Im Reich des Elfenbeins

Mit neuer Kuratorin: Ein Blick in die geschlossene Wiener Kunstkammer

Zum Beispiel dieses oberschenkellange Schiff aus vergoldetem Silber mit Ölbildern an den Masten. Es gehörte Rudolf II., trägt ein kaiserliches Wappen und das Entstehungsdatum: 1585. Und damit hört der Ernst auf. Zum Einsatz kam die von Hans Schlottheim konstruierte Preziöse bei Tisch, dann schob sich der Segler dank eingebauter Mechanik kreuz und quer über die Tafel und die Figuren an Board spielten auf: Einige führten Trompeten zu Mund, andere schlugen auf Pauken, dazu erklang Musik.

Mit der Spielerei ist es vorbei, das Schiff tönt nicht mehr, sondern lagert in einer Vitrine, hinter verschlossenen Türen im Kunsthistorischen Museum von Wien in der Kunstkammer des Hauses. Die Kunstkammer vereint sagenhafte Schätze aus Ambras und aus der Prager Sammlung Rudolf II. Noch Mitte des 19. Jahrhundert war sie auch eine Wunderkammer mit Fossilien, ausgestopften Krokodilen, Korallen, Elefantenzähnen und Naturwüchsigem mehr. Erst mit der Gründung des Kunsthistorischen Museums im Jahre 1891 und seinem auch räumlichen Gegenüber, dem Naturhistorischen Museum, wurden die Schöpfungen von Mensch und Natur geschieden. Im Naturhistorischen Museum sind die Bestände in die Sammlung gesickert. Ohne dass ihre Herkunft aus dem Rudolfschen Ideenkosmos groß genannt würde, finden sich etwa Silbererzgewächse und seltene Smaragde aus dem 16. Jahrhundert in der Dauerpräsentation, was zwischen den anderen Sonderbarkeiten wie einer Gehörknochensammlung von Vögeln gar nicht auffällt. Im Kunsthistorischen Museum aber bilden die 8000 Objekte eine Welt für sich. Seit 2002 ist die Kunstkammer geschlossen und wird überarbeitet, 3000 Stücke sollen ab 2011 wieder zu sehen sein.

Noch also braucht man eine Sondergenehmigung, ein Wärter muss die Alarmanlagen beruhigen und einen gesonderten Fahrstuhl aufsperren, hinter dessen Rückwand sich dunkle Säle voller alter Holzvitrinen auftun. Diese Prozedur passt zur Aura der historischen feudalen Kunstkammer, die im Gegensatz zum späteren bürgernahen Museum gerade nicht zugänglich war, sondern im Versteckten gedieh. Auch die vorläufige Sortierung nach Materialien erinnert an längst vergangene Ordnungen: So gliederte schon das Inventar von 1596 die historische Kammer, während alle späteren Kunstmuseen auf dem Prinzip der Chronologie und Geografie beruhen.

Neptun und die Seychellen

Jetzt aber, während die Kuratoren noch an der Bestandsaufnahme und am Sammlungskonzept arbeiten, liegen in den Geheimkammern des KHM alle Elfenbeine zusammen, geschnitzt aus dem vorderen Ende des Stoßzahns von Elefanten. Eine filigrane Furie, die den Betrachter aus schmalen Lippen anbrüllt; Satyrn, die dem unschuldigen Weiß etwas Animalisches abgewinnen. Eine Ecke nur für Kristall, eine nur für Bernstein.

Oder die Nuss-Sammlung: der vergoldete Pokal auf einer Kokosnuss und die mit einem Neptun versehene Seychellennuss, der man magische Kräfte nachsagte. Mit ihrem Wassergott erinnert sie an Benvenuto Cellinis Salzfass, das auch in diese Sammlung gehört - aber wegen der Schließung der Kunstkammer mitten in der Gemäldegalerie stand, als es 2003 aus dem ersten Stock des KHM gestohlen wurde. Nach der Neueröffnung soll die Saliera in ihrem alten Zusammenhang gezeigt werden, mit anderen Stücken und Tapisserien aus dem französischen Schloss von Franz I. Das ist der Plan der neuen Generaldirektorin des KHM, Sabine Haag: Sie will lernen von der alten Kunstkammer, zurückkehren zu dieser "Urform des Sammelns". Zwar werde man die Chronologie nicht aufgeben können, die nötig sei zum historischen Verständnis der Stücke. Aber der Impuls des Staunens, das assoziative Betrachten, das mache die alte Kunstkammer zur "aktuellsten Ausstellungsform".

Haags Ernennung überraschte den Kunstbetrieb. Im Gespräch waren international umtriebige Gemäldemanager wie der Frankfurter Schirn-Chef Hollein, dann aber wurde es die Elfenbein-Spezialistin aus dem eigenen Haus: Chefin der geschlossenen Kunstkammer. Diese Personalie könnte sich als Coup erweisen. Das Museum, das unter rückgängigen Besucherzahlen und regelmäßigen Schulden leidet, wird sich riesige Ausstellungen nur noch selten leisten können. Umso wichtiger werden die eigenen Schätze, die bislang zwar viel zu gerne verliehen wurden, daheim aber in der schieren Masse von Meisterwerken leicht übersehen wurden.

Dazu gehören eben auch die Stücke der Kunstkammer, die keine Ikonen sind, sondern nur in ihrem Sammlungszusammenhang wirken. Diesen Weg zurück zum Staunen, zu der Bewunderung der alten Materialen und ihrer oft spielerischen Verarbeitung, zum Zauber der alten Wunderkammer gehen gerade mehrere Museen. Das Grüne Gewölbe in Dresden funktioniert so und auch das Berliner Humboldtforum im neuen Schloss wird in der Kombination aus ethnologischer Sammlung und der wissenschaftshistorischen Sammlung der Humboldt-Uni an die Ursprünge des Sammelns anknüpfen. Was diese alte neue Präsentation für die großen Altmeistersammlungen heißt, muss sich erst noch zeigen. Etwa im Wiener Kunsthistorischen Museum. KIA VAHLAND

Schiff Rudolf II. von 1585 aus vergoldetem Silber mit Ölbildern an den Masten Foto: KHM

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Das Schlimmste kommt noch

Die Lehren aus der Autoshow in Detroit sind klar: Mögen amerikanische Zeitungen noch so viel von Öko-Revolution und Elektro-Zukunft schwärmen, in Wahrheit fahren viele US-Kunden mit Vollgas in die Sackgasse und ziehen die dortigen Hersteller mit ins Verderben. General Motors, Ford und Chrysler gebärden sich im Blitzlichtgewitter als Green Companies, doch die Messe-Studien und der reale Flottenmix könnten gegensätzlicher nicht sein. Statt Kleinwagen, Diesel oder Hybridautos wollen die meisten Kunden weiterhin Dreitonner mit V8-Motor. Fords F150-Serie führt seit 27 Jahren die Zulassungsstatistik an. Trotz eines Absatzeinbruchs um 25 Prozent eroberten die riesigen Pritschenwagen zum Preis eines VW Golf erneut den Spitzenplatz.

Die dicken Pick-ups kamen nur kurz aus der Mode, als die Gallone Benzin mehr als vier Dollar kostete. Als der Spritpreis zum Jahresende um mehr als die Hälfte fiel, zogen die Verkäufe wieder an. Dabei sind die Tage des American Way of Drive gezählt, die US-Regierung unter Barack Obama will schärfere Verbrauchslimits durchsetzen. Die Branche geht nun davon aus, dass die kalifornischen Richtlinien zur Reduzierung von Treibhausgasen, die Präsident Bush vor einem Jahr blockiert hatte, bald in allen 50 Bundesstaaten Gesetz werden.

GM, Ford und Chrysler steht das Schlimmste also noch bevor. Bis März müssen sie zukunftsfähige Geschäftspläne vorlegen, um weitere Regierungskredite zu bekommen. Dann werden sie auch detailliert zeigen müssen, wie sie den Flottenverbrauch bis 2012 um 22 Prozent und bis 2016 um 30 Prozent verringern können. Am Ende dieser Maßnahmen dürfen Personenwagen 2020 im Schnitt nur noch 5,4 Liter statt aktuell 8,5 Liter Benzin verbrauchen, auch bei den Light Trucks müssen mehr als 40 Prozent gespart werden. Wie die US-Hersteller ihren Kunden den Verzicht auf die Spritschlucker schmackhaft machen wollen, bleibt ein Rätsel. Die meisten Amerikaner halten Diesel für Stinker, außerdem ist dieser Kraftstoff teurer als Benzin. Joachim Becker

Autoindustrie in den USA Automobilschau in Detroit SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Mensch in der Mitte

Ein neues Einrichtungssystem für Lkw-Kabinen soll das Leben der Fahrer leichter machen

Ob mitdenkende Getriebe, Abstandsradar oder ESP: Die quer durch Europa rollenden Schwerlastwagen werden mit immer mehr Hightech-Komponenten aufgerüstet, doch einer bleibt oftmals auf der Strecke - der Fahrer. Denn die Lkw-Kabinen, Arbeitsplatz und Lebensraum zugleich, sind trotz aller Bemühungen der Hersteller recht spartanische Kammern, die in der Hauptsache auf das Fahren hin optimiert sind. Viele Betten sind schmal und hart, eher eine Pritsche, Kaffeemaschinen werden notdürftig auf dem Armaturenbrett verzurrt und der Proviant irgendwo hinter einer Außenklappe gelagert. In der maximal 2,35 Meter langen Kabine hat sich hinsichtlich Komfort und Funktionalität während der vergangenen Jahrzehnte vergleichsweise wenig getan. Durch ein neues modulares System namens Motis soll künftig die Kabine komfortabler, funktionaler und ästhetischer werden.

Denn die Leistungsanforderungen an die Fahrer sind dramatisch gestiegen: "Heute sind 90 Prozent allein unterwegs, zum Teil auf Touren, die 5000 Kilometer quer durch Europa führen", erläutert Johann Tomforde vom Pforzheimer Designbüro hymer idc. Der Designer, der als Vater des Smart gilt, widmet sich mit seinem Team unterschiedlichsten Mobilitätsprojekten - beispielsweise neuen Elektrofahrzeugen, Wohnmobilen oder eben auch Lkw-Kabinen. Human Drivestyle nennt er das, was hinter diesen Projekten steht: eine menschlichere Mobilität, die mit scheinbar fixen Rahmenbedingungen bricht und neue Konzepte umsetzt. Damit unterscheidet er sich von den meisten Autodesignern, die schicke Hüllen entwerfen, an des Autos Kern aber nicht rütteln dürfen. Das ist beim Lkw ähnlich, wobei für die Designer hier anscheinend auch das Interieur tabu ist - wie sonst wären mangelnde Ästhetik und Funktionsdefizite zu erklären?

Von diesem Jahr an stehen die Chancen auf Besserung gut. Dann nämlich startet die Serienproduktion des Motis-Modulsystems, mit dem auch bereits laufende Fahrzeuge nachgerüstet werden können. Und bei den Spediteuren, so ist in der Branche zu hören, ist das Interesse groß. Denn viele der Unternehmer setzen zunehmend wieder auf gut ausgebildete und zuverlässige Fahrer. "Die aber sind nicht nur mit PS zu locken, sondern schauen auch auf andere Dinge", erläutert Tomforde.

Motis besteht im Prinzip aus zwei Türmen, einer hinter dem Fahrersitz, der andere hinter dem Beifahrersitz. Die Basis bildet ein Aluminium-Spaceframe-System, in das die einzelnen Module eingesetzt werden können - beispielsweise ein ausfahrbares Waschbecken, eine Mikrowelle, ein ausgewachsener Kühlschrank, eine Kochgelegenheit mit Kaffeemaschine und ein Klapptisch. In der Premiumversion darf sich der Fahrer sogar über eine Toilette freuen und ist damit nahezu autark unterwegs; in Zeiten überfüllter Parkanlagen ein wichtiges Argument. Über all dem befindet sich dann noch ein großes, herabfahrbares Bett mit echtem Lattenrost. Motis bildet also viele Funktionalitäten auf kleinstem Raum ab - so wie bei den Wohnmobilen, die Tomforde ebenfalls entwirft. Aus diesem Bereich kommen folgerichtig auch viele der Komponenten und Module, beispielsweise die von außen ver- und entsorgbare Toilette. Das System ist so dimensioniert, dass es in alle gängigen Kabinen passt. Ein Testtruck ist seit einem Jahr unterwegs, die ersten Pilot-Umrüstungen sind abgeschlossen. Alle Module werden dezentral produziert und dann bei Dirks in Hannover montiert; später kann die Ausrüstung neuer Kabinen auch direkt beim jeweiligen Hersteller erfolgen.

Dirks ist eines von vier Unternehmen, die 2007 gemeinsam die Mo.T.I.S. GmbH gründeten. Die Hymer Cab Interior GmbH, die Remis GmbH, die Bauer Kunststoffe GmbH und Dirks Automotive bringen jeweils ihre spezifischen Kompetenzen in das System und die Firma ein. "Alles mittelständische Firmen mit vergleichbaren Kulturen, konkreten Realisierungsabsichten und kurzen Entscheidungswegen", so Tomforde über das neue Unternehmen und den Verzicht auf einen Konzern als Partner. Motis ist also mehr als ein interessantes Designprojekt; es steht auch für ein unternehmerisches Modell. Armin Scharf

Infos unter www.motis.org

Turm-Bau: ausklappbares Waschbecken im Aluminium-Rahmen.

Schöner wohnen: In den zwei Modulen hinter den Sitzen findet sich alles, was das Leben in einer Lkw-Kabine angenehmer macht. Dazu gehören auch Mikrowelle, Kaffeemaschine und selbst eine Toilette ist an Bord.

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Grün ist alle Theorie

Auf der Autoshow in Detroit reden viele vom Technik-Wandel, die Japaner sind schon wieder einen Schritt weiter

Wie viel Töne hat die Farbe Grün? Die amerikanische Autoindustrie hat sich bisher mit Vorliebe in Military- und Jagdgrün gekleidet. Mit Offroad-Tarnanstrich und Ethanol im Tank sollten selbst riesige Trucks naturverbunden wirken. Jetzt stehen die Hummer und Pick-ups auf Halde. Von der nationalen Euphorie mit Buy-American-Parolen der letzten Jahre ist nichts mehr zu sehen. Gibt es tatsächlich eine neue Bescheidenheit und den Wandel zur Elektromobilität, die alle US-Hersteller plötzlich verkünden? Chrysler-Vize Jim Press verspricht eine Revolution, die äußerlich alles beim Alten lässt: "Keine Kompromisse", wiederholt er unermüdlich, "unsere Kunden werden weiter die Autos bekommen, die sie wollen und lieben." Von Kosten, Gewicht und technischen Problemen spricht er nicht. Dodge Viper, Jeep Patriot oder der Familienvan Chrysler Town & Country sollen auch als Elektrofahrzeuge ihre Markenidentität behalten. Deshalb bleiben sie so groß und schwer wie eh und je (siehe Kommentar).

Auf der Autoshow in Detroit predigen alle den (Klima-)Wandel, General Motors will sogar ein Batteriewerk in der Nähe von Detroit bauen. Wo die Kunden dafür herkommen sollen, bleibt ein Rätsel: "Beim derzeitigen Spritpreis sind die Amerikaner nicht bereit, in sparsame Technologien zu investieren", bekennt GM-Vize Bob Lutz. VDA-Chef Matthias Wissmann kann das Gerede von der Elektro-Revolution daher nicht mehr hören: "Wir dürfen keine falschen Erwartungen wecken, auch 2020 werden wir noch lange nicht alle elektrisch fahren." Audi- Motorenchef Wolfgang Hatz warnt ebenfalls vor zu viel Euphorie: "Das Thema Lithium-Ionen-Batterien ist viel komplizierter, als viele denken. Wir lernen jeden Tag dazu, niemand ist vor Überraschungen sicher." Nachhaltig seien nur kontinuierliche Fortschritte, betont auch Daimler-Chef Dieter Zetsche und gibt sich verhalten optimistisch: "Wir werden jetzt nicht unser Saatgut verzehren und die Ausgaben für Forschung und Entwicklung reduzieren, sondern gestärkt aus der Krise hervorgehen!"

Wer kann seinen Kunden die nötigen Effizienzfortschritte verkaufen? Die deutschen Hersteller beantworten diese Frage in Detroit mit emotionalen Fahrzeugkonzepten und sauberen Dieselmotoren. Audi zeigt ein Sportback Concept auf Basis des künftigen A6: Eine 1,40 Meter flache Karosserie samt rahmenlosen Türen kombiniert die Eleganz eines Coupés mit dem Praxisnutzen einer großen Heckklappe. Während der Skoda Superb mit einem ähnlichen Konzept der traditionellen Limousinenform treu blieb, wollen Audi und BMW künftig einen betont progressiven Stil in der Oberklasse durchsetzen. Berichten zufolge werden die Münchner im März auf dem Genfer Automobilsalon eine seriennahe Version ihres Progressive Active Sedan auf BMW-Fünfer-Basis vorstellen. Bescheiden sind diese neuen Viersitzer mit Edel-Interieur nur beim Spritverbrauch: Audi gibt für den fast fünf Meter langen A7-Vorläufer mit V6-Clean-Diesel (165 kW/225 PS), der die Grenzwerte aller US-Bundesstaaten erfüllt, einen Verbrauch von 5,9 Liter an.

Keine Kompromisse beim Fahrspaß ist auch die Devise des VW Concept BlueSport. Hinter den Sitzen des knapp vier Meter langen Mittelmotorsportwagens lauert ein 132 kW (180 PS) starker Clean Diesel auf den Kick mit dem Gaspedal. Die Wolfsburger Flunder bleibt trotz Selbstzünder unter 1200 Kilo und spurtet in 6,6 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Der Verbrauch soll nur 4,3 Liter je 100 Kilometer betragen, auch der geplante Einstiegspreis von rund 25 000 Euro klingt attraktiv. "Die Serien-Chancen für dieses Konzept stehen gut", so Projektleiter Ralf Willner, "viele Teile stammen aus dem neuen, modularen Querbaukasten, aus denen sich auch der nächste Polo und Golf bedienen werden." Beim abendlichen Messerundgang erweisen selbst die Entwicklungs-Chefs von Audi und BMW dem bildhübschen VW-Konzept ihre Referenz. Klaus Draeger hätte auch schon einen Namen für eine solche Spaßmaschine aus München: "Z2 natürlich. Für die Zeit nach der Krise können wir uns vieles vorstellen."

1999 hatte der erste BMW X5 in Detroit den Trend zu sportlichen Geländewagen eingeläutet. Mit dem BMW X6 ActiveHybrid wird zehn Jahre später der erste Hybrid aus München antreten. Bis Jahresende soll der Achtzylinder-Benziner mit Elektro-Assistenz verfügbar sein - und rund 20 Prozent weniger Kraftstoff verbrauchen als der Benziner allein. Kooperationspartner Mercedes rollt währenddessen den ML Hybrid an den Start: "Wir kommen später als die Japaner, dafür werden wir zeigen, was bei Hybridfahrzeugen heute technisch machbar ist", sagt der verantwortliche Manager Neil Armstrong. Dank eines variablen Two-Mode-Getriebes können die Hybrid-Allradkraxler aus München und Stuttgart auch schwere Lasten ziehen - bisher ein Manko bei den seriellen Hybriden aus Japan. Toyota und Honda treiben mit dem neuen Prius und Insight derweil die Demokratisierung der aufwendigen Technik voran: "Wir wollen von 2010 an vom neuen Prius weltweit 400 000 Stück pro Jahr verkaufen", so Bob Carter, Toyota-Markenchef USA.

Der Hybrid-Weltmarktführer möchte mit seinen Antriebs-Mischwesen keine Revolution mehr lostreten, sondern nach zehn Jahren endlich Geld verdienen. Der neue Prius ist dem alten deshalb zum Verwechseln ähnlich. Er soll beim Fahren aber mehr Spaß machen und außerstädtisch noch effizienter werden. Auffallend unauffällig ist auch der neue Lexus HS 250h: Mit einem 2,4-Liter-Vierzylinder und einer Systemleistung von 187 PS wird die Mittelklasselimousine knapp mehr als sieben Liter verbrauchen. Das Hybrid-Einstiegsmodell der Marke soll in den USA rund 32 000 Dollar kosten, eine Version für Europa ist nicht geplant. Nur zum Vergleich: Der neue Chevrolet Silverado Two-Mode-Hybrid wird rund 50 000 Dollar kosten, obwohl die Standardversion des Pick-ups bereits für die Hälfte zu haben ist.

Während Amerikaner und Europäer also noch darüber nachdenken, wie sie ihren Kunden alternative Antriebe kostendeckend verkaufen können, sind die Japaner schon längst im Massenmarkt angekommen. Joachim Becker

Show-Stücke: Die europäischen und asiatischen Autohersteller zeigen in Detroit bemerkenswerte Neuheiten. So erregt Audi mit einer Studie Aufmerksamkeit, die den neuen A7 vorwegnimmt und ein verändertes Design der Marke andeutet (großes Foto). Konzernmutter VW wiederum will mit der Roadster-Studie (rechts) der Marke ein sportlicheres Image verpassen. Voll auf Hybridtechnik setzen dagegen der neue Toyota Prius, der dank Benzinmotor mit Elektro-Unterstützung 134 PS leistet. Der neue Lexus HS 250h soll mit 187 PS etwas mehr als sieben Liter verbrauchen - kein Rekordwert allerdings.

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WIE FÜHLT SICH DAS AN?

Sturz in einer Monsterwelle

Der 37-jährige Surfprofi Darryl Virostko aus Kalifornien hat den Ruf, vor keiner Welle zurückzuschrecken. Fehler in den Riesenbrechern können tödlich sein. Doch einmal blieb Virostko hängen - an einem Wellenkamm in der Waimea Bay der hawaiischen Insel Oahu.

"Der Wasserberg rollt auf mich zu. Er wächst immer höher. Sofort drehe ich mein Surfboard Richtung Strand. Ich paddle mit kräftigen Armzügen. Seit Wochen habe ich auf diesen Tag gewartet: Heute startet der Eddie Aikau Surf Contest auf Hawaii. Die Brecher sind mehr als zehn Meter hoch. Meine Welle gehört zu den Größten. Ein Augenblick noch, und die blaue Wand wird sich nach vorne überschlagen. Ich springe auf, um den Ritt zu beginnen.

Aber nichts passiert. Der Wind bläst mir heftig entgegen. Er hält mich oben auf der brechenden Wellenkante fest und lässt mich nicht los. Ich kann die Wasserwand nicht auf meinem Board hinabrasen. Hilflos blicke ich auf die Wasseroberfläche 15 Meter unter mir und begreife, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Mit einem Ruck wirft das Ungetüm seine brechende Lippe nach vorne, auf der ich noch immer tänzle. Spuckt mich in die Tiefe. Und ich stürze. Wie in Zeitlupe nehme ich jedes Detail wahr - sogar wie mein drei Meter langes Board in zwei Teile gebrochen wird. Zum Glück tauche ich mit den Füßen voran ein. Dann knallt die tonnenschwere Wellenlippe auf die Oberfläche. Selbst tief unten im Wasser hört sich der Aufschlag wie eine Bombenexplosion an.

Der Sog packt mich sofort. Wie im Schleudergang einer Waschmaschine werde ich umhergerissen. Ich mache wilde Überschläge und versuche dabei ruhig zu bleiben. Es hat keinen Sinn, gegen die Kraft des Wassers zu kämpfen. Aber der Waschgang nimmt kein Ende. Schon brennt meine Lunge und schreit nach Luft, da entlässt mich die Welle plötzlich aus ihrem Griff. Nur noch ein paar Meter bis zur Oberfläche und ich fülle gierig meine Lunge, endlich. Zurück am Strand greife ich mir ein neues Board. Nach so einem Sturz darf man keine Pause machen. Sonst bekommt man Angst." Protokoll: Stephan Bernhard

Ein Mensch im Schleudergang: Gegen solche Riesenwellen kommt niemand an. Foto: Karen Wilson/Tostee.com

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Freilassung aus Guantanamo

US-Regierung schickt sechs Gefangene in ihre Heimat

Guantanamo/Berlin - Die USA haben sechs weitere Häftlinge aus dem Gefangenenlager Guantanamo Bay in Kuba freigelassen. Vier seien zurück in den Irak geschickt worden, einer nach Afghanistan und ein weiterer nach Algerien, teilte das US-Verteidigungsministerium am Wochenende mit. Die Beweise gegen die Männer seien zuvor umfassend überprüft worden. Weitere Einzelheiten nannte das Ministerium nicht. Derzeit befinden sich den Angaben zufolge noch etwa 245 Insassen in Guantanamo, von denen 60 demnächst freigelassen oder an ihre Herkunftsländer übergeben werden könnten. Das US-Militär hatte das Lager wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eingerichtet und Terrorverdächtige aus der ganzen Welt dorthin geschickt.

Der künftige US-Präsident Barack Obama, der an diesem Dienstag sein Amt antritt, will das weltweit kritisierte Gefangenenlager schließen. Allerdings müssen zuvor noch Aufnahmeländer für die Häftlinge gefunden werden, die weder in ihre Heimat zurückkehren können noch in den USA bleiben wollen. Die Bundesregierung hat noch nicht entschieden, ob Deutschland entlassene Guantanamo-Häftlinge aufnehmen wird. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sprach sich aber gegen die Aufnahme von Lagerinsassen aus - mit Ausnahme deutscher oder in Deutschland aufgewachsener Personen. Bundesbürger sind derzeit aber offenbar nicht unter den Terrorverdächtigen.

Im Gegensatz zu Innenminister Schäuble verlangt der Präsident des EU-Parlaments, Hans-Gert Pöttering, Häftlinge aus Guantanamo in der Europäischen Union aufzunehmen. "Wenn man die Schließung von Guantanamo fordert, muss man den Amerikanern auch dabei behilflich sein", sagte der CDU-Politiker dem Hamburger Abendblatt. Allerdings sei die Sicherheitsfrage in jedem konkreten Fall sorgfältig zu prüfen. "Verurteilte Terroristen müssten selbstverständlich auch in der EU ihre Haftstrafen verbüßen." Für den Fall, dass Zweifel an der Ungefährlichkeit einer Person bestünden, eine rechtsstaatliche Verurteilung aber nicht möglich sei, schlug Pöttering "ein System der Begleitung" vor. Auch der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), kritisierte im Kölner Stadt-Anzeiger die abwehrende Haltung Schäubles: "Wenn wir der neuen amerikanischen Administration helfen können, das im Kern von ihr zu lösende Problem Guantánamo zu beseitigen, dann sollten wir uns dem nicht verschließen." Reuters/AFP/ddp

Pöttering, Hans-Gert: Zitate Kriegsgefangene der USA in Guantanamo Beziehungen Deutschlands zu den USA Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hohles Imperium

Die russische Seele ist jung - und schwächelt schon

Ende des 17. Jahrhunderts, Russland hinkte hinter der Industrialisierung so elend her wie Deutschland, suchte eine Generation von Denkern die Erlösung für die geliebte Heimat ausgerechnet auf dem russischen Acker. Hier, wo die Bauern Leibeigenschaft, Willkür und Sadismus mit der Apathie des Unterlegenen ertrugen, meinten Philosophen und Schriftsteller den russischen Volkscharakter in seiner edelsten Form verkörpert zu sehen: unverdorbene Güte, Friedfertigkeit und Opfermut. Wenn Russland schon wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig war, so die Logik, dann hätte es wenigstens innere Werte zu bieten. Es war ein Gedanke, der von den russischen Slawophilen ebenso inspiriert war wie von den russischen Romantikern, schreibt der britische Historiker Orlando Figes. Aber erst Nikolai Gogol schenkte ihm eine spirituelle Mission, eine weltumspannenden Erlösungsauftrag.

"Wohin stürmst du Russland", schrieb er am Ende seines Romans "Die toten Seelen": "Alles auf Erden weicht dir aus und es geben dir den Weg frei alle anderen Völker und Reiche". Russlands spirituelles Potenzial, so seine Überzeugung, würde auch den Westen der Auferstehung näher bringen. "Das russische Volk ist nicht bloß ein Volk, sondern eine Menschheit", hatte Gogols Kollege Konstantin Aksakow geschrieben. Das sah Gogol genauso. Dass sein Plan nicht aufging, ahnte er allerdings schon zu Lebzeiten. Seine Trilogie "Die Toten Seelen" sollte die russische Seele in ihrer ganzen Reinheit zeigen, wandelte sich aber zu einer Groteske über Gier und Dummheit in der Provinz und warf plötzlich eine ganz andere Frage auf: Wie konnte Gott dieses Elend erlauben? Wie konnte Gott Russland schaffen? Gogol ahnte sein Scheitern als literarischer Prophet, verbrannte die Fortsetzung der "Toten Seelen" und begann, sich zu Tode zu hungern.

150 Jahre später ist der Widerspruch noch immer ungelöst. Die Großmacht Russland ist so stark wie nie seit dem Ende der Sowjetunion, aber was hat sie "anderen Völkern und Reichen" zu bieten? Amerika steht mit Barak Obama vor seiner Neuerfindung. Und Russland?

Russland trägt das Gesicht Wladimir Putins, der für die Russen eine Art Wohlstandsmaskottchen ist, für viele Europäer aber der unheimliche Gast. Wenn Putin durch die Welt reist wie eben nach Deutschland, wirbt er für eine neue globale Ordnung, für weniger Amerika und mehr Russland. Viele Menschen im Westen aber lesen die Staatsterror-Fantasien Wladimir Sorokins, den "Tag des Opritschniks" oder den "Zuckerkreml", in denen eine monströse Soldateska mit dem Schlachtruf "Goida" Tod und Verwüstung verbreitet, als aktuelle Situationsbeschreibung. Und dass manche russische Beamte dies offenbar auch tun, steigert ihr Entsetzen nur. In Ländern wie Georgien wächst eine Generation heran, die Englisch lernt, nie in Moskau war und sich durch den Krieg im August auf ganzer Linie bestätigt fühlt. Ein Orden für Wladimir Putin wie jetzt in Dresden? Empörend.

"Vater Dynamit"

Man muss sich nicht in die Details des jüngsten Gasstreites versenken, in doppelt unterzeichnete Abkommen, in Gipfel und Gegengipfel, um zweierlei festzuhalten: Die Chancen der Ukraine auf einen EU-Beitritt dürften inzwischen hinter jenen Angolas liegen. Und: Russland hat sich nicht nur als Geschäftspartner unmöglich gemacht, sondern auch als Nachbar. Nun ist ein bisschen Angstschweiß auf der Stirn anderer Länder nach der Logik einer Großmacht kein Unglück. Langfristig allerdings ist es auch keine Strategie. Moskau ist nicht Rom, es will nicht erobern, sondern beeinflussen, und dafür braucht es ein Minimum an Ausstrahlungskraft. Das russische Imperium aber ist hohl.

Ende Januar wählt Russland einen neuen Patriarchen, aber alle Hoffnungen der Orthodoxen Kirche, eine byzantinische Theokratie vergangener Jahrhunderte wieder zu beleben, scheitern an den Widersprüchen der modernen Gesellschaft und einem oft dekorativen Verhältnis zur Religion. Der Kirchgang allein macht noch keine Gläubigen. Wie vor zweihundert Jahren muss sich die Kirche auch heute mit fundamentalistischen Renegaten herumschlagen, etwa dem Krawall-Priester Diomid, genannt "Vater Dynamit" aus dem Fernen Osten. Er geißelt Homosexualität und den Strichcode auf Lebensmitteln, aber auch das Vasallenverhältnis der Kirche zum Staat und inszeniert sich insgesamt als erfrischend konservative Alternative für die Verlierer der modernen russischen Konsumgesellschaft. Dass Moskau der Christenheit eine Zuflucht, ein "Drittes Rom" sein könnte, klingt grotesk.

Mächtiger Magnetismus

Und der soziale Messianismus hat noch viel dramatischer abgewirtschaftet. In den zwanziger Jahren reiste der sowjetische Fotograf Max Penson nach Mittelasien und hielt eines der bis heute größten gesellschaftlichen Experimente fest, die Verwandlung einer archaischen Stammesgesellschaft in einen bolschewistischen Wunschtraum. Auf seinen Aufnahmen pflügen usbekische Traktoristen in kühnen Diagonalen und Kinder kauern andächtig unter Telegrafenmasten, unverschleierte Frauen lernen lesen. Nichts davon war Dokumentation, Penson inszenierte rücksichtslos, aber seine Zurichtung der Wirklichkeit war ein Hauch gegen das, was die bolschewistische Zwangsbeglückung bedeutete: Verheerungen in Kultur und Umwelt, die Entwurzelung eines ganzen Volkes.

Und doch ist die zivilisatorische Leistung des Kommunismus vielleicht nirgendwo so greifbar wie in Zentralasien, gerade heute, wo Länder wie Tadschikistan und Usbekistan wieder in vorrevolutionärem Dämmer versinken, in Analphabetismus und Kinderarbeit und die Erntemaschinen auf den Baumwollfeldern verrosten. Der Kommunismus war eine Option auf eine Zukunft, tausendfach verraten, in Blut ertränkt, aber in seinem ideellen Kern bis zum Ende lebendig genug für ein paar Sozialromantiker in

aller Welt.

Und bis vor kurzem entwickelte Russlands selbst im ideologischen Vakuum des postsowjetischen Raumes noch einen mächtigen Magnetismus, zwar nicht sofort und nur dank des Petrodollar-Segens. Aber in den vergangenen acht Jahren profitierten nicht nur Russen, sondern auch Bauarbeiter aus Baku und Jerewan vom Boom einer himmelsstürmenden National-Architektur.

Seit ein paar Monaten ist auch das vorbei. Die Gastarbeiter verlassen die stillgelegten Baustellen, und die Russen beobachten wehmütig den Sinkflug des Rubel. Der Putinismus ist eine nationalistische Idee, wenn er überhaupt eine ist und nicht nur das zufällige Produkt aus einer Verbindung von hohem Öl-Preis und staatlichem Dirigismus. Gegen die Despotien Zentralasiens wirkt er immer noch milde, aber ohne die ökonomischen Gravitationskräfte dürfte dies hegemonialen Ansprüchen eher entgegenstehen. Moskau beharrt auf einen eigenen Weg, der westliche Werte bestenfalls zur Kenntnis nimmt, und empfiehlt sich den Turkmenbaschis dieser Welt eher als Komplizen denn als Rivale.

In einer vorsichtigen Schaukelbewegung nähern sich die Länder am Kaspischen Meer mal Moskau, mal Amerika, mal China oder Iran, um sich wieder zu entfernen. Es ist eine Äquidistanz aus Überlebensinstinkt, und sie zeigt, dass die russische Herrschaft über ein paar Tausend Kilometer Pipelines kein Ersatz für gemeinsame Interessen ist. Der Putinismus hat seinen Zenit überschritten, die zentrifugalen Kräfte werden wachsen. Eine neue politische Kultur wäre darauf die beste Antwort. Zwang die schlechteste. SONJA ZEKRI

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Jahrhundertgeiger Nr. 3

Alchimie, Expression, Nervosität, Noblesse

Ivry Gitlis, Ginette Neveu, Cristian Tetzlaff, Efrem Zimbalist

Ivry Gitlis, 1922 in Haifa geboren, ist unerschöpflich darin, aus der Violine nie Gehörtes herauszuholen. Er begann mit fünf Geige zu spielen, siegte 1951 im Thibaud-Wettbewerb, debütierte in Paris und konzertiert seitdem weltweit. 1956 nahm er mit den Wiener Symphonikern unter Jascha Horenstein Béla Bartóks 2. Violinkonzert auf, erregend, schockierend, einmalig. Bartók schrieb das Konzert 1937/38, zwei Jahre vor der Emigration in die USA. Schier unfassbar, wie Gitlis mit Farbwechseln und Licht-Schatten-Effekten das Werk als vielgestaltige, riesig dimensionierte, an Einfällen überreiche Musiklandschaft ausleuchtet.

30 Jahre jung stürzte Ginette Neveu 1949 über den Azoren ab. Sie war bedingungslos expressiv, ernst, leidenschaftlich, ihr Ton zitterte vor Erregtheit. 1919 in Paris geboren trat sie mit fünf erstmals auf, errang mit neun den Preis der École Supérieure de Musique, wurde 1933 "nur" Vierte beim Wettbewerb in Wien: In der Jury saß Carl Flesch, bei dem sie dann vier Jahre studierte. 1935 siegte sie in Warschau beim Wieniawski-Wettbewerb vor David Oistrach. Zu frühen Aufnahmen zählt "Un poco triste", das dritte der vier Stücke Op. 17 von Josef Suk. Verzehrende Trauer prägt die Miniatur, wenn sie so existentiell ausgekostet wird. Ernest Chaussons Poème Es-Dur Op. 25, 1892-96 entstanden, in verschiedensten Valeurs von Melancholie und Träumereien schimmernd, verlangt lyrische Inständigkeit und frische Klangphantasie. Unter Neveus Hochspannung öffnen sich Abgründe, es geht, daran ließ sie Ginette Neveu nie Zweifel, um Leben und Tod in der Musik.

Christian Tetzlaff, 1965 in Hamburg geboren, ist ein Experimentator musikalischen Ausdrucks nach Charakter und Klangbild der jeweiligen Musik, ein im besten Sinne hochnervöser Spieler, der Musik seismographisch auf Brüche hin wahrnimmt und mit vitaler Musizierlust verwirklicht. Seit 1994 bildet er mit Leif Ove Andsnes ein Duo, sie nahmen da Leos Janáceks Sonate auf, 1914 begonnen, erst acht Jahre später vollendet. Tetzlaff singt das Melodische emphatisch aus, die Einwürfe des dritten und vierten Satzes schlagen abrupt wie Hiebe ein.

Efrem Zimbalist entstammte wie Heifetz der Klasse Leopold Auers am St. Petersburger Konservatorium. 1889 in Rostow geboren debütierte er 1911 in Amerika, wurde 1928 Professor am Curtis Institute in Philadelphia, von 1941 bis 1968 der Direktor. Er starb 1985 in Reno, Nevada. Kaum einer hatte solch ebenmäßige Tonemission, ein so dichtes Legato, er beherrschte eine Vibratokultur des Langsamen, es klang ungewöhnlich frei mit tenoralem, in der Höhe silberhellem Timbre. 1925 nahm er das Persische Lied aus Glinkas Oper "Ruslan und Ludmilla". Märchenhafter Klangzauber entsteht, man glaubt plötzlich nicht mehr nur Violine zu hören: Mittendrin lässt Zimbalist eine Nachtigall singen, die nur er entdecken konnte. HARALD EGGEBRECHT

Christian Tetzlaff, Efrem Zimbalist Werner Neumeister; Getty

Ivry Gitlis, Ginette Neveu Haillot/Sygma/Corbis; Hulton / Getty

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Das Loch im Boden

Europa, ein Kontinent, der nicht lacht und nicht vergibt / Von Slavenka Drakulic

Vor zehn Jahren veröffentlichte ich "Café Paradies", einen Band mit Essays über das Leben nach dem Kommunismus. Eine dieser Geschichten handelte von meinem Besuch in der Toilette von Nicolae Ceausescus Tochter Zoe und von der Beschaffenheit rumänischer Toiletten im allgemeinen. Selbst in einem guten Restaurant war ein Gang zur Toilette damals eine riskante Angelegenheit. Ich schrieb: "Du schließt die Tür, und schon bringt dich der schneidende Uringestank zum Würgen. Verzweifelt suchst du einen trockenen Flecken auf dem überfluteten Boden. Ich muss nicht erwähnen, dass die Toilette keinen Sitz hat. Du lernst schnell, dass du so etwas nicht erwarten darfst. Um zu spülen, musst du dann an einem schmutzigen Seil ziehen. Seife gibt es natürlich nicht, und auch Toilettenpapier scheint hier eine weitgehend unbekannter Luxus zu sein. Es gibt keine einzige öffentliche Toilette in Bukarest, in der es Papier gibt." Wie soll man diese völlige Abwesenheit normaler Hygienestandards verstehen, fragte ich mich. Armut konnte doch nicht die einzige Antwort sein.

Als diese Geschichte in der italienischen Zeitung La Stampa erschien, schrieb der rumänische Botschafter in Italien sofort einen zornigen Leserbrief. Er griff mich an als ein bösartiges Individuum, das den Stolz seiner Heimat verletzten wollte. Warum, wunderte sich der Botschafter, schrieb ich nicht über die schönen Seiten Rumäniens? Sondern über Toiletten? Im übrigen, schloss er, sähen sie gar nicht so aus, wie ich sie beschrieben hätte.

Der Streit, der sich in diesen Tagen an der Kunstinstallation im Brüsseler EU-Ratsgebäude entzündete, erinnert mich an diese alte Begebenheit. Toiletten scheinen immer noch ein heikles Thema zu sein, zumindest in einigen ehemals kommunistischen Ländern.

Die Idee war interessant, witzig sogar: die Tschechische Republik wollte den Beginn ihrer Ratspräsidentschaft mit einer Ausstellung markieren. Die tschechische Regierung gab deshalb bei Künstlern aus allen 27 EU-Ländern Skulpturen in Auftrag. Die Werke sollten sich mit Klischees und Vorurteilen über das jeweilige Land beschäftigen. Wir haben alle Vorurteile - warum also sollten wir sie nicht zeigen, jetzt, da wir in einer Gemeinschaft leben? Die Organisation des Projekts wurde dem tschechischen Künstler David Cerny übertragen.

Das Ergebnis war, natürlich, kontrovers. Rumänien wird als Dracula-Vergnügungspark dargestellt und Spanien als Zementblock. Holland versinkt im Meer, nur Minarette ragen noch aus dem Wasser. Schweden ist eine Ikea-Schachtel. Doch aus keinem dieser Länder kamen öffentliche Beschwerden. Dann rückte Bulgarien ins Zentrum des Geschehens. Denn den problematischsten Teil der 16 Meter hohen Skulptur, die aussieht wie eine Landkarte und sich "Entropa" nennt (SZ vom 15. Januar), hatte angeblich eine junge bulgarische Künstlerin namens Elena Djelebova gestaltet. Für Bulgarien stand - eine Toilette. Und nicht irgendeine Toilette, sondern eine "türkische": das ist ein Loch im Boden, über dem man in die Hocke geht.

Alles nur gelogen

Der stellvertretende tschechische Ministerpräsident und ehemalige Dissident Alexandr Vondra - irritiert, aber gefasst, wie es ein Politiker sein sollte - sagte, er unterstütze das Recht auf freie Meinungsäußerung: "Es ist ein Stück Kunst, sonst nichts. Es wäre eine Tragödie, wenn Europa nicht stark genug ist, sich das anzusehen." Bulgarische Journalisten aber stürzten sich auf die Recherche des Lebens der völlig anonymen Elena Djelebova. Sie gruben nach Informationen, doch sie fanden nichts. Die ständige Vertretung Bulgariens bei der EU setzte indes rasch eine Stellungnahme auf: "Djelebovas Werk, das Bulgarien als Toilette darstellt, hat in Bulgarien kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Die Vertretung hat bereits offiziell gegen die Installation protestiert. Das bulgarische Kulturministerium erklärt, es habe mit dem Projekt nichts zu tun und Djelebova nicht als Teilnehmerin ausgewählt."

Schnell wurde die Affäre zum internationalen Skandal. Die bulgarische Online-Zeitung Standart fasst zusammen: "Bei einem Treffen mit dem tschechischen Botschafter in Sofia forderte die bulgarische Regierung die Entfernung der Skulptur aus der Ausstellung. Betina Joteva, die Sprecherin der bulgarischen Vertretung bei der EU, sagte vor ihren Kollegen aus den anderen Mitgliedsländern, das ,lächerliche Kunstwerk verletzt die nationalen Würde Bulgariens und zeugt von wirklich schlechtem Geschmack'. Sie bestand auf seiner sofortige Entfernung."

So zeigen die Bürokraten im bulgarischen Kulturministerium - genau wie einst der rumänische Botschafter -, dass auch zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus nicht zu ihnen durchgedrungen ist, dass Kunst ein Akt der Freiheit sein sollte und kein Propagandainstrument. Ganz egal, wie geschmacklos oder anstößig ein bestimmtes Werk auch sein mag. Der offizielle Protest und die "Demütigung", die staatliche Institutionen beklagten, haben nur eine Bedeutung: Sie erinnern die Bulgaren und den Rest der Welt daran, dass sich ein politisches System über Nacht zu ändern vermag, das alte Denken aber auch nach zwanzig Jahren noch lebendig ist.

Dies ist freilich nicht das Ende der Geschichte. Am Tag nach dem Aufruhr folgte der nächste Skandal. Cerny, der Organisator des Projekts, gab zu, gemeinsam mit zwei Freunden das gesamte, eine halbe Million Dollar teure Kunstwerk selbst produziert zu haben. Inklusive Ausstellungskatalog mit Biografien von 27 erfundenen Künstlern. Während sich manche fragten, ob "Entropa" nun überhaupt noch als Kunst gelten könne, gab Cerny zu Protokoll, er habe herausfinden wollen, ob Europa über sich selbst lachen kann. Er entschuldigte sich bei allen, die sich von seiner Installation gekränkt fühlen, rechtfertigte aber seinen Einfall für Bulgarien mit dem Argument, kein Land in Europa habe solche Toiletten.

Bisher weiß man nicht, was mit dem Honorar geschehen ist. Hat Cerny vielleicht auch das Geld eingesteckt, das für alle 27 Künstler bestimmt war? Der interessanteste Aspekt des Unternehmens ist aber nun - auch wenn keine Intention vorliegen sollte - die Lüge selbst, die Täuschung der Politik. Das erinnert uns daran, dass es für gewöhnlich die Politiker sind, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Belügen der Bürger verdienen. Mit seinem Mediencoup hat David Cerny nur bewiesen, dass Europa, Ost und West, weder lacht noch vergibt.

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Wien und Istrien. Zuletzt erschien von ihr die Monographie "Leben spenden: Was Menschen dazu bewegt, Gutes zu tun" (Wien 2008).

Deutsch von Roman Deininger.

Die Landkarte Bulgariens als Arrangement von Toiletten, angeblich Werk einer jungen Künstlerin, mit der Tschechien die Präsidentschaft im Europäischen Rat feiern wollte. Foto: AFP

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KURZ GEFAHREN

Mut zur Lücke

Hyundai setzt mit dem Winzling i10 offenbar auf das richtige Modell

Hyundai i10 1.1: 49 kW (67 PS); max. Drehmoment: 98 Nm bei 2800/min;

0-100 km/h: 10,7 s; Vmax: 151 km/h;

Testverbrauch: 5,3 l Super (lt. Werk:

5,0 l, CO2: 119 g/km); Euro 4; Grundpreis: 9990 Euro.

Mut hat er, der Hyundai i10, denn er will nicht weniger als die Kleinstwagen-Klasse aufmischen. Das heißt: Er will nicht nur, er hat es bereits getan. Schon im November 2008 hat er nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes mit 3107 verkauften Modellen im Segment die Führung übernommen und dort den Smart abgelöst. Kein Wunder: Mit einem Listenpreis unter 10 000 Euro ist die koreanische Kurzware (3,56 Meter lang) das richtige Angebot in Zeiten krisenbedingter Sparsamkeit. Immerhin: Dreieinhalb Meter Auto treffen auf fünf Türen und fünf Plätze. Der Innenraum ist sauber aufgeräumt, das Plastik der Oberflächen versucht, gut auszusehen und es gibt allerlei Ablagen und einen Cup-Holder. Die Sitze fallen zwar etwas zierlich aus, dennoch ist selbst auf der Rückbank für Erwachsene erfreulich viel Platz. Die hinteren Lehnen lassen sich simpel und flott umlegen und vergrößern den Laderaum von 225 auf immerhin 910 Liter.

In der Stadt erweist sich der i10 als Wiesel - quirlig und recht leise. Der Vierzylinder-Motor wirkt nie angestrengt. Weil der Fahrer im Vergleich zu anderen Kleinwagen höher sitzt, steigt er nicht nur leichter ein, sondern freut sich außerdem über eine gute Übersicht. Auch der höhergelegte Schalthebel ist eine prima Angelegenheit. Die etwas zu leichtgängige Lenkung arbeitet ausreichend präzise, das gutmütige Untersteuern in rasch durchfahrenen Kurven nimmt man gerne hin. Selbst Überland-Fahrten sind dank des etwas längeren Radstandes einigermaßen erträglich. Allerdings: Das komfortablere Autofahrer-Leben beginnt erst mit der Style-Ausstattung (11 990 Euro). Nur ESP gibt es für den kleinen Benziner nicht.gf

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MARKEN & MODELLE

Am 1. März erhöht BMW die Preise. Den Einstieg markiert die Einser-Baureihe mit mindestens 22 000 Euro für den 116i als Zweitürer. Teuerstes Modell ist das 507 PS starke M6 Cabrio, das unverändert mit 121 700 Euro Grundpreis zu Buche schlägt.

Basierend auf der 308-Plattform stellt Peugeot den 3008 vor, der eine Mischung aus Van, SUV und Limousine mit flacher Frontscheibe, zweigeteilter Heckklappe, hoher Gürtellinie und erhöhter Sitzposition ist. Zum Start im Sommer wird es zwei Diesel und zwei Benziner mit Leistungen zwischen 80 kW (110 PS) und 110 kW (150 PS) geben. Im Herbst sollen je ein stärkerer Diesel und Benziner folgen, 2011 eine Hybrid-Variante. Die Preise stehen noch nicht fest, dürften aber mit rund 25 000 Euro beginnen.

Der Allradantrieb 4Motion lässt sich im VW Golf nun mit 103 kW (140 PS) starkem 2,0-Liter-TDI und Sechs-Gang-Getriebe kombinieren. Damit vergehen von null auf 100 km/h 9,4 Sekunden, die Höchstgeschwindigkeit ist bei 206 km/h erreicht, der Verbrauch wird auf 5,5 Liter im Durchschnitt beziffert. Das Modell kostet 25 750 Euro.

Mit einer Reichweite von 64 Kilometer im rein elektrischen Betrieb wartet das Concept Car 200C EV von Chrysler auf, das derzeit auf der Detroit Motorshow gezeigt wird. In der 4,9 Meter langen Limousine arbeitet ein Elektromotor, gespeist von einer Lithium-Ionen-Batterie. Der Hecktriebler soll in weniger als sieben Sekunden von null auf 100 km/h beschleunigen, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 193 km/h. Ein Verbrennungsmotor mit Generator produziert zusätzlich Ladestrom für die Batterie. Damit kann die Reichweite auf 644 Kilometer erhöht werden. Chrysler plant, bis 2010 ein Elektromodell auf den US-Markt zu bringen.

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KOMMENTAR

Das Schlimmste kommt noch

Die Lehren aus der Autoshow in Detroit sind klar: Mögen amerikanische Zeitungen noch so viel von Öko-Revolution und Elektro-Zukunft schwärmen, in Wahrheit fahren viele US-Kunden mit Vollgas in die Sackgasse und ziehen die dortigen Hersteller mit ins Verderben. General Motors, Ford und Chrysler gebärden sich im Blitzlichtgewitter als Green Companies, doch die Messe-Studien und der reale Flottenmix könnten gegensätzlicher nicht sein. Statt Kleinwagen, Diesel oder Hybridautos wollen die meisten Kunden weiterhin Dreitonner mit V8-Motor. Fords F150-Serie führt seit 27 Jahren die Zulassungsstatistik an. Trotz eines Absatzeinbruchs um 25 Prozent eroberten die riesigen Pritschenwagen zum Preis eines VW Golf erneut den Spitzenplatz.

Die dicken Pick-ups kamen nur kurz aus der Mode, als die Gallone Benzin mehr als vier Dollar kostete. Als der Spritpreis zum Jahresende um mehr als die Hälfte fiel, zogen die Verkäufe wieder an. Dabei sind die Tage des American Way of Drive gezählt, die US-Regierung unter Barack Obama will schärfere Verbrauchslimits durchsetzen. Die Branche geht nun davon aus, dass die kalifornischen Richtlinien zur Reduzierung von Treibhausgasen, die Präsident Bush vor einem Jahr blockiert hatte, bald in allen 50 Bundesstaaten Gesetz werden.

GM, Ford und Chrysler steht das Schlimmste also noch bevor. Bis März müssen sie zukunftsfähige Geschäftspläne vorlegen, um weitere Regierungskredite zu bekommen. Dann werden sie auch detailliert zeigen müssen, wie sie den Flottenverbrauch bis 2012 um 22 Prozent und bis 2016 um 30 Prozent verringern können. Am Ende dieser Maßnahmen dürfen Personenwagen 2020 im Schnitt nur noch 5,4 Liter statt aktuell 8,5 Liter Benzin verbrauchen, auch bei den Light Trucks müssen mehr als 40 Prozent gespart werden. Wie die US-Hersteller ihren Kunden den Verzicht auf die Spritschlucker schmackhaft machen wollen, bleibt ein Rätsel. Die meisten Amerikaner halten Diesel für Stinker, außerdem ist dieser Kraftstoff teurer als Benzin.Joachim Becker

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Geld für den Genossen

Gazprom unterstützt die Willi-Sitte-Galerie in Merseburg

Wenn es Gazprom so will, müssen selbst die Serben frieren. Einen alten Freund aber werden die Mächte des postsowjetischen Reiches nicht in die Kälte schicken - den ergrauten Antifaschisten und Arbeiter-Maler Willi Sitte. Die nach ihm benannte und von einer Stiftung seines Namens geführte Galerie im sachsen-anhaltinischen Merseburg muss, dem russischen Energiekonzern sei Dank, nun wohl doch nicht schließen. Zuletzt hatten verschiedene Meldungen aus Merseburg Spekulationen über ein bevorstehendes Ende genährt. Jetzt will Gazprom dem Privatmuseum, wie schon einmal nach der Eröffnung im Jahr 2006, jährlich 35 000 Euro zukommen lassen. Das jedenfalls versichert der Vorsitzende der Willi-Sitte-Stiftung, Hans-Hubert Werner. Er verweist auf "längerfristige Verträge" des Sponsors und eine "feste Zusage" für 2009.

Die Galerie behütet schon der Herrgott selber, residiert sie doch tief im Schatten des Merseburger Doms in einem ehemaligen Kurienhaus. Dass sie dem russischen Staatsmonopolisten am Herzen liegt, dürfte sie Sittes Freund und Verehrer, dem Altbundeskanzler und Gazprom-Lobbyisten Gerhard Schröder verdanken. Der war bei der Eröffnung prominentester Gast.

Öffentliche Gelder aber gab es nur für die Sanierung und den Umbau des Denkmals, nicht für den Betrieb. Die jährlichen Kosten beziffert die Stiftung auf 120 000 Euro. Schon im vergangenen Jahr musste sie 25 000 Euro aus ihrem Kapital zuschießen, ähnliches droht 2009. Jedoch hofft sie nun auf eine neue Lichtgestalt, nämlich einen noch ungenannten Solar-Unternehmer. Und es zeichnet sich politisches Wohlwollen ab. Werner, Stadtrat in Merseburg, hofft, dass die Stadt die Miete erlassen und der Landkreis sich beteiligen wird.

Allerdings liegen die Schwierigkeiten nicht allein beim Geld. Die Besucherzahlen, laut offiziellen Angaben 45 000 seit der Eröffnung, gehen mittlerweile drastisch zurück. Selbst für seine Verehrer dürfte sich der Reiz von Sittes schwülstig aufgetragener Malerei nicht immerfort wach halten lassen, auch nicht, wenn der Meister Autogrammstunden gibt und das Ausstellungsprogramm seine schwitzenden Sauna-Akte und brünstigen Liebespaare ankündigt.

Vergebens sucht man in der Galerie eine Auseinandersetzung mit Sitte als Staatskünstler. Dazu fehlt unter anderem eine fachlich geeignete, unabhängige Leitungskraft - sie war in der Stiftung wohl auch nicht angestrebt. Dort dominieren Sitte, seine Familie und seine Anhänger. Guter Wille immerhin ist jetzt erkennbar. Werner, der seine politische Herkunft aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung betont, sieht als nächstes Ziel ein Werkverzeichnis: "Und das können nicht seine Fahnenträger verfassen."

GÜNTER KOWA

Sitte, Willi Gazprom-Aktiengesellschaft: Sponsoring Galerieszene in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gewaltexzess in der Werkstatt

Zwei Rechtsradikale sollen in Templin einen Saufkumpanen erschlagen haben - vor Gericht geht es auch um die Gesinnung der Täter

Von Constanze von Bullion

Berlin - Es wird ein Prozess, der in eine Lebenswelt führt, die viele nur vom Wegschauen kennen. Sie befindet sich am unteren Rand der ostdeutschen Gesellschaft, wo Obdachlose hausen, Alkoholiker, Rechtsextremisten und junge Leute, mit denen sich zuhause schon lange keiner mehr befasst. Manche von ihnen dürften Mühe haben, vor Gericht einen klaren Satz herauszubringen, denn nach elf Uhr vormittags sind sie in der Regel sturzbetrunken. Andere trinken nicht ganz so viel, aber haben das Sprechen nie gelernt und so ihre eigenen Formen der Kommunikation.

Sven P. und Christian W. gehören wohl zu ihnen, ab Montag müssen sie sich vor dem Landgericht Neuruppin wegen gemeinschaftlichen Mordes verantworten. Es geht um eine Tat, die sich vergangenen Juli im brandenburgischen Templin abgespielt hat und so brutal war, dass sie weit über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen sorgte. Sven P., der 19 Jahre alt war, soll mit dem 21 Jahre alten Christian W. einen stadtbekannten Alkoholiker so lange gegen den Kopf getreten haben, bis der 55-Jährige tot war. Dann sollen die beiden vorbestraften Rechtsextremisten die Leiche mit Brandbeschleuniger übergossen und angesteckt haben.

Der Bürgermeister von Templin behauptete damals, es gebe keine rechte Szene in der Stadt, das hat ihm einigen Ärger eingebracht. Die Staatsanwaltschaft hat die politische Einstellung der Angeklagten sogar ins Zentrum des Verfahrens gerückt. "Die Anklage geht davon aus, dass die Täter entsprechend ihrer rechten Gesinnung das Opfer verachtet haben, weil es Hartz IV bezog und im Obdachlosenheim gelebt hatte", sagte die Sprecherin des Landgerichts vor Prozessbeginn. Weil dies als niederer Beweggrund gilt, wird auf Mord angeklagt.

Dass die Angeklagten sich zu den Vorwürfen äußern, steht eher nicht zu erwarten. Zu Wort kommen werden also vor allem die anderen, Uwe Liem zum Beispiel, ein Mann mit Rübezahlbart und wilden Tatoos, der einen guten Teil seines Lebens im Gefängnis verbracht hat. In der Nacht zum 22. Juli 2008 saß er im Obdachlosenheim von Templin, wo er lebt, und trank Bier mit Christian W., dem Sohn eines arbeitslosen Fleischers. Bei der Polizei ist Christian W. bestens bekannt, weil er schon als Kind geklaut hat, Keller anzündete, im Knast landete und nicht nur schnell zuschlägt, sondern sich auch mit Neonazis herumtreibt.

Mit am Tisch sitzt in jener Nacht auch das spätere Opfer: Bernd K., ein kleiner Kerl mit rotem Bart, in der Stadt nennen sie ihn "Stippi". Er kann keiner Fliege etwas zuleide tun, sagen die Leute, aber mit der Familie hat er Krach. Bernd K. hat eine Frau, zwei Töchter und ein Haus, aber er trinkt, bis alles den Bach hinunter geht. Mal schläft er jetzt bei den Obdachlosen, mal in einer vergammelten Werkstatt, die er geerbt hat. In der Tatnacht soll er Christian W. vom Obdachlosenheim dorthin mitgenommen haben.

Uwe Liem, der mit dem Rauschebart, war zu diesem Zeitpunkt wohl schon im Bett, dafür gesellt sich ein anderer Saufkumpan zu den beiden: Sven P., ein blasser junger Schulabbrecher mit Brille, der wegen diverser rechtsextremistischer Übergriffe zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Mal schlug er einen Passanten mit einem Teleskopstock und beschimpfte ihn als "Juden", mal belagerte er mit 30 anderen eine Kneipe, weil da einer mit dunkler Haut arbeitete.

Am Abend vor der Tat soll Sven P. auf dem Markplatz von Templin mal wieder mit "Sieg-Heil"-Rufen aufgefallen sein. Für die Staatsanwaltschaft ist dieses Detail neu - und nicht ganz unwichtig. Denn während unstrittig ist, dass beide Angeklagten zur rechtsextremistischen Szene von Templin gehören, muss sich vor Gericht noch erweisen, ob ihre politische Gesinnung auch tatsächlich die Motivation der Tat war.

Laut Anklage trinken Christian W. und Sven P. zwar Bier mit Bernd K., verachten ihn aber als "Penner". In der alten Werkstatt soll es dann zum Streit gekommen und Bernd K. zu Boden gegangen sein. "Insbesondere der Angeklagte P. soll auf den am Boden Liegenden mit großer Wucht im Kopfbereich eingetreten haben", sagt die Sprecherin des Landgerichts Neuruppin. Als Uwe Liem am Morgen seinen Saufbruder Bernd K. in dessen Werkstatt besuchen wollte, lag der mit zertrümmertem Schädel in einer Blutlache, die Wände seiner Werkstatt waren mit Blut bespritzt, Ermittler sprachen von einem "Gewaltexzess".

Ob es dem Gericht gelingt, seine Ursachen zu erklären, wird auch von Stephanie Z. abhängen. Sie ist 17 Jahre alt und ist in einem ärmlichen Plattenbau am Stadtrand aufgewachsen, in dem man viele eingetretene Haustüren sieht und auf betrunkene Mütter und Nachbarn trifft, von denen kaum noch einer Arbeit hat.

Stephanie Z. soll auf eine Sprachheilschule gegangen sein und war mit Christian W. zusammen. Am Morgen nach dem Mord soll er in ihrer Küche mit Sven P. über die Tat gesprochen haben. Sie hat das dann gleich der Bildzeitung erzählt, erst daraufhin wurden die beiden Angeklagten festgenommen. Ob Stephanie Z. noch einmal so freimütig sprechen wird, ist ungewiss. Nach ihrem Auftritt in der Zeitung hielt sie sich bei ihrer Mutter versteckt, es hieß, sie werde von Rechtsextremisten bedroht.

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Im Cholerahauch der Lagune

Regisseurin Deborah Warner und Dirigent Paul Daniel rehabilitieren in Brüssel Benjamin Brittens letzte Oper "Death in Venice"

Der Komponist Colin Matthews erinnerte sich, dass Benjamin Britten eines Tages einen Zeitschriftenartikel las, in dem behauptet wurde, alle seine Opern handelten vom Verlust der Unschuld. "Das ist kompletter Blödsinn!", erregte sich Britten. Matthew war so eingeschüchtert, dass er ihm die alles entscheidende Frage nicht stellte: "Wovon sollen die Opern denn sonst handeln?"

Die Episode ist typisch für einen Komponisten, der sich dem Publikum über Gebühr in seiner ungeschützten Privatheit darbot - und dennoch nicht erkannt werden wollte. Brittens Opern ähneln Selbsttherapien eines Künstlers, der seine als Abgrund empfundene Homosexualität in künstlerischer Schönheit aufheben wollte und dafür all die Außenseiter und Verstoßenen aufmarschieren ließ, die von Peter Grimes bis zu Gustav von Aschenbach ihre Unschuld verlieren.

Diese privaten Schuld- und Sehnsuchtsmotive machen Brittens Werk angreifbar. Als seine letzte Oper "Death in Venice", nach Thomas Manns "Der Tod in Venedig", 1973 beim Aldeburgh Festival uraufgeführt wurde, bekam das bisher eher sublimierte Thema Sexualität den Charakter eines Coming-out. Natürlich war die homoerotische Selbstfindung des Schriftstellers Gustav von Aschenbach ein für manchen Geschmack allzu aufdringliches Bekenntnis des Komponisten zur gleichgeschlechtlichen Liebe - zumal sein Lebenspartner Peter Pears die Hauptrolle sang. Noch einmal verankerte der schon schwerkranke Britten in dieser Oper den Streit zwischen Apoll und Dionysos, zwischen Kunst und körperlicher Selbstaufgabe, Eros und Thanatos. Es waren seine Leit- und Lebensmotive, die er freilich nie so dunkelgolden, melancholisch und todesverliebt durchführte.

Die englische Regisseurin Deborah Warner musste nach eigener Aussage von den Qualitäten dieses Spätwerks erst vom Dirigenten Paul Daniel überzeugt werden. Was sie schließlich für die English National Opera auf die Bühne brachte und jetzt für das Brüsseler Opernhaus szenisch ausfeilte, ist das Muster eines konventionell erzählten und kostümierten, gleichwohl hochspannenden, durch präzise Bild- und Lichtmagie verzauberten Opernabends.

Steif und hyperkorrekt, mehr Bürokrat als Schriftsteller, stakst John Graham-Hall als Aschenbach durch venezianische Postkartenansichten, die Szenograph Tom Pye durch wehende Vorhänge, Schiebewände und gezoomte Passepartouts wie für einen Diaabend auffährt. Je klarer sich Aschenbach in seinen linkischen Anbetungen des polnischen Knaben Tadziù über seine unterdrückten Neigungen wird, desto mehr verschwimmt der anfängliche Realismus in unwirkliche Lichtstimmungen (Jean Kalman). Aschenbach stirbt, wenn Tadziù am Ende einige Pirouetten im zartgelben Gegenlicht der untergehenden Sonne dreht: Erkenntnis und Auflösung werden eins.

Graham-Hall, der die Szene mit seinem herb blühenden Tenor bestimmt, verkörpert kongenial die intellektuelle Verklemmtheit des deutschen Poeten, die allmählich dem schwuchtelig-morbiden Tanz am "Abgrund" weicht. Um ihn kreisen alle anderen Figuren. Am prominentesten die schmierigen Todesallegorien des stimmlich wenig konturierten Andrew Shore: wie Nebensonnen, die sich allmählich im Cholerahauch Venedigs auflösen. Die von Kim Brandstrup choreographierten Knabentänze verleihen dieser Spirale zum Tode den Anstrich einer antiken Unausweichlichkeit.

Doch nicht nur die Szene, auch die musikalische Umsetzung kommt in Brüssel einer Rehabilitierung von Brittens letzter Oper gleich. Den kreisenden Wiederholungen der immer gleichen Themen, die Aschenbachs "beating mind" allmählich durchlöchern und aufweichen, werden von Daniel und dem Orchester mit maximaler Farbintensität dargeboten. Brittens Nähe zur spröden Klangsprache von Leos Janácek, seine kammermusikalischen Feinheiten, die klingelnde Spieluhrmechanik der Tadziù-Musik - all dies wächst kongenial zusammen.

MICHAEL STRUCK-SCHLOEN

Wird sich seiner Gefühle für Tadziù bewusst: John Graham-Hall als Brittens Aschenbach. Foto: Johan Jacobs

Britten, Benjamin: Werk Warner, Deborah Daniel, Paul Theaterszene in Belgien Death in Venice (Oper) SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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NACHRICHTEN AUS MOSKAU

In einer landesweiten Inventur untersucht Russland den Schwund seiner Kulturgüter . Das Ergebnis stellte Kulturminister Alexander Awdejew vor kurzem vor: Seit den zwanziger Jahren haben die Museen 86 000 Objekte verloren - durch den Vandalismus der Bolschewiken, durch Diebstahl, Feuer und Schlamperei. Die aktuellen Zahlen seien allerdings eine Verbesserung: Im vergangenen Jahr ging man noch von 104 000 fehlenden Objekten aus. Die Untersuchung wird fortgesetzt.

Inzwischen geben sich die Kommunisten als Hüter der Kultur, und besonders fleißig ist eine radikale Sankt Petersburger Splittergruppe . Diese empfiehlt beispielsweise dem Regisseur Fedor Bondartschuk für die Verfilmumg des zweiten Teils des Strugatzkij-Romans "Die bewohnte Insel" ein paar "grundlegende Änderungen", wie etwa einen Wechsel der Hauptdarsteller . Der erste Teil ist gerade angelaufen, aber, so die Kommunisten, ein "Schlag für die kommunistische Zukunft der Menschheit und eine Beleidigung all jener, die sich nach dem Sieg des Kommunismus an die Befreiung ferner Welten machen." Dass die Vision der Strugatzkij-Brüder über eine totalitär regierte Insel in der Sowjetunion als Kommentar zum herrschenden System gelesen wurde, erwähnen die Kommunisten nicht.

Stattdessen widmen sie sich - alternativ zum Universum - dem Internet . Nach Angaben des englischsprachigen Fernsehsenders Russia Today planen sie eine eigene Suchmaschine namens "Engels". Sie soll Pornographie und Obszönität ausschalten, aber auch George W. Bush, und richte sich an "Arbeiter, Bauern und die Intelligenzija".

Der russische Verband der Filmschaffenden nähert sich der Logik einer Stan-und-Ollie-Szene. Im Dezember wählten sie Nikita Michalkow als Vorsitzenden ab, weil der Regisseur von Werken wie "Die Sonne, die uns täuscht" oder "Der Barbier von Sibirien" trotz bester Verbindungen zum Kreml für seine Kollegen nicht mal den Verkauf des "Hauses des Kino" verhindert habe. Michalkow nannte die Versammlung ein "Liliput-Theater" und erkennt den neuen Vorsitzenden, den 83-jährigen Regisseur Marlen Chuzijew, nicht an. Da auch zwei Schauspieler die Wahl anfechten, soll Anfang Februar ein Gericht entscheiden.

SONJA ZEKRI

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Das Wunder von Neapel

Im orientalischen Herrscherpalast: Das Teatro San Carlo wird saniert, der Zuschauersaal ist bereits restauriert - nur ein Intendant fehlt noch

Endspurt in Neapel: Die Restaurierung des spätbarocken Saales des Teatro San Carlo steht kurz vor dem Abschluss. Golden glänzen die Brüstungen der Logen, der Figurenschmuck scheint nach langem Dämmerschlaf wieder zu neuem Leben zu erwachen, und die Elektrokerzen der 150 Kandelaber lassen, von 25 auf 40 Watt gebracht, die sechs Logenreihen im Hufeisenrund wie neu erstrahlen. Weich legen sich die samtroten Vorhänge unter der bourbonischen Krone um die Königsloge - und sind doch, frisch restauriert, eine perfekte Illusion aus Pappmaché. In den Nachbarlogen bringt man gerade neue Wandbespannungen an, und die letzten Stuhlreihen im Parkett werden vervollständigt. Auf der Bühne laufen hinter dem eisernen Vorhang derweil mit Regisseur Paul Curran die Proben für "Peter Grimes". Mit der Britten-Oper will das San Carlo am 25. Januar unter der musikalischen Leitung von Jeffrey Tate die neue Spielzeit eröffnen. Ein halbes Jahr war das Theater geschlossen.

Man reibt sich die Augen. Und das nicht nur wegen des Glanzes, den dieser Saal ausstrahlt. Stendhal fühlte sich hier einst wie "in einen orientalischen Herrscherpalast entrückt". Der Franzose betrat die Bourbonen-Oper zum ersten Mal im Januar 1817. Seine Augen waren "geblendet", seine Seele "entzückt". Etwas mehr als ein Jahr zuvor war die 1737 erbaute Bühne bei einem Brand schwer beschädigt worden. Stendhal besucht das Haus kurz nach dem ungewöhnlich schnellen Wiederaufbau durch den toskanischen Architekten Antonio Niccolini "in 300 Tagen", was der Franzose geradezu "einen Staatsstreich" nannte.

So etwas wie ein Staatsstreich ist jetzt bei der ersten ernsthaften Restaurierung des San Carlo seit den Tagen von Niccolini wieder passiert. Noch vor anderthalb Jahren war das Theater mit über 20 Millionen Euro verschuldet und im Inneren durch Personalkämpfe zerrissen. Das Kulturministerium entließ den damaligen Intendanten Gioacchino Lanza Tommasi und entsandte im August 2007 mit Salvatore Nastasi einen Notkommissar, der bereits den Maggio Musicale in Florenz saniert hatte. Dem heute 35-jährigen Ministerialdirektor gelang es in wenigen Monaten, mit Streichungen im Spielplan, einer strengen Ausgabenpolitik und vor allem Dank einer Sonderfinanzierung der Prodi-Regierung einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.

Gleichzeitig sicherte sich Nastasi, der als Regierungskommissar ohne Rücksicht auf lokale Abhängigkeiten schalten und walten konnte, aus regionalen wie staatlichen Töpfen weitere Finanzmittel und - was fast noch schwieriger zu sein schien - auch alle notwendigen Genehmigungen für die Restaurierung.

