern werden wohl durch seine Hände gegangen sein.

Nun ist Piller auch Fotograf, was in erster Linie heißt: Er besitzt ein gutes Auge. Er fotografiert zwar auch selbst, so etwa "verlorene Kleidung im öffentlichen Raum", aber gute Kunst entsteht nicht nur, wenn jemand eine Signatur irgendwohin setzt, sondern auch, wenn einer mit dem kalten Blick eines Außerirdischen Normales betrachtet.

So gerieten bald die grobkörnigen Amateuraufnahmen aus dem Zollern-Alb-Kurier, aus Ems-Bote oder Süderländer Volksfreund in sein Visier - samt der jeweiligen Bildunterschriften. Es ist eine sonderbare Welt, die sich da in Deutschlands Gauen und Fluren auftut, eine Welt voller "Bauerwartungsflächen" und begleitender Standardfloskeln ("Noch ist nichts zu sehen"), da sind "Steine des Anstoßes", "Zankäpfel", "Dornen im Auge", "trügerische Idyllen", alles in allem: "Tristesse pur".

Perlentaucher Piller realisierte, dass selbst das prosaischste Bild eines Jazztanzes zur Einweihung einer Kreissparkasse von exzentrischer Schönheit ist und unbeabsichtigte Nebenwirkungen zeitigt - weil sich das Motiv in jeder Kleinstadt wiederholt. Er begann, die Bilder zu sammeln und in Gruppen einzuteilen. Sein Archiv, vom Revolver-Verlag peu à peu veröffentlicht, ist uferlos. Es zeigt Männer, die in Löcher blicken, Menschen, die Schlange stehen, Polizisten, die in einem fort irgendeinen Acker "durchkämmen" und so weiter. Deutscher Durchschnitt. Die Poesie der Provinz. Piller liest gerne Arno Schmidt, auch so ein Zettelkastenfanatiker wie er selbst. Vom großen Schmidt stammt der Satz: "Nichts verwirrt das Gemüt so wie ein ordentliches Zimmer."

Dabei ist Peter Piller kein Zyniker, er macht sich nicht lustig über die Bizarrerien, die abseits der Metropolen passieren (Arno Schmidt: "Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover"). Das zeigt seine liebevoll klassifizierte Serie "Von Erde schöner": ein Archiv von Helikopteraufnahmen bundesdeutscher Eigenheime, um die 12000 Fotografien, die ihm in die Hände

fielen.

Nun ist ja eigentlich nichts trauriger als der betongewordene Bausparvertrag, wenn das sogenannte Restgrün noch nicht über dem sandigen Handtuchgrundstück wuchert. Doch der Spürhund entdeckte: Oft sind die Hausbesitzer verreist, die Jalousien heruntergelassen ("Schlafende Häuser"). Oder Automobile nässen den Teer der Auffahrten ("Autowäsche"). Und unzählige "Wendehammer" verdeutlichen, dass hier, in den Bauerwartungsflächen, wirklich das Ende der urbanen Fahnenstange erreicht ist. Hier sitzen sie, die Immobilienbesitzer, und können nicht anders, beziehungsweise nicht mehr weg, und wenn doch, stecken sie motorisiert, aber immobil, im Stau fest - wie in einer Zeichnung Pillers ("Pendler im Stau,

innerlich").

Woran man auch sieht, dass Piller eigentlich nur ein Thema hat: die Verkrustungen und Verzerrungen einer in Traumwelten und Ritualen erstarrten Gesellschaft. Und welch bodenloser Witz darin steckt, nie anzukommen, immer nur peripherisch zu leben. Piller beobachtet dieses Leben in der Peripherie wie ein Volkskundler, der mit Diktiergerät, Kamera und Notizblock ausrückt: ungerührt, nüchtern, präzise.

Kürzlich hat Piller wieder eine seiner "Peripheriewanderungen" unternommen. Derartige Expeditionen ins unbekannte terrain vague der Stadtränder unternimmt er seit seiner Studienzeit. Diesmal war er am Rande Bonns unterwegs, einer Stadt, die ehemals das Herz der Republik war und nun irgendwie

übriggeblieben ist. Noch da, aber im Dornröschenschlaf. Peter Piller hat dem Wachkomapatienten den Puls gemessen.

Von diesem Wochenende an stellt er seine Forschungsergebnisse im Bonner Kunstmuseum aus.

Die Arbeitswelt wird bei Piller zum Glaskasten - und zum Irrenhaus.

Wie ein Volkskundler rückt er mit Diktiergerät und Notizblock aus.

Hallo, Phrasen-Polizei: Äcker durchkämmen, Schandflecke entdecken!

"Proseccogläser in Schwerelosigkeit" (Bürozeichnung, 2001)

"Der Chef abends todmüde auf der Bettkante" (Bürozeichnung, 2002)

"Plötzliche Pause" (Bürozeichnung, 2001)

Der kleine blaue Wolldaumen links unten, signalisiert er nicht wie E.T.: Ich will nach Hause? So rührend und verloren kann ein Stück Stoff auf einem Trottoir wirken. Meist gehen Menschen achtlos an Liegengelassenem vorbei, nur selten hängen sie die Fetzen, alibimäßig, irgendwo auf. Nicht so Peter Piller: Er hat sie in einer Fotoserie verewigt, die so heißt wie das, was sie zeigt: "Verlorene Kleidung im öffentlichen Raum". Fotos: © Peter Piller, 2003-2005; © VG Bild-Kunst, Bonn 2009; Zeichnungen: © Peter Piller; alle: Courtesy Galerie Michael Wiesehöfer, Köln, außer: "Büroregel: vielleicht wurde bereits entschieden", Courtesy Sammlung Schürmann, Herzogenrath. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009

Deutschlands Eigenheime sind adrett, nüchtern und etwas unheimlich. Aus einer Erbmasse von 12 000 Helikopter-Aufnahmen filterte Piller Serien ähnlicher Motive heraus. Diese hier - "Autowäsche" - enthüllt erst auf den zweiten Blick ihren Kern, eine typische bundesrepublikanische Samstagnachmittagsverrichtung. Wobei die Autos aussehen, als könnten sie das Wasser nicht halten. Fotos: "Autowäsche 1", "von erde schöner", © Peter Piller; Archiv Peter Piller 2000-2004; © VG Bild-Kunst, Bonn 2009

Zu Peter Pillers Zeichnungen gehören die Bildtitel unbedingt dazu. Dieser heißt: "komplexe Psyche des langweiligen Kollegen" (Bürozeichnung, 2001)

"Pendler im Stau (innerlich)" (Bürozeichnung, 2000)

"Büroregel" (Bürozeichnung, 2000)

Piller, Peter Kunstmuseum Bonn Kunstszene in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Geistige Merkmale: Lyrik

Kann man Major sein, die Phantom fliegen und Gedichte schreiben? Erinnerungen über das Dichten, das Denken und das Militär / Von Jochen Missfeldt

Mit diesem Arschloch redest du?" - Das saß. Ich war gemeint. Das sagte ein Kamerad zu einem anderen, der mit mir gerade redete. Es war auf einem "Beercall" in unserem Offizierscasino des Aufklärungsgeschwaders 52 in Leck. Inzwischen sind fast dreißig Jahre vergangen, ich stand damals zwei Jahre vor meiner Frühpensionierung. Warum sagte der Mann das? Nachdem ich alles eine Nacht überschlafen hatte, war bei mir nicht nur Empörung im Kopf. Vielleicht hatte ich ihn einmal zu Unrecht zurechtgewiesen, und er hatte das eingesteckt und nicht vergessen? Hatte ich ihn provoziert? Oder hing das alles zusammen mit meinem Dichten und Denken, mit meinem ersten Gedichtband, den ich veröffentlicht hatte? Waren meine Gedichte, die hin und wieder in unserer Zeitung, einige sogar in der Frauenzeitschrift Brigitte, abgedruckt wurden, etwa Schuld daran?

Der erste Lyrikband trug den Titel "Gesammelte Ängste". Mein späterer Verleger hat von diesen Gedichten immer gesagt, man sehe ihnen noch die Eierschalen hinter den Ohren an. Dass ich keine Sensation hervorgebracht hatte, war mir schnell klar; denn bei Licht besehen waren diese "Texte", so nannte ich sie gezielt bescheiden im Untertitel, meinen Vorbildern hinterhergedichtet: Trakl, Rilke, Benn, diese drei. Als die "Gesammelten Ängste" 1975 in einem kleinen Verlag erschienen, war ich Major, und ich flog den Düsenjäger RF 4E, die Aufklärungsversion der Phantom.

Was sagten meine Kameraden dazu? Major, der Düsenjäger fliegt, Ängste sammelt und Gedichte schreibt, passt das? Dummerweise fertigte ich einen kleinen Werbezettel an, den ich im Geschwader in den Dienststellen auslegte, in der Hoffnung, jemand würde anbeißen. Das Echo war geteilt. Einige sprachen mit Verachtung und Spott: "Missfeldts Ergüsse", andere sagten: "Finde ich gut." Mein damaliger Chef schrieb mir in die Beurteilung, Unterpunkt "Geistige Merkmale": "M. hat einen Lyrikband veröffentlicht." Mit der heimlich erhofften literarischen Karriere war es Essig. Später schickte der Verlag die von meiner Frau aus ihrem Sparbuch finanzierten Gedichtbände zurück; immer noch habe ich Exemplare. In den Müll werfe ich sie nicht; ich lese ab und zu darin und sage mir: "Aller Anfang ist schwer."

Aber nichts konnte mich davon abhalten, Gedichte zu schreiben. Warum? Ich konnte damit nichts falsch machen. Ein Gedicht zu schreiben, ist immer eine richtige Entscheidung. Aber ob meine Entscheidung, Soldat zu werden, eine richtige war?

Die "Gesammelten Ängste" taten ihren Dienst. Der NDR lud mich ein zu einem Interview. Ein Staffelkamerad sagte: "Das ist der Durchbruch." Als ich im abgedunkelten Aufnahmestudio saß und die vielen Schalter, Knöpfe und Warnlichter sah, dachte ich an mein Phantom-Cockpit. Zu Hause fühlte ich mich dennoch nicht. Das Mikrofon, das mir vor dem Mund stand, war ein grober Klotz gegenüber meinem kleinen feinen in der Sauerstoffmaske. Dann erst der Rundfunkmann, der die Fragen stellte. "Der Mensch zeigt sein wahres Gesicht, wenn er die Möglichkeit hat, Macht auszuüben", dachte ich.

Meine Antworten auf die Fragen fielen entsprechend dürftig aus. Originelle Bescheide, die ich mir vorher ausgedacht und notiert hatte, kamen nicht zum Zug, etwa diese: "Mir ist Gemüse lieber als Eichenlaub", und das Fontane-Zitat: "Lyriker waren noch nie Schneidersleute." Unter den Tisch fiel auch "Unsterblich ist die Kunst, nicht aber der Krieg". Ich habe überhaupt mehr geschwiegen als geredet, und wenn ich etwas sagte, dann musste ich stottern. "Stark ist, wer über seine Schwächen reden kann", sagte der Rundfunkmensch. Das hörte sich für mich so an wie "Arschloch", das kannte ich doch. Der Mann meinte mit Schwäche meine "Gesammelten Ängste".

Nichts von Charisma, das ich mir, schneidige Antworten vorausgesetzt, schon gut in meinem Gesicht hatte vorstellen können. Nun aber wusste ich: Charisma ist der Dreck, den dir die Götter ins Gesicht schmeißen. Wer will das schon. Und auch aus meinem Stottern habe ich mir das Beste gemacht und für meinen Roman "Gespiegelter Himmel" auf einer Karteikarte notiert: "Die Hemmung, etwas zu sagen oder zu stottern, ist die Wahrnehmung und Anschauung der Zeit. Sie ist der Verweis auf wie viel Leben schon gelebt worden ist und wie viel Leben wohl noch zu leben sein wird." Damit konnte ich zufrieden abziehen, und zwar mit diesem festen Vorsatz: Das Interview im Radio hörst du dir nicht an. Ich hörte mir es später doch an.

Dieses erste öffentliche Auftreten im Rundfunk brachte mir zwei wertvolle Erkenntnisse. Erstens: Fürs Podium bist du ungeeignet. Zweitens: Ein Intellektueller bist du ebenfalls nicht. Trotz dieser grundlegenden Einsicht habe ich mich immer wieder verführen lassen, bin aufs Podium gestiegen, um dort als Intellektueller und auch sonst zu scheitern. "Eitelkeit und Selbstüberschätzung, diese vermaledeiten Feinde allen künstlerischen Fortschreitens" (Goethes Freund Zelter im November 1821) haben auch mich immer wieder geritten.

Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, muss damit rechnen, dass er öffentlich zur Rechenschaft gezogen wird. Als ein paar Monate nach meinem Rundfunkinterview eines meiner Gedichte ohne meinen Begleitschutz in einer Rundfunk-Lyrikwerkstatt zur Debatte stand, beanstandete der eingeladene Fachmann das Wort "Division", das er in meinen Versen entdeckt hatte. Er meinte, militärische Vokabeln hätten in Gedichten nichts zu suchen. Ich wusste schon damals, dass es in der Literatur nicht darauf ankommt, was gesagt wird, sondern nur darauf, welchen Ausdruck man für das "Was" findet. Nur das "Wie" ist interessant und von Bedeutung. Wäre es anders, wäre Literatur langweilig, oder es gäbe sie gar nicht mehr. Das "Was" wiederholt die Literatur immer wieder: Liebe und Hass, Leben und Tod, Krieg und Frieden. Darum sind wir Leser auf das "Wie" neugierig. Darum kennt Literatur auch keine Tabus. Mehr noch: Auf jedes Tabu reagiert die Literatur mit einer Kriegserklärung.

Einer meiner PEN-Brüder soll gesagt haben: "Ein Schriftsteller darf sich nicht öffentlich mit Soldaten zeigen." Sieht der Mann etwa unsere Soldaten von heute umringt von lauter Hindenburgs und Ludendorffs, also als Mitglieder "einer unsympathischen Kaste", wie Jörg Drews über Offiziere im Merkur erklärte? Wer klug ist, der lässt das Fremde rein. So klug ist die Bundeswehr nicht. Sie pflegt ihren Staat im Staat und hält den Geist, der auch in der Kaserne wehen will, an der Wache fest. Sie hält Romane und Gedichte auf Distanz. Sie ist mehr an PR als an Literatur interessiert und bezeichnet folgerichtig ihren Afghanistan-Einsatz als "Engagement" und nicht als das, was er tatsächlich ist: Beteiligung an einem Krieg.

Ohne Wissen über das "Wie" können wir uns kein strapazierfähiges Urteil bilden. Wer nur das "Was" kennt, blickt nicht über den Tellerrand und schmiedet an seinem Vorurteil.

Als ehemaliger Bundeswehrsoldat kann ich ein Lied singen von den Erfahrungen in deutschen Schriftstellerverbänden. Der PEN-Club nahm mich auf mit den Stimmen, die mir meine Soldatenvergangenheit wohl nicht verübelten; immerhin. Da spiegelt sich doch das Verhältnis "Bundeswehr und Gesellschaft" sympathisch wider.

Ich bin in den ersten Jahren nach meiner Pensionierung ab 1982 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller in Schleswig-Holstein geworden, wurde dort sogar zum ersten Vorsitzenden gewählt. Als solcher schickte mich mein Landesverband 1984 zum Bundeskongress nach Saarbrücken mit dem Auftrag, für den Bundesvorstand zu kandidieren. Ich hatte mir zwei kurze Redebeiträge ausgedacht und auf einen Zettel geschrieben, damit ich nicht ins Stottern käme und den Faden verlöre. Der erste Versuch ging glatt über die Bühne, beim zweiten gab es einen Skandal.

Wie es Sitte und Anstand erfordern, meldete ich den vor mir im Saal sitzenden Delegierten meine berufliche Vergangenheit, erwähnte meine 21 Jahre Bundeswehr, den letzten Dienstgrad (Oberstleutnant) und meine Fliegertätigkeit. In den Fugen unseres Verbandes krachte es gerade heftig; alles drehte sich um folgende Frage: Wie verhalten wir uns gegenüber unseren polnischen Kollegen, die sich gerade im demokratischen Aufbruch befanden? Wie gegenüber den Kollegen in der DDR, von denen viele dem Stasiklüngel verbunden waren? Solidarität mit wem und wie? Schande damals wie heute: Nicht wenige wollten sich lieber mit dem Stasiverseuchten DDR-Verband solidarisieren als mit den in Not geratenen polnischen Kollegen. Darüber kriegte man sich unentwirrbar in die Haare, von "Verschwörung", "Betonfraktion" und "fünfter Kolonne" war die Rede. Die Intellektuellen waren offensichtlich nicht in der Lage, so viel Intelligenz zu mobilisieren, um Ordnung in die Unordnung zu bringen. Die Tagung ist später als "Dialog zwischen Blinden und Taubstummen" bezeichnet worden.

Von der Bühne herab sagte ich also angesichts der Verbandsquerelen und in die schon erhitzten Gemüter ungefähr dieses: "Wenn es in unserem Verband etwas mehr von dem gäbe, was man in der Bundeswehr ,Innere Führung' nennt, dann ginge es uns allen besser." Ein Sturm der Entrüstung brach los. Die Delegierten sprangen auf und schrieen durcheinander, drohten mit Fäusten, Günter Grass stand mitten im Saal, umringt von seinen Berliner Kollegen, die auf ihn einredeten. Einer von den Berlinern kam zu mir ans Rednerpult und sagte ins Mikrofon: "Wir haben alle gehört, was der Kollege Missfeldt gesagt hat." Viel mehr sagte er nicht. Oder: Viel mehr kriegte ich nicht mit, denn ich sah nur unten die Delegierten, ein wogender Sauhaufen aus meiner militärischen Sicht. Alles Götter, Päpste, Könige und Gelehrte, wie in einem Irrenhaus. "Was schlecht ist, das kann nicht gut sein", rief einer von den Philosophen mir auf die Bühne zu.

Soll man mit verbohrten Leuten diskutieren? Sollte ich nicht lieber als Pensionär im stillen Verzehr meiner Erinnerungen leben? In Fotoalben blättern und vergangene Zeiten beschwören und beweinen? Nebenbei das eine oder andere Gedicht schreiben und in der Truhe die Ruhe suchen? Hier auf der Bühne herrschten vorübergehend flächendeckende Verzweiflung und Sprachlosigkeit. Und doch hatte ich keine Lust, wegen der "Inneren Führung" den Stab über mir zu brechen und in den Staub schon zu Lebzeiten zu versinken. Wenn ich auch nicht mehr richtig denken konnte, so gingen mir doch Gedanken durch den Kopf. Für mich lagen die folgenden ganz nah: Was wisst ihr denn, wie schön es ist, mit dem Düsenjäger zu fliegen, bei Kaiserwetter, so tief wie möglich, so schnell wie möglich? Was wisst ihr von diesem Glücksgefühl im Schleudersitz? Ich hatte große Lust, den Delegierten so tief wie möglich und so laut wie möglich über die Köpfe zu donnern.