Die erste Phase, die Wiederherstellung des historischen Saals, ist nun fast abgeschlossen. Eine erdbebensichere Decke wurde eingezogen und dadurch Platz für neue Probenräume darüber geschaffen. Unter dem Saal, der sich im ersten Stock befindet, breitet sich jetzt ein großes Foyer aus, das bislang fehlte. Die mit der Restaurierung und den Umbauten beauftragte Architektin Elisabetta Fabbri (die bereits beim Wiederaufbau der venezianischen Oper und bei der Erneuerung der Mailänder Scala beteiligt war) hat es aus den ehemaligen Räumlichkeiten zur Einfahrt der Kutschen gewonnen. Das Foyer hatte zur Zeit der Bourbonen, wie in allen Barocktheatern, noch keine wichtige Rolle gespielt. Es war der Aufenthaltsort der Diener und Kutscher, die Adeligen besuchten sich gegenseitig in ihren privaten Logen. Erst mit dem bürgerlichen Publikum erhielt das Foyer seine heutige Funktion unter anderem als eine Art öffentliche Bühne für die Besucher. In diesem Sinne rückt auch das San Carlo jetzt endlich näher an die Stadt und an sein Publikum heran.

All diese Arbeiten sind in Neapel mit einer Windeseile und zugleich höchster Präzision innerhalb von nur sechs Monaten durchgezogen worden, sodass ein Münchener Techniker wie Jürgen Reinhold von der Akustikfirma Müller BBM aus dem Staunen nicht herauskommt. In Deutschland, so Reinhold, wäre das nicht möglich gewesen. Um die Akustik weniger "trocken" zu machen und den Nachhall zu verlängern, haben die Münchner Spezialisten die Parkettneigung vergrößert, Stühle aus neuen Materialien entworfen (die sich aber ästhetisch von den alten kaum unterscheiden), die Stoffbespannungen in den Logen optimiert und die Vorhänge beschichtet. In diesen Tagen wird die neue Belüftungsanlage geprüft, die Frischluft von unten in den Saal abgibt, "und hoffentlich keine Geräusche macht".

In den folgenden beiden Jahren soll dann zuerst die Bühne modernisiert, anschließend das Dach erneuert und die klassizistische Fassade des Theaters restauriert werden. Dafür bleiben die kommenden Spielzeiten weiterhin auf sechs Monate begrenzt, um während des restlichen halben Jahres die Baumaßnahmen zu ermöglichen. Bis zum Mai stehen etwa Berlioz ("La Damnation de Faust") und Mozart ("Die Entführung aus dem Serail") unter der musikalischen Leitung von George Pehlivanian beziehungsweise Jeffrey Tate auf dem Programm. Zu Konzerten hat man Claudio Abbado, Riccardo Muti, Daniel Harding und Ingo Metzmacher geladen.

Salvatore Nastasi hat aber längst die vom Gesetz festgelegte Zeit der Kommissionierung des Theaters überschritten. Neapel sucht einen neuen Intendanten. Und wenn man den Auguren glauben schenken darf, dann hat Maurizio Pietrantonio, der zur Zeit noch die Oper Cagliari leitet, beste Chancen. Die Unterstützung Nastasis, der inzwischen im Ministerium zum wichtigsten Beamten aufgerückt ist, scheint ihm sicher. Entscheiden muss aber der noch neu zu berufende Verwaltungsrat der Opernstiftung. Pietrantonio wird als solider Verwalter geschätzt. Vielleicht hätte das Teatro San Carlo, das älteste noch bespielte Opernhaus Europas, mit dem neuen Glanz, den es verbreitet, einen brillanteren Hausherren verdient. HENNING KLÜVER

Noch zwei Jahre wird die Sanierung des Theaters San Carlo in Anspruch nehmen: Dann wird auch die Fassade wieder erstrahlen. Im Saal dagegen ist die spätbarocke Pracht schon heute zu erleben. Foto: Riccardo Siano/Ropi

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Ein Lebensretter unterm Hakenkreuz

Die erste deutsche Kinoproduktion in China: Florian Gallenbergers "John Rabe" ist ein aussichtsreicher Kandidat für den Bayerischen Filmpreis

Als der Regisseur Florian Gallenberger im März 2006 zum ersten Mal in China ankam, klingelte bald nach seiner Ankunft sein chinesisches Mobiltelefon. Eine weibliche Stimme begrüßte ihn und erklärte, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas sich nun leider doch für ein anderes Filmprojekt "John Rabe" entschieden habe. Sollten seine historischen Recherchen, seine Drehbucharbeit, solte ein Jahr Vorbereitung umsonst gewesen sein?

Gallenberger, 36, ist schwierige Drehbedingungen gewohnt - man könnte sogar sagen, er braucht Widerstände. Schon für seinen Kurzfilm "Quiero Ser", mit dem er im Jahr 2001 den Oscar gewann, hatte er auf den Straßen von Mexiko City gedreht. Für "Schatten der Zeit" ging er monatelang nach Indien. Jetzt war er entschlossen, die erste deutsche Kinoproduktion in China auf die Beine zu stellen. Ein Drama über einen Deutschen, der in China zum Helden wurde, könne nur an Originalschauplätzen entstehen, meinte er.

Das allerdings sollte sich als seine bisher größte Herausforderung erwiesen. Nach der Kampfansage der Partei, auf der langen Suche nach Genehmigungen und Verbündeten bekamen er und seine Produzenten Mischa Hoffmann, Jan Mojto und Benjamin Herrmann nie verbindliche Antworten.

Das sich alles änderte, verdankte Gallenberger auch einer Begegnung mit dem chinesischen Regisseur Chen Kaige. Auf der Berlinale hatten sie sich kennengelernt - Kaige versprach zu helfen, sofern Gallenberger einmal in China arbeiten werde. Ein Anruf im März 2006, und das Treffen in Peking war ausgemacht.

Im Restaurant führte man Gallenberger in einen abgeschlossenen Raum, in dem 25 Menschen an einer Tafel saßen. Nein, nein, sagte Gallenberger, er sei nur mit einer Person verabredet, mit Herrn Kaige. Ja, ja, antwortete der Kellner, der sitze dort.

"Die Dame" öffnet Türen

Chen Kaige, der in China zu den einflussreichen Künstlern zählt, hatte wichtige Freunde versammelt. Zunächst aber musste angestoßen werden. Bedauerlicherweise, sagte Kaige, könne er wegen einer Erkältung selbst nicht trinken - das erledige Wladimir, ein Russe, heute für ihn. Wladimir nahm seinen Auftrag sehr ernst. Trotzdem lernte Gallenberger an diesem Abend die Frau kennen, die ihm später alle Türen und sogar Stadttore in China öffnete. Gallenberger spricht über sie nur als "die Dame".

So entstand der Film "John Rabe", der in einer Sondervorstellung der Berlinale uraufgeführt und vom 2. April an in den Kinos zu sehen sein wird. Am Freitagabend galt er bereits als aussichtsreicher Kandidat für den Bayerischen Filmpreis, beim Deutschen Filmpreis ist er in der Vorauswahl.

Für Mischa Hofmann, Geschäftsführer der Firma Hofmann & Voges in München, begann "John Rabe" vor zwölf Jahren. 1996 waren die Tagebücher des hanseatischen Kaufmanns John Rabe (1882 - 1950) erschienen, 800 Seiten. Rabe lebte mit seiner deutschen Frau beinahe dreißig Jahre in China. 1931 wurde er Vertreter für Siemens in Nanking und stieg zum Leiter der Niederlassung auf. Rabe war kein Nazi, aber ein überzeugter Patriot, und aus der Ferne hielt er Hitler lange für aufrecht. 1934 trat er der NSDAP bei, um in Nanking eine deutsche Schule gründen zu dürfen. Er war überhaupt nicht ideologisch, aber gerne Chef und im Stillen eitel genug, seine Position zu genießen.

Als die Japaner im Dezember 1937 in China einfielen, auf ihrem Vormarsch vergewaltigten, plünderten, Babys und Kinder ermordeten, weigerte sich Rabe, Nanking zu verlassen. Mit den verbliebenen Europäern und Amerikanern richtete er eine internationale Schutzzone ein. Weil Japan mit Deutschland verbündet war, wurde er der Vorsitzende des "Internationalen Hilfskomitees zur Rettung der chinesischen Zivilbevölkerung".

Hofmann, der noch ein junger Produzent war mit der Leistung von zwei TV-Movies und einem kleinen Kinofilm, faszinierte eine Fotografie in den Tagebüchern. Sie zeigte, wie Rabe während eines japanischen Luftangriffs im Garten seines Hauses eine übergroße NS-Fahne spannen ließ, unter der 40, 50 Chinesen Schutz suchten. Dass unterm Hakenkreuz Leben bewahrt worden ist, sei ein Paradoxon und verdiene einen Film, dachte Hofmann - und optionierte 1997 die Rechte. 200 000 Chinesen schlachteten die Japaner in Nanking ab, 250 000 Menschen hat die Schutzzone während das Massakers gerettet.

John Rabe, das ist die in Deutschland noch nicht sehr verbreitete Biografie eines guten Deutschen, eine Geschichte wie die von Oskar Schindler. Rabe war kein sehr gebildeter Mann, Politik nahm er in Nanking sprichwörtlich aus großer Entfernung wahr, sie erregte ihn nicht. Doch seine Zivilcourage kennt wenige Beispiele. Ulrich Tukur verkörpert ihn schon rein äußerlich lebensecht. Auch Steve Buscemi, Anne Consigny und Daniel Brühl zählen zur Besetzung.

Für Jan Mojto begann "John Rabe" 2002. Damals hatte er die Eos Entertainment in München gegründet, eines der ersten Telefonate führte er mit Mischa Hofmann. Hofmann suchte seinen Rat. Ein amerikanisches Studio wollte "John Rabe" inszenieren. Das sei ein Stoff, den Deutsche aus Deutschland für die Welt machen sollten, urteilte Mojto, der Slowake, und schlug Gallenberger für die Regie vor. Dann stieg er - wie das ZDF, das eine zweiteilige Fernsehfassung erhält - mit beinahe fünf Millionen Euro ein und übernahm den Weltvertrieb.

Für Benjamin Herrmann, den Geschäftsführer des Majestic Filmverleihs aus Berlin, begann "John Rabe" circa 1994. Mit Hofmann und Gallenberger studierte er an der Münchner Filmhochschule. Man kennt sich, doch viel mit einander zu tun hatten sie als Studenten nicht. Majestic und Hofmann & Voges sind jedoch Schwesterfirmen, sie gehören zur Odeon Film. So kam Herrmann als dritter Produzent dazu. Er war in Shanghai und Nanking an Gallenbergers Seite, 76 Drehtage lang - zwischen Oktober 2007 und Februar 2008. Am Ende "vollbrachte Gallenberger die größte Leistung", meint Mojto: mit seinen alles kontrollierenden Ansprüchen an die Qualität.

"John Rabe" ist auch ein zweieinhalbjähriges Krisenmanagement voller Absurditäten. So wäre das Projekt beinahe gescheitert, weil China und Japan 2007 gemeinsame Erdgasgeschäfte vereinbarten und die Chinesen, im Film Opfer, die Japaner, im Film Täter, nicht verärgern wollten. Auch am Set gab es Katastrophen: Das kriegszerstörte Nanking wurde in einem halb abgerissen alten Stadtviertel Shanghais aufgenommen. Dort gab es noch die für die dreißiger Jahre typische Architektur mit den prägenden Backsteinhäusern. Nach einer kurzen Weihnachtspause aber war die Hälfte des Schauplatzes weggerissen. Gleichzeitig fiel im härtesten Winter seit langem so viel Schnee in Shanghai, dass der Drehort kaum funktionstüchtig gehalten werden konnte. Mojto legte Geld nach, womit das Budget auf 17 Millionen stieg. 80 000 Euro verbrauchte jeder Drehtag, zuweilen bestand das Team aus 360 Mitgliedern. "In China sind die Strukturen teuer, die Arbeitskräfte billig", sagt Herrmann. Dass chinesische Setdesigner innerhalb von drei Tagen das Motiv "Siemens-Fabrikgelände in Nanking" aus massiven Baustoffen hochzogen, beeindruckte alle enorm. Über Komparsen und Bauten habe der Film einen Reichtum, "den er anderswo nie bekommen hätte", sagt Hofmann.

Einstieg der Chinesen

Und über allem wachte "die Dame" mit ihren Verbindungen. Sie ist die Tochter eines ehemaligen chinesischen Justizministers und heißt Qiao Ling - üblicherweise berät sie Industrielle. Ohne ihr Netzwerk wäre die Produktion in der Volksrepublik wohl gescheitert. Weil sie ihre Wünsche, die Gallenbergers Wünsche waren, im richtigen Ton an die richtigen Männer und Frauen richtete, wurde alles Wichtige überhaupt möglich.

Mit ihr als Vermittlerin marschierte "John Rabe" durch die Instanzen. Es gab die Drehgenehmigung und einen chinesischen Co-Produktions-Partner (Huayi Bros.) für die Ausstrahlung in China, wo nicht mehr als zwanzig Titel der weltweiten Kinoproduktion ausgewertet werden. Die Deutschen konnten sich aus dem Militärfilmstudio Kriegsgerät und echte Soldaten ausleihen und am Stadttor von Nanking, einem Symbol des chinesischen Volkes, den Einmarsch der Japaner inszenieren.

"Man schleppt", sagt Gallenberger, "die Sachen auch physisch zusammen." In der kommende Woche soll die internationale Kinofassung fertig sein. CHRISTOPHER KEIL

Ein Deutscher, der chinesische Zivilisten vor japanischen Angreifern schützt: Ulrich Tukur spielt "John Rabe" in Florian Gallenbergers Film Foto: Majestic

Panik unter den Flüchtlingen während des Massakers von Nanking 1937 - in der Mitte Daniel Brühl in der Rolle des Dr. Rosen Majestic

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Spielt alles keine Rolle, denn eigentlich bin ich ein Poet

Einige ausgewählte Szenen aus Stewart O'Nans Drehbuch über das bizzare, melodramatische, von Verkanntheit und Trunksucht geprägte Leben des Edgar Allan Poe

Als Poe seine Tante Muddy besucht, die in Baltimore eine Pension betreibt, verliebt er sich in seine 11-jährige Cousine Virginia. Nach am selben Abend hält er um ihre Hand an.

Muddys Herberge

Muddy im Nachthemd, kämmt ihr Haar vor einem Schminktisch. Hinter ihr sieht man (im Spiegel) Edgar in seinem üblichen dunklen Anzug, im Hintergrund das Bett.

Muddy: Du weißt, das Gesetz verbietet es.

Edgar: Und Du?

Muddy: Ich wäre glücklich, sie gut versorgt zu wissen.

Edgar: Dann bitte ich Dich hiermit um Virginias Hand.

Muddy legt die Bürste nieder und steht auf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Dabei kommt sie ihm unangenehm nahe.

Muddy: Sie ist ein Kind und wird es noch lange sein. Ich stimme der Heirat nur zu, wenn Du auch mich nimmst.

Edgar: Wie meinst Du das?

Muddy : (kommt noch näher) Mit der Wonne des Herzens und der Wärme der Familie.

Edgar: Nach der ich so gedürstet habe.

Muddy: Und wie willst Du uns drei ernähren?

Edgar: Wenn ich erst Offizier bin, werde ich dazu in der Lage sein.

Muddy: Bist Du auch in der Lage, uns beide zu lieben?

Edgar: Ich werde Dich nicht enttäuschen.

Muddy: Deine Gefühle scheinen aufrichtig zu sein.

Sie ergreift seine Handgelenke und drückt seine Hände auf ihre Brust.

Muddy : Und jetzt überzeuge mich von Deinen Absichten.

Sie zieht ihn zu sich heran, bis sich beider Lippen berühren.

Auf der Veranda

Eine Kutsche wartet auf Edgar. Er reicht seinen Handkoffer hinauf. Dann küsst er erst Muddy, dann Viginia, und hält ihre Hand noch einen Moment, bevor er einsteigt. Die Kutsche zieht an, und er winkt. Muddy und Virginia winken zurück, sie werden kleiner, dann verschwimmt ihr Bild im Staub, den die Räder aufwirbeln.

Edgar lebt fortan mit seiner Tante und seiner Cousine in einer Menage à trois. Als Virginia dreizehn Jahre alt ist, lassen sie sich heimlich trauen.

Beim Leichenbestatter

Edgars Bruder Henry ist gestorben, kurz nachdem sich beide nach Jahren der Trennung wiedergetroffen hatten. Der Bestatter ist ein alter Kriegskamerad seines Großvaters. Durch ihn erfährt er, dass auch sein verschollener Vater mittlerweile tot ist.

Mister Forbes, ein kahlköpfiger Mann mit kräftigen Armen, führt Edgar in das Hinterzimmer seines Ladens, wo eine Auswahl grober Särge gegen die Wand gelehnt ist. Er hat ein Maßband um seinen Hals geschlungen wie ein Schneider.

Forbes: Das wäre dann ihrer.

Edgar bleibt stehen und bemerkt, dass der untere Teil des Sargdeckels mit Scharnieren und einem Schloss ausgestattet ist.

Edgar: (zeigt auf den Verschluss): Ich fürchte, mit solchen Geräten kenn ich mich nicht aus.

Forbes: Es ist, damit man raus kann, wenn es nötig ist.

Edgar: Raus?

Forbes führt es vor, öffnet den Deckel des Sarges wie eine Tür.

Forbes: Wir müssen alle irgendwann raus, auf die oder andere Weise.

Edgar: Lässt sich der obere Teil ebenfalls öffnen?

Forbes: Für die, die richtig herum liegen, schon. Aber man weiß es schließlich nicht, bevor man abberufen wird.

Edgar: Und wenn man den Sarg einfach ganz offen ließe?

Forbes: Nein, der wird schön fest verschlossen, und wer raus will, muss halt klopfen. Das ist solide Arbeit, beste kalifornische Kiefer. Der hält bis zum Jüngsten Tag und noch eine Woche darüber hinaus.

Edgar: Ich sollte noch erwähnen, dass ich ein Poe bin, Edgar Poe.

Forbes: (nimmt seine Hand): Ist mir eine Ehre, Sir. Der hier ist für einen Poe?

Edgar: Für Henry Poe, einen Enkel des Generals.

Forbes: Und wie groß war dieser Mann?

Edgar: Nicht größer als ich.

Forbes nimmt das Maßband, das um seinen Hals hängt.

Forbes: Wenn Sie so freundlich wären. Nicht jeder ist dazu bereit.

Da Edgar nicht protestiert, bringt Forbes seine Arme und Schultern in die richtige Position und nimmt Maß. Die Maße notiert er auf einem Block.

Forbes: Henry Poe, Gott segne ihn. Ich nehme mich gerne seiner an, wie ich es schon bei seinem Vater und bei seinem Urgroßvater getan habe.

Edgar: Seinem Vater?

Forbes: Der Schauspieler. Der hatte wirklich Gardemaß.

Edgar: Wann soll denn das gewesen sein?

Forbes: Könnten gut und gerne zwanzig Jahre her sein. Er nahm einen besonders großen, hatte ja eine Menge Fleisch am Leib. Ich hatte schön zu tun, das alles unterzubringen.

Forbes ist fertig mit Messen und legt das Maßband über seine Schulter. Sie gehen nach vorn zur Ladentheake.

Forbes: Ganz anders als der General. Der war bis zuletzt in Form. Ich bin dem Mann bis in die Hölle gefolgt, und das würde ich sofort wieder tun.

Er schlüpft hinter die Theke und stellt die Rechnung aus. Er ist aufgekratzt, glücklich, ein Geschäft gemacht zu haben, seine Augen ein bisschen flackern irr.

Forbes: Wann kann ich ihn vorbeibringen?

Auf dem Friedhof

Edgar, Virginia und Muddy bilden Henrys Trauergesellschaft. Edgar beobachtet, wie der Sarg in die Tiefe gelassen wird. Er sieht, wie sich ein Regenwurm durch die Erde der ausgehobenen Grube wühlt. Der Geistliche spricht den Segen und wirft eine Handvoll Erde auf den Deckel des Sarges. Edgar schließ die Augen, um nicht ohnmächtig zu werden.

Im Inneren des Sarges

Das dumpfe Geräusch der Erde auf dem Sarg hat Henry aufgeweckt. Er trommelt mit den Fäusten gegen den Sargdeckel.

Henry: Hilfe! Hilfe! So helft mir doch!

Er greift nach dem Verschluss, um sich zu befreien. Es gelingt ihm, das Schloss zu öffnen, aber der Deckel lässt sich nicht bewegen. Er stöhnt, versucht, ihn mit der Schulter nach oben zu drücken. Vier, fünf mal, dann hört er auf, verschnauft.

Auf dem Friedhof

Die Messe ist vorbei. Edgar, Virginia und Muddy spazieren zwischen den Kiefern, begleitet vom Priester. Edgar zögert, schaut zurück über die saftige Wiese. Zurück bleibt nur der Totengräber, schaufelnd.

Straßenszene, Baltimore

Poe hat sich mit einem Gedicht und einer Erzählung an einem Wettbewerb beteiligt und wartet nun auf die Entscheidung des Preisgerichts.

Edgar, Virginia und Muddy warten an einer Ecke warten bei einem Zeitungsjungen, alle vier wärmen sich die Hände über einem Kohlenfeuer. Ein Wagen nähert sich, sie wenden sich um, wie um ihn zu empfangen. Eine Zeitungsausträger auf der Ladefläche des Wagens hievt verschnürte Zeitungen auf den Bürgersteig. Der Zeitungsjunge schneidet die Bänder auf, und Edgar greift zur obersten Aus-gabe. Er fliegt durch die Seiten; Muddy bezahlt inzwischen den Jungen. Edgar erstarrt, wirkt überrascht.

Virginia: Und?

Edgar : (grimmig, gibt ihr die Zeitung) Ich habe bei den Preis für die Prosa gewonnen und nicht den für die Lyrik.

Muddy: Wir haben gewonnen!

Virginia: Einhundert Dollar!

Sie fallen sich in die Arme und tanzen, wedeln mit der Zeitung herum. Edgar steht niedergeschlagen da.

Muddy: Warum bläst Du Tr bsal? Wir haben gewonnen.

Edgar: Und doch verloren.

Virginia: Du machst wohl Spaß?

Edgar: Wenn es nur einen Penny wert war, dann war es auch ein Hundert-Dollar-Gedicht. Ich kenne nicht mal diesen Henry Wilton, der den Preis davon getragen hat. Für mich riecht das nach Schiebung.

Muddy : (neckt ihn) Eddie.

Edgar: Das treibt mich zur Weißglut.

Er eilt nach Hause, Muddy und Virginia folgen und tauschen ärgerliche Blicke.

Redaktion des Baltimore Visiter

Redaktionsstube. Umringt von Jounalisten und Druckern in Schürzen überreicht der Herausgeber Edgar seine hundert Dollar. John Hill Hewitt ist ein stämmiger Mann in einer maßgeschneiderten Weste.

Reporter: Geben Sie eine Runde aus, Mister Poe?

Edgar: Nur wenn Sie mir diesen Wilton zeigen, der mich auf meinem besten Feld ausgestochen hat. Oder hat er sich schon davongemacht?

Hewitt: Wilton ist nicht sein richtiger Name.

Edgar: Den Verdacht hatte ich auch, schließlich kenne ich die Dichter der Stadt. Wer verbirgt sich hinter diesem Namen?

Hewitt: Ich muss gestehen, dass ich das nicht preisgeben darf.

Edgar: Dann bin ich von einem Niemand übertroffen worden. Das ist das Schicksal aller, die sich mit der Muse eingelassen haben.

Reporter: Und wie steht es nun mit der Runde?

Edgar: Fragen Sie doch Ihren Mister Wilton danach.

Kneipe

Eine schäbige Spelunke - Spucknäpfe, Zigarrenqualm, ein langer Tresen mit einem Spiegel. Derselbe Reporter vom Visiter und ein zweiter trinken Fassbier in einer Ecke. Sie haben bereits ein paar Gläser intus.

Reporter: Armer Kerl, er hat was gemerkt.

Zweiter Reporter: Was meinst Du?

Reporter: Poe. Die Jury hat auch sein Gedicht für den ersten Platz vorgeschlagen. Ein grausiges Ding, aber hervorragendgemacht. Er hat Talent - Poe der Poet.

Zweiter Reporter: Warum der Betrug?

Reporter: Hewitt meinte: Warum ihm zweihundert geben, wenn wir ihn auch für hundert Dollar haben können?

In der Koje nebenan sitzt Edgar allein beim Whiskey. Er beugt sich hinüber, um die beiden noch besser belauschen zu können.

Zweiter Reporter: Wer ist denn nun dieser geheimnisvolle Wilton?

Reporter: Ich dachte, das wüsste jeder? Hewitt selbst.

Zweiter Reporter : (lacht) Der alte Fuchs.

Reporter: Wir arbeiten in einem verkommenen Metier, in einer verkommenen Zeit, mein Lieber.

Southern Literary Messenger

Tische und Stehpulte, eine Druckerpresse. Stapel der neuesten Ausgabe des Magazins. Alles so ähnlich wie beim Baltimore Visiter, aber bescheidener. Als Edgar eintritt, hält der Herausgeber, Thomas Willis White, ein drahtiger Mann in der Fünfzigern, die Presse an, streift seine tverschmierten Arbeitshandschuhe ab und durchquert den Raum mit ausgestreckter Hand, um Edgar zu begrüßen.

White: Thomas Willis White. Es ist mir eine Ehre. Ich bin Ihr größter Bewunderer. Willkommen beim Messenger.

(Er breitet seine Arme aus)

So groß ist unsere Auflage, im Moment. Ich bin fest davon überzeugt, durch Sie wird sich das bald ändern.

Edgar: (mit leichtem Südstaaten-Akzent) Sie sind sehr freundlich, Mister White.

White : (bietet ihm einen Platz an): Ich hoffe, Sie sind immer noch einverstanden mit den Konditionen, die wir schriftlich vereinbart haben?

Edgar: Das bin ich.

White: Können Sie im Juni anfangen?

Edgar nickt müde.

White: Mister Kennedy lobt Sie in den höchsten Tönen, so sehr, dass er es kaum über sich brachte, mich wissen zu lassen, dass sie ganz gerne ein Gläschen trinken.

Edgar: Das bestreite ich nicht.

White: Sehr weise von ihnen. Wenn Ihre Vorliebe Ihre Arbeit beeinträchtigt, habe ich keine andere Wahl, als Sie das ungehend wissen zu lassen.

Edgar: Ich habe verstanden.

White: Das will ich hoffen. Mit Alkohol im Blut kann man nicht arbeiten. Wenn Sie bei mir arbeiten wollen, müssen Sie die Finger von der Flasche lassen.

Edgar: Das werde ich.

White : (erhebt sich und streckt seine Hand aus) Großartig. Dann zeige ich Ihnen mal unseren Laden.

Edgar steht auf und folgt ihm. Instinktiv tastet er nach dem Flachmann in seiner Westentasche.

Poe war ein Quartalssäufer. Wegen seiner Trunksucht wurde er schließlich gefeuert, später aber wieder eingestellt.

Edgar in Hemdsärmeln, arbeitet sich durch Stapel von Manuskripten. Im Hintergrund studiert White ein Exemplar der aktuellen Ausgabe. Mit einem verstörten Blick zeigt er sie Edgar.

White: Also (zitiert) "Mister Coopers ,Der Pirat' ist der ungenießbarste Blödsinn, mit dem der gesunde Menschenverstand aller aufrechten Amerikaner je so offen und infam beleidigt wurde."

(blättert weiter)

"Wie bei allen längeren Werken von Mister Lowell schrumpft am Ende alles zusammen auf ein Wirrwarr von Plattheiten und Ungereimtheiten."

(blättert weiter)

"Eine besonders fade Geschichte, grauenhaft schlecht geschrieben. Mister Irving sollte es besser wissen." - Soll das ein Witz sein?

Edgar: Das ist nur die ungeschminkte Wahrheit. Warum kommt sie ihnen komisch vor?

White: Wird das dem Leser nicht ebenso gehen?

Edgar: Der Leser hat sein Vergnügen daran, wenn der Autor gequält wird. Das ist die vornehmste Aufgabe der öffentlichen Kritik. Sie ist dem Galgen verwandt, vor dem sich die Menge versammelt. Je grausamer das Vergnügen, desto größer die Meute.

White: Eine ziemlich billige Methode.

Edgar: Nicht bei meinem Gehalt. Ich gehe jede Wette ein, dass wie von unserer doppelt so viele Exemplare verkaufen.

White: Wie viel setzen Sie?

Edgar fischt einen Silberdollar aus seiner Tasche. White gräbt ebenfalls einen aus seiner Tasche und legt ihn auf den anderen.

Wochen später

Edgar arbeitet an seinem Platz. Die Druckerpresse rattert im Hintergrund. White kommt herüber und legt zwei Silberdollar auf ein Stück Löschpapier.

Wieder ein paar Wochen später

Edgar an seinem Platz, er trägt Ärmelschoner. White kommt über den Flur mit einem Exemplar der neuen Ausgabe. Er blättert sie auf und zeigt sie Edgar.

White: Ihre "Berenice" ist extrem merkwürdig.

Edgar: Mögen Sie die Geschichte?

White: Zweifellos ist das trefflich geschrieben. Habe ich das richtig verstanden, dass der Erzähler ihr die Zähne ausbricht, während sie noch lebt? Ist das die Pointe?

Edgar: Das ist nur eine Begebenheit, angestrebt wird ein erhabener Zweck, das hoffe ich zumindest.

White: Und das wäre?

Edgar: Schock und Schrecken.

White: Kauft unser Leser etwa das Magazin, um schockiert und erschreckt zu werden?

Edgar: Um unterhalten zu werden, ja.

White: Nennen Sie das Unterhaltung, wenn einer jungen Frau sämtliche Zähne ausgerissen werden?

Edgar: Die Entdeckung, dass der Mann, der uns die Geschichte erzählt und dem wir so lange getraut haben, tatsächlich ein Wahnsinniger ist - das ist unterhaltsam. Gruselig würde ich sagen. Finden Sie etwa nicht?

White: Ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das gutheißen kann. Kommt mir vor, wie ein morbides Vergnügen, ziemlich ungesund.

Edgar: Ausgezeichnet!

White: Mir macht das zu schaffen.

Edgar: Das soll es ja auch.

White: Aber unsere Leser sollen nicht verängstigt werden. Sie wollen Geschichten lesen, die sie bereits kennen. Sie wollen, dass wie sie in ihren Überzeugungen bestärken, die Ihnen lieb und teuer sind.

Edgar: Das ist Populismus.

White: Das ist Sinn fürs Geschäft, Edgar, und das hier ist ein Geschäft.

Edgar: Was erwarten Sie also von mir?

White: Haben Sie schon eine Geschichte für die nächste Nummer?

Edgar: Ich habe mehrere Ideen.

White: Ist eine lustige dabei?

Edgar: Lustig?

White: Witzig, Sie wissen schon, leicht, launig.

Edgar: Keine einzige.

White: Dann lassen Sie sich etwas einfallen. Nur fürs Gleichgewicht. Im November können Sie wieder bringen, was Sie wollen.

Edgar : Ich dachte, ich hätte freie Hand.

White: Die haben Sie. Ich wollte bloß vorschlagen, dass sie unseren Lesern die ganze Bandbreite Ihres Könnens zeigen. Ich bin davon überzeugt, Sie sind ein Meister der leichten Form, wenn Sie nur wollen.

Edgar: Wenn Sie das wollen.

White: So ist es.

Edgar : Ich gehorche. Immer in den geraden Monaten sollen meine Geschichten zum Lachen sein.

White geht weg, Edgar nimmt seine Arbneit wieder auf

In der Redaktion

Edgar schreibt fieberhaft, um ihn herum zerknülltes Papier früherer Versuche. White erscheint.

White: Und, sind wir auch lustig?

Edgar schaut ihn an. Ein Pfeil steckt in Whites Auge, ein Beil hat seinen Schädel gespalten. Edgar wendet sich wieder seiner Arbeit zu.

In der Wohnung

Edgar : (liest) "Eine rapide Steigerung von Unglaubwürdigkeit. Wir bedauern, Mister Poes Namen in Verbindung bringen zu müssen mit einem solchen Ausmaß von Kenntnislosigkeit und Unverfrorenheit."

Er pfeffert die Zeitung in die Ecke und nimtm eine andere zur Hand.

Edgar: "Erzählt in einer ungefügen und schludrigen Stil, selten gesegnet mit den Schönheiten des Aufbaus."

Eine andere Zeitung.

Edgar: "Ärgerlich und teuflisch. Wir können den Autor nur bedauern."

Virginia und Muddy auf dem Sofa. Sie haben ebenfalls Zeitungen.

Muddy: "Eine ungewöhnlich fesselnde Arbeit, anders als alles, was wir bisher gelesen haben."

Edgar: Schmeichelei. Sicher hat Harper's da seine Hand im Spiel.

Virginia: "All jene, die sich am Schönen und Schrecklichen erfreuen können, erwartet ein Fest."

Edgar: Das ist der New Yorker, die haben Sinn für das Ungewöhnliche.

Virginia: Hier. "Eine gekonnte und einnehmende Geschichte, gewiss wird sie dem verdienten Autor. . . "

Edgar: ". . . den Erfolg bescheren, den er längst verdient hat." Jonathan R. Dawkins, besser bekannt als Edgar A. Poe. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihm zustimmen kann. Spielt aber keine Rolle. Ich bin eigentlich kein Romancier, sondern ein Poet.

Virginia geht zu ihm hinüber und nimmt ihn in den Arm.

Deutsch von Christopher Schmidt

Aus der Geschichte des Horrors: Illustration zu Edgar Allan Poes Erzählung "Die Grube und das Pendel” Foto: Getty Images

Stewart O'Nan, Schriftsteller und Drehbuchautor Foto: Getty Images

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Biedermeier macht das Rennen

Das Auktionsjahr in Österreich und der Schweiz: Zeitgenossen belasten die Bilanzen

Zurück zur Normalität, so hallte es durch die Auktionshäuser von Wien und Zürich. Verglichen mit dem Rekordjahr 2007 blieb die Nachfrage in der vergangenen Herbstsaison sichtlich träger, war nicht zuletzt die Zurückhaltung amerikanischer Sammler zu spüren, und die Rückgangsquoten fielen allgemein höher aus. Schwer hatte es Durchschnittliches jeglicher Couleur, insbesondere aber Zeitgenössisches. An Qualität und Seltenheit herausragende Objekte dagegen erzielten unvermindert ausgezeichnete Zuschläge - gleich, ob es sich um Gemälde des 19. Jahrhunderts (Dorotheum), eine zeitgenössische Arbeit (bei Kinsky) oder um das Werk eines Alten Meisters (Koller) handelte.

Die drei Top-Lose im Wiener Dorotheum spiegeln es exakt: Den stärksten Trumpf hatte man hier mit Ferdinand von Amerlings restituiertem Biedermeier-Gemälde "Mädchen mit Strohhut" (Abb.: Dorotheum) in der Hand, den sich das Museum Liechtenstein mit Aufgeld starke 1,5 Millionen Euro kosten ließ. Die Königsdisziplin des Hauses folgte mit einem barocken "Stillleben mit Ingwertopf und Porzellanschälchen" von Willem Kalf, von dem eine weitere Version im Louvre hängt (467 300 Euro), während Koloman Mosers nackter Secessions-Jüngling "Frühling" buchstäblich im Sprung zur dreifachen Taxe ansetzte und mit einem Zuschlag von 320 000 Euro zum Rekordbild wurde. Die ambitionierte Offerte zeitgenössischer Kunst, ein knapp dreihundert Seiten starker Katalog, enttäuschte mit einem mageren Absatz von 43 Prozent.

Einen zehnprozentigen Rückgang, doch immer noch das zweitbeste Resultat des Hauses resümiert man bei den Wiener Kollegen im Auktionshaus Kinsky. Die Absatzquoten moderner und zeitgenössischer Kunst blieben mit 50 und 45 Prozent bescheiden. An wirklichen Highlights fehlte es diesmal. So markierten zwei der auch anderswo verlässlich nachgefragten Tiroler Winteridyllen Alfons Waldes mit 120 000 und 124 000 Euro die Spitze; bei den Zeitgenossen erwartungsgemäß das Ölgemälde "Innerhalb-Außerhalb" von Maria Lassnig mit ebenfalls 120 000 Euro. Ein überragendes Altmeister-Werk, einschlägige Schweizer Moderne und russische Gemälde des 19. Jahrhunderts waren die Erfolgsposten bei Koller in Zürich, die für ein überaus solides Ergebnis sorgten, das sich in einem Jahresumsatz von 93 Millionen Franken niederschlug. Furore machte zu Recht Ambrosius Bosschaerts aus altem deutschen Familienbesitz eingeliefertes "Blumenstillleben mit Schmetterling und Muscheln" aus dem Jahr 1608, eine Zimelie von musealem Format, die denn auch einem britischen Sammler mit fünf Millionen Franken den doppelten Schätzpreis wert war. Teurer wurde noch kein Bild des niederländischen Meisters gehandelt; teurer war auch kein anderes Los in den Schweizer Kunstauktionen des vergangenen Jahres.

Krisenfest blieb die Schweizer Moderne von Giovanni Giacometti und Cuno Amiet. Und für aufgewühlte Dramatik des russischen Marinemalers Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski investierten seine Landsleute immerhin sogar 2,2 Millionen Franken. Die Einbußen bei den Zeitgenossen, die man in den Auktionshäusern mit umfangreichen Katalogen gewürdigt hat, schmälern die Bilanzen - ein gemeinsamer Kummer aller Häuser im deutschsprachigen Raum.

DOROTHEA BAUMER

Einen Cranach aus Museumsbesitz bietet das Auktionshaus Sotheby's an: Einlieferer des "Portrait eines Bärtigen jungen Mannes" von Lucas Cranach dem Älteren aus dem Jahr 1518 ist das amerikanische Los Angeles County Museum (LACMA), das außerdem noch die "Heilige Cecilia" (1775) von Hand des britischen Malers Sir Joshua Reynolds in die Versteigerung Alter Meister am 29. Januar in New York gab. Derzeit machen zahlreiche US-Museen mit Notverkäufen Schlagzeilen. Die Erlöse von geschätzten 600 000 bis 800 000 Dollar für das Brustbild, beziehungsweise die für die Heilige erwarteten 700 000 bis 900 000 Dollar sollen, laut Katalogtext, für den Ankaufsetat verwendet werden. Beide Bilder wurden dem LACMA geschenkt - letzteres vom Zeitungs-Tycoon William Randolph Hearst. lorc Foto: Sotheby's

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Der Rhein lockt wieder

Die Teilnehmerliste steht: Die Art Cologne zeigt Profil

Als der neue künstlerische Direktor der Art Cologne ankündigte, die Messe notfalls um ein Stockwerk zu verkleinern, wurde diese Aussage als Nagelprobe der Innovation gewertet. Tatsächlich ist die Akquise für Kunstmessen seit der Finanzkrise schwieriger geworden - und das Kölner Team der Art Cologne reagierte: mit Verkleinerung der Fläche. Nun werden 180 Galerien an den Rhein reisen und drei Monate vor der Vernissage der vom 22. bis zum 26. April laufenden Messe steht die Liste der teilnehmenden Galerien. Es gelang Daniel Hug, so renommierte Namen wie Annely Juda, aus London, J.P. Ritsch-Fisch aus Straßburg oder Salis und Vertes (Salzburg), den Düsseldorfer Hans Mayer und Michael Werner, (Köln/Berlin) zu gewinnen.

Vor allem am Profil für zeitgenössische Kunst wurde gearbeitet - es buchten fast alle Kölner Galerien Stände. Und weil die Art Cologne mit Sonderschauen wie der "Open Space" oder den "New Contemporaries" (für junge Galerien) und "New Positions" (den ehemaligen Förderkojen für junge Künstler) besondere Plattformen geschaffen hat, haben sich auch international umworbene Galerien wie Johann König, Isabella Bortolozzi und Ben Kaufmann aus Berlin angemeldet, Hotel und Cabinet aus London, die New Yorker Rental Gallery und Jan Mot aus Brüssel. Zudem hat Daniel Hug die Macher der "Dark Fair" motiviert, mit ihrer Messe zeitgleich in den Räumen des Kunstvereins zu gastieren. Sie bringen Teilnehmer wie Gavin Brown und Maureen Paley an den Rhein. lorc

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Noch nicht zu verkaufen

Aber heiß gehandelt: Bernard Madoffs Rothko-Sammlung

Dass Gemälde von Mark Rothko begehrt sind, ist bekannt - wo auch immer auf der Welt in den vergangenen Jahren eine der Abstraktionen des im Jahr 1970 durch Selbstmord verstorbenen Künstlers angeboten wurde, erzielten Galerien und Auktionshäuser Höchstpreise. Nun entbrennt in New Yorker ein Bieterstreit um Gemälde, die eigentlich noch gar nicht auf dem Markt sind. Es geht um die größte Gruppe von Rothko-Gemälden in privater Hand - die Sammlung von Ezra Merkin, einem New Yorker Finanzmann, der in der Vergangenheit eng mit Bernard Madoff zusammengearbeitet hat.

Ben Heller, der die Sammlung während der vergangenen fünf Jahre als Berater gemeinsam mit Merkin aufgebaut hat und dabei Werke auch direkt aus dem Nachlass und von Erben erwarb, sagt dem Internet-Dienst Bloomberg.com, derzeit könne von einem Verkauf noch nicht die Rede sein - dennoch werde er "mit Telefonanrufen bombardiert", seit bekannt wurde, dass Merkins Firmen Milliarden Dollar durch Investitionen im Zusammenhang mit den Geschäften Madoffs verloren haben.

Experten schätzen den Wert Rothkos in Merkins Besitz auf 150 bis 200 Millionen Dollar. Allein im Duplex-Appartement der Familie Merkin an der Park Avenue hingen Werke von außerordentlicher Bedeutung: Zwei Studien für die Ausmalung des New Yorker Four Seasons Restaurants (die Hauptwerke werden von der National Gallery in Washington gehütet), eine Studie für die Rothko Chapel in Houston und eine für eine Wandmalerei in Harvard. lorc

Rothko, Mark: Werk Private Kunstsammlungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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RADAR

Gewinn halbiert: Christie's muss Mitarbeiter entlassen

Das Auktionshaus Christie`s hat mitgeteilt, dass im Zuge einer "Re-Organisation" Stellen abgebaut werden sollen. Betroffen seien vor allem Berater, deren Verträge im Zuge der Kostenreduzierungen nicht verlängert werden - zudem werden weltweit Stellen gestrichen. Christie's-Chef Ed Dolman hat die Mitarbeiter nach Angaben des "Wall Street Journal" per Email über die Stellenstreichungen in den 85 Büros informiert.

Das Unternehmen habe mit seinen Auktionen im zweiten Halbjahr 2008 nur noch die Hälfte des Gewinns in Höhe von 3,1 Milliarden Dollar aus den ersten sechs Monaten erzielt. Christie´s beschäftigt etwa 2100 Mitarbeiter, in Deutschland unterhält Christie's Büros unter anderem in Berlin, Hamburg und Düsseldorf. Dass kleinere Auktionen von Wein oder historischen Waffen verlegt, beziehungsweise eingestellt werden, habe allerdings noch nicht unmittelbar mit diesen Maßnahmen zu tun, betonte die Sprecherin Stephanie Manstein. "Die aktuellen Pläne sind eine Folge der Finanzkrise." Auch das Auktionshaus Sotheby´s musste - als börsennotiertes Unternehmen - bereits vor dem Jahreswechsel Umsatzeinbußen einräumen und Umstrukturierungen ankündigen. Die beiden international führenden Auktionshäuser rechnen mit deutlich geringerem Umsatz im kommenden Jahr, bei den Herbstauktionen lagen die Ergebnisse teilweise um 40 Prozent unter den Erwartungen, zudem belasteten die mit Verkäufern vereinbarten Garantiesummen für Werke, die nicht verkauft wurden, die Bilanzen. lorc

Muranoglas und japanische

Keramik für junge Sammler

Mit einer Spezialofferte "Young Collectors" startet das Auktionshaus Quittenbaum in München am 20. Januar in die Saison. Zum Angebot zählt, neben

internationalem Design und Murano-Glas zu günstigen Taxen unter

eintausend Euro, auch die in Auktionen bislang selten anzutreffende japanische

Studio-Keramik des 20. Jahrhunderts. Die Stücke stammen aus einer

norddeutschen Sammlung. Eine Teeschale (chawan), gedreht von Isezaki

Mitsuro, wäre schon für 200 Euro zu haben; ein Vorratstopf (tsubo) mit

graubrauner Ascheanflugglasur über Schnurabdruckdekor von Shimaoka

Tatsuzô läge bei 1800 Euro.D.B.

Zum zehnten Mal: Rotterdam

Die zehnte Ausgabe der Art Rotterdam, einer Messe für zeitgenössische Kunst, findet zwischen dem 5. und 6. Februar in Rotterdam statt. 70 Teilnehmer aus zehn Ländern haben ihr Kommen zugesagt. Während der Messetage wird der Hafen erstmals mit der Ausstellung "Portscapes" als Terrain für die Kunst erschlossen. Die Messe ist täglich von 13 bis 18 Uhr geöffnet, am Sonntag von 11 bis 19 Uhr. lorc

Beste Performance

In der Kategorie "Best Performance" wurde das Projekt "Allan Kaprow - Perfoma 07" am Münchener Haus der Kunst von der International Association of Art Critics in den USA ausgezeichnet (Kuratorin: Stephanie Rosenthal). Beste historische Ausstellung wurde die Schau "Gustave Courbet", den Preis teilt sich das Metropolitan Museum mit seinen Ko-Veranstaltern aus Europa, beste monographische Ausstellung in den USA wurde die Schau von Jasper Johns am Art Institute in Chicago, während sich Tony Shafrazi, New York, die Auszeichnung für das Projekt "Who is afraid of Jasper Johns" mit Urs Fischer und Gavin Brown teilt. lorc

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"Ich bin perfekt"

Schlimmer geht's immer: Neue Reality-Shows in den USA

Neue Reality-Serien schwirren derzeit über die amerikanischen Bildschirme wie Fliegen über dem Müll. Das Publikum lässt sich die Herzen brechen beim Anblick ausgesetzter Hunde, die von einer Armada aus Ärzten, Tierfriseuren und Verhaltenstrainern eine attraktivere Persönlichkeit und damit ein neues Zuhause finden sollen. Wir begleiten einen Kammerjäger beim nächtlichen Streifzug auf der Suche nach Kakerlaken und Ratten. Und die Mutter aller Reality-Serien, MTVs Real World, ist in Brooklyn angekommen. Kein Konzept wird ausgelassen, um die Palette menschlicher - und nun auch tierischer - Macken bloßzustellen, und mit sicherem Griff werden immer wieder die erbärmlichsten Repräsentanten dafür ausgesucht.

Einzigartige DNA

So läuft es denn auch in der gerade gestarteten Reihe True Beauty auf ABC, in der zehn schönheitsfixierte Männer und Frauen gegeneinander antreten, um am Ende zu Geld zu kommen. Neu ist, dass die Produzenten mit versteckten Kameras nach "innerer Schönheit" suchen, die sich bei den meisten Kandidaten aber gut versteckt hält. "Jeden Tag arbeite ich hart daran, nackt gut auszusehen", sagt der 26-jährige Joel. Ein Konkurrent erwidert: "Ich bin der einzige Mann mit meiner DNA auf dieser Erde." Und Teilnehmerin Chelsea findet: "Ich bin perfekt." So viel geballter Narzissmus muss selbst Psychotherapeuten überfordern.

Doch die Teilnehmer haben nicht mit der Bosheit von Ashton Kutcher gerechnet, neben Supermodel Tara Banks Produzent der Serie. Den Schauspieler Kutcher kennt man vor allem aus seiner MTV-Show Punk'd, in der er prominente Freunde veralbert. Gnadenlos werden die Kandidaten der neuen Show dabei gefilmt, wie sie einen Kellner, der gestolpert ist, liegen lassen. Statt ihm aufzuhelfen, waschen sie ihre befleckten Schuhe im Champagner-Kübel. Die Zuschauer sehen, wie Kandidaten vertrauliche "Schönheitsakten" der Konkurrenz lesen oder die Tür vor einem überladenen Fastfood-Lieferanten zufallen lassen.

Nicht viel besser ist es um die im Vorfeld gehypte Serie Homeland Security, ebenfalls ABC, bestellt. Hier sollen alltägliche "Helden" porträtiert werden, die die Grenzen der USA frei von Terroristen, Drogenhändlern und anderen ungewollten Zureisenden beschützen. Die Zuschauer sehen, wie Grenzbeamte die Waffe ziehen und Autos umstellen, in denen Marihuana, Kokain, Spielzeug mit darin versteckten Schmerzmitteln oder auch eine junge Frau ins Land geschmuggelt werden sollten. Oft wird hier auch falscher Alarm geschlagen, und die traumatisierten Reisenden werden, manchmal mit, manchmal ohne Entschuldigung durchgelassen. Auch die naiven Globetrotter fehlen nicht, wie etwa die junge Schweizer Bauchtänzerin, die unverblümt zugibt, sie würde gern mit ihrem Touristenvisum in den Vereinigten Staaten arbeiten, und von einem freundlichen Beamten mit den üblichen Fragen verhört wird ("Haben Sie jemals beabsichtigt, Ihre Regierung zu stürzen?").

Lob verdient in der aktuellen Flut menschlicher Einfalt allein die neue, inzwischen 17. Staffel Real World. MTV bedient in der Serie nicht mehr, wie früher, Stereotype nach dem Muster: überschäumende Südstaatlerin, zorniger Afro-Amerikaner, cooler Ostküsten-Intellektueller, sondern zeigt eine Gruppe talentierter junger Leute, die nicht nur damit beschäftigt sind, sich in den Rücken zu fallen, sondern einander auch mal helfen. Die älteste der aktuellen Reality-Shows zeigt damit, dass nicht alles, was im Fernsehen schlecht startet, immer nur mieser werden muss. GERTI SCHÖN

Fernsehen in den USA Reality-Fernsehen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Dranbleiben?

Wie verschieden Medien auf die Airbus-Notlandung reagierten

Am 10. Januar schrieb der Unternehmer Janis Krums, dass er es in diesem Jahr schaffen wolle, 1000 "Follower" für seine Worte zu interessieren. Damals hatte Krums 89 Follower, also Menschen, die über den Internetdienst Twitter Kurznachrichten beziehen, die er als Privatmann ins Netz schickt. An diesem Freitag waren es plötzlich 2230. Ausgelöst hatten den Run ein paar dürre Worte: "Da ist ein Flugzeug im Hudson. Ich bin auf der Fähre, die gleich die Passagiere aufnehmen wird. Verrückt", hieß Krums Twitter-Eintrag, dazu ein Foto, das als eine der ersten Quellen zeigte, wie Menschen aus der verunglückten Maschine vor Manhattan quollen. "Du bist Teil der heroischen Rettung", schrieb ihm später eine Kommentatorin, die so demonstrierte, wie hoch manche diese Form des Bürgerjournalismus inzwischen handeln.

Unterschiedlich wurden die Bilder der spektakulären Wasserung von den deutschen Nachrichtensendern bewertet. Während n-tv lange sein ganzes Programm auf das Ereignis umstellte, brachte N 24 früh wieder andere Meldungen und zog sich ins reguläre Programm zurück. "Die Bilder haben wir alle gezeigt", sagt N 24-Sprecher Thorsten Pütsch. Na ja. Jedenfalls war n-tv wesentlich präsenter. "Wir haben sofort gesagt: Das ist etwas Großes", erklärt Chefredakteur Volker Wasmuth die Konzentration auf die glückliche Notlandung. Für n-tv hat sich die Entscheidung gelohnt. Während der Kanal beim Tagesmarktanteil in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen mit 0,8 Prozent noch 0,6 Prozentpunkte zurücklag, rangierte er in den Stunden nach dem "Wunder von New York" etwa gleichauf mit N 24. SZ

Twittern Flugzeugunglücke in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Elefantenquintett

Zum Beispiel Hessen: Das Wahljahr als Fernsehspiel

Ein Duell wäre besser gewesen, ein Zweikampf in der klassischen Konstellation: Titelverteidiger gegen Herausforderer. Auf der einen Seite also der in jüngster Zeit so wundersam verwandelte Ministerpräsident, in seiner Metamorphose vom Hartkoch zum Weichkoch, vom Scharfmacher zum Demutsdarsteller. Roland Koch, der Sieger, der sich auf seinen nahen Sieg nicht zu freuen scheint. Und auf der anderen Seite der jetzt schon erstaunlich populäre Kandidat Thorsten Schäfer-Gümbel, der aussehen mag wie ein Comedian, wie Hessens Antwort auf Kurt Krömer aus Neukölln, der aber wohl doch ein richtiger Politiker ist. Der Verlierer, der nur gewinnen kann.

Aber Koch wollte das Duell nicht, und also sah man jetzt, drei Tage vor der Wahl, im Fernsehen des Hessischen Rundfunks einen anderen Klassiker: die sogenannte Elefantenrunde. Fünf Männer an fünf türkisblau schimmernden Stehpulten, Koch und Schäfer-Gümbel natürlich, dazu die Herren Hahn (FDP), Al-Wazir (Grün) und van Ooyen (Die Linke). Nur Männer, fünf Männer - als habe Hessen, nach dem schrillen Ypsilanti-Spektakel, vom Schauspiel "Frauenpower" erst einmal genug. Dazu ein Moderator und eine Moderatorin, die das harmlose, weitgehend ereignislose Palaver tatsächlich eine "Elefantenrunde" nannten, eine gewaltige Übertreibung!

Der Elefant ist groß und grau. Jedenfalls nicht klein und bunt. Es war unmöglich, da nicht sofort an einen leidenschaftlichen, zweiseitigen Aufsatz in der Zeit zu denken, in welchem der Autor Bernd Ulrich die Wähler inständig darum bat, in diesem Wahljahr doch bitte die drohende totale Zersplitterung des politischen Systems zu verhindern. "Es ist ganz einfach", so Ulrich. "Ernst wählen, groß wählen, nicht allzu bunt wählen." Groß und nicht bunt, das ist der Elefant.

Aber es ist doch sehr die Frage, ob man in diesem Wahljahr genug Elefanten für den großen Zirkus finden wird. Um ernst und groß zu wählen, müsste der Wähler zuvor ernste und große Gedanken, große und ernste Gefühle in sich entdecken, und man sieht einstweilen nicht, wo die herkommen sollen, welcher deutsche Politiker sie im deutschen Wähler erwecken könnte. Die fünf hessischen Kleinelefanten jedenfalls konnten es nicht.

Für die Politiker und die professionellen Kommentatoren bedeutet dieses Wahljahr 2009 eine beinahe unaufhörliche Erregung. Wir aber, die wir das Wahlvolk sind, spüren von solchen Leidenschaften derzeit noch wenig.

Vor den Elefanten zeigte das Fernsehen ein paar Passanten. Und eine nette alte Dame, zu den hessischen Politikern befragt, sagte nur: "Mir gefällt keiner!" BENJAMIN HENRICHS

Landtagswahl 2009 in Hessen Wahlsendungen im Fernsehen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nachtschattengewächs

Eine akustische Imagination: Poes Abenteuer des Arthur Gordon Pym

Die nachtschattigen und abgründigen Geschichten Edgar Allen Poes verleiten dazu, sie akustisch auszuloten; einen Sound zu kreieren, in dem sich jene unterschwellige Atmosphäre ausdrückt, die in Poes Texten unausgeschrieben zwischen den Zeilen wuchert. Poes 200. Geburtstag am kommenden Montag zum Anlass nehmend, fügen Michael Farin und der Musiker Zeitblom den zahlreichen Adaptionen eine weitere hinzu: den klangreichen Hörspiel-Zweiteiler POEsPYM, der zurückgeht auf die Abenteuer des Arthur Gordon Pym.

Vorangestellt ist dieser Produktion ein Making-Of, POEs Production, in dem die Sprache auch auf die verdienstvolle Neu-Übersetzung des Romans durch Hans Schmid kommt. Wie schon im Nicolas-Born-Hörspiel Die Fälschung von Farin und Zeitblom, das derzeit noch auf Bayern 2 zu hören ist, verwebt das Duo rückerinnerndes Erzählen mit einer beinahe pausenlosen Komposition, die auf naturalistische Geräusche verzichtet und stattdessen virtuelle Räume schafft.

Mit Bass, Schlagwerk und einer Tuba erzeugen Zeitblom und seine Musiker-Kollegen eine Art industriellen Sound, solange sich Pym auf einem Schiff einer Meuterei erwehren muss. Im zweiten, dem Südseeteil, wird die Musik bedrohlicher, auch in klingelnden Höhen, je absurder die Bedrohungen durch Einheimische werden. Eine Ergänzung: Auch DJ Goldbug sampelt im Sinne der Poe'schen Dichtung - Invisible Woe! (WDR 3, Samstag, 23.05 Uhr). STEFAN FISCHER

POEs Production, DKultur Radio, Sonntag, 19.05 Uhr. - POEsPYM, 25.1. und 1.2., je 18.30 Uhr.

Poe, Edgar Allan: Werk Hörspiele im Hörfunk SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Sprachlose Jagd

Nach 15 Jahren schenkt das ZDF "Bella Block" eine Doppelfolge, in der sie schweigen muss

Bockig war Bella Block immer ein wenig. Schon in ihrem ersten Fall, 1994, gab sie ihren Polizeiausweis ab. Damals erkannte sie in der Hamburger Mordkommission einen sich selbst beweihräuchernden Verein für "karrieregeile Kraftprotze". Doch die Ermittler-Leidenschaft siegte. 15 Jahre lang löste sie im ZDF Fälle. Nach dem fortlaufenden Erfolg der Reihe mit Dutzenden Film- und Fernsehpreisen sei nun endlich ein "Extrabonus" fällig, so Produzentin Selma Brenner. Erstmals darf Hannelore Hoger als Kommissarin eine Doppelfolge lang ermitteln. Markus Imboden (Buch: Beate Langmaack) inszeniert darin die Leiden einer gealterten Polizistin und zeigt Block auf eine völlig neue Art: stumm.

Eine junge Mutter liegt misshandelt und erstickt in ihrer Wohnung. Als Täter kommen ihr gewalttätiger Freund und ein merkwürdig interessierter Journalist in Frage. Düster und mit ein paar falschen Fährten, ansonsten aber unspektakulär kommt der Fall daher. Dieses Mal spielt das Drehbuch vor allem Block übel mit: Der neue Chef versucht sie in die Altersteilzeit abzuschieben, ihr Lebensgefährte Simon (Rudolf Kowalski) verlässt sie, und dann wird Block auch noch bei einer Verhandlung niedergestochen. Wegen einer Kehlkopfquetschung verliert sie vorübergehend die Sprache. Doch Block ermittelt weiter, mit Hilfe von Zettel und Stift.

Hoger spielt diese Frau am Tiefpunkt überzeugend. Gebannt sieht man ihr zu, wie sie sprachlos leidet, sich besäuft, total abstürzt und dann krächzend, in einem fulminanten Wutausbruch, die Stimme wieder findet. "Schnauze!", brüllt sie ihren Chef an. "Ihr lügt doch, wenn ihr den Mund aufmacht!" Das gilt den Kollegen. Die Wiedersehensfreude scheint ihr geheuchelt, der Chef ein Betrüger, der sie hinterrücks loswerden will. Dieser junge Wichtigtuer (Jörg Hartmann), dessen Name Mark Haber wie "makaber" klingt, hat von vornherein keine Chance, erst recht nicht, als er von Burn-out-Syndrom, Fürsorgepflicht und Polizeipsychologischer Behandlung schwafelt. Kommissarin Block bleibt bockig. Und doch steckt eine zarte Tragik in dieser Figur, die sich, noch der Stimme beraubt, die Trennungsgründe ihrer großen Liebe anhören muss, ohne etwas erwidern zu können.

Ein doppelter Schlussstrich also unter Beziehung und Job? "Wenn sie mich vermissen sollten, rufen sie einfach an", sagt Block zu ihren verdutzten Kollegen, als sie am Ende ihren Job kündigt. "Das ist das Ende der Kommissarin", verkündet Pit Rampelt, Fernsehfilm-Chef des ZDF, "aber nicht von Bella Block. So eine wie Bella hört nicht auf."

ANTJE HARDERS

Bella Block: Am Ende des Schweigens, ZDF, 17. und 19.1., jeweils 20.15 Uhr.

Bella Block (Hannelore Hoger) muss in ihrer Jubiläums-Doppelfolge viel mitmachen. Erst verliert sie nach einer Attacke die Stimme. Dann besucht sie ihr Geliebter (Rudolf Kowalski) und macht Schluss. Foto: ZDF

Bella Block SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zwei Tage Hoffnung

Wie sich der Verleger Boris Giller in der russischen Provinz um kritischen Journalismus bemüht

Er fängt Sätze an, die er nie beendet. Er fällt sich ins Wort, dreht rhetorische Pirouetten und antwortet auf jede Frage mit einer langen komplizierten Geschichte voll unbekannter Namen. Nur wenn es ums Geschäft geht, redet Boris Giller ohne Schnörkel: "Die Menschen kaufen meine Zeitungen, also kriege ich Anzeigen", sagt er: "Anzeigen bringen Geld, also drucken wir, was die Menschen lesen wollen." Nämlich? "Die Wahrheit." So simpel ist sein Businessplan.

Und so riskant.

Reporter ohne Grenzen sieht Russland auf Platz 141 der Pressefreiheit, die Liste umfasst 173 Länder. Ministerpräsident Wladimir Putin zählt zu den 39 "Feinden der Pressefreiheit". In den vergangenen 16 Jahren wurden in Russland 49 Journalisten ermordet. Kein Land ist für Reporter so gefährlich wie Russland, den Irak und Algerien ausgenommen, schreibt das Committee to Protect Journalists. In Russland kann nicht nur politische Fundamentalkritik tödlich enden, wie sie Anna Politkowskaja am Tschetschenienkrieg übte, sondern schon lokales Gezänk. Michail Beketow, der Chefredakteur einer Moskauer Lokalzeitung, kritisierte den Bau einer Schnellstraße durch einen Stadtwald. Er wurde halbtot geschlagen, fiel ins Koma, ein Bein musste amputiert werden.

Boris Giller, Verleger, 52 Jahre alt, glaubt trotzdem an die Macht des Wortes - und an eine gute Rechtsabteilung. Von seinem bescheidenen Büro in einem zentrumsfernen Bezirk Moskaus herrscht er über 26 Wochenzeitungen von Pskow bis zum Pazifik, also über ganz Russland, dazu eine Frauenzeitschrift, ein Kreuzworträtselheft und eine jüdische Webseite. Seine Zeitungen heißen Chronometer Wladimir oder Amurskij Meridian. Die Auflagen liegen zwischen 15000 und 50000. Insgesamt verkauft er 1,7 Millionen Exemplare, damit ist er groß genug, um sich vor Ort Gehör zu verschaffen, aber für die Moskauer Politik praktisch unsichtbar. Giller findet das ideal: "Bunte Vögel werden gefressen. Graue hüpfen weiter." Dabei gilt er als einer der unabhängigsten, unbestechlichsten Verleger Russlands und damit als Paradiesvogel, als bedrohte Spezies. In seinen Zeitungen hat er Texte Garri Kasparows gedruckt, des ehemaligen Schachgroßmeisters und Radikal-Oppositionellen, der in Moskau oft nicht mal einen Versammlungsraum findet. Im Georgienkrieg, als sich das staatlich gelenkte Fernsehen ins patriotische Delirium sendete, schrieben Gillers Zeitungen, dass Russland in Georgien nichts verloren habe und die kleine Republik im Übrigen in allen Kriegen treu an der Seite Moskaus gestanden habe. "Wir sind mutiger als alle anderen", sagt Giller. Selbstbewusster sowieso.

Giller genießt den Vorteil der Graswurzel-Analyse, er durchschaut das Land von unten: "Wenn ich heute durch die Regionen fahre, sehe ich keine besondere Liebe zu Putin." Und der andere, mit dem viele Journalisten Hoffnungen verbunden hatten? Hat er, Giller, an ein Tauwetter unter Dmitrij Medwedjew geglaubt? "Doch", sagt er: "Zwei Tage."

Auch Moskauer Wirtschaftsblätter wie der Kommersant oder Wedomosti, das Wochenblatt Nowaja Gaseta oder die Zeitschrift Nowoje Wremja lassen kein gutes Haar am Kreml. Russland ist nicht Nordkorea, zwar ist das Fernsehen staatstreu bis zur Lähmung, aber das Internet ist frei, und die Presse liegt irgendwo dazwischen. Doch die Strahlkraft der liberalen Hauptstadtpresse dringt selten über den Moskauer Autobahnring hinaus. Giller informiert die Provinz, aus Geschäftssinn und aus Liebe. "In der Provinz ist vieles bescheidener. Die regionalen Politiker sind näher am Volk, selbst die lokalen Oligarchen sind menschlicher", sagt er. Sogar seinen Verlag hat er so genannt, "Provinzija".

Dieses leidenschaftliche Bekenntnis zu Russlands endlosem, verachteten Hinterland wird nicht überall gewürdigt. In den Städten Südrusslands nahm die Miliz regelmäßig Redakteure von Gillers Blättern fest. In der Republik Baschkortostan teilte man ihm mit, wenn er nicht aufhöre, die lokale Führung zu kritisieren, werde seine Zeitung nicht mehr vertrieben, woraufhin Giller das Blatt schloss. In Pskow wollte der stellvertretende Generalstaatsanwalt gern die Artikel vor dem Druck sehen. Es gab Hetzkampagnen im Netz gegen den Verleger, aber keine Kreml-Vorladung, keine milliardenschweren Steuernachforderungen, mit denen Unternehmen zuverlässig in die Knie gezwungen werden. In Kostroma zog der Gouverneur sieben Mal gegen Giller vor Gericht. Sechs Mal bekam der Verleger Recht: "Dies ist Russland, nicht Kasachstan."

Kasachstan kennt er, im Reich Nursultan Nasarbajews hat er seine erste unabhängige Zeitung gegründet, Karawan, die er später aufgeben musste, weil sein Papierlager brannte und man ihm einen Mord anhängen wollte. Hier hat er seine publizistische Marke erfunden: ein Blatt für die ganze Familie, boulevardesk, vielleicht auch populistisch, handwerklich ein bisschen selbstgestrickt, aber nicht käuflich.

So ist auch der Saratowskij Arbat. Saratow ist auch nicht Kasachstan, aber nah dran, etwa 300 Kilometer, eine schmucke Wolga-Stadt, in der mal deutsche Siedler lebten. Der Redaktion des Saratowskij Arbat residiert in drei Plattenbau-Zimmern mit Grünpflanzen, Furnier-Schränken und einer erlesenen Collage von Putin-Bildern an der Wand.

Ljubow Scharschawowa ist die Geschäftsführerin, blättert in der regionalen Ausgabe des Massenblattes Moskowskij Komsomolez, und ärgert sich. "Dieses Minister-Interview, dafür haben die doch Geld kassiert!" Eine ganze Seite über den Besuch des farblosen Oberhaus-Sprechers Sergej Mironow: "Da hätten sie ohne Bezahlung eine Meldung gedruckt!" Scharschawowa hat früher in der Anzeigenabteilung gearbeitet. Sie kennt die Kollegen, die Nettes gegen Bezahlung schreiben, ohne die Werbeveranstaltung kenntlich zu machen. Und sie weiß, dass Giller das nie erlauben würde: "Als ich beim Saratowskij Arbat anfing, hat er mir gesagt, dass wir uns damit die Hände nicht schmutzig machen - selbst wenn das Geld nur so vorbeirauscht."

Seit zehn Jahren berichten Gillers Journalisten über Bürgerzorn wegen einer Fabrik zur Chemiewaffenvernichtung, über verbotene Bauprojekte auf einem Cholera-Friedhof und einen Gouverneur, der Politik mit Wundern macht, zum Beispiel mit dem Versprechen stabiler Preise: Wenn er auf den Markt geht, sind die Preise niedrig, ist er weg, explodieren sie. "Die Menschen haben gelernt, dass sie sich mit ihren Einkäufen beeilen müssen", grinst die Chefredakteurin Swetlana Zapin.

Die lokale Führung bemüht sich, Gillers Journalisten zu ignorieren, zum Presseball Anfang des Jahres werden sie nicht eingeladen. Manchmal widerstehen die Redakteure Drohungen, öfter der Versuchung. "Vor vier, fünf Jahren sagte mir ein Beamter nach einem Artikel: Denk daran, dass du Kinder hast", sagt Zapin: "Heute sammeln Journalisten Material und lassen sich bezahlen, damit sie es nicht veröffentlichen." Als der Saratowskij Arbat Richter und Staatsanwälte bei täglichen Dampferfahrten auf der Wolga erwischte, während sich im Gericht die unentschiedenen Fälle türmten, riefen Juristen und sogar Kollegen in der Redaktion an: Wie viel wollt ihr, damit ihr es nicht druckt? Giller Blatt brachte den Artikel trotzdem. Selbstverständlich ist das nicht. Die Korruption zerfrisst das ganze Land, warum sollten Journalisten immun sein? "Alle wissen, dass Journalisten käuflich sind", sagt Zapin. Wer kritisiere, müsse selbst "supersauber" sein, hat Giller gesagt, sonst mache er sich angreifbar. Langfristig könnte die Bestechlichkeit für den russischen Journalismus fataler sein als die physische Gewalt.

Aber was heißt schon langfristig unter Krisenbedingungen? Auch die Medien ächzen unter dem Kapitalschwund. Ausgerechnet die staatsnahe Zeitung Rossiskja Gaseta, die Kapitalschwund und Rubelschwäche über Wochen geleugnet hat, musste als Erste über ein Dutzend Regionalbüros schließen. Giller hat seinen Lesern schon reinen Wein eingeschenkt, als der Banken-Crash im Fernsehen noch als amerikanische Krankheit verhandelt wurde. Nach Putins jüngster TV-Fragestunde warfen seine Zeitungen Fragen auf, die niemals gesendet worden wären: "Was zählt für die Machthaber mehr - die Oligarchen oder das Volk?" Später druckte er Hass-Internet-Postings von Autofahrern gegen Putins Pläne für Zölle auf ausländische Autos. "Missgeburten, anders kann man sie nicht nennen", tobt einer: "Kurven selber im dicken Benz rum, aber wir dürfen keinen anständigen erschwinglichen Wagen fahren!" Auch Giller musste Zeitungen aufgeben, in Omsk, Ufa, Kaliningrad - schon vor der Krise. In Saratow sind die Anzeigen eingebrochen; wenn das Blatt kein Geld mehr abwirft, würde Giller auch den Arbat dichtmachen, das wissen sie. Gillers Liebe zur Provinz endet da, wo sie unrentabel wird.

Er hat andere Talente, ist gelernter Ingenieur, hat Film studiert und 1997 den bis heute besten Film über den Tschetschenien-Krieg produziert, Gefangen im Kaukasus, der für einen Oskar nominiert wurde. Doch so schnell gibt Giller nicht auf. Seine vorläufige Prognose für Russland, für die Krise, für die Pressefreiheit? Da hat er nachgedacht, gegrinst und schließlich gesagt: "Es wird schlimmer. Und dann wieder besser."

SONJA ZEKRI

Er gilt als unabhängig, unbestechlich und druckte Texte von Garri Kasparow

Langfristig wirkt Bestechlichkeit nachhaltiger als physische Gewalt

Leidenschaftliches Bekenntnis zum endlosen, verachteten Hinterland seiner Heimat: Boris Giller. Foto: Dmitrij Ternowoj/Forbes

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Die Klimawirkung des Internets

Zweifel an hohem Treibhausgas-Ausstoß bei Suchanfragen

Die Ausdehnung des Internets hat auch den Stromverbrauch der damit beschäftigten Rechner zum Thema gemacht. Ein kürzlich erschienener Bericht über den Einfluss, den das Datennetz auf den Ausstoß des Treibhausgases CO2 ausübt, hat daher großes Echo hervorgerufen. Vor allem ging es dabei um die Frage, wie viel CO2 Anfragen bei Suchmaschinen produzieren. Auslöser dafür waren Artikel in der britischen Times on Sunday. Die Zeitung hatte den amerikanischen Physiker Alexander Wissner-Gross von der Harvard University um einen Meinungsbeitrag zu dem Thema gebeten. In einem zweiten Artikel berichtete das Blatt über die Folgen für die CO2-Bilanz, die entstehen, wenn man Suchmaschinen nutzt.

Im Nachhinein entstanden aber Zweifel an einer der wichtigsten Zahlen in dem Bericht, dass nämlich eine Suche via Google sieben Gramm CO2 freisetze. Wissner-Gross wirft der Times vor, den Bericht so formuliert zu haben, dass der Anschein erweckt worden sei, die Aussage mit den sieben Gramm basiere auf seinen Forschungen. Auch in seinem Meinungstext seien "die Worte verdreht worden", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Bei der Times wiederum bestreitet man diese Vorwürfe. Richtig sei, so Wissner-Gross, dass seiner Forschung zufolge der Besuch einer Internetseite im Schnitt 20 Milligramm CO2 pro Sekunde freisetze. Diese entstünden hauptsächlich durch den Energieverbrauch des anfragenden Rechners sowie durch Computer, die für die Infrastruktur nötig seien.

Quelle für die Sieben-Gramm-These ist offenbar das Blog eines Computerexperten. Dieser hat seine aus dem Jahr 2007 stammende Zahl inzwischen nach unten korrigiert, auf 0,2 Gramm, also 200 Milligramm CO2 pro Google-Anfrage. Diese Zahl nennt auch der Suchmaschinenbetreiber im offiziellen Google-Blog. Dabei seien Vorarbeiten wie das Aufbauen des Suchindex inbegriffen. Die Firma Google, die wie andere Unternehmen riesige Datenzentren unterhält, achtet schon im eigenen Interesse darauf, diese so effizient wie möglich zu betreiben. Fachleute bescheinigen dem Konzern sogar große Expertise. Dennoch verbrauchen Rechenzentren viel Strom und werden oft neben Kraftwerken errichtet. Eines von Googles neueren Datenzentren beispielsweise liegt am Columbia River nahe einem Wasserkraftwerk. ma

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Dreifach wirkt besser

Freiburger Forscher entwickeln hocheffiziente Solarzellen

Forscher am Fraunhofer-Institut für Solar Energiesysteme in Freiburg (ISE) haben mit Mehrfachsolarzellen erstmals einen Wirkungsgrad von 41,1 Prozent erreicht. Sie wandeln also diesen Prozentsatz der Energie des Sonnenlichts in Elektrizität um. Damit sind diese Zellen weltweit Spitzenreiter auf diesem Gebiet. Die Silizium-Solarmodule, die momentan auf dem Markt etabliert sind, erreichen lediglich Wirkungsgrade zwischen 14 und 20 Prozent. Dass die Solarzellen aus Freiburg mehr als doppelt so effizient sind, liegt an ihrem besonderen Aufbau. Sie bestehen im Gegensatz zu herkömmlichen Zellen nicht aus Silizium, sondern aus Germanium oder Gallium-Verbindungen. So können die gestapelten Zellen das Licht nacheinander in den Bereichen blau-grün, rot und infrarot absorbieren - daher auch der Name Dreifach- oder Mehrfachsolarzelle. Eine weitere Besonderheit ist, dass Linsen das Sonnenlicht bündeln, bevor es auf die Solarzelle trifft. Den Rekordwirkungsgrad erzielten die Forscher mit 454-fach konzentriertem Licht. Bisher kommen Mehrfachsolarzellen vor allem im Weltraum zum Einsatz. Das Interesse daran, diese Technik auch auf der Erde zu nutzen, sei aber sehr groß, sagt Frank Dimroth, Forschungsgruppenleiter am ISE. hoch

Forscher am Fraunhofer-Institut für Solar Energiesysteme in Freiburg (ISE) haben mit Mehrfachsolarzellen erstmals einen Wirkungsgrad von 41,1 Prozent erreicht. Sie wandeln also diesen Prozentsatz der Energie des Sonnenlichts in Elektrizität um. Damit sind diese Zellen weltweit Spitzenreiter auf diesem Gebiet. Die Silizium-Solarmodule, die momentan auf dem Markt etabliert sind, erreichen lediglich Wirkungsgrade zwischen 14 und 20 Prozent. Dass die Solarzellen aus Freiburg mehr als doppelt so effizient sind, liegt an ihrem besonderen Aufbau. Sie bestehen im Gegensatz zu herkömmlichen Zellen nicht aus Silizium, sondern aus Germanium oder Gallium-Verbindungen. So können die gestapelten Zellen das Licht nacheinander in den Bereichen blau-grün, rot und infrarot absorbieren - daher auch der Name Dreifach- oder Mehrfachsolarzelle. Eine weitere Besonderheit ist, dass Linsen das Sonnenlicht bündeln, bevor es auf die Solarzelle trifft. Den Rekordwirkungsgrad erzielten die Forscher mit 454-fach konzentriertem Licht. Bisher kommen Mehrfachsolarzellen vor allem im Weltraum zum Einsatz. Das Interesse daran, diese Technik auch auf der Erde zu nutzen, sei aber sehr groß, sagt Frank Dimroth, Forschungsgruppenleiter am ISE.

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Dünner Draht

Kette aus Goldatomen leitet Strom

Dünner kann ein elektrisch leitfähiger Draht nicht werden. Selbst im Vergleich zu Nanoröhrchen aus Kohlenstoff sind die Ketten aus einzelnen Goldatomen, die Würzburger Physiker hergestellt haben, winzig (Physical Review Letters, online). Die Wissenschaftler verdampften Gold und ließen einzelne Atome auf kleinen Germaniumplättchen kondensieren. Durch geschickt gewählte Versuchsbedingungen ordneten sich die Goldatome zu parallel ausgerichteten, geradlinigen Ketten an (Foto: Universität Würzburg). Diese blieben bei verschiedenen Temperaturen stabil und konnten elektrischen Strom leiten. Zurzeit arbeiten die Physiker an komplexeren Nanoverdrahtungen, indem sie Verknüpfungen zwischen Goldketten herstellen. Außerdem versuchen sie, die elektrischen Eigenschaften der Nanodrähte zu verändern. Als Anwendung schweben den Forschern nicht nur neue Leiterbahnen auf winzigen Computerchips vor. Auch für die Erforschung bisher nur theoretisch vorhergesagter Quantenphänomene sollen sich die filigranen Golddrähte eignen. wsa

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Medizin mit dem Preisschild

Ständige Kosten-Nutzen-Berechnungen untergraben das ärztliche Ethos

Opfer sind meist die Patienten. Es geht schließlich auf ihre Kosten, wenn in Krankenhäusern und Praxen gespart wird. Einige Konsequenzen für die Kranken sind naheliegend: Wird eine Station nur von zwei statt drei Ärzten und von vier statt sechs Pflegekräften versorgt, kann die medizinisch-technische Betreuung leiden - Verwechselungen und Fehler kommen häufiger vor, wenn Personal fehlt. Zudem wird es unter Zeitdruck schwieriger, Kranke engmaschig zu überwachen. Wird die Arbeit zu viel, bleibt am ehesten auf der Strecke, was wesentlich für eine gute Medizin ist: Zeit für Zuwendung, Zuhören und Trost; altmodisch könnte man auch von Barmherzigkeit reden.

Ein anderer Aspekt der zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen ist bisher hingegen wenig beachtet worden. Immer häufiger stehen Kosten-Nutzen-Abwägungen des ärztlichen Tuns im Vordergrund. Damit sind nicht allein die gesundheitlichen Vor- und Nachteile gemeint, die eine medizinische Intervention für den Patienten hat. Vielmehr versäumt es kaum ein Fachartikel, auf die Kosten eines Eingriffs hinzuweisen oder auszurechnen, wie sehr ein gewonnenes Patientenjahr die Gemeinschaft belastet. Krankenhausärzte erfahren von den Kaufmännischen Direktoren und Geschäftsführern ihrer Kliniken zudem regelmäßig, welche Operationen und Therapien lukrativ sind und bei welchen das Krankenhaus draufzahlt. Längst ist es üblich, dass Chefärzten von den Sparkommissaren ihrer Kliniken nahegelegt wird, in ihren Abteilungen bevorzugt zu behandeln, was Geld bringt.

"Machen Sie halt mehr Schlaganfälle und weniger MS", bekam ein Neurologe von seinem klinikinternen Controller zu hören. Patienten mit Schlaganfall in einer spezialisierten Abteilung zu behandeln, ist noch immer lukrativ - ebenso wie die Entfernung von Krampfadern. Die Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose hingegen bringt Kliniken nicht so viel ein. Auch eine gut ausgestattete Intensivstation zu betreiben, ist teuer. Suchen sich Kliniken nach solchen pekuniären Erwägungen ihre Patienten aus, drohen ähnliche Szenarien wie bei einer privatisierten Bahn. So wie manche unrentablen Bahnstrecken nicht mehr befahren und Bahnhöfe stillgelegt werden, gibt es eben auch manche Krankheiten, die aus Sicht der Klinikbetreiber unrentabel sind. In Privatkliniken ist dieser Trend bereits zu beobachten - sie bieten die Versorgung von Patienten mit manchen Leiden nicht mehr an. 2008 lag der Anteil der Krankenhausbetten in Privatkliniken in Deutschland mit 14,1 Prozent erstmals höher als in den USA. Aber auch kommunale und konfessionelle Häuser reagieren auf den Kostendruck im Gesundheitswesen manchmal mit einer verdeckten Auswahl der Patienten. Mit medizinischen Tugenden und ärztlichem Ethos hat das nichts zu tun. Die hingebungsvolle Betreuung von Kranken hat in Business-Plänen keinen Platz.

Ärzte, die ihr Tun permanent bilanzieren, neigen offenbar dazu, sich auf ein Minimum des medizinisch Notwendigen zu beschränken. Auf diese Gefahr haben die Harvard-Ärzte Pamela Hartzband und Jerome Groopman jüngst im New England Journal of Medicine hingewiesen. Die Arzt-Patienten-Beziehung ändert sich demnach, wenn Denkmuster aus der Geschäftswelt auf die Medizin übertragen werden. Empathie, Kooperation und Kollegialität blieben auf der Strecke, wenn Medizin mit dem Preisschild betrieben wird, befürchten Hartzband und Groopman. "Die Qualität der Versorgung bemisst sich nicht allein daran, ob Kranke ihre Tabletten bekommen", so die Autoren.

Die beiden führen etliche Beispiele aus der Verhaltensforschung an, die zeigen, wie sehr sich die Einstellung ändert, wenn ständig der finanzielle Wert einer Tätigkeit mit im Spiel ist. So halfen Passanten bereitwillig, ein Möbelstück zu tragen, wenn sie um diesen Gefallen gebeten wurden. Bekamen sie 50 Cent dafür angeboten, waren weitaus weniger Spaziergänger bereit, anzupacken. "In einer geschäftlichen Beziehung erwartet man Gegenwert für eine Leistung, während eine gemeinschaftliche Beziehung dadurch geprägt ist, dass man hilft, wenn man gebraucht wird - unabhängig von einer Bezahlung", sagen Hartzband und Groopman. Natürlich sollten Ärzte anständig honoriert werden, "aber derzeit schlägt die Waage eindeutig zur ökonomischen Seite aus - auf Kosten der gemeinschaftlichen und sozialen Dimensionen der Medizin".

Dass Marktnormen wichtiger werden als das ärztliche Ethos, zeige sich auch in der Karriereplanung vieler Medizinstudenten. In den USA entscheiden sich immer mehr junge Ärzte für Radiologie, Anästhesie und Augenheilkunde. Das sind wichtige Disziplinen, die aber auch traditionell gut bezahlt werden und in denen sich der Zeitaufwand besser kalkulieren lässt als in anderen medizinischen Fächern. Es gibt zwar Ärzte, die dem Kostendruck in Krankenhäusern entfliehen und nach rein medizinischen Kriterien ihren Beruf ausüben wollen. Doch in der eigenen Praxis machen diese Ärzte absurderweise die Erfahrung, dass ihre Bezahlung umso geringer ausfällt, je intensiver und zeitaufwändiger sie sich einem Patienten widmen. Kommen Patienten mehrmals im Quartal, wird der Arzt irgendwann gar nicht mehr für seine Arbeit honoriert.

Im Gesundheitswesen muss sich noch viel ändern, damit der Patient stärker in den Mittelpunkt rückt. Erste Anregungen haben die Harvard-Mediziner: "Man sollte Ärzten nicht ständig den Geldwert ihrer Arbeit vorhalten", so Hartzband und Groopman. "Erfolgreiche und gute Medizin entsteht durch Kooperation, Kollegialität, Teamwork - genau diese Eigenschaften werden aber untergraben, wenn das Gesundheitswesen zum Marktplatz wird." WERNER BARTENS

Mehr Zuwendung gleich weniger Honorar

Gute Medizin zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass alle Patienten die richtige Therapie bekommen. Empathie ist mindestens ebenso wichtig, wird aber durch das zunehmende Gewinnstreben bedroht. Foto: Image Source

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Methan auf dem Mars

Woher das Gas stammt, stellt Forscher aber vor Rätsel

Der Rote Planet ist womöglich nicht so tot wie bislang gedacht. Auf dem Mars haben Astronomen Regionen ausgemacht, die von Zeit zu Zeit Methanwolken ausstoßen - ein Gas, das auf der Erde fast nur von Lebewesen produziert wird. Dass unter dem Marsboden Bakterien ihr Unwesen treiben, ist damit allerdings noch lange nicht gesagt. "Derzeit fehlen uns die Daten, um zu beurteilen, ob biologische oder geologische Prozesse das Methan produzieren", sagt Michael Mumma, Marsforscher der US-Raumfahrtbehörde Nasa. "Eines ist aber sicher: Der Planet lebt noch immer, und sei es nur im geologischen Sinne."

Bereits 2003 will Mumma eine erste Methanwolke auf dem Mars entdeckt haben. Auch die europäische Sonde Mars Express wurde 2004 fündig. Auf nachfolgenden Aufnahmen war das Methan allerdings wieder verschwunden. In der Fachwelt wurde die Entdeckung daher mit Skepsis aufgenommen - zumal sich niemand erklären konnte, woher das Gas stammt. Beobachtungen über mehrere Jahre und alle Jahreszeiten hinweg belegen nun, dass das Methan tatsächlich existiert. Es entweicht allerdings nur im Frühjahr und Sommer, dann jedoch in riesigen Mengen: Die größte Wolke, die die Astronomen beobachten konnten, umfasste 19000 Tonnen des Gases.

Offensichtlich, so die Spekulation der Forscher, führen steigende Temperaturen während des marsianischen Frühlings dazu, dass der Permafrostboden teilweise verschwindet. Dadurch öffnen sich Ritzen und Spalten, aus denen das gespeicherte Methan entweichen kann. Das bedeutet aber auch, dass der Stoff im Innern des Planeten in großen Mengen gespeichert sein muss. Bakterien könnten dafür durchaus verantwortlich sein: Auf der Erde sind mehrere Regionen bekannt, in denen es sich Mikroben in mehreren Kilometern Tiefe gut gehen lassen, während sie von Wasser, Wärme und Kohlendioxid leben. Unter der Permafrost-Decke des Mars kann Ähnliches passieren. Oder passiert sein. Denn das nun entdeckte Methan könnte schon vor Millionen Jahren von mittlerweile verschwundenen Bakterien produziert und nun lediglich ausgestoßen worden sein.

Gleiches gilt für geologische Prozesse, die zweite plausible Erklärung für den Methanfund. Auf der Erde bildet sich das Gas beispielsweise, wenn Eisenoxid in andere Mineralien umgewandelt wird. Auch geothermische Prozesse würden den an der Luft unbeständigen Stoff erzeugen. Allerdings gibt es keine Hinweise auf aktuelle vulkanische Aktivitäten auf dem Mars, das Gas müsste folglich in alten Vulkan-Strukturen gefangen sein, die es nun freigeben.

Was wirklich die Ursache der Methan-Wolken ist, wird nur eine Untersuchung vor Ort zeigen. Die nächste Mars-Mission der Nasa, das Mars Science Laboratory (MSL), könnte diese Aufgabe übernehmen. Der Rover ist darauf ausgelegt, die Zusammensetzung von Molekülen - und damit ihre Herkunft - zu ergründen. Allerdings werden solche Erkenntnisse noch etwas auf sich warten lassen: Wegen technischer Probleme ist die MSL-Mission gerade auf Ende 2011 verschoben worden. ALEXANDER STIRN

Mars SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schock fürs Leben

Radikaler Umbau der Wirtschaft lässt die Menschen früher sterben

Werden Unternehmen privatisiert, verändert das den betroffenen Wirtschaftszweig und verunsichert die Mitarbeiter. Viele von ihnen verlieren bei Umstrukturierungen ihren Job. Wird jedoch nicht nur ein Unternehmen privatisiert, sondern trifft dies wie in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ganze Industriezweige, hat das weitreichende Folgen für die Bevölkerung - bis hin zu einer verringerten Lebenserwartung. Zu diesem Ergebnis kommen britische Soziologen und Mediziner. Sie haben in einer Studie, die im Fachblatt The Lancet (online) veröffentlicht wurde, den radikalen Umbau von Wirtschaftssystemen untersucht.

Als sich die Forscher die Sterblichkeitsraten in 25 ehemals kommunistischen Ländern ansahen, stellten sie fest: Je mehr Menschen in einem Land nach der Wende zwischen 1991 und 1994 arbeitslos geworden waren, desto tiefer sank auch die Lebenserwartung. Ein entscheidender Faktor war die Art, wie die Wirtschaft umgestellt wurde: Länder wie etwa Ungarn oder Polen privatisierten ihre Unternehmen nach und nach und konnten so langsam stabile Marktstrukturen aufbauen. Hier stiegen die Arbeitslosenrate und auch die Sterblichkeit nur wenig. Wurden allerdings wie in Russland viele staatliche Unternehmen auf einen Schlag privatisiert und die Handelsregeln gleichzeitig liberalisiert, stieg die Arbeitslosenrate stark an und die Lebenserwartung fiel entsprechend.

Die Autoren kritisieren diese sogenannte Schocktherapie: Kapital könne einfach umgeschichtet werden, Menschen aber würden sich nicht so schnell an die neue Situation anpassen. Sozialer Stress und Verarmung führten zu mangelnder medizinischer Versorgung und einem ungesunden Lebensstil, dadurch sinke vermutlich die Lebenserwartung. "Länder wie China, Indien, Ägypten oder auch der Irak, die damit beginnen, große staatseigene Wirtschaftszweige zu privatisieren, sollten diese Erkenntnisse berücksichtigen", empfehlen die Autoren. EVA MARIA MARQUAR T

Bevölkerungsentwicklung Lebensqualität SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Splitterparteien ohne Erfolg

München - Die kleinen Parteien, die in Hessen antraten, erreichten sehr niedrige Wahlergebnisse. Die Freien Wähler, vor einem Jahr zum ersten Mal in Hessen angetreten, wurden von 1,6 Prozent der Wähler unterstützt (2008: 0,9 Prozent). Auch die Piratenpartei, die sich gegen Lauschangriffe wehrt, kam nur auf 0,5 Prozent der Stimmen (2008: 0,3 Prozent). Splittergruppen, die sich monothematisch mit Tierschutz, Familienfragen oder Seniorenbelangen beschäftigen, blieben sämtlich weit unter einem Prozent. hsm

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Acht Überhangmandate

München - Der hessische Landtag, der regulär 110 Sitze hat, bekommt zum ersten Mal Überhangmandate: Nach dem vorläufigen Endergebnis sind acht zusätzliche Sitze vorgesehen. Zu den Mandaten kommt es, weil die CDU 46 der 55 Direktmandate gewann - vier mehr, als nach dem Zweitstimmen-Ergebnis angemessen wären. Die Wahlkreis-Gewinner dürfen aber in jedem Fall in den Landtag einziehen. Damit die Zusammensetzung des Parlaments dadurch nicht verzerrt wird, gehen weitere vier Mandate zum Ausgleich an die anderen Parteien. fex

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Schulbildung und Wahlverhalten

München - Je gebildeter, desto grüner und liberaler - das ist eines der Ergebnisse aus Hessen. So stimmte bei der Landtagswahl beinahe die Hälfte der Hochschul-Absolventen für die FDP oder die Grünen. Die SPD verlor bei den Wählern mit höherer Schulbildung dramatisch. 55 Prozent der Akademiker, die 2008 noch SPD gewählt hatten, entschieden sich diesmal gegen die Sozialdemokraten. Damit landet die SPD in dieser Gruppe abgeschlagen auf dem vierten Platz, hat die Forschungsgruppe Wahlen ermittelt. Ließe man die Akademiker allein entscheiden, säßen im hessischen Landtag vier große Parteien mit ungefähr gleicher Stärke sowie eine kleine Fraktion der Linkspartei.

Den Kontrast dazu liefern die Hauptschüler. Ihr Votum vom Sonntag läuft beinahe auf das klassische Drei-Parteiensystem hinaus: Mehr als vierzig Prozent wählten die Union, dreißig Prozent die SPD, 15 Prozent die Liberalen - das erinnert an die Wahlergebnisse der siebziger Jahre. Könnten Hauptschüler allein über den Landtag bestimmen, würden es die Grünen nur knapp ins Parlament schaffen. Die Linken, die sich gerne als Partei der Modernisierungsverlierer sehen, bliebe sogar ganz draußen: Nur vier Prozent der hessischen Hauptschul-Absolventen wählten die Linkspartei. fex

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Mit den Kleinen auf Augenhöhe

Die einstigen Volksparteien CDU und SPD werden in manchen Städten von Liberalen und Grünen eingeholt

Von Ralf Husemann

München - Eine Wahl der Extreme. Vor allem eine Nichtwahl. Denn die Hessen, die diesmal keine Lust hatten, ihre Stimme abzugeben, bildeten mit 39 Prozent an diesem Sonntag die größte Gruppe. Sie bescherten dem Bundesland die bislang niedrigste Wahlbeteiligung. Allerdings ist so etwas in Deutschland nicht mehr unüblich. Zuletzt machten etwa in Bayern sogar nur 58,1 Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Besonders extrem war der gewaltige Absturz der SPD, die nicht nur ein landesweites Minus von 13 Prozentpunkten verkraften muss, sondern auch nur noch neun der 55 Direktmandate gewinnen konnte - vor Jahresfrist waren CDU mit 28 und SPD mit 27 direkt gewählten Abgeordneten noch etwa gleich stark, wie ja auch beim Gesamtergebnis, bei dem die Union nur ein Zehntel Vorsprung vor den Sozialdemokraten hatte. Da kann es die Genossen nur wenig trösten, dass erstaunlicherweise das Ansehen der Spitzenkandidaten Roland Koch (CDU) und Thorsten Schäfer-Gümbel ähnlich hoch ist: Der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen zufolge halten 41 Prozent Koch, aber immerhin 37 Prozent den vor kurzem noch völlig unbekannten "TSG" für den geeigneteren Ministerpräsidenten.

Die treuen Alten

Besonders auffallend ist bei dieser Wahl, dass die früheren "Volksparteien" inzwischen vielerorts auf Augenhöhe mit den gar nicht mehr so "Kleinen" geraten sind. Zwar hat die Union landesweit mit Abstand noch das vergleichsweise dickste Polster, dennoch konnte sie sich vom Absturz um zwölf Prozentpunkte vor einem Jahr nicht erholen und sich nur minimal um 0,4 Prozentpunkte verbessern.

Der Fall der SPD und die in manchen Wahlkreisen auch sehr mageren CDU-Resultate ließen nun aber FDP und Grüne nicht nur aufrücken - es gelang ihnen in manchen Städten sogar, Sozialdemokraten und Union zu überholen. So wurden die Grünen im Frankfurter Wahlkreis V (Stadtteile Bornheim, Nordend, Ostend) stärkste Partei mit 28,1 Prozent (wobei das Direktmandat allerdings an die CDU ging).

Auch in "Darmstadt-Stadt I" sind nach dieser Wahl keine großen Unterschiede mehr auszumachen. Hier rangiert die CDU mit 27,2 Prozent knapp vor den Grünen mit 25,9 und der SPD mit 21,9 Prozent. Grüne und FDP lieferten sich an mehreren Orten ein knappes Rennen mit den Sozialdemokraten. Im Frankfurter Wahlkreis IV (Niederrad, Oberrad, Sachsenhausen, Schwanheim) kam die SPD hinter CDU, Grünen und FDP gar mit 18,2 Prozent nur auf den vierten Rang. Die Liberalen lehrten die alterwürdige SPD öfters das Fürchten. In Kochs Wahlkreis, dem reichen "Main-Taunus I", erreichte sie nur noch 14,4 Prozent und wurde von der FDP mit 22,5 Prozent deklassiert.

Die Parteien der Berliner großen Koalition können sich bei ihren ältesten Anhängern bedanken, dass sie nicht noch weiter abstürzten. Das trifft noch mehr auf die CDU als auf die SPD zu. Denn immerhin noch 46 Prozent der über 60-Jährigen entschieden sich erneut für die Union, wie die Forschungsgruppe Wahlen herausfand. In allen anderen Altersgruppen kam die CDU nur noch auf 32 bis 33 Prozent. Bei der SPD ist das Alter nicht ganz so bedeutsam. Aber während von den Jungen und den Mittelalten zwischen 15 und 19 Prozent der Partei den Rücken kehrten, taten dies bei den über 60-Jährigen "nur" sechs Prozent. Insgesamt ist die übrig gebliebene Wählerschicht der Sozialdemokratie aber mit 22 bis 26 Prozent relativ homogen, was die Partei erschreckend sein muss. Dies trifft, mit umgekehrten Vorzeichen auch auf die erstaunlich erstarkte FDP zu, die in allen Altersgruppen zwischen sechs und sieben Prozentpunkte zulegte und dort auch mit 15 bis 17 Prozent überall ähnlich viele Anhänger hat.

Obwohl die Grünen in die Jahre gekommen sind, ist ihre Anhängerschar, entgegen manchen Annahmen, noch relativ jung geblieben. Während die 60-plus-Generation (zu denen ja auch noch unerschütterliche 68er zählen) die einstmals alternative Partei nur zu sieben Prozent wählte, bekam sie bei den Jüngeren zwischen 17 und 19 Prozent. Bleibt noch die Linke, die sich trotz Finanzkrise und Kapitalismus-Diskussion lediglich um 0,3 Prozentpunkte verbessern konnte und gerade noch in den Landtag rutschte. Auch sie hat, ein bisschen überraschend, mit vier Prozent bei den Ältesten die wenigsten Anhänger, von den Jüngeren entschieden sich zwischen fünf und sieben Prozent für die linke Partei. (Seite 4)

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Rechts und chancenlos

München - NPD und Republikaner scheitern deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde: Die NPD erhält - wie schon im Jahr 2008 - 0,9 Prozent der Stimmen, die Republikaner bekommen 0,6 Prozent (2008: 1,0). In einzelnen Wahlkreisen zeigt sich, wie sehr sich die beiden rechten Parteien Konkurrenz machen: Erreicht die NPD wie in Hersfeld 2,0 Prozent, landen die Republikaner bei 0,3 Prozent. Doch selbst beide Parteien zusammengenommen bleiben in allen 55 hessischen Wahlkreisen sehr deutlich unter der Fünf-Prozent-Hürde. fex

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Wie die Wähler wandern

CDU: Die Union erreicht prozentual ein minimal besseres Ergebnis als 2008. Weil aber die Wahlbeteiligung sank, ging die absolute Zahl der CDU-Wähler zurück: Diesmal wählten 45 000 Menschen weniger die Union als vor einem Jahr. Jeder zehnte CDU-Wähler von 2008 entschied sich diesmal für die FDP, so die Forschungsgruppe Wahlen. Zulauf erhielt die Union von einigen, die zuletzt SPD gewählt hatten (plus 36 000) sowie aus der Gruppe der Nichtwähler.

SPD: Die Zahl der SPD-Wähler halbierte sich innerhalb eines Jahres beinahe. Sie sank von 1,006 Millionen auf 615 000. Die Verluste entstanden, weil viele der SPD-Wähler von 2008 diesmal nicht zur Wahl gingen (nach Analyse der Forschungsgruppe Wahlen knapp 200 000) oder die Grünen wählten (etwa 120 000). Die Linkspartei erschien wenigen, die im Vorjahr SPD gewählt hatten, attraktiv: 8000 Stimmen verloren die Sozialdemokraten netto an die Linken.

FDP: Die Liberalen bekamen Stimmen von gut 420 000 Wählern - über 150 000 mehr als vor einem Jahr (plus 62 Prozent). Sie profitierten enorm von der Wählerwanderung: Mehr als 90 000 Ex- CDU-Wähler votierten für die FDP; dazu kamen gut 30 000 Stimmen von den Sozialdemokraten. Sogar im Lager der Nichtwähler gewann die FDP, die dort unterm Strich 30 000 Stimmen holte.

Grüne: Die Grünen haben im Vergleich zu 2008 fast 150 000 Stimmen dazugewonnen - sie wurden diesmal von gut 350 000 Menschen gewählt. Der Erfolg ging zu Lasten der SPD: Mehr als 120 000 SPD-Wähler liefen über.

Linke: Stabile Verhältnisse bei den Linkswählern: Geringe Gewinne und Verluste; die Stimmenanzahl bleibt mit 139 000 fast konstant. fex

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Wahlkreis-Nr.WahlkreisCDUSPDFDPGrüneLinke
Direkt gewählt 1Kassel-Land I 32,7 (29,8) 34,3 (47,0)
13,2 (7,5) 11,7 (6,3) 4,8 (5,8) Brigitte Hofmeyer SPD 39,22
Kassel-Land II 31,1 (27,9) 36,5 (49,1) 12,5 (6,9) 11,8 (6,5) 5,2 (6,3) Ulrike Gottschalck
SPD 41,73Kassel-Stadt I 28,7 (26,8) 25,7 (39,9) 13,8 (8,6)
21,7 (14,1) 7,7 (7,8) Eva Kühne-HörmannCDU 32,44Kassel-Stadt II
28,4 (26,0) 32,2 (45,5) 11,1 (6,2) 15,9 (9,0) 9,2 (9,3) Wolfgang Decker SPD
38,35Waldeck-Frankenberg 38,2 (37,5) 26,9 (37,7) 17,3 (10,7) 10,2 (5,6)
4,4 (4,6) Wilhelm Dietzel CDU 43,66Waldeck-Frankenberg II 36,9 (36,1)
28,1 (39,5) 16,2 (9,3) 11,2 (6,0) 4,7 (5,4) Claudia Ravensburg CDU 40,4
7Schwalm-Eder I 29,8 (27,2) 37,2 (48,0) 14,9 (9,1) 9,8 (5,6) 5,0 (5,6)
Günter Rudolph SPD 41,08Schwalm-Eder II 32,6 (30,9) 34,2 (44,0)
14,6 (9,0) 8,8 (5,2) 5,1 (5,5) Regine Müller SPD 38,89
Eschwege-Witzenhausen 35,6 (32,4) 33,0 (43,8) 12,5 (7,0) 9,3 (6,5) 5,8 (6,6) Dirk Landau
CDU 39,010 Rotenburg 36,0 (33,1) 35,2 (46,2) 12,9 (7,0)
6,9 (4,0) 5,2 (5,8) Dieter Franz SPD 41,311 Hersfeld
34,8 (34,2) 34,3 (44,9) 14,0 (7,5) 7,5 (4,2) 4,7 (4,4) Torsten WarneckeSPD
39,512 Marburg-Biedenkopf I 35,0 (34,3) 30,3 (44,4) 14,2 (7,6) 11,1 (4,8)
5,9 (5,2) Christean Wagner CDU 40,313 Marburg-Biedenkopf II 31,3 (30,9)
28,5 (42,3) 13,2 (8,3) 17,0 (9,0) 7,5 (6,6) Thomas Spies SPD 38,5
14 Fulda I 48,8 (49,2) 16,1 (26,9) 17,8 (10,2) 10,0 (5,5) 4,0 (4,4)
Walter Arnold CDU 53,415 Fulda II 49,4 (50,3) 16,1 (26,9)
17,6 (9,4) 9,5 (4,7) 3,9 (4,2) Norbert Herr CDU 54,416
Lahn-Dill I 45,5 (44,2) 22,4 (35,9) 14,5 (7,2) 8,6 (3,7) 4,5 (4,4) Clemens Reif
CDU 49,617 Lahn-Dill II 37,4 (36,4) 26,3 (39,8) 15,1 (8,4)
11,5 (5,3) 4,8(5,0) Hans-Jürgen IrmerCDU 42,418 Gießen I
29,4 (29,6) 29,9 (42,0) 14,3 (9,2) 16,2 (8,4) 6,2 (5,7) Gerhard Merz SPD
38,519 Gießen II 34,9 (36,6) 27,7 (38,7) 15,9 (9,0) 11,4 (5,5)
4,6 (4,4) Volker Bouffier CDU 42,620 Vogelsberg 36,5 (36,0)
27,0 (39,8) 15,8 (9,1) 9,5 (4,4) 5,3 (4,9) Kurt WiegelCDU 41,5
21 Limburg-Weilburg I 48,1 (49,2) 17,6 (27,8) 17,3 ( 9,7) 8,5 (5,0) 4,3 (4,1)
Helmut PeuserCDU 52,122 Limburg-Weilburg II 42,8 (42,5) 23,8 (35,5)
15,3 (8,5) 9,0 (4,9) 4,4 (4,2) Karlheinz Weimar CDU 47,223
Hochtaunus I 43,2 (44,2) 15,4 (26,8) 20,8 (13,7) 13,5 (7,8) 4,3 (4,1) Holger Bellino
CDU 50,424 Hochtaunus II 43,9 (45,2) 14,6 (25,2) 21,8 (14,7)
13,6 (8,1) 3,8 (3,7) Jürgen Banzer CDU 52,925 Wetterau I
39,6 (40,3) 20,1 (32,4) 18,0 (10,8) 14,1 (7,6) 4,4 (4,4) Tobias Utter CDU
42,326 Wetterau II 37,1 (36,9) 27,1 (37,5) 15,6 (8,1) 9,6 (4,9)
5,0 (4,6) Klaus DietzCDU 41,427 Wetterau III 40,3 (40,7)
22,6 (34,5) 17,3 (9,5) 12,0 (6,1) 4,2 (4,2) Norbert Kartmann CDU 45,1
28 Rheingau-Taunus I 40,1 (39,0) 19,7 (34,3) 19,4 (12,1) 13,4 (7,3) 4,1 (3,5)
Petra Müller-KlepperCDU 45,729 Rheingau-Taunus II 39,7 (39,1) 21,1 (35,8)
17,9 (9,7) 13,8 (7,6) 4,3 (3,7) Peter Beuth CDU 46,630
Wiesbaden I 34,7 (34,0) 20,9 (35,5) 16,9 (10,6) 18,2 (10,8) 6,4 (5,6) Astrid Wallmann
CDU 39,431 Wiesbaden II 39,2 (38,3) 21,4 (34,8) 17,7 (10,7)
13,7 (7,6) 4,8(4,4) Horst Klee CDU 44,832 Main-Taunus I
43,6 (45,8) 14,4 (24,6) 22,5 (15,0) 12,9 (7,7) 3,5 (3,5) Roland KochCDU
55,333 Main-Taunus II 40,0 (39,5) 16,9 (30,2) 18,3 (11,7) 16,8 (10,3)
4,2 (3,6) Axel WintermeyerCDU 46,334 Frankfurt am Main I 39,6 (40,2)
21,6 (34,0) 14,1 (7,7) 12,8 (6,5) 7,4 (6,3) Alfons Gerling CDU 45,5
35 Frankfurt am Main II 30,6 (30,9) 21,2 (36,3) 15,5 (9,6) 20,0 (10,8) 9,2 (7,9)
Ulrich CasparCDU 36,036 Frankfurt am Main III 32,4 (33,2) 18,5 (31,6)
19,6 (13,4) 19,0 (11,6) 7,9 (7,0) Ralf-Norbert BarteltCDU 38,037
Frankfurt am Main IV 34,8 (35,2) 18,2 (30,7) 18,4 (12,4) 19,1 (11,7) 6,5 (6,5) Michael Boddenberg
CDU 41,938 Frankfurt am Main V 25,7 (25,5) 19,2 (35,5) 15,9 (11,0)
28,1 (17,0) 8,8 (8,3) Bettina WiesmannCDU 30,739 Frankfurt am Main VI
35,4 (36,4) 20,6 (33,0) 16,3 (9,8) 16,4 (9,8) 7,1 (6,4) Gudrun Osterburg CDU
41,240 Main-Kinzig I 40,2 (40,0) 22,9 (35,4) 16,3 (8,9) 11,8 (6,2)
5,0 (4,8) Hugo Klein CDU 44,941 Main-Kinzig II 38,7 (39,5)
20,9 (33,4) 16,5 (8,9) 13,5 (7,0) 6,1 (5,8) Aloys Lenz CDU 43,4
42 Main-Kinzig III 40,2 (40,9) 22,2 (35,0) 16,6 (8,3) 10,9 (5,2) 5,1 (4,7)
Rolf MüllerCDU 45,843 Offenbach-Stadt 33,9 (34,0) 21,2 (34,8)
14,2 (8,4)18,4 (10,5) 7,5 (6,6) Stefan Grüttner CDU 38,044
Offenbach Land I 38,6 (40,1) 19,1 (32,9) 17,9 (10,0) 16,4 (9,3) 4,7 (4,2) Hartmut Honka
CDU 43,345 Offenbach Land II 41,3 (42,9) 18,5 (30,8) 18,0 (10,2)
13,4 (7,1) 5,0 (4,7) Volker Hoff CDU 46,446 Offenbach Land III
41,7 (42,2) 18,2 (31,3) 17,7 (10,3) 14,2 (7,6) 4,1 (3,8) Frank Lortz CDU
46,347 Groß-Gerau I 33,8 (32,0) 25,7 (39,9) 13,9 (7,3) 15,5 (9,6)
6,2 (5,3) Patrick BurghardtCDU 36,948 Groß-Gerau II 35,3 (34,0)
24,1 (39,0) 15,0 (7,8) 16,0 (8,9) 5,5 (4,8) Günter SchorkCDU 38,3
49 Darmstadt-Stadt I 27,2 (26,9) 21,9 (39,7) 14,3 (8,6) 25,9 (14,6) 7,7 (6,7)
Rafael Reißer CDU 32,550 Darmstadt-Stadt II 31,5 (30,9) 21,5 (39,4)
16,7 (10,0) 21,2 (11,1) 5,8 (5,0) Karin Wolff CDU 33,351
Darmstadt-Dieburg I 33,7 (33,1) 23,0 (39,9) 17,1 (9,5) 17,3 (9,0) 5,0 (4,4) Gottfried Milde
CDU 37,052 Darmstadt-Dieburg II 38,3 (37,5) 23,8 (37,9) 15,6 (8,6)
13,4 (6,9) 4,9 (4,6) Silke Lautenschläger CDU 42,153 Odenwald
36,4 (35,7) 26,8 (40,3) 14,8 (7,3) 11,5 (5,8) 6,3 (5,7) Judith LannertCDU
40,954 Bergstraße I 41,0 (40,7) 21,8 (35,9) 16,3 (8,1) 11,7 (5,7)
4,6 (4,3) Alexander Bauer CDU 46,055 Bergstraße II 40,0 (39,4)
22,5 (35,8) 16,1 (9,1) 12,7 (6,6) 3,9 (3,6) Peter Stephan CDU 44,8
Zweitstimmen-Ergebnisse in Prozent. Wahlergebnisse von 2008 in Klammern . Quelle: Landeswahlleiter
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Blick in die Presse

Tiefe Krise

Der Corriere della Sera (Italien) sieht die SPD in einer Sackgasse:

"Seit dem Wahlsonntag in Hessen steht die SPD vor der Gewissheit, in einer politischen und einer Bündnis-Krise zu stecken. Sie muss eine Strategie finden. Eine Allianz mit den Grünen wird sie nicht an die Regierung bringen, das würde numerisch nicht reichen. Ein Zusammengehen mit der Linken hieße für die SPD, das Kennzeichen der Partei der Mitte zu verlieren. Es ist eine Sackgasse, und an diesem Punkt hofft sie auf ein Ergebnis der Bundestagswahl, das zu einer neuen großen Koalition zwänge. Diese Tatsache aber könnte im Wahlkampf zu ihrer größten Schwäche werden."

Verlorenes Halbjahr

Nach Meinung von El País (Spanien) stehen der EU sechs Monate Stillstand bevor:

"Die internationale Lage verlangt eine entschlossene Haltung der EU-Staaten. Es wird jedoch praktisch zu einem Ding der Unmöglichkeit, wenn eine Regierung

wie die tschechische die EU-Ratspräsidentschaft führt, die den Euro-Skeptizismus auf ihre Fahnen geschrieben hat. Kein Land ist gezwungen, Mitglied der EU zu sein. Von daher ist die Haltung des EU-skeptischen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Klaus inkonsequent. In den Außenministerien der EU-Staaten geht die Furcht um, dass dies ein verlorenes Halbjahr für die EU sein wird."

Zweideutiges Ergebnis

Die Neue Zürcher Zeitung (Schweiz) glaubt, dass keine Seite im Gaza-Konflikt gewonnen hat:

"Effektiv hat der dreiwöchige Krieg die Lage im Kriegsgebiet nur verschlimmert, aber keiner der beiden Seiten einen Gewinn gebracht: Weder können die Einwohner Südisraels darauf vertrauen, dass keine Raketen mehr gegen sie abgefeuert werden, noch hat die Bevölkerung

Gazas eine Garantie, dass die israelische Belagerung zu Ende ist. Das zweideutige Ergebnis des Krieges im Gazastreifen und die prekäre Waffenruhe verlangen von den Friedensmaklern ein schnelles und wirksames Eingreifen."

Gemischtes Amerika

Für Libération (Frankreich) ist Barack Obama der Präsident aller Amerikaner, weil die Weißen im Land bald in der Minderheit sind:

"Barack Obama hat eine nie dagewesene Unterstützung der Bürger. Auch von jenen, die nicht für ihn gestimmt haben, nun aber stolz darauf sind, dass Amerika auf diese Weise Geschichte schreibt. Seine Wahl lässt ein gemischtes Amerika erahnen, in dem die Weißen bald in der Minderheit sein werden. Und damit ist Obama der Präsident aller Amerikaner."

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Mülldeponie für wertlose Papiere

Eine "Schlechte Bank" für alle faulen Kredite ist logisch, doch zahlen muss dafür die Finanzbranche

Von Alexander Hagelüken

Überall ertönen die schaurigen Rufe, in Deutschland, England, Amerika. Sie klingen wie ein Chor verlorener Seelen: Die Banken wollen mehr Geld vom Staat. Schon wieder die Banken? Noch mehr Geld? So ist es. Geht es nach den Finanzmanagern, genügen all die Rettungsschirme nicht. Dabei stellt die Bundesregierung schon eine halbe Billion Euro bereit und die USA noch mehr. Bereits dieses Geld fehlt den Bürgern heute und es wird künftigen Generationen fehlen. Die Politiker müssen besser prüfen, welche Hilfe die Kreditinstitute wirklich brauchen. Sie müssen endlich die Steuerzahler schützen und nicht nur die Banken.

Zunächst bedeuten die Meldungen aus Deutschland, England, Amerika, dass die Finanzkrise noch einmal eskaliert. Schon hatte sich das Publikum den verzweifelten Versuchen zugewandt, die Weltrezession durch Konjunkturpakete zu mildern. Die Probleme der Banken, Wurzel allen Krisen-Übels, schienen durch die Rettungsschirme abgedeckt. Doch das Finanzkrisen-Monster ist nicht verschwunden, es lauerte nur ein paar Wochen im Dunkeln. Nun erhebt es nach einer kurzen Atempause erneut das Haupt und bedroht das gesamte Finanzsystem. Die Geldhäuser verlieren durch all die faulen Nicht-Mehr-Wertpapiere in ihren Tresoren noch mehr als bisher geahnt. Deshalb meldet die Deutsche Bank das höchste Minus ihrer 140-jährigen Geschichte und die Royal Bank of Scotland einen schlimmeren Verlust als je eine Firma in Großbritannien. Ein gefährlicher Kreislauf droht: Die Verluste fressen das Kapital der Banken, das der Staat häufig gerade auffüllte - und rauben den Banken so die Mittel, um die Wirtschaft mit den notwendigen Darlehen zu versorgen.

Eine Kreditklemme würde die Rezession noch viel tiefer ausfallen lassen. Regierungen und Steuerzahler auf dem ganzen Erdball haben daher ein Interesse, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Die Frage ist, wie sie es am besten tun. Die Finanzbranche möchte ihre faulen Wertpapiere in eine "Bad Bank" entsorgen, eine Schlechte Bank, damit ihr Kapital nicht mehr schmilzt und sie weiter Kredite vergeben kann. Dieser Weg ist logisch. Die deutsche und andere Regierungen müssen aber verhindern, dass sie die Kosten für eine solche Entsorgung tragen. Wie bei jeder anständigen Deponie sollen jene zahlen, die den Giftmüll produzierten: Die Geldhäuser selbst. Finanzminister Peer Steinbrück rechnet mit 200 Milliarden Euro Kosten durch eine Schlechte Bank. Das entspricht dem Bundesetat für Bildung und Forschung für 20 Jahre - keine Summe, die man der Finanzbranche in den Schlund werfen darf.

Wenn die Bundesregierung nachgibt, begeht sie erneut einen Fehler. In der Finanzkrise gab es schon mehrere solcher Fehler, die den Steuerzahler teuer zu stehen kamen. Die Mittelstandsbank IKB zu retten, deren Pleite das Finanzsystem kaum gefährdet hätte, war ein solcher. Milliarden in die Landesbanken zu pumpen, ohne die meisten von ihnen abzuschaffen, ist ein weiterer Fehler. Ebenso verkehrt ist es, der Allianz die Entsorgung der Dresdner Bank abzunehmen, statt den reichen Versicherungskonzern selbst zahlen zu lassen.

Wenn es zu einer Schlechten Bank kommt, um das Finanzkrisen-Monster zu zähmen, bedarf es also strikter Regeln. Wie es geht, zeigten Anfang der Neunziger Jahre die Schweden. Sie schufen keine große Bad Bank, sondern gruben eine eigene Deponie vor jedem Geldhaus und kontrollierten die Geschäfte der Banken genau. Die Finanzinstitute waren für ein paar Jahre entlastet, sie hatten die stinkenden Papiere solange aus den Büchern, bis sie sich wieder verkaufen ließen. Sie wurden aber nie die Verantwortung für ihre Investments los. Die Schweden stellten die Interessen der Steuerzahler über die der Bankaktionäre. Daran sollte sich die Bundesregierung orientieren. Sie kann den Müllkutscher spielen, doch es wäre absurd, wenn sie auch noch die Müllgebühren bezahlt.

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Der Schlaf der Demokratie

Hessen ist überall: Wie gesund oder wie gefährlich ist der anhaltende Trend zum Nichtwählen?

Von Heribert Prantl

In Japan ist keiner irritiert, wenn die Zuhörer bei einem Vortrag einschlafen. Der Schlaf in aller Öffentlichkeit ist dort Teil der Kultur; man nennt ihn "Inemuri". Inemuri zielt auf schnelle Erholung, gilt als Fitnessprogramm und als Kurzschlafmethode zum Gescheiterwerden. Verwunderten Referenten aus Europa wird erklärt, dass sie den Schlaf ihrer Zuhörer bitte als landestypisches Zeichen der Zustimmung bewerten möchten.

Man muss zur Inemuri-Erklärung greifen, um dem stabilsten politischen Trend in Deutschland, der sich soeben wieder in Hessen gezeigt hat, etwas Gutes abzugewinnen. Es ist der Trend zum Nichtwählen: Die Demokratie schläft ein. Die "Partei der Nichtwähler", wie man gern sagt, ist längst die größte Partei in Deutschland. Es gibt Leute, die das als Ausdruck grundsätzlicher Zufriedenheit der Bürger betrachten, als Zeichen einer gereiften, einer in sich ruhenden Demokratie. Das ist sozusagen das japanische Erklärungsmuster: Wahlenthaltung als Erholungsschlaf. Die Nichtwähler sind nach dieser Erklärung halt gerade nicht so gut drauf, machen daher Pause. Wer schläft, sündigt nicht, sagt schließlich auch der Volksmund. Ins Wahlpolitische übersetzt: Wer nicht wählt, wählt wenigstens nichts Falsches. An niedriger Wahlbeteiligung ist noch keine Demokratie gescheitert, siehe USA, siehe Schweiz; sehr wohl aber daran, dass es Extremisten gelang, in Massen politisch desinteressierte Nichtwähler für sich zu gewinnen.

Es wäre gefährlich, daraus ein Lied zum Lob des Nichtwählers zu komponieren - nach dem merkwürdigen Motto: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto zufriedener sind die Bürger. Die griffige Bezeichnung "Partei der Nichtwähler" gaukelt eine Homogenität vor, die es nicht gibt. Das Einzige, was die Nichtwähler verbindet, ist die Tatsache, dass sie nicht wählen. Viele der Nichtwähler befinden sich nicht im Kurzzeit-, sondern im Langzeitschlaf. Den typischen Nichtwähler gibt es nicht. Da gibt es die, die nur diesmal nicht gewählt, und die, die schon ewig nicht mehr gewählt haben. Es gibt die aktuell Frustrierten und die generell Desinteressierten. Es gibt die Nichtwähler, für die ihr Verhalten gezielter politischer Protest ist. Dazu mögen 192 000 bisherige hessische SPD-Wähler zählen, die nicht zu den Grünen (122000), zur CDU (36000), zur FDP (31000) oder zu den Linken (8000), sondern gar nirgendwohin gegangen sind. Gefährlich wird es dann, wenn sich Nichtwähler dauerhaft aus dem demokratischen System verabschieden. Dann leidet die demokratische Legitimation. Dann werden selbst aus stattlichen Prozenten potemkinsche Prozente.

Schon jetzt ist es so: Würden die Nichtwähler wie eine Fraktion gerechnet und die Zahl der zu besetzenden Sitze entsprechend sinken, dann wären viele Parlamente nur noch knapp halb so groß. Eine halbierte Volksvertretung ist eine prekäre Volksvertretung. Und eine Demokratie, zu der immer mehr Menschen auf Distanz gehen, ist keine inemurische, sondern eine schlechte Demokratie.

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Amerikas neues Gesicht

Von Kurt Kister

Amerika ist ein Land der großen Gesten. Besonders deutlich wird das, wenn es einen neuen Präsidenten gewählt hat und der sein Amt übernimmt. Die Feierlichkeiten dafür dauern Tage und sie sind voller Pathos und Ernst, manchmal auch von einer anrührenden Lockerheit, die es in Deutschland bei offiziellen Anlässen niemals gibt. Gewiss, bei uns haben die Nazis staatliches Pathos mit Nagelstiefeln für etliche Generationen zertrampelt. Was noch geblieben ist von der Bereitschaft, die res publica zu feiern, hat der SED-Staat mit Fahnenwäldern und Militärparaden endgültig lächerlich gemacht. Ein neuer Kanzler wird in einer eher unöffentlichen Zeremonie huschhusch im Bundestag vereidigt; für andere Anlässe, mit denen man Staat machen und ihn zeigen könnte, gibt es Streichquartette, Seniorenreden und hinterher blöde Witze von TV-Komödianten.

Barack Obama wird vor der marmorschweren Kulisse des Kapitols den Amtseid schwören. Er wird die Hand legen auf eine alte Bibel und sich einreihen in die Schar jener Männer, die seit George Washington Amerika regiert und die Welt beeinflusst haben. Die Bibel, auf die Obama schwört, gehörte einst Abraham Lincoln, jenem Präsidenten, der als Bewahrer der Einheit der USA und als ein Urvater der Emanzipation der Schwarzen gilt. Lincolns Bibel ist ein Symbol für etliches, was gut ist an Amerika, auch wenn auf den Stufen des Kapitols schon Präsidenten vereidigt wurden, die manches schlechter gemacht haben im Land. Bei der Inauguration reihen sich Symbole wie an einer Kette aneinander, die den Neuen am Ende ins Weiße Haus führen.

Die Deutschen haben Inauguration als Lehnwort übernommen. Begriffe wie Einschwörung, Amtseinführung, Vereidigung sind nicht hinreichend - allein das "-ung" am Ende dieser Wörter weist darauf hin, dass bei uns ein Regierungswechsel nur so etwas ist wie ein bedeutender Verwaltungsakt. Zur Inauguration aber gehört die Geschichte der Präsidentschaft - ein Bürgerkönigtum, das dem Inhaber Macht und Status verleiht, wie sie ein von koalitionärer, mühsamer Mehrheit im Parlament gewählter Premierminister nie erhalten kann. Nicht von ungefähr nummerieren die Amerikaner ihre Präsidenten seit George Washington - Lincoln der 16., Nixon der 37. und Obama nun eben der 44. Präsident. Man tut das, wenn man sich in einer ungebrochenen Reihe seit Anfang einer Epoche, vielleicht sogar seit dem Beginn der erinnerungswürdigen Zeit sieht - bei Königen, Päpsten oder eben US-Präsidenten.

Am Dienstag übernimmt nicht nur ein Mann ein Amt, sondern auch ein Amt einen Mann. Der Einzug ins Weiße Haus steht am Ende der Inaugurationsfeierlichkeiten, denn damit ist der Neue angekommen. Das Weiße Haus - Wohnung, Büro, Repräsentationsbühne, Nationalheiligtum - ist steingewordener Ausdruck der Tatsache, dass jeder, der zum Präsidenten gewählt wird, in die Geschichte eintritt, zumindest in die Geschichte einer Nation, die sich über nichts in der Welt so sicher ist wie über ihre eigene Bedeutung: God's own country.

Der zwar nicht von Gott gesandte, aber vom Volk gewählte Präsident ist ein Spiegel dieses Volkes. In aller Regel waren Amerikas Präsidenten weiße Männer jenseits der Fünfzig. Lange haben sie den mainstream in Amerika verkörpert, aberdas hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Obamas Vorgänger Bush stand nur noch für eine Minderheit in Amerika: Weiße konservative Christen, deren Werte im nicht sehr dicht besiedelten Mittel- und Südwestteil des Landes verankert sind. Von der Überzeugung und allemal vom politischen Verhalten war Bush ein redneck, ein eher polternder Provinzler, derer sich auch jene in Amerika schämen, die große Städte und endlose suburbs nicht mögen.

Auch wenn es im Süden und im Westen jene Typen mit dem Gewehr im Pickup noch lange geben wird, hat sich Amerika in den letzten dreißig Jahren dramatisch gewandelt. Es ist, nicht in allen Regionen, eine multi-ethnische Gesellschaft geworden, in der Hautfarbe immer häufiger zwar noch identitätsbestimmend, aber nicht mehr schicksalsprägend. Die manchmal an religiöse Ergriffenheit erinnernde Begeisterung, die Obama entgegenschlägt, hat auch damit zu tun: Obama widerlegt jene Theorien, die weltweit den Zusammenstoß der Kulturen und in Amerika selbst den Konflikt der Volksgruppen befürchten oder herbeireden wollen. Doch, Barack Obama ist das neue Gesicht Amerikas - und daran können sich vielleicht am schwersten der weiße Sheriff in Alabama oder der Farmer in Nebraska gewöhnen.

Ob Präsident Obama eine grundsätzlich andere Politik machen wird, weil er anders sozialisiert ist und anders aussieht, ist ungewiss. In Deutschland regiert Angela Merkel, die erste Kanzlerin, auch nicht anders als das ein taktisch lavierender CDU-Mann täte. Trotzdem gewinnen Szenen aus den Tagen der Inauguration besondere Bedeutung. Beim Konzert vor dem Lincoln Memorial sangen der alte Pete Seeger und der nicht mehr junge Bruce Springsteen den patriotischen Gassenhauer "This land is your land, this land is my land". Sie schauten dabei den schwarzen, jung wirkenden Obama an. Ja, dieses Land ist jetzt sein Land - für mindestens vier Jahre.

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Schwarz-Rot-Gelb

Von Nico Fried

Man muss zunächst ein paar Dinge klarstellen: Jörg-Uwe Hahn ist nicht der neue Ministerpräsident in Hessen und Guido Westerwelle nicht der neue Bundeskanzler. Die FDP herrscht keineswegs in den fünf größten Bundesländern, sie regiert dort lediglich mit - und zwar immer als kleiner Koalitionspartner der Union. Deshalb sind auch die 50 Millionen Bürger, die in diesen Ländern leben, nicht alle FDP-Wähler. Und die Liberalen haben im Bundesrat auch keine Mehrheit gewonnen, die große Koalition hat sie verloren.

Dennoch verleitet der Jubel über das Ergebnis in Hessen manchen Freidemokraten womöglich dazu, sich nun zu überschätzen. Das entspräche der Tradition der FDP, die ein bisschen Macht schon immer zu ziemlich viel Bedeutung aufgeblasen hat (eine Rolle, die in den Jahren liberaler Machtlosigkeit die CSU alleine übernahm). Für so bedeutend wurde die FDP einmal gehalten, dass die Veteranen dieser Ära noch heute wie aktive Politiker behandelt werden und manche sich mehr davon versprechen, mit Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff oder Gerhart Baum zu reden als mit Dirk Niebel oder Cornelia Pieper.

Richtig aber ist schon: Die große Koalition wird ab sofort vor allem auf die Hilfe der heutigen FDP angewiesen sein. Was Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Horst Seehofer zusammenbasteln und Union und SPD im Bundestag beschließen, findet künftig am schnellsten eine Mehrheit im Bundesrat, wenn auch die Liberalen mitmachen. Guido Westerwelle hat nach Jahren des Darbens als Parteichef endlich ein wenig echten Einfluss. Er muss nicht mehr im Bundestag alles besser wissen, er darf es jetzt auch besser machen. Er muss nicht mehr nur von Verantwortung reden, er darf verantwortlich handeln. Wenn er kann.

Das ist schön für Westerwelle. Und man muss schon anerkennen, dass er in der Opposition eine Menge Geduld und Durchhaltevermögen aufgebracht hat. Seine neue Rolle hat aber eine Kehrseite: Westerwelle hängt jetzt mit drin. Aus der großen wird eine riesengroße Koalition. Ihre guten Wahlergebnisse in den Ländern, einschließlich Hessen, erzielte die FDP aber, solange sie mit dem Kompromisslertum in Berlin noch nichts zu tun hatte. Übrigens: Die Grünen haben es da leichter. Sie profitieren wie die FDP vom Verdruss an der großen Koalition, müssen aber bis zur Bundestagswahl nicht ins Joch der Verantwortung.

Die FDP aber wird nun selber Kompromisse machen müssen. Aus dem Geist, der stets verneint, wird nun der Geist, der stets verjeint. Der scharfe Ton, den Westerwelle in seinen Reden pflegte, könnte in den Niederungen des Vermittlungsausschusses alsbald verfisteln. Das Konjunkturpaket, in dem der FDP-Chef neulich im Bundestag noch "großen Mist" erkannt hat, muss er bald mitbeschließen lassen, mit kleinen Änderungen, die er zu großen Siegen erklären wird. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass die Bürger einen solchen Schwindel schnell erkennen.

Angela Merkel steht in dieser schwarz-rot-gelben Koalition ein Déjà-vu bevor. Als Ministerin im Kabinett von Helmut Kohl hat sie bereits erlebt, wie die kleine FDP der großen Union manchen unliebsamen Kurs diktierte. Merkel ist das nicht in guter Erinnerung, ihr Verhältnis zur FDP reserviert geblieben. Es spricht auch nichts dafür, dass sie sich mit Guido Westerwelle und Hermann Otto Solms in der Finanz- und Wirtschaftskrise wohler gefühlt hätte als mit Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier. Für die große Mehrheit in der Union mag die FDP der natürliche Koalitionspartner sein, bei Merkel sieht man sich oft veranlasst, noch einen Satz dazu zu denken: Wenn's denn sein muss.

Deshalb könnte Westerwelle versucht sein, vor allem solche Forderungen zu stellen, die in der Union jenseits von Merkel Zuspruch finden. Er wird seine Chance suchen, die Kanzlerin von ihrem Schmusekurs mit der SPD zurückzuzwingen auf den Weg, den er für den Pfad schwarz-gelber Tugend hält. Wenn aber die FDP das Profil entwickelt, das sich viele Christdemokraten eigentlich von ihrer Partei wünschen, dann könnten die Liberalen für die Union das werden, was die Linke für die SPD schon ist.

Noch schwerer mit der neuen Rolle der Liberalen haben es die Sozialdemokraten. Jenseits der verhassten großen Koalition bietet die FDP in einer Ampel mit den Grünen die einzige Machtoption für die SPD im Bund. Eine FDP, die nun beim Konjunkturpaket stets das Gegenteil dessen verlangen wird, was die SPD will. Eine FDP, die mit der Union in fünf Ländern regiert, aber nirgends mit der SPD, schon gar nicht in einer Ampel. Eine FDP, die nur mit der Union Horst Köhler zum Bundespräsidenten wählen wird, weil Steinmeier nicht den Mumm hatte, Gesine Schwan als Kandidatin zu verhindern, und Müntefering nicht den Mumm hatte, sie rechtzeitig zurückzuziehen.

Deshalb kämpft die SPD seit Sonntag nicht mehr für eine bestimmte Regierungskoalition, zum Beispiel die Ampel, sondern nur noch gegen die Mehrheit von Union und FDP. Diese Blockbildung, die Parteichef Müntefering am Wahlabend selbst vorgenommen hat, wird die Diskussion um die Linkspartei in der SPD aber nicht beenden, sondern verstärken. Die SPD ist die einzige Partei, die aus einem Jahr hessischer Verhältnisse auch im Bund nichts gewonnen hat, außer Erfahrung, und nichts bekommen hat, außer einer neuen Führung, die sich am Erbe der alten aufreibt.

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Egemen Bagis Türkischer Europaminister mit Verkaufstalent

Über die Kunst, den rechten Mann zur rechten Zeit einzusetzen, weiß Egemen Bagis Bescheid: In den USA studierte er einst "Human Ressources", Personalmanagement. Ist der frisch berufene Bagis also der Europa-Chefunterhändler, den die Türkei braucht, um die Beitrittsverhandlungen aus dem Dornröschenschlaf zu wecken? Der 38-jährige gilt als jovial, klug und belesen. Ein guter Zuhörer und noch besserer Verkäufer ist er. Verkaufstalent allein wird indes nicht mehr reichen - die Europäer wollen hinter schönen Worten endlich wieder Taten sehen von der Türkei.

Sein Vorgänger, Außenminister Ali Babacan, erntete zuletzt Frust und Spott. Erinnert sich noch jemand an Babacans Worte von Anfang vergangenen Jahres? "2008 wird das Jahr der EU", versprach er vollmundig, die Türkei werde alle überraschen mit neuem Reformschwung. Überrascht war am Ende Babacan selbst: darüber, wie er von seinem Premier und den Kabinettskollegen ausgebremst wurde in seinem EU-Eifer. Gerechterweise muss man sagen, dass Babacan schlicht überfordert war. Außenminister und EU-Unterhändler in einem, das war in solchen krisengeplagten Zeiten schlicht nicht zu schaffen. Immerhin das hat Premier Tayyip Erdogan nun erkannt und nicht nur seinen außenpolitischen Berater Bagis für die Aufgabe erkoren. Erdogan erschuf ihm gleich ein nagelneues Amt. Zum ersten Mal hat die Türkei nun einen Europaminister. Ein Signal an die EU, gewiss, wie auch der Besuch der beiden am Montag in Brüssel - der erste Erdogans seit vier Jahren.

Der 1970 in Bingöl geborene Bagis ist seit Gründung der Regierungspartei AKP ein Gefolgsmann Erdogans. Freunde hat der verheiratete Vater von zwei Kindern vor allem im liberalen, weltoffenen Flügel der Partei. Bagis lebte von 1985 bis 2002 in den USA, dort studierte er, dort arbeitete er als Übersetzer, zuerst fürs Weiße Haus, später für Erdogan. 2002 wurde er Abgeordneter, dann stellvertretender Parteivorsitzender und kümmerte sich um Außenpolitik. Während viele enge Weggefährten und Berater Erdogans in den letzten zwei Jahren abgesprungen sind, hält Bagis dem Premier die Treue. Er gilt als enger Vertrauter, der zur Not Chefredakteuren westlicher Zeitungen auch persönlich erklärt, warum sie seinen Premier wieder einmal fürchterlich missverstanden haben.

Egemen Bagis' Nähe zu Erdogan kann sich als Chance, wie als Bürde erweisen. Vielleicht ist es ja wirklich der Ehrgeiz von Bagis, die EU-Verhandlungen mit neuem Leben zu erfüllen und vor dem drohenden Zusammenbruch zu bewahren. Der Türkei fehlt so einer, der ihren Premier davon überzeugt, dass es nicht weniger braucht als einen fulminanten Neustart der Reformpolitik, dass um eine neue Verfassung, um mehr Freiheitsrechte kein Weg herum führt - und dass dies kein Opfer für die EU, sondern im ureigensten Interesse der Türkei ist. Fatal hingegen wäre es, wenn Bagis es vorzöge, weiter Erdogans loyales Sprachrohr zu bleiben und dessen bequeme Weltsicht zu übernehmen, wonach tiefer gehende Reformen im Moment nicht opportun sind, und im Übrigen die EU die Türkei zu schlecht behandele. Dann wäre der Kollaps nicht fern. Kai Strittmatter

Foto: AFP

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Noch ein Narr

Kriegenburg verabschiedet sich mit dem "Urfaust" vom Thalia Hamburg Seite 12

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Null und wichtig

Heute ist Zahlentag: Wie viele Milliarden sind eine Billion?

So. Jetzt mal bitte Rechenhefte raus und alle unterrichtsfremden Materialien vom Tisch. So geht's nicht weiter. Natürlich, verständlich, in Zeiten, in denen Finanzminister mit Zahlen um sich werfen, die so viele Nullen haben, dass man sie als Luftschlangen durch den Fasching blasen könnte, kommen einem schnell die Bilanzen durcheinander. Und für Otto Normalverdiener sind Begriffe wie Millionen, Milliarden, Billiardenohnehin so weit weg wie Venus und Mars am Abendhimmel, funkelnde Gebilde am Firmament unserer Sehnsucht. Aber dennoch: Eine Billiarde ist sehr viel Geld. Ja, eine Billion ist auch viel, aber eben doch nur das Tausendstel von einer Billiarde.

Soeben meldet Telepolis, die deutschen Banken "könnten noch bis zu einer Billiarde Euro an faulen Wertpapieren in ihren Büchern haben." Wir wissen, dass in den vergangenen Jahren keiner recht bei Verstand gewesen zu sein scheint in den Chefetagen der Banken, eine Art finanztechnischer Rinderwahn muss sie alle gemeinsam erfasst haben. Aber eine Billiarde, das wären tausend Billionen. Das Weltbruttosozialprodukt für 2004 betrug 55,5 Billionen US-Dollar.

Es geht nicht darum, Telepolis zu rüffeln, denn in Sachen Millibillionen sitzen wir alle im Glashaus, dauernd werden in den Wirtschaftsteilen Billionen mit Milliarden verwechseltund dann heißt es immer entschuldigend, die Amis seien schuld, weil sie eben anders zählen. Aber schon das stimmt nur halb. Eigentlich sind die Franzosen schuld. Sie haben die Billion erfunden und wollten sie dann 200 Jahre später auf ein Tausendstel ihres Wertes reduzieren. Das haben wiederum die Amerikaner spitz gekriegt und seither haben wir den Salat beziehungsweise den Nullenkauderwelsch.

000000 oder 000 000?

Aber von Anfang an: Bis ins dreizehnte Jahrhundert gab es überhaupt nur Zahlen bis hunderttausend. Er war genügsam, der spätmittelalterliche Mensch und sagte sich, ich kenn ja noch nicht mal die Zentralperspektive, was brauche ich da zu wissen, wie tausend mal tausend heißt. 1270 taucht in Italien erstmals die Million auf, also die "große tausend", die Endung -one bedeutet groß, mächtig, vgl. Camillo und Peppone oder Silvio und Berluscone. Alles darüber hinaus wurde phantasievoll umschrieben. Der Mathematiker Nicolas Chuquet schlug dann 1484 vor, dass man für alle Zahlen im Millionenschritt ein neues Wort bildet: Eine Million mal eine Million ist eine Billion. Eine Billion mal eine Million ist eine Trillion. Um den semantischen Quantensprung auch in der Ziffernschreibung zu signalisieren, bündelte man immer sechs Nullen zusammen. Eine Billion waren 1 000000 000000.

Das ist fieses Augenpulver, weshalb die Franzosen im 17. Jahrhundert aus Gründen der besseren Lesbarkeit ihr eigenes System reformierten: Von da an wurde im Dreierschritt genullert, eine Billion, man konnte das zuletzt anhand der Überschriften zum Bail Out studieren, wird seither so rhythmisiert: 1 000 000 000 000. Einige übereifrige Mathematiker forderten dann leider, auch im Dreierschritt neue Wörter zu benutzen. Jetzt gab es zwei Schulen, die einen zählten Million, Milliarde, Billion, Billiarde, Trillion. . ., die anderen zählten doppelt so schnell nach oben: Million, Billion, Trillion, Quadrillion. Leider sind einige Vertreter dieser zweiten Schule nach Amerika gesegelt. In Frankreich kehrte man irgendwann reumütig zur alten Zählweise zurück, im übrigen Europa war man ohnehin immer Chuquets System gefolgt. Einzig die Amerikaner behaupten seither großspurig, dass Milliarden Billionen seien.

Was nicht ganz stimmt: Auch Brasilien, die Türkei und Puerto Rico zählen nach dem US-System. Die Weltmacht im Verbund mit Puerto Rico - die Aufzählung erinnert in ihrer Bananenrepublikhaftigkeit an Rumsfelds Invektive, nur Deutschland, Libyen und Kuba würden dem Irak-Krieg noch entgegenstehen. Deutsche, libysche und kubanische Mathematiklehrer können den Amerikanern dafür heute auf Heller und Pfennig genau vorrechnen, dass ihr verdammter Irakkrieg bisher viele Milliarden Dollar verschlungen hat. Oder waren's doch Billionen? ALEX RÜHLE

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Den Wahnsinn weglachen

Tom Cruise über Scientology, deutsche Empfindlichkeiten und darüber, dass sein Film "Operation Walküre" keinen Oscar gewinnen muss

Los Angeles im Winter. Ein schmaler Pfad, umwuchert von Palmgewächsen. Hier geht es zu den Bungalows des ehrwürdigen "Beverly Hills Hotels", wo schon Howard Hughes sich vor dem Wahnsinn versteckte, wo Marilyn Monroe und Maurice Chevalier Verschwiegenheit suchten. Jetzt wartet hier Tom Cruise, blickt hinaus in die warme Dämmerung, macht ein Zeichen, näher zu treten. Fester Blick in die Augen, fester Händedruck. Kein Megawattstrahlen heute, denn das Thema ist ernst. Cruise spielt Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juni 1944 ein Attentat auf Hitler verübte.

Cruise trägt eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd, schlicht, enganliegend. Er übernimmt sofort die Kontrolle über die Situation. Verblüfft mit der (zutreffenden) Bemerkung, in München schneie es. Haben Freunde erzählt. Gern würde man wissen, ob Tom Cruise oft mit Freunden in München telefoniert, oder ob doch eher ein Assistent das Wetter in der Heimat des Besuchers recherchieren musste. So oder so: Interessant. Aber weiter, Cruise ist ungeduldig.

SZ: Respekt für "Operation Walküre" - der Film funktioniert als Thriller und wird der Komplexität der historischen Ereignisse trotzdem gerecht.

Cruise: Das war es, was wir versucht haben - den Menschen und dem Geist des Widerstands gerecht zu werden. Diese Verantwortung war uns bewusst. Denn der Film handelt natürlich von Deutschland. Aber er handelt auch von größeren Zusammenhängen. Mein Gefühl war von Anfang an, dass diese Geschichte zeitlos ist. Denn es ist wichtig zu wissen und wahr, dass selbst unter den schlimmsten Verhältnissen nicht alle mitmachen. Es sind niemals alle. Nirgendwo. Überall gib es Menschen, die eigenständig denken und schließlich handeln. Sogar Bryan, der jüdisch ist, hat gesagt, dass es wie eine Befreiung für ihn war, von der Geschichte dieser Männer zu erfahren. Weil man ja daran glauben möchte, dass es immer auch Widerstand gibt.

Bryan ist Bryan Singer, der Regisseur. Das übliche amerikanische Vornamen-Dropping. Bei Cruise ist es aber mehr. Er beschwört ein Familiengefühl, will von Freunden umgeben sein, will sichergehen, dass alle am selben Strang ziehen. So widerspricht er gleich der Darstellung des Drehbuchautors Christopher McQuarrie, er sei zunächst als Produzent und Besitzer des Mini-Studios United Artists eingestiegen. Klingt so kalt und hierarchisch.

Cruise: Nein, Bryan und Chris haben mir den Film als Schauspieler angeboten, so habe ich auch das Drehbuch gelesen. Mein erster Gedanke war: Was für ein guter, spannender Filmstoff - und wie merkwürdig, dass ich von diesen Ereignissen noch nichts wusste. Es ist doch wirklich ein Thriller!

SZ: Aber warum gleich diese dreifache Rolle: Star, Produzent - und Besitzer des Studios, das alles finanziert?

Cruise: Niemand anders hätte den Film gemacht.

SZ: Warum?

Cruise: Weil Hollywood . . . kein Studio hätte die Nerven gehabt, diesen Film so zu machen, wie er nun einmal gemacht werden musste.

Niemand anders hätte es gemacht - das kam leise. Mit einem Anflug echter Verletztheit in der Stimme. Jetzt habe ich so viel Geld für euch verdient, und ihr glaubt mir immer noch nicht - dieser Ton. Meist aber ist Cruise im ernsten Überzeugungsmodus, man kennt das aus seinen Filmen, wenn er das Grinsen abschaltet und möglichst seriös guckt. "I really, really care." Ist nie ganz so überzeugend wie die Szenen, in denen er hungrige Arroganz verkörpert.

SZ: War Ihnen klar, wie heftig die Reaktionen in den USA schon auf Ihr erstes Szenenfoto sein würden?