Alles wurde nichts; wie ich später erfuhr, hatte der eigentliche Skandal dieser Tagung mit meinem Ausrutscher nur ganz am Rande zu tun. Ich saß weiter sprachlos an meinem Platz und dachte, ich hätte an allem Schuld. Vor allem, dass die Wahl der von mir so geschätzten Ingeburg Drewitz, die Bundesvorsitzende werden sollte, hintertrieben wurde, schrieb ich auf das Konto meiner verhängnisvollen Bemerkung. Der große Strauß dunkelroter Rosen, den man als Glückwunsch schon besorgt hatte, blieb liegen. Sie starb zwei Jahre nach dem Kongress einen elenden Tod. Peter Kuhlemann, auch nicht mehr unter uns

Lebenden, tröstete mich: "Alles Arschlöcher."

Es kamen welche, die legten mir kurz ihre Hand auf die Schulter und sagten: "Mach dir nichts draus." Eine Kollegin aus dem Ruhrgebiet spendierte Lob für meinen neuen Gedichtband. Abends saß ich abseits und allein an einem Tisch im Restaurant des Hotels, wo viele von uns übernachteten. Ich war fest entschlossen, als Landesvorsitzender zurückzutreten. Da sagte Heinrich Böll, der schräg gegenüber von einer großen Runde umlagert war: "Hallo da drüben, kommen Sie doch an unseren Tisch." Der Mann verstand was von "Innerer Führung": Sei ein anständiger Mensch. Böll wusste, wovon er redete, auch er war Soldat gewesen.

Auf Günter Grass waren Kameras gerichtet, und Fragesteller schossen ihre Fragen ab. Aus der Sicht von heute denke ich als dreizehn Jahre jüngerer Kamerad, ein Crash-Kurs "Innere Führung" könnte ihm gut tun. Die Offiziersschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck bietet Lehrgänge an. Die würde dann auch mal über ihren Schatten springen, das Fremde und den Geist hereinlassen. Nebenbei hätte sie einen der bedeutendsten Künstler unserer Zeit in ihren heiligen Hallen zu Gast, und der könnte im Sinne von "Innerer Führung", die ein Geben und Nehmen ist, vorlesen aus seinem Zwiebelbuch.

Jochen Missfeldt, geboren 1941 in Satrup bei Schleswig, war Fliegeroffizier

bei der Luftwaffe und lebt als Schriftsteller in Nordfriesland. 2005 erschien von ihm im Rowohlt Verlag der Roman "Steilküste".

Was wisst ihr denn, wie schön es ist, mit dem Düsenjäger zu fliegen!

Haben militärische Vokabeln in Gedichten nichts zu suchen?

Aus meiner militärischen Sicht waren sie ein wogender Sauhaufen.

"Was wisst ihr von diesem Glücksgefühl im Schleudersitz?" Wie schade, dass die Welt die Dinge immer so streng sortiert und für ungewöhnliche Kombinationen leider keinen Sinn hat. Foto: Roger Ressmeyer / Corbis

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Paul Ekman über

Lügen

von Michaela Haas

Guten Tag, Herr Professor, wie geht es mir?

Gut. Ein wenig müde, aber ansonsten geht es Ihnen prima.

Danke. Und Ihnen?

Bestens, aber ich brauche jetzt erst mal einen Whisky! Ich habe den ganzen Tag in Hollywood verbracht, als würde ich die Horror-Geschichten darüber, was die in Hollywood mit der Wissenschaft anstellen, nicht kennen.

So schlimm?

Nein, es macht mir großen Spaß. Aber die haben natürlich von Wissenschaft wirklich keine Ahnung.

Dr. Cal Lightman, Hauptfigur in der neuen Fox-Serie ,Lie to me', ist der weltbeste menschliche Lügendetektor. Er arbeitet wie Sie für FBI, CIA und Anwaltsfirmen. Basiert die Figur auf Ihnen?

Ich habe den Autoren tatsächlich erlaubt, alles vom beruflichen Paul Ekman zu verwenden, aber nichts vom privaten. Dieser Cal Lightman ist ein arroganter Schnösel, ich nicht. Er lügt, ich nicht. Er ist geschieden, ich bin seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet.

Es ist ein wenig beunruhigend, einem Menschen gegenüberzusitzen, dem man nichts vormachen kann.

Haben Sie denn etwas zu verbergen? Keine Angst, ich kann keine Gedanken lesen. Ich sehe, wie Sie sich fühlen. Aber was hinter Ihren Gefühlen steckt, das weiß ich natürlich nicht.

Das lässt einem trotzdem nicht viel Privatsphäre.

Mir entgeht kein Gesichtsausdruck, aber das bedeutet nicht, dass ich Sie auszähle. Wenn meine Frau mir mit ihrem Gesichtsausdruck signalisiert, dass sie etwas verbergen will, spreche ich sie nicht darauf an. Nur wenn ich denke, dass es etwas mit mir zu tun hat, frage ich leichthin: ,Alles in Ordnung, Liebling?'

Warum ist es für Sie so einfach, im Gesicht eines anderen zu lesen?

Es sind nur 43 Muskeln, mit denen wir mehr als 10000 Gesichtsausdrücke erzeugen können, und ich habe alle gesehen. Ich bin bis Papua-Neuguinea und auf alle Kontinente gereist. Es gibt keinen Ausdruck, den ich nicht kenne.

Mit einem Kollegen haben Sie fast acht Jahre lang damit zugebracht, jeden einzelnen dieser Gesichtsausdrücke anzunehmen, zu fotografieren und zu codieren!

Und wenn wir einen Ausdruck wirklich nicht selbst erzeugen konnten, sind wir zu Ärzten nebenan gerannt; die haben uns dann eine Akupunkturnadel an die entsprechende Stelle gesetzt. Manche Ausdrücke sind extrem schwierig. Sehen Sie, wenn Sie zum Beispiel die Mundwinkel so zusammenpressen und den Unterkiefer nach vorne schieben . . .

Sie meinen . . . so?

Uh, Sie sehen sehr, sehr wütend aus, hören Sie auf! Das Überraschendste an unserer Arbeit war die Feststellung, dass manche Gefühle erst entstehen, weil man einen bestimmten Gesichtsausdruck aufsetzt. An Tagen, an denen wir stundenlang wütende oder depressive Ausdrücke übten, mussten wir uns eingestehen, dass es uns miserabel ging. Wenn wir auf unseren Gesichtern Glück und Zufriedenheit simulierten, waren wir anschließend tatsächlich bester Laune.

Also funktioniert der Trick, sich selber anzulächeln, wenn man miesepetrig ist?

Wenn man bestimmte Muskeln im Gesicht aktiviert, ruft man damit die gleichen Veränderungen im Nervensystem hervor wie das entsprechende Gefühl. Schauspieler kennen das. Stanislawski, der Theaterpädagoge, hat immer gesagt: ,Mach' die Geste, das Gefühl folgt nach.'

Sie haben bei Ihren Forschungen die Mikroausdrücke entdeckt, also flüchtige, unbewusste Gesichtsausdrücke, die einen verraten, auch wenn man sich beherrscht. Wie lange bräuchte ich, um sie von Ihnen zu lernen?

Für den Grundkurs? 40 Minuten. Das hat mich selbst überrascht. Am Anfang, als wir Richter, Polizisten und Staatsanwälte getestet haben, waren die im Gesichterlesen keinen Deut besser als normale Menschen, alle haben nur geraten. Nach einer Stunde Training aber stieg ihre Trefferquote auf 50 oder 60 Prozent. Wir haben heute Virtuosen, die sogenannten Hexenmeister, die kommen auf 96 Prozent. Meistens sind das Menschen, die besonders hoch motiviert sind, weil ihr Überleben von so einer Situation abhängen könnte, zum Beispiel Geheimdienstler.

Bei wie viel Prozent liegen Sie?

Bei 100. Mir entgeht kein Ausdruck.

Können Sie nie abschalten?

Wenn Sie es einmal gelernt haben, haben Sie diese Fähigkeit. Lesen Sie Noten?

Ja.

Dann hören Sie Symphonien anders. Genauso ist es mit den Mikroausdrücken. Damit lernt man, die Grundmuster menschlicher Emotionen zu lesen.

Ihr Mentor Silvan Tomkins hat mal gesagt, das Gesicht sei wie der Penis.

Weil es ein Eigenleben hat, das sich zum Teil unserer bewussten Beherrschung entzieht. Jeder von uns wird hin und wieder gefragt: Warum guckst du gerade so oder so? Meist sind unsere Gesichtsausdrücke uns aber gar nicht bewusst. Tomkins konnte nur vom Foto eines gesuchten Verbrechers auf das Verbrechen schließen, das er begangen hatte. Bevor er als Wissenschaftler erfolgreich war, hat er übrigens auf Pferderennen gewettet. Er konnte nur anhand der Aufstellung sagen, welches Pferd gewinnen würde. Er war darin so gut, dass er davon leben konnte.

Woran erkennen Sie, ob mein Lächeln jetzt gerade ehrlich oder nur höflich ist?

Bei einem echten Lächeln bewegt sich nicht nur der Zygomatic Major, der Mundwinkel, sondern auch der Orbicularis oculi, pars orbitalis, also der Muskel um die Augen. Das ist fast unmöglich zu fälschen, es entzieht sich unserer Willenskraft. Also: Ihr Lächeln ist echt.

Es wäre außerordentlich schwierig, Sie anzulügen. Sie durchschauen alles.

Oh, nichts leichter als das. Ich glaube grundsätzlich immer, dass Leute mir die Wahrheit sagen, es sei denn, ich arbeite.

Woran erkennen Sie, ob jemand lügt? Es gibt ja keine Pinocchio-Nase.

Aber Hotspots. Wenn das Gesicht nicht zur Stimme passt, die Stimme nicht zum Inhalt oder der Inhalt nicht zu den Gesten, dann stimmt was nicht. Es ist nicht eine Sache, man muss auf alles achten. Aber Vorsicht, es kann sein, dass jemand nur Angst hat und angespannt ist, weil er verhört wird, nicht unbedingt, weil er ein Verbrechen begangen hat.

Ist Lügen jemals gerechtfertigt?

Natürlich. Ich habe eine Goldene Regel, wann es erlaubt ist zu lügen. Wenn meine Frau und ich von einer Party zurückkommen und meine Frau fragt: ,Gab es Frauen auf der Party, die du attraktiver fandest als mich?' - dann sage ich selbstverständlich nicht: ,Klar, diese Blonde.' Sondern: ,Natürlich nicht, Liebling!' Ein fiktives Beispiel, denn meine Frau ist zu intelligent, um so dumme Fragen zu stellen. Entscheidend ist die Überlegung: Wenn meine Partnerin herausfindet, dass ich sie angelogen habe - würde sie sich verletzt und ausgenutzt fühlen und mir nie wieder vertrauen, oder würde sie verstehen, warum ich das getan habe?

Damit öffnen Sie der Lüge Tür und Tor.

Man muss ehrlich mit sich sein. Ein Wissenschaftler-Kollege von mir findet beispielsweise, dass er, wenn er auf Reisen ist, anstellen kann was er will. Ich frage: ,Weiß deine Frau das?' ,Nein', sagt er, ,aber ich bin mir sicher, sie sieht das genau so.' Damit lügt er sich natürlich in die eigene Tasche.

Wann haben Sie zuletzt die Unwahrheit gesagt?

Seit der Geburt meiner Tochter versuche ich, ohne Lügen durchs Leben zu gehen, aber es ist Arbeit. Harte Arbeit.

Also? Wann zuletzt?

Hm. Es war eine altruistische Lüge, wirklich. Ich musste unlängst drei Tage auf die Ergebnisse einer Biopsie warten. Davon habe ich meiner Frau nichts erzählt, und als sie mich fragte, ob ich mir über etwas Sorgen mache, sagte ich nur: ,Nein, Liebling, alles in Ordnung.' Weil ich dachte: Wenn es bösartig ist, habe ich immer noch genügend Zeit, es ihr zu erzählen. Wenn es nichts ist, macht sie sich unnötig Sorgen. Als dann die Ergebnisse kamen und ich ihr davon erzählte, musste ich ihr versprechen, so etwas nie wieder geheimzuhalten. Aber sie hat verstanden, dass ich sie nicht hintergehen, sondern beschützen wollte. Thomas von Aquin hat es so beschrieben: Wenn ein Mörder mit einem Messer in der Hand in Ihr Haus kommt und fragt, wo Ihr Bruder ist, dann sagen Sie nicht, er schläft nebenan. Sondern: Er ist vor einer Stunde abgereist, und zwar in die und die Richtung.

Sie meinen, Wahrheit kann mehr Schaden anrichten als eine smarte Lüge?

Wahrheit kann auf brutale Weise benutzt werden. Höfliche Täuschung halte ich nicht für eine Lüge. Wir wollen nicht wahrheitsgemäß wissen, ob jemand unser Weihnachtsgeschenk mochte. Wir erwarten Schmeicheleien. Meine Frau hat mir das schon vor langer Zeit beigebracht. Wenn sie heute mit einem neuen Kleid nach Hause kommt und es hat den falschen Schnitt und eine schreckliche Farbe, sage ich: ,Umwerfend, Honey!' Ich nenne das: Die Wahrheit falsch sagen. Man lügt nicht, aber man erweckt einen falschen Eindruck. Beim Pokern zum Beispiel darf man die Wahrheit gar nicht sagen, sonst gewinnt man ja nie. Meiner Tochter dagegen sage ich immer die Wahrheit, weil sie das so möchte und damit auch besser umgehen kann.

Mir ist brutale Offenheit auch lieber als ein höflicher Eiertanz.

Dann müssen Sie sie einfordern.

Aber in manchen Kulturen ist man nicht fähig, brutal offen zu sein. Denken Sie an die Japaner.

Da wird angenommen, dass Sie die unterschwelligen Hinweise verstehen. Mein bester Freund beispielsweise hat sich immer Freundinnen gesucht, die ihn mies behandelten. Bei der vierten sagte er zu mir: ,Die Neue ist echt anders, du musst sie treffen!' Hinterher wollte er von mir wissen, wie ich ehrlich über sie dachte. Ich sagte also: ,Die ist die Schlimmste, die du je hattest!' Er hat daraufhin ein Jahr lang nicht mit mir gesprochen, bis er sich von ihr getrennt hatte. Aber als guter Freund hast du nun einmal die Pflicht, die Wahrheit zu sagen.

Haben Sie Ihre Kinder häufig beim Lügen ertappt?

Bis heute glaubt meine Tochter, sie sei mit einigen Lügen durchgekommen, bloß weil wir sie ihr nicht auf den Kopf zugesagt haben. Interessanterweise hat keines meiner Kinder je herausbekommen, wann wir sie durchschauten. Dabei war es eigentlich einfach: Wenn meine Frau die Kinder fragte, wo sie am Vorabend gewesen waren und ihre Augenbrauen dabei nach oben gezogen waren, dann hieß das: Sie wusste es wirklich nicht. Wenn ihre Augenbrauen beim Fragen unten blieben, hieß das, sie wusste eh Bescheid.

Sie haben zunächst Psychotherapie studiert. Gab es dafür einen Grund?

Als ich vierzehn Jahre alt war, hat sich meine Mutter umgebracht. Im Rückblick denke ich, sie war bipolar. Sie bat mich damals um Hilfe, ich konnte ihr nicht helfen - und fühlte mich dafür enorm schuldig. Ich wollte lernen, wie man Menschen mit solchen Problemen helfen kann. Ich dachte, mit Psychotherapie könne man die Welt verändern.

Und?

Dann dachte ich eine Weile, mit Forschung könne man die Welt verändern.

Eine der erstaunlichsten Facetten Ihres Alltags ist, dass Sie mit so vielen verschiedenen Menschen zusammenarbeiten, vom Dalai Lama bis zum FBI, von der Zeichentrick-Abteilung bei Disney bis zum Verteidigungsministerium . . .

. . . oder mit plastischen Chirurgen, die wissen wollen, wie sie Haut straffen, ohne Muskeln zu beeinträchtigen, mit Maskenmachern, Schauspielern, Richtern - das Gesicht hat allen etwas zu sagen.

Sie haben an der Programmierung der Videokameras mitgearbeitet, die auf amerikanischen Flughäfen Terroristen an ihren Gesichtszügen erkennen sollen. Ein sehr umstrittenes Projekt.

Ich glaube, dass selbst die besten Maschinen niemals so gut werden wie sehr smarte, gut trainierte Leute. Aber wir sind ein Technologie-Land. Das unausgesprochene Motto der Amerikaner lautet: Bau mir eine Maschine, sonst bringt das nichts. Das Motto der Israelis lautet: Holt uns die besten Leute, wir geben ihnen das beste Training. Derzeit arbeite ich übrigens daran, wie man erkennen kann, ob jemand kurz davor ist, einen Mord zu begehen.

Ist das, was sich im Gesicht eines Mörders abspielt, nicht völlig auf seine Person bezogen?

Sieht nicht so aus. Ich habe Polizisten in fünf Ländern befragt, darunter zwei nicht-westliche, und die Ergebnisse sind gleich. Seit ich zwölf bin, fotografiere ich, und ich habe gelernt, dass uns unsere Gesichter fast alles erzählen.

Welcher Politiker ist der beste Lügner?

Politiker sind miserable Lügner. Carter, Reagan, Nixon, die waren alle schlechte Lügner. Der letzte wirklich gute Lügner, das war John F. Kennedy. Wie er in der Kuba-Debatte Nixon dafür angriff, dass er zu weich vorging - wohl wissend, dass Nixon sich nicht wehren konnte, weil er nicht zugeben durfte, dass er gerade den Einmarsch auf Kuba vorbereitete - das war genial! Im Krieg ist Lügen an der Tagesordnung. Niemand hat je Eisenhower dafür kritisiert, dass er Hitler nicht die Wahrheit darüber gesagt hatte, wo die Invasion beginnen würde. Hitler selber war ein Superlügner, Chamberlain ist ihm bekanntlich auf den Leim gegangen.

Haben Sie jemals Ihren Vorsatz gebrochen, keinem aktiven Politiker zu helfen?