Cruise: Wenn man eine Wehrmachtsuniform anzieht, die auf der ganzen Welt natürlich für eine Nazi-Uniform gehalten wird, dann weiß man, dass es da Kontroversen geben wird. Aber davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Genauso hat es Aufregung gegeben, als ich mich für "Geboren am 4. Juli" in einen Rollstuhl gesetzt habe. Zur Zeit von "Top Gun" wurde ich als hirnloser Kriegstreiber geschmäht - und als ich "Last Samurai" in Angriff nahm, hatten die Japaner auch Bedenken, dass ich ihre uralte Samurai-Kultur missbrauche.

SZ: Wie haben Sie die deutschen Reaktionen erlebt?

Cruise: Die Menschen, die uns geholfen haben, waren großartig. Ich brauchte das Wissen um diese Geschichten, nicht nur aus den Geschichtsbüchern, die ich gelesen habe. Also habe ich Menschen getroffen. Ich wollte Stauffenbergs Herkunft ergründen, was es bedeutet hat, aus einer Familie wie der seinen zu kommen. Man hat mir immer sehr geholfen. Es sind ja immer nur sehr wenige, die versuchen, Aufregung zu erzeugen.

SZ: Verstehen Sie die deutschen Stimmen, die aus Stauffenberg eine Art Nationalheiligtum machen?

Cruise: Ja, ich verstehe das. Diese Geschichte bedeutet nicht nur den Deutschen etwas. Also mussten wir verantwortungsvoll damit umgehen. Aber wir haben keinen Dokumentarfilm gedreht.

Wie schnell Cruise zwischen den Themen springt, Gedanken auch unvollendet bleiben, kann man hier nicht wirklich wiedergeben. Definitiv ein Getriebener. Immer wieder treibt es ihn zu denselben Versicherungen, Bestätigungen, Bekräftigungen. Sie nehmen den Charakter von Mantras an. Mantra Nummer eins: Tom Cruise hat schon immer etwas riskiert, mit jeder seiner Rollen, hat immer die Herausforderung gesucht, ist daran gewachsen. Und immer gab es Zweifel und Widerstände. Zweifel und Widerstände sind also sein täglich Brot. Beeindrucken ihn heute: nullkommanull.

SZ: Wie haben Sie darauf reagiert, dass Ihnen die Drehgenehmigung im historischen Bendlerblock, wo Stauffenberg exekutiert wurde, verweigert werden sollte - wegen Ihrer Verbindung mit Scientology?

Cruise: Niemand hat gesagt, dass es bei der Drehgenehmigung um diese Frage ging.

SZ: Nicht die offiziellen Stellen. Aber doch gewisse Gruppen.

Cruise: Ja, aber wissen Sie, das sind Extremisten. Randerscheinungen. Die Wahrheit ist doch, ich habe den "Bambi" in Deutschland bekommen. Die Wahrheit ist, dass die deutsche Regierung den Film mit Subventionen unterstützt hat. Und die Wahrheit ist, dass wir schließlich im Bendlerblock drehen durften. Auch persönlich wurde ich immer sehr gut behandelt. Es ist also immer wieder das Gleiche: Was immer für ein Lärm um mich herum gemacht werden soll - bitte sehr. Ich bin halt da und mache meinen Film, und niemand wird mich davon abhalten.

SZ: "Bambi für Mut" hieß der Preis. Wie fanden Sie das?

Cruise: Ich fühlte mich sehr geehrt.

SZ: Brauchten Sie Mut, um Stauffenberg zu sein?

Böser Köder natürlich. Fangfrage. Wollen wir doch mal sehen, ob

das, wie bei der "Bambi"-Verleihung, wieder beim "Heiligen

Deutschland" endet.

Cruise: Ich bin jemand . . . Mut ist meiner Meinung nach . . . Nein, sorry, ich werde hier nicht über mich selbst sagen, dass ich mutig bin. Als Schauspieler lebe ich davon, Herausforderungen anzunehmen. Manchmal könnte man das Mut nennen, aber eigentlich heißt es doch: Ich bin Künstler. Künstler erzählen Geschichten, sind an Menschen interessiert. Und wollen niemanden diskriminieren. Ich meine sagen zu können, dass ich mir bisher treu geblieben bin - und dem, was ich als richtig empfinde. Und dass meine Intentionen, diesen Film zu machen, die richtigen waren. Und so ernst diese Arbeit war - wir hatten unseren Spaß! Das können Christian und Thomas sicher bestätigen. Florian hat übrigens gesagt . . . kennen Sie Florian?

Jetzt geht es um Florian Henckel von Donnersmarck, den deutschen Oscargewinner, der, wie man hört, inzwischen ein enger Freund von Tom Cruise geworden ist. Vorher ging es um die Schauspieler Christian Berkel und Thomas Kretschmann, die in "Operation Valkyrie" mitspielen. Aber was hat "Florian" denn nun gesagt? Im Eifer des Gefechts ist Cruise wieder in Mantra Nummer zwei abgedriftet, bevor er den Gedanken vollendet hat. Mantra zwei handelt davon, welche Ehre und Verantwortung es war, diesen Film machen zu dürfen. Das wissen wir nun schon. Themawechsel.

SZ: Stimmt es, dass Sie für eine Passage des Voiceovers Deutsch gelernt haben, um wie ein Deutscher zu klingen?

Cruise: Ja. Ganz am Anfang des Films hört man einen Chor von Soldaten, die den Soldateneid auf Hitler sprechen. Auf Deutsch. Das Sounddesign soll die Zuschauer zurück in die Vergangenheit entführen. Dann hört man Stauffenbergs Stimme, meine Stimme, auch auf Deutsch. Über den deutschen Titel "Walküre" blenden sich die englischen Buchstaben. Und über meine deutsche Stimme blendet sich meine englische Stimme. Dann sind wir da - in einer vollkommen deutschen Geschichte, die aber auf englisch erzählt wird. Ohne Akzente.

SZ: In Deutschland wird man das so nicht zu sehen bekommen.

Cruise: Nein. In Deutschland wissen die Leute ja schon Bescheid über diese Zeit, über die es eben kaum Informationen gab, außer den Propagandamedien. Heute wissen wir, wie sehr man die Wahrheit verfälschen kann, aber damals . . . wenn man sich Leni-Riefenstahl-Filme ansieht: Die Menschen waren solchen Techniken hilflos ausgeliefert. Oder nicht so zynisch, wenn man das so auslegen will. Dann war da der Versailler Vertrag, das Gefühl eines Wirtschaftswunders unter Hitler. Und dann dieser Eid. Wie gruselig dieser Eid ist! Und dann Stauffenberg und seine Mitkämpfer, die sich das Denken nicht verbieten lassen, die sagen: Das ist nicht richtig. Die den Wahnsinn benennen. Das ist doch stark! Dem mussten wir gerecht werden.

SZ: Warum wird es keine Oscar-Kampagne für den Film geben?

Cruise: Es ist nicht diese Sorte von Film. Die Werbebotschaft, die ich da draußen sehen möchte, lautet: Dies ist ein kommerzieller Film. Für ein möglichst großes Publikum. Wirklich spannend, wirklich unterhaltsam. Keine Geschichtsstunde, kein Gutmenschenfilm. Obwohl solche Aspekte darin stecken, ist es zunächst mal einfach ein Film für möglichst viele Leute.

SZ: Wird es funktionieren?

Cruise: Sicherheiten gibt es nie in diesem Geschäft. Man versucht nur, so verantwortungsvoll wie möglich zu planen, damit sich die Sache für alle rentiert, damit ich wieder rausgehen kann und sagen: Okay, lasst uns den nächsten machen! Wenn dieser Film also 65, 75 Millionen Dollar in den USA einspielt, werden wir alle hier sehr, sehr glücklich sein - und uns mit High-Fives abklatschen. Mehr kann man bei diesem ernsten Thema nicht erhoffen. Und jetzt ist der Punkt erreicht, wo ich auch gar nichts mehr dafür tun kann - außer über den Film zu reden.

Was im November Wunsch war, ist heute Wirklichkeit. Der Film hat

seine 75 Millionen Dollar in den USA eingespielt. Tom Cruises Instinkt also mal wieder: 100 Punkte. Blogger, Zweifler, Untergangspropheten, Scheinexperten: Null Punkte. Man würde ja gerne, rein aus Variationsgründen, mal was anderes berichten. Geht aber nur unter völliger Missachtung der Fakten, was leider inzwischen die Regel ist. Die ganze Cruise-braucht-verzweifelt-einen-Hit-Saga ignoriert zum Beispiel völlig, dass sein bisher erfolgreichster Film,

mit 591 Millionen Dollar Einnahmen weltweit, keineswegs viele Jahre zurückliegt. Er heißt "Krieg der Welten"und ist von 2005.

SZ: Nach Ihrer Trennung von Paramount hieß es überall, Ihre Karriere stehe vor einer harten Bewährungsprobe. Wie sehen Sie das?

Cruise: Es gab ja nie einen Vertrag mit Paramount. Da muss man Realität und Phantasie schon unterscheiden. Als Schauspieler habe ich immer für alle gearbeitet. "Last Samurai", "Interview mit einem Vampir", mein Film mit Kubrick - das war zum Beispiel alles für Warner, "Jerry Maguire" war für Sony, und so weiter. Und ganz ehrlich, ich erinnere mich kaum an eine Zeit, in der meine Karriere in der Wahrnehmung der Medien nicht in Schwierigkeiten war: Bei meinem ersten richtigen Erfolg "Lockere Geschäfte" war ich nur ein Teenie-Phänomen, das sich dringend beweisen musste. "Lockere Geschäfte" ist jetzt 25 Jahre her. Seitdem soll ich mich ständig beweisen. Und das ist gut so. Ansonsten spüre ich keinen Leistungsdruck. Alles, was ich tun kann, ist: rausgehen und meine Filme . . .

Okay, Mantra-Time again. Es wird langsam klar, wie Cruise funktioniert: Jedes Problem, jede Herausforderung wird mit ein, zwei Gedankenschritten auf ein Mantra zurückgeführt. Wenn eines zehnmal auftaucht in 45 Minuten, wie oft spukt es wohl täglich durch seinem Kopf? So spinnt er sich ein in seiner Innenwelt, fokussiert sich, bleibt auf Kurs, egal was sonst passiert. Wenn das eine Scientology-Technik ist, funktioniert sie: 2,78 Milliarden Dollar weltweite Kasseneinnahmen, die direkt mit seinem Namen verknüpft sind, sprechen ihre eigene Sprache.

SZ: Haben Sie überhaupt manchmal Zweifel an sich?

Cruise: Ich rede lieber von Herausforderungen. Aber man zahlt einen Preis dafür, so lange Zeit so konstant erfolgreich zu sein. Jeder kommentiert jeden deiner Schritte und weiß es im Zweifelsfall besser. Meistens kann ich die Kommentare, die kommen werden, vorher schon selber schreiben, so durchschaubar ist das Spiel. Manchmal allerdings auch nicht. Manchmal steht irgendwo ein Quatsch, wo ich sage: Wow! No way. Da wäre ich jetzt nie draufgekommen.

Hier ein lautes, forciertes Lachen. Den schlimmsten Wahnsinn weglachen. Wie zum Beispiel den Fall, als Cruise nachweisbar einen Witz darüber gemacht hatte, dass er nach der Geburt seiner Tochter die Plazenta essen werde, und diese Nachricht dann völlig humorfrei als "ekliges Scientology-Ritual" um die Welt ging. Was tun? Nichts. Ein bisschen zu laut weglachen. Auch hier wieder meint man für eine Sekunde, Schmerz zu spüren. Also doch ein Mensch. Aber auch das triggert sofort wieder ein neues Mantra - das Mantra gegen Selbstmitleid.

Cruise: Ich fühle mich privilegiert, das Leben zu leben, das ich nun schon so viele Jahre leben darf. Ich habe da sehr viel Glück gehabt. Ich habe eine wunderbare Familie. Ich kann etwas tun, das ich leidenschaftlich gern tue, ich kann etwas bewegen. Die Werte, an die ich persönlich glaube, haben sich nie verändert. Ich will mein Bestes geben, mein Leben leben, hilfreich sein, gütig sein, die Menschen verstehen, das Leben verstehen. So sehe ich den Weg eines Künstlers - oder, schätze ich, den Weg eigentlich jedes menschlichen Wesens.

Wenn man in diesem Moment mit Goethe käme, edel sei der Mensch, hilfreich und gut - Cruise würde das nicht ironisch verstehen. Er würde ein mentale Notiz machen: Check out this Goethe guy. Noch so ein potentieller Verbündeter. Aber Goethe muss nun wirklich nicht sein. Was sein muss, ist noch eine Scientology-Frage, grobschlächtig und durchschaubar an den Kontext des Films angeflanscht.

SZ: Stauffenbergs Tat war entscheidend durch seinen katholischen Glauben motiviert. Sind Sie entscheidend durch Scientology motiviert?

Ein tiefes, langsames Ausatmen. Hier atmet nicht mehr Cruise 2006, bei dem hätte in diesem Moment alles Mögliche passieren können, brüllen, verstummen, thank you, dieses Interview ist zu Ende. Hier atmet Cruise 2008, der offenbar eine Lernkurve hinter sich hat. Der neue Cruise hat die PR-Desaster der Vergangenheit reflektiert und verarbeitet, interessanterweise in der Wir-Form.

Cruise: Zunächst einmal . . . wir sind da durch eine Phase hindurchgegangen, wo es nicht hilfreich war, über meine Religion zu reden. Jeder weiß wohl inzwischen, dass ich seit zwanzig Jahren bei Scientology bin, und dass ich sage, wie sehr mir das in meinem Leben hilft. Nur: Wenn ich weiter darüber rede, sieht es so als, als wolle ich missionieren. Rede ich aber nicht darüber, heißt es, ich verheimliche es und weiche aus. Also . . . Ich bin kein Werbeträger für irgendwas. Ich bin Schauspieler. Wenn also jemand etwas über Scientology wissen will: Gehen Sie ins Internet, gehen Sie in die Kirche, finden Sie es für sich selbst heraus. Hier möchte ich über den Film reden.

Interview: Tobias Kniebe

"Diese Geschichte bedeutet nicht nur den Deutschen etwas. Aber wir haben keinen Dokumentarfilm gedreht."

"Wenn man sich Riefenstahl-Filme ansieht: Die Menschen waren solchen Techniken hilflos ausgeliefert. Oder nicht so zynisch."

"Jeder weiß, dass ich bei Scientology bin. Rede ich darüber, heißt es, dass ich missioniere, schweige ich, dass ich ausweiche."

Kein Megawattstrahlen, denn das Thema ist ernst: Tom Cruise spielt Stauffenberg Foto: David Venni, Roba Press

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Worte, die bleiben sollen

Hoffnung auf ein weltlicheres, selbstkritischeres Amerika: Die Zivilreligion des Barack Obama

Am Wochenende unternahm die Familie Obama einen Ausflug zum Lincoln Memorial am westlichen Ende der Washingtoner Mall. Ganz unverhohlen im Zeichen des 16. Präsidenten, des Sklavenbefreiers und Retters der amerikanischen Union, beginnt Obama seine eigene Präsidentschaft. Auf der marmornen Rückwand des Tempels ist Lincolns zweite Amtseinführungsrede aus dem Bürgerkriegsjahr 1865 eingraviert. "Einschüchternd", sei diese demokratische Dichtkunst, ließ Obama vernehmen. Man hat den jungen Senator, nicht zuletzt seiner oratorischen Befähigung wegen, mit Lincoln verglichen, mit Roosevelt und Kennedy. Bisher war das nur Ehre. Jetzt ist es gewiss auch Bürde. Denn von Obama wird bei seiner Amtseinführungsrede nicht weniger erwartet als das, was Lincoln, Roosevelt und Kennedy bei gleicher Gelegenheit geschaffen haben: Worte, die bleiben.

Viele andere Präsidenten sind an dieser Herausforderung gescheitert. Es ist schwer, Außergewöhnliches zu sagen, wenn der Anlass vor allem die Erneuerung alter Formeln gebietet. Die Rede zur Amtseinführung ist das öffentliche Glaubensbekenntnis eines jeden amerikanischen Präsidenten, er leistet es stellvertretend für die Nation. Ihm ist aufgetragen, die glorreiche Vergangenheit des Landes zu vergegenwärtigen und so Amerika seiner Identität, seiner Größe und seines Auftrags zu versichern. Washington zelebriert an diesem Dienstag die Liturgie der amerikanischen Zivilreligion. Die Stufen des Kapitols sind die Kanzel für ihren Hohepriester.

Politik und Religion waren in der Neuen Welt schon verschlungen, als die USA noch gar nicht existierten. Die Pilgerväter entflohen im 17. Jahrhundert der religiösen Unterdrückung in Europa und brachten den puritanischen Gedanken eines von Gott erwählten Volkes nach Amerika - in das gelobte Land. Hier sollte, im exklusiven Bund mit Gott, ein "neues Israel" entstehen. Die Gründergeneration der Republik verschmolz die religiösen Elemente mit dem Sendungsbewusstsein einer Modelldemokratie zu einem nationalen Glauben. Für diesen hat sich inzwischen der Begriff "civil religion" durchgesetzt, den der Soziologe Robert N. Bellah 1967 in reichlich vager Anlehnung an Rousseaus "religion civile" vorschlug.

Alle amerikanischen Präsidenten haben ihre Politik mit dem Appell an diese Zivilreligion zu legitimieren versucht. Immer ist sie lyrische Amerikaschwärmerei, immer Aufruf zur Einheit und meistens Beschwörung der Mission, Freiheit und Demokratie zu verbreiten. Manche meinen deshalb, sie sei immer der gleiche Sermon. Doch das ist nicht richtig. Die Zivilreligion kennt Konjunkturen, in Zeiten der Krise und der Gefahr ist sie leichter zu aktivieren. Das vermag, mehr als jeder andere, der Präsident. Er kann die Zivilreligion auch gestalten, denn sie speist sich aus verschiedenen Zentralmotiven, die er zu gewichten hat.

Während der Präsidentschaft George W. Bushs hat das Phänomen besondere Prominenz erlangt. Bush betonte, besonders nach den Anschlägen des 11. September, das Motiv der Mission: Amerika sollte das Feuer der Freiheit auch im dunkelsten Winkel der Welt zum Leuchten bringen. Vielerorts fühlte man sich freilich von der Flamme eher bedroht. Die Zivilreligion schien instrumentalisiert zu werden zur Rechtfertigung einer aggressiven Außenpolitik. Bush hieß man einen Fundamentalisten und Gotteskrieger. Nun hofft die Welt, dass die Tage der amerikanischen Kreuzzüge vorerst vorbei sind. Die Zivilreligion wird aber auch unter Obama nicht verschwinden. Sie wird indes, nach allem, was man weiß, tatsächlich ein anderes Gesicht haben. Es wird ein freundlicheres Gesicht sein.

Zivilreligion lässt sich kategorisieren, zumindest der Tendenz nach, auch wenn mancher Übergang fließend ist. Sehr frei nach einem Modell des eminenten Chicagoer Theologen Martin E. Marty können zwei Gegensatzpaare identifiziert werden. Die erste Unterscheidung betrifft eher Stilfragen. Die Zivilreligion kann in eine dezidiert christliche Sprache gekleidet sein, mit konkreten Bibelreferenzen und einem allgemein biblisch anmutenden Ausdruck. Oder sie kann sich weltlicher Codes bedienen, der "Gemeinschaft" etwa, des "Geists" und der "Prinzipien". Die christliche Zivilreligion also wähnt Amerika auf "göttlicher Mission"; die säkulare Zivilreligion stützt einen "nationalen Auftrag".

Die zweite Unterscheidung ist noch wichtiger. Sie betrifft den Charakter der Zivilreligion. Der erste Strang hier ist eine selbstkritische Zivilreligion der Verpflichtung und Verantwortung, die ständig überprüft, ob die Nation tatsächlich auf Gottes Seite ist. Der zweite Strang ist eine selbstherrliche Zivilreligion der Begünstigung und des Vermögens. Sie mag durchaus hehre Ziele haben, glaubt Gott aber allzu gewiss auf der Seite der Nation. Die selbstkritische Variante also ermahnt die Nation; die selbstherrliche bestärkt sie bloß.

Ob ein Präsident seiner Zivilreligion ein christliches oder ein säkulares Gewand webt, hängt von seinen persönlichen religiösen Überzeugungen ab. In der Wahrnehmung Europas, dem öffentliche Spiritualität und politisches Pathos weitgehend fremd sind, ist das ohnehin zweitrangig. Europa ignoriert das amerikanische Missionsgerede, solange es sich an der Mission selbst nicht stört. Beispiel Bill Clinton: Der hatte, rein quantitativ, mindestens ebenso viel Religion in seinen Reden wie Bush. Aber das störte beim sympathischen Kosmopoliten Clinton und seiner überwiegend selbstkritischen Zivilreligion nicht. Bush dagegen, dessen Zivilreligion von Guantanamo und Abu Ghraib als selbstherrlich entlarvt wurde, fehlte die Demut. Ebenjene Demut, die Lincoln bewies, als er in eben jener Rede, die Obama zur Inspiration studierte, daran erinnerte, dass beide Bürgerkriegsparteien, Norden und Süden, "die gleiche Bibel lesen und zum gleichen Gott beten".

Obama wird wie Lincoln ein Erlöser genannt. Man kann nicht behaupten, dass er sich wehrt gegen dieses Etikett, aber man muss ihm zugute halten, dass er als Redner mindestens ebenso den Verstand seiner Zuhörer anspricht wie deren Gefühl. Der Kern seiner politischen Theologie sind die Motive der Erneuerung und der Perfektionierung des Bundes: die feste Überzeugung, dass die besten Tage Amerikas noch in der Zukunft liegen. Aufgrund der Strahlkraft seiner Lebensgeschichte - des wundersamen Weges "eines dürren Jungen mit einem komischen Namen" - hat sich der erste schwarze Präsident diese Motive in besonderer Weise zu eigen machen können: "Die Kühnheit der Hoffnung" heißt seine Autobiografie, und damit ist das Grundthema seiner Rhetorik skizziert. Natürlich steckt darin schwarze Befreiungstheologie, die Idee vom Leid in Ketten, die Jesus Christus eines Tages zerschlagen wird. Obama hat diese Idee genommen, vom afro-amerikanischen Kontext gelöst und auf die Vereinigten Staaten insgesamt übertragen. Obama verspricht, die Amerikaner in das gelobte Land zu führen, ein Land ohne Rassenhass und ideologische Grabenkämpfe.

Das Motiv der Einheit hat er schon 2004 bei der Rede auf dem demokratischen Parteitag, die ihn über Nacht bekannt machte, formuliert: Dass es nicht ein liberales und ein konservatives Amerika gibt, nicht ein schwarzes und ein weißes, sondern nur ein Amerika, die Vereinigten Staaten von Amerika. Natürlich ergeht sich auch Obama in patriotischem Eifer, aber dieser Eifer hat Grenzen bei ihm: Amerika mag eine mystische Gemeinschaft sein, aber sie steht nicht über der Welt.

Das hat Obama in seiner Berliner Rede deutlich gemacht: Dass Amerika kein eigenes Projekt betreibt, sondern dass die ganze Welt Partner dieses Projekts ist. Obama erinnert hier an Kennedy. Nach seiner berühmten Wendung "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann . . ." fuhr er fort: "Mitbürger der Welt, fragt nicht was Amerika für euch tun wird. Fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit der Menschen."

Was Bushs religiöse Rhetorik im Detail von der anderer Präsidenten unterschied, war die Vehemenz des Dualismus, mit der er alles Irdische in Gut und Böse, in Licht und Dunkel teilte. Obama hat sich gelöst vom Manichäismus des Bush'schen Weltbilds, er hat sich auch gelöst von seinem Pastor Jeremiah Wright, der in seinen mit heiligem Furor gehaltenen Predigten Rassismus und Ungleichheit beklagte und schonungslos den Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht geißelte. Diese Rhetorik einte nicht, sie entzweite. Deshalb hat sich Obama von Wright distanzieren müssen.

Was wird Obama also für die amerikanische Zivilreligion sein? Wohl ein Aufbruch, und zwar ein zweifacher. Seine Zivilreligion wird säkularer sein als die christliche des George W. Bush. "Wir sind bereit, wieder zu glauben", rief Obama seinen Anhängern während des Wahlkampfes immer wieder zu. Das hieß: zu glauben an das Versprechen Amerikas. Obama hat die Zivilreligion wieder geöffnet für all jene, die sich ausgeschlossen fühlten wegen ihrer nicht-christlichen Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Präferenz. Der Bund Obamas soll kein elitärer Club sein. Obamas Zivilreligion wird wahrscheinlich auch selbstkritisch sein. "Ohne euch wird es den Wandel nicht geben", sagte er der jubelnden, vor Rührung weinenden Menge im Grant Park von Chicago am Abend seines Wahlsiegs. Es bedürfe jetzt eines "Geistes des Dienens und der Verantwortung", jeder einzelne müsse härter arbeiten für das Wohl aller.

Die Vertreter der selbstkritischen Zivilreligion nennt die Wissenschaft Propheten (im Gegensatz zu den selbstherrlichen Priestern), und das Problem der Propheten war stets, dass sie belehrend oder gar befehlend daherkamen. Jimmy Carter war so einer. In seiner Malaise-Rede, eine einer puritanischen Jeremiade gleichende Klageschrift über den Abfall des Volkes vom Glauben, diagnostizierte er bei seinen Landsleuten eine "Krise des Selbstvertrauens". Die Wähler entschieden sich bei der Wahl 1980 dann nicht mehr für Carter, der die Nacht über Amerika bejammerte, sondern für Ronald Reagan, der ihnen den "Morgen" versprach. Ein Mahner ist jetzt auch Obama: Die USA, warnt er, haben ihr Versprechen der Gleichheit nicht eingelöst. Aber dieser Mahner ist ein angenehmer, denn er klingt ermutigend und optimistisch: "Der Anstieg wird steil sein" zu einer "vollkommeneren Union", aber gemeinsam sei er zu nehmen.

Die Zivilreligion des Barack Obama wird jedenfalls nie wieder so rein sein und so gleißend wie an diesem 20. Januar 2009, zwölf Uhr mittags in Washington. In diesem Moment ist sie nur Verheißung. Mit den Jahren sind zivilreligiöse Verheißungen schon oft schal geworden in der amerikanischen Geschichte, und nur wenige, ganz wenige, wurden, wie jene Lincolns, in Stein gemeißelt. ROMAN DEININGER

Schwärmerei, Aufruf zur Einheit, Beschwörung der Mission

Schwarze Befreiungstheologie, die Idee vom Leid in Ketten

Es bedarf eines Geistes des Dienens und der Verantwortung

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Ein kurzer Weg in die Geschichte

Barack Obama ist noch nicht einmal im Amt und schon ist er Geschichte. Zeit also, sich von den Vorbildern zu lösen. Das amerikanische Nachrichtenmagazin Time hat ihm deswegen einen Bild- und Essayband gewidmet, in dem sein Weg vom Außenseiterkandidat zum designierten Präsidenten der USA nachgezeichnet wird, und der auch schon auf deutsch erschienen ist ("Yes we can - Bilder einer Persönlichkeit", Knesebeck Verlag, München, 2009, 96 Seiten, 19,95 Euro).

Sicher hat Obama die permanente historische Einordnung seiner Person selbst herausgefordert, hat mit seinen Auftritten, Gesten und Worten die Lichtgestalten der amerikanische Geschichte Abraham Lincoln, Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy beschworen. Dabei wäre die historische Person, mit der man Obama nun schon vor seiner Amtszeit vergleichen konnte, eigentlich Neil Armstrong. Der war der erste Mann auf dem Mond und hat den Spruch geprägt, "Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit." Denn wenn Obama am heutigen Dienstag seinen Amtseid spricht, dann hat er schon Unglaubliches erreicht. Er hat die letzten Rassengrenzen überwunden. Und er hat das Wort Hoffnung neu besetzt.

Der Band zeigt aber auch, warum die Fotografie eine Nähe schafft, die kein Fernsehteam, keine Webseite, kein Text erreicht. Mit dem Blick der Fotografin Callie Shell wird der Betrachter zum ständigen Begleiter Obamas. Wie in diesem Augenblick kurz vor einer Wahlkampfrede in Iowa. Wie beim Klimmzug an einem Reck in Montana. Wie beim Fototermin beim Friseur in Philadelphia, der ungerührt seinem Kunden den Kopf weiterschert. Man darf natürlich nicht vergessen, dass Obama die Inszenierung auch in diesen Momenten perfekt beherrscht. Aber er hat seinen Platz in der Geschichte ja auch nicht vom Schicksal zugewiesen bekommen, sondern er hat ihn gesucht. ANDRIAN KREYE

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Doppelrahmstufe

Kupfer langweilt in Hamburg mit Lehárs "Die lustige Witwe"

Es gibt Momente an diesem frühen Operettenabend im Großen Opernhaus von Hamburg, da kommt man auf Fragen, die man sich besser nicht gestellt hätte: Wie viel muss man über die Gefühlsgeschichte der großen europäischen Reiche und der kleinen Spießeridyllen wissen, und wie wenig über den Inhalt von Franz Lehárs "Die lustige Witwe", um diesem mäßigen Klamauk den einen oder anderen scherzhaften Gedanken abzuringen.

Harry Kupfer hat dieses Paradestück des europäischen Society-Talmi routiniert in Szene gesetzt, hat dem erwartungsfrohen Publikum Reste einer Rahmenhandlung hingeworfen, die kaum als Reflexionsfläche oder intellektueller Katalysator funktioniert. Zwei US-Soldaten und eine Soldatin rollen im Jeep auf die Bühne, Hintergrundbild ist der Innenraum eines zerbombten Hallengebäudes. Einer der Soldaten heftet sich einen übergroßen Judenstern an die Brust und fungiert fortan als Chefbeobachter des Stücks, später als Filmregisseur. Nachdem nämlich bald klar wird, dass sein Regiekonzept doch etwas dünn ist, erweitert es Kupfer zur doppelten Rahmengeschichte - plötzlich fahren Filmkameras herum und werden Mikrophonangeln ins Bild gehängt; man ist im Filmstudio.

Was leider die ermüdenden Dialoge nicht aufwerten kann, die in ihrer Harmlosigkeit und Unwitzigkeit eines Offizierskasinos kaum würdig sind, wohl nicht einmal einer Bundeswehrkantine. Was von dieser Produktion übrigbleibt, ist eine Art Wunschkonzert mit Kostümen, denn zwei bis drei Arien haben ja zeitlosen Schmiss. Dirigentin Simone Young kitzelt ihn nach Kräften aus den gut vorbereiteten und gutgelaunten Hamburger Philharmonikern, und die Sängerbesetzung ist im Grunde fast zu gut für diesen müden Schwank, den man natürlich nicht ernstnehmen darf - aber komisch schon gleich gar nicht. Was hätte man aus dieser verheuchelten Geschichte um Geld, Gier, Macht, Sex und Geschlechterkampf Spannendes zaubern können! HELMUT MAURÓ

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Der Papagei der Aufklärung

Matthias Hartmann gräbt Thomas Bernhards "Kant" für Zürich aus

Kant schrieb: "Die Wirkung eines Gegenstands auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung." Matthias Hartmann denkt, so kann man annehmen: Die Empfindung ist ein problematisch Ding, weil sie stets subjektiv ist, einem objektiven, viele Menschen gleichermaßen affizierenden Erlebnis also entgegensteht. Wenn es darauf ankommt, ist Hartmann ein Meister der elaborierten Langeweile auf dem Theater. Gleichwohl hat er damit Erfolg, wird mit höchsten Leitungsaufgaben (bald Burgtheater Wien, momentan Schauspiel Zürich) betraut und als Regisseur vom amüsierten Bürgertum wohlwollend beklatscht. So war es auch jetzt wieder in Zürich, wo Hartmann Thomas Bernhards Stück "Immanuel Kant" inszeniert hat. Als Schweizer Erstaufführung, dreißig Jahre nach der Uraufführung in Stuttgart.

Bernhards "Kant" fehlte zum Erfolgsstück die ganz große Suada - auf Österreich, alte Nazis, die bundesdeutsche Provinz oder das Theaterleben. Bernhards fiktiver Kant reist per Schiff nach Amerika und tapert doch nur erblindend durch die Schattenseite der Aufklärung, tyrannisiert sein Umfeld wie ein missgelaunter geschlagener Feldherr seine letzten Getreuen. Seine Waffe ist ein sprechender Papagei, der die hohl gewordenen Sentenzen des Meisters akkurat wiederholt. Seine Entourage ist eine verschrumpelte, treusorgende Gattin und ein zur Kreatur zurechtgestutzter Bruder; die Gesellschaft auf dem Ozeandampfer ist nicht viel besser: eine versoffene Millionärin, die dem mit der Titanic versunkenen Familienschmuck nachtrauert, ein Kunstsammler, ein Admiral, ein Kardinal. Das Stück stellt die Frage, wie das Denken nach Amerika kam. Und beantwortet sie auch: gar nicht. Kant kommt an und gleich ins Irrenhaus.

Dadurch kam Matthias Hartmann wohl auf dieses Stück; aber für Bernhard ist Amerika nur eine Metapher der Geistlosigkeit. Er wird nie so konkret, wie es heute nötig wäre. Und Hartmann enthält sich jeder persönlichen Anteilnahme, belässt den Text in einem blank gewienerten Theatermuseum, in welchem er die in solchen Rollen naturgemäß brillierende Sunnyi Melles als euphorische Schnapsdrossel und Michael Maertens als hysterischen Misanthropen sich selbst ausstellen lässt. EGBERT THOLL

Kant-Haken: Szene mit Michael Maertens, Wolfgang Michael und Sunnyi Melles Foto: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

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Transnationaler Discokapitalismus

Die Popbranche berät in Berlin über die eigene Zukunft

Jahre bevor uns die Krisenmeldungen von den Finanzplätzen der Welt erreichten, warnte bereits die Tonträgerindustrie vor ihrer bevorstehenden Abschaffung. Der Einbruch der Tonträgerabsätze sei eine der fatalen Folgen der rasanten technologischen Entwicklung. File-Sharing, Raubkopien und Internetpiraterie als Totengräber eines ganzen Industriezweigs ? Angesichts dieser Prognosen lässt der am Freitag veröffentlichte Jahresbericht des Internationalen Verbands der Phonoindustrie aufhorchen: Der weltweite Umsatz mit Musik-Downloads im Internet stieg 2008 im sechsten Jahr in Folge um 25 Prozent auf 3,7 Milliarden US-Dollar. Selbst wenn 95 Prozent der im Internet bewegten Musikdateien kostenlos und meist illegal verschoben werden, wird in keiner Branche im Digitalgeschäft so viel Geld verdient.

Mit keinem Wort wurde dies am vergangenen Wochenende während der Berliner Tagung "Dancing with myself" erwähnt. Obwohl sich Poptheoretiker, Branchenvertreter und Künstler doch eigentlich getroffen hatten, um über "Musik, Geld und Gemeinschaft nach der Digitalisierung" zu diskutieren. Die Popbranche, so scheint es, fühlt sich in ihrem Selbstverständnis als Gegenwelt von der Kultur des Internets viel mehr angegriffen. Im Tagungs-Panel "Zwischen Markt und Hochkultur. Welche Musik will der Staat ?" bezeichnete Christof Ellinghaus, Chef des Independent-Labels "City Slang", den Ruf nach einer staatlichen Unterstützung der kriselnden Tonträgerindustrie denn auch als "Kapitulation".

Volker Grassmuck, Medienforscher der Berliner Humboldtuniversität, bezog die Situation der Branche auf Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Dessen Grundsatz, das Eigentum nicht dem Stärkeren zufällt, sondern durch Gesetze geregelt werden müsse, gelte im digitalen Zeitalter für die Verbreitung von Musik nicht mehr. Grassmuck sieht die Rettung der ökonomischen Funktion von Musik in einer Kultur-Flatrate, die dem User gegen einen Festpreis erlaubt, sich kulturelle Inhalte aus dem Netz zu laden. Das aus den Fugen geratene Verhältnis zwischen kulturellem und pekuniärem Wert eines Kulturprodukts werde erst dann wieder sein Gleichgewicht finden, wenn der Konsument wisse, dass zumindest ein Teil des Kaufpreises nicht einem der vier großen, allein profitorientierten Musikkonzerne, sondern dem Künstler und seinem Nischenlabel zugute komme. Leider stehen die Chancen für eine solche Kultur-Flatrate derzeit schlechter denn je. Apple immerhin schaffte gerade den Kopierschutz seiner Musikdateien ab.

Die eigentliche Revolution

Der französische Wirtschafts- und Kulturtheoretiker Jacques Attali hatte in seinem Eröffnungsvortrag über die "Ausnahmeware" Musik bereits eine Zukunftsperspektive entworfen, deren Weitblick im Verlauf der Tagung unerreicht blieb. Musik, so Attalis Überzeugung, sei seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte ein Vorbote für grundsätzliche ökonomische und politische Umwälzungen gewesen. Die eigentliche Revolution der Musikindustrie sei nicht die Erfindung des Internets, sondern die Verbreitung des Radios ab 1920. Seitdem sei Musik quasi kostenlos und frei zugänglich gewesen. Die aktuellen Versuche, die kostenfreie Verbreitung von Musikdateien im Internet zu unterbinden, führten früher oder später zur Kapitulation der Kontrollinstanzen angesichts der schieren Masse und den immer neuen Techniken der illegalen Verbreitung. Auch hier nehme die Musikindustrie nur eine Entwicklung vorweg, die in Zukunft alle auf Zeichen basierten Kulturprodukte wie Bücher, Zeitungen und Filme betreffe. Das große Geld werde nicht mit unendlich reproduzierbaren Datenträgern, sondern im direkten Kontakt mit den Künstlern auf Lesungen oder Konzerten zu verdienen sein. Um diese Veranstaltungen zu bewerben, würden die Reproduktionen der Kreativwerke zukünftig kostenlos verteilen.

Dass Konzerte finanziell eine zunehmend wichtige Roll für die Musikindustrie spielen, bestätigte auch der Berliner Konzertveranstalter Berthold Seliger. Gerade Großveranstaltungen hätten in den vergangenen Jahren geholfen, die Branche zu stabilisieren. Das Potential des "authentischen Musikerlebnisses" sei freilich auch den global agierenden Musikkonzernen nicht entgangen. Sie versuchten, mit werbefinanzierten Live-Konzerten eine "Emotionsindustrie" zu etablieren, deren Ziel allerdings natürlich nicht Kulturvermittlung, sondern Profitmaximierung sei.

Auch der Musikjournalist Tobias Rapp betonte in seinem Vortrag über "Discokapitalismus", das Live-Ereignis im Club sei heute der Ort, an dem die Musik spiele. Nicht zuletzt die Berliner Discolandschaft habe bewiesen, dass Projekte von Großinvestoren und Werbeindustrie regelmäßig scheiterten. Spezialisierte Internetforen und das Angebot von Billigflügen dagegen hätten die Entstehung einer neuen, "transnationalen Techno-Öffentlichkeit" gefördert. Unlängst habe er mit einem Blogger über die Vorzüge eines weltweit renommierten Berliner Clubs gefachsimpelt. Sein Gesprächspartner habe sich im Nachhinein als ein 17-jähriger Technoliebhaber aus Toronto zu erkennen gegeben. In Rapps Anekdote fand der Tagungstitel "Dancing with myself" seine Entsprechung. Für das subversive Moment der Popmusik gilt auch in der digitalen Krise: Der Kult überlebt, wenn genug Menschen Teil der Bewegung sein wollen.

CORNELIUS WÜLLENKEMPER

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Es gibt eine Art von Müdigkeit, die hellhörig macht

Wieder da und noch immer lesenswert: Hermann Peter Piwitts in den späten siebziger Jahren geschriebener Roman "Die Gärten im März"

Ein paar kahle Bäume in winterlicher Trostlosigkeit zierten das Cover der Rowohlt-Ausgabe von Hermann Peter Piwitts Roman "Die Gärten im März". In den frühen 80er Jahren lag sie überall herum, zumindest dort, wo man auf Matratzen oder sonstwie tief am Boden schlief, ohne Nachttisch selbstverständlich, und wo das Durchgangszimmer der WG auf keinen Fall Wohnzimmer genannt werden durfte. Fast emblematisch hat sich dieses Bild ins Gedächtnis eingeprägt, ohne die Spur einer Erinnerung, worum es in diesem Roman ging.

Nun hat ihn der Wallstein Verlag, nachdem der Autor mit "Jahre unter ihnen" (2006) wieder auf sich aufmerksam machte, neu aufgelegt; mit dem vergilbten Foto eines fröhlichen Trinkers auf dem Umschlag, Bierglas in der einen, Zigarette in der anderen Hand. So wirkt er etwas patinierter als nötig und auch derber, einfältiger. Denn sprachlich hat er sich gut gehalten, wenn auch das Setting heute wirkt, als müsste es 1979, als die Erstausgabe erschienen ist, schon ein wenig veraltet gewesen sein. Es ist dennoch eine reizvolle Lektüre, ein fernes Echo jener Jahre, die für die Jüngeren der farbige Beginn der Zukunft waren, und für die Älteren noch zu nah am Krieg, um unbeschwert zu sein.

Der Muff der 50er Jahre klebt noch im Gebälk des Romans, die Diskursfetzen der Studentenrevolte durchwehen ihn, als wären sie ein unheimlicher Spuk, dem nicht zu trauen ist. Dass die Frauenfrage bei den 68ern nur ein Nebenwiderspruch war - wer es nicht schon wüsste, könnte es hier lernen. Wie Hermann Peter Piwitt, Jahrgang 1935, das Verhältnis der Geschlechter beschreibt, ist manchmal fast kurios. Und doch gibt es gerade in diesem Zusammenhang Sätze und Szenen, die in einem Gegenwartsroman nicht als Fremdkörper auffallen würden.

Der Erzähler des Romans ist ein wegen Schwindelanfällen krankgeschriebener Drucker, gehört also einem Berufsstand an, der mittlerweile so gut wie ausgestorben ist, damals aber ein geradezu ideales Alter Ego für einen Schriftsteller abgab. In ihm verbindet sich die geistige Ambition mit dem Proletarischen, eine Verbindung, die das Wunschbild vieler Autoren bürgerlicher Herkunft war. Während Lisa, seine Frau, noch hofft, er werde sich während seines Zuhauseseins um den Haushalt und den kleinen Sohn kümmern, begibt er sich auf die Fährte eines verschollenen Freundes. Schreibend natürlich. Dessen Vermieterin hat ihm Kartons voller Papierkram übergeben. Nun arbeitet er sich durch Schreibhefte mit Notizen, durch lose Zettel, bekritzelte Bierdeckel und ein Konvolut unabgeschickter Briefe.

Ein stilles Paar Stiefel

Während er das Leben und die Gedankenwelt des Freundes rekonstruiert und mit Vermutungen und eigenen Erinnerungen ergänzt, entsteht ein Spiegelkabinett männlicher Wünsche und Ängste. Ponto, Anfang vierzig, abgebrochenes Jurastudium, Gelegenheitsjobber, Naturfan, bekennender und standfester Trinker, hat das Leben lange ein bisschen leichter genommen als der Erzähler. Wenn's drauf ankam, bewegte er sich auch auf gesellschaftlichem Parkett so sicher wie in der finstersten Kaschemme. Und so hat er die schöne Carla erobert, der Vater Chefarzt, die Mutter sehr vermögend. Der Erzähler umkreist sie in seiner Beschreibung ebenso fasziniert wie erkennbar besorgt, er könne selbst schreibend noch der Attraktion ihrer souveränen Ausstrahlung erliegen. Zum Glück findet er in Pontos Aufzeichnungen Darstellungen der Paar-Beziehung, die seiner aufs Haar gleicht: kaum ist eine Frau im Haus, beginnt sie nörgelnd den Mann zu kontrollieren.

Dennoch enthalten diese Passagen das, was Adorno den Vorschein einer glücklichen Lebensform nennen würde. Auch wenn Ponto die reale Anwesenheit Carlas schwer ertragen hat, bedeuteten die Lebenszeichen ihrer Anwesenheit - "die auf der Ablage vorm Spiegel vergessenen Ringe, das stille Paar Stiefel neben dem Herd, die gebrauchte Tasse in der Küche, die Haarnadel auf dem Fußboden, die Falte im Kopfkissen" - das reinste Glück. Ob sein Verschwinden damit zu tun hat, dass sie ihn, den sie für einen "Hippie" hielt, wegen eines Internisten verlassen hat, lässt der Roman offen.

Bevor er verschwand, war Ponto heimlich zurück in das Haus seiner verstorbenen Eltern gezogen. Es ist die Überlagerung der Gedächtnisarbeit mit den Behausungssehnsüchten der beiden Helden, die diesen geschickt und skrupulös konstruierten Roman heute noch lesenswert macht. Er zeigt ein Kaleidoskop von Männertypen, vom reichen Vermieter aus jüdischer Familie, über den Kneipenwirt, der ausländerfeindliche Sprüche klopft und seine Schäferhunde auf dem Linoleum scharren lässt, über den proletarischen Erfolgsschriftsteller, der reihenweise Studentinnen vernascht und eben dafür verachtet.

Doch seine Stärke sind die leisen Momente. Dort bewährt sich die melancholische Beobachtungskunst Hermann Peter Piwitts, der das kaum Wahrnehmbare zu beschreiben vermag: "Es gibt eine Art von Müdigkeit, die hellhörig macht: irgendwann, wenn sich ihre Bedeutung nicht mehr fassen lässt, sammeln sich alle Geräusche auf einem einzigen Horizont um dich."MEIKE FESSMANN

HERMANN PETER PIWITT: Die Gärten im März. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 234 Seiten, 19 Euro.

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Ich erkenne das Schlimme, das ich zu tun im Begriff bin

Ein großer Wurf, der mit vielen Legenden aufräumt: Arbogast Schmitts umfassend kommentierte Ausgabe der "Poetik" des Aristoteles

"Darin ist jedermann einig, dass Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei," sagt Immanuel Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" von 1790. "Nachahmungsgeist", das klingt wie "Untertanengeist". Ihm soll seit dem 18. Jahrhundert der freie, der moderne Künstler nicht mehr unterworfen sein. Den bösen Nachahmungsgeist zu vertreiben, das hieß und heißt bis heute, die Idee zu verabschieden, gute Kunst entstehe durch die Befolgung verbindlicher Regeln. Von Regeln, die einer außerhalb des Künstlers vermuteten harmonischen Ordnung der Welt entstammen, der "Natur". Dies war nämlich, so geht die Geschichte der Rebellion, die zu überwindende Idee der Renaissance.

Denn die frühe Neuzeit hatte im Anschluss an die wiedergelesene "Poetik" des Aristoteles und an andere antike Schriften eine "Regelpoetik" entwickelt, die sich dann in der Barockzeit einerseits zu einem Wust von Vorschriften über den Einsatz rhetorischer Kunstmittel auswuchs, die aber andererseits am Gedanken der Nachahmung festhielt, wie ihn etwa Johann Christoph Gottsched in seinem "Versuch einer Critischen Dichtkunst" von 1730 formulierte: "Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen." Diese "aristotelische" Tradition war mit Beginn der Moderne abzuschneiden, hatte sie doch als dogmatische Konvention bis dahin der freien, genialen, schöpferischen Entfaltung, ja Entfesselung der Kunst im Weg gestanden, deren ungehemmte Produktivität auch heute kein Ende gefunden hat.

Eine Regelpoetik? Mitnichten!

Nur: Aristoteles war gar nicht schuld. Der griechische Philosoph, der mit seiner um 335 vor Christus geschriebenen "Poetik" die abendländische Literaturtheorie als eigenständige Disziplin begründete, hat überhaupt gar keine Regelpoetik geschrieben, und er war auch nicht der Ansicht, die Literatur müsse die Natur nachahmen. Mit diesem hartnäckigen Missverständnis gründlicher und begründeter aufzuräumen als irgendjemand zuvor, ist das Verdienst des Marburger Philologen und Philosophiehistorikers Arbogast Schmitt, der jetzt eine neue kommentierte Übersetzung der "Poetik" in der großen deutschen Aristoteles-Ausgabe vorgelegt hat.

Es ist ein großer Wurf geworden, auch wenn man wirklich niemandem raten möchte, mit dem Buch zu werfen: Wie viel interessanter geistesgeschichtlicher Ballast an der kleinen Schrift hängt, das sieht man allein schon daran, dass Aristoteles' eigentlicher Text in dieser Ausgabe bloß 37 Seiten einnimmt, in einem Buch, das knapp 800 Seiten umfasst. Was der Autor in seinem Kommentar unternimmt, ist nicht nur eine umfassende Verständlichmachung, sondern auch eine so aufwendig argumentierende wie leidenschaftliche Apologie des Aristoteles.

Sie betrifft, erstens, den Vorwurf der "Regelpoetik". Aristoteles, der den Erkenntniswert, die ethische Unbedenklichkeit und die anthropologische Relevanz der Dichtung gegen seinen Lehrer Platon verteidigt, gibt dem Dichter keineswegs einen verbindlichen Baukasten von Schreib-Vorschriften an die Hand, mit denen dieser ganz unabhängig von der eigenen Begabung hantieren könnte. So sagt Aristoteles ausdrücklich, die Erfindung guter Metaphern sei eine Sache besonderer Begabung und könne nicht erlernt werden.

Die vielleicht berühmteste "aristotelische" Vorschrift besagt: das Drama solle eine dreifache Einheit von Handlung, Ort und Zeit einhalten - aber von dieser Vorschrift steht bei Aristoteles nichts. Die folgenreiche Forderung wurde vielmehr in der Renaissance in die Welt gesetzt, und zwar vom "Poetik"-Herausgeber Lodovico Castelvetro (1570). Aristoteles hingegen postuliert lediglich eine Einheit der Handlung, des mythos, womit etwas ganz anderes gemeint ist: "die einheitliche Durchkomposition einer Handlungsdarstellung", wie Schmitt paraphrasiert. Es geht um die Aufgabe des Dichters, einen aus dem Charakter des Handelnden heraus möglichen, plausiblen Ablauf des fiktiven Geschehens zu gestalten.

Die zweite, damit verbundene Verteidigung betrifft die "Nachahmungspoetik". In ihrer Aneignung des antiken Erbes und Abwehr der mittelalterlichen Scholastik meinte die Renaissance fälschlich, es sei Aristoteles in Wahrheit um die mimesis der Natur gegangen, womit er sich dem Allgemeinen zugewendet habe, "also der Ordnung, den Regelmäßigkeiten, der Proportion und Harmonie und damit der Schönheit der erfahrbaren Welt" (Schmitt). Solche Ideen aber sind, wie der Kommentar aufzeigt, gar nicht aristotelisch, sondern stoisch-hellenistisch und vor allem über Römer wie Horaz in die Neuzeit gelangt. Das Missverständnis ist somit den "Einheitsvorstellungen der frühen Neuzeit von ,der' Antike zuzuschreiben.

Mit "Nachahmung" - dem Begriff, den der Idealist Platon verächtlich benutzt hatte - meint Aristoteles vielmehr den "medialen Charakter von Kunst" und im besonderen die Leistung der Literatur, eben eine mögliche menschliche Handlung zu gestalten. Eine gelungene "Nachahmung" besteht aber weder darin, dass die Realität einfach kopiert wird - die Eigenart der Fiktion wird anerkannt -, noch etwa umgekehrt darin, dass die Dichtung exemplarische, idealtypische, holzschnittartig reduzierte Charaktere produziert.

Nachahmung heißt hingegen, dass die Literatur in der Fiktion anthropologische Potentiale vorführt, die sich in einem einzelnen Charakter mit seinen habituellen Prägungen besonders eindrucksvoll zeigen. "Eine Handlung", fasst Arbogast Schmitt zusammen, "ist dann eine Nachahmung, wenn sie das, was jemand im allgemeinen kann, in einzelnen Reden und Taten zu aktualer, konkreter Wirklichkeit bringt." Literaturformen wie die von Aristoteles besonders intensiv behandelte Tragödie, die epische Erzählung oder auch die Komödie (die ausführliche Komödientheorie ist mit dem zweiten Buch der "Poetik" verlorengegangen) generieren also, wenn ihre Werke gelingen, "einzelne Verkörperungen (,Nachahmungen') der spezifisch menschlichen Möglichkeiten".

Auf imposante Weise setzt Schmitts Kommentar die Poetik zu Aristoteles' Gesamtwerk in Beziehung, etwa zu seinem Handlungsbegriff und seiner philosophischen Psychologie. ("Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden", forderte Lessing.) Das gilt erst recht für die dritte Verteidigungslinie - sie gilt dem Vorwurf, Aristoteles habe eine rein rationalistische, intellektualistische Lehre von der Literatur entworfen. Gewiss, Dichtung ist für Aristoteles "zwar kein abstraktes Wissen, aber doch eine Form der Erkenntnis". Verkopft sei aber die "Poetik" deshalb keineswegs, so Schmitt. Wenn man die skizzenhafte "Poetik" - die nicht zur Veröffentlichung, sondern nur zur Verwendung im Lehrbetrieb der Schule des Aristoteles gedacht war - mit dessen übrigen Schriften verbinde, dann werde noch deutlicher, dass der moderne Gegensatz von Genie und Ratio, von Gefühl und Erkenntnis Aristoteles gar nicht trifft.

Vielmehr glaube der Philosoph an eine "immanente Rationalität" der Gefühle - ganz ähnlich dem in jüngster Zeit beliebten Postulat einer "emotionalen Intelligenz". Die Vorstellung, "Denken, Fühlen und Wollen" seien "getrennte, voneinander unabhängige psychische Vorgänge", sei Aristoteles fremd; und deswegen sei das Begreifen etwa von tragischen Handlungen für Aristoteles kein rein emotionaler, aber eben auch kein rein rationaler Vorgang. Passend wird diese Mischung an Medea exemplifiziert, die bei Euripides kurz vor der Ermordung ihrer eigenen Kinder sagt: "Ich erkenne das Schlimme, das zu tun ich im Begriff bin, aber meine leidenschaftliche Empörung beherrscht mein ganzes Planen."

Die Rationalität der Gefühle

Arbogast Schmitt wendet sich denn auch gegen die gängige Deutung der wohl bekanntesten Einzelstelle der "Poetik" im 9. Kapitel, wonach die Tragödie "durch Mitleid und Furcht" eine "Reinigung von derartigen Gefühlen" bewirkt - oder, wie Schmitt bewusst mit Lessing anders übersetzt, "eine Reinigung eben dieser Gefühle". Die "Katharsis" regiere keinen "separativen" Genitiv, in dem Sinne, dass Mitleid und Furcht beim Besuch von Tragödien durch eine gleichsam physiologische Konfrontation eliminiert würden; sondern es gehe bei der Reinigung um eine "Steigerung des Anteils der Rationalität in den Gefühlen selbst". Das geht gegen die "medizinische" Deutung der Katharsis, die der Gesamtherausgeber der Aristoteles-Ausgabe, Hellmut Flashar, selbst formuliert hat.

Arbogasts Schmitts Kommentar behandelt noch viele andere Fragen - Metapherntheorie und Stil-Lehre oder Literaturgeschichtliches wie die Entstehung der Tragödie. Wenn es etwas an diesem gelehrten Werk auszusetzen gibt, dann seine nahezu grenzenlose Bereitschaft, alles, aber auch alles bei Aristoteles für schlüssig zu erklären. Denn wenn Aristoteles' "Poetik" nicht so schwierig wäre, hätte es doch weder die Missverständnisse seit der Renaissance gegeben noch 800 Seiten Kommentar gebraucht.

Diese Ausgabe ist ein grandioser Hinweis darauf, dass die Abheftung der "Poetik" durch die Genieästhetik voreilig war. Und darauf, dass diese Schrift auch unabhängig vom Argumentationsgang und ihrer komplizierten Wirkungsgeschichte bis heute bedenkenswerte Ratschläge für die Literatur enthält - wie dem nebenstehenden Kasten zu entnehmen ist. JOHAN SCHLOEMANN

ARISTOTELES: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 5. Akademie Verlag, Berlin 2008. 789 Seiten, 98 Euro.

Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründete die Literaturwissenschaft als eigene Disziplin. Rembrandts Bild "Aristoteles, eine Büste Homers betrachtend" von 1653 hängt im Metropolitan Museum in New York. Foto: united archives /PA

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Tipps von Aristoteles für den Creative-Writing-Kurs

"Gegenstand dichterischer Nachahmung sind handelnde Menschen." (Kapitel 2)

"Anfänger im Dichten vermögen eher in der sprachlichen Gestaltung und in der Charakterzeichnung Genaues zu leisten, als sie Handlungen zu einer Einheit fügen können." (Kapitel 6)

"Nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit einfach wiederzugeben, ist die Aufgabe eines Dichters, sondern etwas so darzustellen, wie es gemäß innerer Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h., was als eine Handlung eines bestimmten Charakters möglich ist." (. . .) "Daher sind grundsätzlich von den Mythen und Handlungen diejenigen die schlechtesten, die episodisch sind." (9)

"Offenkundig erregen von den zufälligen Ereignissen die am meisten Staunen, die den Anschein haben, gleichsam aus Absicht zu geschehen." (9)

"Man muss bei der Charakterzeichnung wie bei der (. . .) Handlung immer das Notwendige und Wahrscheinliche suchen: Es muss ein so und so beschaffener Mensch notwendig oder wahrscheinlich so und so Beschaffenes sagen oder tun, und es muss diese Handlung notwendig oder wahrscheinlich Folge dieser anderen sein." (15)

"Die überzeugendste Darstellung gelingt denen, die selbst (. . .) die dargestellen Gefühle empfinden. (. . .) Deshalb erfordert die Dichtung eine reich begabte Natur oder einen manischen Charakter." (15)

"Viele bauen die Verwicklung zwar gut auf, lösen sie aber schlecht auf. Es muss aber beides immer einander entsprechen." (18)

"Die beste Ausdrucksweise ist die klare und nicht alltägliche." (22)

"Die Ausarbeitung des sprachlichen Ausdrucks muss in den Teilen besonders sorgfältig sein, in denen die Handlung ruht und weder Verhaltens- noch Argumentationsweisen charakterisiert werden. Es versperrt freilich eine allzu brillante Sprache auch wieder den Blick auf das Charakteristische im Verhalten und Denken." (24)

"In eigener Person soll der Dichter so wenig wie möglich sagen. Dieses macht nicht zum Dichter." (24)

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Lebendige Geschichte

Von SZ-Autoren: Tobias Kniebe über die "Operation Walküre"

Bevor ungelenke TV-Nachinszenierungen oder Tom Cruise endgültig unser Geschichtsbild prägen, unternimmt Tobias Kniebe einen Gegenversuch: Warum sollte ein historisches Ereignis nicht genauso klar und spannend beschreibbar sein, wie moderne Erzählrhythmen es verlangen - aber ohne falsche Bilder zu produzieren, ohne bei Recherche, Faktentreue und Quellenanalyse Kompromisse einzugehen?

Tobias Kniebe lässt die ,,Operation Walküre", den Geheimplan des militärischen Widerstands gegen Hitler, lebendig werden: Von der ersten Bombe, die Oberst Henning von Tresckow in Hitlers Flugzeug schmuggeln ließ, über das gescheiterte Selbstmordattentat im Berliner Zeughaus bis zu Claus Schenk Graf von Stauffenberg und dem Staatsstreich am 20. Juli 1944. Es geht auch um sonst wenig beachtete Fragen, etwa in welcher Kirche Stauffenberg vor dem Attentat gebetet hat. Die Darstellung beruht auf umfassenden Recherchen und Interviews mit den letzten Zeugen des Widerstands, darunter Ewald von Kleist, Philipp Freiherr von Boeselager sowie zwei Stauffenberg-Söhne. Entstanden ist ein spannendes Stück Geschichtsschreibung mit vielen Details, die Film und Fernsehen eben doch nicht zeigen können.SZ

TOBIAS KNIEBE: Operation Walküre. Das Drama des 20. Juli. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2009. 286 S., 19,90 Euro.

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Harbour Front

Neues Literaturfestival für Hamburg

Hamburg bekommt ein neues internationales Literaturfestival: "Harbour Front". "Der Hafen, der für sich allein genommen schon ein Zentrum der verschiedenen Sprachen und Kulturen und damit Spiegelbild dessen ist, was Literatur weltweit darstellt, ist der idealtypische Austragungsort für ein Literaturfestival", sagte Initiator Nikolaus Hansen. Drei Wochen vor der Frankfurter Buchmesse will das Festival vom 9. bis 19. September "große und wichtige Autoren präsentieren, die im Herbst mit Neuerscheinungen auf den Markt kommen".dpa

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Kunst im Narrenschiff

Von Anfang an: Wolf Schneider erzählt die Menschheitsgeschichte

Der bekannte Journalist und Sachbuchautor Wolf Schneider - erster Leiter der Henri-Nannen-Schule, Korrespondent der SZ, GEO-Autor und vieles mehr - ist für seinen sprachpflegerischen Elan bekannt. Jetzt hat er sich eine so reizvolle wie große Aufgabe gestellt: den Roman der Menschheit zu erzählen. Doch das Vorhaben klingt thomasmännischer als es ist. Schneider geht es nicht um Tiefenauslotungen im Brunnen der Vergangenheit, sondern viel handfester um "die atemberaubende Geschichte, wie aus einem Häuflein überdurchschnittlich schlauer Affen der Herr der Erde wurde - und wie er sie nun zu ruinieren droht."

Entsprechend beginnt das Buch mit der Darstellung der paläontologischen und anthropologischen Bedingungen der Menschwerdung, also der verschiedenen äffischen und hominiden Vorfahren des Menschen sowie der Sache mit Werkzeug, Sprache und Feldbestellung. Dann wird von der Ausbreitung der westlichen Zivilisation als einer Art weltweiter Plage und von der Technikentwicklung als einer Leistungssteigerungsgeschichte am Rande der Anmaßung berichtet. Schließlich mündet das Buch in eine krisenenzyklopädische Bestandsaufnahme des Heute mit einem Ausblick in die Zukunft. Durchatmen ist nach der faktenreichen Lektüre angesagt. Das Buch erscheint als die Summe eines produktiven Wissenschaftsjournalistenlebens.

Einfallsreichtum und Irrsinn

Schneider will umfassend Bilanz ziehen und trägt alle möglichen interessanten Zahlen, Daten und Namen zusammen. Auch wenn das Buch in einer flüssigen Prosa geschrieben ist, lebt es dabei von einem ähnlichen Charme wie die beliebten Listen- und Sammelsuriumsbücher: Ständig stößt man auf Rekorde in Einfallsreichtum und Irrsinn und trifft auf unzählige Beispiele von schamlosem Machtmissbrauch, auf kleine humane Lichtblicke und diverse Kuriosa - wie sie sich in der Geschichte eben so finden. Der stets informierende Text bewegt sich gefährlich nah am Rand des bloßen Stimmengewirrs.

Angesichts der selbstverordneten Sisyphos-Arbeit scheint der Vorwurf, dass hier etwas Unmögliches versucht wird, ein wenig ungerecht. Aber auch wenn es erfrischend ist, so ganz unessentialistisch einiges über die Widersprüchlichkeiten und Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur zu erfahren, und auch wenn man an einige alarmierende Fakten über den Zustand der Welt erinnert wird, so fällt das Buch doch auseinander. Die vielen bunten Steine fügen sich nicht recht zu einem Mosaik.

Am Ende verrät uns der desillusionierte Menschenfreund aber immerhin noch den Grund für seine anthropologische Gelassenheit: Ganz schlimm kann es nicht stehen, wenn es uns gelungen ist, mit Kunst, Literatur, Musik, Leben, Lieben und Lachen wenigstens ein wenig Sinn auf das Narrenschiff unseres Daseins zu mogeln. OLIVER MÜLLER

WOLF SCHNEIDER: Der Mensch. Eine Karriere. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008. 495 Seiten, 19,90 Euro.

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Trautmann: Die Hanno Herz Story

3sat, 20.15 Uhr. Der Wiener Kommissar Trautmann (Wolfgang Böck) liegt nach einem Unfall im Koma und träumt von einem ungelösten Fall: Die Leiche einer jungen Frau war in den Praterauen gefunden worden, nachdem die Dame ein Rendezvous mit einem Schlagersänger hatte. Der nach außen apathische Polizist rollt den Fall in Gedanken neu auf. Foto: ZDF

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Jäger geht mit Waffe auf Sohn los

Metzger wegen versuchten Mordes angeklagt

München - Die Jagd ist seine Leidenschaft, und sein Waffenschrank war gut sortiert. Es hätte also durchaus in einer Tragödie enden können, als Metzgermeister Jakob K., 55, im März vorigen Jahres nach einem an sich harmlosen Streit mit seinem Sohn Andreas, 20, zu einer großkalibrigen Smith & Wesson Magnum griff, um seine Position als Familienoberhaupt zu unterstreichen. Es fiel auch ein Schuss, doch der blieb im Boden stecken und verletzte niemanden. Vor einer Anklage bewahrte dies Jakob K. aber nicht. Seit Montag muss er sich wegen versuchten Mordes vor dem Schwurgericht verantworten.

In der Wahrnehmung von Jakob K. war in der Familie, die im Norden Münchens wohnt, stets alles zum Besten bestellt. Dass die Familie dies wohl völlig anders sieht, die Frau die Scheidung eingereicht und er in der Untersuchungshaft seit acht Monaten keinerlei Kontakt mehr zur seinen Angehörigen hat, scheint ihn nicht zu tangieren. Jakob K. lebt in seiner eigenen Welt, und die besteht vor allem aus der Jagd. Am "glücklichsten" sei er während der Ausbildung zum Jäger gewesen, lässt er das Gericht wissen. Im Metzgerberuf kam er weniger zurecht, eine Geschäftspleite jagte die nächste, mit Alkohol versuchte er sich darüber hinwegzutrösten.

Auch am 26. März vorigen Jahres hatte Jakob K. kräftig gezecht. Der Sohn regte sich darüber auf, ein Wort gab das andere. Jakob K. stürzte zum Waffenschrank, riss die Magnum heraus und ging auf seinen Sohn los. "Erst zielte er auf den Boden, dann auf meinen Körper" schildert der 20-Jährige. Er habe sich auf den Vater gestürzt und dessen Hand mit dem Revolver nach unten gedrückt. Dabei löste sich ein Schuss.

Die Anklage wirft Jakob K. vor, er habe "seinen unbedingten Machtanspruch als Familienoberhaupt um jeden Preis" durchsetzen wollen. Als Jäger sei er im Umgang mit der Waffe vertraut gewesen und habe einen möglichen tödlichen Ausgang billigend in Kauf genommen. Der Angeklagte versucht die Sache herunterzuspielen. "Ich möchte betonen, dass ich zu keinem Zeitpunkt vorhatte, auf meinen Sohn Andreas mit der Waffe einen Schuss abzugeben", lässt er seine Anwälte Markus Meißner und Derek Setz vortragen. Er habe dem Sohn nur Angst machen wollen, weil er sich von diesem gedemütigt und gemaßregelt gefühlt habe. Das Verfahren ist auf insgesamt vier Tage terminiert. Alexander Krug

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Vor zwei Jahren verschwand Geldtransporterfahrer Sven K. mit 3,6 Millionen Euro

Wer zuletzt lacht . . .

Die lange Haftstrafe nahm der Dieb lächelnd zur Kenntnis, doch auf lange Sicht wird er keine Ruhe bekommen

Von Susi Wimmer

München - Sieben Jahre Haft, so lautete das Urteil des Landgerichts München II gegen den Millionendieb Sven K. Der 33-Jährige nahm das Urteil im August 2008 lächelnd zur Kenntnis. Hinter ihm schlossen sich die Türen der Justizvollzugsanstalt Tonna in Thüringen und mit sich nahm er das Geheimnis um den Verbleib der Millionenbeute: Heute, auf den Tag genau vor zwei Jahren, trickste Geldtransporterfahrer Sven K. während einer Dienstfahrt seinen Kollegen aus und verschwand mit 3,6 Millionen Euro. Mehr als ein Jahr lang war Sven K. auf der Flucht, Zeit genug, um die Beute zu verstecken. Doch Ruhe wird Sven K. noch lange nicht haben: Nächste Woche wird der ehemalige Arbeitgeber von Sven K. in einem Zivilrechtsverfahren seine finanziellen Ansprüche geltend machen. Und sobald Sven K. nach Verbüßung seiner Haftstrafe einen Fuß in die Freiheit setzt, wird es Schatten geben, die ihm folgen.

Die Polizei war ihm über ein Jahr lang auf den Fersen, letztendlich aber war es Zufall, dass der Millionendieb am 23. April 2008 verhaftet wurde: Schleierfahnder kontrollierten Sven K. routinemäßig im Interregio zwischen Nürnberg und Dresden. Sven K. hielt ihnen seinen echten Ausweis hin, und die Beamten stauten nicht schlecht, als ihnen dämmerte, wen sie da vor sich hatten. Gelächelt hat Sven K. zu diesem Zeitpunkt zumindest noch nicht.

Akribisch hatte die Polizei versucht, die Routen nachzuverfolgen, die Sven K. während seiner 15 Monate andauernden Flucht genommen haben musste. Angefangen am 20. Januar 2007, als Sven K. seinen Kollegen von der Geldtransporter-Firma G4S an einem aufgelassenen Parkplatz an der Autobahn bei Sulzemoos unter einem Vorwand aus dem gepanzerten Wagen lockte und dann einfach Gas gab. Nur ein paar Kilometer weiter hatte Sven K. einen Mietwagen geparkt, in diesen lud er die Beute um. Allerdings nicht alles: 4,2 Millionen Euro befanden sich im Fond des Transporters, Sven K. packte "nur" 3,6 Millionen ein. Ob er gestört wurde, zu hektisch war, oder die restlichen 600 000 Euro schlichtweg nicht mehr in den Kofferraum des Mietwagens passten, ist unklar.

Dann düste Sven K. los mit Zielrichtung Fährhafen Marseille in Frankreich. Die Beute packte er in Damenstrumpfhosen. Sven K. muss während dieser Fahrt auch durch das Elsass gekommen sein und dort den Kofferraum geöffnet haben. Denn die Spurensicherung fand später im Kofferraum eine Tannennadel aus den Vogesen. Von Marseille, wo er das Fluchtauto stehen ließ und eine Fähre bestieg, ging die Route weiter nach Algerien, dann Spanien, Karibik und wieder Spanien. Angeblich wegen gesundheitlicher Beschwerden kam er wieder zurück nach Deutschland.

Jetzt sitzt der aus Thüringen stammende Sven K. in Tonna ein. Das Geld, so erklärte er im Prozess, habe er noch am Tattag einer Frau aus Georgien überlassen. Er habe sie erst vor kurzem kennengelernt und in den Plan eingeweiht. Man habe sich dann beim Mietwagen getroffen. Er habe das Geld in ihr Auto eingeladen und sei mit leerem Kofferraum nach Marseilles geflüchtet. Dort, so erklärte er vor Gericht, habe er sich wieder mit der Georgierin treffen wollen, doch die sei nicht erschienen.

Der Vorsitzende Richter Martin Rieder wollte Sven K. diese Geschichte jedoch nicht abnehmen. "Wir glauben nicht, dass diese Dame existiert", sagte Rieder. Sven K. blieb bei der Version und ging auch nicht auf den Ratschlag seines Verteidigers ein, der ihm nahelegte, das Geldversteck doch preiszugeben.

3,6 Millionen Euro - wie vom Erdboden verschluckt. Der ehemalige Arbeitgeber von Sven K., die Münchner Firma G4S, existiert mittlerweile nicht mehr. Das Unternehmen verkaufte seine deutschen Niederlassungen, die Sparte "Geld- und Werttransporte" fiel an die Düsseldorfer Firma Securlog. Dort hielt sich jedoch der Schaden, den Sven K. verursacht hatte, in Grenzen. Denn die Versicherung erstattete Securlog drei Millionen Euro. Die fehlenden 600 000 will sich das Unternehmen nun per Gericht sichern.

Am Dienstag, 27. Januar, wird über die Zivilrechtsklage Securlog gegen Sven K. entschieden. "Bislang hat sich kein Anwalt für Sven K. bestellt, und selbst wenn er alleine zur Verhandlung kommen würde, könnte er keine Anträge stellen", sagt Isabel Liesegang vom Landgericht München II. Im Klartext: Sven K. wird wohl nicht vor Gericht erscheinen; das Gericht würde dann ein sogenanntes Versäumnisurteil erlassen, und die Firma Securlog hätte einen Titel gegen Sven K. erwirkt, der ihr Zugriff auf seine Finanzen gestattet, sollte er jemals zu Geld kommen.

Auch bei der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft München II ist die Akte Sven K. noch längst nicht geschlossen. Selbst wenn der Millionendieb jetzt hinter Schloss und Riegel sitzt, "das hindert die Polizei nicht, weiterhin der Frage nach der Beute nachzugehen", sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Rüdiger Hödl. Außerdem meint Hödl, dass die Beute "im Rahmen der Strafverbüßung noch eine Rolle spielen könnte". Denn nach zwei Drittel der verbüßten Strafe, also nach etwa viereinhalb Jahren, könnte Sven K. Antrag auf Strafaussetzung zur Bewährung stellen. Mehr Kooperationsbereitschaft als bislang könnte dann von Vorteil sein.

Ob sich die Polizei nach der Entlassung Sven K.s wieder an seine Fersen heften wird, diese Frage will der Leitende Oberstaatsanwalt Hödl heute nicht beantworten. "Aber, denken Sie an Dieter Zlof", sagt er nur. Zlof hatte am 14. Dezember 1976 in Weihenstephan den Unternehmersohn Richard Oetker entführt und 21 Millionen Mark Lösegeld erpresst. Zlof wurde gefasst und in einem spektakulären Indizienprozess zu 15 Jahren Haft verurteilt. Als er 1994 wieder frei kam, ließ ihn die Polizei nicht aus den Augen. Und Zlof stand noch vor einem anderen Problem: Die bis dato gültigen 1000-Euro-Scheine aus seiner Beute waren aus dem Zahlungsverkehr genommen und durch neue Scheine ersetzt worden. Umtauschen konnte er die alten Noten nur in einer Landeszentralbank. Zlof wurde im Mai 1997 erneut verhaftet, als er in London versuchte, die Beute zu waschen. Zudem war ein Großteil der Scheine, die in einem Erdloch versteckt waren, mittlerweile verrottet. Zlof ging erneut für zwei Jahre in Haft. Heute arbeitet er an einer Würstchenbude in München - und ist durch die Rückzahlung des Lösegeldes hoch verschuldet.

Flucht nach Marseille

"Denken Sie doch an Dieter Zlof"

Sven K. lächelte auch noch nach dem Urteil zu sieben Jahren Haft: Nur er weiß, wo die 3,6 Millionen Euro aus seinem Raub abgeblieben sind. Foto: ddp

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Die Diebe und die Angestellte

Verdächtige Mitarbeiterin im KVR wird versetzt

München - Nach dem Bekanntwerden staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gegen eine Mitarbeiterin des Kreisverwaltungsreferats (SZ vom vergangenen Samstag) hat die Behörde am Montag reagiert: "Die Mitarbeiterin wurde offiziell umgesetzt", sagte KVR-Sprecher Christopher Habl - in einen Bereich, in dem Kristina S. keinen Zugang mehr zu sensiblen Daten hat. Außerdem will das KVR Akteneinsicht beantragen, um das Ausmaß der Vorwürfe beurteilen zu können. Weitere Fragen, etwa zur Datensicherheit in der Behörde, wollte der Sprecher nicht beantworten.

Dabei stellen sich solche Fragen durchaus. Die städtische Angestellte in der Verkehrsüberwachung, immerhin stellvertretende Leiterin des Sachgebiets Verwarnungsverfahren, wird verdächtigt, eine Motorraddiebesbande mit Daten aus ihrem Arbeitsbereich unterstützt zu haben: Die Diebe, sechs Männer und zwei Frauen, sollen Ausschau nach stehlenswerten Motorrädern gehalten haben. Hatten sie eines entdeckt, notierten sie das Kennzeichen. Kristina S. soll dann die Adressen der Besitzer aus dem Dienstcomputer geholt und weitergegeben haben. Damit konnten die Diebe in Tiefgaragen eindringen und die Motorräder, meist solche der gehobenen Klasse, ungestört aufbrechen und mitnehmen. In etwa einem halben Jahr, bis zu ihrer Festnahme im August 2007, richteten sie so einen Schaden von 250 000 Euro an. Die Motorräder wurden dann zumeist nach Bosnien-Herzegowina gebracht, der Heimat der meisten Bandenmitglieder, und dort weiterverkauft.

Verletztes Dienstgeheimnis

Vor dem Landgericht München I läuft der Prozess gegen die Bande. Sechs Angeklagte wurden bereits zu Haftstrafen verurteilt. Erst im Verlauf der Hauptverhandlung kam heraus, dass es noch eine neunte Beschuldigte gibt: Kristina S. Dass sie nicht mitangeklagt war, begründete die Staatsanwaltschaft damit, dass Ermittlungen wegen des Paragraphen 353 b des Strafgesetzbuches geführt würden, "Verletzung des Dienstgeheimnisses". Bei diesem Tatbestand muss der Dienstherr zustimmen, bevor der Staatsanwalt ermitteln darf. Damit war klar, dass Kristina S. in der öffentlichen Verwaltung arbeitet. Als sie im Prozess als Zeugin geladen war, verweigerte sie die Aussage: Sie könnte sich selbst einer Straftat bezichtigen.Stephan Handel

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"So schlecht wie seit dem Fahrplanwechsel war es noch nie"

Kunden werfen der Bahn Betrug vor

SZ-Leser rügen Verspätungen, fehlende Informationen und die Nutzlosigkeit von Beschwerden

Der Ärger bei Bayerns Bahnkunden über Verspätungen, uralte Waggons, chaotische Informationspolitik und die Nutzlosigkeit von Beschwerden sitzt offenkundig tief. Nachdem wir in der vergangenen Woche insbesondere über Probleme der Bahnpendler auf der Strecke Augsburg - München berichtet und unsere Leser gebeten haben, uns ihre Erlebnisse zu schildern, hat die Bayernredaktion eine Vielzahl von E-Mails erreicht. Wir veröffentlichen einige markante Aussagen aus den Zuschriften.

"Der Regionalexpress 30 001 von München nach Salzburg, Abfahrt 5.51 Uhr am Hauptbahnhof, ist mir, der ich in Rosenheim arbeite, ein häufiges Ärgernis", schreibt Frank Frischeisen aus München. "Oftmals ist es so, dass dieser Zug wegen Lokschaden, Defekt am Steuerwagen, Defekt an einem Wagen oder etwas anderem nicht bereitgestellt werden kann. Vergangenen Freitag, 16. Januar, betrug die Verspätung bei der Abfahrt in München 42 Minuten."

Agathe Schreieder pendelt täglich zwischen Regensburg und München, der Preis für ihr Monatsabo hat sich mit der Fahrplanänderung zum 14. Dezember um vier Prozent erhöht. "Die Pendler haben seither bei vielen Verbindungen das Vergnügen, mit Zügen zu fahren, die die DB aus der Mottenkiste geholt hat: schmutzig, zugig, laut und unbequem."

"Zwischen dem 13. Oktober und dem 9. Dezember habe ich insgesamt 21 Mal den IC 29 von Nürnberg (Abfahrt 16.31 Uhr) nach Regensburg benutzt. Der Zug ist kein einziges Mal pünktlich in Regensburg eingetroffen", schreibt Marcus Sauer aus Regensburg. "Im Schnitt hatte er mindestens 13 Minuten Verspätung. Für 2009 ergibt sich bereits wieder dasselbe Bild. Ein weiterer Kommentar dazu erübrigt sich."

Carsten Witt aus Jesenwang wirft die Frage auf, warum in Japan das Zugpersonal bereits mit Disziplinarstrafen rechnen muss, wenn der Zug nur wenige Sekunden Verspätung hat. "Und das bei wesentlich dichteren Zugfolgen als bei uns. Vielen Reisenden wäre schon geholfen, wenn eine Verspätungsmeldung möglichst früh bekanntgegeben würde, so dass man noch auf Taxi, Leihwagen oder eigenes Auto ausweichen könnte."

Gerd Olbrich, der seit 20 Jahren von Dinkelscherben nach Augsburg pendelt, schreibt: "So schlecht wie seit dem Fahrplanwechsel im Dezember war es noch nie. In der für Berufstätige und Schüler wichtigen Zeit zwischen 6.45 Uhr und 7.15 Uhr verkehrt statt bisher drei Regionalzügen nur noch einer. Dieser Zug hatte in den ersten Tagen unverständlicherweise auch noch eine viel zu geringe Kapazität und war deswegen bereits in Dinkelscherben hoffnungslos überfüllt. An den nächsten Stationen spielten sich zum Teil tumultartige Szenen ab, weil Schulkinder vergeblich versuchten, in den vollgestopften Zug zu gelangen."

"Politisch gesehen ist die Leistung der Bahn eine Katastrophe", urteilt Harald Labbow, der täglich mit dem IC um 7.31 Uhr von Augsburg nach München pendelt. Obwohl der Zug seit Tagen ohne Wagen der ersten Klasse verkehrt, verkaufe die Bahn im Internet Erste-Klasse-Tickets für diesen Zug. "Das ist ein klarer Betrug am Kunden. Leider resignieren viele Fahrgäste und reklamieren nicht mehr, da die Antworten auf Beschwerdebriefe aus Textbausteinen bestehen und weit am Thema vorbeigehen."

Ähnliche Erfahrungen mit dem IC 73 941, der um 7.31 Uhr in Augsburg abfahren soll, hat Wilhelm Geiger aus Bobingen gemacht. Montag, Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche kam der Zug ohne Wagen der ersten Klasse, für die er immerhin ein Monatsabo für den Preis von 321 Euro bezahlt. Sein Beschwerdeanruf unter einer kostenpflichtigen Nummer erbrachte die Aussage, es würde sich sofort was ändern. Doch am Freitag kam der IC wieder ohne drei Waggons und ohne erste Klasse, obwohl diese per Lautsprecherdurchsage sogar angekündigt wurde. Die Fahrt nach München erfolgte stehend im überfüllten Zug. "Was sich diese Woche an Bahnsteig vier im Augsburger Hauptbahnhof abspielte, war aus meiner Sicht eines juristischen Laien schlicht und ergreifend Betrug", schreibt auch Geiger.

Nur eine Ausrede

Und Rudolf Gamperling, der häufig mit Regionalzügen am Wochenende von Augsburg über München nach Garmisch fährt, hat festgestellt: "Höchstens 20 Prozent der Fahrten laufen ohne Panne oder Verspätung ab."

"Nach meiner jahrelangen Erfahrung bin ich der Meinung, dass es sich bei den von der Bahn angegebenen Störungen im Betriebsablauf nur um eine Ausrede für irgendeinen dummen Fehler handelt, den man natürlich nie zugeben wird", schreibt Benedikt Hartmann. "Vor kurzem befand ich mich auf dem Heimweg nach Augsburg mit dem RE 10 906, in München natürlich verspätet abgefahren. Auf freier Strecke blieben wir plötzlich stehen. Nach zehn Minuten kam dann die Durchsage, dass angeblich ein Güterzug vor uns auf der Strecke liegen geblieben sei und sich die Weiterfahrt um ein paar Minuten verzögern werde. Aus ein paar Minuten wurde am Ende mehr als eine halbe Stunde. Natürlich gab es keine weiteren Durchsagen, keine Entschuldigung, kein Nichts - wir sind irgendwann einfach wieder losgefahren."

Liebe SZ-Leser, wir sind sicher, dass auch andere Fahrgäste stöhnen, wenn sie auf die Bahn angewiesen sind. Schreiben Sie uns Ihre Erlebnisse unter Bayernredaktion@sueddeutsche.de aro

Aus der Traum: Schmutzig, zugig, laut und unbequem seien derzeit viele Züge in Bayern, klagen Pendler. Foto: ddp

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Unfallserie auf der A 8 am Irschenberg

Irschenberg - Bei einer Unfallserie auf der Autobahn Salzburg-München (A 8) sind am Montagmorgen am Irschenberg mehrere Menschen verletzt worden. Nach Angaben der Polizei erkannte eine 27 Jahre alte Frau aus Breitbrunn am Chiemsee in Höhe eines Parkplatzes zu spät, dass der Autofahrer vor ihr abbremste. Ihr Wagen krachte in das Heck des Vordermanns. Der Unfall führte zu einem Stau, an dessen Ende sich eine weitere Karambolage ereignete. Eine 22-Jährige aus Traunstein geriet mit ihrem Wagen ins Schleudern und prallte in zwei Autos. Sie musste aus dem Wrack befreit werden, wie das Polizeipräsidium Oberbayern Süd in Rosenheim mitteilte.

Sekunden später krachten zwei weitere Fahrer in andere Autos. Sie hatten das Stauende übersehen. Einer der beiden erlitt einen Nasenbeinbruch, der andere verletzte sich im Gesicht. Der gesamte Schaden der Unfallserie liegt bei mehr als 70 000 Euro. Zeitweise war die A8 total gesperrt. Auch auf zahlreichen anderen Straßen im Freistaat kam es zu Glatteisunfällen mit Verletzten. dpa

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Mitten in Bayern

Mehdorns rosarote Brille

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie abgehoben der Bahnvorstand agiert und wie wenig er vom Alltag seiner Kunden weiß, dann hat ihn Hartmut Mehdorn jetzt geliefert. In einem Interview mit einer großen Sonntagszeitung hat der Bahnchef ein Bild von seinem Unternehmen gezeichnet, das den Erfahrungen vieler Fahrgäste, und besonders denen der Berufspendler nur noch Hohn spricht. Auf die Frage, wann er eigentlich das letzte Mal wegen der Bahn zu spät zu einem Termin gekommen sei, antwortete Mehdorn: "Ehrlich gesagt: noch nie. Vielleicht bin ich ja ein Glückspilz."

Nein, so viel Glück kann nicht einmal ein Hartmut Mehdorn haben. Entweder hat der Bahnchef bei diesem Interview die rosarote Brille aufgehabt. Oder er ist so gut wie nie mit der Bahn unterwegs - zumindest nicht in Bayern und schon gleich gar nicht mit Regionalexpresszügen. Sonst hätte seine Antwort anders ausfallen müssen.

Denn Tatsache ist: Was die Bahn derzeit im Nah- und Regionalverkehr abliefert, ist eine Frechheit gegenüber den zahlenden Kunden. Züge, bei denen man schon froh sein muss, wenn sie wenigstens einmal die Woche pünktlich ankommen oder abfahren, uralte Waggons, unfreundliche oder überforderte Zugbegleiter, Informationspannen ohne Ende, ein nutzloses Beschwerdewesen und eine Bürokratie bei Rückerstattungen, die noch immer den Geist der alten Beamtenbahn atmet. Wer heute am Bahnhof zum Imbissstand geht und eine Leberkässemmel will, wird die nur bezahlen, wenn sie auch mit Leberkäs belegt ist. Doch wer heute beispielsweise eine Fahrt erster Klasse von Augsburg nach München bucht, bekommt dafür einen total überfüllten Zug, bei dem nicht nur drei Wagen, sondern auch die erste Klasse fehlt. Die Zugbegleiter zucken aber nur mit den Achseln und verweisen auf das Beschwerdetelefon. Dort anzurufen ist aber inzwischen so sinnvoll, als wenn man gegen eine Wand sprechen würde.

Die Bahn weiß, dass es für viele Pendler im Freistaat keine Alternative zur Fahrt mit dem Zug gibt - und das nutzt sie schamlos aus. Es wird höchste Zeit, dass Verkehrsminister Martin Zeil (FDP) der Bahn endlich auf die Finger klopft, denn ein schlecht funktionierender Regionalverkehr ist auch ein Standortnachteil für das Land. Andreas Roß

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Domkapitular muss nicht vor Gericht

"Leichter" Missbrauch verjährt nach zehn Jahren

Bamberg - Die Missbrauchsvorwürfe gegen einen ehemaligen Bamberger Domkapitular kommen nicht zur Anklage. Alle ermittelten Fälle sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen seien verjährt, erklärte Bambergs Leitender Oberstaatsanwalt Joseph Düsel. Nach Abschluss der Ermittlungen sieht Düsel zwar einen hinreichenden Tatverdacht dafür, dass der Geistliche in den Jahren zwischen 1978 bis 1984 im Bamberger Schülerwohnheim Ottonianum in zehn Fällen "sexuelle Handlungen an acht verschiedenen Bewohnern" vorgenommen hat. Trotzdem wird sich der 64-Jährige nicht vor Gericht dafür verantworten müssen. Es gebe keine Anhaltspunkte für einen "schweren sexuellen Missbrauch" - für den die Verjährungsfrist nicht zehn, sondern 20 Jahre betrage, erklärte Düsel.

Die Erzdiözese kündigte an, sie werde um Einsicht in die Ermittlungsakten bitten. Über etwaige kirchliche Strafen muss dann die Glaubenskongregation in Rom entscheiden. Dem Ordinariat zufolge gibt der Geistliche auch weiterhin an, sich an die Vorgänge nicht erinnern zu können. Therapeutische Angebote, die zur Aufklärung hätten beitragen sollen, habe der Beschuldigte nur bedingt in Anspruch genommen. Als Priester darf er weiterhin nicht tätig sein. Der 64-Jährige gilt als der höchstrangige katholische Geistliche in Deutschland, dem in jüngerer Zeit sexuelle Übergriffe auf Minderjährige zur Last gelegt werden. Der frühere Domkapitular war bis zu seiner Suspendierung Personalchef für sämtliche Seelsorgeberufe im Erzbistum Bamberg. Zuvor war er als Präfekt und später als Direktor im Ottonianum tätig. prz

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Von der Metropole an den Rand

Franken sieht sich von Europa abgehängt

Andreas Galster hat lange überlegt, ob er hinter der CSU-Listenaufstellung fürs Europaparlament eine Strategie erkennen kann. Mittlerweile hat der CSU-Bürgermeister der Stadt Baiersdorf diesen Versuch aber aufgegeben. Galster sagt: Wenn er sich das Ergebnis anschaue, so müssten sich die fränkischen CSU-Bezirksfürsten allesamt ernsthaft in Frage stellen lassen. Denn aus der fränkischen Kernregion um die Städte Nürnberg, Fürth und Erlangen wird künftig aller Voraussicht nach kein EU-Parlamentarier stammen.

Für den CSU-Bürgermeister von Baiersdorf ist das "schlicht eine politische Katastrophe". Baiersdorf liegt zehn Kilometer von Erlangen entfernt, an der Grenze zu Oberfranken. Würde man einen geografischen Mittelpunkt der Nürnberger Metropolregion suchen, so könnte der ganz in der Nähe von Baiersdorf liegen. Das Absurde ist nun: Das in Franken neuerdings identitätsstiftende Wort von der "Nürnberger Metropolregion" ist ein Begriff, der entschlossen auf Europa zielt. Denn in Brüssel werden Länder in Metropolregionen eingeteilt. Und da es für die Verteilung von EU-Fördergeld wichtig sein kann, einer solchen Region anzugehören, erklärten sich die Kernlande Frankens vor vier Jahren zur "Metropolregion".

Nach der CSU-Listenaufstellung dürfte der mittelfränkische Kernraum nun zum weißen Fleck auf der EU-Karte werden, fürchtet nicht nur Galster. Denn der Mittelfranke Ingo Friedrich unterlag, auf Listenplatz fünf startend, in einer Kampfkandidatur. Friedrich, zuvor als der "Mister Europa der CSU" gerühmt, zog danach seine Kandidatur zurück, um nicht für einen Dominoeffekt auf der Liste zu sorgen - der die von CSU-Chef Horst Seehofer favorisierte Bewerberin Monika Hohlmeier bedroht hätte. Der mittelfränkische Abgeordnete Martin Kastler muss sich mit Listenplatz acht zufrieden geben und hat schlechte Chancen, ins Parlament einzuziehen. Und weil zuvor schon die SPD ihre bisherige Abgeordnete Lissy Gröner aus Mittelfranken demontiert hatte, wird man in Nürnberg, Fürth und Erlangen in Zukunft vergeblich nach einem Europaabgeordneten suchen - ausgerechnet also in der Region, in der in den vergangenen Jahren über wenig mehr diskutiert wurde als über die Chancen der Europäischen Union.

Wie kann so etwas passieren? CSU-Mann Galster glaubt den Grund zu kennen: Zwischen den fränkischen CSU- Bezirksfürsten fehle es offenbar nicht nur an Absprache: "Die blockieren sich gegenseitig." Ganz falsch muss der Kommunalpolitiker damit nicht liegen: Nürnbergs CSU-Chef Markus Söder hatte Joachim Herrmann, dem Chef der Mittelfranken-CSU, zuletzt die Gefolgschaft verweigert, als es darum ging, den Erlanger Herrmann als möglichen Ministerpräsidenten zu positionieren. Die Gräben zwischen den beiden Verbänden sind seither tief. Mit kuriosen Folgen: Die einzige Abgeordnete, die künftig in Brüssel für die Metropolregion Nürnberg werben wird, dürfte Monika Hohlmeier heißen - bislang Mitglied im CSU-Ortsverband Vaterstetten.

Galster ist verbittert darüber - und macht keinen Hehl daraus. Am Sonntag nach der Listen-Aufstellung rief er seinen Parteifreunden beim Neujahrsempfang zu, ihm schwelle regelrecht "der Kamm", wenn er nur darüber nachdenke. Frankens CSU-Bezirksfürsten hätten "kollektiv versagt". Olaf Przybilla

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Jugendliche drehen Hitler-Video

Augsburg - Drei Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren haben in der Augsburger Innenstadt offenbar den Hitlergruß gezeigt, ein 18-Jähriger filmte seine Kumpels bei dieser Aktion und veröffentlichte das Video im Internet. Dies teilte die Augsburger Staatsanwaltschaft mit, die Anklage gegen alle vier Beschuldigten erhoben hat. Darin wird den vier Verdächtigen vorgeworfen, im Sommer 2007 einen Film gedreht zu haben und diesen unter dem Titel "Hitler is reborn" (Hitler ist wiedergeboren) auf der Internetplattform Youtube eingestellt zu haben. Einem 18-Jährigen wirft die Staatsanwaltschaft zusätzlich vor, auch andere Filme im Internet veröffentlicht zu haben, die Obdachlose in herabwürdigender Weise darstellen und einen alkoholisierten Obdachlosen in hilflosem Zustand zeigen. Ein 33-jähriger Mitbeteiligter wurde bereits wegen des Hitlergrußes und wegen Beleidigung von Sicherheitskräften rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. stma

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Abfallbetrieb verzockt 2,1 Millionen Euro

Neu-Ulm - Der Abfallwirtschaftsbetrieb (AWB) des Landkreises Neu-Ulm wurde eingerichtet, um die Müllentsorgung und -verbrennung effizient zu organisieren. Nebenher hat sich der AWB allerdings auch als wirkungsvolle Geldverbrennungsmaschine betätigt: Der stellvertretende Betriebsleiter hat an allen Aufsichtsgremien vorbei mit hochriskanten Zinsderivatgeschäften spekuliert - und damit mehr als zwei Millionen Euro Schaden angerichtet. Der Neu-Ulmer Kreistag zog in der so genannten Zockeraffäre nun die Notbremse und beschloss einstimmig, sich schnellstmöglich von den letzten zwei offenen "First-Swaps" zu trennen. Damit erhöhte sich der Verlust von bislang 1,1 auf 2,17 Millionen Euro.

Wer für diesen Betrag haftet und welche dienstrechtlichen Konsequenzen die illegalen Geschäfte für den Mitarbeiter haben werden, ist noch offen. Diesbezüglich will der Landkreis ein Gutachten des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbandes abwarten. stma

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Im Blickpunkt

Schlappe für Gerhard Schmid

Mobilcom-Gründer wird erstmals zu Bewährungsstrafe verurteilt

Gerhard Schmid hat schon einige Gerichtsprozesse durchgestanden, aber bisher sind die Verfahren für ihn immer glimpflich abgelaufen. Am Montag jedoch verurteilte Richter Oliver William vom Kieler Landgericht den Mobilcom-Gründer zu 21 Monaten Gefängnis auf Bewährung. Der Vorwurf: Vorsätzlicher Bankrott in drei Fällen. Falls das Urteil rechtskräftig wird, ist der 56 Jahre alte Schmid vorbestraft. Sein Anwalt kündigte aber bereits Revision an.

Mit dem Mobilfunkunternehmen Mobilcom, das Schmid gegründet und groß gemacht hat und das am Ende nur knapp an der Pleite vorbeigeschrammt war, hatte der Kieler Prozess nichts zu tun. Es ging vielmehr um den einst sehr vermögenden Privatmann Schmid, der sein Geld retten wollte - und dabei das Recht missachtete. Im Zentrum des Falles stand ein Immobilienprojekt in Kiel, ein Prestigebau mit Wohnungen und Büros, bei dem Schmid finanziell engagiert war. Von der SachsenLB hatte er sich 102 Millionen Euro geliehen, doch das Geld steckte er dann offenbar vor allem in hektische Versuche, den abstürzenden Aktienkurs von Mobilcom zu stützen. Der Schuldner Schmid kam mit seinen Zahlungen in Verzug, die Bank kündigte den Kredit, und als sie wenig später pfänden wollte, war nichts mehr zu holen. Schmid hatte, wie Richter William nun bestätigte, Bargeld und Unternehmensanteile im Wert von 1,2 Millionen Euro nach Liechtenstein verschoben, um das Geld vor der Pfändung zu retten.

Der im fränkischen Selb als Maurersohn geborene Schmid gilt als eine der schillerndsten Figuren der jüngeren deutschen Unternehmensgeschichte. Als David gegen Goliath hatte er einst eine Menge Sympathiepunkte gesammelt. Mobilcom fiel mit pfiffigen Marketing-Ideen auf und sagte der Telekom mit aggressiven Preisen den Kampf an. Als Mobilcom 1997 als erstes Unternehmen an die Börse ging, waren auch Anleger und Analysten schnell fasziniert von dem Selbstdarsteller Schmid. Der Aktienkurs schoss nach oben, und bald fand man den Großaktionär Schmid auf der Liste der reichsten Deutschen: Sein Aktienpaket war 65 Milliarden Euro wert.

Doch Schmid wollte auch als Unternehmer in der ersten Liga mitspielen, und mit der France Télécom als Aktionär und Geldgeber ersteigerte er für Mobilcom eine der milliardenschweren UMTS-Lizenzen. Nun war der Unternehmer ganz oben angekommen. Als das Geschäft aber immer teurer wurde, kam es zum erbitterten Streit zwischen den Partnern. Der als Dickschädel bekannte Schmid wollte allein den Kurs bestimmen, die Franzosen sollten zahlen und schweigen. Die Bundesregierung mischte sich ein, und fast wäre aus dem Fall Mobilcom auch noch eine Staatsaffäre geworden. Nach der Beinahe-Pleite gab Mobilcom die Lizenz zurück und fand sich wieder in der Riege der kleinen Service-Provider. Schmid wurde rausgeworfen, 2002 musste er privat Insolvenz anmelden.

Auf Schmid wartet jetzt nicht nur die Revision, sondern ein weiterer Prozess vor dem Kieler Landgericht. Da geht es um Untreue in 22 Fällen. Meite Thiede

Gerhard Schmid Foto: dpa

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Der Staat versagt

Eine leistungs- und wachstumsorientierte Reform sucht man bisher vergebens. Ein neuer Aufschwung muss auf den Erfahrungen des alten Niedergangs aufbauen / Von Ulrich Blum

Die im zweiten Halbjahr 2008 um rund zwei Prozent gesunkene deutsche Wirtschaftsleistung dürfte sich wie Blei durch das Jahr 2009 ziehen. Das erfolgreiche Weihnachtsgeschäft war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die niedrigen Ölpreise stützen die Binnennachfrage - aber niedriges Preisniveau und massive Preisschwankungen sind Gift für die Umweltindustrie und senken die Attraktivität der Exploration neuer Förderstätten. Fehlende Einnahmen der Förderländer schlagen unmittelbar auf die deutschen Exporte durch.

Diese Entwicklung haben wir bereits im Herbst beschworen. Das Konjunkturpaket II kommt spät - möglicherweise zu spät, um rechtzeitig gegenzusteuern. Die Maßnahmen werden erst im zweiten Halbjahr 2009 greifen - dann rechnen wir bereits mit dem Beginn einer Autostabilisierung. Rund vier Monate sind verloren. Dieser Attentismus hat einen weiteren Preis: In Teilmärkten besteht inzwischen durchaus die Gefahr einer deflatorischen Abwärtsspirale, weil alle auf noch weiter fallende Preise und vor allem sinkende Zinsen spekulieren.

Der Versuch, mit Subventionen ausgewählten Branchen und Unternehmen zu helfen, wie dies in der Chip- und der Fahrzeugindustrie passiert, führt zu internationalen Subventionswettläufen - gerade für Länder wie Deutschland mit besten Technologien kann der Folgeschaden sehr hoch liegen. In dieser wirtschaftlichen Frostperiode muss verhindert werden, dass der Kapitalstock ausgezehrt wird und Unternehmen wegen fehlender Liquidität kollabieren.

Wichtig wäre es, gezielt, aber mit breiten gesamtwirtschaftlichen Effekten zu helfen: Wenn die ICE-Linie Nürnberg-Erfurt-Halle nicht 2017, sondern bereits 2012 fertiggestellt wird, dann bedeutet dies auch Aufträge für die Baumaschinenindustrie und den Schienenfahrzeugbau. Das energetische Sanieren von Gebäuden hat unmittelbare Folgen für den Importbedarf von teurer Energie - und bei (Hoch-) Schulen verbessert die häufig nötige Gesamtsanierung die Ausbildungsbedingungen. Dabei sollte man nicht mehr tun, als der Markt aufnimmt, sonst steigen die Preise, andere Investitionen werden verdrängt. Echte Vorziehprojekte sollten Priorität besitzen, weil die Mehrausgabe heute die Ersparnis morgen ist. Das begrenzt die langfristige Neuverschuldung.

Viele der verabschiedeten Maßnahmen folgen eher politischen als ökonomischen Kriterien: Steuer- und Abgabesenkungen verteilen Geld, aber eine leistungs- und wachstumsorientierte Reform sucht man vergebens. Völlig verdrängt wird, dass der Staat ein Universum an Möglichkeiten besitzt, durch Änderung der Rahmensetzung Investitionen auszulösen - bis heute sucht man eine Reform der Fahrzeugbesteuerung vergeblich, ebenso wie ein regulatorisches Umfeld für massive Investitionen im Telekommunikationsbereich.

Völlig ausgelassen wird das Aufarbeiten der Gründe der Katastrophe. Auch Finanzinnovationen stellen Hergebrachtes in Frage, waren Ausgang wirtschaftlicher Aufschwungphasen, beispielsweise in der Gründerzeit - übrigens auch damals mit einer anschließenden Anpassungskrise. Tatsächlich verdanken wir erhebliche Wohlstandsgewinne der vergangenen Jahre den Finanzmärkten, die die Realwirtschaft mobilisierten. Diese Finanzinnovationen sind Medikamenten ähnlich - ihre Wirkung hängt von den Rahmenbedingungen ab.

Als diese sich ab Anfang des Jahrtausends sukzessive änderten, wäre Zurückhaltung erforderlich gewesen - seinerzeit ließen die Finanzeliten diese ebenso vermissen wie heute Demut vor dem Hintergrund des angerichteten Schadens. Denn das System eignete sich perfekt als Einfluss- wenn nicht als Herrschaftsinstrument - das Gegenteil des Ideals eines offenen Markts. Und der Staat versagte als regulatorische Instanz. Dringend ist es, den gegenwärtigen Schaden vor dem Hintergrund des Nutzens eines weltweiten Finanzmarkts nicht überzubewerten. Ängstliche Regulierung kann den Markt abwürgen - der Schaden dürfte bei Schwellen- und Entwicklungsländern besonders deutlich sein. Ohnehin versucht der Innovator immer, den Regulator auszutricksen - das ist das Wesen menschlicher Kreativität. Nur autoritäre Systeme können diesen Wettlauf gewinnen - aber zu einem hohen Preis.

Ein neuer Aufschwung wird kommen, er muss aber auf den Erfahrungen des alten Niedergangs aufbauen. Durch Selbstreflexion zu lernen heißt, einen neuen Entwicklungspfad einzuschlagen. Wenn das ökonomische Evolutionskonzept vom Überwinden des Hergebrachten spricht, so erfordert dies genau dies: Lernprozesse.

Erschreckend ist daher, dass die Verursacher des Debakels, unsere Finanzeliten, hierzu nicht willens oder in der Lage sind. Die Mehrheit scheint der Meinung, dieser Finanzunfall könne wie eine Szene in "Second Life" durch das Drücken der Reset-Taste ungeschehen gemacht werden. Wenn einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, sagte, dass Gewinn und Vermögen letztlich das Gegenstück von Haftung und Verantwortung sind, so weist das den Weg der Läuterung: Allein Haftung erlaubt es, individuelle und gesellschaftliche Interessen ohne strangulierende Staatsintervention zu vereinen.

Dann sind wir auch fähig, den großen Nutzen der Krise zu sehen: Das weltweite Schrumpfen des Finanzsektors gibt mittelständischen Unternehmen die Chance, qualifizierte Experten zur Unterstützung ihrer Globalisierungsanstrengungen einzustellen. Die Realwirtschaft wird die virtuelle Ökonomie absorbieren, wir stehen aller Voraussicht nach vor einem Jahrzehnt der Produkt- und Verfahrensinnovationen. Zur Läuterung zählt auch, dass die erheblichen Kollateralschäden behoben werden, vor allem mittelfristig das Anhäufen von Staatsschulden und eine Vermögensumverteilung zu Lasten der Mittelschicht.

Man sollte also prüfen, wie die Kosten des staatlichen Handelns den Verursachern, also dem Bankensektor aufzuerlegen sind - auch das ist Haftung. Denn jeder der dort Tätigen hatte die Möglichkeit, mitzumachen oder sich zu verweigern - gerade beim Verkauf von Risikotiteln an Menschen, die zur Finanzierung ihres Lebensabends auf sichere Erträge angewiesen sind. Wenn ohne den staatlichen Schirm Bankaktien heute nichts wert wären, dann könnte eine "windfall profit tax" die künftigen Zuwächse in Teilen abzuschöpfen. Damit wäre der Gerechtigkeit gedient und allen geholfen.

FORUM

Professor Ulrich Blum ist Volkswirt und leitet das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Foto: oh

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Bankiers trotzen Sarkozy

Die Vorstandsvorsitzenden der französischen Großbanken Société Générale (SocGen) und Crédit Agricole (CA) wollen nicht auf ihre Bonuszahlungen für das Jahr 2008 verzichten und widersetzen sich damit dem Willen des Staatschefs. Nicolas Sarkozy hat die Topmanager aller französischen Banken vor kurzem aufgefordert, auf den variablen Anteil ihrer Bezüge einmalig zu verzichten. "Das ist wohl das Mindeste", hatte Sarkozy die Forderung begründet und damit gedroht, andernfalls per Gesetz eingreifen zu wollen. Doch Frédéric Oudéa von der SocGen und sein Kollege Georges Pauget von der CA wollen den Verwaltungsrat beziehungsweise das für Managerbezüge zuständige Komitee entscheiden lassen. Nur die beiden führenden Köpfe der BNP Paribas, Michel Pébereau und Baudouin Prot, wollen verzichten. Im Vorjahr hatten sie Boni in Höhe von 875 000 beziehungsweise 2,27 Millionen Euro erhalten. Die Regierung droht nun, die geplante Finanzhilfe von zehn Milliarden Euro davon abhängig zu machen, ob die Manager einlenken. Dem Vernehmen nach geht es dabei nur um Boni von Topmanagern. Jene von Aktienhändlern, die mitunter weit höher ausfallen, stehen nicht zur Debatte. kläs

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Kontrolleure für Porsche

IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber und VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh sollen auf der Hauptversammlung der Porsche Automobil Holding in den Aufsichtsrat des Sportwagenbauers einziehen. Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück und der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Stuttgart, Hans Baur, werden sich zur Wiederwahl für das zwölfköpfige Kontrollgremium stellen, verlautete aus Aufsichtsratskreisen. Die Porsche-Hauptversammlung findet am 30. Januar in Stuttgart statt. Ein Porsche-Sprecher wollte sich zu den Personalien nicht äußern. Bestellt werden die Arbeitnehmervertreter vom Betriebsrat der Dachgesellschaft. Dabei ist festgelegt, dass jeweils zwei der sechs Plätze für die IG Metall, Porsche und VW reserviert werden. Auf Arbeitgeberseite wird es keine personellen Änderungen geben: Hier sollen Wolfgang, Ferdinand Oliver und Hans-Peter Porsche für den einen Familienstamm, Ferdinand und Hans Michel Piëch für den zweiten Familienstamm und der frühere Henkel-Chef Ulrich Lehner in ihren Ämtern bestätigt werden. Die Wiederwahl gilt als sicher, weil die Familien Porsche und Piëch sämtliche stimmberechtigte Aktien halten. dpa

Berthold Huber Foto: dpa

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Neuordnung bei Dresdner Bank

Commerzbankchef Martin Blessing ist im zweiten Anlauf auch zum Vorstandschef der Dresdner Bank ernannt worden. Wie die Commerzbank mitteilte, berief der Aufsichtsrat der Dresdner Bank außerdem die Commerzbank-Vorstände Markus Beumer und Achim Kassow, die bei der Dresdner fortan das Firmen- sowie das Privatkundengeschäft verantworten. Ausgeschieden sind der bisherige Dresdner-Chef Herbert Walter sowie Andreas Georgi. Andree Moschner und Friedrich Wöbking werden das Gremium mit der Ausgliederung des Allianz Banking aus der Dresdner Bank verlassen. Finanzvorstand Klaus Rosenfeld scheidet mit der Feststellung des Jahresabschlusses 2008 aus. Eine zweite Abstimmung über Blessing war notwendig geworden, weil die Arbeitnehmervertreter im Dresdner-Aufsichtsrat gegen ihn gestimmt hatten. Im zweiten Wahlgang konnte der neue Aufsichtsratschef Klaus-Peter Müller mit seiner Stimme die Wahl Blessings sicherstellen. mhs

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Der Kostenkiller der Nation

Peter Orszag soll als Haushaltsdirektor des Weißen Hauses die Ausgaben überwachen - und das Billionendefizit eindämmen

Von Reymer Klüver

Ein reiner Zahlenmensch ist Peter Orszag gewiss nicht. Das ist ungewöhnlich für einen Haushaltsdirektor des Weißen Hauses, sozusagen den Oberbuchhalter der Nation - und das soll Orszag nach dem Willen des künftigen US-Präsidenten Barack Obama werden. Dabei kann der gerade 40-Jährige schrecklich nüchtern sein. "Das Leben ist eine Reihe von Hallos und Lebewohls", überschrieb er vor zwei Monaten den letzten Eintrag in seinem Blog als Haushaltsdirektor des Kongresses. Wenn man die Abschnitte des Lebens als mathematische Reihe betrachtet, dürfte er damit recht haben. Tatsächlich aber gehen die Interessen des Ökonomen Orszag weit über Zahlen hinaus.

Damit ist nicht nur gemeint, dass der Sohn eines Mathematik-Professors ein unerschütterlicher Fan der Red Sox ist, des Baseballteams seiner Heimatstadt Boston, oder dass er Country-Musik liebt. Professionell interessiert ihn vielmehr seit langem schon die Zwitterwelt von Ökonomie und Politik. Auch deshalb hat Barack Obama den Demokraten Orszag ins Weiße Haus berufen. Noch in dieser Woche dürfte ihm der Senat die erforderliche Zustimmung geben.

Zwischen den Fronten

Orszag soll nicht nur die klassischen Aufgaben eines Haushaltsdirektors im Weißen Haus ausüben, also den Bundeshaushalt überwachen und dem Präsidenten finanzpolitischen Ratschlag geben. Vielmehr soll er "helfen, die neue Herangehensweise an die Gesundheits-, Bildungs- und Umweltpolitik zu gestalten", wie sein Boss bei seiner Nominierung es formulierte. Kurzum: Orszag soll dafür sorgen, dass die Regierung ihre politischen Prioritäten durchsetzen kann, ohne dass sich die prekäre Haushaltslage noch weiter verschlimmert. Eine Herkulesaufgabe.

Bei seiner Anhörung vor dem Haushaltsausschuss des Senats am Dienstag vergangener Woche listete der schmächtige Orszag die Prioritäten der neuen Regierung auf: Verbesserung der Gesundheitsversorgung, Steuererleichterungen für die breite amerikanische Mittelschicht, die Wiederherstellung des Immobilienmarktes, die Schaffung erschwinglichen Wohnraums für Familien mit niedrigem und mittlerem Einkommen, der Ausbau alternativer Energieressourcen, die Verbesserung des Schulsystems.

Als Haushaltsdirektor wird Orszag zwei widerstrebende Tendenzen zusammenzwingen müssen. Zum einen wirbt er für das von Obama geplante Konjunkturpaket von 775 bis 800 Milliarden Dollar und für die Herausgabe der zweiten Hälfte der Hilfe für die Finanzinstitute von 700 Milliarden Dollar. Die amerikanische Wirtschaft brauche "Starthilfe, um aus der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression" zu kommen, sagte er dem Haushaltsausschuss. Zum anderen aber hat er die Verschuldung im Blick. Dabei macht ihm gar nicht so sehr das aktuell drohende Haushaltsdefizit von mehr als einer Billion Dollar Sorgen. Die USA verfügten noch über "beträchtlichen Manövrierraum" in aller Welt, sagte er. "Unsere Schulden gelten als eines der sichersten Investments." Wenn Amerika aber weiter über seine Verhältnisse lebe, könnte sich das ändern. Kopfzerbrechen bereitet ihm noch eine andere Entwicklung: Die explodierenden Kosten der Gesundheitsversorgung einer zunehmenden Zahl älterer Amerikaner könnten auf Dauer nicht mehr aus dem Haushalt finanziert werden. Womit er bei einer der politischen Prioritäten der Regierung Obama war.

Schon länger beschäftigt sich Orszag mit den Folgekosten der US-Gesundheitspolitik. Bereits als Chef des Congressional Budget Office, das den Kongress überparteilich in Haushaltsfragen berät, warnte er vor unhaltbaren Haushaltsdefiziten, sollten die Kosten der staatlichen Gesundheitsprogramme wie Medicare und Medicaid weiter ungehindert steigen. Stets haben ihn derlei makroökonomische Fragen interessiert. Ehe er vor zwei Jahren als Haushaltsdirektor beim Kongress anfing, hatte er das sogenannte Hamilton Project bei der renommierten Brookings Institution geleitet, eines der großen politischen Beratungsinstitute in Washington. Das Hamilton Project befasst sich mit der Frage, wie Wirtschaftswachstum geschaffen werden kann, das mehr Menschen Wohlstand bringt.

Orszag hatte jung Karriere gemacht. Er studierte in Princeton, wo er Schüler der Ökonomen Joseph Stiglitz und Alan Blinder war, machte seinen Doktor an der London School of Economics und heuerte 1995 als wirtschaftspolitischer Berater im Weißen Haus unter Bill Clinton an, ehe er sich selbständig machte. Nicht zuletzt seine Arbeit als Haushaltsdirektor im Kongress hat ihm viel Lob gebracht - von beiden Parteien. Die Senatoren Ron Wyden (ein Demokrat) und Robert Bennett (ein Republikaner) schrieben in einer gemeinsamen Erklärung, Orszag sei "praktisch die natürliche Wahl" gewesen jedes Mal, wenn sie in Haushaltsfragen Rat gebraucht hätten. Dass Freundschaft aber schnell rosten kann, musste Orszag bei seiner Anhörung vergangene Woche feststellen. Da fuhr ihn Senator Bill Nelson - ein Demokrat - an, mit dem "Hokuspokus" aufzuhören und Zahlen auf den Tisch zu legen. Es ging um das Konjunkturpaket, dessen genaue Höhe noch immer nicht feststeht.

Eine Billion Schulden

Die USA werden auf Jahre hinaus mit einem gewaltigen Haushaltsdefizit zu kämpfen haben. Der künftige Haushaltsdirektor des Weißen Hauses, Peter Orszag, bestätigte, dass es in diesem US-Haushaltsjahr wahrscheinlich eine Billion Dollar überschreiten werde, mehr als acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - "das größte Defizit in unserer Geschichte". Orszag prognostizierte, dass die USA die nächsten fünf bis zehn Jahre ein Haushaltsdefizit in Höhe von mindestens fünf Prozent des BIP haben werden. rkl

"Die natürliche Wahl" - Peter Orszag war lange Haushaltsdirektor im US-Kongress. Foto: Bloomberg

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Wieder Führungswechsel bei Märklin

Rainer Nothwang wird Finanzchef des Modellbahnbauers. Sein letztes Engagement endete in der Pleite

Der Göppinger Modelleisenbahnbauer Märklin kommt nicht zur Ruhe. Im Februar tritt wieder ein neues Führungsteam an - das dritte in nur drei Jahren. Neuer Finanzchef wird nach Angaben des Unternehmens dann Rainer Nothwang, Ralf Coenen übernimmt die Verantwortung für die Technik. "Rainer Nothwang ist ein erfahrener Bankfachmann", lobt ein Märklin-Sprecher den Mann, der demnächst die finanziellen Geschicke des defizitären Unternehmens leiten soll. Der 54-Jährige löst Thomas Bauer ab, der das Unternehmen nach nur eineinhalb Jahren aus persönlichen Gründen verlässt.

Die Bankerfahrung zumindest ist Nothwang nicht abzusprechen. Er startete seine Karriere bei der jetzigen Landesbank Baden-Württemberg. Danach war er nach Angaben von Märklin mehr als zehn Jahre in führenden Positionen bei der Bayerischen Vereinsbank und der DVB Bank tätig. Sein letztes Engagement endete allerdings in der Pleite. Nothwang war Finanzchef und Geschäftsführer des Tankstellenbetreibers Lomo Lorenz Mohr, der im Oktober letzten Jahres Insolvenz angemeldet hat. Laut Insolvenzanwalt Georg Bräuer legte Nothwang seine Ämter bei Lomo Anfang November aus eigenem Antrieb nieder. Grund für die Insolvenz war dem Vernehmen nach Überschuldung. Derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Lomo-Geschäftsführung wegen möglicher Insolvenzverschleppung. "Noch gilt aber die Unschuldsvermutung", sagte Staatsanwalt Harry Wilke der Süddeutschen Zeitung.

Erfahrung mit Pleiten hat auch Ralf Coenen, der künftig die Produktion von Märklin leiten soll. Der 47-Jährige frühere McKinsey-Berater war im vergangenen Jahr wenige Monate im Vorstand des Computerhersteller Maxdata, der im Juni 2008 Insolvenz anmelden musste. Bei Märklin löst Coenen Dietmar Mundil ab, der im Sommer in den Ruhestand gehen und bis dahin in der Geschäftsführung bleiben wird.

Ruhe könnte das Unternehmen gut gebrauchen. Im vergangenen Herbst war überraschend Axel Dietz als Vorsitzender der Geschäftsführung zurückgetreten. Seitdem gibt es nur noch zwei Geschäftsführer. Immerhin hat der Modellbahnbauer im vergangenen Jahr den Umsatz leicht auf 128 Millionen Euro gesteigert und den Verlust verringert. Zahlen werden nicht genannt. "Unser Sanierungskurs zeigt Wirkung", sagt Märklin-Beiratschef Michel Perraudin. Dennoch müsse das Unternehmen "weiterhin Kostendisziplin walten lassen". Die Personalkosten sollen von derzeit 50 Millionen Euro um fünf Millionen Euro gedrückt werden. Erst im vergangenen Jahr musste der Finanzinvestor Kingsbridge, der 2006 bei Märklin eingestiegen war und es damals vor der Insolvenz rettete, Finanzmittel zuschießen. Grit Beecken

Dampft und lässt sich per Funk steuern - bei dieser Schlepptender-Dampflok der Baureihe 018.4 zeigt Märklin, was die Modellbahn-Firma kann. Foto: oh

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GEWINNQUOTEN

Lotto (17. Januar):

Lottozahlen: 4 - 12 - 32 - 38 - 42 - 46

Zusatzzahl: 47; Superzahl: 1.

1. Rang (6 Treffer und Superzahl) unbesetzt, im Jackpot 18 652 150,20 Euro, 2. Rang (6 Treffer) 535 805,20 Euro, 3. Rang (5 Treffer mit Zusatzzahl) 83 719,50 Euro, 4. Rang (5 Treffer) 1926,20 Euro, 5. Rang (4 Treffer mit Zusatzzahl) 202,80 Euro, 6. Rang (4 Treffer) 32,90 Euro, 7. Rang (3 Treffer mit Zusatzzahl) 26,20 Euro, 8. Rang (3 Treffer) 9,00 Euro.

Spiel 77: 8 4 7 4 6 0 2

Gewinnklasse 1, Super 7: 1 270 000,00 Euro, Gewinnklasse 2: 70 000,00 Euro, Gewinnklasse 3: 7000,00 Euro, Gewinnklasse 4: 700,00 Euro, Gewinnklasse 5: 70,00 Euro, Gewinnklasse 6: 7,00 Euro, Gewinnklasse 7: 2,50 Euro.

13er-Wette: 1. Rang 8974,60 Euro, 2. Rang 145,90 Euro, 3. Rang 12,50 Euro, 4. Rang 2,20 Euro.

Auswahlwette: Gewinnklasse 1: unbesetzt, im Jackpot 637 952,50 Euro, Gewinnklasse 2: unbesetzt, im Jackpot 10 044,80 Euro, Gewinnklasse 3: 3766,80 Euro, Gewinnklasse 4: 46,90 Euro, Gewinnklasse 5: 20,60 Euro, Gewinnklasse 6: 4,20 Euro.

Lotterie Aktion Mensch: Ziehung 13. 1.: Geldziehung Rang 1: Nr. 4 076 249; Rang 2: 0 651 136, 5 008 517; Rang 3: 7 913 163, 1 133 663, 2 174 157, 7 856 558; Rang 4: 436 671. (Ohne Gewähr)

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Anleger auf der Flucht

Nur noch 8,8 Millionen Deutsche investieren ihr Geld in Aktien - im Jahr 2001 waren es fast 13 Millionen

Von Helga Einecke

Frankfurt - Die Finanzkrise und drastisch gesunkene Kurse haben die Deutschen im vorigen Jahr aus den Aktien getrieben. Die Zahl der Aktienanleger sank im zweiten Halbjahr 2008 um mehr als eine Million auf 8,8 Millionen, wie das Deutsche Aktieninstitut meldete. Das sind vier Millionen weniger Anleger als zu Beginn dieses Jahrhunderts, bevor die Blase der New Economy platzte. Auch das Trommeln der Finanzbranche, vor dem Inkrafttreten der Abgeltungssteuer noch in Aktien einzusteigen, half nichts. Die Deutschen blieben Aktienmuffel.

Das Aktieninstitut sieht deshalb dringenden politischen Handlungsbedarf. Immer wieder werde die Beteiligung der Bürger am Produktivkapital beschworen, manchmal auch Beteiligungen der Mitarbeiter geringfügig verbessert. Aber ansonsten verschlechtere sich das Umfeld für die Aktienanlage. "Die seit Jahren rückläufige Aktienakzeptanz breiter Bevölkerungsschichten entwickelt sich zum gravierenden Problem", meinte Rüdiger von Rosen, Chef des Aktieninstituts. Aktienförderung ist nach seiner Auffassung kein Selbstzweck, sondern praktizierte Gesellschaftspolitik.

Die Vorteile einer breiten Streuung von Unternehmenskapital im Kreis der Mitarbeiter oder von Arbeitnehmern liegen auf der Hand, sagen die Befürworter einer Aktienkultur. Die Unternehmen selbst könnten sich auf eine solide Kapitalbasis stützen und wären so nicht Finanzinvestoren und häufig wechselnden Besitzern ausgeliefert. Die Mitarbeiter, aber auch private Kleinanleger, hätten durch ihren Kapitalbesitz mehr Interesse am eigenen oder fremden Unternehmen und würden mit der Unternehmensführung an einem Strang ziehen.

Es gibt aber auch Gegenargumente. Wer für eine Firma arbeitet, aber auch noch sein Vermögen darin investiert hat, verliert bei einer Insolvenz den Arbeitsplatz und sein Erspartes. In Deutschland gibt es der Analyse des Aktieninstituts zufolge nur noch 885 000 Belegschaftsaktionäre. Mehr als ein Zehntel von ihnen machte im vergangenen Jahr Kasse. Die Programme für die Beteiligung der Mitarbeiter hätten sich stetig verschlechtert, kritisierte das Aktieninstitut. Deshalb sei jeder zweite Belegschaftsaktionär im vergangenen Jahrzehnt ausgestiegen.

Die fehlende Aktienkultur in Deutschland wird von Experten in mehrfacher Hinsicht begründet. Das fängt bei der mangelnden Aufklärung in der Schule über ökonomische Zusammenhänge im allgemeinen und zwischen Rendite und Risiko im besonderen an. Im internationalen Vergleich gelten die Deutschen als besonders risikoscheu. Unter dem Geldanlagen der Bundesbürger dominieren traditionell die Lebensversicherungen und die festverzinslichen Anlagen. In der Vergangenheit zog auch stets das Argument, mit bestimmten Anlageformen Steuern zu sparen.

Eine Blüte erlebte die deutsche Aktienkultur um die Jahrhundertwende, als es mehrere Jahre hintereinander mit den Kursen an der Börse nach oben gegangen war. Nach dem Platzen der Blase blieben die Anleger vorsichtig und ließen sich nicht mehr in steigendem Maß auf neue Geldanlagen in Aktien ein. Profis empfehlen Anfängern gerne, nicht direkt in Aktien zu investieren. Eine breitere Streuung des Geldes nehmen Investmentfonds vor, allerdings gegen Gebühr. Wie den Zahlen des Aktieninstituts zu entnehmen ist, haben die Bundesbürger diesen Rat auch beherzigt. Die meisten Aktionäre legen ihr Geld über Fonds an, nur 2,2 Millionen halten direkt Aktien, und eine Minderheit ist in Fonds und Aktien investiert.

Auffällig war im vergangenen Jahr der Ausstieg aus den gemischten Fonds, die sowohl in Aktien als auch in festverzinsliche Wertpapiere investieren. Diese Fonds haben die drastischen Kursverluste bei den Aktien eigentlich besser verkraftet. Offensichtlich haben Anleger im Zuge der Finanzkrise ihre Gelder umgeschichtet, um sich jeder riskanten Anlageform zu entziehen.

Der Einstieg in Aktien wird in diesem Jahr durch die Abgeltungsteuer erschwert. Finanzberater hatten 2008 offensichtlich vergeblich dafür geworben, vor Inkrafttreten der Steuer sich noch mit Aktien einzudecken und diese in einem gesonderten Depot zu führen. Die Abgeltungsteuer belastet nach Angaben des Aktieninstituts die Aktienerträge faktisch mit mehr als 48 Prozent.

Im internationalen Vergleich gelten die Deutschen als

besonders risikoscheu.

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Schuldnerberater bieten Hilfe per Internet

Berlin - Überschuldete Privatpersonen können ab sofort über das Internet ihre Fragen direkt an seriöse Berater schicken. Das kostenlose Angebot soll bundesweit die Kontaktaufnahme erleichtern, sagte Werner Sanio, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung, am Montag in Berlin. Das Online-Portal meine-schuldnerberatung.de werde den persönlichen Kontakt zwischen Berater und Schuldner jedoch nicht ersetzen. Unterlagen wie Kreditverträge würden über die Online-Beratung nicht geprüft.

Das Internetangebot unterstützt der Deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV) mit rund 100 000 Euro. Der Verband fördert die Beratungsstellen eigenen Angaben zufolge jährlich mit rund 5,4 Millionen Euro. Die Nutzer müssen sich für die Beratung zunächst auf der Internetseite registrieren. Dies erfolgt über eine gesicherte Verbindung und anonym. Mit einer Antwort kann nach ungefähr zwei bis drei Tagen gerechnet werden. Bundesweit beteiligen sich rund 80 Beratungsstellen an dem Internetdienst. ddp

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Kritik an aggressiver Werbung mit Kreditraten

Düsseldorf - Verbraucherschützer wollen gegen die aggressive Werbung von Elektromärkten mit der monatlichen Kreditrate anstelle des Kaufpreises vorgehen. Die Hervorhebung der Monatsrate verführe die Käufer zum Schuldenmachen, kritisierte die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen am Montag in Düsseldorf. Endpreise seien im Prospekt oft deutlich kleiner gedruckt. Die Verbraucherzentrale rügte MediaMarkt, Saturn und ProMarkt. Verbraucherjuristin Beate Wagner drohte mit Abmahnung wegen Wettbewerbsverstoßes. Laut Preisangabenverordnung seien stets die Endpreise und nicht die jeweiligen Monatsraten hervorzuheben.

Besonders auffällig sei der ProMarkt-Prospekt von Anfang Januar: "Alle 24 Marken-Artikel, von der Xbox-Konsole über den Kaffeevollautomaten bis zum 50-Zoll-Plasmafernseher, glänzten mit rotfetten Preisen von gerade mal 11 bis 55 Euro", hieß es. "Erst auf den zweiten Blick wurde deutlich: Hervorgehoben waren, mit Sternchen, die Preise der Monatsraten." Der "Abhol-Barpreis" sei deutlich kleiner gedruckt, monierten die Experten. Er liege zwischen 264 Euro für Rasierer und 1320 Euro für Fernseher.

Die Herausstellung der kleinen Raten verführe die Kunden ganz massiv, "sich blenden zu lassen und in die Schuldenfalle zu tappen", kritisierte die Schuldnerberaterin der Verbraucherzentrale NRW, Stefanie Laag. Auch die ProMarkt-Konkurrenten Saturn und MediaMarkt hätten solche "Verführ-Prospekte" gedruckt. dpa

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Deutsche Unternehmen gut gerüstet

Frankfurt - Die deutschen Unternehmen sind nach Ansicht der Bundesbank gut gewappnet gegen die Konjunkturkrise. Ihre soliden Finanzierungsverhältnisse seien für die meisten Firmen eine Art "Krisenpolster", von dem sie in der Rezession zehren könnten. Eine Analyse der Unternehmensbilanzen in den wichtigsten Wirtschaftszweigen habe eine "bemerkenswerte finanzielle Bestandsfestigkeit" der Firmen ergeben, schreiben die Experten der Bundesbank in ihrem Monatsbericht.

Die Existenz vieler Unternehmen sei trotz der Rezession gesichert, weil sie eine hohe Eigenmittelquote besäßen und ihnen langfristig viel Kapital zur Verfügung stehe, schreiben die Bundesbank-Analysten. Das im Vergleich zur Lohnentwicklung kräftige Gewinnwachstum der Firmen in den vergangenen Jahren wirke sich jetzt positiv aus. Mit Ausnahme des Einzelhandels, der unter der deutlichen Konsumzurückhaltung zu leiden hatte, hätten praktisch alle wichtigen Wirtschaftszweige von dieser günstigen Ertragsentwicklung profitiert. Den Bürgern sei durch die Mehrwertsteuererhöhung und Inflation massiv Kaufkraft entzogen worden.

Im Großen und Ganzen hätten die deutschen Unternehmen den Aufschwung der vergangenen Jahre "erfolgreich zur Stärkung ihrer Widerstandsfähigkeit genutzt", heißt es. Dies gelte vor allem im Vergleich zur Zeit nach dem Platzen der "New-Economy-Blase" zu Beginn des Jahrzehnts. Damals sei die Finanzlage der Unternehmen deutlich fragiler gewesen. Reuters

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Die Untergeher

In der Finanzkrise verschwindet ein Geldmanager nach dem anderen. Neuester Fall: Arthur G. Nadel, Wohltäter, zur Zeit vermisst

Von Alexander Mühlauer

München - Diese Krise, so könnte man manchmal denken, hat auch ihr Gutes. Sie offenbart einer Gesellschaftsschicht, die lange Zeit immer mehr wollte, dass sie Gier am Ende zu immer weniger führt - und zwar sehr deutlich. Die Rede ist von der sogenannten besseren Gesellschaft. Arthur G. Nadel war lange Zeit sehr stolz darauf, Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Der 76-Jährige galt in Sarasota im US-Bundesstaat Florida als bedeutender Philanthrop. Zusammen mit seiner Frau Peg förderte der Gönner Wohltätigkeitsorganisationen. Mal ein paar Hunderttausend für "Habitat for Humanity", mal eine Spende an "Jewish Family & Children Services", mal ein wenig Cash für "Girls Inc". Die Nadels, so erzählen es die Menschen in Sarasota, waren immer sehr großzügig.

Wer viel gibt, muss auch viel haben. Arthur G. Nadel hatte sehr viel. Er verwaltete als Manager der Hedgefonds Viking, Valhalla und Scoop mehr als 350 Millionen Dollar. Und die Anleger, die ihm ihr Geld anvertrauten, waren immer sehr zufrieden. Noch im November erzielte er nach eigenen Angaben eine Rendite von acht Prozent - da machten andere Hedgefonds längst 40 Prozent Verluste.

Jetzt dagegen stellt sich die Situation doch etwas anders da. Wohltäter Nadel ist verschwunden. Und das Geld der Anleger ist womöglich ebenso weg. Viking-Manager Neil Moody, einer der Mitarbeiter Nadels, teilte den Investoren lapidar mit: "Wir haben eine extrem ernste Situation festgestellt. Es könnte sein, dass die Fonds nahezu wertlos sind." Aha. Es könnte also sein. Die Anleger in Sarasota sind entsetzt. Sie bangen um ihr Geld. Dabei ging es lange Zeit gut. Scheinbar. "Der Magier der Märkte", wie sich Nadel gerne selbst nannte, stellte seine Anleger immer wieder mit grandiosen Renditen zufrieden, so dass sie nicht weiter nachfragten. Das alles war wohl eine große Lüge. Nadel ist schon seit Tagen verschwunden. Seine Frau Peg gab eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Sie weiß nicht wo ihr Mann ist. Auf seinem Schreibtisch fand sie einen Abschiedsbrief. "Ausgelaugt" habe er darin geklungen, sagte Chuck Lesaltato von der Polizei in Sarasota der Herald Tribune, einer Lokalzeitung für Floridas Südwesten.

Israel und andere

Der verschwundene Arthur G. Nadel reiht sich in eine Liste ein, die seit Ausbruch der Finanzkrise immer länger wird. Schon vor Monaten hatte die spektakuläre Flucht inklusive vorgetäuschten Selbstmords von Samuel Israel, 48, für Aufsehen gesorgt. Der Hedgefonds-Manager hatte Anleger, die in dem von ihm gemanagten Bayou-Fonds investierten, um 450 Millionen Dollar betrogen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel Marino hatte er Verluste vertuscht, Gelder auf Bankkonten gelenkt, Gutachten gefälscht. Anfang Juni vergangenen Jahres inszenierte Israel seinen eigenen Tod: Er stellte seinen Geländewagen nahe der Brücke über den Hudson River ab, von der schon viele Menschen in den Tod gesprungen sind. Er ließ den Motor laufen, den Schlüssel stecken und schrieb mit dem Zeigefinger auf die mit Staub bedeckte Motorhaube: "Suicide is painless" ("Selbstmord tut nicht weh") - ein Filmzitat; so lautet der Titelsong der Anti-Kriegs-Satire Mash von Anfang der Siebziger Jahre. In dem Lied heißt es bedeutungsreich: "Der einzige Weg, um zu gewinnen, ist zu betrügen."

Diese Weisheit beherzigte auch der amerikanische Vermögensverwalter Marcus Schrenker, 38, der vergangene Woche einen Flugzeugabsturz mit einer Piper Malibu vortäuschte. Das Leben von Schrenker war aus den Fugen geraten. Sein Unternehmen soll eine halbe Million Dollar veruntreut haben. Nach einigen Tagen stellte er sich. Auch er hatte immer mehr gewollt. Immer mehr Geld von einer Gesellschaft, die es jetzt hoffentlich besser weiß.

Auf dem Schreibtisch

fand seine Frau Peg

einen Abschiedsbrief.

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Bescherung nach Weihnachten

Ein Vergleich zeigt: Viele Elektroartikel sind in der ersten Januarwoche erheblich günstiger geworden

Von Marco Völklein

München - Wie ein "fünfter Adventssamstag" war für viele Einzelhändler der 27. Dezember 2008. Trotz der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise haben die Leute auch am letzten Samstag des Jahres weit mehr eingekauft als viele Marktbeobachter erwartet hatten. Die Krise beschäftigte die Kunden (noch) nicht. Unter anderem war aber auch deshalb in den Läden so viel los, weil die Kunden gelernt haben, dass viele Händler ihre Preise in der Zeit nach Weihnachten senken. Eine Erhebung des Online-Preisvergleichsanbieters Guenstiger.de belegt dies nun. Die Experten von Guenstiger.de haben sich dabei die Durchschnittspreise für insgesamt 25 000 Artikel angesehen, die bei Händlern im Internet aber auch im Ladengeschäft verlangt wurden - und zwar für die Woche vor Weihnachten (15. bis 21. Dezember 2008) und für die erste volle Januarwoche (5. bis 11. Januar 2009).

Preissturz bei Telefonen

Das Ergebnis: Im Schnitt fielen die Preise für Elektronikprodukte wie etwa Mobiltelefone, Stereoanlagen, Digitalkameras oder Computer in dieser Zeit um 10,4 Prozent. Besonders in der Telekommunikation, also bei Handys, Schnurlostelefonen und Faxgeräten sind die Preise stark unter Druck geraten. Für diese Produkte zahlten die Verbraucher in der ersten Januarwoche im Schnitt 16,2 Prozent weniger als kurz vor Weihnachten. Einen überdurchschnittlich hohen Rückgang verzeichnete der Vergleichsdienst mit 14,1 Prozent auch im Bereich Hifi/Audio - also bei Stereoanlagen, Autoradios und Navigationsgeräten, die Guenstiger.de ebenfalls in diese Kategorie einordnet. Weitaus geringer fielen die Preisrückgänge bei Computern (-2,5 Prozent) und Haushaltsgeräten (-6,7 Prozent) aus.

Dennoch ist der Rückgang bei einzelnen Produkten gerade im Computerbereich relativ groß. In der Grafik unten sind drei Produkte aufgeführt, die derzeit bei Guenstiger.de besonders nachgefragt werden - ein Netbook (das sind handlichere Laptops), ein Smartphone sowie ein Navigationsgerät. Für diese Produktkategorien sind die Abfragezahlen auf der Seite von Guenstiger.de derzeit am höchsten. Für das Netbook Acer Aspire One A110L verlangen Händler nun Guenstiger.de zufolge im Schnitt 219 Euro. In der Woche vor Weihnachten waren es noch 273 Euro - ein Preisrückgang um fast 20 Prozent.

Für Fachleute ist diese Entwicklung keine allzu große Überraschung. Thomas Harms, Handelsexperte bei der Beratungsgesellschaft Ernst & Young, hatte bereits Ende Dezember einen Preiskampf im Handel vorausgesagt - insbesondere bei den Anbietern von Unterhaltungselektronik und Textilien. "Bei diesen Produkten sparen die Konsumenten erfahrungsgemäß, wenn die Zeiten schlechter werden." Entsprechend steige der Druck auf die Preise.

Diesen erhöhten Druck zeigt auch ein Vergleich zum Vorjahr: Von Dezember 2007 auf Januar 2008 fielen die Preise für die Produkte nur um 7,4 Prozent. Allerdings hatte Guenstiger.de damals nur die Preise bei Internet-Händlern erfasst, aber nicht die Preise bei Händlern mit Laden. Um also die Zahlen vergleichen zu können, muss man die stationären Händler aus der aktuellen Statistik herausnehmen. Und siehe da: Nur im Online-Handel sanken die Preise in der ersten Januarwoche 2009 im Vergleich zur Woche vor Weihnachten um 2008 sogar um 11,6 Prozent. Beim Einkauf im Internet können Kunden also noch mehr sparen.

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Kurzarbeit: Die neuen Regeln

Seit Jahresanfang sind bis zu 18 Monate Unterstützung möglich

Von Andreas Kunze

Düsseldorf - BASF, Daimler, Bosch, Thyssen-Krupp: Immer länger wird die Liste großer Unternehmen, die Kurzarbeit anmelden. Damit sollen wirtschaftlich schwere Zeiten überbrückt und Entlassungen vermieden werden. Für Arbeitnehmer bedeutet das vor allem: weniger Geld am Monatsende. Muss man sich das gefallen lassen?

Vertrag ist Vertrag: Wer eine Vollzeitstelle vereinbart hat, kann generell darauf pochen, dass er die volle Zeit arbeitet und ebenso voll bezahlt wird. Kurzarbeit - etwa nur die halbe Stundenzahl - kann ein Arbeitgeber lediglich dann durchsetzen, wenn er laut Arbeitsvertrag, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung das Recht dazu hat. Eine Betriebsvereinbarung dazu kann aber auch kurzfristig geschlossen werden, so wie derzeit häufiger der Fall.

Für einen Arbeitnehmer kann es durchaus von Vorteil sein, wenn der Betrieb in wirtschaftlich schweren Zeiten Kurzarbeit einführt. Die Alternative wäre sonst häufig betriebsbedingte Kündigung. Bei Kurzarbeit bleibt indes das Arbeitsverhältnis bei reduzierter Stundenzahl und reduziertem Gehalt bestehen - und einen Teil des Einkommensausfalls übernimmt die Agentur für Arbeit per Kurzarbeitergeld (Kug), wenn sie die Kurzarbeit genehmigt hat.

Die Dauer der Kurzarbeit ist im Prinzip nicht begrenzt. Sie kann so lange angesetzt werden, wie der Betrieb in Schwierigkeiten steckt, etwa wegen gesunkener Auftragszahlen. Maximalzeiten gibt es allerdings für das Kurzarbeitergeld: Regelanspruch sind sechs Monate. Zum 1. Januar wurde der maximale Leistungszeitraum per Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums wegen der aktuellen Krise jedoch verlängert, und zwar auf nun 18 Monate.

Damit die örtliche Agentur für Arbeit die Kurzarbeit eines Betriebes genehmigt und den Weg frei macht für Kurzarbeitergeld, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss ein ebenso erheblicher wie vorübergehender Arbeitsausfall vorliegen, der auf wirtschaftlichen Gründen oder einem unabwendbaren Ereignis beruht. Zweitens muss mindestens ein Drittel der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer von einem Entgeltausfall von jeweils mehr als 10 Prozent ihres monatlichen Bruttoentgelts betroffen sein (§§ 169 SGB III).

Das Kurzarbeitergeld wird ähnlich berechnet wie Arbeitslosengeld: 60 Prozent des Netto-Gehaltsverlustes für Kinderlose, 67 Prozent für Kurzarbeiter mit mindestens einem Kind. Das Kug wird an den Arbeitgeber überwiesen, der es mit dem verminderten Gehalt an seine Mitarbeiter auszahlt. Die Sozialversicherungen bleiben erhalten. Wichtig dabei: Die Leistung der Arbeitsagentur ist steuerfrei, aber mit "Progressionsvorbehalt". Dadurch steigt der Steuersatz für das übrige Einkommen, was zu Steuernachzahlungen im nächsten Jahr führen kann.

Wer mit einem Nebenjob die restliche Gehaltseinbuße auffangen will, kann das tun. "Es gelten dann die gleichen Regeln wie für einen Nebenjob in normalen Zeiten", sagt Hildegard Gahlen, Fachanwältin für Arbeitsrecht in Essen. "Der Arbeitnehmer sollte sich möglichst schriftlich von seinem Arbeitgeber eine Nebentätigkeitserlaubnis geben lassen." Das Einkommen eines Nebenjobs wird allerdings auf das Kurzarbeitgeld angerechnet - es sei denn, den Nebenjob hat man vorher schon gehabt.

Logo einer Agentur für Arbeit: Die Behörde zahlt bei Kurzarbeit einen Teil des Gehalts der Mitarbeiter. Foto: AP

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Kalt erwischt

Es ist nicht der Frost, es ist nicht der Schnee und, bitte, bloß keine Erwartungen - Anmerkungen zu einer unfassbaren Jahreszeit / Von Christian Zaschke

I. Bob?

Im Grunde ist das Einzige, was wir mit Sicherheit über den Winter sagen können, dass er den Namen "Winter" führt. Alles andere sind Bruchstücke, Fundstücke, Klischees, Überlieferungen, Erfahrungen, die ein unscharfes Foto ergeben; es sieht aus wie eine seit Jahren dauernde Langzeitbelichtung, die nicht fertig wird, in der einige Menschen im Motiv zwischendurch woanders hin mussten, andere durchs Bild liefen, Bauten zerfielen und wieder erstanden, Bäume wuchsen und gefällt wurden, und während ein Musiker namens Bob Dylan Album nach Album aufnahm. Wieso man auf dem Bild sieht, dass Bob Dylan Alben aufnimmt? Nun, ohne jetzt esoterisch zu werden: Es gibt solche Bilder. Ist halt so.

II. Schnee?

Das heißt nicht, dass der Winter nicht zu beschreiben wäre. Es ist nur etwas schwieriger als bei seinen Geschwistern, als bei Sommer, Herbst und Frühling, weil der Winter ein Spurenverwischer und Vagabund ist, ein Reisender, einer, der sich wandelt und in verschiedenen Gestalten daherkommt, der mal für einen Tag im April auftaucht und dann im September, und der sich zum Ausgleich in einigen wenigen Jahren einen Januartag mit 20 Grad gönnt, weil er das recht witzig findet, aber gut, er hielt es eine zeitlang auch für komisch, Kolumbien als seine wahre Heimat zu bezeichnen, weil es da den meisten Schnee gibt. Das hat er sich zum Glück wieder abgewöhnt, wie überhaupt alle Witze, die darauf beruhen, dass Kokain von Menschen, die das lässig finden, Schnee genannt wird. Trotzdem musste er grinsen, als der englische Fußballer Robbie Fowler ein Tor bejubelte, indem er vorgab, die Seitenlinie zu schnupfen. Fowler wurde selbstverständlich vom Schiedsrichter verwarnt, aber der Winter, der in punkto Gelassenheit das Gegenteil eines Fußball-Schiedsrichters ist, sah es ihm nach, nicht zuletzt, weil Fußball in England ganz offiziell Wintersport ist.