Als ich Bill Clinton das erste Mal im Fernsehen sah, fiel mir sein Gesichtsausdruck auf. Ich nenne es den ,Lausbub-der-mit-der-Hand-in-der-Keksdose-erwischt-wird-aber-Mami-liebt-mich-trotzdem-Look'. Damals habe ich zum ersten und letzten Mal meine eigene Regel gebrochen; nichts zu sagen, wenn jemand im Wahlkampf steht oder ein Amt innehat. Ich kannte einen aus Clintons Team und sagte ihm: ,Hör mal, euer Kandidat hat einen Gesichtsausdruck, der verrät, dass er die Regeln bricht. Ich könnte ihm das abgewöhnen.' Aber Clintons Team wollte nicht riskieren, dass er mit einem Lügenexperten gesehen wird. Clinton musste erwischt werden, so wie es ihm ins Gesicht geschrieben stand.

Haben Sie manchmal Angst, dass Ihr enormes Wissen von den Falschen missbraucht wird?

Das Trainingsprogramm auf meiner Website kann man nicht mit einer Kreditkarte aus einem nicht-demokratischen Land kaufen. Ich bekomme deswegen ständig Beschwerden aus dem Iran oder aus Russland. Aber ich bin nun einmal nicht daran interessiert, Diktaturen zu helfen. Anfragen aus China habe ich auch immer abgelehnt, das Regime ist zu brutal. Aber vielleicht ändere ich das, der Dalai Lama will, dass ich nach China gehe.

Wie haben Sie ihn kennengelernt?

Meine Tochter Eve hat mit 16 Jahren ein paar Monate als Freiwillige in einem tibetischen Flüchtlingsheim in Nepal verbracht. Als sie nach Hause kam, hat sie einen Free Tibet-Verein gegründet. Ich wusste, dass sich der Dalai Lama sehr für Wissenschaft interessiert, also bewarb ich mich vor acht Jahren um ein Gespräch mit ihm. Bei solchen Gesprächen darf man einen stillen Beobachter mitbringen. Ich habe meine Tochter mitgenommen und sie ihm als meinen spirituellen Führer vorgestellt, und so durften wir zusammen fünf Tage mit ihm verbringen.

Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?

Er ist für mich wie der Bruder, den ich nie hatte, und er macht sich darüber lustig, dass ich das nicht wissenschaftlich erklären kann. D.L. glaubt an Karma, und er glaubt tatsächlich, dass wir in einem unserer Leben Brüder waren.

D.L.?

So nenne ich ihn, denn ich weiß nicht recht, wie ich ihn anreden soll. Er sagt ,Paul' zu mir, aber ihn mit seinem Vornamen, Tenzin, anzureden, ist unpassend.

Wie wär's mit ,Heiligkeit'?

Ich sehe niemanden als heilig an, deshalb kann ich auch niemanden so anreden. Dieser Titel kommt vom Papst, und der Dalai Lama ist das Gegenteil vom Papst. Der Dalai Lama ist ein Debattierer und Logiker, beim Papst basiert alles auf Dogma und Glauben. Also kann ich den Dalai Lama nicht mit dem Namen des Papstes anreden. Ich sage: Sir. Oder D.L.

Der Dalai Lama hat Ihnen 50000 Dollar gegeben, damit Sie herausfinden, wie Lehrer und Manager besser mit ihren Emotionen fertig werden. Wieso?

Das hat mich selbst vom Stuhl gehauen. Wir haben ein Programm namens ,Emotionale Balance kultivieren' entworfen und darin das Beste von ihm und das Beste von mir eingebaut: Meditation, Mitgefühl und die wissenschaftlichen Methoden meines Instituts. Ich habe D.L. gefragt, wie viele Stunden es braucht, um einen Menschen zu verändern. Er sagte: vierzig. Und so war es. Nach vierzig Stunden stellten wir einen deutlichen Rückgang von Angst, Stress und Anspannung fest. Das Schwierigste, was wir Leuten beibringen, ist, sich ihrer eigenen Impulse und Emotionen bewusst zu werden, bevor sie in Rage geraten.

Sie wirken hingegen sehr ausgeglichen, trotz Ihres Pensums.

Dabei war ich von Geburt an ein schwieriger Mensch. Ich bin von der High School geflogen, weil ich den Lehrern immer widersprochen habe.

Sie sind Jude, tragen aber die tibetische Flagge am Revers. Sind Sie konvertiert?

Ich habe es nur ein Jahr lang ernsthaft mit dem jüdischen Glauben versucht, das war, nachdem meine Mutter gestorben war. Es hat für mich nicht funktioniert. Aber ich bin auch kein Buddhist, ich bin Wissenschaftler. Die beiden härtesten Dinge, die ich je getan habe, waren nach 35 Jahren das Rauchen aufzugeben und in ein 10-Tage-Meditations-Seminar zu gehen.

Also hat D. L. Sie doch tief beeindruckt?

Auf halber Strecke, in der ersten Wissenschaftskonferenz, hat er meine Hand gehalten. Ich hatte plötzlich ein ganz ungewöhnliches Gefühl. Das Unglaubliche war, dass ich die nächsten sieben Monate lang keine Wut gespürt habe. Bis dahin hatte ich mindestens ein bis zweimal die Woche mit Wut zu tun.

Der weltbeste Experte für Emotionen braucht also den Dalai Lama, um sich von seiner Wut zu befreien?

Nach sieben Monaten kam die Wut zurück, aber nie mehr so intensiv wie vorher und nie mehr so gewaltig, dass ich etwas tue, was ich hinterher bereue.

Was hat Sie zuvor so wütend gemacht?

Ich glaube, es waren die Nachwirkungen des Hasses auf meinen Vater. Ich habe mir oft gewünscht, ich könnte ihn umbringen. Ich habe ihn für den Tod meiner Mutter verantwortlich gemacht. Als ich den Dalai Lama traf, war mein Vater schon 33 Jahre tot, aber mein Hass auf ihn hatte mich nie verlassen. Nach dem Treffen mit D.L. habe ich aufgehört, ihn zu hassen, ein Jahr später hatte ich ihm vergeben.

Wie erklären Sie sich das?

Als Wissenschaftler habe ich natürlich gleich Fälle von Menschen gesammelt und erforscht, denen Ähnliches mit ihm passiert war. Ich interviewte sie und legte D.L. die Mappe vor, aber ich konnte ihn einfach nicht dazu bringen, darüber zu sprechen! Er lachte nur. Und sagte: ,Paul, du bist zu westlich!'

Paul Ekman, 73, ist emeritierter Professor für Psychologie an der Universität von Kalifornien in San Francisco, vielfacher Bestsellerautor und einer der weltbesten Experten für nonverbale Kommunikation. Seit mehr als vierzig Jahren erforscht er, wie Gefühle entstehen, wie sie sich äußern und wie man sie in anderen lesen kann. Jeder, der heute in einer US-Botschaft - egal in welchem Land - oder bei der Einreise ein Visum ausgestellt bekommt, wird von einem Menschen befragt, der nach Ekmans Methoden geschult ist. Ekman hat außerdem ein komplexes Codier-System entwickelt, mit dem die Kameras in amerikanischen Flughäfen bestimmte Gesichtsausdrücke identifizieren können.

"Schon Stanislawski wusste: ,Mach die Geste, das Gefühl folgt nach!'"

"Der letzte wirklich gute Lügner in der Politik war John F. Kennedy."

„Wie viele Stunden es braucht, einen Menschen zu verändern? Vierzig!"

Wie alle guten Psychotherapeuten erweckt Paul Ekman sofort Vertrauen. Und den Eindruck, dass ihm, diesem aufmerksamen Mann mit der sonoren Stimme, aber auch nicht das winzigste Detail entgeht. Es ist ein relativ kühler Abend in Los Angeles, Ekman (Foto) hat den ganzen Tag am Set der neuen Fox-Serie "Lie to me" verbracht. Deshalb will er nun im Restaurant in Westwood nahe am Kaminfeuer sitzen - und noch bevor ihm der Kellner den ersten Whisky auf Eis serviert, taut Ekman auf. Also, stimmt es, dass er in Gesichtern lesen kann wie sonst niemand? Foto: Jonathan Sprague / Redux / laif

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Ältere nehmen seltener an Weiterbildungen teil

Ältere Menschen nehmen seltener an Weiterbildungen teil. Das geht aus dem neuen Altersdaten-Report "Bildung und Alter" des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) in Berlin hervor, für den die Forscher Daten verschiedener Statistiken und Untersuchungen auswerteten. Demnach gab im Jahr 2007 die Hälfte aller 35- bis 44-Jährigen an, sich in den vergangenen zwölf Monaten weitergebildet zu haben. In der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen traf das nur auf 26 Prozent zu. Allerdings stieg zwischen 2003 und 2007 die Zahl älterer Teilnehmer bei Fortbildungen. dpa/tmn

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"Mehr Bedeutung fürs Internet"

Jakob Augstein über Pläne mit der Wochenzeitung "Freitag"

Am Montag wurde bekannt, dass Jakob Augstein, 40, Sohn des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein, die linke Wochenzeitung Freitag (Auflage: circa 13 000) gekauft hat. Der Freitag entstand 1990 als Zusammenschluss der DDR-Kulturzeitung Sonntag und der westdeutschen, DKP-nahen Deutschen Volkszeitung. Die Eigentümer des Freitag waren zuletzt Ärzte, Sozialwissenschaftler und Journalisten, außerdem gab es vier Herausgeber, darunter der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Was Augstein, der das Redaktionsteam vergrößern wird und aufs Internet setzt, bezahlte, ist nicht bekannt.

SZ: Herr Augstein, was haben Sie Ihrer neuen Redaktion über die künftige Ausrichtung erzählt?

Jakob Augstein: Ich habe gesagt, dass unsere gemeinsame Arbeit jetzt erst anfängt. Was wir da umsetzen wollen, wird noch Monate brauchen. Aber die publizistische Linie soll sich nicht verändern. Wir werden sie verbreitern. Das, was man bisher im Freitag lesen konnte, wird man auch künftig lesen können - und noch mehr. Und wir werden dem Internet eine viel größere Bedeutung beimessen.

SZ: Mit der Stamm-Mannschaft, den 12, 13 Redakteuren und Mitarbeitern, wird das kaum zu leisten sein.

Augstein: Wir stellen neue Leute ein, es soll ein Team von 20 festen Mitarbeitern entstehen, und wir werden viel mit syndizierten Beiträgen arbeiten.

SZ: Wer wird neuer Chefredakteur?

Augstein: Philip Grassmann, der bisher im Berliner Büro der Süddeutschen Zeitung tätig war.

SZ: Warum hat Sie besonders dieses Projekt interessiert?

Augstein: Weil der Freitag in der Tat eine Sonderstellung unter den Zeitungen in Deutschland einnimmt. Er hat eine ganz eigene, immer wieder überraschende und kluge Sicht auf die Dinge.

SZ: In der aktuellen Ausgabe wird gefragt: "Wie geht's der Mitte?" - ein Thema, das überall diskutiert wird.

Augstein: Es geht nicht um einzelne Themen. Es geht um den Ansatz, mit denen sich der Freitag den Themen nähert. Bei vielen Zeitungen sehe ich die Tendenz zur Normierung, zur Mehrheitsmeinung. Sehr viele Medien berichten über die gleichen Dinge auf ähnliche Weise. Es gibt zwar sicher immer gute Gründe, warum bestimmte Themen überall auftauchen, doch die Unterschiede zwischen den Medien verschwimmen und verschwinden zunehmend. Diesen gleichen Prozess kann man auch in der Politik beobachten. Man kann das für eine Verarmung halten.

SZ: Bisher hat der Freitag circa 13 000 Käufer. Wie wollen Sie die Zeitung nach vorne bringen? Bleibt es beim Verzicht auf Werbung?

Augstein: Der Freitag wird sich auch über Anzeigen finanzieren müssen.

SZ: Und bleibt der Zusatz "Ost-West-Zeitung", 20 Jahre nach der Wende?

Augstein: Die Tradition als Ost-West-Zeitung wird weiter sehr wichtig sein.

SZ: Das heißt, es werden weiter viele spezifisch linke und osteuropäische Themen behandelt?

Augstein: Ich glaube, der Freitag muss vor allem ein Forum für Themen des sozialen Wandels sein, und das ist für Ost und West gleichermaßen relevant.

SZ: Wirtschaftlich soll das Blatt wachsen - woher könnte ein vermehrtes Leserpotential kommen?

Augstein: Es wäre zu früh, jetzt unsere publizistische Strategie darzulegen.

SZ: Beim Spiegel sind Sie mit der Erbengemeinschaft Augstein Minderheits-Gesellschafter. Sie tragen einen im Journalismus bekannten Namen - wird der Freitag, den Sie nun als Verleger lenken, Ihre publizistische Stimme?

Augstein: Der Freitag hat seine eigene Stimme. Und ich mache meine Arbeit aus publizistischem Engagement und aus journalistischer Leidenschaft heraus.

Interview: Christopher Keil

Sonderstellung: Verleger Jakob Augstein. Foto: LAIF

Augstein, Jakob Freitag SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schweigen, Blitz und Donner

Crashkurs in Konzentration: Beim Seminar "Zen for Leadership" versuchen Manager etwas völlig Ungewohntes: nichts zu tun

Von Jutta Pilgram

Sitzen. Einfach nur sitzen. Möglichst bewegungslos, in aufrechter Haltung, und dabei den Atem beobachten, wie er in gleichmäßigen Wellen durch den Körper fließt. Fünf oder sechs Stunden am Tag auf einem Kissen oder Bänkchen ausharren, zwischendurch schweigend durch den Raum gehen. Wach und konzentriert, aber ohne ein bestimmtes Ziel, ohne irgendeinen Auftrag. "Für Manager ist das eine Provokation", sagt Zen-Lehrer Paul Kohtes. "Wir empfinden es ja schon als Zumutung, wenn wir mal fünf Minuten warten müssen."

Kohtes hat eine der größten PR-Agenturen Europas gegründet, er weiß, wie Manager ticken. Zen - das klingt für sie nach Disziplin und Selbstverleugnung, nach japanischen Steingärten, kahlgeschorenen Mönchen, nach Kunst des Bogenschießens. "Zen for Leadership" heißt das Seminar, das Kohtes gemeinsam mit der Zen-Lehrerin und Unternehmensberaterin Brigitte van Baren im Benediktushof in der Nähe von Würzburg abhält. 22 Männer und Frauen, Geschäftsführer, Steuerberater, Ingenieure und Ärzte, wollen es sich beweisen und drei Tage lang nichts anderes tun als sitzen, atmen, schreiten, schweigen.

Beim Abendessen darf noch gesprochen werden, man tauscht Karrieredaten aus und beäugt sich skeptisch. "Ich habe eigentlich keine Ahnung, was das bringen soll", sagt eine Teilnehmerin, "aber ich will mal was ganz anderes machen." Einer, der schon mehrmals dabei war, schwärmt: "Es ist wie Doping. Wenn Sie in drei Tagen nach Hause fahren, sitzen Sie sogar konzentrierter am Steuer."

Man ist schließlich nicht zum Vergnügen hier. Das strenge Tagesprogramm wird genüsslich studiert: fünf Uhr früh aufstehen, Frühstück erst nach ein paar Runden Meditation und Körperübungen, später spülen, putzen oder Gartenarbeit. In der Vorstellungsrunde erzählen die Teilnehmer, was sie vom Seminar erwarten: Ich suche Entspannung, ich will endlich mal zur Ruhe kommen, ich muss unbedingt Energie tanken, Kraft für wichtige Entscheidungen sammeln.

"Nachgewiesene Effekte der Zen-Praxis sind: Zunahme des klaren Denkens, höhere Energie, stärkere Konzentration, mehr Geduld, Abbau von Stress", so steht es in der Seminar-Broschüre. Zugleich soll man absichtslos und ohne den üblichen Zweckrationalismus operieren - wie geht das zusammen?

Erst mal nimmt jeder auf seinem Kissen Platz, sucht eine stabile Haltung und lernt die Spielregeln des Zazens kennen. Wann verbeugt man sich, bei welchem Gong legt man die Hände ineinander, welches Klangholz läutet zum Essen? Alles ist perfekt organisiert - eigentlich könnte man jetzt beruhigt das zielgerichtete Denken einstellen, auf den Atem horchen und warten, was passiert. "Still sein ist anfangs sehr ungewohnt", sagt Kohtes, "aber es hilft, bei sich zu sein. Auch das Sitzen ist zunächst eher unangenehm. Doch es kommt vor, dass plötzlich das auftaucht, was ich wirklich bin. Das kann sehr befreiend sein."

Die ersten Runden hält man einfach durch, döst ein bisschen und wartet ab. Merkwürdig, dass keiner meutert. Vielleicht liegt es daran, dass Kohtes genau den richtigen Ton trifft: "Schräge Rituale, denken Sie vielleicht. Wir sitzen sinnlos herum, starren die Wand an, schleichen im Gänsemarsch durch den Raum. Aber machen Sie einfach mal mit! Lassen Sie es auf sich wirken."

Plötzlich ist sehr viel Zeit da. Zwanzig Minuten finden kein Ende. Die Kirchenglocken im Dorf läuten sieben Mal. Draußen ist es längst hell geworden. Jetzt müsste die Sequenz doch um sein. Man rechnet und versucht, sich zu erinnern, wie lange man schon sitzt. Unruhiges Geschnaufe im Raum. Warum gibt es immer noch kein Frühstück? Warum lässt man sich so etwas gefallen? Sind das alles verkappte Masochisten hier? Okkulte Praktiken, mit denen der Wille gebrochen werden soll? Wie herrlich ist doch ein Bürostuhl, man kann aufspringen, zur Tür, zum Telefon, zur Kaffeetasse greifen. Andererseits: Was ist schon dabei, einfach mal zehn Minuten länger sitzenzubleiben? Wenn man es schafft, einen Marathon zu laufen oder zwei Nächte durchzuarbeiten, sollte man doch auch eine halbe Stunde Stille ertragen können.

"Meine Gedanken rattern immer weiter", raunt die Zahnärztin beim Essen, "und das Gebimmel und Verbeugen gehen mir gegen den Strich, so was mache ich grundsätzlich nicht mit." Der Nachmittag bringt keine Abwechslung. Man sitzt, schweigt, schreitet. Zwischendurch sprechen die Lehrer über die uralte Versenkungstradition des Zen, die aus dem Buddhismus stammt, aber keine Religion ist. "Stellen Sie sich den Atem wie ein Flugzeug vor, das die Wolkendecke der Gedanken durchbricht, um in den blauen Himmel zu kommen", sagt Brigitte van Baren. "Unten sehen wir immer noch die Gedanken, aber jetzt sind wir Zuschauer, nicht mehr darin gefangen. Und wir sehen das Gebiet hinter den Gedanken - die Leere."