III. Vanille, Schoko, Zitrone?

Insbesondere jüngeren Bewohnern des Deutschland genannten Teils des Planeten erscheint es als großer Unsinn, dass spätestens zu Winterbeginn auch die letzte Eisdiele verschwunden ist und einem Teppichgeschäft Platz gemacht hat. Teppichgeschäfte bringt der Winter immer, Schnee und Kälte bringt er vor allem dann nicht, wenn die Erwartungen an ihn zu hoch werden. Er hasst Erwartungen, die ihn festlegen, und so reagiert er auf Prognosen, die Winter würden immer wärmer, mit einer grimmigen Kälte, die Frost an die Nasenspitzen zaubert und Hände auch in dicksten Handschuhen zu Eisbällen werden lässt (und wie er sich amüsiert, wenn jemand die Eishände unter warmes Wasser hält. Immer, immer, immer unter kaltes Wasser, sonst tut's weh.) Auf Prognosen, die Winter würden immer kälter (1997 schrieb der Spiegel von der "Rückkehr der Eiswinter"), reagiert er selbstredend mit Milde (wie 1998). Ein bisschen ausrechenbar das Ganze, aber was soll's, denkt der Winter, lieber ausrechenbar und trotzdem jedes Mal überraschend als immer brav das Erwartete tun.

Nun aber die Eisdielen-Sache. Natürlich wäre so ein schönes Eis an einem klaren Wintertag eine feine Sache - sagen wir, drei Kugeln, Vanille, Schoko, Zitrone -, eine preiswertere Sache als schöne Teppiche jedenfalls - sagen wir, drei Stück, Loribaff, Bidjar und Keschan. Der alljährliche Wechsel des Geschäftsmodells von Speiseeis auf Teppiche muss als der radikalste der freien Wirtschaft gelten. Und als der auf den ersten Blick sinnloseste, denn noch im Winter, meist bereits im Januar, werden die Teppiche um rund 400 Prozent reduziert angeboten ("Alles muss raus, Orientteppich-Totalausverkauf wegen Geschäftsaufgabe"). Das ist ein Trick, ein höchst durchschaubarer, aber der Winter verdient natürlich an den Teppichen mit. Er ist der Geschäftstüchtigste unter den vier Geschwistern. Wie sonst ist zu erklären, dass es vom Erfinder des Eises kein Eis gibt?

IV. Schon gewählt?

Am brutalsten, ja, am kältesten, äußert sich diese Geschäftstüchtigkeit des Winters in den modernen Skigebieten. Hier ist zu erkennen, dass eines seiner Gesichter das eines gedungenen Schurken ist, fast so kalt wie das von Henry Fonda, wenn er im Epos "Spiel mir das Lied vom Tod" einem Kind ins Gesicht schießt, und zwar, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hat. Die oft gestellte Frage, was denn nun schlimmer sei - die Rodung der Berge, um neue, tolle Pisten zu bauen, oder die Après-Ski-Musik -, ist nicht zu beantworten. Zum einen hängt das eine mit dem anderen zusammen (gut, das gilt für alles), zum anderen weiß jedermann: Wer zwischen zwei Haufen Scheiße den kleineren wählt, hat immer noch keine gute Entscheidung getroffen.

V. Noch geteilt?

Zu den großen Spektakeln zählt es, wenn der Winter das Meer gefrieren lässt. Besonders eignet sich dazu die wunderbare Kieler Förde, ein von Gletschern geschaffenes Tal, das eines Tages die Ostsee entdeckte und in Besitz nahm, also überflutete. 1963 waren die Eisblöcke in der Förde 75 Zentimeter dick, 1986 spazierten die Menschen hinaus aufs Meer, tastend erst, vorsichtig an den ersten Tagen, dann ganz selbstverständlich, als wäre der Mensch schon immer übers Meer gelaufen.

1996, als sie aus Norwegen minus 45,6 Grad meldeten, wuchs wieder das Eis auf der Förde, und diesmal haben sie sogar Buden draufgestellt und Glühwein verkauft, mit Schuss und ohne. Es gibt Menschen, die behaupten, das größte Ereignis, in dem das Meer mitspielt, sei die Teilung desselben durch Moses gewesen. Aber mal ehrlich, was ist ein geteiltes Meer im Vergleich zu diesem Winterwerk: Menschen, die übers Meer laufen und sich mit Fusel (alias Glühwein) ganz allmählich einen Rausch antrinken? Und dass die Behörden in der Mitte der Förde eine Rinne für die Schifffahrt freihielten (das Eis also teilten), kann in diesem Bild als Schönheitsfleck durchgehen, der alles erst perfekt macht.

VI. Den Whisky heiß?

Alsdann, ein Duell, ein Winter-Duell, Tucholsky gegen Goethe. Erstmal natürlich die Frage, wer anfangen muss, und Tucholsky lässt mitteilen, dass ihm das, bei allem Respekt vor dem Alten, wurscht sei. Aus Goethes Ecke verlautet die Nachricht, überbracht von einem gewissen E., dass der Meister keine Zeit habe, weil er über einem Werk brüte, das Nord und Süd versöhne, deshalb nur dies:

"Man lässt den Winter sich noch gefallen. / Man glaubt, sich freier auszubreiten, / wenn die Bäume so geisterhaft, / so durchsichtig vor uns stehen. / Sie sind nicht, aber sie decken auch nichts zu." Das müsse reichen, so E.

Tucholsky, der sich amüsiert übers ewig Fließende beim Alten, schreibt: "Und Winter? Es wird eine Art Schnee geliefert, der sich, wenn er die Erde nur von weitem sieht, sofort in Schmutz auflöst; wenn es kalt ist, ist es nicht richtig kalt, sondern nasskalt, also nass . . . Tritt man auf Eis, macht das Eis knack und bekommt riesige Sprünge, so eine Qualität ist das! Manchmal ist Glatteis, dann sitzt der liebe Gott, der gute, alte Mann, in den Wattewolken und freut sich, dass die Leute der Länge nach hinschlagen."

Der Winter nickt, er fühlt sich von Beiden getroffen, sie haben so recht wie unrecht, denn fassbar ist er ja nicht, immer nur fürs Jahr, und nie im Ganzen. Unentschieden also, und der Winter hat die Beiden eingeladen, sich demnächst, wenn's wieder mal so richtig kracht vor Kälte, zu dritt auf der Kieler Förde beim Örtchen Strande zu treffen. Und, sagt er, Ehrenwort: Er sorgt für eine Bude, an der es keinen Glühwein gibt, keinen Tee namens "Wintermärchen", keine heiße Milch mit Honig, keinen steifen (schon gar keinen steifen) Grog, sondern Whisky und Earl Grey. Den Whisky auf Wunsch auch heiß, falls der Alte wieder mal erkältet sein sollte.

VII. Wessen Märchen?

Neid ist dem Winter fremd. Als 2006 alle Welt vom "Sommermärchen" schrieb und sprach, weil in Deutschland ein wenig Fußball gespielt wurde, hat er nicht darauf hingewiesen, dass Fußball in England - also dort, wo er erfunden wurde - Wintersport ist. Das wäre ihm zu kleinlich gewesen. Er hat ein Gegenprogramm entwickelt, und als Ausweis seines Humors nutzte er dazu eine Sportart, die in England kein Mensch kennt: Handball. Winter 2007, Handball-WM in Deutschland, alles lief nach drei Spielen für die Deutschen in die falsche Richtung, also schickte der Winter einen Wintermann, der sich der Sache annahm, er hieß Christian Schwarzer. Ein Russe, Alexander Koschukow, war für die Nachnominierungen zuständig. Er zog an seiner Zigarette und brummte in seinem Winter-Englisch: "This is the oldest man in the tournament." Schwarzer, damals 37, führte die Deutschen zum WM-Titel.

Alle schrieben und sprachen vom Wintermärchen, und niemand dachte an Shakespeare, der ja auch für ein Wintermärchen verantwortlich zeichnet. Oh, Mist, dachte da der Winter, mit Shakespeare würde er wohl so schnell keinen heißen Whisky mehr trinken.

VIII. Früh genug eingelenkt?

Unvergessen: Ein Audi fährt dank Quattro-Antriebs eine Skisprungschanze hinauf. Das war Werbung, natürlich wurde der Audi an Seilen gezogen.

Genauso unvergessen: Ein junger Mann, auf dem Weg zu seiner Freundin, sie wohnt auf dem Land. Er fährt einen VW Käfer. Heckantrieb und Motor hinten, schlechter geht es nicht im Winter, wenn die Straßen glatt sind und der Schnee auf die winzige Windschutzscheibe fällt. Der junge Mann, wie alle jungen Männer in ihren Käfern, wie drei Generationen von Deutschen also, entdeckt, dass der Winter den Käfer liebt. Die Kurve, vorsichtig anbremsen mit diesen Bremsen, jetzt zu früh einlenken, immer ein bisschen zu früh, und dann Gas geben, etwas zu viel, bis der ganze Käfer beginnt zu rutschen, zu gleiten, es fühlt sich an wie fliegen. So geht es um diese Kurve und alle Kurven. Der Käfer war immer ein Sommerauto, aber der Winter hat die geliebt, die ihn auf Schnee fuhren, und er hat sie belohnt.

IX. Bob, bist du's?

In der englischen Folklore personifiziert die Figur Jack Frost den kalten Winter. Es gibt einige Filme, die nach ihm benannt und allesamt Schrott sind, und es gibt einige Bands, die nach ihm benannt und allesamt Schrott sind, bis auf eine: Die Australier Grant McLennan und Steve Kilbey, die sonst beide in anderen wunderbaren Bands spielten, taten sich 1991 zusammen und nahmen unter dem Namen Jack Frost ein Album auf. Und dann gibt es noch einen Jack Frost: Der Produzent der beiden Meisterwerke Bob Dylans, "Love and Theft" und "Modern Times", heißt Jack Frost. Selbstverständlich ist dieser Jack Frost niemand anderes als Dylan selbst; der Mann mit dem Künstlernamen (ja doch, er heißt in Wirklichkeit Robert Zimmermann. Sagt er.) hatte sich einen weiteren seiner vielen Künstlernamen gegeben. Wenn man nun einen flüchtigen Blick auf Dylan wirft, den Reisenden, den Unberechenbaren, den Vielgesichtigen, den Mann, der mal hier einen Tag auftaucht und dann wieder ganz woanders, der kalt war, wenn sie's warm wollten, milde, wenn's sie's kalt wollten, wenn man den ganzen Dylan so anschaut, und wenn man dann den Winter anschaut?

Deutschland ist festgefroren, und wer ist schuld daran? Der Winter ganz bestimmt nicht. Foto: Achenbach & Pacini / VISUM

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Berlin, Französische Straße

von Evelyn Roll

Zwei der Gäste hatten einen Dresdner Stollen mitgebracht, ein bemerkenswertes Mitbringsel für Mitte Januar, fand ich, vor allem, weil sie diesen Stollen so überreichten, als wäre er etwas Besonderes. Es war die Sorte ohne Marzipan mit diesen fetten Zitronatstücken, die wir sowieso nicht mögen. Wird wohl vom Weihnachtsfest liegen geblieben sein, dachte ich. Und schönen Dank auch.

Erst beim Aufräumen, als alle wieder weg waren, entdeckte ich, was ich gar nicht gleich glauben konnte: Das regenbogenfarbene Schleifenband, dessen Enden etwas ungeschickt über eine Schere gezogen und auf diese Art zum Kräuseln gebracht worden waren. Ich kannte diese Schleife sehr genau. Die Kräusellocken waren eine kleine Handarbeit von mir . Dieser Stollen war genau der Stollen, den ich meiner bisher liebsten Freundin Sabine Anfang Dezember zum Adventspoker mitgebracht hatte. Sabine muss ihn einfach weiterverschenkt haben. Hätte ich ihr nicht zugetraut.

Mit einer Flasche Frans Malan Stellenbosch aus Südafrika ist uns so etwas auch schon einmal passiert. Den hat eine Kollegin zum Abendbrot mitgebracht, obwohl wir ihr genau diese Flasche ein paar Monate vorher unsererseits zu ihrer Abendeinladung geschenkt hatten. Diese Stadt ist ein proletarisches Dorf. Die Sitten sind übel verwildert. Vor allem die Geschenke- und Mitbringselkultur ist vollkommen verroht.

Verrohung funktioniert wie ein Virus. Sabine hat sich davon anstecken lassen. Früher wäre so etwas überhaupt nicht möglich gewesen. Bei uns zu Hause haben die Menschen sich für ihre Durchreichweine und Wanderstollen wenigstens noch kleine Listen gemacht, damit sie die Sachen nicht wieder genau zu den Menschen tragen, die sie ihnen geschenkt haben.

Dieser Stollen war aber außerdem noch ein Rätsel, ein Rätselwanderstollen: Wie kommen ausgerechnet unsere beiden Gäste, die Gerd und Sabine doch nur dem Namen nach kennen, an einen Stollen, den ich vor mehr als einem Monat Sabine geschenkt habe?

Sabine fing an zu lachen, als ich sie am Telefon stellte. Sie war kein bisschen schuldbewusst und hörte überhaupt nicht wieder auf zu lachen und zu prusten. Dann sagte sie: "Du weißt also gar nicht mehr, wo du diesen Stollen selbst her hattest?"

"Was meinst du damit, wo ich ihn selbst her hatte? Es war bitteschön ein Geschenk von mir an dich", sagte ich und ahnte leider schon, dass das eine kleine Lüge war.

"Von Julia hast du ihn. Sie hat ihn leider auch gleich wieder erkannt, obwohl du ihre Regenbogenschleife so schön gekrisselt hast."

Julia hatte also beim Weihnachtswichteln im Bach-Chor ihren eigenen Stollen aus dem Sack gezogen: den Stollen, den sie mir zum Nikolauspunsch ins Büro mitgebracht, den ich an Sabine weitergereicht und den Sabine dann als Bach-Chor-Wichtelgeschenk missbraucht hatte. Und die Gäste, die ihn mir wieder zurückgebracht haben, waren Julias Eltern.

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Drama

Bleiben Sie heiter!

von Helmut Schödel

1. Szene

Frankenstein fährt mit seinem Hund Tommy von Franken nach Wien zurück. Am Steuer sein Assistent Umek.

FRANKENSTEIN: Jetzt hat Rosenthal Insolvenz angemeldet. Das Vorzeigeunternehmen der Porzellanindustrie!

TOMMY: In deinem Elternhaus stehen mindestens fünf Rosenthal-Figuren.

FRANKENSTEIN: Erinnere mich nicht!

UMEK: Keine Panik. In drei Tagen wird Obama Präsident!

FRANKENSTEIN: Hatte ich fast schon vergessen.

UMEK: Der Hoffnungsträger, der als Müllkübelfahrer anfangen muss, um den Augiasstall auszumisten. Der Herkules der Situation.

TOMMY: Gut, dass ich ein Hund bin. Ich glaube, die Krise ist die Chance der Vierbeiner. Die Sieger werden alle sein, die nichts zu verlieren haben.

2. Szene

In einer Raststätte bei Linz

TOMMY: Gibt's irgendwelche gute Nachrichten in Österreich?

UMEK: In Wien beginnt die Ballsaison.

FRANKENSTEIN: Provozieren Sie mich nicht!

UMEK: Ich würde gern mal zum Opernball gehen. Linkswalzer, der Einzug der Debütanten: Reiche und Schöne.

FRANKENSTEIN: Das Schönste am Opernball ist der Würstlstand hinter der Oper. Viele Topmanager haben ihr Kommen schon abgesagt. Die mobilisieren ihre menschlichen Reste. Sie schämen sich.

3. Szene

In der Wiener Wohnung. Sie lesen in der Zeitung Kurier.

UMEK: Hausbesitzer wollen ihr Eigentum, das sie nicht mehr halten können, über Lose loswerden. Eines kostet 99 Euro. Wer gewinnt, bekommt eine Villa für fast nichts.

FRANKENSTEIN: Sobald das Burgtheater zu haben ist, schlage ich zu. Dafür schmeiße ich alle fünf Rosenthal-Figuren aus meinem Elternhaus hin.

4. Szene

In der Wiener Wohnung telefoniert Frankenstein.

FRANKENSTEIN: Ich rufe mal bei den Schmidts vom Jean-Paul-Museum in Joditz an. Obwohl die nach Silvester meistens verreisen.

Die Verbindung kommt überraschenderweise zustande.

FRANKENSTEIN: Seid ihr in einer Finanzkrise, weil ihr zu Hause seid?

HERR SCHMIDT: Nur keine Lust.

FRAU SCHMIDT: Obwohl ich fast Lust hätte, nach Wien zu kommen. Da gibt es jetzt ein Geldmuseum, habe ich gelesen.

HERR SCHMIDT: Wer selber keinen hat, kann dort einen Goldbarren anfassen und hochheben. So ein richtiger großer wiegt 25 Kilo.

FRANKENSTEIN: Woher wissen Sie denn das? Haben Sie einen?

FRAU SCHMIDT: Wir haben kein Geldmuseum, Frankenstein.

HERR SCHMIDT: Wir haben das Jean-Paul-Museum. Der literarische Wert Jean Pauls dürfte allerdings diese 25 Kilo weit überschreiten.

5. Szene

Wien, im Kaffeehaus. Tommy bringt Zeitungen.

FRANKENSTEIN: (liest): Der Gasstreit ist beigelegt, der Gasstreit geht weiter. Ich glaube, die stehen auf der Leitung.

UMEK (liest): Atomskandal! Slowakei sperrt Schrott-AKW wieder auf und bricht EU-Vertrag.

FRANKENSTEIN: Der Rostboiler ist nur 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Viel Spaß beim Opernball, Umek! Tanzen Sie mit auf dem Vulkan! Und das Geld für die Eintrittskarte besorgen Sie sich am besten aus dem Geldmuseum!

UMEK: Wie sagt Maybrit Illner nach ihrem Polittalk jedes Mal? Bleiben Sie heiter, irgendwie! Wer Humor hat, beweist sich in Krisenzeiten.

6. Szene

Sie kommen nach Hause. Frankenstein schaltet das Licht an.

TOMMY: Strom ist noch da.

FRANKENSTEIN: Und warm ist es auch. Wir haben noch Gas.

TOMMY: Der Abend ist gerettet.

Wenig später klingelt die Hausmeisterin an der Tür.

FRAU HORACEK: An Ihrem Auto hams die Scheibe eingeschlagen. Auf der Fahrerseite.

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Medizin und Wahnsinn, Folge 62

Ein Stich fürs Leben

von Werner Bartens

Sie war rundherum ein gehemmter Typ. Besonders wenn sie locker sein wollte, wirkte sie aber sowas von blockiert. Man mochte sie sowieso kaum ansprechen. Stand man aber mit ihr im Fahrstuhl oder in der S-Bahn, war es peinlicher als mit anderen Kollegen. Selbst der harmloseste Smalltalk verlief stockend. Sie war weitgehend humorfrei, eine Gefangene ihrer selbst. Irgendwann musste es aber auch bei ihr mal raus. Dann entluden sich ihre aufgestauten Emotionen in unkontrollierten Wutausbrüchen, in Konferenzen war sie gefürchtet. Ein jähzorniger Gott, der im Affekt Blitze schleudert, war nichts dagegen.

Viele Menschen fürchteten, näher mit ihr zu tun haben zu müssen. Eines Tages stand sie plötzlich vor meinem gelben Sofa. Sie traute sich nicht, sich zu setzen. Dann setzte sie sich doch. Sie hatte Verstopfung und fragte nach natürlicher Abhilfe. Zudem fühlte sie sich "vergiftet" und hatte das Bedürfnis nach "innerer Reinigung". Auch hatte sie eingesehen, dass sie etwas für ihren Gefühlshaushalt tun musste, wenn er jemals in wohltemperierten Bahnen verlaufen sollte. Sie hatte sich allerdings nicht für eine Religionsgemeinschaft, sondern für eine Therapierichtung entschieden. Nachahmer kann man nur warnen, es sei denn, sie sind Esoteriker oder Masochisten.

Sie hatte sich einem "ausleitenden Verfahren" hingegeben, einer Methode, der Schulmediziner geradeheraus mit einem Naserümpfen begegnen. Statt sich aber an medizinhistorisch geadelte Techniken wie Schröpfen oder Aderlass zu halten oder ein paar Brech- oder Abführmittel zu nehmen, war sie auf die zu Recht kaum bekannte Baunscheidttherapie verfallen. Die Kollegin war nicht dumm und zu eigener Recherche fähig. Wie sie sich dennoch für ein Heilverfahren erwärmen konnte, das im 19. Jahrhundert von einem Ackerbaugerätehersteller und Mechaniker erfunden worden war, blieb mir rätselhaft. Gut, der Mann hatte zwar die Muttermilchpumpe und das Gewehrvisier entscheidend weiterentwickelt. Aber war ihr tatsächlich entgangen, dass Carl Baunscheidt das Folterinstrument, das er 1848 für den therapeutischen Gebrauch vorstellte, erst "Mücke" und dann "Lebenswecker" genannt hatte? Ein humorbegabter Mensch würde doch Zweifel bekommen, bevor er sowas an seine Haut lässt. Allenfalls für Ärzte in Guantanamo mochte das Gerät von beruflichem Interesse sein.

Der mit 30 Stahlnadeln bewehrte Pinsel funktioniert nach dem Prinzip: "Schön, wenn der Schmerz nachlässt". Am Rücken oder anderswo wird er in die Haut gestoßen. Damit auch möglichst viel Schmerz nachlassen kann, werden reizende Öle und Essenzen zur akuten Wundverschlimmerung beigegeben. Baunscheidt selbst hatte Erfahrungen mit Mückengift gesammelt. Für den großflächigen Einsatz stehen auch Nadelwalzen zur Verfügung. Man kennt den Hang zur Hautpenetration ja aus der Akupunktur, obgleich die Technik harte Rückschläge hinnehmen musste. Jahrtausende lang haben die Chinesen Meridiane zu treffen versucht und ein kompliziertes Bahnengeflecht im Körper vermutet. Mittlerweile weiß man, dass es egal ist, wohin gepiekst wird.

Als die Kollegin erneut auf mein gelbes Sofa kam, hatte sie andere Sorgen. Die Verstopfung war weg, aber sie hatte den "Lebenswecker" an ihrer Hand ausprobiert. Die sah jetzt aus, als ob sie bei dem Halbstarkenspiel gelitten hätte, bei dem es darum geht, mit einem Messer die Fingerzwischenräume zu treffen - dazwischen, nicht hinein. Sie fragte nach einer schonenderen Behandlung. Nach kurzer Rücksprache waren sich die Kollegen einig, unbürokratisch zu helfen und kollektiv therapeutisch tätig zu werden. Ihre Kollegin brauchte offensichtlich ab und zu ein paar Schmerzreize. Sie beschlossen daher, ihr regelmäßig auf den Lebenswecker zu gehen und mehrmals täglich gezielt verbale Nadelstiche zu setzen.

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Fragen der Leser

Hopfen und Hals

Wolfgang Bolinski aus Wathlingen will wissen, wie man sich einen hinter die Binde kippt

von Hilmar Klute

Lieber Herr Bolinski,

kennen Sie diesen sehr schönen Cartoon von Robert Gernhardt, in welchem er die zur Debatte stehende Redewendung eins zu eins in die Zeichnung umgesetzt hat? Wir sehen darauf einen Schluckspecht, der um den Kopf einen Verband trägt, diesen mit dem linken Finger ein wenig anhebt und - schwupps - kippt er einen kräftigen Schluck Bier hinter die Binde. "Der hat sich einen hinter die Binde gegossen", steht folgerichtig unter der Zeichnung, und man möchte gleich zweimal heftig nicken: zum Ersten, weil das Bild so klasse ist, und zum Zweiten, weil man endlich die Antwort auf die Frage hat, woher dieser Ausdruck eigentlich kommt.

Natürlich liegen auch hier die Dinge nicht so einfach, das ist ja fast immer so. Schließlich trägt ja auch nicht jeder, der sich eins hinter die Binde gießt, einen Kopfverband, das wäre aber auch zu merkwürdig. Um Klarheit in dieser Angelegenheit zu bekommen, müssen wir, wie so oft, in die Vergangenheit zurück blicken und dort den Bereich der Mode ins Auge fassen. Es muss so um 1850 gewesen sein, dass diese recht lockere Redeweise das erste Mal die Runde gemacht hat. Damals war es ja en vogue, elegante Halsbinden zu tragen, wie zeitgenössische Portraits und Kupferstiche es uns staunenden Nachgeborenen belegen. Die Halsbinde war für den Herrn, entschuldigen Sie das Wortspiel, Herr Bolinski, derart bindend, dass sie in unserer Redewendung praktisch für den Hals an sich stand. Also Halsbinde gleich Hals. Wer sich einen hinter die Binde kippte, kippte sich einen in den Hals. Zeugen respektive Kritiker von exzessiven Trinkvorgängen wollten mit der Phrase ausdrücken, dass außergewöhnlich schnell und unverhältnismäßig gierig getrunken wurde, wenn "einer" hinter die Binde gekippt wurde.

Sehr schön belegen und zugleich stützen lässt sich die alkoholische Halsband-Affäre mit einem Blick nach Frankreich. Dort existiert die Redewendung ebenfalls und lautet "S'en envoyer un derrière la cravate" - sich einen Letzten hinter die Binde jagen. Sehr schön ist hier übrigens das Moment des Finalen, Endlichen. Aber ernsthaft: Wie konnte diese, doch so sehr an überkommene Halsmoden gebundene, Redewendung eigentlich bis heute überleben? Vielleicht, weil besonders in Berufen mit Krawattenzwang kräftig getrunken wird - Manager, Politiker, Aufsichtsräte? Oder weil man nach wie vor glaubt, das Trinken verbinde die sozialen Schichten dergestalt, dass es gewissermaßen den Menschen hinter der Binde zum Vorschein bringe? Ja, so wird es wohl sein.

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Auf dem Gipfel des Wahnsinns

Wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg am Obersalzberg zum ersten Mal auf Hitler trifft - und zum Attentäter wird

von Tobias Kniebe

Als Oberstleutnant Claus Schenk Graf von Stauffenberg am Vormittag des 7. Juni 1944 am Bahnhof von Berchtesgaden aus dem Nachtzug steigt, ist dies nicht sein erster Besuch in der Stadt. Wann immer sein oberster Befehlshaber Adolf Hitler in seinem Hauptquartier in den bayerischen Alpen weilt, müssen sich die Führungsstäbe der Wehrmacht in der Nähe installieren. Dann jagt in der Gebirgsjägerkaserne im Ortsteil Strub eine Dienstbesprechung die nächste.

Auf Stauffenberg wartet ein Fahrer, aber diesmal geht es nicht durch den Ort zur Kaserne, sondern aus der Stadt hinaus in die andere Richtung. In engen Kurven fährt der Wagen den Obersalzberg hinauf - dahin, wo das Tor zum "Führersperrgebiet" liegt und niemand mehr ohne Sondergenehmigung durchgelassen wird. Almwiesen und Lärchenwälder wechseln sich ab, bis am Hang ein wuchtiges, weißgekalktes Gebäude auftaucht. Mit seinen rustikalen Dachbalken wirkt es wie ein überdimensioniertes bayerisches Bauernhaus: der "Berghof". Er liegt umgeben von Wiesen und bewaldeten Hügeln. Dahinter erhebt sich fast senkrecht die Nordwand des Hohen Göll. Seit neun Monaten plant Stauffenberg nun den gewaltsamen Tod des Mannes, der ihn heute zu sich gerufen hat. Gleich wird er ihm zum ersten Mal gegenübertreten.

Der 20. Juli 1944, der Offizier aus schwäbischen Adel, der eine Bombe in Hitlers "Lagebaracke" zündet und selbst entkommt, um mit den anderen Verschwörern unter dem Codenamen "Operation Walküre" in Berlin die Macht an sich zu reißen, bis die Nachricht von Hitlers Überleben den Staatsstreich scheitern lässt - das alles ist hier Schulstoff, Pflichtlektüre, Hauptabendprogramm. Seltener wird erzählt, wie Stauffenberg seiner Nemesis Hitler zum ersten Mal begegnet ist.

Hollywood freilich mochte sich diese Episode von surrealer Intensität nicht entgehen lassen: In Bryan Singers "Operation Walküre - Das Stauffenberg-Attentat" darf Tom Cruise den detailreich rekonstruierten "Berghof" besuchen, wo in dem sonst um Korrektheit bemühten Film dann allerdings ein paar Dinge passieren, die nicht den historischen Tatsachen entsprechen - zum Beispiel unterschreibt der Film-Hitler dramatisch einen von Stauffenberg gefälschten Befehl.

Dabei bietet die Wirklichkeit Drama genug. Es ist der Tag nach der Landung der Allierten in der Normandie. Am frühen Morgen des 6. Juni 1944, etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, war die größte Operation der Kriegsgeschichte losgegangen. Bis zum Abend hatten 170000 alliierte Soldaten ihre Stellungen gefestigt. Deutsche Panzerdivisionen, die zum Gegenangriff anrückten, ließ das Oberkommando der Wehrmacht wieder stoppen. Nur Hitler selbst durfte ihren Einsatz befehlen, aber der verschlief den ganzen Morgen auf dem "Berghof". Niemand in seiner Umgebung dachte daran, ihn zu wecken, schließlich erwarten die deutschen Generäle den Hauptvorstoß noch immer ganz woanders, nämlich im Raum Calais.

Die Nachricht von der Invasion hat Stauffenberg in Bamberg erreicht, im Urlaub bei Frau und Kindern. Wenig später ist auch der Befehl aus Berlin gekommen, der ihn und seinen direkten Vorgesetzten, Generaloberst Friedrich Fromm, den Befehlshaber des Ersatzheeres, auf den "Berghof" beordert. Hitler will die Aufstellung von Ersatzverbänden neu organisieren. Oberstleutnant Stauffenberg, dessen Beförderung zum Oberst da schon beschlossene Sache ist, befasst sich seit Monaten mit nichts anderem. Er gilt als bester Stratege in diesem Bereich.

Dass Stauffenberg zum Vortrag bei Hitler erwartet wird, ist gut für seine Pläne. Endlich kann er sich ein eigenes Bild von den Sicherheitsvorkehrungen machen, die den "Führer" umgeben. Und endlich ist er nicht mehr auf die Zustimmung wankelmütiger und wechselnder Verbündeter angewiesen, um in der unmittelbaren Umgebung Hitlers konspirativ tätig zu werden. Jetzt wird er bekommen, was sein Wegbereiter, Oberst Henning von Tresckow, immer gesucht hat: den persönlichen Zugang zum Zentrum der Macht.

Der "Berghof" war einmal Hitlers privates Ferienhaus. Seit er im Jahr 1923 zum ersten Mal als Tourist auf den Obersalzberg kam, hat er ein besonderes Verhältnis zu der Gegend entwickelt. Hier schrieb er den zweiten Teil von "Mein Kampf", hier mietete er das "Haus Wachenfeld" von der Witwe eines Lederwarenfabrikanten, bevor er es 1932 für 40000 Reichsmark kaufte. Nach zahlreichen Umbauten ist daraus nun sein Hauptquartier in den Alpen geworden - eine vollausgerüstete Befehlszentrale, die auch zum Empfang von Staatsgästen dient. Das Kaminzimmer und die Veranda des alten Hauses wurden auf Wunsch das Diktators erhalten und in den neuen Gebäudekomplex integriert. Terrasse mit Alpenpanorama, Holzstühle mit buntgemusterten Kissen - das Ganze strahlt die absurde Friedlichkeit eines Kurhotels aus. Alle Naziführer aus Hitlers innerem Kreis, von Bormann bis Göring, haben eigene Residenzen in unmittelbarer Nähe.

Kurz vor vier Uhr nachmittags meldet sich Stauffenberg zur "Sonderbesprechung" an; Historiker wie Christian Müller und Peter Hoffmann, der auch von Tom Cruise bis Guido Knopp als Projektberater fungiert, haben die Begegung in vielen Details rekonstruiert. An den Wachen der SS-Leibstandarte vorbei betritt er die dreißig Meter lange Wohn- und Konferenzhalle im Erdgeschoss. Ein Raum mit hoher Kassettendecke, den an der Stirnseite ein neun Meter breites, versenkbares Fenster beherrscht. Es erlaubt einen Blick auf Berchtesgaden, die bewaldete Kuppe der Keifelspitze und den scharfen Felsengrat des Hochthrons dahinter.

Davor steht ein langer, glattpolierter Tisch aus schwarzgeädertem Marmor, der das Panorama reflektiert. Besucher, die den Raum betreten und die Stufen zum Lagetisch herabsteigen, sehen zunächst nur Schattenrisse vor dem hellen Fenster, bis sich die Augen an das Licht gewöhnen. Eine bauchige Silhouette mit hohen Stiefeln und roten Streifen an den Hosen - das muss Feldmarschall Keitel sein. Daneben Albert Speer, der "Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion", den Ausdruck des ewigen Musterschülers im Gesicht. Weitere Generäle umgeben sie. Mittendrin steht Hitler in einer schmucklosen grauen Uniformjacke.

Hitler kennt den Namen Stauffenberg bereits. "Endlich ein Generalstabsoffizier mit Phantasie und Verstand!" soll er erst beim Lesen eines Stauffenberg-Memorandums ausgerufen haben - was allerdings nicht schlüssig belegt ist. Auf jeden Fall aber hat er Speer auf Stauffenberg aufmerksam gemacht und ihm aufgetragen, eng mit ihm zusammenzuarbeiten. Speer fällt als Erstes der "jungenhafte Charme" Stauffenbergs auf, dann seine besondere Art zu sprechen. Sie erscheint ihm "eigentümlich poetisch und präzise zugleich."

Stauffenberg wiederum nimmt sich offenbar vor, nicht nur Hitler, sondern auch sich selbst genau zu beobachten. Wird er den legendenumwobenen, angeblich so hypnotischen "Blick des Führers" spüren, der in der Propaganda der Nationalsozialisten eine Rolle spielt? Könnte er von der Präsenz seines obersten Befehlshabers überwältigt sein, vielleicht sogar von seinem Vorhaben abkommen?

Stauffenberg wird vorgestellt. Hitler ergreift seine Linke mit beiden Händen. Sie blicken sich in die Augen. Stauffenberg spürt - nichts. "Gar nichts! Wie hinter Schleiern!" wird er hinterher auf die Frage seiner Frau antworten, wie diese Peter Hoffmann berichtet hat. Nun beginnt die Sonderbesprechung. Mit zitternder rechter Hand verschiebt der Diktator Karten, wischt Einwände beiseite, unterbricht Widerreden, beharrt starr auf seinem Standpunkt. Stauffenberg erlebt ein bizarres Schauspiel: Generäle, die vor der Tür noch über Hitlers Kriegsführung gelästert haben, geraten ins Schwimmen, verlieren den Faden, lassen sich über den Mund fahren - oder schweigen.

Einmal fühlt sich Stauffenberg fast bei seinen Gedanken ertappt. Hitler fixiert ihn mit einem langen, forschenden Blick, quer über den Marmortisch hinweg. Doch nach kurzer Zeit wendet er sich wieder dem vortragenden General zu. Eigentlich eine schwache Persönlichkeit, dieser "größte Feldherr aller Zeiten" - und nicht einmal wirklich gut bewacht, analysiert Stauffenberg. Wer Zugang zu ihm hat, kann sich in seiner Nähe relativ frei bewegen. Doch diesen Zugang zu bekommen, war schon immer sehr schwer. Jetzt sieht es so aus, als habe der Widerstand eine späte Trumpfkarte gezogen. "Operation Walküre" wird in die entscheidende Phase eintreten, und Stauffenberg hat nun auch eine Vorstellung davon, wer der Attentäter am Ende sein könnte: er selbst.

Die Gruppe, die sich anschließ;end am runden Tisch unter einem riesigen Wandteppich zusammenfindet, kommt ihm wie ein bizarrer Zirkus vor. Himmler ist nun auch dabei, mit fleischfarbener Brille, ausrasiertem Nacken, dicken Ringen an den Fingern. Er erscheint Stauffenberg als gefährlicher Psychopath. Ebenso Göring, dessen aufgedunsenes Gesicht tatsächlich so aussieht, als habe er sich gerade geschminkt. Speer wirkt in dieser Runde noch am normalsten. Es geht um Zahlen der Munitionsproduktion, um Panzerabwehrkanonen, um Flugzeugbau, nur um den Ernst der Lage geht es nicht.

Die Amerikaner, Briten und Kanadier bauen ihre Stellungen an der Atlantikküste stündlich weiter aus - ein Problem, das die hier versammelten Nationalsozialisten aber einfach ignorieren. Göring hat wieder unhaltbare Versprechungen gemacht, was die Luftwaffe leisten wird, und alle wollen daran glauben. So herrscht eine gespenstische Atmosphäre auf dem "Berghof", eine Mischung aus Verleugnung der Realität und Abschottung von der Außenwelt, die Stauffenberg "faul und verrottet" vorkommt. Er fühlt sich, als würde ihm die Luft abgeschnürt - und er ist froh, als er wieder in die sommerliche Bergwelt hinaustreten kann.

Die Strategie für das Attentat zeigt sich nun klarer als je zuvor. Hitler hat die Aufstellung der neuen Ersatzdivisionen zur Chefsache erklärt; in den nächsten Wochen wird es weitere Sonderbesprechungen bei ihm geben. Stauffenberg selbst könnte die Bombe in der Nähe des Diktators platzieren. Aber ist dieser Schritt auch jetzt, angesichts des drohenden militärischen Untergangs, noch sinnvoll? Stauffenberg sucht noch einmal Rat - bei dem Mann, von dem er die Führung der "Operation Walküre" übernommen hat.

Er weiß, dass Henning von Tresckow in Ostpreußen bei einer Armeeführerbesprechung ist, und schickt einen am Widerstand beteiligten Grafen mit dieser entscheidenden Frage zu ihm.

Tresckows Antwort räumt jeden Zweifel aus: "Das Attentat auf Hitler muss erfolgen, um jeden Preis", lautet die Botschaft. "Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig."

Hitler in seiner Ferienresidenz, eine Halle mit Panoramablick, eine Terrasse mit der Anmutung eines Kurhotels - das erlebt Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Foto unten, mit Familie) am 7. Juni 1944 auf dem "Berghof". Zum Attentat auf Hitler ist er da bereits entschlossen. Fotos: Walter Frentz/Ullstein Bild; akg-images; Walter Frentz Collection, Berlin; SZ Photo

Stauffenberg, Claus Graf Schenk von Attentat auf Hitler 20. Juli 1944 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schmalz auf unserer Haut

Die Beauty-Neuheiten werden immer spezieller, bizarrer, ekliger. Und wir? Kaufen alles.

von Karoline Ebermann

Sie weiß nicht warum, aber sie kann Dir nicht widerstehen" und "Extra Anziehung! Frauenmagnet!" steht auf der schwarzen Tube. Auf dem Preisschild: 6,49 Euro. Ganz schön viel Geld für ein bisschen Haargel. Aber das muss man mal in Relation sehen: Für nur knapp 7 Euro zum Frauenmagnet werden! Ein Schnäppchen! Kein aufwändiges Fitnesstraining, keine teure Schönheitsoperation, kein mühsamer Benimmkurs. Nein, einfach nur die Haare mit der Zauberpaste "Magnetik" betünchen - und schon wird man laut Produktbeschreibung zum "Alphatier". Das Wort passt eigentlich ganz gut, denn das Zeug stinkt wie ein Pumakäfig.

Nun fragt man sich, wie sich ein Haargel erlauben kann, derart zu müffeln, so teuer zu sein und mit so einer absurd klingenden Wirkung zu prahlen? Die Antwort: Pheromone. "Magnetik" enthält laut Herstellerfirma Schwarzkopf das so genannte Androstadienon, das zu den wichtigsten Sexuallockstoffen beim Menschen zählt. Schwarzkopf verweist auf eine Universitäts-Studie mit durchschnittlich gut aussehenden Männern, die von Frauen bewertet wurden - Überraschung: unter Pheromoneinfluss besser als ohne. Doch durchschnittlich gut aussehende Männer haben so ein Zeug doch eigentlich gar nicht nötig. Die subtile Botschaft "Damit musst Du gelen, um zu daten" wird vermutlich eher von unterdurchschnittlich attraktiven Männer aufgenommen.

Dass Männer sich sowas in die Haare schmieren, darf man ihnen eigentlich nicht übel nehmen. Schon gar nicht als Frau. Wir sind ja Meister der Naivität und darin, sich durch blumige Versprechen etwas andrehen zu lassen, um angeblich besser auszusehen. Warum wir das machen, wissen wir selber nicht genau. Vielmehr wissen wir aus Erfahrung, dass das in der Werbung angepriesene Grapefruit-Cellulite-Gel Orangenhaut nicht verschwinden lässt. Wir wissen auch, dass wir mit keiner Mascara der Welt jemals XXXL-Wimpern haben werden wie das Model von der Werbung. Warum also dieser Selbstbetrug? "Menschen sind permanent auf der Suche nach dem großen Glück. Sie glauben fest daran, dass sie in Zukunft glücklicher sein werden. Um sich und andere davon zu überzeugen, dass sie bei dieser Suche quasi ,on track' sind, müssen Glücksbeweise her", lautet die Antwort von Marketingexpertin Dorothee Rein von der Hamburger Werbeagentur Springer & Jacoby. Eine Erhöhung der Attraktivität sei die ideale Projektionsfläche. Will heißen: Der Konsument bildet sich ein, wenn er erst mal keine Pickel mehr hätte, aber das neue Haargel, dann würde sich der oder die Angebetete sicher verlieben. Leider folge, so Dorothee Rein, die Einsicht schnell: "Wir müssen erkennen, dass die extralangen Wimpern doch nicht für nachhaltige Zufriedenheit sorgen. Neue Glückserlebnisse müssen her. Man wird anfällig für neue Versprechen."

Und die werden in der Beautybranche immer reißerischer. Kein Wunder, schließlich kommen jedes Jahr mehrere hundert Produktneuheiten aus dem Kosmetikbereich auf den Markt. Um aus dieser Menge herauszustechen, reicht ein simples "noch schöner" nicht. Die Ansprüche des Konsumenten werden nämlich immer größer, seine Wünsche immer ausgefallener. So bekommt das schön-schöner-am- schönsten-Spielchen langsam immer perversere Ausmaße. Mehr Glanz und Fülle für's Haar? Sperma vom Angusrind soll da prima helfen. Kein Scherz, sondern in London bei einem Friseur zu haben. Ausstrahlung und Frische fürs Gesicht? Einfach eine Maske aus echter menschlicher Plazenta auflegen. In Amerika fast so gängig wie eine French Manicure. Zarte Haut? Ab nach Maui, dort gibt es ein Spa, das Gesichtsbehandlungen mit Nachtigallkot anbietet. Und hierzulande gibt es seit neuestem einen Duft, der eine Geruchsnote enthält, die an einen frisch ausgepackten Apple-Laptop erinnern soll.

"Der Beautymarkt leidet an einer Innovationsschwäche, es gibt nichts wirklich Neues. Wenn das der Fall ist, wird die Werbung gar nicht mehr bewusst wahrgenommen", sagt Professor Markus Voeth vom Lehrstuhl für Marketing der Universität Hohenheim. "Um aus dem Informationsnebel hervorzutreten, muss ein Produkt unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das klappt mit übertriebenen Versprechen." Damit diese Versprechen trotzdem glaubhaft erscheinen, müssen sie entsprechend vermittelt werden. Früher waren es bekannte Personen, die Stein und Bein schworren , dass Creme XY hilft. Heute setzt die Werbung auf Mehrwerte, die wenigstens auf den ersten Blick neu erscheinen. So gibt es seit kurzem Wimperntuschen mit vibrierender Bürste. Ein klitzekleiner Motor soll für den perfekten Auftrag sorgen. Tatsächlich macht das Bürstchen beim Benutzen ein Geräusch wie eine elektrische Zahnbürste, eine Bewegung sieht man nicht, und wenn man den Finger dranhält, fühlt es sich durch die minimale Vibration eher an, als wäre gerade ein Insekt auf der Haut gelandet. Aber der Glaube wirkt, in der Beauty ist das nicht anders als in der Medizin. Die Begrifflichkeiten sind daher oft ähnlich, nicht nur was die Inhaltsstoffe angeht: "Wenn die Wirkung eines Produkts nur im Kopf des Kunden besteht, nennt man das Placebo-Marketing", sagt Voeth.

Dürfen Kunden durch illustre Werbeversprechen an der Nase herumgeführt werden? "Selbstverständlich darf nur mit nachweisbaren Wirkungen geworben werden; da ist der Gesetzgeber sehr eindeutig in seinem Regelwerk", erklärt der Geschäftführer des Kosmetikverbands VKE, Martin Ruppmann. "Der Hersteller ist verpflichtet, den Nachweis über die Wirkung des Produktes, sofern in der Werbung darauf hingewiesen wird, zu erbringen. Eine Aussage wie ,Fältchen werden nachweisbar reduziert' ist leicht über die Bestimmung der Faltentiefe möglich; ,die Faltentiefe wird um x Prozent reduziert' ist dagegen schon etwas schwieriger nachzuweisen, aber auch möglich."

Keine Frage, Produktversprechen plustern sich seit Jahren immer mehr auf. Gesichtscrèmes zum Beispiel: Sollten sie früher einfach nur pflegen, gehören heute weniger Falten, mehr Ausstrahlung, kleinere Poren und ein ebenmäßiger Teint zur Mindestausstattung. Eine simple Creme, die auch gar nicht mehr sein will als das, gibt es eigentlich gar nicht mehr - außer der guten alten Nivea- oder Penaten-Creme.

Wenn es um die Schönheit geht, darf es heute nicht abgedreht genug sein. Es könnte ja doch etwas nützen. Experten vermuten, dass sich der Trend zum - nennen wir es "Speziellen" - fortsetzt. "Da der Hauptmarkt deutliche Stagnationstendenzen aufweist, während die Randbereiche wie Öko-Kosmetik weiter wachsen, ist es verständlich, dass sich nun auch Mainstream-Produkte zunehmend extremer positionieren", sagt Springer & Jacoby-Mitarbeiterin Dorothee Rein.

Dann haben wir also vielleicht bald Zahnbürsten, die bei Karies per Funk unseren Zahnarzt informieren, und für Frauen hoffentlich einen Lippenstift, der schleimig wird, wenn sich ein Mann mit Pheromonen-Haarmatte zu penetrant aufführt. Eine Erleichterung - aber nur in diesem einen ganz speziellen Fall.

Maske mit Vogeldreck, Sperma-Haarkur, vibrierende Mascara: Sonst noch was?

Ehe wir aus lauter Angst vor dem Altwerden unser Gesicht verlieren, cremen wir es lieber mit widerlichem Zeug ein oder lassen es uns einmal richtig schön zurechtzupfen - so wie die bezaubernde Lady im Film "Brazil". Foto: Cinetext

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Noch ein Narr aus Verzweiflung

Mit Goethes "Urfaust" verabschiedet sich Andreas Kriegenburg stilgemäß vom Thalia Theater Hamburg

Wenn Andreas Kriegenburg echte Sympathien für eine Bühnenfigur hegt, dann ist es der Narr aus Verzweiflung. Immer wieder hat er große Gestalten der Weltliteratur in Komödianten verwandelt, die - gescheitert an ihren übermäßigen Ansprüchen - den gebrochenen Souverän als Spaßvogel maskierten. Natürlich stieß er so auf Don Quixote, aber er nahm auch Figuren wie Macbeth, König Lear, Siegfried oder Gunther, um die Krankheit "Macht" mit der Milde einer verkehrten Welt zu behandeln. Held und Hampelmann vereint in einem schizophrenen Duett der Verlegenheit, das war die Hauptfigur von Kriegenburgs Kunstwelten der letzten Jahre.

Nun geht für Andreas Kriegenburg langsam eine Ära zu Ende. Er hat im Jahr 2000 die Intendanz Ulrich Khuons am Hamburger Thalia Theater mit Gorkis "Nachtasyl" eröffnet, war dort acht Spielzeiten lang Oberspielleiter und der produktivste Regisseur am Haus. Er hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass das Ensemble aus No-Names, mit dem Khuon in Hamburg angetreten war, sein enormes Potential entwickelte und trotz schmerzlicher Abgänge bis zuletzt seinen hohen Standard behielt. Aber der König der Regisseure war er hier trotzdem nie. Sein prägnantes Bildertheater, das sich für jede Inszenierung eine andere spektakuläre Ästhetik lieh, sein oft derber Einsatz von Klamauk und Klamotte sowie die große Naschsucht an szenischen Einfällen, mit denen er seinen Figuren gelegentlich die Konzentration raubte, versagten ihm in Hamburg lange den durchschlagenden Erfolg, den er mit seinen Inszenierungen an den Münchner Kammerspielen genoss.

Der Hamburger will es ernst

Zu dekorativ und selbstverliebt für ein nordisches Publikum fand Kriegenburg mit den Hamburgern eigentlich erst zusammen, als er in den letzten zwei Jahren den Ernst vor das Spiel schob. In Dea Lohers "Das letzte Feuer", Sartres "Schmutzige Hände" oder Tschechows "Onkel Wanja" fand Kriegenburgs Groteske Anschluss an die Realität und verschönerte sie wohldosiert zu dichter Bühnenkunst. Um sich als nachdenklicher Spaßmacher von Hamburg zu verabschieden, hat Kriegenburg in seiner letzten Inszenierung im großen Haus des Thalia, bevor er mit Khuon ans Deutsche Theater nach Berlin wechselt, nun eine Art künstlerisches Resümee zu seinen wechselvollen Jahren an dem Haus gezogen.

Schon die Auswahl des Stückes, Goethes "Urfaust", korresponiert mit Kriegenburgs Vorlieben, fragmentarisch statt fließend zu erzählen. Goethes erste Version von "Faust", die zwar wesentliche Szenen des späteren Dramas enthält, diese aber mehr assoziativ als zwingend verknüpft und viele Fragen über den Handlungsverlauf und die Beziehung von Mephisto und Faust unbeantwortet lässt, ist für einen Regisseur, der die Abwesenheit von zu viel Logik schätzt, ein schönes Materiallager. Um die beiden Komponenten, die seine Perspektive auf das Theater ausmachen - die Satire und die kritische Melancholie -, klar zu akzentuieren, teilt Kriegenburg das Stück in zwei völlig unterschiedliche Hälften.

Die Verjüngung von Faust, die im "Urfaust" gar nicht vorkommt, wird in Kriegenburgs Inszenierung geradezu zur Wasserscheide für zwei gegensätzliche Lebensbetrachtungen. Ein fensterloser, matt beleuchteter Bibliotheksbunker als mächtiges Bild einer Verhirnung, die den Intellektuellen in seiner Bücherwelt einkerkert, hat Kriegenburg für den ersten Teil entworfen. Darin lamentiert Faust als alter, depressiver Gelehrter dem verpassten Leben und der Jugend nach. Katharina Matz spielt diesen greisen Faust im "Mauerloch" voll "Wissensqualm" als zänkische und frustrierte Alte, die nur zu einer Parodie auf jugendlichen Schalk imstande ist: Wenn sie wie Bob Dylan einst im Video zu "Subterranean Homesick Blues" den Monolog des weisen Tors, der so klug ist wie zuvor, aus einem Stapel Pappschilder auf den Boden fallen lässt, dann wird aus Kriegenburgs Narr aus Verzweiflung die traurige Witzfigur einer gescheiterten Existenz.

Faust - ein notgeiler Tropf

Wie Friedhofserde liegt brauner Torf auf dem Boden dieser Wissenskapsel, deren Tür Faust nur ängstlich einen Spalt weit zu öffnen wagt, um sich schnell wieder vor der Außenwelt in seine Geistes- und Geisterwelt zurückzuziehen. Seine Lebensangst fesselt ihn in den Panzer aus Bücherwissen, seine Trutzburg gegen die Natur und ihre Leidenschaften wird auch zu seinem Grab. Der Faust, der dann Jagd auf Gretchen macht, ist ein anderer. Mephisto kriecht als gollumartige, weißhäutige Gestalt aus der Ecke, kostümiert sich in einen Gelehrten um, tötet den alten Faust und erweckt aus einer roten Fruchtblase einen jungen - der dann im Schlussbild der ersten Hälfte seine erloschene Zukunft wie in der Pietà Michelangelos auf dem Schoß hält.

Natali Seelig, über viele Jahre Kriegenburgs weibliche Protagonistin am Thalia, baut diesen Mephisto ganz auf dem Sockel der unheimlichen Gestalt auf. Mit weißer Schminke ihrer Mimik beraubt, leitet sie Faust im zweiten Teil mit süffisantem Zynismus zu seinen verderblichen Zielen. Ihre kaum verhohlene Boshaftigkeit, die sie mit kaugummiartiger Verwandlungskunst jeder Situation anpasst, kann nur der naiven Beseeltheit entgehen, mit der der junge Faust in Gretchen das Objekt seiner Lust sieht. Hilflos den bisher unbekannten Wallungen ausgeliefert spielt Hans Löw diesen Heinrich Faust als notgeilen Tropf, dessen Lebensblindheit mit seinem Vorläufer-Modell nur das Maß, aber nicht den Inhalt teilt. War der alte Faust untauglich zur Mitmenschlichkeit durch Vergeistigung, so ist es der junge durch sinnliche Versessenheit.

Lisa Hagmeister, die sich mit wenigen Rollen ins Zentrum des Ensembles gespielt hat, kurz bevor es sich auflöst, nutzt Kriegenburgs Neigung zu kaleidoskopartigen Bühnenfiguren, um die große Breite ihres Talents vorzuführen. Als lästernde Hip-Hop-Hure und naives Mädchen, Schmerzensmadonna und Besessene, Lustgeschöpf und Menschenkennerin schält sie sich Ausdrucksrollen ab wie ein Zwiebel, um am Ende, in Tränen aufgelöst, zu verenden, während Faust sich ein Stück von Radiohead anhört - mit dessen Refrain "I'm a creep, I'm a weirdo / What the hell am I doing here? / I don't belong here" das Licht verlöscht.

Als Resümee seiner Arbeit betrachtet, beinhaltet diese Inszenierung tatsächlich das meiste, wofür Kriegenburg in Hamburg geschätzt, aber auch kritisiert wurde. Der zuneigungsvolle Blick auf Menschen, die große Vorstellungskraft, die Theater immer als Kunst begriffen hat, die sich nicht zu sehr disziplinieren darf, und das Gespür für Atmosphären prägen diesen "Urfaust" ebenso wie das gelegentliche Verzetteln in Regieeinfälle, der Hang zu infantilen Scherzen und die Neigung, die Form wichtiger zu nehmen als die Charaktere - eine Art "Urkriegenburg" also, der dem Narren aus Verzweiflung noch einmal ein würdiges Denkmal setzt. TILL BRIEGLEB

Katharina Matz spielt bei Kriegenburg den alten Faust, der sich nach Jugend sehnt. Foto: Cornelia Schrader

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Am Anfang war der Skandal

In Kopenhagen wurde nach jahrelangen Querelen das großzügige neue Konzerthaus eingeweiht, für das der Franzose Jean Nouvel die Pläne geliefert hat

Die Initiatoren der Hamburger Elbphilharmonie und anderer spektakulärer Bauprojekte im Zeichen der schönen Künste können sich schon einmal warm anziehen. Und von ihren Nachbarn im Norden lernen, wie man ein Drama durchsteht, das bei solchen Unternehmungen offenbar unausweichlich ist - die Preisdifferenz zwischen Planung und Wirklichkeit. Das neue, mit zweijähriger Verspätung eröffnete "Koncerthus" des Dänischen Rundfunks, entworfen von dem französischen Stararchitekten Jean Nouvel und errichtet in Kopenhagens wuchernder Wachstumszone Ørestaden auf der Insel Amager, wurde 1999 mit 600 Millionen Kronen veranschlagt und verschlang am Ende 1,7 Milliarden (rund 230 Millionen Euro). Bautechnische Unwägbarkeiten, Teuerung bei den Materialien, aber auch krasse Fehlkalkulationen des Pariser Büros hatten zur Verdreifachung der avisierten Summe geführt. Dank einer erstaunlichen Verschleierungstaktik - so viel zum Thema "Dänen lügen nicht" - blieb der Chefetage von Danmarks Radio (DR) das Ausmaß der Budgetüberschreitungen lange verborgen, noch länger indes den Politikern, die im letzten Winter erbost den Geldhahn zudrehten. Kopenhagen hatte endlich einmal einen Skandal, und der Sender musste die Fertigstellung allein finanzieren, was den damaligen DR-Generaldirektor den Kopf und leider auch 150 Mitarbeiter ihre Jobs kostete.

Am Wochenende jedoch, als vor dem leuchtend blauen Kubus zwischen Betonwüste und Brachland der rote Teppich ausgerollt war und "tout Danemark" sich im futuristisch kargen, noch leicht baustellenhaft anmutenden Foyer um die Champagner-Tabletts drängelte, schien das alles vergessen. Und erst recht bei der Einweihungsgala im großen, 1800 Zuhörer fassenden Saal, die als Abfolge musikalischer Amuse-gueules im Zeichen dänisch-französischer Freund-schaft zelebriert wurde: Prinzgemahl Henrik stammt nämlich aus derselben Gegend Frankreichs wie Jean Nouvel, nimmt regen Anteil an dessen Arbeit und hat höchstselbst Sponsorengelder für das Koncerthus eingeworben. Im Vorprogramm konnte das Publikum, bestehend aus geladenen Gästen und Preisausschreiben-Gewinnern, sich in den drei kleineren "Studios" davon überzeugen, dass der teure Tempel nicht nur der klassischen Musik, sondern auch populäreren Sparten wie Rock, Pop und Jazz geweiht ist.

Kritiker des Projekts hatten von Anfang an gewarnt, ein so groß dimensioniertes Haus außerhalb des Stadtzentrums werde sich mit Kopenhagens überschaubarer Zahl von Klassik-Hörern nicht füllen lassen. Tatsächlich bestehen in der dänischen Hauptstadt nun Überkapazitäten, die jeden Kulturpessimisten ängstigen müssen. Erst vor drei Jahren wurde das neue Opernhaus eröffnet, dessen Auslastung nach vielversprechendem Beginn zu wünschen übrig lässt. Der alte Konzertsaal des Dänischen Rundfunks, 1945 fertiggestellt und mit 1200 Plätzen nicht eben klein, wird als Konservatoriumssaal weiter genutzt. Das neue Haus verdankt sich nicht der Notwen-digkeit oder der Nachfrage; es ist viel-mehr als Prestigeobjekt konzipiert, das dem Kopenhagener Musikleben ein globales Profil verleihen soll, vor allem aber als architektonisches Highlight der "DR-Stadt", in der Danmarks Radio seine bis-her über die Stadt verstreuten Medienaktivitäten konzentrieren will.

Jean Nouvel, Schöpfer des unter Musikfreunden hoch geschätzten Kultur- und Kongresszentrums Luzern und überzeugter Verfechter des "kontextuellen Bauens", hat bekannt, dass er sich diesmal vom Standort beinahe hätte abschrecken lassen. Als man bei ihm anfragte, habe er an die schöne, vieltürmige Kopenhagener Innenstadt gedacht, gegen die sich das Gelände auf Amager allerdings - auch jetzt noch - wie eine menschenfeindliche Ödnis ausnimmt. Ohne die Entwürfe für die angrenzenden Produktions- und Verwaltungsbauten des DR-Komplexes zu kennen, entschied er sich schließlich dafür, den Konzertsaal als "meteoritenhaften" Fremdkörper in das gesichtslose Umfeld zu stellen und damit der Metropole ein neues Wahrzeichen zu schenken.

Gern spricht Nouvel von der "mystisch-magischen" Anmutung seiner Kreation: Erzielt wird der Effekt durch die blaue Glasfiberplane, die das würfelförmige Außengerüst umhüllt und die an drei Treppentürmen aufgehängte, auf sechs schlanken Säulen ruhende Betonkonstruktion des Saals durchschimmern lässt. Bei Dunkelheit kann, was sich im Inneren ereignet, als gigantische Lichtprojektion auf dem Blau abgebildet werden. Ein Wassergraben, der wahlweise auf einem windumtosten Steg oder durch einen verglasten Brückengang mit Flughafen-Ambiente überquert wird, trennt das Konzerthaus vom Haupttrakt des Rundfunkquartiers. Die einzige Verbindung zum "urbanen Kontext" aber ist die gegenüberliegende Metrostation, von der man nun hofft, dass sie regelmäßig viele Besucher ausspucken möge.

Sie werden spätestens im großen Saal für die Mühen der Anfahrt entschädigt. Hier hat Nouvel gezaubert, um einen Ort der Geborgenheit und Inspiration zu schaffen, und er hat dabei ehrerbietig aus der Historie zitiert. Vorbild war die Mutter aller modernen Amphitheater-Säle, Hans Scharouns Berliner Philharmonie, mit den asymmetrischen Terrassen, bei deren französischer Variante sich die Assoziation des Weinbergs geradezu aufdrängt. Jugendstil und Expressionismus grüßen aus den wellenförmigen Wölbungen und Schichtungen, die am Übergang zwischen Wänden und Plafond den Raum zur Höhle mutieren lassen, quasi-organisch, sinnlich und warm. Das Interieur ist auch eine Huldigung an den alten DR-Konzertsaal und dessen Schöpfer Vilhelm Lauritzen, ein Spiel mit atmosphärischen Reminiszenzen: So sollen die verschiedenen Rot- und Orangetöne der behaglichen Bestuhlung an die Ledersitze im alten Haus erinnern, die im Laufe der Jahrzehnte unterschiedliche Farbnuancen annahmen. Die gediegenen Materialien von damals, Marmor und edle Holzsorten, müssen sich hier freilich weitgehend durch Gips mit Sperrholzverkleidung und Beton mit Elefantenhaut-Effekt vertreten lassen, was Nouvel mit dem hintersinnigen Satz kommentiert: "Jedes Zeitalter hat seinen Charakter."Die angeblich größte Orgel Europas, erbaut von der niederländischen Werkstatt Van den Heuvel, wächst über dem Orchesterpodium empor wie eine gigantische silberne Bambushecke. Dazu passt, dass die japanische Akustikfirma Nagata für die Schall- und Klangverhältnisse zuständig war. "Kompromisslos", jubeln die Auftraggeber, und auch die Musiker äußerten sich überaus positiv. Professionelle Hörer mussten nach dem Eröffnungskonzert die Euphorie ein wenig relativieren: Im Parkett war die Klangmischung nicht optimal, und auf den oberen Terrassen schien nicht alles anzukommen. Aber der gewaltige Akustikschirm, der über der Bühne hängt und das technische Equipment verbirgt, bietet vermutlich noch Regulierungschancen.

Wie dem auch sei, am Gala-Abend zeigten sich alle beglückt und begeistert. Das Symphonieorchester des Dänischen Rundfunks unter Thomas Dausgaard, sämtliche Chöre des Hauses, die barfüßige Sopranistin Maesha Brueggergosman und der elegant für Bo Skovhus eingesprungene Bariton Morten Franz Larsen, gestandene Virtuosen wie der Organist Flemming Dreisig und der Trompeter Håkan Hardenberger, Jungtalente wie der Cellist Andreas Brantelid und der Klarinettist Martin Fröst gestalteten ein Kompottpourri aus französischen Ohrwür-mern und dänischen Raritäten, eingerahmt von Andy Papes Auftragswerk "L'anima della musica" und - tatsächlich - Ravels "Bolero". Das Rührendste aber war der "Fællessang", das gemeinsame Lied: Hans Christian Andersens Hymne an Dänemark, vertont von Poul Schierbeck, bei der das Publikum, zuvor eingestimmt durch ein kabarettistisches Vokaltraining, ebenso andächtig mitwirkte wie die versammelte Königsfamilie auf ihrem Logenbalkon. So schön versöhnen können sich nur die Dänen. Deshalb ist, trotz allem, bei vergleichbaren deutschen Projekten Vorsicht geboten.

KRISTINA MAIDT-ZINKE

Im großen Saal des neuen Konzerthauses in Kopenhagen sind die Sitzreihen in ansteigenden Rängen rund um das Orchesterpodium herum angeordnet. Außer diesem Saal können noch drei kleinere Säle und das Foyer des Konzerthauses für musikalische Veranstaltungen herangezogen werden. Foto: AP

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NACHRICHTEN

Nach 16 Jahren Amtszeit feiert die Schweriner Museumsdirektorin Kornelia von Berswordt-Wallrabes ihren Abschied. Ihr zu Ehren wird am Donnerstag ein Duchamp-Symposium gehalten. Die Museumschefin hatte vor 12 Jahren eine große Werksammlung des französischen Konzeptkünstlers Marcel Duchamp für das Staatliche Museum Schwerin erworben. Außerdem erweiterte sie die Sammlung mit Arbeiten von John Cage, Pablo Picasso und Lyonel Feininger.

Der Bonner Sinologe und Übersetzer Wolfgang Kubin erfährt auch in China hohe Wertschätzung. Die Chinesische Literaturzeitschrift (Zhonghua dushu bao) wählte die chinesische Übersetzung von Kubins "Geschichte der chinesischen Literatur im 20. Jahrhundert" unter die zehn besten Sachbücher des Jahres 2008. Eine Jury würdigte den eigenständigen Blick von außen, mit dem Kubin die einheimische Literaturwissenschaft bereichere.

Der Schriftsteller und Verleger Georg Lentz ist am Freitag im Alter von 80 Jahren gestorben. Lentz, am 21. Juni 1928 in Blankenhagen geboren und in Berlin aufgewachsen, veröffentlichte mehr als zwei Dutzend Bücher. Seine erfolgreichsten Werke waren die Berlin-Romane "Muckefuck", "Molle mit Korn", "Weiße mit Schuss", die auch als zehnteilige Fernsehserie verfilmt wurden.

Trotz des Protests von Anhängern des Künstlers wird bei der Sanierung des "Block Beuys" im Hessischen Landesmuseum Darmstadt die marode Jute-Wandbespannung entfernt. Die sieben Räume erhalten einen weißen Anstrich, wie das Museum am Montag in Darmstadt mitteilte. Die Kunstwerke, die Josef Beuys in den Räumen als Gesamtkunstwerk installierte, werden für die Dauer der Sanierung in andere Räume ausgelagert.

Die Musikmesse Popkomm zieht von den Berliner Messehallen in die Innenstadt. Mit dem ehemaligen Dresdner Bahnhof am Gleisdreieck sei auf 9000 Quadratmetern ein neuer Veranstaltungsort gefunden worden, teilten die Veranstalter am Montag mit. SZ

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Zwischenzeit

Mit Rotwein und Zigarette

Zwischen Ohrenkitzel und Ohrenbetäubung gibt es nur graduelle Unterschiede - die Wiener Philharmoniker haben hoffentlich den markerschütternden Radetzky-Marsch ihres Neujahrskonzerts unterhalb des europäischen Grenzwertes von 85 Dezibel gespielt. Musizieren, Musikgenuss und Hörschädigung, der Zusammenhang bleibt für Mediziner, nach neuesten Studien, statistisch unklar. Noch rätselhafter ist für Psychologen und Soziologen nach wie vor die Klangkette Musik hören, Musik verstehen, Musik erleben.

Da fragt sich, was eigentlich aus jenen Hörmustern geworden ist, den berühmten "Typen musikalischen Verhaltens", die Theodor W. Adorno vor fast fünf Jahrzehnten in seiner "Musiksoziologie" entworfen hat. An oberster Stelle lauscht kompetent der "Experte", der die Musik in ihrer ganzen Struktur erfasst; es folgt der "gute Zuhörer", der nur wenig über sie wissen mag und dennoch die musikalische Sprache versteht. Der "Bildungskonsument" weiß alles über die Musik als Kulturgut, und der "emotionale" Hörer filtert freudig die Gefühlswerte "echter" Musik heraus. Von ihm unterscheidet sich der eher etwas reaktionäre "Ressentiment-Hörer" durch sektiererisch strenges Verhalten, so etwa der historischen Werktreue gegenüber, während für den "Unterhaltungshörer" Musik weniger als Sinnzusammenhang denn als bloße Reizquelle fungiert. Im Jazz-Experten und Jazz-Fan, den er nicht ausstehen konnte, sah Adorno ideologiebefangen leider nur Defizite.

Dem Musikphilosophen ging es um Angemessenheit oder Unangemessenheit des Hörens einer Haydn-Symphonie, einer Beethoven-Sonate oder eines Quartetts von Schönberg, die er als "ein in sich objektiv Strukturiertes und Sinnvolles" verstand. Adorno fragte nach dem Hören und Begreifen von Zusammenhängen innerhalb der musikalischen Sprache, nach der Wert- und Rangordnung zwischen Beurteilen und Genießen der Musik. Die Unterscheidung zwischen motorischem, sensitivem, rein ästhetischem oder beseelendem Hören spielte für ihn keine Rolle. Auch nicht das "Anschauen" der Musik. Aber vielleicht hat sich ja Adornos Hörtypologie durch die inzwischen verbreitete Dominanz von Marketing, Werbung und neuen Medien erledigt oder wenigstens verschoben.

Vielleicht wachsen dem Teilhaber eines ganz neuen Konzertrituals ungeahnt neue Organe der Wahrnehmung. In der Digital Concert Hall des Internets haben die Berliner Philharmoniker gerade ihre erste Saison elektronischer Live-Übertragungen gestartet. Glaubt man der Website des Orchesters, " . . . können Sie die Berliner Philharmoniker weltweit live erleben". In Echtzeit mit dabei sein, wenn der Klangkörper unter Sir Simon Rattle oder den Pultkollegen Brahms, Bruckner und Mahler musiziert, das ist bestimmt die Quadratur des Kreises: das Kollektiverlebnis, live, aber radikal individualisiert. Im Reich persönlicher Freiheit. Und kein Konservenerlebnis? Keine Beliebigkeit, keine Zerstreutheit musikalischen Verhaltens, des Hörens?

Entscheidend ist die Kunststrenge des Hörers, der die Symphonie in der Partitur mitlesen kann, aber während der Aufführung in der Digital Concert Hall weder auf das Glas Rotwein noch auf die Zigarette oder den Zwischenruf verzichten muss. Er ist nur ein virtueller Besucher der Philharmonie, ob Experte oder Bildungskonsument oder guter Zuhörer.

Der "emotionale" Hörer indes wird es dabei schwer haben, denn seinem Konzerterlebnis fehlt die wirkliche Anwesenheit - und dem Ritual kollektiven Musikhörens im realen Konzertsaal, mit dem Glanz einer sich hundertfach brechenden klanglichen Raumfülle, fehlt die dreidimensionale Sphäre. Irgendwann muss er halt doch mal nach Berlin fahren und alles überprüfen . . . Adornos Typen haben einen neuen Kollegen bekommen: den distanziert beobachtenden Zuhörer. WOLFGANG SCHREIBER

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Herzrasen

3sat widmet sich in der Filmreihe "Amour fou" dem Risiko Liebe

Schon seit ein paar Jahren erhitzt 3sat im eisigen Januar die Gemüter mit einer lockeren Folge von Filmen zum Thema Amour fou, jener ungestümen, bisweilen destruktiven Anziehung zwischen Mann und Frau. Dazu kann es überall kommen. Egal, ob sie bei der Besichtigung einer Großstadtwohnung übereinander herfallen, in Der letzte Tango in Paris von Bernardo Bertolucci, ob sie in der Wildnis einer neuseeländischen Insel aufeinandergeworfen werden, in Jane Campions Piano, oder unter Paul Schraders Katzenmenschen in New Orleans erotisches Erwachen und sexuelle Obsession ineinander übergehen.

Immer geht es um animalische Instinkte, denen mit Vernunft nicht beizukommen ist. Das bekommt auch der junge Ryno de Marigny zu spüren, der sich in Die letzte Mätresse nach zehn Jahren von seiner Geliebten Vellini lösen möchte, um ein unschuldiges Mädchen zu ehelichen. Asia Argento, die durch die Bluttaufe ihres berühmten Vaters, des Horror-Regisseurs Dario Argento, gegangen ist, spielt die feurige Malagena Vellini, und schon bei ihrer ersten Begegnung mit Ryno fließt Blut, als sie sich an einem impulsiv zerdrückten Glas verletzt. Später offenbart sie ihre Hingabe, indem sie lüstern das Blut um seine Herzwunde schleckt, die er sich im Duell um sie zugezogen hat, und spätestens jetzt ahnt man: Eine Liebe, die mit einer solchen Initiation beginnt, lässt sich nicht einfach beenden.

Cathérine Breillat ist die französische Großmeisterin der sexuellen Selbsterforschung von Frauen. Seit Mitte der siebziger Jahre lotet sie in Filmen wie Romance oder Meine Schwester die Verstrickungen von Liebe und Sex aus. In Die letzte Mätresse, in deutscher Erstausstrahlung gezeigt, lässt sie zum ersten Mal die sachliche Gegenwart zugunsten einer opulent historischen Kostümorgie hinter sich.

Doch während klassische Kostümfilme ihren Helden unter bauschigen Rüschen meist nur angedeutete Liebesakte gestatten, wirft Breillat in ihrer zeitlosen Geschichte von Begehren und Verführung einen unverhüllten Blick auf alabasterweiße Haut und verschlungene Körper. Dabei hat sie in Jules Amédée Barbey d'Aurevilly, dem Autor der 1851 entstandenen Romanvorlage, einen Seelenverwandten gefunden, der damals ähnlich provokant wirkte wie sie heute.

Dass es in der Natur der "Amour fou", der rasenden, riskanten Liebe liegt, dass sie von Außenstehenden als Skandal empfunden wird, lässt sich noch bis zum 29. Januar in den späten Nächten auf 3sat erkunden. ANKE STERNEBORG

Die letzte Mätresse, 3sat, 22.55 Uhr. - Weitere Filme der Reihe: Lust auf Sex, 21.1., 22.25 Uhr. Katzenmenschen, 22.1., 22.25 Uhr. Die Träumer, 23.1., 22.25 Uhr. Der letzte Tango in Paris, 25.1., 23.30 Uhr. Das Piano, 29. Januar, 22.25 Uhr.

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Wendekreis der Komik

Eine Flucht, keine Katharsis: Hape Kerkelings "Ein Mann, ein Fjord" im ZDF

Als Hape Kerkeling vor etwa zwei Jahren Ein Mann, ein Fjord als Hörbuch herausbrachte, fühlte eine Rezensentin sich einerseits wegen der "Hoppla-hopp-Stimmungsschwankungen" und andererseits wegen der "Seinsfrage" sowohl an die Operette als auch an die griechische Tragödie erinnert. Das sind mächtige, durchaus auch beängstigende Vorgaben, und wir haben uns in Vorbereitung auf den Film Ein Mann, ein Fjord, der an diesem Mittwoch im ZDF gezeigt wird, in beiden Genres umgetan. Doch keine Bange. Weder Lehárs Lustige Witwe, deren zäheste Ohrwürmer wir aufriefen, noch Sophokles' Antigone mit ihrer doch recht schwierigen Seinsfrage halten im entferntesten den Vergleich mit Ein Mann, ein Fjord aus, geschweige denn, dass sie dem Film im Wege stünden.

Anders gesagt: Es empfiehlt sich, ja es ist in hohem Maße ratsam, sich Kerkelings neuem Film so hinzugeben, als hätten Lehár & Sophokles nie eine Note respektive Zeile geschrieben. Wer sich vor Beginn durch Gattungsbezeichnungen wie Road-Movie oder Komödie dazu verleiten lässt, lotrecht im Stuhl zu sitzen und auf eine rasante Story zu warten, verhält sich ebenso unsinnig wie einer, der am Ende des Films fragt, was der Dichter - in diesem Fall das Dreigestirn Hape Kerkeling, Angelo Colagrossi (auch Regie) und Angelina Maccarone - uns haben sagen wollen. Nichts haben sie uns sagen wollen, außer vielleicht dies: dass auch Klamotten etwas Schönes sind, vorausgesetzt sie funktionieren nach den ewigen Gesetzen der Klamotte und hören zu rattern auf, ehe der Zuschauer sie über hat. Diese Klamotte schnurrt ziemlich gut vor sich hin, so gut, dass sie den Punkt, an dem sie um ihrer selbst und um der Zuschauer willen besser zu schnurren aufhören sollte, beinahe verpasst.

Sprichwörter, die mit "Ein Mann" anlaufen, sind in aller Regel das, was man in gehobener Sprache "dräuend" nennt: "Ein Mann soll allweg mehr wöllen, als er thun kann" und so was. "Ein Mann, ein Wort" kommt aus der Sphäre der Ordalien, also der Gottesurteile, wo sich ein Mann mit seinem Zeugnis für die strittige Wahrheit verbürgte. Entsprechend geharnischt klingt der Spruch, und wenn er durch Zusätze wie "Eine Frau, ein Wörterbuch" verballhornt wird, gibt das ein Gefälle, das lustig zu finden nicht verboten ist. Insofern ist Ein Mann, ein Fjord ein ganz witziger Titel, erstens wegen des Wortspiels und zweitens, weil nordische Anklänge spätestens seit der Ikea-Werbung als genuin heiter gelten.

Es ist üblich, bei Vorbesprechungen nur einen Teil der Story zu referieren und dann mit einem neckischen "Mehr sei aber nicht verraten" zu allgemeinen Erörterungen abzudrehen. Von dieser Sitte kann man hier getrost Abstand nehmen, weil die Geschichte keinerlei Schaden nimmt, wenn man sie bis zu ihrem absehbaren Ende erzählt. Es geht um Norbert, Birgit und Ute Krabbe, eine Prekariatsfamilie, wie sie im Buche steht. Vater Norbert (Jürgen Tarrach) verbringt seine Tage damit, dass er entweder in der Badewanne abtaucht oder an Gewinnspielen teilnimmt. Eines Tages, nachdem er schon alle Scheußlichkeiten der Welt gewonnen hat, passiert das, was man in der Novelle eine "unerhörte Begebenheit" nennt: Er gewinnt einen Fjord in Norwegen, den er, der an einer Reisephobie leidet, allerdings selbst abholen, richtig gesagt: in Besitz nehmen muss.

Nun beginnt eine große, chaotische Nordlandfahrt: alle mit allen und jeder gegen jeden. Norbert reist mit seiner resoluten Tochter Ute (Olga von Luckwald), die ihrerseits Gefallen an dem charmant gaunerischen Lars (Mads Hjulmand) findet. Gattin Birgit (Anneke Kim Sarnau) nimmt, gestützt durch die Aussicht auf einen großen Geldgewinn, Urlaub vom Dauerfreund Alkohol (Alkohol), heuert den Taxler Kemal (Hilmi Sözer) an und brettert ihren Lieben hinterher.

Um diese vier Hauptreisenden wimmelt ein Haufen von Nebenreisenden, die deren Wege mal kreuzen, mal queren, mal fördern, mal hemmen. Es kommt zu Koalitionen der seltsamsten Art, wobei natürlich der gute alte Horst Schlämmer (Hape Kerkeling) weder im Guten noch im Schlechten fehlen darf. Vergeblich versucht die Rezeptionistin auf der Fähre (Wencke Myhre), Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Und dann gibt es da noch das Ehepaar Schwarz-Ebershagen (Johanna Gastdorf, Matthias Brandt), deren männlicher Teil die endlose Straße der Konfusionen fast traumwandlerisch durchschreitet. Einmal landet er nackt, nur mit einem Schurz bekleidet, auf einem Elch, und wie er da so auf dem Riesentier sitzt und ins Ungefähre blickt, wirkt er wie der letzte, vielleicht auch erste der ganz, ganz großen Weisen.

Die Sache endet, wie sie enden muss, wenn auch vielleicht aber nicht unbedingt enden sollte: Norbert Krabbe erreicht den Norbert-Krabbe-Fjord und wird dort mit den Seinen offenkundig glücklich. Dieses Ende kommt so schnell und platt, wie man es nach all den Wuseleien eigentlich nicht mehr erwartet hätte. Man hatte die Hoffnung, dass die Bagage irgendwann wieder in Wanne-

Eickel anlandet und dass sich, wie das ja auch in der Operette und der griechischen Tragödie unterläuft, irgendetwas Kathartisches ereignet, eine Wendung zum Besseren oder in drei Teufels Namen zum Schlechteren, was auch immer. So aber geht's nur weiter, wie's angefangen hat, und dafür war das Feuerwerk an Gags und Jokes denn doch sehr aufwendig.

Apropos Gag: Monatelang unterhielt uns der Spiegel mit einer Bestsellerliste, auf der unmittelbar hinter Kerkelings "Ich bin dann mal weg" Joachim Fests "Ich nicht" stand. Am Schluss dieses seines Pilgerbuchs schreibt Kerkeling, dass Gott die Menschen in die Luft werfe, um sie dann wieder aufzufangen. Wenn er, Kerkeling, wieder mal einen Film macht, soll er ruhig all seine vielen Einfälle in die Luft werfen. Auffangen sollte er aber nur die guten: Die reichen locker.

HERMANN UNTERSTÖGER

Ein Mann, ein Fjord, ZDF, an diesem Mittwoch, 20.15 Uhr.

Auf der endlosen Straße der Konfusionen

Der Journalist Horst Schlämmer stellte schon bei Wer wird Millionär? die Fragen und warb im Internet für Volkswagen. Bei Ein Mann, ein Fjord ist Hape Kerkelings bekannteste Figur nur noch eines von vielen Nordlichtern. Foto: ZDF

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Slim will NYT helfen

Die New York Times (NYT) verhandelt nach eigenen Angaben mit dem mexikanischen Milliardär Carlos Slim über eine Investition von 250 Millionen Dollar (189 Millionen Euro). Damit solle dem Verlag geholfen werden, Schulden zu begleichen. Der Deal stehe kurz vor dem Abschluss, berichtete die NYT am Montag. Slim werde wahrscheinlich stimmrechtlose Vorzugsaktien kaufen, um den Einfluss der Familie Sulzberger zu sichern, die das Blatt seit mehr als einem Jahrhundert leitet. Die Verlagsführung könnte der Transaktion schon am Montag zustimmen, eine Erklärung werde dann frühestens an diesem Dienstag erwartet. Der Times-Verlag soll rund 1,1 Milliarden Dollar Schulden haben. Ein Kredit von 400 Millionen Dollar läuft im Mai aus. Slim, einer der reichsten Männern der Welt, hatte vergangenes Jahr bereits 6,4 Prozent der NYT erworben. AFP/AP

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RTL will zu Channel 4

Der Vorstandsvorsitzende der RTL Group, Gerhard Zeiler, hat für eine Fusion seines britischen TV-Senders Five mit dem staatseigenen Sender Channel 4 geworben. In einem Beitrag für die Financial Times schrieb Zeiler am Montag, Five und Channel 4 verbänden gemeinsame Eigenschaften. Das Zusammengehen der Sender - mit der britischen Regierung als Mehrheitseigner - könne eine Antwort auf Herausforderungen sein, vor denen das frei empfangbare Fernsehen im digitalen Zeitalter stehe. Channel 4 ist ein Fernseh-Sonderfall; er gehört komplett dem Staat, ist aber voll werbefinanziert. Die zum Bertelsmann-Konzern gehörende RTL Group, die in Deutschland die gleichnamige Senderfamilie betreibt, ist mit Beteiligungen an 42 TV-Sendern der größte Fernsehanbieter Europas. dpa

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Verantwortlich: Christopher Keil

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Das Schokoladenlamm

Süß: Nur Koch kann regieren, wie regiert werden muss

Und mit einem Mal war die Erleuchtung da an diesem Wahlsonntagabend in Hessen, über den ARD und ZDF in gewohntem Gleichklang berichteten. Bei Marcel Proust war es das Eintauchen eines blätterteigigen Gebäcks in den Tee, und mit dem Geschmack tauchte die Erinnerung an die Kindheit wieder auf, der Schmerz, die Süße, die Wehmut und die Großmutter, ach, mit ihrer überschwänglichen Liebe.

Mein Proust-Moment kam, als mein Blick im Supermarkt auf den Stapel mit der Kinderschokolade fiel: dieser immer kernseifengeputzte, immer clearasilgereinigte Kerl, der einem die süßeste Schokolade der Welt anbietet - das ist doch: Roland Koch!

Musterknabiger als Koch ist keiner: Bundeswehr, Durchschnittsfamilie, römisch-katholisch und betet deshalb wie alle Deutschen guten Willens zum Dalai Lama. Wenn er einmal erwischt wird, behauptet er, er sei's nicht gewesen und verspricht "brutalstmögliche Aufklärung". Wenn die Leute Angst um ihre Rente haben, macht er ihnen noch mehr Angst um die Rente. Wenn er merkt, dass die Leute sich noch immer nicht genug fürchten, schlägt er die Abschiebung krimineller Ausländer vor. Oder, noch überzeugender, er lernt aus seinen Fehlern, wird sanft wie ein Lamm, verspricht allen alles und zeigt dieses Kinderschokoladengesicht.

Vergangenes Jahr wäre es beinah aus gewesen. Vergangenes Jahr verwandelte sich ganz Hessen in ein ganz großes Überraschungs-Ei. Niemand wusste mehr, wie's weitergehen sollte, nur mit Koch sollte es nicht weitergehen. Das Y-Ei Andrea wollte dafür sorgen und ist an dieser Riesenaufgabe naturgemäß und katastrophal zerschellt. Nur Koch kann so regieren, wie regiert werden muss, nämlich nach Streberart unterm Tisch treten, aber oben frisch gewaschen die Oma anlächeln. Andrea Ypsilanti trat auch, aber sie hat nicht dieses süße Gesicht. Sie hatte nach der verlorenen Wahl am Sonntagabend ein Verlierergesicht, das ganz groß auf den Bildschirm gelegt wurde, und sie trat live zurück. Thorsten Schäfer-Gümbel akzeptierte die Niederlage, Franz Müntefering akzeptierte gleich noch mal.

Der Mann des Abends war natürlich das Kind mit der Schokolade. Sofort musste im Fernsehen streng analysiert werden: Warum hat er es nach einem Jahr Zwangspause wieder geschafft? Was zeichnet ihn aus? Was wird aus der Großen Koalition? Arbeiterführer Jürgen Rüttgers bemühte sich tapfer um ein Charakterbild seines Freundes, der nicht bloß ein "sehr fähiger, sondern auch ein sehr nachdenklicher" sei. Ein Hauptwort zu diesen schönen Eigenschaftswörtern wusste er aber auch nicht.

Es besteht: Aufklärungsbedarf

Dabei ist es doch ganz einfach: Streber wie Roland Koch braucht das Land. Nicht Leute mit doch sehr ausländischen Namen wie Tarek Al-Wazir oder Andrea Ypsilanti oder Thorsten Schäfer-Gümbel, sondern Männer wie Koch, die nach einem der schlechtesten Stimmenergebnisse verkünden können, das sei "eines der besten Ergebnisse, das man überhaupt erreichen kann" und schon um 18.34 Uhr, nach der ersten Prognose, den "Auftrag" annehmen. Nur eins noch: War nicht der Kinderschokoladen-Hersteller Ferrero einer der größten und dabei steuerschonendsten Spender der hessischen CDU? War die Wahl am Sonntag womöglich ein Teil der großen Kinderschokoladenverschwörung? Hier besteht Aufklärungsbedarf. Gut, dass wir Roland Koch wieder haben. WILLI WINKLER

Roland Koch, der eben wiedergewählte hessische Ministerpräsident, sei nicht nur ein "sehr fähiger, sondern auch ein sehr nachdenklicher", sagt sein Freund Jürgen Rüttgers (beide CDU). Nur was er ist, verrät er nicht. Foto: dpa

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Politische Baustellen

Beim öffentlich kontrollierten Flughafenbetreiber Fraport stehen wichtige Beschlüsse an

Von Harald Schwarz

Frankfurt - Seit Juni 2001 werden Aktien des Frankfurter Flughafenbetreibers Fraport an der Börse gehandelt. Doch dies änderte nichts am Ruf, ein politisches Unternehmen zu sein. Denn obwohl die Lufthansa und die Julius Bär Holding Aktienpakete in Höhe von je etwa zehn Prozent halten, unterliegt Fraport weiterhin der öffentlichen Kontrolle. Das Land Hessen besitzt 31,6 Prozent des Fraport-Kapitals; die Stadt Frankfurt kommt auf 20,2 Prozent.

Der politische Charakter des Konzerns zeigt sich auch in der Besetzung des Aufsichtsrats. An dessen Spitze steht der bisherige hessische Finanzminister Karlheinz Weimar. Mitglied in dem Gremium ist auch Jörg-Uwe Hahn; der FDP-Politiker ist unbestritten einer der Sieger der Landtagswahl in Hessen vom Sonntag. Die künftige Landesregierung wird ihren Einfluss auf die Geschicke bei Fraport keineswegs beschränken wollen, denn es stehen bei dem Konzern wichtige Entscheidungen an.

Normalerweise regeln Aktiengesellschaften die Nachfolge für ihren Vorstandschef so früh wie möglich. Bei Fraport endet die Amtszeit von Konzernchef Wilhelm Bender Ende August. Kurz vorher wird er 65 Jahre alt. Eine offizielle Entscheidung des Aufsichtsrats, wer ihn beerben soll, steht noch aus. Dies dürfte auch mit dem Zeitpunkt der Landtagswahl zu tun gehabt haben.

Nun, da sie vorbei ist, wird erwartet, dass im Februar die Nachfolge im Chefsessel geregelt wird. Ambitionen und auch gute Chancen auf den Job hat Stefan Schulte, bislang Vize-Chef des Unternehmens und in dieser Funktion für den Flughafenausbau zuständig. Er setzte sich allerdings zuletzt für höhere Managerbezüge bei Fraport ein - was nicht der politischen Großwetterlage entsprach, weil Politiker zuletzt für Mäßigung bei Managergehältern plädierten.

Höchste politische Bedeutung besitzt die geplante Erweiterung des Frankfurter Flughafens um ein Terminal im Süden des Airport-Areals und eine Landebahn im Nordwesten. Besonders diese Piste, für die der Kelsterbacher Wald auf einer Fläche von 270 Hektar - das entspricht etwa 200 Fußballfeldern - abgeholzt werden soll, ist im Rhein-Main-Gebiet heftig umstritten. Rechtlich ist der Weg zwar frei für die Rodung, doch Kommunen wie Rüsselsheim, Flörsheim, Mainz und der Kreis Groß-Gerau wollen, dass Fraport den Beginn des Ausbaus bis Juni aussetzt. Dann entscheidet der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel im Hauptsacheverfahren über die Erweiterung des Flughafens. Bisher möchte Fraport von einem Moratorium, wie es die Anrainergemeinden fordern, allerdings nichts wissen. Der Konzern will "spätestens Anfang Februar" mit der Rodung des Waldes beginnen, sagt ein Firmensprecher.

Eine weitere politische Baustelle von Fraport ist der Flughafen Hahn im Hunsrück, der mehrheitlich dem Frankfurter Konzern gehört und der weiterhin Verluste erwirtschaftet. Gesellschafter "am Hahn" sind auch die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz. Fraport wollte dort eine Terminalgebühr von drei Euro je Passagier einführen. Gegen diesen "Hahn-Taler" machte der Billigflieger Ryanair erfolgreich mobil, indem er mit dem Abzug von Flugzeugen drohte. Die rheinland-pfälzische Landesregierung knickte prompt ein und verhinderte die Einführung des "Hahn-Talers".

Fraport und das Land Hessen sind darüber verärgert. Beide haben ihre Beteiligungen am Flughafen Hahn zur Disposition gestellt. Einer Regierung unter Roland Koch (CDU) in Hessen dürfte es kaum einleuchten, warum sie die Infrastruktur des von Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) regierten Nachbarlandes fördern soll. Denn "der Hahn" liegt auf rheinland-pfälzischem Gebiet. Für den Fraport-Konzern und seinen designierten Vorstandschef macht es ebenfalls keinen Sinn, auf Dauer eine Verlustquelle mitzuschleppen. Allerdings: Der Flughafen Hahn hat auch einen großen Vorteil - im Hunsrück, 120 Kilometer von Frankfurt entfernt, gibt es kein Nachtflugverbot.

Die geplante Erweiterung des Frankfurter Flughafens - hier eine Luftaufnahme - ist heftig umstritten. Foto: ddp

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Bank der Mitte

WestLB, Deka-Bank und Helaba pokern um ein großes Landesinstitut

Von Helga Einecke

Frankfurt - Große Projekte können gar nicht oft genug in Angriff genommen werden. Deshalb liegt nach der Hessenwahl am Finanzplatz Frankfurt etwas in der Luft, was sich schon mehrfach in Luft aufgelöst hat. Eine richtig große Landesbank in der Mitte der Republik und mitten am Finanzplatz Frankfurt. Es geht um Helaba, WestLB und DekaBank. So ein Dreierbund wäre nach dem Geschmack des neuen und alten Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU).

Er hat die Sparkassen auf seiner Seite, allerdings nur die bundesweiten und nicht die hessischen. Der Sparkassen- und Giroverband legte Ende letzten Jahres einen Masterplan für die Landesbanken vor. Drei große Institute sollen übrig bleiben, eines im Süden, eines im Norden und eines in der Mitte. Im Süden sperren sich BayernLB und LBBW, im Norden wollen HSH Nordbank und NordLB auch nicht zu einander finden. Dann sollte es wenigstens in der Mitte klappen. Beim hessischen Sparkassenverband, der 85 Prozent der Helaba-Anteile hält, gibt man sich bedeckt. "Der Verband führt keine Gespräche" , hieß es in Frankfurt. Pokern also WestLB und Dekabank hinter dem Rücken der Helaba-Eigentümer um die Lösung der Mitte? Nicht ganz, denn grundsätzlich hatte ja auch der hessische Verband bei der bundesweiten Lösung zugestimmt. Schon in der Vergangenheit hatte es geheißen, die Helaba bleibe nur vorerst allein, auf Dauer sei das aber nicht vorstellbar.

Handlungsbedarf gab es zuletzt vor allem bei der WestLB. Die sollte auf Druck der EU-Kommission neue Eigentümer bekommen. Deshalb sondierte die Dekabank, ob sie sich mit Teilen der WestLB verzahnen könnte. Die Dekabank ist der zentrale Fondsdienstleister der Sparkassen. Sie bietet also Investmentfonds an, die Sparkassen an ihre Kunden weiterverkaufen, macht aber auch Geschäfte am Kapitalmarkt auf eigene Rechnung. Die Dekabank gehört jeweils zur Hälfte den Sparkassen und den Landesbanken. Einer Fusion zwischen Dekabank und zwei Landesbanken müssten also die übrigen Landesbanken zustimmen, was als schwierig gilt. Zum Beispiel scheiterte in der Vergangenheit ein Dreierbund aus Helaba, Landesbank Rheinland-Pfalz und Dekabank aus diesem Grund.

Die Kröte schlucken

Nun sind die Sparkassen in ihrem Masterplan aber auf eine neue Idee gekommen, nämlich die Dekabank aufzuspalten und ihr Kapitalmarktgeschäft anderen Landesbanken zuzuschlagen. Dagegen scheinen sich die Deka-Manager zu sträuben und lieber die Kröte einer Dreier-Fusion zu schlucken. Während Dekabank und Helaba in der Finanzkrise noch ganz gut über die Runden gekommen sind, sieht es bei der WestLB eher düster aus.

Die WestLB will nochmals Wertpapiere im zweistelligen Milliardenbereich auslagern. Sie hatte bereits 23 Milliarden Euro an faulen Wertpapieren dank einer Landesgarantie abgespalten. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) nahm damals schon Kontakt zu Roland Koch auf. Wie wäre es mit einer gemeinsamen Landesbank? Daraus wurde nichts. Schon vor einem Jahr lehnten Hessens Sparkassen dieses Bündnis ab. "Hätten wir das damals gemacht, wären wir heute so platt wie die", sagte ein Sparkassenchef. Platt sind aber inzwischen eine ganze Reihe von Landesbanken und auf massive Hilfen ihrer Länder angewiesen. Die Sparkassen aber wären froh, wenn sie in die Landesbanken keinen Cent mehr investieren müssten.

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188 Zeitverträge - in Folge

Toulouse - Die französische Post muss einem ihrer Briefzusteller 50 000 Euro zahlen, weil sie ihn über sechs Jahre mit 188 Zeitarbeitsverträgen in Folge beschäftigt hat. Die französische Justiz habe entschieden, dass das Unternehmen den Mann nachträglich in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis nehmen und ein entsprechend höheres Gehalt und Sozialabgaben zahlen müsse, teilte die Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) am Montag in Toulouse mit. Neben fast 40 000 Euro Gehaltsnachzahlung für den Briefträger wurde die Post nach den Angaben des französischen Gewerkschaftsbundes zusätzlich auch zu 10 000 Euro Schadenersatz und Zinsen verurteilt. AFP

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Pessimismus in Russland

Hongkong - Russland hält in diesem Jahr ein Nullwachstum für denkbar. Die Regierung erwarte, dass das Bruttoinlandsprodukt in einer Spanne von null bis zwei Prozent zulegen werde, sagte Finanzminister Alexej Kudrin auf einer Konferenz in Hongkong. Bei der Inflation rechne er mit einer Rate von 13 Prozent; im November hatte die Regierung noch acht Prozent vorausgesagt. Man sei darauf gefasst, dass die rückläufige Ölnachfrage den Preis in diesem Jahr unter das von der Internationalen Energieagentur vorausgesagte Niveau von knapp über 40 Dollar je Barrel drücken werde. Obwohl Öl damit immer noch teurer sei als vor zehn Jahren, bedeute dies besondere Belastungen für Russland. Reuters

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Computer statt Fernseher

München - Mehr als jeder zweite Befragte nutzt eher seinen Computer als das Fernsehen zur Unterhaltung. 26 Prozent bevorzugen dafür das Mobiltelefon, wie eine Umfrage der Wirtschaftsberatung Deloitte zeigt. Immer wichtiger werde dabei die zunehmende Personalisierung von Online-Inhalten. So sehen sich 53 Prozent der 14- bis 25-Jährigen und 41 Prozent der 26- bis 42-Jährigen selbst als Produzent und Publizist eigener Inhalte, zum Beispiel durch Blogs. Vor allem Jüngere bevorzugen demnach auch Amateurvideos. Bei den 62- bis 75-Jährigen gaben 40 Prozent an, regelmäßig Inhalte zu nutzen, die nicht vom Anbieter eines Online-Angebots, sondern von dessen Nutzern erstellt werden. AFP

Die Deutschen sind laut Deloitte keine Multimedia-Muffel. Foto: ddp

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Pariser Staatskarossen

Paris - Angesichts der Autokrise erwägt die französische Regierung einen Einstieg bei krisengeschüttelten Herstellern. "Im Gegenzug für finanzielle Hilfen könnte eine staatliche Beteiligung in bestimmten Fällen infrage kommen", sagte Industrieminister Luc Chatel der Tageszeitung Le Figaro. Auch Kreditgarantien, Bürgschaften und Wandelanleihen gehörten zu den denkbaren Maßnahmen. Nach Informationen der Zeitung Le Parisien will Paris die angeschlagene Branche mit zusätzlichen fünf bis zehn Milliarden Euro stützen. Am Dienstag beraten Regierungsvertreter und Verantwortliche von Autobauern und Zulieferern über weitere Maßnahmen. Reuters

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Ruhrgebiet wirbt im Ausland

Dortmund - Die Industrie- und Handelskammern des Ruhrgebiets bemühen sich verstärkt um ausländische Investoren. In einem ersten Schritt haben die Kammern gezählt, wie viele Firmen Ausländern gehören. Demnach sind zwischen Emscher, Ruhr und Lippe von den 222 000 registrierten Betrieben über 17 000 im Besitz von Ausländern. Fast die Hälfte sei in türkischer, polnischer oder griechischer Hand. Einige Firmen beschäftigen mehr als 1000 Menschen, wie etwa Atlas Copco (Maschinenbau), Pilkington (Glas) oder Océ (Dokumenten-Management). Um die Attraktivität des Ruhrgebiets zu steigern, setzen die Kammern unter anderem auf eine gezielte Wirtschaftsförderung bereits im Herkunftsland. dpa

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Nichts gegen Kleinbauern

Berlin - Bauernpräsident Gerd Sonnleitner hat die Kritik an den neuen EU-Subventionen für Milchprodukte zurückgewiesen. "Da geht es überhaupt nicht um ein Kaputtmachen des Weltmarktes oder eine Schwächung der Kleinbauern in Afrika", sagte Sonnleitner am Montag beim Milch- und Junglandwirtekongress auf der Grünen Woche in Berlin. Außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen, sagte er unter Verweis auf den stark gesunkenen Milchpreis. Die EU-Kommission will deshalb Exportbeihilfen für Butter, Käse, Vollmilch und Milchpulver wieder einführen. Organisationen wie die Welthungerhilfe werfen ihr vor, so Kleinbauern in Entwicklungsländern aus dem Markt zu drängen und damit den Hunger zu verstärken. dpa

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Sieg für die Schnäppchenjäger

Die Versteigerung im Internet-Auktionshaus Ebay gilt auch bei einem schlechten Preis, urteilt das Amtsgericht München

Von Ekkehard Müller-Jentsch

München - Ein fahrbereites Auto für 100 Euro, das ist ein echtes Schnäppchen - allerdings nur für den glücklichen Käufer. Der Verkäufer wollte seinen Wagen dagegen so billig nicht abgeben und ließ sich lieber vor den Kadi ziehen: Das Auto sei bei Ebay versehentlich ohne Mindestpreis angeboten worden, versuchte er zu argumentieren. Doch auch bei Gericht zahlte der Münchner nur drauf: Die Klage wurde abgewiesen.

Den Kleinbus Mitsubishi L 300 hatte der Münchner auf der Internet-Plattform Ebay zunächst zu einem Mindestpreis von 2100 Euro angeboten. Das war den Interessenten offenbar zu teuer: Zu diesem Preis wurde kein Gebot abgegeben. Daraufhin wurde der Wagen ein zweites Mal bei Ebay eingestellt, aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen diesmal aber ohne Mindestforderung.

Die Auktion begann also bei einem Euro. Ein Schnäppchenjäger bemerkte das sofort und legte sich auf die Lauer. Als sich bis zur letzten Minute kein Interessent gefunden hatte, bot er 100 Euro - und erhielt Sekunden später von Ebay die Nachricht, dass er den Mitsubishi erworben habe.

Als er nun den Verkäufer anschrieb und sein Auto haben wollte, weigerte sich dieser, es herauszugeben. Daraufhin erhob der Käufer Klage beim Amtsgericht München. Die Richterin machte dem Eigentümer aber gleich klar: "Das Einstellen eines Angebots in die InternetPlattform Ebay stellt ein wirksames, verbindliches Angebot dar."

Es handele sich bei einer derartigen Auktion keineswegs um eine Versteigerung im eigentlichen Sinne, bei der es zum Schluss noch eines gesonderten Zuschlags bedürfe. Darauf hatte sich nämlich der widerspenstige Verkäufer berufen wollen. "Mit der Abgabe eines Gebotes wird dieses Angebot angenommen", sagte die Richterin. Da ein Mindestgebot im konkreten Fall nicht vorgelegen habe, sei der Verkauf zum Preis von 100 Euro zustande gekommen.

"Das ist auch nicht sittenwidrig", erklärte die Amtsrichterin, "da bei privaten Auktionen ohne Mindestangebot die Zielsetzung besteht, den Preis durch die Nachfrage festlegen zu lassen." Da alle Beteiligten aus freiem Willen handeln, sei es auch nicht zu beanstanden, dass Gegenstände mitunter unter Wert verkauft werden. Der beklagte Münchner wandte ein, sein zweites Angebot sei nicht mit seinem Willen eingestellt worden. Doch das erschien der Richterin erst einmal "unbeachtlich". Denn der äußere Anschein eines Verkaufsangebotes liege vor. Der Verkäufer könne zwar grundsätzlich diese Willenserklärung anfechten, "das müsste er nach den gesetzlichen Vorschriften jedoch unverzüglich tun". Als er durch das Schreiben des Käufers von dem Verkauf erfahren habe, mit dem dieser die Lieferung des Kleinbusses verlangte, hätte er eben sofort diese Anfechtung erklären müssen. Das habe er jedoch nicht getan, "so dass er sich nun an dem Vertrag festhalten lassen muss", stellte die Richterin fest.

Das Urteil (Az.: 223 C 30401/07) ist rechtskräftig.

Auf Internetplattformen wie Ebay wird es auch weiterhin günstige Angebote geben. Verkäufer müssen ihre Ware auch dann zum vereinbarten Preis an den Meistbietenden abgeben, wenn sie dafür weit unter Wert bezahlt werden, entschied jetzt ein Gericht. Foto: ddp

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Nach der Hessen-Wahl: Was das Ergebnis für die Wirtschaft und die Region bedeuten könnte

Liberale im Aufwind

Die FDP setzt in der Finanzkrise auf niedrige Steuern, weniger Kündigungsschutz und auf strengere Vorschriften für Manager

Von Daniela Kuhr

Berlin - Der Erfolg der FDP in Hessen hat die Liberalen in den Fokus gerückt. Während SPD und Union bei den Diskussionen über die Konjunkturpakete viel Gelegenheit hatten, ihre Positionen lautstark zu vertreten, sind die Ansichten der kleineren Parteien häufig ein wenig in den Hintergrund geraten. Ein Überblick über ein paar grundlegende wirtschaftspolitische Forderungen der FDP:

Steuer

Die Liberalen setzen sich für ein einfaches Steuerkonzept ein. "Eine gerechte Steuer muss auf Ausnahmen und Sonderregelungen für Einzelfälle weitestgehend verzichten", heißt es in dem Beschluss, den der Bundesparteitag im vergangenen Sommer gefällt hat. Bei der Einkommensteuer soll es nur noch drei Tarifstufen geben: Bis zu einem Grundfreibetrag von 8000 Euro werden Einkommen überhaupt nicht besteuert. Bis 20 000 Euro sollen zehn Prozent anfallen, von 20 000 Euro bis 50 000 Euro 25 Prozent und ab 50 000 Euro 35 Prozent. Eine Reichensteuer lehnt die FDP ab. Die pauschale Abgeltungsteuer für Zinsen und Dividenden befürwortet sie dagegen, weil sie die Besteuerung vereinfacht. Allerdings kritisiert sie, dass seit diesem Jahr auch Kursgewinne pauschal mit 25 Prozent besteuert werden. "Der Staat greift damit einerseits in unzumutbarer Weise in die private Altersvorsorge der Bürger ein und entzieht dem Investitionsprozess andererseits dringend benötigtes Kapital."

Kündigungsschutz

Die FDP hält die Vorschriften im Bereich des gesetzlichen Kündigungsschutzes für zu rigide. Das Kündigungsschutzgesetz schütze "zwar die Inhaber eines Arbeitsplatzes, erschwert aber Arbeitssuchenden den Einstieg in den Arbeitsmarkt und wird deshalb seiner sozialen Schutzfunktion nicht gerecht". Deshalb solle es nicht mehr ab zehn Mitarbeitern gelten, sondern nur noch für Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmern. Zudem können Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach dem Willen der FDP vereinbaren, dass bei einer betriebsbedingten Kündigung nicht der gesetzliche Schutz gilt, sondern der Arbeitgeber beispielsweise eine Abfindung oder eine Weiterbildungsmaßnahme zahlen muss. Das Kündigungsschutzgesetz soll erst nach zweijähriger Betriebszugehörigkeit gelten.

Mindestlöhne

Gesetzliche Mindestlöhne lehnt die FDP strikt ab. Ihrer Ansicht nach verdrängen sie "insbesondere im geringqualifizierten Bereich" Arbeitsplätze. Als Konsequenz daraus würden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert und die Schwarzarbeit nehme zu. "Opfer von gesetzlichen Mindestlöhnen sind in erster Linie Langzeitarbeitslose, die kaum mehr Aussicht auf neue Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben", heißt es in einem Positionspapier.

Familien

Die FDP möchte Erwachsenen und Kindern einen Freibetrag von jeweils 8000 Euro gewähren. Zudem soll das Kindergeld 200 Euro pro Kind und Monat betragen. Damit wäre eine vierköpfige Familie "unter Berücksichtigung der Werbungskostenpauschale und der Abzugsfähigkeit der Vorsorgeaufwendungen noch bei einem Familieneinkommen von 40 700 Euro steuerfrei".

Energie

Die Liberalen setzen auf einen breiten Energiemix. Der Ausbau der erneuerbaren Energien müsse vorangetrieben werden, um die Abhängigkeit von Importen zu verringern. "Einseitige Abhängigkeiten sind zu vermeiden", heißt es im Beschluss des Bundesparteitags 2006. Der staatlich verfügte Ausstieg aus der Kernenergieerzeugung widerspreche "den energiepolitischen Zielen der Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit". Die bestehenden Kernkraftwerke sollen so lange weiterlaufen, "wie ihr Betrieb den Sicherheitskriterien entspricht und genehmigungsfähig ist". Daraus resultierende Einsparungen sollten die Betreiber der Kernkraftwerke "durch Preisermäßigungen an die Verbraucher zurückgeben".

Finanzen

Als Reaktion auf die Finanzkrise fordert der FDP-Wirtschaftsexperte Rainer Brüderle, die persönliche Haftung von Bankvorständen zu erweitern. Aufsichtsräte müssten kleiner und professioneller werden. Die Bankenaufsicht solle allein der Bundesbank übertragen werden. Die KfW müsse wieder ein reines Förderinstitut werden, statt ein "Sammelbecken für mehr oder weniger riskante Transaktionen", schreibt Brüderle in seinem "Neun-Punkte-Programm für einen neuen Ordnungsrahmen im Finanzsektor".

Wirtschaftsnah und bereit zu Höhenflügen: Guido Westerwelle, FDP-Vorsitzender, neben einem A380-Modell. Foto: ddp

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"Ich vergleiche die Situation mit einem Tsunami"

Lanxess-Vorstandsvorsitzender Axel Heitmann bereitet seine Mitarbeiter auf harte Zeiten in der Chemieindustrie vor

Axel Heitmann, 49, muss Lanxess durch die tiefe Wirtschaftskrise führen und stimmt die Mitarbeiter nun auf harte Einschnitte ein. Der promovierte Naturwissenschaftler hat vor 20 Jahren bei Bayer angefangen. Seit vier Jahren führt er Lanxess, hat den Konzern in dieser Zeit umgebaut und Sparprogramme umgesetzt.

SZ: Herr Heitmann, BASF macht ein Viertel der Chemieproduktion dicht und führt Kurzarbeit ein, der US-Chemiekonzern Lyondell-Basell ist pleite, Dow schließt 20 Werke, Lanxess muss Investitionen verschieben. Was ist los in der Chemieindustrie?

Heitmann: Wir sind über Nacht abgestürzt. Das gilt nicht nur für die Chemie, sondern auch für andere Branchen, zudem auch noch weltweit und in einem noch nie dagewesenen Maße. Die Verbraucher sind in einen kollektiven Käuferstreik getreten. Sie verschieben den Kauf von Autos oder Möbeln. Dieser Trend wird sich vielleicht noch verschärfen. Ich würde die Situation mit einem Tsunami vergleichen, auch in der Chemieindustrie.

SZ: Wie lange wird das noch dauern?

Heitmann: Das wissen wir nicht. Wir haben es mit einem Stau zu tun, wie man ihn auf der Autobahn vor einer Engstelle erleben kann. Der baut sich derzeit auf. Der Verkehr fließt aber nicht sofort wieder normal, sobald die Verengung der Fahrbahn beendet ist. Der Rückstau wird noch einige Zeit nachwirken.

SZ: Muss der Staat jetzt auch Chemieunternehmen wie Lanxess retten?

Heitmann: Nein. Dieses Unternehmen ist vor vier Jahren als Ausgliederung aus dem Bayer-Konzern in schwierigen Zeiten angetreten und hat ganz bewusst Strukturen geschaffen, die es ihm erleichtern, diese Krise zu meistern. Wir haben unsere Ergebnisse Jahr für Jahr verbessert. Und wir sind solide finanziert. Lanxess ist krisenerprobt.

SZ: Dafür ist Ihr Aktienkurs aber reichlich stark abgestürzt.

Heitmann: Wir können uns dem Sog des gesamten Kapitalmarktes nicht entziehen, obwohl wir auch gute Nachrichten haben: Wir haben unsere Gewinnziele für 2008 aus heutiger Sicht erreicht. Und es wird auch wieder aufwärts gehen. Davon bin ich fest überzeugt: Ich habe gerade für zwei Millionen Euro Lanxess-Aktien gekauft und dafür sogar einen Kredit aufgenommen.

SZ: Sie haben immer gesagt: ,Das Dach soll ausgebessert werden, wenn die Sonne scheint.' Ist das Unternehmen ausreichend geschützt gegen das, was noch kommen mag?

Heitmann: Wir haben in den vergangenen vier Jahren einiges getan, doch das wird sicher nicht ausreichen. Wir haben deshalb gerade einen Krisenstab gegründet, der sich mit den Auswirkungen des Nachfragerückgangs auf unser Geschäft auseinandersetzt. Diesen Krisenstab leite ich. Er erarbeitet jeden Tag Vorschläge, wie auf die Veränderungen der Nachfrage zu reagieren ist, diese liegen in einigen Bereichen bei bis zu minus 50 Prozent. Wir dürfen keine Zeit verlieren.

SZ: Wie viel Kapazität haben Sie bei Lanxess schon stillgelegt?

Heitmann: Wir haben in einigen Bereichen die genutzte Kapazität um bis zu 80 Prozent reduziert, in anderen Bereichen um etwa ein Viertel.

SZ: Das muss doch zu Personalabbau führen.

Heitmann: Wir werden erst mal in einigen Bereichen Kurzarbeit einführen. Wir suchen gerade im Gespräch mit den Arbeitnehmervertretern nach Lösungen. Wo es keine Nachfrage gibt, gibt es keine Produktion, also keine Arbeit. Das kann man für eine gewisse Zeit überbrücken, zum Beispiel durch Abbau von Überstunden.

SZ: Was muss noch kommen?

Heitmann: Weil davon auszugehen ist, dass die schwache Nachfrage anhält, müssen wir aber weitere Instrumente nutzen. Da hat Lanxess Erfahrung: Wir haben in der Vergangenheit die wöchentliche Arbeitszeit für alle reduziert. Wir haben die variablen Anteile der Bezahlung gekürzt. Auch ich als Vorstandsvorsitzender habe über drei Jahre auf 20 Prozent meines variablen Gehalts verzichtet. Dieser Solidarpakt hat uns zusammengeschweißt und den Umbau von Lanxess erleichtert.

SZ: Schließen Sie Arbeitsplatzabbau aus?

Heitmann: Es geht darum, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten und die Last, die 2009 ohne Zweifel bringen wird, auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Ich will aber nicht ausschließen, dass es notwendig ist, zu härteren Maßnahmen zu kommen, wenn sich diese Krise weiter verschärft. Ich kann keine Garantien geben, wenn es auch für Aufträge keine Garantien gibt. Betriebsbedingte Kündigungen sind das letzte Mittel.

SZ: Ist es richtig, dass der Staat taumelnden Unternehmen unter die Arme greift?

Heitmann: Alles ist zu begrüßen, was in den Märkten wieder Vertrauen schafft.

SZ: In Krisenzeiten sind Unternehmen billig. Lanxess wollte sich immer verstärken. Könnten Sie sich vorstellen, jetzt Firmen zu kaufen?

Heitmann: Wir sind gut beraten, in dieser Situation sehr vorsichtig zu sein. Jetzt müssen wir unsere Wettbewerbsposition erhalten. Dazu müssen wir uns auf die eigenen Kräfte konzentrieren. Sollte sich eine günstige Gelegenheit ergeben, würden wir zugreifen.

SZ: An der Börse ist Lanxess gerade mal eine Milliarde Euro wert. Sind Sie ein Übernahmekandidat?

Heitmann: Eine erfolgreiche Geschäftspolitik ist das beste Mittel, Übernehmer abzuwehren. Im Übrigen haben wir einen soliden Aktionärskreis, manche Investoren halten bis zu zehn Prozent der Aktien. Die denken langfristig.

SZ: Die Bundesregierung hat ein Konjunkturprogramm von 50 Milliarden Euro aufgelegt. Hilft Ihnen das, oder ist das Verschwendung von Steuergeld?

Heitmann: Das Programm enthält eine Reihe von Maßnahmen, die der deutschen Industrie zugute kommen werden. Investitionen in die Infrastruktur und den Straßenbau nutzen gerade der chemischen Industrie. Investitionen in Verkehrswege oder Telekommunikation und Ausbildung helfen der gesamten Industrie. Das ist genau das richtige Mittel zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.

SZ: Derzeit plant Lanxess den Umzug der Zentrale von Leverkusen nach Köln. Können Sie sich das noch leisten?

Heitmann: Der Umzug wird um ein Jahr auf 2012 verschoben. Ich will, dass sich jetzt alle Mitarbeiter um das Geschäft kümmern und nicht um einen Umzug oder Neubau.

Interview: Karl-Heinz Büschemann und Caspar Busse

"Ich habe gerade

für zwei Millionen Euro

eigene Aktien gekauft."

Foto: Alessandra Schellnegger

"Wo es keine Nachfrage gibt, gibt es keine Produktion,

also keine Arbeit."

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Lanxess

Anfang 2004 gliederte der Bayer-Konzern das Chemie- und Teile des Kunststoffgeschäfts aus und brachte die Firma als Lanxess an die Börse. Der Kunstname ist aus dem französischen "lancer" (in Gang bringen) und dem englischen "success" (Erfolg) entstanden. Anfangs wurde Lanxess als "Resterampe" bezeichnet, weil viele Bereiche unprofitabel waren. Der drittgrößte Chemiekonzern Deutschlands erzielte 2007 einen Umsatz von 6,7 Milliarden Euro und ein Betriebsergebnis von 719 Millionen Euro. Das Unternehmen liefert unter anderem Vorprodukte für die Reifen- und die Pharmaindustrie und betreibt 50 Fabriken in 21 Ländern. Lanxess hat weltweit 16 000 Beschäftigte. SZ

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Zittern in der Chefetage

Spitzenmanagern fehlt es an Strategien gegen die Krise

Von Markus Balser

München - Taumelnde Banken, Jobabbau in Hightech-Konzernen, Kurzarbeit bei Chemie- und Autoherstellern: Die Wirtschaftskrise trifft immer mehr Branchen hart. Doch trotz desolater Wirtschaftslage feilen offenbar nur die wenigsten Chefetagen an schlagkräftigen Krisenplänen. Weltweit herrsche im Spitzenmanagement von Unternehmen ein dramatischer Mangel an geeigneten Strategien, um der Wirtschaftskrise historischen Ausmaßes zu begegnen, warnt die Unternehmensberatung Booz & Company in einer aktuellen Studie, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

Viele Unternehmenschefs blieben trotz schwacher Wirtschaftsentwicklung tatenlos, kritisiert die Studie. Hauptgrund der Vorstandslethargie: Unsicherheit. Zwar erwarteten die Hälfte der Befragten, dass sich ihre Branche in Folge der Krise stark verändere, doch fast alle Manager gaben an, Ausmaß und Richtung nicht einschätzen zu können. Selbst in den Unternehmen wächst der Zweifel, ob die eigene Chefetage für die kommenden Monate gut gerüstet ist. 40 Prozent der befragten Manager unterhalb der Vorstandsebene trauen ihrer Konzernspitze kein überzeugendes Krisenmanagement zu. Vor allem den Verlierern der Krise stellt die Studie ein katastrophales Zeugnis aus. So kümmerten sich 65 Prozent der angeschlagenen Konzerne nur unzureichend um ihre Unternehmensfinanzen und den Erhalt ihrer Liquidität.

Es sei zwar gut, dass Manager in der Krise nicht überreagierten, sagt Ansgar Richter, Professor für Strategie und Organisation an der European Business School in Oestrich-Winkel. Dennoch sei die Tatenlosigkeit offenbar vielerorts dem Mangel an Konzepten gegen die Krise geschuldet. "In guten Zeiten entwirft kein Vorstand einen Plan B", sagt Richter. "Das kritische Potential wird in vielen Unternehmen einfach ausgeblendet." Nun dürften sich nicht die Fehler der achtziger und neunziger Jahre wiederholen. Konzerne hätten mit Entlassungswellen damals in Kürze systematisch Motivation und Qualifikation ihrer Mitarbeiter zerstört, warnt Richter.

Reines Wunschdenken

Optimismus gibt es derweil in den Chefetagen. Drei Viertel der befragten Spitzenmanager hält die Situation ihrer Konzerne für positiv. Nur 20 Prozent fürchten eine Verschlechterung. Mehr als 50 Prozent erwarten, sich in der Krise einen Wettbewerbsvorteil verschaffen zu können. "Das dürfte Wunschdenken bleiben, wenn die Konzerne nicht schneller und entschlossener auf die Krise reagieren", glaubt Deutschland-Chef Stefan Eikelmann. Wegen der einbrechenden Exporte stünden ganze Industriezweige vor einer existenziellen Krise.

Sollte es zu Sparrunden in ihren Konzernen kommen, zeigen hochbezahlte Spitzenkräfte wenig Kreativität. 40 Prozent der Befragten gehen von einer drastischen Abbau bei Aktivitäten in Umweltaktivitäten und dem sozialen Engagement von Unternehmen aus. Sinkende Umweltausgaben betreffen der Studie zufolge vor allem die in diesem Sektor einflussreichsten Branchen Energie und Transportwesen.

Für die Studie befragte die Unternehmensberatung Booz & Company weltweit im Dezember 830 Top-Manager, davon 15 Prozent aus Deutschland. Für radikale Kursänderungen fehle gerade in Deutschland offenbar der Mut für tiefgreifende Veränderungen, sagt Stefan Eikelmann, Sprecher der Booz-Geschäftsführung in Deutschland.

Wird bald am Umweltschutz gespart? Eine Müllverbrennungsanlage in Oberhausen. Foto: dpa

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Alles muss raus

Bei Möbeln lohnt sich oft zu feilschen - zumindest bei alter Ware

Winterzeit, Schnäppchenzeit. Gerade jetzt, nach Weihnachten und mitten in der Finanzkrise, senken viele Möbelhäuser die Preise. Im Radio und in bunten Prospekten werben die Händler um jeden Kunden: "Alles muss raus" und "Jetzt letzte Chance - 70 Prozent auf alle Sofas". Dazu gibt es Originelles wie Topftausch-Aktionen oder zinslose Finanzierungen für bis zu 36 Monate. Möbelhäuser, die wegen der harten Konkurrenz aufgeben, werben sogar für die Versteigerung ihrer Restbestände.

Seit das Rabattgesetz 2001 abgeschafft wurde und damit offiziell auch die Schlussverkäufe, sind das ganze Jahr über Rabattaktionen möglich. Außerdem dürfen die Firmen den Kunden weitere Nachlässe gewähren, selbst bei bereits reduzierter Ware. Doch wie weit kann man den Preis noch drücken? In einem großen Möbelhaus in der Münchner Innenstadt, das massiv Prozente-Werbung betreibt, wird die Probe aufs Exempel gemacht: Die schwarze Schrankwand eines Markenherstellers - ein Ausstellungsstück - kostet jetzt nur noch knapp die Hälfte, aber mit 3500 Euro immer noch ziemlich viel.

Die Verkäuferin zeigt sich erfahren mit feilschenden Käufern und kommt der interessierten Kundin entgegen. 300 Euro weniger seien "machbar", verkündet sie nach einem Telefonat mit ihrem Chef. Doch die Kundin will mehr: zinslose Ratenzahlung für ein Jahr und kostenlose Lieferung plus Montage, dann sei sie zum Kauf bereit. Wieder telefoniert die Verkäuferin mit ihrem Chef. Und es klappt - dank etwas Verhandlungsgeschick verbleiben mehr als 500 Euro extra im Geldbeutel. Ausnahme oder Regelfall?

Auf Nachfrage erklärt ein Vertreter des Möbelhauses, wenn das neue Sortiment komme, werde alles, was im Lager und auf den Ausstellungsflächen noch übrig sei, "gnadenlos abverkauft". Bei neuer Ware seien extreme Preisnachlässe aber nicht möglich. Angebote in Werbe-Prospekten seien in erster Linie "Lockartikel, die so stark runtergesetzt sind, dass es ein Nullsummenspiel für uns ist". Soll heißen: Der Händler macht keinen Gewinn, sondern bekommt nur den Einkaufspreis plus Mehrwertsteuer wieder rein.

Bei der Verbraucherzentrale Berlin ist man allerdings skeptisch, ob der Händler mit diesen Produkten wirklich keinen Gewinn erzielt: "Auch Möbelhäuser müssen schließlich ihre Strom- und Wasserrechnung zahlen." Grundsätzlich seien hohe Preisnachlässe nur bei Ladenhütern und Einzel- oder Ausstellungsstücken möglich, "weil Händler sie loswerden wollen".

Und tatsächlich: Bei einem Doppelbett aus dem regulären Angebot desselben Möbelgeschäfts muss die Kundin weitaus hartnäckiger argumentieren und bekommt am Ende trotzdem nur die Hälfte der Lieferkosten erlassen. Immerhin: 100 Euro Ersparnis. Hartnäckigkeit und ein charmantes Lächeln können sich also durchaus lohnen. Konkrete Tipps für erfolgreiches Feilschen möchte man bei der Verbraucherzentrale jedoch nicht geben: "Man sollte natürlich immer versuchen, Rabatte auszuhandeln. Aber da spielt ja auch viel Psychologie mit", sagt eine Sprecherin.

Hartnäckigkeit zahlt sich aus

Doch selbst für Menschen mit Verhandlungsgeschick sieht es bei einem Möbeldiscounter in einem Gewerbegebiet am Münchner Stadtrand nicht gut aus. "Wir sind ja schon ein Discounter. Rabatt geben wir grundsätzlich erst, wenn die Ware mindestens 1000 Euro kostet", sagt ein Verkäufer. Aber mehr als 1000 Euro kostet in diesem Geschäft so gut wie nichts. Nach längerem Insistieren gewährt der leicht genervte Verkäufer dann doch fünf Prozent Rabatt auf einen Schlafzimmerschrank, der regulär 780 Euro kostet. Aber auch nur, wenn ein Bett aus der gleichen Serie für 600 Euro dazugekauft wird. Wer nicht zufällig auch ein Bett braucht, kann sich das Feilschen um die Preise zumindest bei diesem Discounter sparen. Simone Lankhorst

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Hersteller werden zu Händlern

Nach dem Vorbild der Textilproduzenten investiert die Einrichtungsbranche in eigene Läden

Von Stefan Weber

Köln - Hamburg ist für den Küchenmöbelhersteller Poggenpohl ein gutes Pflaster. Gerade hat das ostwestfälische Unternehmen in der Hansestadt das erste Exemplar seines neuen Spitzenmodells, der "Porsche Design Küche P 7340", ausgeliefert. Kaufpreis: 200 000 Euro. Weitere Aufträge für diese zusammen mit den Design-Spezialisten des Autoherstellers Porsche entwickelte Küche liegen aus Hamburg bereits vor. Von Krise spürt Poggenpohl-Geschäftsführer Elmar Duffner nicht viel: "Wir wollen in diesem Jahr bis zu 100 dieser Premiummodelle verkaufen", kündigte er am Montag auf der weltweit größten Möbelmesse Imm Cologne an.

Beim Verkauf seiner Küchen setzt die zum schwedischen Nobia-Konzern gehörende Poggenpohl-Gruppe immer seltener auf händlerbetriebene Küchenstudios. Das Unternehmen eröffnet stattdessen zunehmend eigene Geschäfte. Im ersten Quartal 2009 kommen fünf weitere Standorte hinzu - in Bremen und London sowie in drei Städten in den USA. Damit führt der Küchenanbieter aus Herford weltweit bereits 37 eigene Verkaufsstudios. Für Möbelhersteller werde es immer wichtiger, auf direktem Weg Zugang zum Kunden zu bekommen, sagt Duffner, der auch Präsident des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie (VDM) ist. Diese sogenannte Vertikalisierung haben Textilhersteller wie H&M, Esprit oder Zara den Möbelanbietern vorgemacht: Sie verkaufen ihre Waren schon lange ausschließlich in Läden, die sie auch selbst betreiben.

Duffner beobachtet, dass der Möbelhandel zunehmend aufgeschlossen reagiert auf diese Konzepte der Hersteller - etwa, indem er Verkaufsflächen anbietet, die Hersteller exklusiv nutzen können. "Auch die großflächigen Einrichtungshäuser sind öfter an einer Partnerschaft interessiert", stellt der Verbandspräsident fest. Das war nicht immer so. Der Handel, der seine Kräfte in mächtigen Einkaufsverbänden gebündelt hat, fühlte sich gegenüber der mittelständisch strukturierten Industrie lange Zeit in der stärkeren Position und hielt gemeinsame Projekte nicht für nötig. Denn immerhin repräsentieren die fünf größten Einkaufsverbände 45 Prozent des Einzelhandelsumsatzes mit Möbeln in Deutschland von zuletzt etwa 30 Milliarden Euro.

Messe verliert an Bedeutung

Die Imm Cologne als eines der Aushängeschilder der Kölner Messegesellschaft hat in den vergangenen Jahren stark an Attraktivität eingebüßt. Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Besucher um ein Viertel auf zuletzt 107 000 zurückgegangen. Zugleich haben konkurrierende Veranstaltungen in Mailand und Ostwestfalen an Zugkraft gewonnen. Auch die Zahl der Aussteller ist in Köln stark zurückgegangen. Insbesondere viele Küchenhersteller zeigen ihre Produkte statt in Köln lieber auf Hausmessen. Versuche der Messegesellschaft, die Küchenhersteller mit einer eigenen Veranstaltung zurück an den Rhein zu locken, sind gescheitert. Zuletzt musste die Küchenmesse Cusinale mangels Beteiligung abgesagt werden.

Im Herbst war der langjährige zuständige Geschäftsführer der Köln-Messe Wolfgang Kranz abberufen worden. Seitdem kümmert sich Köln-Messe-Chef Gerald Böse persönlich um die Imm Cologne. Ein neues Konzept für eine Küchenmesse hat auch er in der Kürze der Zeit noch nicht erarbeitet. Auf der aktuellen Messe spielt das Thema Küche keine große Rolle. "Möglicherweise gibt es 2011 eine eigene nationale Messe", meint VDM-Hauptgeschäftsführer Dirk-Uwe Klaas.

IMM KÖLN

Die internationale Einrichtungsmesse

vom 19. bis 25. Januar 2009

Ein Modell auf einem "Low-Pad-Bed", fotografiert durch einen "Bone Lounge Chair": Die Möbelhersteller mögen offenbar englische Produktnamen. Foto: dpa

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Rattelschnecks Cluburlaub

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Todchic in alle Ewigkeit

Izima Kaorus Landschaftsfotografien kommen nicht ohne Leichen aus

Die Augen starren ins Leere, der Körper wirkt leblos, eingefroren für die Ewigkeit. Und doch ist da dieser Schimmer auf den Lippen, wie eben erst geschminkt, und diese makellosen Luxus-Kleider, bei denen man sofort an eine Formel denken muss: "in Schönheit sterben".

Izima Kaoru heißt der Fotograf dieser verstörenden Bilderserie, die er "Landscape with a corpse" genannt hat, und an der er seit 1993 arbeitet. Ausgestellt in Museen und Galerien überall auf der Welt, sind nun erstmals alle Fotografien gesammelt in einem opulenten Band erschienen.

Irritiert von den Zwängen der Modeindustrie hatte sich der Japaner der freien Kunst zugewandt, um mehr Poesie - und Ironie - in seine Bilder aufnehmen zu können. Schon die Titel der Aufnahmen sind ein Indiz für die nimmersatte Trendmaschinerie, die jede Saison immer neue Kollektionen gebären muss: "Shingyoji Kimie wears Hermès", "Itaya Yuka wears Comme des Garçons" oder auch "Tominaga Ai wears Prada".

Wie ein Filmregisseur tastet sich der Künstler nach und nach an die schöne Tote heran. Von der Vogelperspektive, in der noch die umliegende Landschaft oder die ganze Architektur zu sehen ist, zoomt er sich von Bild zu Bild näher heran, um dann in einer Großaufnahme auf dem Gesicht zu verweilen. Der Betrachter wird so zum Detektiv, der wie in einem Suchbild die Leiche finden muss.

Nun ist der Tod ein nicht gerade unbekanntes Thema in der Kunst, auch die Modefotografie hat sich lange vor Kaoru mit seiner Darstellung beschäftigt. Unvergessen: Guy Bourdins Kreideumriss auf dem Asphalt und daneben ein Paar Charles-Jourdan-Pumps - der Tatort als Anzeigenkampagne. Auch Cindy Sherman inszenierte sich in den 1980er Jahren als jugendliches Opfer, um auf die Problematik der Pubertät hinzuweisen.

Doch Izima Kaoru ist in seiner Radikalität, mit der er den Tod zum assoziativen Traum stilisiert, noch konsequenter. Kein Detail wird dem Zufall überlassen, jede Falte ist sorgsam drapiert, ein ganzes Heer von Stylisten und Make-up-Experten sorgt für die professionelle Umsetzung der Vision. Ob erschossen, erstochen, ertrunken oder sanft entschlafen - die Todesursache sowie die Örtlichkeit und den Designer durften die Models oder Schauspielerinnen vorher bestimmen. So finden sich Sonnenblumenfelder, Spielhallen, nächtliche Filmsets oder Flughäfen unter den Locations. Bei den Looks ist die ganze Bandbreite vorhanden, vom Haute-Couture-Hosenanzug bis zum Hochzeitskleid.

Durch knallige Farben, die Platzierung der leblosen Körper in einem leeren Raum und Referenzen an die jeweils aktuelle Mode, schafft Izima Kaoru eine Künstlichkeit, die nie kitschig wirkt, sondern die eigene Vergänglichkeit auf verspielte Weise überhöht. Dazu passt, was der Buddhismus empfiehlt: jeden Tag einmal über den eigenen Tod zu meditieren. Nadine Barth

Izima Kaoru, "Landscape with a Corpse", erschienen im Hatje Cantz Verlag.

Der Scheintod steht ihr gut: "Koike Eiko wears Gianni Versace", 2004. Foto: © Izima Kaoru

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Es war einmal

Eintagshelden(1)

Sie hatte ihre schönsten Kleider und all ihren Schmuck angelegt und sich gesalbt mit den Wohlgerüchen Arabiens , um den Kerl zu verführen. Holofernes, der Feldherr der Assyrer, war gekommen aus Ninive, um die Völker im Westen endgültig niederzuwerfen. Vor Betulia, an der Grenze Palästinas, kam sein Heer zu stehen, aber er schloss die Stadt ein mit eisernem Griff, dass den Belagerten die Sinne vergingen vor Hunger und vor Durst. So wollten sie lieber kapitulieren als weiter leiden. Nur eine stand auf gegen diese Feigheit, eine Frau, mannlos, denn ihr Manasse war ihr gestorben, vor Jahren schon, aber stark im Herrn und in dem leidenschaftlichen Wunsch, ihr Volk zu befreien von der Besatzung.

Begleitet nur von ihrer Magd zog Judith ins Lager der Assyrer und ergab sich zum Schein. Ein Festmahl gab Holofernes zu ihren Ehren; in Strömen floss der Wein. Kam es zum Äußersten? Fast sind die Auslassungszeichen noch zu sehen, der kleine Hiatus zwischen dem zweiten Vers im 13. Kapitel der Luther'schen Übersetzung "Vnd SEIN KNECHT]Bagoa machet des Holofernes kamer zu / vnd gieng dauon / Vnd Judith war allein bey jm in der Kamer" und dem dritten Vers: "Da nu Holofernes im bette lag / truncken war vnd schlieff." Ist denn wirklich nichts vorgefallen zwischen den Beiden und den beiden Versen? Der Chronist schweigt.

Unsre Heldin aber nutzt die Gelegenheit, nimmt ein Schwert von der Wand, packt den besoffenen Sack beim Schlafittchen, fleht Gott an, dass er ihr Stärke verleihen möge, "Vnd sie hieb zweymal in den Hals mit aller macht / Darnach schneit sie jm den Kopff abe / vnd weltzet den Leib aus dem Bette."

Welch eine Frau, welch eine Metzgerin! Nicht umsonst haben die Maler Judith immer gern dargestellt. Den Kopf, den abgeschlagenen, steckt sie in einen Brotbeutel und verlässt das feindliche Lager, in dem die Mannerleut noch im Morgengrauen alle sturzbetrunken durcheinander liegen. Bei den Ihrigen angekommen, präsentiert sie die Beute, den - je nach Überlieferung - postkoital erschöpften oder vom Alkoholmissbrauch grotesk verzerrten Kopf des feindlichen Hauptmanns. Der Sieg ist den Israeliten nicht mehr zu nehmen, denn die Assyrer ziehen ab, kaum dass sie vom Schicksal ihres Holofernes erfahren. Geschlagen wurden sie mitsamt ihrem großen Heer vom Mut einer einzigen tapferen Frau.

Was lernen wir daraus? Dass Israel sich immer zu wehren weiß? Auch das, aber vor allem, dass Frauen den stärksten Mann zu fällen vermögen. Bleibt die Frage: Warum heißt die Sängerin von "Wir sind Helden" nicht bloß Judith, sondern Judith Holofernes? Willi Winkler

Judith - ein Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. Bild: akg-images

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Schuldig von Geburt an

Kinder deutscher Wehrmachtssoldaten und ihre Mütter hatten es in Norwegen nach Kriegsende besonders schwer

von Elmar Jung

In der Stunde des Triumphes war Else allein. Ganz Norwegen befand sich im Siegestaumel, und irgendwo im Herzen ihres euphorisierten Landes saß sie nun auf einem Stein und musste mit ansehen, wie eine Gruppe von vielleicht zehn, zwölf halbnackten Frauen einen Hügel emporgetrieben wurden. Riesige Plakate trugen sie vor sich her, auf denen mit schwarzen Druckbuchstaben stand: "Ich bin eine deutsche Hure." Else zitterte am ganzen Leib. Nicht etwa, weil sie fror. Erschaudern ließ sie die Furcht vor dem Zorn ihrer norwegischen Landsleute, den auch sie spüren würde, sollte ihr Verhältnis zu einem deutschen Wehrmachtssoldaten bekannt werden.

Norwegen im Mai 1945: Das ganze Land feierte das Ende der faschistischen Besatzung. Fünf lange bittere Jahre hatte die Herrschaft Nazi-Deutschlands hier gedauert; anders als die meisten während des Zweiten Weltkriegs von Wehrmachtssoldaten besetzten Gebiete befand sich das Land noch im deutschen Machtbereich, als Städte wie Köln und Aachen längst befreit waren. Zu abseits lag Norwegen, als dass es sich in den Augen der Alliierten gelohnt hätte, schon vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches dort einzumarschieren.

Die Norweger waren also ungeduldig, weil sie schon seit Monaten über verbotene Radiosender verfolgten, wie Europa Stück für Stück vom Geschwür deutscher Großmachtsphantasien befreit wurde. Nur in Norwegen schien das Ende der verhassten Fremdherrschaft noch Anfang 1945 weit entfernt zu sein.

Für einige der jüngsten Norweger aber sollte sich dieses Ende als Anfang eines leidvollen Weges erweisen. "Tyskerbarn" nannte der Volksmund sie - Deutschenkinder - und ihre Mütter wahlweise "Tyskerhoren" (Deutschenhuren) oder "Tyskertos" (Deutschenflittchen). Sie waren die Frauen und Kinder der Feinde. Norwegerinnen, die sich mit Wehrmachtsangehörigen eingelassen hatten, wurden von ihren Landsleuten verachtet, als Verräterinnen und Kollaborateurinnen beschimpft. Man rasierte ihnen die Schädel und trieb sie unter Schlägen und Schmähungen durch die Straßen. Oft übertrug sich dieser Hass auch auf die Kinder, die gedemütigt, misshandelt und in Heime gesteckt wurden.

Wie viele solcher Kinder es gegeben hat, weiß niemand genau. Schätzungen gehen von 50000 bis 100000 norwegischen Frauen aus, die sich mit Wehrmachtssoldaten einließen; 8000 bis 12000 Kinder sollen aus diesen Beziehungen hervorgegangen sein.

Natürlich haben deutsche Soldaten auch in anderen von ihnen besetzten Gebieten Beziehungen zu einheimischen Frauen gesucht und Kinder gezeugt. Trotzdem nimmt Norwegen eine besondere Stellung ein. Denn nirgendwo sonst wurden Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und Einheimischen vom NS-Regime derart gezielt gefördert wie dort. Norwegerinnen galten in der NS-Ideologie als "arisch" und damit als "hochwertig". Zugleich legten amtliche Richtlinien der Militärbürokratie fest, wie sich die deutschen Soldaten den Einheimischen gegenüber zu verhalten hatten. Behauptet, ja betont wurde dabei stets, dass die Deutschen im Lande seien, um es zu beschützen.

Norwegen hatte einen festen Platz auf der Rassenkarte Adolf Hitlers. Dessen Adlatus Heinrich Himmler ließ am 12. Dezember 1935 in Berlin den Verein "Lebensborn" gründen, eine SS-Organisation, die "rassisch und erbbiologisch wertvolle Kinder" für die Eliteeinheit des NS-Staates heranziehen und das deutsche Volk durch die "nordische Rasse veredeln" sollte. Die SS hielt es "für unbedingt wünschenswert, dass die deutschen Soldaten so viele Kinder wie möglich mit norwegischen Frauen zeugen", und tat alles, um "den zu erwartenden Nachwuchs wertvollen Blutes dem Deutschtum zu sichern". Dabei spielte es für die Rassebiologen des Dritten Reiches keine Rolle, ob die Kinder unehelich geboren wurden.

"Wertvolles Blut fürs Deutschtum" - solche Formulierungen zeigen ohne weiteres, wie sich hinter der harten Ideologie einer neuen Herrenrasse vor allem militärisches Kalkül verbarg. In einem Brief an den späteren Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, sah Himmler "allein durch diese bevölkerungspolitische Maßnahme in achtzehn bis zwanzig Jahren achtzehn bis zwanzig Regimenter mehr marschieren".

In den so genannten Lebensborn-Heimen sollten Frauen ihre Kinder anonym zur Welt bringen und - falls gewünscht - anschließend zur Adoption freigeben können. Natürlich kamen dafür nur parteitreue Familien in Frage, vorzugsweise diejenigen von SS-Angehörigen. Die Organisation kümmerte sich zudem um Unterhaltszahlungen oder vermittelte Arbeitsplätze. Bis 1945 wurden 28 dieser Heime in ganz Europa gegründet, elf davon alleine in Norwegen, soviel wie in keinem anderen Land außerhalb des Deutschen Reiches. Norwegische Frauen, die dem Führer den gewünschten Nachwuchs geboren haben, genossen zu Kriegszeiten alle nur erdenklichen Privilegien. Das änderte sich aber mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai schlagartig. Der Hass in der Bevölkerung entlud sich mit voller Wucht auf alles, was auch nur den Anschein eines deutschen Sympathisantentums aufwies. Und die so genannten Deutschenflittchen gehörten zu jenen, die dieses Stigma am auffälligsten trugen.

Die Norwegerin Else Marie Huth, damals 23, ließ sich von Anfeindungen ihrer Mitmenschen nicht irritieren. Die Liebe zu ihrem deutschen Mann war stärker, was die Familie aber nicht verstehen konnte. Zur Hochzeit 1946 in einer kleinen Holzkapelle im Süden des Landes jedenfalls kam nur die Mutter. Der Vater und der Bruder konnten die Schande nicht verwinden, die Else ihrer Ansicht nach über sie gebracht hatte. "Erst Jahre später hat sich das Verhältnis wieder einigermaßen normalisiert", sagt sie.

Die norwegische Sammlungsregierung unter Führung des Sozialdemokraten Einar Gerhardsen hatte das Problem zumindest erkannt. Bereits in den ersten Wochen nach Kriegsende richtete sie den so genannten Kriegskinderausschuss ein, der sich mit der Lage der Deutschenfrauen und ihrer Kinder auseinandersetzen sollte. Allerdings handelte es sich dabei nur bedingt um eine Einrichtung zum Schutz dieser Frauen vor Übergriffen aus der Bevölkerung. Das machten die Aussagen einiger Ausschussmitglieder schon bald deutlich. So gab Else Thingstad zu Protokoll, dass die Untersuchungen des Gremiums darauf abzielen sollten, "die unterdurchschnittliche Intelligenz der Deutschenflittchen deutlich zu machen" und aufzuzeigen, dass bei diesen Personen "klare charakterliche Schwächen" vorliegen. Die Polizei sekundierte gerne und schrieb im Juni 1945 als Ergebnis eines Verhörs mehrerer Frauen: "typische Deutschenmädchen wirken unzuverlässig".

Zwar distanzierte sich der Ausschuss offiziell von den Theorien der Nationalsozialisten. Dennoch war die Mehrheit der Mitglieder in eugenischen Denkmustern verhaftet, die starke Parallelen zur völkischen Rassenhygiene der Nazis aufwiesen. "Die Terminologie der Rassenkunde war zu jener Zeit in weiten Teilen der Wissenschaft verbreitet", sagt der norwegische Historiker Kåre Olsen.

Selbst Norwegens führende Psychologen bedienten sich ihrer, um die Behandlung der Deutschenfrauen und ihrer Kinder jenseits rechtsstaatlicher Maximen zu legitimieren. Geisteskrankheit war eine Frage der Abstammung. Psychologieprofessor Gabriel Langfeldt plädierte dafür, die Deutschenkinder möglichst bald nach deren Geburt von ihren Müttern zu trennen, weil diese sehr oft einen "schlechten Charakter" aufwiesen. Eine andere Koryphäe des Landes, der Psychologe Johan Scharffenberg, hätte es am liebsten gesehen, wenn all diese Kinder von Wehrmachtssoldaten nach Deutschland geschickt worden wären.