Was hat das mit Management zu tun oder mit "Leadership"? Nicht mehr als mit Kindererziehung oder Straßenbau. Zen ist eine Haltung, die man in jeder Lebenlage üben kann. Zum Beispiel an der roten Ampel oder in der Schlange am Flughafenschalter: Statt sich zu ärgern, kann man auch drei tiefe Atemzüge nehmen und sich konzentrieren. "Machen Sie Ihren Alltag zur Übung", sagt Baren, "wählen Sie irgendeine Strecke, die Sie regelmäßig zurücklegen, zum Beispiel einen zehn Meter langen Gang im Büro."

Zwischen den Sitz-Sequenzen zeigt die Physiotherapeutin Hannelore Fürst den Managern, wie sie sich besser bewegen. "Die meisten beruflich stark eingespannten Menschen haben Rückenprobleme oder andere Haltungsschmerzen", sagt sie. "Zen-Meditation kann da helfen." Die Teilnehmer bewegen sich also, später tanzen und singen sie sogar, um sich zwischen dem Sitzen aufzulockern. Oder sie liegen auf ihren Matten und lauschen fernöstlichen Klängen. Bei einem Konzert am zweiten Abend sind alle weit entrückt. Großer Theaterdonner mit Klangschalen und Gongs.

Am letzten Morgen stehen manche schon früh auf der Terrasse vor dem Speisesaal, der Nebel senkt sich in die Bäume, es riecht nach Sandelholz und nassem Gras. Die Manager starren in die Nacht und halten ihre dampfenden Kaffeetassen fest umklammert. Das Atmen ist eine Sensation, das Sitzen schon fast ein Bedürfnis. Man fühlt sich wie auf einem Drei-Tages-Trip nach Dharamsala.

Doch das, was im Benediktushof veranstaltet wird, ist keine fernöstliche Folklore. Der Gründer des Zentrums, Willigis Jäger, ist Benediktinermönch und Zen-Meister. Er hält die westlichen Wege der Kontemplation den östlichen Meditationstechniken für ebenbürtig. In seinen Büchern hat er die christlichen Mystiker vielen Lesern nahegebracht - trotz eines Redeverbots, das ihm die katholische Kirche derzeit auferlegt hat.

Das gute Gefühl am Schluss - ist es nur Erleichterung oder Stolz, durchgehalten zu haben? Die Teilnehmer berichten von wunderbaren Erkenntnissen und Geistesblitzen, Paul Kohtes gibt sich damit nicht zufrieden. "Das kleine ChangeManagement, das wir hier betreiben, hat natürlich angenehme Nebeneffekte: Entspannung, Konzentration, Glücksgefühle. Aber es geht nicht nur um eine paar Veränderungen, die uns optimieren. Selbst wenn wir irgendwann perfekt sitzen und schweigen können, ist das nicht der Sinn. Es ist nur die Vorstufe."

Zum Seminar

Viele Führungskräfte leiden unter der Spannung zwischen beruflichem Engagement und persönlicher Entwicklung. Das dreitägige Seminar "Zen for Leadership" soll ihnen helfen, die Lebensqualität sowohl am Arbeitsplatz als auch im privaten Umfeld zu verbessern. Es ist speziell für Menschen in verantwortlicher Position entwickelt worden und besteht aus Zazen (Sitzen in Stille), Körperübungen, Vorträgen, Einzelgesprächen mit den Kursleitern und einem meditativen Konzert als Abschluss. Das Seminar findet im Benediktushof in Holzkirchen bei Würzburg statt und kostet 395 Euro ohne Unterkunft und Verpflegung. Zum Kurs gehört eine Stunde Mitarbeit pro Tag in Küche, Haus, Werkstatt oder Garten. Die nächsten Termine: 21. bis 24. Juni, 20. bis 23. September, www.zenforleadership.com

Man döst, man rechnet, man wartet ab. Merkwürdig, dass niemand meutert

Entspannung, Konzentration, Glücksgefühle - nichts als angenehme Nebeneffekte

"Sinnlos sitzen": Im Kreuzgang üben Führungskräfte die Versenkung. Foto: oh

Konzentriert auf das Nichts: Drei Tage lang beobachten Führungskräfte im Benediktushof bei Würzburg ihren Atem. Was zunächst wie eine einfache Übung erscheint, entpuppt sich als Herausforderung. Foto: Hermann Dornhege

Führungskräfte in Deutschland Berufliche Weiterbildung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Heikler Gnadenakt des Papstes

Benedikt XVI. will vier exkommunizierte Bischöfe zurück in die Kirche holen, unter ihnen ist ein Rechtsextremer

Von Julius Müller-Meiningen

Rom - Papst Benedikt XVI. plant offenbar, vier exkommunizierte Bischöfe der Lefèbvre-Strömung wieder in die katholische Kirche aufzunehmen. Unter ihnen ist auch ein bekennender Rechtsradikaler. Wie am Donnerstag bekannt wurde, ermittelt die Staatsanwaltschaft Regensburg gegen dem britischen Bischof Richard Williamson wegen Volksverhetzung, weil dieser den Holocaust geleugnet habe. Zeitgleich berichtete die Zeitung Il Giornale, der Papst habe bereits ein Dekret unterschrieben, das den Kirchenausschluss von vier Bischöfen aufhebe, die der traditionalistische Erzbischof Marcel Lefèbvre 1988 ohne Genehmigung des Heiligen Stuhls geweiht hatte. Unter ihnen ist auch Williamson. Damit wird das im Streit um die Rolle Pius XII. angespannte Verhältnis zwischen Judentum und katholischer Kirche einer weiteren Belastungsprobe ausgesetzt.

Der Vatikan hat den Bericht bislang nicht dementiert, was Kirchenkreise als Bestätigung der Informationen werten. Sprecher Ciro Benedettini sagte, der Vatikan bereite eine Erklärung zu dem Thema vor. Das am Mittwochabend im schwedischen Fernsehen ausgestrahlte und im lefèbvrianischen Priesterseminar in Zaitzkofen bei Regensburg aufgezeichnete Interview mit Williamson könnte nun die Pläne des Pontifex durcheinander gebracht haben. "Ich glaube, dass die Gaskammern nie existiert haben", wird Bischof Williamson darin zitiert. "Ich denke, dass 200 000 bis 300 000 Juden in den Konzentrationslagern umgekommen sind, aber keiner in den Gaskammern", fügte er hinzu. Williamson wie auch die von Lefèbvre ins Leben gerufene "Priesterbruderschaft Pius X." sind seit langem für ihre distanzierte Haltung gegenüber dem Judentum und ihre Ablehnung des interreligiösen Dialogs bekannt.

Anlass für den anscheinend bevorstehenden Gnaden-Akt des Papstes ist ein jahrzehntelanger Streit zwischen der Priesterbruderschaft und dem Heiligen Stuhl. 1988, unter Papst Johannes Paul II., zogen sich der inzwischen verstorbene Lefèbvre sowie Williamson, der Schweizer Bernard Fellay, der Franzose Bernard Tissier de Mallerais und der Spanier Alfonso de Galarreta die Exkommunikation wegen unerlaubter Bischofsweihen zu. Die Bruderschaft hatte zuvor die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) abgelehnt. Mit Joseph Ratzinger als Papst hat sich das Verhältnis deutlich verbessert. Als Benedikt XVI. im März 2007 Latein als offizielle Liturgiesprache zuließ, kam er einer zentralen Forderung der Traditionalisten um Lefèbvre nach. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt war der Papst im August 2005 auch mit dem exkommunizierten Bischof Fellay zusammengekommen.

Nach Bekanntwerden der Äußerungen Williamsons sagte Pater Eberhard von Gemmingen, Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan, der Schritt dürfe nicht als Wende des Papstes nach rechts interpretiert werden. Benedikt habe das offiziell nicht bestätigte Dekret mit Sicherheit in Unkenntnis der Äußerungen Williamsons unterzeichnet. "Ich verstehe es vielmehr als Schritt des Papstes, Brücken zu bauen und Frieden zu stiften." Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte eine Distanzierung des Vatikans und erstattete Strafanzeige gegen Williamson. (Bayern)

Traditionalisten

Es gibt viele Strömungen in der katholischen Kirche, die päpstlicher als der Papst sind. Zu den konservativsten zählen die Traditionalisten um den 1991 verstorbenen Bischof Marcel Lefèbvre. Der Franzose hielt die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils für verfehlt. Die alten Traditionen, etwa in der Messe, wollte er beibehalten und den Austausch mit Nicht-Katholiken einschränken. Zum Bruch mit Rom kam es 1988, als Lefèbvre trotz Warnung vier Anhänger zum Priester weihte, die dann exkommuniziert wurden. SZ

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Busseln im Business

Schmatz-Schmatz: Auch im Geschäftsleben greift der Trend zum Begrüßungsküsschen um sich

Ein High-Five zur Begrüßung? Das ist etwas für Spätpubertierende, die einen Handschlag spießig finden. Und ein Fäustezusammenstoßen nach dem Vorbild des Ehepaares Obama ist wohl eher etwas für ehrgeizige Politiker. Hierzulande greift eine andere Geste um sich, und zwar nicht nur in der Schickeria von München und Düsseldorf, unter Künstlern, Schauspielern oder Werbern: das Bussi rechts, Bussi links. Auf Schulhöfen, in Uni-Mensen und auf Partys der sogenannten Thirty-Somethings wird geschmatzt, was das Zeug hält.

Dabei weiß keiner so recht, wie es richtig geht. Denn eigentlich ist die Busselei dem Deutschen eher fern. Das ist wohl auch der Grund, aus dem viele das Umhalsen und Küsschenhauchen als unangenehm empfinden: "Es hat sicher etwas mit der Globalisierung zu tun, dass sich auch die Deutschen dieser Begrüßung immer mehr annehmen", sagt die Stilberaterin Salka Schwarz aus Berlin. Gut zu beobachten ist das bei internationalen Politiker-Treffen.

Der sozialistische Bruderkuss ist längst passé, doch gerade Bundeskanzlerin Angela Merkel wird von ihren ausländischen Kollegen gern geherzt, umarmt oder gebusselt - mal einmal, mal zweimal oder gleich dreimal. Dass dies nicht immer eine gelungene Geste ist - und wie unwohl sich Merkel dabei mitunter fühlt - dokumentieren zahllose Pressefotos und Fernsehbilder.

"In unserer ureigenen Kultur sind die auf die Wangen gehauchten Küsse eine absolute Grenzüberschreitung", sagt der Benimmtrainer Jan Schaumann aus Berlin - und zwar eine Überschreitung "der von uns subjektiv gefühlten Distanzzone". Trotzdem greift er um sich, der Luftkuss: "Manche bringen es einfach aus dem Urlaub in Frankreich mit nach Hause, wissen dann aber gar nicht so genau, wie und bei wem sie das einsetzen sollen", hat Schwarz beobachtet. Peinliche Situationen sind angesichts verunglückter Gesten, einer Kollision der Nasen oder eines auf den Mundwinkel verrutschten Kusses oft die Folge.

Ein paar Regeln gibt es, die das Schlimmste verhindern können: "Normalerweise haucht man jeweils einen Kuss auf jede Wange, und zwar erst rechts und dann links", sagt die Kommunikationstrainerin Susanne Helbach-Grosser aus Schwäbisch Gmünd. Geküsst wird dabei überhaupt nicht - nur die Wangen dürfen sich leicht berühren, wenn überhaupt. "Und die Lippen werden bei diesem oft eher oberflächlich wirkenden Begrüßungsritual schon mal gar nicht gespitzt." Bei förmlicheren Gelegenheiten müsse immer die Frau oder der sehr viel ältere Mann signalisieren, welche Form der Begrüßung sie oder er will, fügt Helbach-Grosser hinzu.

Schaumann sagt, dass man in einer Gruppe entweder alle oder keinen per Wangenkuss begrüßen sollte - mit Ausnahme der Partnerin oder des Partners, und die dann grundsätzlich zum Schluss. Denn belanglos ist das Busseln gar nicht. Vielmehr kann es zum wahren Ritterschlag werden. "Diese Küsschen, die ja eigentlich gar keine sind, sind ein klares Statussymbol in einer Gruppe, ein Zeichen von Zusammengehörigkeit - gerade unter Jugendlichen", sagt Stilberaterin Schwarz. Da ist es schon wichtig, wer, wem, wann und wo für die Begrüßung näherkommen darf.

Manchmal reicht es schon, einem Fremden gerade erst vorgestellt worden zu sein - und schon bei der Verabschiedung gehört man dann dazu, wenn man Glück hat. Oder man gehört eben nicht dazu. Denn mancher verzichtet komplett auf solcherart schnell zur Schau getragene Zeichen der Vertrautheit. Eine solche Abneigung muss allerdings beherzt vermittelt werden: "Um die Busselei von vorneherein abzuwehren, streckt man am besten schnell die Hand aus, um dem anderen zuvorzukommen", rät Etikettetrainer Schaumann.

Auch ein "Hallo" oder "Tschüs" aus der Ferne - möglicherweise noch mit einem kleinen Winken - kann helfen, meint Schwarz. Kommt der andere dann doch verdächtig nah, kann man ihn zusätzlich mit beiden Händen an den Oberarmen oder der Brust auf Abstand halten. "Ich muss schließlich niemanden in meine Intimzone lassen", sagt Schaumann. Unter dem Strich helfen also nur genaues Beobachten und klare Körpersprache. Britta Schmeis/dpa

Der richtige Luftkuss

Einmal, zweimal oder sogar dreimal küssen? Erst rechts, dann links und noch einmal rechts? Nicht nur in Spanien und Frankreich können Deutsche in ungewohnte Begrüßungsrituale hineingeraten. Selbst innerhalb von Deutschland haben Stilberater beim Thema "Küsschen zur Begrüßung" Unterschiede ausgemacht: "Im Westen wird eher zweimal gehaucht, im Osten einmal", sagt der Etikettetrainer Jan Schaumann aus Berlin. Und unter Jugendlichen sind die Codes noch unklarer: Mitunter darf es da auch ein Handschlag, eine echte Umarmung oder ein wahrhaftiger Kuss auf die Wange sein. Wer dazugehören will, muss sich auskennen.

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Insel der Seligen

Die Krise trifft auch die erfolgsverwöhnte Chemie-Industrie - trotzdem wird Personal gesucht

Die chemische Industrie gilt als viertgrößte Industriebranche in Deutschland. Etwa 437 300 Menschen arbeiten in diesem Sektor, darunter Juristen, Volkswirte, Ingenieure und natürlich Chemiker. Sie stellen längst nicht nur Kunststoffe oder Lacke her. Wasch- und Körperpflegemittel gehören genauso dazu wie Pharmazeutika. Auch wenn sich das Wachstum nach vier guten Jahren derzeit deutlich abflacht - langfristig sieht sich die Chemieindustrie sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands nach wie vor gut aufgestellt, auch was die Job-Perspektiven angeht.

"Seit Beginn des Aufschwungs im Jahr 2003 ist die deutsche Chemie mit mehr als vier Prozent deutlich dynamischer gewachsen als die übrigen Chemieindustrien Europas", sagt Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie (VCI) aus Frankfurt. Dass sich mittlerweile fast überall das Wirtschaftswachstum abschwächt, geht zwar nicht spurlos an der Chemiebranche vorbei. "Damit wird auch die Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen geringer", sagt er. Trotzdem: "Nach unseren Beobachtungen finden Chemiker zurzeit relativ leicht eine neue Stelle", sagt Karin Schmitz von der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) in Frankfurt. "Das gilt besonders für Berufseinsteiger. Sie profitieren davon, dass die Zahl der promovierten Absolventen derzeit auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren ist."

Wer Interesse an diesem Industriezweig hat, kann eine klassische Lehre machen - als Chemikant, Pharmakant, Chemielaborant, Mechatroniker oder Industriemechaniker. Oder er geht an eine Hochschule: "Je nach Interesse kommen Chemie, Biochemie, Lebensmittelchemie oder Chemie/Chemieingenieurwesen an Fachhochschulen und Universitäten in Frage", sagt Schmitz. Arbeit finden die Fachkräfte dann in ganz verschiedenen Bereichen, etwa in der Abfallwirtschaft, als Patentanwalt, als Chemiker bei einer Berufsgenossenschaft oder im Labor zur Entwicklung von neuen Düften.

Momentan gibt es nach Angaben des VCI zwar keinen Fachkräftemangel bei Chemikern und sonstigen Naturwissenschaftlern. Aber in bestimmten Disziplinen fehlen dennoch Experten, darunter in der Toxikologie, Elektrochemie, Makromolekularen Chemie und den Materialwissenschaften sowie in der sogenannten Grenzflächenchemie und -physik. "In diesen Bereichen werden sowohl qualifizierte Hochschulabsolventen als auch Berufspraktiker gesucht."

Nach der Ausbildung verdienen Fachkräfte etwa 30 000 Euro brutto im Jahr. "Für Hochschulabsolventen können die Einstiegsgehälter je nach Fachrichtung sehr unterschiedlich ausfallen", sagt Dirk Meyer, Leiter für Aus- und Weiterbildung beim Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) in Wiesbaden. Los gehe es bei Jahresgehältern von 40 000 Euro brutto. "Naturwissenschaftliche und technische Angestellte mit Uni-Diplom verdienen im zweiten Beschäftigungsjahr etwa 52 000 Euro."

Ohne Englisch geht in der Branche fast nichts. "In vielen Unternehmen ist Englisch als Arbeits- und Firmensprache weit verbreitet", sagt Meyer. So seien beispielsweise viele Regularien in englischer Sprache verfasst. Das Beherrschen einer weiteren Fremdsprache wie Französisch könne in gewissen Situationen von Vorteil sein, etwa wenn der Mutterkonzern aus Frankreich stammt. Zudem sollten Berufseinsteiger ausreichend mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse und IT-Know-how mitbringen. Angelika Röpcke/dpa

Kontakt: Verband der Chemischen Industrie, Mainzer Landstr. 55, 60329 Frankfurt, www.vci.de, Informationen zu Chemiestudium und Ausbildungsberufen: www.chemie-im-fokus.de, www.chemie4you.de

Eine Forscherin beobachtet Labortests an einem Rotationsverdampfer. Foto: dpa

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Ministerin Dati soll Regierung verlassen

Paris - Staatspräsident Nicolas Sarkozy baut die französische Regierung weiter um. Auch Justizministerin Rachida Dati wird ihren Posten voraussichtlich im Mai aufgeben, um für das Europaparlament zu kandidieren. Sie tut dies nicht freiwillig. Die 43-Jährige hatte noch vergangene Woche betont, sie sei "nicht bereit", das Kabinett zu verlassen. Kurz zuvor war sie nur fünf Tage nach der Geburt ihrer Tochter Zohra an den Arbeitsplatz zurückgekehrt und hatte damit großes Aufsehen erregt. Den Namen des Vaters hält sie geheim. Unter möglichen Kandidaten kursiert auch der Name von Sarkozys jüngerem Bruder Francois.

Dati selbst wollte ihren Rückzug am Freitag nicht bestätigen. Sarkozy deutete aber am Rande einer Pressekonferenz zum französischen Zeitungswesen unmissverständlich an, Dati werde an diesem Samstag von seiner Partei für die Europawahl nominiert. Anfang der Woche war Sarkozy mit den Worten zitiert worden, er erwarte, dass Dati das tue, was er wolle. Demnach wird sie wohl auf dem Parteirat der UMP auf Platz zwei der Europaliste der Hauptstadtregion Ile-de-France platziert werden, und zwar hinter Landwirtschaftsminister Michel Barnier, dessen Ausscheiden geplant war. Beider Einzug ins Europaparlament, das am 7. Juni gewählt wird, gilt als sicher. Sarkozy misst den Europawahlen große Bedeutung bei. Er will vermeiden, dass seine Partei wegen der Wirtschaftskrise abgestraft wird. Er baut deshalb die Führungsriege der UMP um und schickt namhafte Zugpferde ins Rennen.

Dati war zu Beginn von Sarkozys Amtszeit im Frühjahr 2007 eine der prominentesten Figuren im Kabinett. Sie war die erste Frau nordafrikanischer Abstammung, die ein großes Ministerium in Frankreich übernahm. Doch bald machte sie sich unbeliebt, weil sie umstrittene Reformen gegen alle Widerstände durchsetzte. Später missfiel zunehmend ihr vermeintlicher Hang zum Luxus. Als Abgeordnete wird Dati voraussichtlich etwas aus den Schlagzeilen verschwinden - zumindest dürfte das das Kalkül von Sarkozy sein.   Michael Kläsgen

Dati, Rachida Innenpolitik Frankreichs Europawahlen in Frankreich SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Klingt gut - aber warum?

Benennungsmarketing: Wie Namen und Claims von Firmen, Produkten und Dienstleistungen entstehen

Von Birgit Fritz

Jeder Mensch hat einen Namen. Aber auch Firmen, Produkte und Dienstleistungen brauchen Namen, die man sich merkt und mit positiven Assoziationen verbindet. "In einem großen Kaufhaus stoßen Kunden auf mehr als 60 000 Markennamen", sagt Bernd Samland. Seine Agentur Endmark in Köln hat sich auf Namensfindung spezialisiert. Ende 2006 waren in Deutschland mehr als 1,1 Millionen Marken geschützt. Und es kommen ständig neue Produkte, Dienstleistungen, Wertpapiere, E-Commerce-Anwendungen und Firmen auf den Markt, die benannt werden wollen.

Nicht irgendwie - denn der gute Name ist das Aushängeschild, das Emotionen wecken und auffallen soll. Und er muss selbstverständlich zu einem Produkt oder Unternehmen passen, denn er dient der Identifizierung. Darüberhinaus sollen Werbesprüche, auch Slogans oder Claims genannt, Marken entsprechend positionieren. Deshalb ist die Namensvergabe und die Schaffung von Werbesprüchen kein Kinderspiel, sondern eine Aufgabe für sich. Benennungsmarketing wird sie genannt und von speziellen Agenturen übernommen.

"Wir sind spezialisiert auf Buchstabenkombinationen und darauf, Aussagen des Kunden in einer kurzen Form rüberzubringen", sagt Sybille Kircher, Geschäftsführerin der Agentur Nomen International Deutschland in Düsseldorf. Da es immer mehr Marken gibt, wird es für die Unternehmen oder auch für Werbeagenturen immer schwieriger, neue Namen selbst zu suchen. "Es gibt vielleicht fünf bis acht Agenturen in Deutschland, die auf Benennungsmarketing spezialisiert sind", sagt Julia Bünz, Kundenberaterin bei Endmark. Der Politologe und Medien-Experte Samland beschäftigt in seiner Agentur Sprach-, Informations- und Kommunikationswissenschaftler. Mit dem Namen des Fernsehsenders Vox begann seine Karriere als Entwickler von Bezeichnungen.

Namen wie Schmidt, Meier oder Müller sind nicht gefragt. "Gute Namen sind merkwürdig im wahrsten Sinne des Wortes", sagt Samland. Für die Namensbewertung hat Samland die "S-u-p-e-rFormel" entwickelt. Sie hinterfragt die Namenskreation: Ist sie einfach (simple), ist sie ein Unikat, kann sie geschützt werden (protectable), ist sie eloquent und gut zu erinnern (rememberable).

Beim Namensentwicklungsprozess recherchiert die Agentur zunächst die Wettbewerber, das Branchenumfeld und die Zielgruppe, um das Produkt oder Unternehmen zu positionieren und ungenutzte Themen aufzuspüren. Unter Berücksichtigung von formalen Anforderungen wie dem Sprachraum beginnt der kreative Prozess. "Wir haben verschiedene Methoden, die je nach Marketing-Anforderung zum Einsatz kommen", sagt Julia Bünz. "Dazu zählen begriffliche Transfers, wie bei der Entwicklung des Namens ,Bipop' für ein Biermischgetränk, bei der sich der Name an die Musikrichtung Bebop anlehnt, oder aber die Begriffssammlung aus verschiedenen Themen- und Assoziationswelten."

Vorschläge werden permanent von der Recherche-Abteilung geprüft. Gibt es bereits Namensrechte für ähnliche Namen, ist das ein K-.o.-Kriterium. Etwa 1000 bis 1500 Namen werden so kreiert und parallel selektiert und verworfen. Durch die Ähnlichkeitsrecherche fallen oftmals bis zu 99 Prozent der frei generierten Vorschläge heraus, sagt Samland.

Auch bei Nomen International sammelt man zuerst viele Ideen. "Wir arbeiten fast immer international. Deshalb ist die kreative Arbeit auch auf die weltweiten Stellen verteilt", sagt Sybille Kircher. So werden verschiedene Sprachgruppen vermischt. Acht feste und 150 freie Mitarbeiter beschäftigen sich in Teams mit der Namenssuche. "Die Recherche findet unter anderem in Fachwörterbüchern und in Datenbanken statt", sagt die Wirtschaftsromanistin. "Die gefundenen Ideen werden zusammengeführt, und daraus entstehen wiederum neue Vorschläge." Bis zu 10 000 Namen kommen so zusammen. "Daraus treffen wir eine Auswahl anhand der Anforderungen des Kunden", sagt Kircher. Dieser erhält 50 bis 100 Namen.

"Je nach Kundenwunsch werden die Namen auch auf ihre Bedeutung in anderen Sprachen geprüft", sagt Agentur-Chefin Kircher. Phantasie-Namen können in anderen Sprachen eine klare Bedeutung haben und von einem Teil der Zielgruppe deshalb falsch ausgelegt werden. Falls vom Kunden gewünscht, führen die Agenturen auch markenspezifische Wirkungstests durch. Sie untersuchen also, was Menschen mit den Namen assoziieren und wie gut sie sich daran erinnern. "In Anwendungstests prüfen wir zum Beispiel die Zitierfähigkeit am Telefon", sagt Bünz. Von Endmark erhält der Kunde letztlich eine Handvoll Namen zur finalen Auswahl.

Bei Einzelnamen dauert der gesamte Findungsprozess im Schnitt vier Wochen bis drei Monate - dann weiß man, was man hat. "Aber dies ist abhängig vom Projektumfang, vor allem vom Grad der Internationalität", sagt Bünz. In etwa der Hälfte der Fälle müssen Namen auch kurzfristig entwickelt werden, etwa wenn ein Kunde diesen für eine Messe benötigt. Ebenso variieren die Kosten je nach Leistungspaket. "Die Preise sind vom Schwierigkeitsgrad und den gewünschten Prüfungen abhängig", sagt Kircher. "Es ist wie bei Autos: Da gibt es Kleinwagen, aber auch Luxuskarossen." Nicht immer haben Namen tatsächlich auch eine Bedeutung. "Häufig ist die wörtliche Bedeutung des Namens für den Erfolg einer Marke relativ egal", sagt Endmark-Chef Samland. Wichtiger sei es, dass der Name positiv empfunden werde. Der von Nomen International kreierte Name "Arcor" soll Stärke, Dynamik und Kompetenz ausstrahlen, heißt es auf der Firmen-Homepage. Erst im Nachhinein schuf die Agentur eine Interpretation des Namens, so Kircher. Dies kann beispielsweise hilfreich sein, damit sich Mitarbeiter mit einem neuen Unternehmensnamen identifizieren können.

Der Kunde bekommt 50 bis 100 Vorschläge - aus einem Pool von 10000 Namen

Wichtiger als die wörtliche Bedeutung eines Namens ist das Gefühl, das er weckt

Damals war es noch einfach: Als die Marke "Nivea" kreiert wurde, ließ man sich vom lateinischen Adjektiv "niveus" (schneeweiß) inspirieren und prüfte noch nicht, welche Assoziationen der Name in anderen Sprachen weckt. Heute gehört dieser Abgleich zu den Standardaufgaben der Marketing-Agenturen. Foto: Visum

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Terminkalender

Begegnung in der Lounge. Trotz Wirtschaftkrise werden auf der Recruiting-Veranstaltung "Jobtower Munich" am 12. Februar wieder jede Menge Spezialisten gesucht. Insgesamt haben die teilnehmenden Firmen mehrere hundert Positionen in den Bereichen Engineering und IT zu besetzen. Neben der Möglichkeit, ernsthafte Vorstellungsgespräche mit den Fachabteilungen zu führen, gibt es den ganzen Tag über ein interaktives Vortragsprogramm. Tel. 089-12209498, www.job-tower-munich.com

Wettbewerb in Spontaneität. Grafikdesigner aus aller Welt können ihre Kreativität beim Wettbewerb "Cut&Paste" unter Beweis stellen: In 16 Städten rund um den Globus finden sogenannte Battles statt. Die Kandidaten erhalten ein Thema und müssen sich ganz spontan in Runden à 15 Minuten etwas einfallen lassen und ihre Ideen am Bildschirm gestalten. Die Entwicklung der Entwürfe kann das Publikum live auf großen Leinwänden verfolgen. Der Battle in Berlin findet am 18. April statt, Bewerbungsschluss ist der 20. Februar. www.cutandpaste.com

Coaching in der Krise. Viele Führungskräfte fragen sich derzeit: Können wir uns Coaching überhaupt noch leisten? "Coaching for Growth: Wirtschaftskrise - jetzt erst recht!" lautet das Motto des zweiten Münchner Coaching-Tages am 4. Februar. Neben Vorträgen und einer Podiumsdiskussion mit dem Titel "Wirtschaft in der Krise - was soll Coaching da schon helfen?" steht auch ein Live-Coaching auf dem Programm. Tel. 089- 38879637, www.coachfederation.de

Logistik im Aufwind. Die Fachhochschule Regensburg bietet vom kommenden Sommersemester den neuen Master-Studiengang Logistik an. In drei Semestern geht es dabei um die betriebswirtschaftlichen Aspekte von Transport und Lagerung von Gütern. Das Studium schließt mit dem "Master of Engineering" ab. Voraussetzung ist ein Bachelor oder ein gleichwertiger Abschluss. Tel. 0941-94302, www.hs-regensburg.de

Führung in der Natur. Den Spagat zwischen Machbarkeit und Risiken bewältigen, Ressourcen und Potentiale ausschöpfen und seine Stärken optimal einsetzen - das muss eine erfolgreiche Führungskraft können. Ein neues Outdoor-Training am 27. und 28. April in Oberstdorf soll helfen, diese Fähigkeiten zu entwickeln. Überdurchschnittliche Fitness ist nicht erforderlich. Tel. 0761-4708811, www.haufe-akademie.de

Pfleger in der Hochschule. An der Katholischen Fachhochschule München startet im Wintersemester 2009/2010 ein neuer dualer Studiengang für angehende Pfleger. Schulabgänger können so ein Studium mit einer Ausbildung in einem Pflegeberuf verknüpfen. Nach 4,5 Jahren erhalten sie den Bachelor und einen Abschluss als staatlich geprüfter Altenpfleger oder Gesundheits- und Krankenpfleger. Tel. 089-480921297, www.ksfh.de

Wirtschaftsinformatik im Netz. An der Technischen Fachhochschule Berlin startet zum Sommersemester der neue Online-Studiengang Wirtschaftsinformatik. Das berufsbegleitende Studium dauert sechs Semester. In dem kostenpflichtigen Angebot lernen Teilnehmer, Kommunikationssysteme für Unternehmen und den öffentlichen Sektor zu entwickeln. Einmal im Monat finden Präsenzveranstaltungen am Wochenende statt. Tel. 030-45042020, www.tfh-berlin.de jup

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Warum glaubt man mir meine Praktika nicht?

SZ-Leser Mehmet S. schreibt:

Ich bin im Libanon geboren, aber in Deutschland aufgewachsen, habe hier mein Abitur gemacht und anschließend BWL mit Schwerpunkt Marketing und Vertrieb studiert. Meine Abschlussnoten sind guter Durchschnitt, zwei mehrmonatige Praktika habe ich in der Firma meines Cousins in Beirut und Paris absolviert. In den Bewerbungsgesprächen spüre ich aber deutlich, dass man mir das nicht so recht abnimmt und eher

an längere Ferien glaubt. Leider habe ich keine Zeugnisse über die Praktika. Was mache ich jetzt?

Christine Demmer antwortet:

Lieber Herr S., mit Praktika ist das so eine Sache: Man sollte sie nicht nur gemacht haben, sondern auch in irgendeiner Form belegen können. Es muss ja nicht immer ein ausführliches Zeugnis sein. Ein Vierzeiler des Arbeitgebers, dass Frau oder Herr XY von dann bis dann als Praktikant oder Hospitantin

in dieser und jener Abteilung gearbeitet hat, erfüllt durchaus den Zweck der "Glaubhaftmachung", wie es Juristen formulieren würden. Bitten Sie doch Ihren Cousin, diese Dokumente nachträglich auszustellen und Ihnen zuzuschicken. Falls er den Grund nicht einsieht und sich über die Pingeligkeit der Deutschen amüsiert, dann lachen Sie einfach eine Runde mit. Hauptsache,

Sie bekommen die Papiere.

Noch besser wäre es, wenn daraus hervorginge, was Sie während der beiden Praktika getan haben. In welcher Abteilung Sie waren, was oder woran Sie konkret in Beirut und in Paris gearbeitet haben. Denn wenn Sie sich um eine Stelle als Vertriebsassistent bei einem Global Player bewerben, nur als Beispiel, dann fallen drei Monate tätige Mitarbeit in der Exportabteilung eines ausländischen Herstellers ordentlich

ins Gewicht. Zeugt das doch von Ihrem Bemühen, sich frühzeitig auf Ihrem künftigen Einsatzfeld umgeschaut und bewegt zu haben.

Bei der Beschreibung Ihrer Tätigkeiten sollten Sie sich allerdings so nah wie möglich an die Wahrheit schmiegen, auch wenn Sie "nur" in der Produktion oder im Sekretariat Ihres Cousins praktiziert haben - was sich, das nur am Rande, mit etwas Kreativität auch als zielführend darstellen lässt. Mit ziemlicher Sicherheit wird man Sie im Bewerbungsgespräch bitten, von Ihren Erfahrungen zu berichten. Man wird Ihnen sehr gespannt zuhören, seien Sie sicher.

Mancher Personalleiter entwickelt übrigens großen Ehrgeiz dabei, Bluffer zu enttarnen. Und weil er ja aus den übersandten Unterlagen weiß, was die Bewerber (angeblich) wo gearbeitet haben, könnte er sich noch besser vorbereitet haben als der Kandidat . . . Und eine solche Blamage, finde ich, ist die Sache nicht wert.

Haben Sie auch eine Frage zu Beruf und Karriere? Schicken Sie ein paar Zeilen an Christine Demmer. Sie beantwortet ausgewählte Briefe an dieser Stelle, selbstverständlich anonymisiert. (coaching@ sueddeutsche.de)

SZ-Serie Jobcoach SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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MEIN DEUTSCHLAND

Pascale Hugues

In diesen schweren Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen brauchen die Deutschen, vielleicht mehr als andere, stabile Koordinatensysteme. Ein Symptom für dieses Bedürfnis ist der etwas übertriebene Kult um Helmut Schmidt - der Altbundeskanzler scheint Antworten auf alle unlösbare Fragen zu haben, die Deutschland, ja den ganzen Planeten beschäftigen. Genau andersherum ist es mit Adolf Merckle: Dass ein Mann, Inbegriff des zupackenden Unternehmers und des gesunden Menschenverstandes, sein Imperium verzockte, hat die Menschen schockiert. Die heftigen Reaktionen der Medien, die Merckle als Jongleur, als Hasardeur bezeichneten, sind ein Maß für die Enttäuschung der Deutschen, wenn eines ihrer Vorbilder scheitert.

Vor allem aber ist es Barack Obama, der die Sehnsucht nach einem aufrechten Menschen verkörpert, nach einem Held, der die Krise besiegen könnte. Man erinnert sich an den Tiergarten, der schwarz vor Menschen war, als Obama im Sommer Berlin besuchte, als er nicht mehr als ein Kandidat fürs Weiße Haus war. Die Berliner haben ihn empfangen wie einen Superstar, nein wie einen Messias. "Ich habe seine Schulter berührt", rief damals eine junge Frau wie in Trance aus. Eine fast mystische Erfahrung. Und jetzt die Inbrunst, mit der die Deutschen an der Amtseinführung Obamas teilgenommen haben. Sie sucht ihresgleichen in Europa.

Franzosen reiben sich die Augen, diese Schwärmerei wäre in ihrem Land nicht möglich. Zunächst natürlich, weil Frankreich seit De Gaulle Abstand zum amerikanischen Onkel hält, das Verhältnis ist weniger gefühlvoll. Die Deutschen dagegen haben nicht vergessen, was sie Washington schulden - für die Demokratie, für den Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg, für die freie Stadt Berlin. Auf die Straße geht man in Frankreich durchaus, doch nicht für, sondern gegen jemanden. Zehntausende Franzosen haben gegen George W. Bush demonstriert, als in den Irak-Krieg gezogen ist. Und jede Reform, die eine Regierung egal welcher Couleur wagt, wird von Protesten eingeleitet - das ist ein Naturgesetz. Wenn in den Straßen von Paris jemand gefeiert wird, kann es sich nur um einen Popstar handeln.

Auf die Gefahr hin, zu psychologisieren und alte Klischees zu bedienen: Die Deutschen sind ein sorgenvolles Volk. Sie sind die Könige der Sparbücher, die Europäer mit den meisten Versicherungspolicen, die Meister der Angst - übrigens eines der wenigen Begriffe, die es in die französischen Wörterbücher geschafft haben. Wenn also der Boden unter den Füßen schwankt, tut ein junger, schwarzer, sympathischer und charismatischer Präsident gut. Und man will so gerne glauben, dass dieser Mann auf alles eine Antwort hat.

Vier Berliner Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point (Foto: Nelly Rau-Häring).

Hugues, Pascale SZ-Serie Mein Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Prinzip Hoffnung

Amerikas Politik ist verfahren, sie braucht jetzt motivierte und idealistische Leute

Zur Berichterstattung über die Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama schreiben SZ-Leser:

Hoffnungsträger wie Obama hätten bei uns leider keine Chance. Das Mehrheitswahlrecht sollten wir uns trotzdem nicht wünschen, wie man an acht Jahren George W. Bush sieht. Eine grundlegend verfahrene Politik lässt sich nur durch einen so umfassenden Austausch der regierenden Kaste mit neuen, unverbrauchten, motivierten, unabhängigen, idealistisch gesonnenen Leuten wie jetzt durch Obama wieder aufs Gleis bringen.

Alfred Mayer

München

Gott schütze

Amerika

Zu wünschen ist es wahrlich nicht - aber Barack Obama könnte scheitern, vielleicht sogar katastrophal. Seine Regentschaft könnte schon nach vier Jahren im Chaos enden, obwohl der neue Präsident sehr sympathisch und ehrlich und sicher intelligenter als sein Vorgänger Georg W. Bush ist. Doch verfügt er über die notwendige Sachkenntnis, die wirtschaftliche Krise nachhaltig zu überwinden, in der sein Land derzeit und seit langem steckt? Wird er tatsächlich entsprechend kompetente Berater und Mitarbeiter aussuchen? Und da schließlich Erfolge in der Sozial-, Friedens-, Umwelt- und Bildungspolitik von einer wirklich erfolgreichen Wirtschaftspolitik abhängen, muss man befürchten, dass Obama nicht im Stande sein wird, die in ihn gesetzte Hoffnung zu erfüllen.

Eine Mehrheit des amerikanischen Volkes verehrt Obama wie einen Erlöser, es hofft auf ihn, möchte an ihn glauben. Wenn der neue US-Präsident diese Hoffnung, diesen Glauben an ihn am Ende enttäuschen muss, was zu befürchten ist, wird die entsprechende Enttäuschung im Volk Wut und Gewalt hervorrufen. Dann "Gott schütze Amerika !".

Günter Woltmann-Zeitler

Arnbach

Deutschland -

der 51. Bundesstaat

Es war schon ein beeindruckendes Schauspiel, die Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten. Deutsche Politiker und Massenmedien überschlugen sich geradezu vor Begeisterung über Obama. Für sie ist er wohl die Inkarnation des großen Manitu, der Hoffnungsträger der ganzen Welt, der Weltmeister aller Klassen, ein Medienstar, wie er im Buch steht. Andächtig schauten wir Deutsche zu, wie die Amerikaner ihren Präsidenten und ihr Land feierten. Niemand kann ihnen das verübeln, im Gegenteil, wir Deutschen können von der amerikanischen Nation lernen. Bei uns sind Begriffe wie Nationalstolz, Vaterlandsliebe oder Heimattreue Schimpfwörter.

Wenn aber die Medienvertreter Washington verlassen haben, dürfen auch unsere Politiker vor dem amerikanischem Freund oder gar Bruder im Geiste ihre Bücklinge machen. Selbstverständlich werden sie dabei ihre Treueschwüre wiederholen: Amerika geh du voran, wir folgen dir durch alle Kriege und Finanzkrisen. Allem Anschein nach haben Regierung und Medien dieses Landes entschieden, Deutschland als 51. Bundesstaat den USA anzuschließen. Diesen Eindruck musste man schon am 4. November 2008 gewinnen. Schon lange vor dem Wahltag waren die Nachrichtenstudios der deutschen Fernsehanstalten verwaist, alle namhaften Nachrichtenredakteure befanden sich jenseits des Atlantiks. Eine Woche lang drehte sich von morgens bis abends alles nur noch um Obama. Die Berichterstattung grenzte schon an Götzenverehrung.

Hermann Belting

Hamm

Die vergessenen

Indianer

Obamas Präsidentschaft wird mit Recht als entscheidender Sieg über den Rassismus gewertet. In diesem Sinne hat er sich auch in seiner Antrittsrede geäußert. Als jemand, der dreißig Jahre im Ökumenischen Ausschuss der deutschen Kirchen für Indianerfragen in Amerika gearbeitet hat, bedauere ich allerdings, dass Obama kein Wort für die großen Leidtragenden der amerikanischen Kolonisation gefunden hat: für die indigene Urbevölkerung, die bis heute um die Anerkennung ihrer Anliegen kämpft. Der Präsident wollte alle einbeziehen - die Christen, die Muslime, die Juden und die Hindus. Die drei Millionen Ureinwohner, die zweifellos erheblich zahlreicher sind als die Hindus, hat er noch nicht im Blick.

Im Übrigen sind die Begriffe Sklaven und Leibeigene nicht gleichbedeutend, wie in der Reportage "Ein Mann, ein Versprechen" verwendet. Ein Leibeigener war in der Feudalgesellschaft des Mittelalters zwar ein in seinem Selbstbestimmungsrecht eingeschränkter Mensch, aber eben ein Mensch. Ein Sklave hingegen galt juristisch als Sache und war damit seines Menschseins beraubt.

Prof. Dr. Hans-Jürgen Prien

Selmsdorf

Eine Nation

mit vielen Gesichtern

Obama, der Mutmacher - das hat Amerika auch dringend nötig. In der allgemeinen Besoffenheit ging freilich einiges unter, zum Beispiel, dass dieser Präsident mit keinem Wort auf Amerikas Ureinwohner einging, die das "friedliche"Land mit genozidähnlichen Methoden in die Fastausrottung zwang. Waren das die "Heldentaten" von denen Jörg Häntzschel berichtete? "Unsere Macht allein kann uns nicht schützen, und sie gibt uns nicht das Recht, zu tun, was immer wir wollen." Das klingt schon besser, Herr Präsident. In der Geschichte Amerikas und der Welt scheint sich allerdings der neue Herold nicht recht auszukennen. Amerika sei ein Freund jeder Nation, jeden Mannes, jeder Frau, jedes Kindes, die nach einer Zukunft in Frieden und Würde suchen. Wer hat denn weit über Hunderttausend Tote im Irak hinterlassen? Es gab auch einen Präsidenten Ronald Reagan, der einst in Richtung Osten den Menschen hinter dem "Eisernen Vorhang" zurief, sie seien "auf immer geächtet". Amerika hat viele Gesichter

Hans Ingebrand

Berlin

Der neunte Präsident

mit deutschen Wurzeln

Wolfgang Koydl irrt, wenn er von "Ausnahmen" im Zusammenhang mit deutschstämmigen US-Präsidenten spricht. Barack Obama ist in einer Reihe zu nennen mit Dwight D. Eisenhower, Herbert Hoover, Richard M. Nixon, George W. und George Herbert W. Bush, Theodore Roosevelt und Franklin Delano Roosevelt sowie Grover Cleveland - alles ehemalige US-Präsidenten mit deutschen Wurzeln. Obamas Vorfahren kommen aus Kenia, England, Schottland, Irland, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Er ist der neunte US-Präsident mit deutschen Wurzeln.

Die größte ethnische Gruppe der USA sind die Deutschstämmigen. Als solche gelten heute in den USA rund 25 Prozent der 305 Millionen Staatsbürger. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2000 hat sich die Mehrheit der Bevölkerung in 23 Bundesstaaten (das sind 46 Prozent der 50 US-Bundesstaaten) dazu bekannt, deutsche Vorfahren zu haben. Dazu gehört traditionell Illinois, der Staat, den Senator Obama seit Januar 2005 in Washington vertreten hat.

Die USA sind auch deutsch, jeder zehnte Amerikaner spricht oder versteht deutsch. Seit 400 Jahren haben Deutschamerikaner geholfen, all die Freiheiten zu erkämpfen und weiter zu geben, die Amerikaner heute genießen.

Armin M. Brandt

Memmingen

Bleiberecht

für Guantanamo-Häftlinge

Wenn Obamas hehre Worte über Freiheit, Menschenrechte und Menschenwürde nicht hohles Pathos bleiben sollen, muss es für den neuen Präsidenten ganz selbstverständlich sein, den Häftlingen zur Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts ein dauerndes Bleiberecht in den Vereinigten Staaten anzubieten.

Rudolf W. Meyer

Nürnberg

Warum sagen wir

nicht einfach: Amtsantritt?

Ich liebe Englisch, ich liebe Amerika und Obama und dass er nun endlich inauguriert ist. Oder wurde? Oder hat? Das Wort "Inauguration" bedeutet übrigens ganz schlicht Amtsantritt, das scheinen die SZ und viele andere Redaktionen dieser Tage ganz zu vergessen. Oder werden wir demnächst (vielleicht beim public viewing?) auch einen Ministerpräsidenten Roland Koch bei seiner neuerlichen Inauguration-Party beiwohnen dürfen? Und kann man (sich?) eigentlich nur einmal inaugurieren oder reinauguriert man, wenn man nur in seinem Amt bestätigt wurde? Das macht, nein, hat doch alles keinen Sinn mit diesem Denglisch. Und ein Amtsantritt ist doch gar nicht so schlimm, dass man ihn so verklausulieren müsste. Yes, we can uns auch auf Deutsch verständlich machen. Noch, jedenfalls....All the best.

Timo Sendner

Herrsching

Das richtige Kleid

für den Anlass

Ganz gleich von welcher Designerin Michelle Obamas Kleid ist, es ist wunderschön. Um dieses Kleid als "beinahe altmodisch" zu empfinden, wie Tanja Rest es in der Stilkritik beschrieben hat, muss man wohl reichlich jung sein und kein Gefühl dafür haben, was dem Anlass entspricht. Es ist nicht alles Jackie O. zu verdanken, was man unter "schlichter Eleganz" versteht. Früher, so vor 40 Jahren, war Frau jenseits von ungewaschenen Jeans und blanker Haut eleganter als heute gekleidet. Damals sprach man von "Complet" und dabei war das Kleid eine Handbreit kürzer als der dazugehörige Mantel (nicht Jacke oder Gehrock!) und man kannte noch gute Stoffe. Hätte Frau Obama vielleicht mit einem ausladenden Dekolletee, im Minirock und mit Vier-Knopf-Jäckchen erscheinen sollen?

Marianne Melchior

München

Amerikas Ureinwohner - hier Vertreter des Nezperce Stammes aus Idaho bei der Parade am 20. Januar - kamen in Obamas Rede nicht vor. Foto: AP

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SPRACHLABOR

ÄNGSTLICHKEIT ist nun wirklich das Letzte, was eine Kolumne wie diese sich leisten darf. Dennoch ist anlässlich der Erörterung des von einem Kollegen erfundenen "worthülst" der Eindruck entstanden, das Sprachlabor habe Angst vor witzigen Ad-hoc-Prägungen, verschließe womöglich die Augen vor den reichen Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen. Dass es der Sprachwissenschaftler Dr. B. ist, der diesen Eindruck hat, macht die Sache zur Ehrensache, und so sei denn hier an Eides Statt versichert, dass das wohlverstandene Spiel mit Wörtern in der SZ immer seinen Platz hat - nicht zuletzt aus Verehrung für Matthias Claudius und sein "Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten, der ihn parforcegejagt hatte". Professor B. hat zu unserer Ermunterung drei Sätze aus dem Ärmel geschüttelt: "Er zwölftönt den ganzen Abend", "Er holzklotzt im Hof" und "Er holznagelt das Boot". Problematisch mutet der mittlere Satz an: Was tut der Mann, der im Hof holzklotzt? Dem Sinn nach könnte er Holz hacken. Dem schieren Wortlaut nach sieht es aber ganz so aus, als stehe er im Hof herum und mache, was sonst der Holzklotz macht. Nur: Was sollte das sein?

TRAURIG, dass ein Finanzberater keinen anderen Ausweg mehr weiß, als seinen Tod vorzutäuschen und sich so den geprellten Anlegern zu entziehen. Noch trauriger, dass er kurz danach aufgegriffen wird. Am traurigsten aber ist unsere Schlagzeile dazu: "Gefasst: Der fingierte tote US-Finanzberater." Dergleichen wird unter Germanisten als En- beziehungsweise Hypallage bezeichnet, als Vertauschung, weil das Adjektiv nicht bei dem Substantiv steht, zu dem es eigentlich gehört. Als Klassiker des Genres gelten "der vierstöckige Hausbesitzer" und "der geräucherte Fischladen", doch hat auch Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" ein ganz wundersames Exemplar beigesteuert, wenn er über den Sektionschef Tuzzi schreibt: "Dennoch umgaben ihn die gutsitzende Ruhe seiner Handlungen und seines

Anzugs . . ." Hermann Unterstöger

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Profiteur der Krise

Der Westen braucht Usbekistans Präsidenten Karimow

Von Sonja Zekri

Moskau - Er ist die Traumbesetzung für die Rolle des asiatischen Tyrannen, zwar nicht so schrullig wie der Turkmenbaschi, aber auch nach 18 Jahren Amtszeit praktisch nicht loszuwerden. Usbekistans Präsident Islam Karimow hat Hunderte Menschen auf dem Gewissen und die meisten davon an einem einzigen Tag umbringen lassen, als er in der Handwerker-Stadt Andischan in eine Demonstration schießen ließ. Islamistische Kräfte hatten damals einen Aufstand versucht, verkündete Karimow. Aber das glaubte ihm niemand.

Das Massaker von Andischan liegt vier Jahre zurück. Damals verhängte die Europäische Union ein Einreiseverbot für usbekische Politiker, und die USA schlossen ihre Militärbasis für den Nachschub nach Afghanistan. Inzwischen aber wird Islam Karimow nun nicht nur vom russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew hofiert, der gerade zum Staatsbesuch nach Taschkent gereist ist. Die Chancen für ein Comeback auf die internationale Bühne stehen so gut wie nie. Denn Karimows Reich ist zum Schlüsselstaat geworden, wirtschaftlich, politisch, militärisch - und Karimow genießt das: Die Welt ändere sich, sogar sehr schnell, das Verhältnis der Kräfte, die Akzente, die Ausrichtungen, alles sei im Wandel begriffen, sinnierte er am Freitag beim Empfang des Staatsbesuchs aus Moskau, Russland komme gerade noch "rechtzeitig".

Usbekistan ist einer der Profiteure der Gaskrise. Seit Russland als Lieferant ins Zwielicht geraten ist und die Europäer Alternativ-Routen erwägen, hat das Land die Gaspreise erhöht. Noch fließt alles durch Russland, aber nach der jüngsten Gaskrise ist der Traum von Nabucco so lebendig wie nie, von einer Pipeline der Lieferländer in Zentralasien nach Europa, ohne Russland und seine Problem-Nachbarn, dafür mitten durch Usbekistan.

Islam Karimow, der als Waise in einem sowjetischen Kinderheim aufwuchs, hat Maschinenbau studiert und mal im Flugzeugbau gearbeitet. Er kennt den Zusammenhang zwischen Kraft und Masse, Trägheitsmoment und Hebelwirkung, absolvierte eine lupenreine Parteikarriere, brachte es zum Parteisekretär der usbekischen Sowjetrepublik, sogar zum Politbüro in Moskau, setzte sich im August-Putsch gegen Michail Gorbatschow aber für die Unabhängigkeit ein. Seitdem regiert er als einer von vielen Befreiern, die zu Tyrannen wurden, gilt als märchenhaft reich und bereitet seine Tochter Gulnara als Nachfolgerin vor. Die Karimows, eine klassische postsowjetische Dynastie am Kaspischen Meer.

Und es spielt ihm die Unruhe nebenan ideal in die Hände. Im Nachbarland Afghanistan gewinnen die Taliban Kilometer um Kilometer. US-Präsident Barack Obama will mehr Truppen schicken, aber der Weg über den afghanisch-pakistanischen Khyber-Pass ist unsicher geworden. Bleibt die Nordroute, über Russland, Tadschikistan - und Usbekistan. Medwedjew hat in Taschkent soeben versprochen, dass Russland Amerika beim Transport nicht-militärischer Güter wie Medikamente oder Nahrungsmittel entgegenkommen könnte. Aber damit hätte der US-Nachschub erst die halbe Strecke nach Kabul hinter sich gebracht. Gerade hat US-General David Petraeus eine Tour durch die Region hinter sich, um neue Wege und Standorte zu ventilieren. Eine Annäherung könnte schneller kommen, als Menschenrechtlern lieb wäre. Karimow verkauft sich als ruhender Pol in der Unruheregion, und eine Hauruck-Demokratisierung, das weiß man auch im Westen, würde derzeit wohl nur die Islamisten stärken. 2008 hat Brüssel die Einreiseverbote für Karimows Beamte aufgehoben, worauf hin dieser sich aus einer Zollunion mit Russland verabschiedete. Andischan, Zensur und Folter sind vielleicht bald Stücke von gestern.

Sein Reich ist zum Schlüsselstaat geworden, wirtschaftlich, politisch, militärisch

Drängt auf die Weltbühne: Präsident Islam Karimow. Foto: AFP

Karimow, Islam A. Innenpolitik Usbekistans Außenpolitik Usbekistans Nabucco-Gaspipeline Energieversorgung in Europa SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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KORREKTUREN

In "Der Duft des Vertrauens" (21. Januar, S. 5) hieß es, dass Obamas Vater aus dem westafrikanischen Kenia stamme. Tatsächlich liegt das Land in Ostafrika.

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Wunsch aus Washington

Guantanamo-Häftlinge sollen auch nach Deutschland

Berlin - Das Auswärtige Amt (AA) geht davon aus, dass die neue US-Regierung auch Deutschland um die Aufnahme von Häftlingen aus dem Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba bitten wird. Seit Präsident Barack Obama am Donnerstag die Schließung des Lagers formell angeordnet habe, wisse man nun auch "offiziell", dass die USA wegen der Aufnahme von Gefangenen auf andere Staaten zugehen würden, sagte ein AA-Sprecher am Freitag in Berlin. "Wir tun gut daran, darauf vorbereitet zu sein." Zugleich bestätigte er, dass es in dieser Frage weiterhin "Beratungsbedarf" zwischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) gebe. Steinmeier wünsche sich ein persönliches Gespräch mit Schäuble. Ein fester Termin dafür sei aber noch nicht verabredet, betonten sowohl der Sprecher als auch eine Vertreterin Schäubles.

Steinmeier befürwortet die Aufnahme von Guantanamo-Häftlingen, die auch nach Ansicht der USA erwiesenermaßen unschuldig sind. Dabei handelt es sich um 50 bis 60 Angehörige unterschiedlicher Nationen, die nicht in ihre Heimat abgeschoben werden können, weil ihnen dort politische Verfolgung droht. Demgegenüber lehnt Schäuble es ab, solche Menschen aufzunehmen. Er verweist überdies darauf, dass Steinmeier in dieser Frage nicht zuständig sei. Der Sprecher des Außenministeriums bestätigte, dass es schon vor der Amtseinführung Obamas Kontakte zwischen dessen Mitarbeitern und dem AA gegeben habe. Dies habe dazu geführt, dass Steinmeier schon vor Weihnachten erklärt habe, die mögliche Schließung von Guantanamo dürfe nicht daran scheitern, dass sich für Häftlinge kein Aufnahmeland finde.

Grüne und Menschenrechtsorganisationen stehen in dieser Frage seit längerem auch in Kontakt mit dem Kanzleramt. Nach Angaben des Grünen-Politikers Hans-Christian Ströbele geht es derzeit um die Aufnahme von gerade einmal vier Personen. Dazu gehört laut Ströbele keiner der uigurischen Gefangenen aus Guantanamo, die von China als Terroristen angesehen werden. Weil es in München eine starke uigurische Gemeinde gibt, war immer wieder spekuliert worden, diese Uiguren könnten nach Deutschland kommen. Im Kanzleramt wird jedoch befürchtet, dies könnte das Verhältnis zu China belasten. Mit Rücksicht darauf setzen sich die Menschenrechtsorganisationen jetzt für die Aufnahme von Russen, Syrern und Usbeken ein. Kommende Woche empfängt Kanzlerin Angela Merkel in Berlin den chinesischen Premierminister Wen Jiabao. Die Häftlingsfrage werde dabei kein Thema sein, sagte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm. (Seite 4) Peter Blechschmidt

Steinmeier, Frank-Walter Schäuble, Wolfgang Auswärtiges Amt (AA) Auflösung des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo Xinjiang SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentar

Land unter

Großbritannien steuert in Richtung Staatsbankrott

Von Andreas Oldag

Die Queen ist besorgt. Der Premierminister zeigt sich beunruhigt. Die Briten haben in diesen Tagen nur ein Thema: die sich dramatisch zuspitzende Wirtschaftskrise. Schon macht ein Horrorszenario die Runde: Das Vereinigte Königreich könnte nach Ansicht Londoner Finanzanalysten ähnlich bankrott gehen wie Island, dessen Wirtschaft mit Hilfe eines Notkredits des Internationalen Währungsfonds über Wasser gehalten werden muss. Sollte dieses Schicksal auch dem Mutterland des Kapitalismus blühen? Nun mag ein Vergleich mit einem Eiland, das 300 000 Einwohner hat, unseriös sein. Doch die Probleme der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft verdichten sich, sodass auch Undenkbares nicht mehr ausgeschlossen erscheint.

Die Lage Großbritanniens ist vergleichbar mit einem Patienten auf der Intensivstation, dessen Zustand sich durch multiples Organversagen rapide verschlechtert. Das macht die Wahl einer Therapie schwierig. So häufen britische Großbanken trotz milliardenschwerer Rettungsaktionen der Labour-Regierung weiter horrende Verluste an. Das Kreditgeschäft ist ausgetrocknet, sodass Unternehmen und Privatleute kein Geld mehr erhalten. Zugleich stürzt das britische Pfund gegenüber Dollar und Euro ab. Die Pfundschwäche ist Ausdruck des Vertrauensverlusts internationaler Investoren in die britische Wirtschaft. Sie ziehen ihr Geld ab. Das Land könnte seine Top-Bonitätsnote bei Ratingagenturen verlieren. Dann ist ein gefährlicher Kreislauf von weiterer Kapitalflucht und Währungsabwertung programmiert.

Die Schockwellen der internationalen Finanzkrise haben Großbritannien schwerer getroffen als andere EU-Staaten. Jahrelang konnte vor allem die Bankenmetropole London in Europa glänzen. Sie war das Goldene Kalb, um das britische Politiker, Lobbyisten und Wirtschaftsvertreter tanzten. Sie verkörperte den Umbruch der britischen Wirtschaft vom "kranken Mann Europas" in den 70er Jahren hin zur modernen Dienstleistungsgesellschaft.

Volkseigenes Kombinat

Doch die Stärke - die expandierende Finanzwirtschaft - wird nun zur Schwäche. Und London ist in diesem Zusammenhang nicht nur Opfer, sondern wie New York und Frankfurt auch Täter. Hier entstanden die kunstvoll gestrickten Finanzprodukte, die als "toxische Wertpapiere" die Bankenbilanzen belasten. Hier kamen aus der ganzen Welt Broker und Banker zusammen, um mit immer höheren Einsätzen zu zocken. Doch das war einmal. Nun könnte die bislang weitgehend unregulierte Finanzbranche sogar zum größten volkseigenen Kombinat der Insel mutieren.

Es begann im Herbst mit dem Einstieg des Staates bei angeschlagenen Banken.

Labour-Premierminister Gordon Brown konnte sich zu Recht als weitsichtiger Krisenmanager in Szene setzen. Seinem Rettungsmodell folgten Berlin und Paris. Seit Jahresbeginn hat sich die Krise jedoch erneut zugespitzt: Das Vertrauen der Anleger in die Banken fehlt. Die Institute verlieren rapide an Wert. So hat die Regierung bereits Pläne, Geldhäuser wie die Royal Bank of Scotland (RBS) und die fusionierte Lloyds-HBOS-Gruppe vollständig zu verstaatlichen.

Die Bürokratie wuchert

Als letzte Rettung mag ein solcher Schritt nötig sein. Längerfristig sind die Konsequenzen jedoch fatal: Der Staat ist als Unternehmensmanager überfordert. Der Wettbewerb wird verzerrt. Die Bürokratie wuchert. Gerade die Briten haben schlechte Erfahrungen gemacht, nachdem sie in den 40er und 50er Jahren Teile der Großindustrie verstaatlichten. Es folgte der ökonomische Niedergang.

Die Labour-Regierung Browns steht unter Druck, das Kreditgeschäft rasch in Gang zu bringen. Sie kann nur hoffen, dass die neue staatliche Garantie für faule Wertpapiere ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Belastung der öffentlichen Finanzen und damit des Steuerzahlers muss sie in Kauf nehmen. Es ist das kleinere Übel. Gleichzeitig muss Labour die Stellschrauben der britischen Wirtschaft neu justieren.

Die einseitige Ausrichtung Großbritanniens auf die Finanzbranche hat sich als Irrweg erwiesen. Es ist zum Glück nicht so, dass zwischen Birmingham und Inverness nur noch Callcenter und Fish & Chips-Bratereien existieren. Es gibt kleine und mittlere Betriebe, die in vielen Bereichen wie zum Beispiel der Entwicklung von Elektroautos oder von Wellenkraftwerken führend sind. Leider leiden gerade diese Firmen unter der Austrocknung der Kreditmärkte. Insofern sollte die Regierung die nutzlose Mehrwertsteuersenkung stoppen und die Mittel für eine gezielte Industrieförderung einsetzen.

Um die angeschlagene UK PLC aus der Krise zu führen, ist es allerdings mit einer Reanimation der Industriepolitik nicht getan. Längerfristig wird sich das Land auch fragen müssen, ob das Festhalten an der nationalen Währung der Wirtschaft hilft. Das schwache Pfund fördert zwar derzeit die Exporte. Doch ähnlich wie in der Währungskrise 1992 könnten Spekulanten die Gelegenheit nutzen, auf eine weitere Abwertung des Pfunds zu wetten. Großbritannien würde seine Kreditwürdigkeit weiter verspielen.

Leider scheut Labour bislang jede Debatte über eine Einführung des Euro. Für die konservative Opposition ist die Gemeinschaftswährung nach wie vor eine Art Teufelswerk. Nur: Auch heilige Kühe könnten eines Tages geschlachtet werden, wenn der Druck der Ereignisse zu stark ist. Es ist Zeit, dass die Briten zumindest über die Chancen des Euro nachdenken.

Jetzt muss es darum gehen, Vertrauen wieder aufzubauen. Kottelmann, deshalb ist es auch so wichtig, dass Sie eine Zeitlang einfach mal gar nichts sagen. Cartoon: Dirk Meissner

Folgen der Finanzkrise in Großbritannien Wirtschaftspolitik in Großbritannien Staatsverschuldung in Großbritannien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Stimmzettel-Krieg

Israels Araber sind empört, weil ihre Parteien von der anstehenden Parlamentswahl ausgeschlossen werden sollten

Tel Aviv - Der Vorsitzende der Partei "Vereinigte Arabische Liste-Taal", Achmed Tibi, hat den Versuch, seiner Partei die Teilnahme an der israelischen Parlamentswahl zu verbieten, als "Rassismus gegenüber israelischen Arabern" bezeichnet. Tibi kritisierte gegenüber der SZ am Freitag die Entscheidung des 37-köpfigen zentralen Wahlausschusses, seine Partei sowie die arabische Balad-Partei von der vorgezogenen Wahl am 10. Februar auszuschließen. Dies sei ein Versuch gewesen, "israelische Araber aus der Knesset zu verbannen"; das Vorgehen sei überdies "unvereinbar mit demokratischen Grundlagen", denen zufolge jüdische und arabische Israelis über die gleichen Rechte verfügten. Das zentrale Wahlkomitee, das über die Zulassung von Parteien zu Wahlen entscheidet, hatte in der vergangenen Woche mit deutlicher Mehrheit - und überraschenderweise auch mit den Stimmen der Arbeitspartei - entschieden, den beiden arabischen Parteien die Teilnahme an der Wahl zu verbieten. Am Donnerstag revidierte der Oberste Gerichtshof in Jerusalem das Verbot, das in der arabischen Bevölkerung Israels großen Unmut ausgelöst hatte. Das Wahlkomitee hatte die Entscheidung damit begründet, Tibis Partei und die Balad-Gruppe übten "antiisraelische Hetze" aus, unterstützten Terrororganisationen und weigerten sich, das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Beide Parteien verfügen über sieben Mandate im 120-sitzigen israelischen Parlament. Tibi sagte, ihm sei unter anderem vorgeworfen worden, Kontakt mit dem früheren arabischen Abgeordneten Asmi Bischara zu unterhalten, der 2007 wegen angeblicher Kontakte zur Hisbollah-Organisation und eines deshalb drohenden Verfahrens nach Amman geflüchtet war. Den Verbotsversuch nannte Tibi einen "Schritt zurück ins Mittelalter". In den USA sei soeben ein schwarzer Präsident vereidigt worden, "bei uns in Israel verweigern sie einer Minderheit die parlamentarische Repräsentation".

Die Atmosphäre des jüngsten Krieges im Gaza-Streifen habe zum Verbot beigetragen, mutmaßt Tibi. Er hatte der israelischen Armee in mehreren Interviews vorgeworfen, sie habe Kinder und Frauen "ermordet". In Israel leben rund 5,4 Millionen Juden und rund 1,3 Millionen Araber. Die in Israel lebenden Araber, meist Nachkommen jener Palästinenser, die im Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 geflüchtet waren oder vertrieben wurden, sind innerlich zerrissen. Dem Gesetz nach sind sie Israelis. Viele klagen jedoch, sie würden als "Bürger zweiter Klasse" behandelt. Zudem empfinden arabische Israelis Solidarität mit den Palästinensern im Gaza-Streifen und im Westjordanland, während eine breite Mehrheit der jüdischen Israelis den Gaza-Krieg unterstützte.

Der arabische Politiker Tibi sagt: "Der Krieg macht die Leute hier verrückt." Zu Beginn der Woche hatte der Oberste Gerichtshof die Vertreter der arabischen Parteien und die Vertreter der zwei rechten Parteien zu einer Anhörung vorgeladen, darunter auch Avigdor Lieberman, den Vorsitzenden der russischen Immigrantenpartei "Unser Haus Israel". Lieberman hatte zusammen mit der Partei Nationale Union den Antrag zum Ausschluss der beiden arabischen Parteien im Wahlkomitee eingebracht. Im Flur des Obersten Gerichtshof hatte Lieberman Tibi als "Terroristen" bezeichnet, der es verdiene, als solcher behandelt zu werden. "Wir werden mit dir umgehen, wie wir mit jedem Terroristen umgehen", soll Liebermann gesagt haben. Die Immigranten-Partei verlangt von arabischen Israelis ein Bekenntnis zum jüdischen Staat. Ansonsten hätten arabische Israelis in Israel "nichts zu suchen". Die Haltung hat im Wahlkampf bereits einen Erfolg gezeitigt. Liebermans Partei könnte jüngsten Umfragen zufolge zur drittstärksten Fraktion im künftigen Parlament aufsteigen - noch vor der Arbeitspartei von Verteidigungsminister Ehud Barak.

Lieberman, Avigdor Vereinigte Arabische Liste Balad-Gruppe Arabische Staatsbürger Israels Parlamentswahlen in Israel Parteien in Israel SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Kampf um Land und Rechte

Die Bolivianer stimmen über eine neue Verfassung ab, mit der Präsident Morales die Indios besserstellen will

Von Peter Burghardt

Buenos Aires - Noch einmal riefen der Präsident und seine Gegner ihre Anhänger in Boliviens neueste Schlacht, diesmal geht es endgültig um die lange umkämpfte Verfassung. Man feiere schon den Triumph vom 25. Januar, verkündete Staatschef Evo Morales auf der Plaza Murillo vor dem Regierungspalast von La Paz im kargen Hochland der Anden. An diesem Sonntag wird endlich über den Text mit erweiterten Rechten für die indianische Bevölkerungsmehrheit der ärmsten Nation Südamerikas abgestimmt. "Niemand wird diesen tiefen und demokratischen Umbau verhindern, Millionen Bolivianer werden die Neugründung des Landes garantieren", versprach Morales. "Wir müssen uns von den Lügen und Betrügereien befreien", er wünsche sich 70 bis 80 Prozent Zustimmung. Umfragen stellen ihm mindestens 60 Prozent in Aussicht.

Seine Rivalen versammelten sich wie gewohnt in Santa Cruz im üppigen Tiefland, der wirtschaftsstarken Hochburg der Opposition. "Heute ist der Moment gekommen, die Freiheit und die Familie zu verteidigen", polterte Branko Marinkovic vom Bürgerkomitee Pro Santa Cruz, einer der separatistischen Hardliner. Die Herausforderer aus den rohstoffreichen Regionen Santa Cruz, Tarija, Chuquisaca und Pando lehnen das Projekt von Morales' Partei Bewegung zum Sozialismus ab. Sie fordern eine erweiterte Autonomie ihrer Provinzen, die sie sich nach Referenden bereits genehmigt haben, obwohl ihnen die Verfassung Eigenständigkeit zusichert. Da werde "ein totalitäres Regime installiert", wetterte Mario Cossío, Gouverneur von Tarija. Die Widerständler sind in der Minderheit, kürzlich gewann Morales ein Plebiszit über seine weitere Amtszeit mit 67,4 Prozent. Sie wollen sich aber zumindest in ihren Revieren durchsetzen.

Auch die christlichen Kirchen schlugen sich auf die Seite der konservativen Nein-Fraktion, was Morales besonders erzürnt. Schließlich erkenne die Verfassung die religiöse Freiheit an. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht der Kampf um Land, Bodenschätze und die Rolle der Ureinwohner. Evo Morales, selbst Aymara, hat als erster indianischer Präsident Boliviens Selbstbewusstsein und Lebensumstände der lange missachteten Indios verbessert. Ähnlich wie bereits seine Kollegen Hugo Chávez in Venezuela und Rafael Correa in Ecuador will er jetzt Grundrechte verankern und das "koloniale" und "neoliberale" Erbe hinter sich lassen. Umstritten ist unter anderem der Passus, der gleich 36 "originäre Völker Boliviens" anerkennt, denn es geht hauptsächlich um Aymara, Quetschua und Guaraní. Auch bemängeln Kritiker, dass die obersten Justizinstanzen künftig landesweit gewählt werden sollen. Außerdem befinden die 3,8 Millionen Wahlberechtigten über die Regelung, Großgrundbesitz auf maximal 5000 oder 10 000 Hektar zu begrenzen.

Über Details wird seit Monaten gezankt, es gab mehrere Tote und Verletzte. Im Oktober einigten sich beide Lager wenigstens auf diesen Urnengang. Angesichts der Gegenwehr stimmte Morales in der Verfassung schließlich einer nur einmaligen Möglichkeit der Wiederwahl zu. Falls sein Entwurf siegt, will er im Dezember 2009 Neuwahlen abhalten.

Morales, Evo Innenpolitik Boliviens Sozialstruktur in Bolivien Indianer in Lateinamerika SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Erster Prozess am Haager Weltgerichtshof

Von Montag an muss sich der ehemalige Milizenchef Lubanga wegen Kriegsverbrechen im Kongo verantworten

Von Judith Raupp

München - Er soll einer der schlimmsten Kriegsverbrecher im Osten des Kongo gewesen sein. Der ehemalige Milizenchef Thomas Lubanga Dyilo, 48, sei verantwortlich für Massaker an der Zivilbevölkerung, Vergewaltigungen, Folter und Plünderungen, sagt Param-Preet Singh von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Und er habe in dem ethnisch motivierten Krieg, den Lubangas Volk der Hema gegen die Lendu von 2002 bis 2003 führten, Kinder zum Töten gezwungen. Letzteres könnte Lubanga für einige Jahrzehnte hinter Gitter bringen. Von Montag an muss er sich wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag verantworten.

Das Verfahren entfaltet große Signalwirkung. Denn es ist der erste Prozess am Weltgerichtshof. 2002 nahm er seine Arbeit auf, nachdem sich nach jahrzehntelangen Diskussionen 108 Staaten in den Statuten von Rom darauf verständigt hatten, das Gremium einzurichten. Es soll Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ahnden. Im Vordergrund steht die Vergeltung für die Opfer. Außerdem soll das Weltgericht potentielle Täter, auch amtierende Gewaltherrscher, abschrecken. Anders als die meisten westlichen Länder haben die Vereinigten Staaten das Gericht bisher nicht anerkannt, was seiner Reputation geschadet hat. Menschenrechtler hoffen nun, dass der neue Präsident Barack Obama diesen Kurs ändert.

Der Prozess gegen Lubanga wäre beinahe noch vor seinem Beginn gescheitert. Das Gericht hatte bemängelt, dass ICC-Chefankläger Luis Moreno-Ocampo die Beweisakten geheim hielt. Lubangas Verteidiger müssten Einblick bekommen, damit ein faires Verfahren möglich sei, betonte das Gericht. Moreno-Ocampo hatte aber viele Hinweise von Mitarbeitern der Vereinten Nationen bekommen, die auf Vertraulichkeit beharrten. Sie sahen sonst ihre Arbeit im Kongo gefährdet. Schließlich erhielt die Verteidigung Einblick, während die Namen der Zeugen geschützt blieben.

"Ich hoffe, dass dieses Verfahren die Aufmerksamkeit der Welt darauf lenkt, dass noch immer das Leben Tausender Kinder zerstört wird", sagte ICC-Chefankläger Moreno-Ocampo vor dem Prozessauftakt. Nach Beobachtungen von Menschenrechtsorganisationen werden in mindestens fünfzehn Ländern Kinder zum Soldatendasein gezwungen. Darunter sind neben der Demokratischen Republik Kongo auch Indien, der Irak, Afghanistan, die Palästinensergebiete, Kolumbien und Thailand.

Human Rights Watch kritisiert allerdings, dass Lubanga sich nicht für alle Verbrechen verantworten müsse, die er vermutlich beging. Es sei zudem wichtig, auch die Drahtzieher des damaligen Konflikts im Distrikt Ituri zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu gehörten hochrangige Politiker aus dem Kongo, aus Ruanda und Uganda.

Der ICC hat neben dem Haftbefehl gegen Lubanga elf weitere gegen Kriegsherren aus dem Kongo, Uganda, Zentralafrika und dem Sudan ausgestellt. Moreno-Ocampo hat zudem einen Haftbefehl gegen den amtierenden Präsidenten des Sudan, Omar al-Bashir, beantragt. In den nächsten Wochen werden die Richter darüber entscheiden. Der Antrag ist umstritten. Kritiker befürchten, er könne Friedensverhandlungen für Darfur noch mehr erschweren.

Soll Kinder zum Töten gezwungen haben: Thomas Lubanga Foto: AFP

Lubanga, Thomas Ocampo, Luis Moreno Human Rights Watch Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo 1998 - Fälle beim Internationalen Strafgerichtshof ab 2007 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Eine Waffenruhe über den Tag hinaus

Die Hamas erwägt, ihre Angriffe auf Israel vorerst zu unterlassen - und beim Wiederaufbau von Gaza mitzuhelfen

Von Tomas Avenarius und Thorsten Schmitz

Gaza-Stadt/Tel Aviv - Die Islamisten-Organisation Hamas ist offenbar bereit, den Waffenstillstand mit Israel zu verlängern. Bisher hatte die Hamas-Führung den von Israel ausgerufenen Waffenstillstand nur bis zu diesem Sonntag akzeptiert. Als Bedingung für eine Verlängerung hatte die Hamas gefordert, dass Israels Truppen aus dem Gaza-Streifen abziehen müssten. Das ist mittlerweile geschehen. Man werde nunam Montag Abgesandte zu den von Ägypten moderierten Verhandlungen nach Kairo schicken, sagte Ahmed Yussef, stellvertretender Hamas-Außenminster und Berater des Hamas-Premierministers Ismail Hanija der Süddeutschen Zeitung. Man wolle sehen, wie sich die Gespräche in Ägypten entwickelten. Yussef erhob aber erneut die Forderung, die Grenzen des GazaStreifens zu öffnen.

Yussef sagte in dem Gespräch mit der SZ und dem kanadischen Fernsehen, dass Hamas bereit sei, den Wiederaufbau des zerstörten Gaza-Streifens zusammen mit der palästinensischen Autonomiebehörde und der Fatah-Partei von Palästinenser-Präsident Machmud Abbas zu organisieren. Er verwahrte sich allerdings gegen den von Israel, den USA, Europa und Ägypten ins Spiel gebrachten Plan, die Wiederaufbaugelder ausschließlich von der Palästinenseradministration (PA) verwalten zu lassen. Hamas selbst erhebe keinen Anspruch darauf, die internationale Hilfe zu verwalten. Yussef stellte aber klar, dass die Hamas das Geld aus Angst vor Veruntreuung nicht der PA anvertraut sehen wolle. "Der Leumund der PA und der Fatah in Fragen der finanziellen Transparenz ist bekanntlich nicht gut", sagte Yussef. "Die Geber sollen die Projekte selbst betreuen, um volle Rechenschaft über die Verwendung der Mittel zu garantieren".

Yussef sprach wiederholt von einem "Sieg" der Hamas im Krieg gegen Israel. "Wir haben einer überlegenen Militärmaschine widerstanden, mit Gewehren und Panzerfäusten gegen Jets gekämpft." Die Bevölkerung habe "mit Gottes Hilfe" gesiegt: "Die Menschen sind nicht weggelaufen vor dem Aggressor." Vehement widersprach der Hamas-Politiker der Ankündigung der israelischen Außenministerin Tzipi Livni, dass die Freilassung des seit zwei Jahren von der Hamas gefangengehaltenen Soldaten Gilad Schalit eine Voraussetzung für einen dauerhaften Waffenstillstand sei. "Die Schalit-Affäre hat mit dem Waffenstillstand nichts zu tun. Das ist eine davon völlig getrennte Angelegenheit." Yussef wollte sich nicht dazu äußern, ob Schalit während des Kriegs verletzt worden sei. "1400 Palästinenser wurden getötet, 5000 verletzt. Wen kümmert da das Befinden eines Einzelnen?" Yussef bestritt israelische Medienberichte, wonach Hamas während des Krieges einige politische Gegner von der Fatah-Partei hingerichtet habe. "Das ist Propaganda. Allenfalls sind einige von ihnen aufgefordert worden, zuhause zu bleiben. Das war aber nur zu ihrem eigenen Schutz."

Nach Angaben von Fatah-Führern aus dem Westjordanland jedoch haben Mitglieder der seit Juni 2006 im Gaza-Streifen herrschenden Hamas bislang zehn Fatah-Anhänger getötet. Die Getöteten sollen mit Israel zusammengearbeitet und der Armee Informationen über Aufenthaltsorte von Hamas-Mitgliedern und über Waffenlager geliefert haben. Bereits während des Krieges hatte die Fatah mehrfach aus dem Gaza-Streifen berichtet, dass Hamas-Mitglieder mutmaßlichen Fatah-Anhängern in die Beine geschossen hätten. Auch die israelische Tageszeitung Haaretz zitierte am Freitag Mitglieder der Fatah-Organisation von Palästinenserpräsident Abbas, die im Gaza-Streifen lebten und um ihr Leben fürchteten: Viele Fatah-Mitglieder wagten sich nicht in die Öffentlichkeit, da die Hamas über Hunderte von Fatah-Mitglieder den Hausarrest verhängt habe. Die Islamisten ließen verlauten, dass sie nicht nur gegen Israel kämpften, sondern auch gegen die Fatah.

Um sich die Gunst der Bevölkerung im Gaza-Streifen zu sichern, hat die Hamas den Hinterbliebenen von jedem der im Krieg getöteten Palästinenser umgerechnet rund 1000 Euro versprochen. Für jedes vollständig zerstörte Haus sollen die Besitzer bis zu 4000 Euro erhalten, für jedes teilweise zerstörte Haus 2000 Euro. Nach Angaben von Hamas-Sprecher Taher al-Nono sollen Verletzte rund 500 Euro erhalten. Am Sonntag soll mit der Auszahlung der Beträge begonnen werde. Insgesamt stünden der Hamas für die Kompensationszahlungen rund 28 Millionen Euro zur Verfügung. Al-Nono machte keine Angaben darüber, woher das Geld stammt. In Israel geht man davon aus, dass Iran hinter der Finanzierung der Hamas steckt.

"Der Leumund der Palästinenserorganisation ist nicht gut"

Viele Mitglieder der Fatah fürchten um ihr Leben

Beten, reparieren, hoffen: Während überall im Gaza-Streifen die Menschen auf Hilfslieferungen und Wiederaufbauhilfe warten, setzt sich der Machtkampf zwischen den Islamisten von der Hamas und der gemäßigten Fatah fort. AP

Yussef, Ahmed: Zitate Hamas Fatah Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Wiederaufbau im Gaza-Streifen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lajcak ist Minister

Bratislava - Miroslav Lajcak wird neuer Außenminister der Slowakei. Wie das slowakische Regierungsamt am Freitag mitteilte, soll der bisherige EU-Sondergesandte für Bosnien-Herzegowina am Montag von Staatspräsident Ivan Gasparovic formell ernannt werden. Der 45 Jahre alte Lajcak folgt dem bisherigen Außenminister Jan Kubis, der zu den UN wechselt. dpa

Lajcak, Miroslav SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neustart in AKW Kosloduj

Sofia - Obwohl das Gas aus Russland wieder fließt, hat das bulgarische Parlament den Neustart von zwei Reaktoren im umstrittenen Atomkraftwerk Kosloduj beschlossen. Die Regierung wurde beauftragt, in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission das Anfahren der beiden 2007 wegen Sicherheitsbedenken abgeschalteten 440-Megawatt-Blöcke vorzubereiten. Grund seien die Gas- und die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Bulgarien kann sich laut EU auf eine Ausnahmeklausel berufen. Bei außergewöhnlichen Umständen kann das Land in Brüssel innerhalb von drei Jahren nach dem EU-Beitritt einen Neustart der Reaktoren beantragen. Diese Frist läuft für das 2007 beigetretene Bulgarien erst Ende 2009 ab. Dennoch stellt die EU hohe Auflagen. "Bulgariens Regierung müsste dafür ernsthafte und andauernde Risiken für die Wirtschaft darlegen", sagte ein Sprecher der EU-Kommission.dpa

Sofia

- Obwohl das Gas aus Russland wieder flie t, hat das bulgarische Parlament den Neustart von zwei Reaktoren im umstrittenen Atomkraftwerk Kosloduj beschlossen. Die Regierung wurde beauftragt, in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission das Anfahren der beiden 2007 wegen Sicherheitsbedenken abgeschalteten 440-Megawatt-Blöcke vorzubereiten. Grund seien die Gas- und die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Bulgarien kann sich laut EU auf eine Ausnahmeklausel berufen. Bei außergewöhnlichen Umständen kann das Land in Brüssel innerhalb von drei Jahren nach dem EU-Beitritt einen Neustart der Reaktoren beantragen. Diese Frist läuft für das 2007 beigetretene Bulgarien erst Ende 2009 ab. Dennoch stellt die EU hohe Auflagen. "Bulgariens Regierung müsste dafür ernsthafte und andauernde Risiken für die Wirtschaft darlegen", sagte ein Sprecher der EU-Kommission.

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Neuwahl in Island

Reykjavik - In Island findet am 9. Mai eine vorgezogene Parlamentswahl statt. Das kündigte Ministerpräsident Geir Haarde am Montag an - und erklärte zugleich, er werde sich aus gesundheitlichen Gründen nicht um eine Wiederwahl bemühen. Er habe einen Tumor am Hals. Island leidet erheblich unter den Folgen der Finanzkrise. Demonstranten haben in den vergangenen Wochen immer wieder den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen gefordert. AP

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Mit Ökologie gegen die Rezession

Grüne beraten über Programm zur Europawahl und ihre Kandidatenliste

Von Daniel Brössler

Dortmund - Nach dem guten Abschneiden bei der Landtagswahl in Hessen setzen die Grünen auf einen weiteren Erfolg bei der Europawahl im Juni. "Von Hessen und der Wahl zum Europaparlament gehen die beiden großen Zeichen für die Bundestagswahl aus", sagte die grüne Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, am Freitag vor Beginn eines dreitägigen Europa-Parteitages in Dortmund. Zusammen mit Vize-Fraktionschef Jürgen Trittin ist Künast Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl im September. Die Ausgangslage für die Grünen sei gut, da ihre Wählerschaft eine pro-europäische Grundhaltung auszeichne, betonte K nast. "Wir sind begeisterte Europäer", fügte sie hinzu. Mit 11,9 Prozent hatten die Grünen 2004 ihr bislang bestes Ergebnis bei Europawahlen erzielt.

Der Parteivorsitzende und scheidende Europaabgeordnete Cem Özdemir warnte angesichts dessen vor zu hohen Erwartungen. 2004 habe durch das historisch schlechteste Ergebnis der SPD eine besondere Situation geherrscht. "Jedes Ergebnis über zehn Prozent ist sensationell", sagte er zu den Perspektiven der Grünen für die Europawahl. Aus Sicht der Grünen handele es sich nicht einfach um eine "vorgezogene Bundestagswahl". Das Europaparlament sei das am "meisten unterschätzte Parlament".

In Dortmund befinden etwa 750 Delegierte bis Sonntag über das Programm für die Europawahl und eine 30-köpfige Kandidatenliste, an deren Spitze die Sprecherin der deutschen grünen Europaabgeordneten, Rebecca Harms, und Ex-Parteichef Reinhard Bütikofer stehen sollen. Ebenfalls um führende Listenplätze wollen sich zwei Quereinsteiger bemühen: der Attac-Mitbegründer Sven Giegold und die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Barbara Lochbihler. Die Grünen freuten sich über die "Verstärkung von außen", sagte Özdemir. Die Ko-Vorsitzende Claudia Roth nannte Lochbihler "eine laute, eine kraftvolle Stimme" für Menschenrechte. Wenn es wiederum um Finanzmarktfragen gehe, kenne sie kaum jemanden, der versierter sei als Giegold.

Erneute Kandidaturen kündigte eine Reihe jetziger Europaabgeordneter an, unter ihnen Heide Rühle und Michael Cramer. Nach seinem Scheitern bei der Listenaufstellung für die Bundestagswahl 2005 bewirbt sich der frühere DDR-Bürgerrechtler und Bundestagsabgeordnete Werner Schulz um eine Kandidatur für die Europawahl. Wegen der Schwäche der Grünen in Ostdeutschland wurde seiner Bewerbung von der Parteiführung hohe Bedeutung beigemessen.

Heftige Diskussionen wurden über den Entwurf für das Europawahlprogramm erwartet. Bis zum Beginn des Parteitages gingen etwa 600 Änderungsanträge ein. In dem "Grüne Wege für ein besseres Europa" überschriebenen Papier beharren die Grünen auf ökologischen Reformen auch als Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. "Mit einem konzentrierten sozial-ökologischen Investitionsprogramm wollen wir in Deutschland und in Europa gegen die Rezessionsgefahr angehen", heißt es in dem Entwurf. Gefordert wird darin auch eine europäische Wirtschaftsregierung. Diese sei zumindest für den Euro-Raum unabdingbar. "Eine gemeinsame Währung kann auf Dauer nur funktionieren, wenn auch die Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten eng aufeinander abgestimmt sind", heißt es. Der Entwurf enthält zudem die Forderung nach EU-weiten Volksabstimmungen und Mindestlöhnen in allen Ländern der Union.

"Jedes Ergebnis über zehn Prozent ist sensationell"

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Wirbel um Honorare für CDU-Politiker

Köln - Nach Bekanntwerden eines hochdotierten Beratervertrages mit der örtlichen Sparkasse ist der prominente Kölner CDU-Politiker Rolf Bietmann von seiner Parteiführung zum Verzicht auf die Bundestagskandidatur aufgefordert worden. Bietmann sagte am Freitag der Süddeutschen Zeitung, er habe "nichts Verbotenes getan" und werde 2009 bei der Bundestagswahl als CDU-Kandidat in der Domstadt antreten. Er könne nicht erkennen, was ihm seine Parteifreunde wirklich vorwerfen. "Bislang gibt es nur Geschrei", beklagte der als Rechtsanwalt tätige Bietmann. Rechtlich sei sein Beratervertrag mit der Sparkasse Köln/Bonn, für den er in zwei Jahren mit "Erfolgsprovision" insgesamt 900 000 Euro erhalten habe, "nicht zu beanstanden", versicherte Bietmann. Schließlich habe er große Immobiliengeschäfte sowie regionale und nationale Kontakte für die Bank angebahnt. Dagegen hatte ein Wirtschaftsprüfer festgestellt, dass es bei der Sparkasse angeblich keine Unterlagen über Bietmanns Beraterleistungen gebe. Laut Bietmann hatte der Prüfer die Unterlagen nicht einsehen können, weil es sich um einen "Vertrauensvertrag" handele. Die CDU-Führung erklärte, der Vertrag sei „nicht vermittelbar" und Bietmann als Bundestagskandidat "untragbar" geworden.jon

Köln

- Nach Bekanntwerden eines hochdotierten Beratervertrages mit der örtlichen Sparkasse ist der prominente Kölner CDU-Politiker Rolf Bietmann von seiner Parteiführung zum Verzicht auf die Bundestagskandidatur aufgefordert worden. Bietmann sagte am Freitag der Süddeutschen Zeitung, er habe "nichts Verbotenes getan" und werde 2009 bei der Bundestagswahl als CDU-Kandidat in der Domstadt antreten. Er könne nicht erkennen, was ihm seine Parteifreunde wirklich vorwerfen. "Bislang gibt es nur Geschrei", beklagte der als Rechtsanwalt tätige Bietmann. Rechtlich sei sein Beratervertrag mit der Sparkasse Köln/Bonn, für den er in zwei Jahren mit "Erfolgsprovision" insgesamt 900 000 Euro erhalten habe, "nicht zu beanstanden", versicherte Bietmann. Schließlich habe er große Immobiliengeschäfte sowie regionale und nationale Kontakte für die Bank angebahnt. Dagegen hatte ein Wirtschaftsprüfer festgestellt, dass es bei der Sparkasse angeblich keine Unterlagen über Bietmanns Beraterleistungen gebe. Laut Bietmann hatte der Prüfer die Unterlagen nicht einsehen können, weil es sich um einen "Vertrauensvertrag" handele. Die CDU-Führung erklärte, der Vertrag sei "nicht vermittelbar" und Bietmann als Bundestagskandidat "untragbar" geworden.

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