Oberster Scharfmacher war jedoch Ørnulf Ødegård, Direktor einer psychiatrischen Klinik in Gaustad und offizieller Sachverständiger des Kriegskinderausschusses. Ødegårds Faible für die Eugenik und Erbforschung war bekannt. 1932 versuchte er in einer Studie den Zusammenhang zwischen Emigration und Geistesgestörtheit norwegischer Auswanderer herzustellen. Trotz dieses zweifelhaften Verständnisses von Wissenschaft setzte ihn die Regierung an die Spitze des Kriegskinderausschusses. Die im Sommer 1945 erstellten Gutachten des zu seiner Zeit respektierten Wissenschaftlers lesen sich denn teilweise auch wie Expertisen nationalsozialistischer KZ-Ärzte, wenn er etwa unter den Deutschenfrauen "unverhältnismäßig viele schwach Begabte und auch einen Teil asoziale Psychopathen" ausgemacht haben will.

Ødegård war übrigens auch Sachverständiger im Prozess gegen den Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun, dem Sympathisantentum und Kollaboration mit dem Nationalsozialismus vorgeworfen wurden. Ødegård erklärte Hamsun für "dauerhaft seelisch geschwächt". Der damals 80-jährige Schriftsteller widerlegte den offensichtlich aus der Luft gegriffenen Befund Ødegårds mit einer messerscharfen Verteidigungsschrift .

Der im November 1945 vorgelegte Abschlussbericht des Kriegskinderausschusses fiel jedoch weniger dezidiert aus, als es die Aussagen manch seiner Mitglieder vermuten ließen. Die Kinder mit ihren Müttern ins kriegszerstörte Deutschland zurückzuschicken, heißt es dort, lasse sich mit Anstand und Moral nicht vereinbaren. Dennoch sei man über den "dürftigen Mentalzustand" der Deutschenkinder und -frauen besorgt, weshalb die Regierung eine Abschiebung nach Australien erwägen solle.

Die Widersprüchlichkeit dieser Aussage zeigt das Spannungsfeld, in dem sich Politik und Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg befand - zwischen dem neu geschaffenen Rechtsstaat und der Rücksichtnahme auf den in der Bevölkerung tief verankerten Hass auf alles Deutsche.

Trotz aller unbestritten rassistischen Tendenzen kann man die Sammlungsregierung unter dem Sozialdemokraten Gerhardsen nicht als faschistisch bezeichnen. Wohl aber war das Weltbild vieler ihrer Vertreter durchtränkt von rassenhygienischem Gedankengut, das in Norwegen - und nicht nur dort - in einer Tradition stand, die weitaus älter und breiter angelegt war als der Nazismus. Letztlich bediente sich der norwegische Rechtsstaat jener Rassentheorien, welche die Nazis fünf Jahre zuvor unter anderen Vorzeichen ins Land getragen hatten.

Als im gleichen Monat, in dem der Kriegskinderausschuss seinen Abschlussbericht vorgelegt hatte, eine australische Delegation Norwegen besuchte, reagierten die Gesandten geschockt auf das

Angebot des norwegischen Außenministeriums, 9000 Deutschenkinder als künftige Arbeitskräfte nach Australien zu schicken. Empört lehnten sie die Offerte ab.

Da man sich der Deutschenkinder also nicht mittels Abschiebung entledigen konnte, blieben die meisten von ihnen im Land - sei es bei ihren leiblichen Müttern oder in Heimen. Die gesellschaftliche Stigmatisierung der unwillkommenen Mitbürger hielt allerdings noch Jahrzehnte lang an. Auch deswegen erfuhren viele Deutschenkinder von ihrer wahren Abstammung erst nach 1986, als Norwegen es ihnen im Zuge eines neuen Adoptionsgesetzes erlaubte, Einsicht in die Akten des Reichsarchivs zu nehmen.

Inzwischen ist Norwegen bemüht, die Lebensschicksale der Kriegskinder durch den Staat und seiner Bürger aufzuarbeiten. So hat die Regierung 2005 den Deutschenkindern eine finanzielle Entschädigung von maximal 200 000 Kronen (25000 Euro) zugesagt - sofern sie Beweise dafür vorlegen können, dass sie als Kriegskinder besonders gelitten haben. Andernfalls wird der Anspruch auf 2500 Euro begrenzt. Für viele Betroffene ist das angesichts der Diskriminierung, die sie und ihre Mütter erfahren mussten, blanker Hohn.

Sogar norwegische Psychologen verfielen blind dem Rassenwahn.

Daheim war es unerträglich: Norwegische Mütter im Frühjahr 1946 vor der Abreise nach Deutschland. Photo: dana press/SCANPIX NO

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Im Erfolgsgefängnis

Wenn ein Autor gekidnappt wird, um einen Bestseller zu schreiben, dann muss er ein echtes Kreativitätsfeuerwerk zünden / Von Oliver Maria Schmitt

Unser Entführer Filip Cakuli nahm ein Hockerchen und setzte sich so vor Dr. Hollenbach, daß er dasaß wie ein Schuhverkäufer.

"Mein lieber, guter Freund, es ist ganz einfach: Du und dein Kumpel, ihr seid meine Gäste, hier, in der wunderschönen Bergwelt Albaniens. Und wenn deine Leute kein Lösegeld bezahlen wollen, dann mußt du eben selbst für die Kohle sorgen." Jetzt war der Albaner schon beim Du. "Für dich ist das doch ganz einfach. Du hast den besten Roman aller Zeiten geschrieben - übrigens ein fabelhaftes Buch, ich habe es in einem Rutsch gelesen. Der Titel ist wirklich

genial."

"Ja, das sagen alle."

"Und auch die leidenschaftliche Sexszene im Asylantenwohnheim hat mich sehr berührt." Er lachte und wurde zum Breitmaulfrosch. "Fast hätte ich mich wiedererkannt. Mein Lieber! Ganz großes Tennis, wirklich wahr."

"Jaja, schon recht", grummelte der Autor.

"Und wenn du ein so erfolgreiches Buch geschrieben hast" - der Frosch kam immer näher an Hollenbachs Ohr -, "da wird es dir doch nicht schwerfallen, für mich einen noch besseren Roman zu schreiben. Oder einen fast genau so guten." Hundertfünfzig Seiten würden schon genügen, mehr müsse es nicht sein, dann werde er, der Verleger Filip Cakuli, dieses Manuskript "erfolgreich vermarkten". International. Im ganz großen Stil. Er gab seinem Autor einen kumpelhaften Knuff ans Knie. Und jetzt sollten wir beide mal voranmachen. "Ihr junger Freund wird Ihnen bestimmt gerne helfen. Sie beide schreiben - hopphopphopp - einfach den zweitbesten Roman aller Zeiten. Viel Glück! Dalsh faqebardhë!"

"Wir brauchen einen Laptop", sagte Hollenbach.

"Kriegen Sie."

"Und Internet."

"Gibt's hier nicht."

"Ein ruhiges Arbeitszimmer."

"Kriegen Sie."

"Zigaretten, Medikamente, Champagner und Jägermeister."

"Kriegen Sie. Jägermeister müssen wir drüben in Italien holen, Champagner kriegen Sie von meinem eigenen."

"Zwei steile Anzüge in gedeckten Farben: Einreiher, englischer Schnitt, schmales Revers, zwei Schlitze hinten, drei Knöpfe vorne."

"Kriegen Sie."

"Und Erdbeeren."

"Aber warum denn Erdbeeren?"

"Weil es ohne nicht geht."

"Kriegen Sie, kriegen Sie alles."

Cakuli murmelte Unverständliches, spuckte aus und verschwand. Es würde wohl eine ganze Weile dauern, bis er alles beisammen hatte.

"Wieso denn Erdbeeren?" fragte ich den Schriftsteller.

"Weil das bei ,Asterix der Gallier' genauso ist. Ohne Erdbeeren kann man zwar auch Zaubertrank machen, aber er schmeckt dann nicht so gut."

"Und warum die Anzüge?"

"Wenn sich ein Mann wie ein Gentleman kleidet, so wird auch jeder seiner Gedanken eine ähnlich elegante Erscheinung haben - so daß er nichts zu tun braucht, als seine Feder zu ergreifen und zu schreiben, wie er selbst ist."

"Was Sie nicht sagen."

"Sagt Laurence Sterne, Autor des Longsellers ,Tristram Shandy'. Und er hat recht. Kennstu Mike Batt? Kennstu natürlich nicht, das ist der Musiker, der ,The Wombles' vertont hat. Als Batt die Musik zur Serie komponierte, hat er sich jeden Tag ein zentnerschweres Wombleskostüm übergezogen und sich damit vors Klavier gesetzt. Nur so konnte er es hinkriegen, daß die Musik auch voll womblesmäßig klang.

"Was hatten Sie denn an, als sie den besten Roman aller Zeiten schrieben?"

"Nichts. Ich habe nackt geschrieben. Aber fürs nächste Buch will ich einen anderen Stil."

Zu unserem Erstaunen lieferte Cakuli das Geforderte schon am darauffolgenden Tag - aber alles nur so ähnlich, als zweite Wahl, als Schwundstufe. Die Erdbeeren kamen als Marmelade, die Anzüge sahen aus wie vom Gemeindebasar, und als Arbeitsraum wies man uns - was sonst? - einen großen Halbkugelbunker zu. Davon gab es hier ja genug. Darin standen ein alter Küchentisch und zwei Stühle, ein dreibeiniger Sessel und unser Esel Koco, der sich wohl verlaufen hatte. Über dem Eingang hatte Cakuli ein Schild mit der Aufschrift "Kreativbunker" anbringen lassen. Das fand er anscheinend witzig. Und auf dem Küchentisch eine Reiseschreibmaschine Marke "Triumph Gabriele".

"Was ist das denn für ein schwules Teil?" schrie Hollenbach. "Packt das sofort wieder ein. Wollt ihr mich verarschen? Ich schreib doch nicht mechanisch, Mann!"

Das sei eine absolute "Erfolgsschreibmaschine" erklärte Cakuli, berühmte Bestsellerautoren wie Johannes Mario Simmel und Astrid Lindgren hätten ihre größten Erfolge auf einer "Gabriele" geschrieben, das müsse uns doch "inspirieren". Aber er kam bei Hollenbach nicht damit durch. Offenbar hatte er Mühe, ein Laptop für uns aufzutreiben. Möglicherweise hing das mit der schlechten Stromversorgung zusammen, Elektrizität gab es immer nur stundenweise. Deshalb verlangte Hollenbach auch zusätzlich noch einen eigenen Generator.

Tage später stand auf dem Küchentisch ein neues, schreibmaschinenartiges Gerät. Angeblich ein Laptop. Zum Hochfahren mußte man die prähistorische Rechenmaschine vorglühen und die Belüftungsschlitze weit öffnen. Den Betriebsgeräuschen nach funktionierte es dampfgetrieben. Der Makroprozessor war mit einer dachpappengroßen Floppy Disk zu starten, man operierte direkt auf der DOS-Ebene, und der Bildschirm flimmerte grünlich und fahl wie in alten Astronautenfilmen.

Tag für Tag saßen wir im Kreativbunker, sahen in unseren Altkleideranzügen aus wie anatolische Gemüsehändler und warteten auf Inspiration. Auf Eingebungen. Auf frei fliegende Musenküsse. Doch je länger wir saßen und gegen die Bunkerdecke starrten, desto mehr verfestigte sich die Gewißheit, daß wir absolut keinen Plan hatten, was wir schreiben sollten. Vom Tod des Großvaters? Über eine Reise nach China? Einen Ausflug ins Eis? Eine Zugfahrt ins Nichts? Alles schien gleichermaßen möglich und sinnlos. Jetzt wurde mir klar, warum mich die Welt der Literatur nie beschäftigt hatte: Sie war mir unheimlich. Womit nur anfangen? Als Romancier konnte man ja schlechterdings über alles schreiben, was es auf der Welt gab - mußte dann aber davon ausgehen, daß das niemanden auf der Welt interessierte.

Am vierten tatenlosen Tag im Bunker übernahm ich die Initiative, schließlich war ich Hollenbachs offizieller Coach. Der Musensohn döste vor der Maschine, ich rüttelte ihn wach und sagte: "Hollenbach! Ich hab's: Sie müssen einfach etwas Interessantes schreiben, etwas, das alle unmittelbar packt und anspricht."

"Echt? Ja, jetzt, wo du's sagst. . .", sagte Hollenbach und verdrehte die Augen. Nein, er habe es lange genug probiert, es sei nun mal so: Ohne "Ausgangsmaterial" ginge es einfach nicht. "Ich habe meinen Erfolgsroman doch total zusammengesampelt, hab mich überall bedient."

"Und wenn wir zum Beispiel ganz lösungsorientiert mit Phantasie-Modulen arbeiten? Uns einfach systematisch was ausdenken?"

"Ausdenken, ausdenken!" blaffte der Autor. "Was soll das denn jetzt heißen! Glaubst du vielleicht, ich hab Lust, mir irgendeine Scheiße auszudenken? Irgendeinen daherphantasierten Schwachsinn? Das kann doch jeder Trottel!" Nein, Literatur müsse "relevant" sein, gut recherchiert, faktenschwer - und "geil wie das Leben". Bereits als Kind habe er Schreibversuche unternommen. "Anfangs wollte ich beim Schreiben immer verständlich sein. Aber meine Mammi hat gesagt: ,Wenn du schon nichts mitzuteilen hast, dann sollte es wenigstens möglichst unverständlich sein.' So lehrte sie mich das moderne dekonstruktivistische Schreiben, das heute leider als überwunden gilt. Tja, kamman nix machen", seufzte der Ex-Dekonstruktivist.

"Es hilft nichts, wir müssen in die Gänge kommen, sonst sitzen wir in zehn Jahren noch hier. Machen wir's konkret, lassen Sie uns am besten gemeinsam einen Plot erstellen", rief ich und wunderte mich selbst über meine Entschlossenheit. "Nehmen wir. . . nehmen wir einfach mal einen Mann. Einen Mann, der -"

"Nein, wir nehmen eine Frau", fuhr Hollenbach dazwischen, kaum daß ich mein erstes Kreativitätsfeuerwerk zünden konnte. "Es sind zu siebzig Prozent Frauen, die Bücher kaufen - und übrigens auch verkaufen!"

"Also gut, eine Frau. Sagen wir, diese Frau ist. . . mmh. . . tatatataa: zweiundfünfzig Jahre alt und lebt im. . . im Vogtland."

"Auf keinen Fall Ossis, da krieg ich Krämpfe. Sie lebt im Siegerland, dem Vogtland des Westens."

Ich war begeistert. Es klappte! Kreativ spielten wir uns die Bälle nur so zu: "Genau, im Siegerland!" rief ich. "Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, also zwei Heranwachsende, die allmählich dabei sind, in die Welt aufzubrechen."

Hollenbach tippte etwas in die Dampfmaschine. "Okay. Haustiere?"

"Ja, und zwar einen Golden Retriever namens Fünki."

"Meinetwegen."

"Und da gibt es noch eine Nachbarin. Achtunddreißig Jahre alt und erst kürzlich mit ihrem Mann Wilfried, ihren Kindern Lukas und Lea und der Schäferhündin Andrea aus Bremen zugezogen, weil Wilfried im nahegelegenen Maschinenbaubetrieb eine Stelle als Chefzerspaner bekommen hat."

"Aha."

So ließ ich meinen Ideen freien Lauf, entwarf Plots, Szenen und Schicksale - bis wir nach einer Stunde verblüfft feststellten, daß uns diese dahergelaufene Frau aus dem Siegerland und ihr dröges soziales Umfeld nicht im Geringsten interessierte. Verdammt. So ging es also auch nicht.

Tage und Wochen waren vergangen, wir saßen im Bunker und quälten uns ab mit einer Geschichte zweier lesbischer Ärztinnen, die mit einem biodieselgetriebenen Raumschiff ins Mittelalter entführt worden waren, um dort den wandernden Magier Hansi Potter in ein längeres Gespräch über Humboldt und Gauß zu verwickeln, weil . . . - da stürmte plötzlich Cakuli herein, knallte zwei Flugscheine auf den Tisch und sagte: "Sie sind frei, Sie können sofort gehen."

"Aber wir sind doch gerade erst dabei, den Hauptkonflikt anzulegen", empörte sich Hollenbach. "Wir sind noch in der Entwurfsphase."

"Ich bin nicht interessiert. Ihr Land und ihr Verlag haben sich geeinigt und sich die Lösegeldsumme geteilt. Die Überweisung ist eingegangen, Sie können gehen."

Als wir im Flugzeug nach Frankfurt saßen und Albanien unter uns immer kleiner wurde, schaute Hollenbach verbittert aus dem Fenster. "Was für eine Frechheit, daß diese Verlagsgauner nicht an mich geglaubt haben. Ich hätte schon noch einen Erfolgsroman abgeliefert. Glaub mir, ich hätte uns beide garantiert freigeschrieben."

"Sie haben bestimmt recht."

"Aber das werde ich diesen Typen noch heimzahlen, ich schwör's dir! Unseren Superstoff mit den zwei Ärztinnen behalte ich natürlich für mich. Das nächste Manuskript, das die von mir kriegen, wird der schlimmste und dümmste und unverkäuflichste Roman aller Zeiten."

"Das klingt vielversprechend. Wovon wird er handeln?"

"Von einer drögen Frau aus dem Siegerland, ihrer komischen Nachbarin und diesem idiotischen Chefzerspaner. Und alles voll dekonstruktivistisch! Die werden sich noch wundern, diese Gauner."

Oliver Maria Schmitt, Jahrgang 1966, war lange Chefredakteur des Satiremagazins "Titanic". Unsere Erzählung ist eine Variation auf seinen neuen Roman "Der beste Roman aller Zeiten", der im Verlag Rowohlt Berlin erscheinen wird.

Die große Sexszene im Asylantenwohnheim hat mich sehr berührt.

"Was ist das denn für ein schwules Teil?", schrie Hollenbach.

Das nächste Manuskript wird der dümmste Roman aller Zeiten!

Tage und Wochen waren vergangen, wir saßen im Bunker und quälten uns ab mit einer Geschichte zweier lesbischer Ärztinnen, die mit einem biodieselgetriebenen Raumschiff ins Mittelalter entführt worden waren, um dort den wandernden Magier Hansi Potter in ein längeres Gespräch über Humboldt und Gauß zu verwickeln. Foto: Theodor Barth/laif

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Oskar Roehler über

Familie

von Rebecca Casati

Herr Roehler, Sie werden in wenigen Tagen 50.

Genauer gesagt am 21. Januar.

Am selben Tag hat Ihr neuer Film "Lulu und Jimi" Premiere. Er ist bunt, handelt von einer großen Liebe und dem Glück. Dabei bohren Sie sonst in Ihren Filmen penetrant dahin, wo es weh tut.

Auf etwas wackligen Beinen habe ich tatsächlich versucht, das Publikum zu erfreuen. Anders als sagen wir mal Til Schweiger, der seit Jahren weiß, wie er sein Publikum kriegt, bin ich immer eher autistisch meinen Weg gegangen.

Bekannt wurden Sie mit "Die Unberührbare", dem filmischen Portrait Ihrer Mutter Gisela Elsner, das sehr persönlich ist. Und mit ihrem Selbstmord endet.

Das ist es ja auch, was die Kritiker mir immer vorwerfen.

Dass Ihre Filme eine Art Selbsttherapie sind?

Ja, genau. Manche finden es gut, andere fragen: Wie kann jemand über so persönliche Dinge so hautnah berichten? Was ist das für eine Nabelschau, was ist das für eine Zumutung . . . Kann ich ehrlich gesagt auch alles vollkommen nachvollziehen. Ich musste einiges abarbeiten. Und in letzter Zeit möchte ich die Leute vor allem erfreuen.

Werden Sie leichten Herzens 50?

Auf jeden Fall, weil ich, wie ich glaube, heute souveräner bin. Außerdem verdichtet sich meine sinnliche Wahrnehmung im Alter. Denkprozesse kommen in Gang, die weit in die Zeit zurückreichen, Räume, die sich Stück für Stück füllen; erst kommen die Gegenstände, dann die Farben, die Jahreszeit . . . und plötzlich werden konkrete Erinnerungen daraus, an meinen Vater, an Reisen, an irgendwelche komischen Wochenendbesuche bei Freunden meiner Großeltern. Wie ihr Pool im Keller aussah.

Ihre Großeltern waren sehr bürgerlich. Der eine Großvater war Siemens-Manager, der andere ein Gartenzwergfabrikant. Ihre Eltern hingegen, die Schriftstellerin Gisela Elsner und der Lektor Klaus Roehler, waren so etwas wie das Glamourpaar der 68er. Was bedeutet Ihnen der Begriff: Familie?

Etwas, das schon immer von Widersprüchen durchsetzt war. Mir wurde, als ich vier Jahre alt war, in gewisser Weise das Leben gerettet von meinem Großvater väterlicherseits, dem mit den Gartenzwergen, bei dem meine Eltern mich geparkt hatten.

Das war bei Nürnberg, oder?

Ja, im Örtchen Reuth. Mit diesem Großvater habe ich die schönsten Jahre meiner Kindheit verbracht, er ist mit mir singend durch den Wald gelaufen. Gleichzeitig bewahrte er in seiner Schreibtischschublade, unter den Briefmarken, immer noch ein kleines Bild vom Führer auf und las heimlich Will Vespers Hitlergedichte.

Wo waren Ihre Eltern eigentlich hin?

Nach Frankfurt gezogen, in ein Sechziger-Jahre-Hochhaus an der Autobahn.

War das rebellisch gemeint?

Nein, sie hatten einfach überhaupt keine Kohle. Die haben sich aus Kleiderbügeln Schränke gebaut, so pleite waren sie.

Wie ist Ihnen das damals alles erklärt worden?

Gar nicht. Meine Eltern haben sich nicht gerade ein Bein ausgerissen, um mit mir Kontakt zu halten, und irgendwann bin ich allergisch geworden und hab' zu meinen Großeltern gesagt: Passt bloß auf, dass die hier nicht herkommen, ich möchte sie nie mehr sehen. So verbrachte ich zweieinhalb wunderschöne Jahre, Idylle pur. Dann hat mein Vater sich eingebildet, dass er mich doch wieder erziehen muss. Ich musste zu ihm nach Berlin ziehen, die ganzen Schriftsteller kennenlernen. Das war 1967, da ging gerade die Post ab.

Drittes Reich, Wirtschaftswunder, die 68er: An Ihrer Familie könnte man lückenlos die jüngere deutsche Geschichte erzählen.

Ja. Wobei meine Eltern im Grunde gar keine echten 68er waren. Meine Mutter war nie wirklich links, sie wurde nur irgendwann von ihrem westdeutschen Verlag fallengelassen, während man sie im Osten und in Russland immer noch gerne las. Mein Vater wollte in diesem Milieu vor allem Frauen abziehen.

Sie hassen die 68er, oder?

Es war bestimmt auch eine coole Zeit, aber ich hatte zu viele Negativbeispiele in meiner Umgebung. 1967, mit sechs, sieben, kam ich zu meinem Vater nach Berlin und war völlig auf mich allein gestellt. Meine Mutter war mit irgendeinem Typen abgehauen, mein Vater feierte irgendwo Partys. Ob ich in die Schule ging oder nicht, war allen völlig egal. Ich wollte es, bin aber immer nach ein, zwei Stunden völlig frustriert nach Hause, weil ich mich nicht konzentrieren konnte, bei meinen ganzen Problemen daheim. Ich hab ziemlich früh angefangen, mit ein paar anderen Jungs Autos zu knacken. Handtaschen zu rauben. Wir hingen auf dem Spielplatz rum, am Rand stand Onkel Herbert. Der zog ein Bein nach und beobachtete die kleinen Mädchen, ihm lief richtig der Geifer aus dem Mund. Die drei Jahre älteren Jungs, denen ich mich angeschlossen hatte, haben ihn irgendwann zusammengeknüppelt, bis er fast verblutet war. Schlimme Sachen. So richtig: Berlin.

In welchem Stadtteil war das?

Friedenau.

Also da, wo in den sechziger und siebziger Jahren alle gesellschaftskritischen Schriftsteller wohnten, Max Frisch, Günter Grass, Uwe Johnson . . .

Bei Grass in der Niedstraße waren wir jedes Wochenende. Er hatte hinten so einen komischen Hinterhof, mit Brandmauern und Kartoffelfeuer, dieses ganze ostpreußische Zeug eben, auf das er so stand.

Hat Ihr Vater Grass nicht auch lektoriert?

Ja.

Sind Sie nach Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" benannt?

Richtig, das Buch erschien im Jahr meiner Geburt.

Wie haben Sie Grass als Kind empfunden? Hatte er Charisma?

Ich fand ihn sehr langweilig. Uwe Johnson hingegen war extrem faszinierend, der hatte eine irre Aura, er war so leise und so ganz da.

Ihr Vater war ein sehr enger Freund Rudi Dutschkes. Und bewegte sich auch im RAF-Milieu, richtig?

Er war sogar irgendwann mal Kassenwart bei der RAF. Mit Gudrun Ensslin war er auch mal ein halbes Jahr zusammen.

Hat sich irgendjemand von diesen vielen Leuten mit Ihnen beschäftigt?

Die haben sich nicht wirklich für Kinder interessiert zu dieser Zeit, in diesem Milieu, nur für sich selbst. Allein ihre ganzen lächerlichen sexuellen Experimente!

Haben Sie etwas davon mitbekommen?

Ja klar. Ich wurde beispielsweise ins Schlafzimmer zitiert, da saßen dann wildfremde Frauen mit kurzen Haaren, die ich gerade noch in Latzhose durch den Flur hatte marschieren sehen, plötzlich nackt auf dem Bett meines Vaters. Der da ebenfalls nackt rumhockte mit seiner Whiskyflasche und mir die schönen Brüste von diesem oder jenem Mädchen zeigen wollte. Wahnsinn, solche bekifften Angelegenheiten jenseits jeder gesellschaftlichen Relevanz!

Dabei schämt man sich in dem Alter schon, wenn zwei Leute im Fernsehen knutschen.

Es ist einem als Kind unglaublich peinlich, das stimmt. Dafür kann man sie schon hassen, die 68er, wenn man das selber erlebt hat. Und auch für ihre Besserwisserei, ihre endlosen Diskussionen und ihre Nichtwahrnehmung außerhalb ihres politischen Wirkens, dieses komische Raster, durch das jeder durchfiel.Wie die auch aussahen, die hatten alle diesen existentialistischen Gesichtsausdruck; wenig Humor, bilde ich mir jedenfalls heute ein. Sie hatten halt wenig zu lachen, mit diesen ganzen Idealen auf den Schultern.

Haben Sie bei Ihrer Mutter je die Sache mit den Haaren verstanden?

Sie trug immer riesige Perücken. Meine Großmutter trug schon welche, die hat sich auch nie ohne gezeigt.

Wirkte das bedrohlich?

Ich fand es ganz schrecklich, muss ich sagen. Sonnenbrille, Perücke - da war überhaupt kein Drankommen mehr. Weil ich so stark die Sinnlichkeit bei meiner Mutter vermisst habe, entwickelte ich früh einen unheimlich scharfen Blick für Frauen, die diese Sinnlichkeit hatten. Zu denen habe ich mich dann auch immer wahnsinnig hingezogen gefühlt. Häufig waren das die Mütter von irgendwelchen Cousinen oder Cousins, die zu Besuch waren. Wenn sie abfuhren, war ich dann immer sehr unglücklich.

Wenn es gut läuft, hat man irgendwann seine Eltern durchschaut, oder?

Hm. Ja, wahrscheinlich. Mit so einer Enttarnung setzen sofort die Enttäuschung und ein Desinteresse ein, aber auch eine Katharsis, die Erkenntnis: Das lag ja gar nicht an mir, das waren ja die . . .

Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Ihnen das gelang?

Bei meiner Mutter habe ich es nie geschafft. Sie war irgendwie zu stark und hatte sich zudem auch noch unglaublich gepanzert. Sie war dermaßen autark und suggestiv, dass man sie in ihrem Redefluss überhaupt nicht mehr unterbrechen konnte. Plötzlich war man nur noch Publikum, sie zog einen rein in ihre Welt, die ja später zu einer Wahnwelt wurde. Sie hat mir stundenlang und ganz plastisch erklärt, dass zu Hause in ihrer Wohnung gerade der Verfassungsschutz alles durchsucht und sogar ihre Kleider auftrennt. Ein Wahnsinn, aber so, wie sie es rüberbrachte, total schlüssig.

In "Die Unberührbare" gibt es eine Szene, in der die Mutter ihren bereits erwachsenen Sohn, einen absolut verdrucksten, stotternden Sonderling, runterputzt.

Lars Rudolph von der Volksbühne spielte den. Genial hat er das gemacht.

Dass Sie sich selber so skurril abbilden konnten, muss heißen, dass Sie mittlerweile irgendwie drüber stehen, oder?

Vielleicht. Das Selbstbewusstsein, Dinge in die Welt zu stellen, hatte ich nicht, solange meine Mutter noch lebte. Als sie starb, war ich noch ein richtiges Bürschchen. In dem Moment, als ich den Anruf von meinem Mitbewohner bekam: Du, es ist was ganz Schlimmes passiert, deine Mutter ist tot - da war ich dann wie erlöst. Anders wäre ich meinen Komplex wohl auch gar nicht losgeworden.

Wenn man seine Erinnerungen abbildet, relativieren Sie sich dann?

Ja, sie verändern sich. Man entdeckt irgendwann eine lustige Seite daran. Wenn man schon kein cooler Hund sein soll, kann man auch als Clown durch die Welt gehen; das zu merken, ist ganz erleichternd. Aber ich musste mich schon sehr lange auf eine bestimmte Art gerieren, um mich von einigen Sachen befreien zu können.

Würden Sie sich heute als bürgerlich bezeichnen?

Ja, schon ganz früh hatte ich bürgerliche Vorstellungen vom Leben, wohl von meinen Großeltern übernommen.

Was genau ist an Ihnen bürgerlich?

Der Rahmen. Die Ordnung, die in jedem Fall erhalten sein muss. Sonst kommt sofort der Nervenzusammenbruch.

Wie positionieren Sie sich politisch?

Ich wüsste nicht, wo ich es tun sollte. Ich bin vor allem erst mal ein freiheitsliebender Mensch. Ich lebe dankbar in einer offenen Gesellschaft, ohne diese ganzen Vorurteile und Tabus, die es bis vor kurzem noch gab. Andererseits bin ich sehr misstrauisch gegenüber dem Überindividualismus, der in unserer Gesellschaft so selbstverständlich ist. Dagegen habe ich schon früh eine Skepsis entwickelt, weil ich gemerkt habe: Wenn man nicht ganz so viel für sich beansprucht, kann man manchmal besser leben.

Was genau meinen Sie damit?

Wenn man eine Beziehung hat, die über viele Jahre dauert, ergeben sich früher oder später Hindernisse. Die überwindet man meiner Meinung nach nicht unbedingt, indem man sich die Frage stellt: Liebe ich den oder die auch noch genügend? Ich finde, dass heute auf die Art Beziehungen viel zu schnell als

gescheitert betrachtet werden. Ob man alle paar Monate einen neuen Partner sucht oder bei einem bleibt, ist für mich nicht nur eine Frage von genug Liebe, sondern auch von Haltung. Ich fand es immer wahnsinnig cool, dass meine Großeltern zusammenblieben, obwohl sie, nachdem mein Großvater aus dem Krieg wiedergekommen war, körperlich nicht mehr wirklich zusammenkamen. Die Leute heute sind alle so wahnsinnig überkritisch mit dem anderen, sie gehen mit ihrer Kritik auch immer nach

draußen, es behält niemand mehr etwas für sich oder denkt mal einen Moment länger nach. Die Exzentrik, das eigene Ego wird heute immer über alles gestellt.

Die Selbstentfaltung gilt auch als eine der Errungenschaften von '68.

Sie war sogar die Inkarnation.

Haben Sie selbst nie ichbezogen gelebt?

Doch, in den frühen Achtzigern. Das war eh ein schlimmes Jahrzehnt, jedenfalls in Berlin. Mein Leben spielte sich in ein paar Schöneberger Bars ab, wo es nur einsame Seelen gab und wo die Barkeeper irgendwann die wahnsinnigsten Songs von Anita Lane oder von Sex and the City Solution spielten und alle ganz viel Drogen und Alkohol intus hatten. Da war ich absolut einsam.

Wovon haben Sie gelebt?

Man darf es gar nicht laut sagen: Ich habe bestimmt fünf Jahre lang Sozialhilfe bezogen, wenn nicht noch länger. Oder auch mal rumgejobbt, zum Beispiel in einer Peepshow am Bahnhof Zoo, der Staudinger Liveshow neben Burger King.

Was gab es da für Sie zu tun?

Ich habe den Mädels was zu essen besorgt und das Sperma von den Plastikwänden gewaschen, in Handschuhen.

Warum haben Sie ausgerechnet dort angeheuert?

Weil ich mich von diesem Milieu angezogen fühlte. Es war die Alternative für schüchterne Jungs, die nicht wissen, wie sie mit Mädchen reden sollten oder aus anderen Gründen kein Glück in der Liebe haben. So einer war ich von 16 bis 25. Ich bin bei Mädchen immer auf Ablehnung gestoßen, weil ich so neurotisch und unsicher war. Also hatte ich einen Mangel an sexueller Erfahrung, und so geriet ich in die Staudinger Liveshow, um dort die Mädchen anzugucken. Ab da war ich regelmäßig dort, eben immer, wenn ich Geld hatte. Und irgendwann kam ich dann darauf, dass ich eigentlich auch gleich dort arbeiten könnte.

Wie pragmatisch.

Naja; von heute aus gesehen eher sehr merkwürdig. Aber in ganz Berlin herrschte in den Achtzigern eine komische Endzeitstimmung. So, als ob man durch eine amerikanische Industrielandschaft fährt und sich fragt: Wie konnte ich nur so weit weg von allem geraten? Diese Ära hat nichts hinterlassen, sie fehlt heute niemandem; sie hatte keine echte Bedeutung. Schade, da hat man also Jahre in so einer Bedeutungslosigkeit verbracht.

So ein bisschen wie in "Herr Lehmann"?

Ja. Wobei die Szene, in der ich damals verkehrte, wohl noch abgehobener war. Die Staudinger Liveshow wurde dann irgendwann zur kulturellen Institution, Blixa Bargeld saß plötzlich da rum, Nick Cave machte sich in einer Kabine einen Druck. Völlig destruktiv, das Ganze, völlig krank. Erst der Mauerfall hat wieder Energie in die Stadt gepumpt. Ich fing damals auch allmählich an, Karriere zu machen und hatte schon zwei, drei Drehbücher verkauft.

Gibt es heute in Deutschland Film-Clans? Und nützt es einem als Filmemacher, sich irgendwem anzuschließen?

Es gibt die X-Filme, es gibt die Berliner Schule, Teamworx um Nico Hoffmann. Ich bin immer dazwischen rumscharwenzelt. In den Eichinger-Clan kommst du nur, wenn du erfolgreich bist. Bei mir stand das ein bisschen auf der Kippe mit "Elementarteilchen", den ja Eichinger produziert hat. Aber da ich offenbar ein ganz guter Autor bin, juckt es ihm anscheinend immer mal in den Fingern, was gemeinsam zu machen.

Wie viele Zuschauer hatte denn "Elementarteilchen"?

Eine knappe Million.

Das ist doch gut für Deutschland.

Für Deutschland ist es super, für Bernd Eichinger ist es die Untergrenze. Aber die haben schon Gewinn gemacht bei der Constantin, da das Buch ja ein Bestseller war und der Film daher auch ungesehen in alle möglichen Länder verkauft wurde. Ihre Mutter wurde irgendwann nicht mehr verlegt. Fürchten Sie sich, mit ihr vor Augen, auch davor, eines Tages künstlerisch ausgeblendet zu werden?

Ach, das ist wohl für jeden Künstler das Schlimmste, was passieren kann, weil man ja immer viele andere Überlebensmöglichkeiten für sich ausschließt. Allerdings sehe ich es mittlerweile gelassener, weil ich nicht mehr so jung bin und auch gerne schreibe. Wenn ich mein Geld nicht mehr mit dem Filmemachen verdienen würde, wäre es vielleicht nicht schrecklich schlimm. Aber es wäre ein großer Kummer, draußen zu sein.

Oskar Roehler wurde in Starnberg geboren. Er begann Anfang der achtziger Jahre mit dem Schreiben und Mitte der neunziger Jahre mit dem Filmemachen, beides als Autodidakt. Für "Die Unberührbare" (2000) mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle erhielt er den Deutschen Filmpreis in Gold. Immer wieder scheiden sich die Geister an Roehlers Filmen wie "Der alte Affe Angst" (2003) "Agnes und seine Brüder" (2004) oder seiner Adaption von Michel Houellebecques "Elementarteilchen" (2006). Roehler ist seit zehn Jahren mit der Modemacherin Alexandra Fischer verheiratet, das Paar lebt in Berlin.

"Kinder interessierten die 68er nie, es ging ihnen mehr um Experimente."

"Als ich hörte, dass meine Mutter tot war, fühlte ich mich erlöst."

"Mädchen lehnten mich ab - ich war denen zu unsicher und neurotisch."

Ein Winternachmittag im Berliner Hotel de Rome. Oskar Roehler ist groß, schmal und sorgfältig gekleidet. Seine Stimme und sein Lachen sind laut. Die Bilder in dem Clubzimmer neben der Bar findet er erst sehr schön, dann ist er sich doch nicht mehr sicher. Er fragt den Kellner, wie genau dieses Getränk namens Cola Zero schmeckt. Die Verbindungstür zur Bar soll bitte "Auf keinen Fall!" geschlossen werden. Okay, Diva, denkt man. Stimmt aber gar nicht; er ist sehr umgänglich. Er sieht jünger aus als 50. Hat aber ein bisschen mehr erlebt als andere in dem Alter. Foto: Katja Hoffmann/laif

Roehler, Oskar: Interviews Roehler, Oskar: Familie Studentenbewegung 1968 in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Chemie stimmt nicht

Die deutsche Chemiebranche wird immer stärker von der weltweiten Wirtschaftskrise getroffen. "Ich würde die Situation mit einem Tsunami vergleichen", sagte Lanxess-Chef Axel Heitmann der SZ: "Es geht darum, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten." Der Chemiekonzern, hier eine Versuchsanlage in Leverkusen (Foto: dpa), plane in einigen Bereichen Kurzarbeit. "Die Lage ist weiterhin angespannt und schwer einzuschätzen", teilte auch BASF-Chef Jürgen Hambrecht mit. Der Konzern gab am Montag Kurzarbeit und die Schließung von Anlagen bekannt. Betroffen von den Einschnitten sind vor allem Standorte, die für die Autoindustrie produzieren. Beim Lackhersteller BASF Coatings in Münster wird 1500 Beschäftigten von Februar an Kurzarbeit verordnet, die dann vier statt fünf Tage in der Woche arbeiten. Wie es hieß, gebe es mit den Betriebsräten "vorbereitende Verabredungen" für Kurzarbeit auch in Ludwigshafen. (Seiten 20, 26) haz/SZ

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Kommentare

Büro für die Welt

Satyam-Skandal schockiert Indiens Wirtschaft, bedroht sie aber nicht

Von Oliver Meiler

In Indien nennen sie ihn jetzt den Jahrhundertbetrüger, auch den großen Lügner, einen Mann mit zwei Gesichtern. Ramalinga Raju, einst einer der gefeierten Unternehmer im Land, ist in allen Medien, weil er die Bilanzen seiner Software-Firma Satyam über viele Jahre hinweg gefälscht hat. Dreist, im großen Stil, um Milliardenbeträge in Dollar. Und da Raju, der nun in einem Gefängnis in Hyderabad sitzt, seine Machenschaften offen eingestanden hat, spekuliert die Welt über die Standfestigkeit einer Branche, die erheblich zum Aufstieg Indiens vom verstaubten Entwicklungs- zum innovativen Schwellenland beigetragen hat.

Der Skandal offenbart ein strukturelles Problem: Indiens Datendienstleister, Outsourcer und Callcenter-Betreiber sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel zu schnell gewachsen. Kleine Familienbetriebe in Bangalore, Mumbai und Hyderabad entwickelten sich rasch zu Weltkonzernen mit Zehntausenden Mitarbeitern und gigantischen Wachstumszahlen. Indien wurde dank niedriger Preise und gut ausgebildeter Ingenieure zum "Backoffice der Welt".

Raju etwa, der seine Dienste noch billiger anbot als die Konkurrenz von Tata Consultancy Services, Wipro und Infosys, holte sich Aufträge von mehr als einem Drittel der 500 weltweit größten Unternehmen und half diesen aus der Ferne bei der Verwaltung ihrer Daten. Der Bauernsohn wurde über Nacht zum Global Player. Er führte sich aber weiterhin auf wie ein Familienpatron alter Schule, berief fast nur Verwandte in die Firmenspitze und baute auf die Protektion der Lokalpolitik - das alte, undurchsichtige Geflecht. Und darum schockiert die Inder zwar Rajus Fall, wirklich verwundert sind sie aber nicht über die Affäre.

Die indische IT-Branche, die mittlerweile etwa für sechs Prozent der nationalen Wirtschaftskraft steht, erleidet durch den Skandal zwar einen Imageschaden. Ihr Geschäft wird aber intakt bleiben. Wahrscheinlich wird sich der Skandal um Satyam, die Nummer vier im indischen Markt, sogar heilsam auf die ganze Branche und vielleicht auch auf die indische Unternehmenswelt insgesamt auswirken. Denn verschiedene Firmen haben bereits Konsequenzen aus dem Fall gezogen. Einige von Satyams großen Konkurrenten öffnen ihre Bücher und legen Bankdaten vor, um ihre Kunden in den Industriestaaten zu beruhigen. Man gibt in dieser Phase der Selbstenthüllung auch schon mal zu, für einen Auftrag zu aggressiven, unschönen Mitteln gegriffen zu haben. Doch nun sollen die Kontrollmechanismen verbessert, die Strukturen und die Organisation angepasst werden. Der Staat schaut zu und reguliert mit. Es passiert also, was schon lange nötig gewesen wäre.

Springen Satyam Kunden ab, ist die Chance also groß, dass sie bei einem anderen indischen Anbieter landen. In Krisenzeiten zählt, mehr noch als sonst, nur der Preis. Die Inder halten ihre Preise mittlerweile niedrig, indem sie das Outsourcing ihrerseits outsourcen: Sie lagern etwa Callcenter in die Philippinen aus, wo sich viel Personal finden lässt, das gut Englisch spricht und für weniger Lohn arbeitet. Oder nach Kenia, Vietnam, China.

Indien hat außerdem das Glück, bisher wenig von der globalen Finanzkrise getroffen worden zu sein. Das hat drei Gründe: Indiens Wirtschaft lebt erstens zu drei Vierteln vom Binnenkonsum der Milliardenbevölkerung, leidet im Gegensatz zu dem Exportland China also weit weniger unter der Baisse im Welthandel. Die exportorientierte IT-Branche ist eine der wenigen Ausnahmen und mit zwei Millionen Angestellten relativ klein. Zweitens sind viele Sektoren der indischen Wirtschaft stark reglementiert, gerade auch die Banken, was mit der Reformträgheit der Politik zusammenhängt, die sich nun als Segen entpuppt. Drittens muss fast die gesamte Infrastruktur im Land neu gebaut oder verbessert werden, wofür es keinen besseren Zeitpunkt gibt als diesen.

So erwartet Indien zwar eine Delle, einen kleinen Dämpfer im Aufstieg an die Weltspitze, wird aber auch in diesem Jahr stärker wachsen als die meisten Länder dieser Welt.

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Teure Stromreserven

Bonn - Die Netzgesellschaften der deutschen Stromkonzerne könnten einem Gutachten zufolge jährlich einen zweistelligen Millionenbetrag einsparen und damit die Preise für die Verbraucher senken. Es sei problemlos möglich, die sogenannte Regelleistung zu kürzen, erklärte die Bundesnetzagentur in Bonn. Stromnetzbetreiber halten die Regelenergie vor, um kurzfristige Schwankungen bei Angebot und Nachfrage auszugleichen. Laut Gutachten könnten die Betreiber der Stromnetze ihre Regelleistung ohne Sicherheitsrisiko um 400 Megawatt reduzieren.

Dies sei auch möglich, wenn die vier Regelzonen in Deutschland wie bislang erhalten blieben. In der Diskussion ist derzeit ein Zusammenlegen der vier Regelzonen. In diesen stellen die vier großen Netzgesellschaften bislang jeweils getrennt voneinander die Regelenergie zur Verfügung. Sollten die Zonen zusammengelegt werden, müsste dies nur noch einmal geschehen. Nach dem Gutachten der Bundesnetzagentur könnten bei einer einheitlichen Regelzone weitere 400 Megawatt Regelenergie für den Fall zu niedriger Stromeinspeisung ins Netz eingespart werden. Für den Fall einer zu hohen Einspeisung ins Netz betrüge die Einsparung sogar 1000 Megawatt. AFP

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Rezession

Nach Angaben von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) rechnet die Bundesregierung in diesem Jahr wie die EU-Kommission mit einer tiefen Rezession. Die am Montag vorgelegten Zahlen der EU-Kommission stimmten mit denen überein, die die deutsche Regierung an diesem Mittwoch in ihrem Jahreswirtschaftsbericht präsentieren wolle, sagte Peer Steinbrück in Brüssel. Die EU-Kommission rechnet für das laufende Kalenderjahr mit einem Einbruch von 2,3 Prozent beim deutschen Wachstum. SZ

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Einstiegshilfe gesucht

Der Kauf von Aktien wird sich langfristig wieder lohnen

Von Helga Einecke

Fast jeder Anleger, der im vergangenen Jahr sein Geld nicht in Aktien angelegt hatte, kann sich glücklich schätzen. Denn die Kurse der deutschen Aktien stürzten im Schnitt um 40 Prozent ab, ein großer Teil des in Aktien angelegten Geldes verlor dramatisch an Wert. Die meisten Bundesbürger haben alles richtig gemacht. Sie verabschiedeten sich 2008 in Scharen von Aktien oder waren gar nicht erst investiert. Das belegen Zahlen des Aktieninstituts. Nur gut jeder zehnte Deutsche hält Kapitalanteile an Unternehmen.

Die Mehrzahl der Bevölkerung setzt auf festverzinsliche Wertpapiere. Das ist in Zeiten der Finanzkrise eine gute Strategie. Die Kanzlerin höchstpersönlich hat versichert, die Spareinlagen seien sicher und würden vom Staat garantiert. Viel Rendite ist auch bei den Festverzinslichen bald nicht mehr zu holen, weil das Niveau der Zinsen sich gerade deutlich ermäßigt. Deshalb müssen sich schlaue Anleger nun die Frage stellen, wann es denn Zeit wäre, wieder in Aktien einzusteigen. Am besten wäre das dann, wenn die Kurse ihren tiefsten Punkt erreichen. Aber wann ist das?

Das weiß keiner, und deshalb ist es auch so schwer, den richtigen Zeitpunkt zum Einsteigen zu erwischen. Selbst den Profis gelingt das kaum, und deshalb empfehlen sie einen gleitenden Einstieg. Pharma, Versorgungsunternehmen und sogar Energiefirmen gelten derzeit als favorisierte Branchen, weil sie entweder die Rezession besser überstehen oder beim Anspringen der Konjunktur am ehesten profitieren. Auf Dauer überhaupt kein Geld in Aktien zu halten, scheint keine Alternative. Denn langfristig können Beteiligungen an Unternehmen durchaus lohnen. (Seite 26)

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Teures Aufräumen

Die Deutsche Post macht erstmals seit dem Börsengang Verluste

Von Caspar Busse

An diesem Donnerstag beginnt vor dem Landgericht in Bochum der Prozess gegen Klaus Zumwinkel. Der langjährige Chef der Deutschen Post muss sich wegen Steuerhinterziehung verantworten. Angesetzt sind vorerst nur zwei Verhandlungstage, es könnte also ein schnelles Ende geben.

Deutlich länger braucht der Bonner Konzern, um das Erbe der Zumwinkel-Zeit zu bewältigen. Erstmals seit dem Börsengang im Jahr 2000 macht die Post jetzt einen Verlust. Fest steht, dass die Logistikbranche wirtschaftliche Einbrüche besonders deutlich zu spüren bekommt. Läuft die Konjunktur schlecht, wird auch weniger verschickt. So geht die Luft- und Seefracht weltweit stark zurück, auch bei Express-Sendungen verringern sich die Auftragsmengen. Doch die Probleme der Post liegen nur teilweise am schweren Konjunktureinbruch, sie sind auch zu einem erheblichen Teil auf Managementfehler der Vergangenheit zurückzuführen.

Zumwinkels Nachfolger Frank Appel, seit etwa einem Jahr im Amt, ist mit mühsamen und teuren Aufräumarbeiten beschäftigt. Zumwinkel, der den Konzern seit 1990 geführt hatte, hatte weltweit expandiert, war groß in den USA eingestiegen und hatte auch die Postbank vollständig übernommen. Jetzt muss Appel das korrigieren: Das Expressgeschäft in den USA wird aufgegeben, insgesamt 15 000 Arbeitsplätze werden gestrichen. Dazu kommen Abschreibungen im Logistikbereich. Appel verkauft die Postbank gerade an die Deutsche Bank - und muss sich im Gegenzug an dem Geldinstitut beteiligen. Die größte Aufgabe steht dem Post-Chef zudem noch bevor: Er sollte schnell eine neue Strategie präsentieren, für die Zeit nach dem Aufräumen. (Seite 21)

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Europas Wirtschaft schrumpft weiter, mehr Arbeitslose

Brüssel droht Schulden-Sündern

Kommission will gegen Defizite vorgehen / London und Kopenhagen legen Rettungspakte vor

Von Cerstin Gammelin

Brüssel - Die Europäische Kommission will die rasant steigende Neuverschuldung in zahlreichen EU-Staaten konsequent ahnden. Der Stabilitätspakt werde trotz Wirtschaftskrise nicht ausgesetzt, sagte Wirtschaftskommissar Joaquin Almunia in Brüssel. Bereits Mitte Februar könnten die ersten Verfahren gegen Defizit-Sünder eröffnet werden.

Mit seinem Vorstoß reagierte Almunia darauf, dass sich immer mehr europäische Staaten deutlich höher neu verschulden als erlaubt. Grund dafür sind die staatlichen Programme zur Rettung der Banken und zur Belebung der Wirtschaft. "Wir sind in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage, aber wir müssen die Regeln des Paktes einhalten", betonte Almunia. Bisher haben siebzehn europäische Länder staatliche Maßnahmen zur Rettung von Finanzinstituten aufgelegt, die mehr als 300 Milliarden Euro an Hilfeleistungen umfassen. Achtzehn Staaten haben Programme beschlossen, um die Konjunktur zu beleben.

Hilfspakete und in Kauf genommene Einnahmeausfälle summieren sich auf rund vier Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Die durch die Hilfen rapide steigende Staatsverschuldung werde allerdings zu einer ernsten Gefahr für den EU-Stabilitätspakt, sagte Almunia. Es müsse so schnell wie möglich damit begonnen werden, die Schulden abzubauen. Auch die europäischen Finanzminister, die an diesem Dienstag in Brüssel zusammenkommen, beraten Maßnahmen, um die Haushalte zügig zu stabilisieren.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt war Ende der neunziger Jahre bei der Einführung des Euro vereinbart worden. Um die Währung stabil zu halten, müssen die EU-Staaten in wirtschaftlich normalen Zeiten nahezu ausgeglichene Haushalte aufweisen. In Krisenphasen darf das Defizit drei Prozent der Wirtschaftsleistung mittelfristig nicht überschreiten. Der Pakt wurde vor einigen Jahren etwas gelockert, nachdem unter anderem Deutschland die Drei-Prozent-Grenze mehrmals in Folge verletzt hatte.

Von dieser Grenze sind viele EU-Länder inzwischen weit entfernt. Der Kommission zufolge könnte das irische Defizit im laufenden Jahr elf Prozent erreichen. Für Spanien werden mehr als sechs, für Frankreich mehr als fünf Prozent erwartet. Auch Italien liegt mit 3,8 Prozent deutlich über drei Prozent. In Großbritannien, das nicht zur Eurozone gehört, rechnet Brüssel mit einem Minus von knapp neun Prozent. Finanzminister Peer Steinbrück hatte jüngst eingeräumt, dass das deutsche Defizit 2009 auf 2,9 Prozent und 2010 sogar auf vier Prozent ansteigen könnte.

Die gesamteuropäische Wirtschaftsleistung könnte laut EU-Prognose 2009 um 1,8 Prozent zurückgehen. In der Eurozone sei sogar ein Minus von 1,9 Prozent realistisch. Von Mitte 2009 an werde die europäische Wirtschaft wieder wachsen und mit einem "positiven Impuls" in das Jahr 2010 gehen, betonte der Kommissar. Er sehe erste Anzeichen einer Stabilisierung der Finanzmärkte und erwarte zudem, dass die Konjunkturmaßnahmen zügig wirken würden. Europaweit könnte die Krise dreieinhalb Millionen Arbeitsplätze kosten. Die Arbeitslosenquote in der Eurozone wird laut Prognose 2009 um zwei Prozentpunkte auf 9,3 Prozent und trotz Konjunkturerholung 2010 weiter auf zehn Prozent steigen.

Ebenfalls am Montag legte die britische Regierung zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten ein Rettungspaket für angeschlagene Banken auf. Es solle Kredite britischer Finanzinstitute an Unternehmen und Verbraucher garantieren und das Vertrauen im Markt erhöhen, sagte der britische Premier Gordon Brown in London. Wie viel Geld das neuerliche Programm umfasse, ließ Brown offen. Experten gehen von 220 Milliarden Euro aus. Das entspräche der geschätzten Summe von Risiken, die noch in den Büchern britischer Banken stehen. Brown räumte ein, dass der im Oktober mit einem Wert von 42 Milliarden Euro aufgelegte erste Plan die Kreditvergabe der Banken und die Konjunktur nicht ausreichend befördert habe.

Bereits am späten Sonntagabend verabschiedete die dänische Regierung finanzielle Hilfen für Banken und Hypothekeninstitute. Das Paket hat einen Wert von 13,5 Milliarden Euro und soll die Vergabe von Krediten sichern. Untätigkeit würde dazu führen, dass auch wirtschaftlich gesunde Unternehmen Gefahr liefen, nicht mehr ausreichend Kredite zu bekommen, um damit "Betrieb, Arbeitsplätze und Wachstum zu gewährleisten", sagte Wirtschaftsminister Lene Expersen in Kopenhagen.

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INHALT

PERSONALIEN

Kostenkiller der Nation

Peter Orszag soll im Weißen Haus die Ausgaben überwachen. Seite 18

POLITIK UND MARKT

Liberale im Aufwind

Was das Ergebnis der Hessen-Wahl für die Wirtschaft bedeutet. Seite 19

UNTERNEHMEN

Die Reichen knausern

Auktionshäuser leiden unter den Folgen der Finanzkrise. Seite 21

GELD

Kurssturz

Die Aktie der Deutschen Bank fällt auf tiefsten Stand seit 21 Jahren. Seite 23

Kursteil Seiten 22 und 24

Fondsseiten Seiten 24 und 25

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Kurse des Tages

Die Börse registrierte positiv verheißungsvolle Neuigkeiten von Morphosys. Das Biotechunternehmen will in diesem Jahr bis zu 20 Millionen Euro in seine Forschung an neuen Wirkstoffen stecken. Das wäre mehr als doppelt so viel wie im vorigen Jahr. Am Firmensitz von Morphosys in Martinsried bei München sollen 40 Arbeitsplätze neu entstehen.

Die Royal Bank of Scotland (RBS) rechnet für das vergangene Jahr mit einem Rekord-Verlust von umgerechnet bis zu 31 Milliarden Euro. Das ist der größte Verlust eines Unternehmens in der britischen Geschichte. Die Aktie der Bank verlor daraufhin fast die Hälfte ihres Wertes. Der Staat erhöhte seinen Anteil an der Bank von 58 auf 70 Prozent.

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Job und Kind

Schlecht ausgebildete Frauen entscheiden sich eher für Nachwuchs - vor allem bei Arbeitslosigkeit

Von Sibylle Haas

München - Bei Frauen entscheidet der Bildungsgrad über die Familienplanung. Das gilt vor allem in der Arbeitslosigkeit: Dann sind Frauen mit niedrigem Bildungsniveau eher für die Mutterschaft bereit als besser ausgebildete Frauen. Dies ist zumindest das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die am Montag veröffentlicht worden ist.

Würden Frauen mit hoher Bildung arbeitslos, dann konzentrierten sie sich meist auf eine schnelle Rückkehr ins Berufsleben. "Ein Kind kann zu einem solchen Zeitpunkt den endgültigen Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt bedeuten und damit sowohl die eigenen Investitionen in die Ausbildung entwerten als auch die Karrierechancen blockieren", sagte DIW-Familienexperte Christian Schmitt. Der Forscher hat in seiner Studie die Effekte bei Männern und Frauen in einigen europäischen Wohlfahrtsstaaten untersucht. Neben Deutschland wurden Frankreich, Großbritannien und Finnland betrachtet.

Viele gut ausgebildete Frauen schrecke die Vorstellung ab, sich in die finanzielle und soziale Abhängigkeit des Partners zu begeben, erklärte Schmitt. Dagegen könne Arbeitslosigkeit bei Frauen mit niedrigem Bildungsgrad das Kinderkriegen sogar begünstigen. Nicht so gut ausgebildete Frauen mit schlechten Aussichten auf einen schnellen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt seien eher für die Mutterschaft bereit, so Schmitt. Auch Frauen, die schon während der Berufstätigkeit auf die finanzielle Unterstützung eines Partners angewiesen seien, seien im Fall der Arbeitslosigkeit eher bereit für Kinder.

In Deutschland und Großbritannien, in denen Kinderbetreuung und Familie noch immer als "weibliche Pflichten" angesehen würden, sei die Wahrscheinlichkeit, in der Arbeitslosigkeit ein Kind zu bekommen, ausgeprägt. Anders als in Frankreich und Finnland sei in Deutschland und Großbritannien die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen von einem traditionellen Rollenverständnis geprägt. "Deutschland und Großbritannien fördern zwar weibliche Karrierechancen mit Frauenquoten und anderen Maßnahmen. Gleichzeitig bleiben die traditionellen Geschlechterrollen aber kulturell und politisch tief verankert", betonte Schmitt. Dies zeige sich in Deutschland in der "Vorstellung mütterlicher Betreuungspflichten und dem lückenhaften Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung". Arbeitslose Männer schrecken in allen Ländern vor einer Vaterschaft zurück, weil sie befürchten, die Familie nicht ausreichen versorgen zu können, so der DIW-Experte.

Wissenschaftler des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und der Universität Maastricht fanden zudem heraus, dass die Kosten von "Babypausen" die Berufswahl von Frauen beeinflussen. Dass Berufe mit hohen Anforderungen an die Qualifikation Männerdomänen sind, liege oft weder an fehlender Eignung noch an Diskriminierung von Frauen, heißt es in der ebenfalls am Montag veröffentlichten Analyse. Frauen mieden Berufe, in denen die beruflichen Kenntnisse nach einer längeren Abwesenheit entwertet würden und Lohnabschläge nach einer Rückkehr in den Job am höchsten seien.

Kinder können den endgültigen Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt bedeuten. Gut ausgebildete Frauen verzichten daher auch in der Arbeitslosigkeit oft auf Nachwuchs. Foto: Visum

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WIRTSCHAFT

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Werft in Bremerhaven meldet Insolvenz an

München - Die Bremerhavener Werft SSW Schichau Seebeck ist pleite. Das Unternehmen sei zahlungsunfähig und überschuldet, meldete das Amtsgericht Bremerhaven am Montag. Über eine mögliche Rettung soll in den kommenden Tagen der Hamburger Rechtsanwalt Per Hendrik Heerma als vorläufiger Insolvenzverwalter entscheiden. Heerma und die SSW-Geschäftsführung berieten am Montag, ob die Schiffe in den Docks noch fertiggestellt und die gut 300 Arbeiter zumindest vorübergehend weiter bezahlt werden können. Weder Werft noch Insolvenzanwalt wollten sich aber dazu oder zu der Frage äußern, ob die Bremerhavener Werft ein weiteres Mal gerettet werden kann.

Das Umfeld für eine Sanierung ist zur Zeit schwierig. Nach einem Boom in den vergangenen Jahren ist die Schifffahrt seit einem Jahr in einer schweren Krise. Vor allem bei Containerschiffen gibt es Überkapazitäten. Reeder versuchen deshalb seit Monaten, Tausende Neubau-Aufträge bei Werften in aller Welt zu stornieren. Gleichzeitig ist die Finanzierung der Schiffe schwierig geworden. Dafür sind oft dreistellige Millionenbeträge notwendig, die unsicheren Prognosen für die Branche schrecken aber die durch die Finanzkrise verängstigten Banken. Im Juni war deshalb schon die Emder Cassens Werft pleitegegangen, im September die Kieler Werft Lindenau, beides Traditionsbetriebe wie SSW.

Die 1876 in Bremerhaven gegründete Seebeck-Werft war nach dem zweiten Weltkrieg mit der ostpreußischen Schichau-Werft fusioniert und wurde einer der wichtigsten deutschen Schiffbaubetriebe, bis sie im Werftenverbund Bremer Vulkan aufging. Eine 1996 aus dessen Insolvenzmasse hervorgegangene SSW Fähr- und Spezialschiffbau ging 2002 pleite. Die 2003 gegründete Nachfolgegesellschaft spezialisierte sich auf Kreuzfahrt-, Fähr- und Containerschiffe. Vor einem Jahr wurde sie an einen Investor verkauft, der das Werftgelände im Bremerhavener Fischereihafen hatte sanieren wollen. henh

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Deutsche Post transportiert weniger Fracht

Ehemaliger Staatskonzern erwirtschaftet hohen Verlust und wagt vorerst keine Voraussagen für dieses Jahr

Düsseldorf - Die Deutsche Post bekommt den Konjunkturabschwung immer stärker zu spüren. In wichtigen Märkten gingen schon im letzten Quartal 2008 die Transportvolumina bei Luft- und Seefracht zurück - teilweise prozentual zweistellig, so das Bonner Unternehmen. Im Expressgeschäft wurde ebenfalls - mit Ausnahme bestimmter Wachstumsregionen - weniger verschickt. Das wichtige deutsche Briefgeschäft blieb nach Postangaben dagegen stabil.

Zu den Aussichten wollte sich das Management am Montag vor diesem Hintergrund nicht äußern. Der Konzern rechnet für 2009 aber weiter mit einer Rückkehr in die Gewinnzone, und das trotz eines anhaltend schwierigen Umfelds. Auf- oder Abschwünge der Wirtschaft schlagen sich in den Geschäften von Logistikkonzernen mit weltumspannenden Transportnetzen unmittelbar im Geschäft nieder, sie gelten deshalb als Gradmesser der Weltkonjunktur. Eine Prognose für 2009 soll es nicht vor Ablauf des ersten Quartals geben. Der Konzern sieht sich allerdings "gut positioniert, um eine weitere Verschlechterung des wirtschaftlichen Umfelds relativ gut durchzustehen", wie der scheidende Finanzchef John Allan betonte. Die Aussage von Konzernchef Frank Appel, dass 2009 wieder Gewinn gemacht werden soll, gelte weiter, fügte eine Konzernsprecherin hinzu.

Nach eigenen Angaben hat die Post im vergangenen Jahr ihr operatives Ergebnisziel erreicht, dabei sind einmalige Effekte herausgerechnet. Der operative Gewinn vor Zinsen und Steuern (Ebit) liege "leicht über den geplanten 2,4 Milliarden Euro", heißt es. Dazu hätten auch Einsparungen beigetragen. An der Börse sorgte der Konzern deshalb für eine positive Überraschung. Post-Aktien lagen am Montag leicht im Plus.

Unter Berücksichtigung der Sonderbelastungen dürfte die Deutsche Post allerdings tief in die Verluste gerutscht sein. Genaue Zahlen wurden noch nicht vorgelegt. Das operative Minus liege deutlich unter einer Milliarde Euro, hieß es lediglich. Zum Netto-Ergebnis machte der Vorstand keine Angaben. Der Logistikkonzern hatte bereits im November deutlich gemacht, 2008 wegen der 3,9 Milliarden Dollar teuren Sanierung des kriselnden US-Expressgeschäfts erstmals seit dem Börsengang im Jahr 2000 einen Jahresverlust auszuweisen. Die Sanierung des maroden US-Expressgeschäfts laufe "nach Plan", hieß es.

Sanierung nach Plan

Auch die vor dem Verkauf an die Deutsche Bank stehende Tochter Postbank hatte Verluste angekündigt. Die Transaktion war in der vergangenen Woche angesichts der tiefen Finanzkrise neu verhandelt worden. Die Post wird sich nun unter anderem mit etwa acht Prozent an der Deutschen Bank beteiligen und diese aber wieder abstoßen. Die Aktien können ab April und ab Juni verkauft werden.

Finanzierungsprobleme hat die Post nicht - auch wegen der Gelder aus dem Verkauf der Postbank. Die liquiden Mittel lagen Ende 2008 bei etwa 1,4 Milliarden Euro, später flossen dem Konzern 3,1 Milliarden Euro aus den Kassen der Deutschen Bank zu. Die Nettoschulden konnte die Post zum Jahresende auf rund 2,4 Milliarden Euro und damit um etwa 500 Millionen Euro abbauen.

Dies sehen vor allem auch Analysten positiv. Die Experten von Goldman Sachs beispielsweise haben die Einstufung für die Deutsche Post nach der Neuverhandlung des Postbank-Verkaufs auf "Kaufen" belassen. Mit dem neuen Abschluss erhalte die Post früher als bislang vereinbart liquide Mittel, schrieb Analyst David Rigby in einer Studie. Dies stärke die Bilanz des Konzerns und schaffe außerdem Spielraum für die Abwicklung des US-Geschäfts oder Effizienzmaßnahmen. Weitere Einzelheiten will die Deutsche Post am 26. Februar mitteilen. (Kommentare) Reuters/SZ

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Pflichtangebot von Porsche für Scania

München - Der Sportwagenbauer Porsche hat sein Pflichtangebot für die Aktien des schwedischen Lastwagen-Hersteller Scania vorgelegt. Mit 68,52 schwedischen Kronen für die A-Aktien und 67,50 Kronen für die B-Aktien bietet Porsche aber nur den vorgeschriebenen Mindestpreis, der noch unter dem jetzigen Aktienkurs liegt. Porsche war mit Übernahme der Mehrheit an VW zu der Offerte für Scania gezwungen, weil der Wolfsburger Konzern selbst 68,6 Prozent der Stimmrechte an Scania hält. Um den Anstieg des Scania-Kurses zu verhindern, teilte der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking mit, Porsche habe "kein strategisches Interesse an Scania". Intern hat er stets durchblicken lassen, dass ihn das LKW-Geschäft nicht interessiert. Dem VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch dagegen schwebt ein schlagkräftiges Lastwagen-Imperium mit MAN und Scania vor. Inzwischen hat VW sein Geschäft mit schweren Nutzfahrzeugen in Südamerika an MAN verkauft. VW ist am MAN-Konzern beteiligt, der ebenfalls Aktien an Scania hält. Unternehmenskreisen zufolge könnte Porsche alle angedienten Scania-Papiere an Volkswagen weiterreichen. SZ

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Hochtief will Flughafen London-Gatwick kaufen

Frankfurt - Der Bau- und Infrastrukturkonzern Hochtief will den zum Verkauf stehenden Londoner BAA-Flughafen Gatwick übernehmen. Hochtief habe eine Offerte abgegeben, sagte eine Sprecherin des MDax-Konzerns. Angaben zur Höhe des Gebots oder zu weiteren Konditionen machte sie nicht. Der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport, der im vergangenen Jahr ebenfalls Interesse an Gatwick bekundet hatte, winkte dagegen ab. Die Frist zur Abgabe der ersten Gebote ist am Montag abgelaufen. Die Grupo-Ferrovial-Tochter BAA muss sich auf Geheiß der Wettbewerbsbehörde von drei ihrer sieben britischen Flughäfen trennen. Der zweitgrößte Konzernflughafen London-Gatwick, an dem im vergangenen Jahr gut 34 Millionen Passagiere abgefertigt wurden, steht zuerst zum Verkauf. Der deutsche Hochtief-Konzern ist bereits an Flughäfen in Hamburg, Düsseldorf, Athen, Budapest, Tirana und Sydney beteiligt. Für ein Gebot hat sich auch der Flughafenbetreiber Global Infrastructure Partners (GIP) entschieden. Man werde eine Offerte vorlegen, sagte ein Sprecher des Gemeinschaftsunternehmens von General Electric und Credit Suisse. GIP betreibt bereits den Flughafen London-City. dpa

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Das Problem-Flugzeug

Der Militärtransporter "A400M" droht für Airbus zum Albtraum zu werden. Der Flieger wiegt offenbar zu viel

Von Jens Flottau

Frankfurt - Gerade erst hatte Airbus-Chef Thomas Enders einen dieser Auftritte, für die er in der Industrie gleichermaßen geschätzt und gefürchtet wird. Den Militärtransporter Airbus A400M wie geplant zu bauen, sei eine "Mission Impossible", verkündete er mit bemerkenswerter Offenheit. Und damit hat er wohl nicht nur in finanzieller, sondern auch in technischer Hinsicht recht. Nach SZ-Informationen hapert es bei der Maschine nämlich an mehreren Ecken.

Bis zu vier Jahre später als geplant könnte das Flugzeug ausgeliefert werden, was für Airbus und seinen Mutterkonzern EADS voraussichtlich Milliarden an Zusatzkosten bedeuten würde. Als grundlegendes Übel bei dem Projekt gilt, dass die Auftraggeberländer wie Deutschland, Frankreich, England und Spanien die industrielle Arbeit in traditioneller Manier proportional zur Größe der Bestellung zu Hause vergeben durften. Das auf den Schutz der eigenen Industrien angelegte Prinzip mag in der Vergangenheit leidlich funktioniert haben, doch ist der A400M ein so komplexes Flugzeug, dass der Wirrwarr aus Zuständigkeiten und aufwendigen Abstimmungsprozessen nicht mehr haltbar ist.

So sollen es sechs Bereiche sein, in denen Airbus beim A400M noch vor ungelösten Problemen steht: Triebwerk, ein zu hohes Gewicht, Cockpit-Software, Propeller, Sicherheitsausrüstung und militärische Systeme. Airbus will sich zu Details nicht äußern und verweist darauf, dass Nacharbeiten während der Entwicklung normal seien. Beim Triebwerk konzentrieren sich die Probleme auf das Getriebe, bei dem sich die erforderlichen Lasten mehrfach geändert haben, und die Software. Derzeit ist Insidern zufolge die Triebwerks-Software nicht mit den Cockpit-Systemen kompatibel. Das Motorenkonsortium Europrop International (EPI) und Airbus streiten sich seit langem über die Schuldfrage bei den Verzögerungen. Airbus hat diesen Komplex als Hauptproblem dargestellt. Doch Branchenkreisen zufolge stand dahinter der Versuch, auf diese Weise Verhandlungen mit den Abnehmern über bessere Vertragsbedingungen einleiten zu können. Denn beim Triebwerk war es am leichtesten, die Schuld den Lieferanten zuzuweisen, während die Verträge der EADS das alleinige Risiko zuordnen.

Doch damit ist es nicht getan. Der A400M ist nach SZ-Informationen derzeit um zwölf Tonnen zu schwer. Im Laufe des Produktionshochlaufs sollen offenbar aktualisierte Versionen des Flugzeuges gebaut werden, die nur noch fünf Tonnen Übergewicht haben. Dennoch droht der Militär-Airbus in dieser Form nicht mehr die Vorgaben für Nutzlast und Reichweite zu erreichen, auf denen vor allem Deutschland besteht. Hält das Verteidigungsministerium an seinen Forderungen fest, müsste Airbus den Informationen zufolge einen größeren Flügel oder einen schlankeren Rumpf konstruieren, also praktisch ein neues Flugzeug.

Darüber hinaus drohen weitere operationelle Probleme: Simulationen haben Branchenkreisen zufolge ergeben, dass der A400M in der aktuellen Auslegung bestimmte Steilanflüge (der sogenannte "steep approach") nicht ausführen kann, weil die Propeller dabei zu flattern beginnen. Das Fahrwerk sollte ursprünglich wie bei einem Linienbus absenkbar sein, damit Panzer besser in den Laderaum rollen können. Aus Gewichtsgründen wurde diese Hydraulikvorrichtung gestrichen, doch nun muss der Boden womöglich verstärkt werden. Somit droht ein höheres Gewicht.

Abgespeckte Version

Die Flugsicherheitsbehörde European Aviation Safety Agency (EASA) kritisiert dem Vernehmen nach die Art und Weise, wie Sauerstoffflaschen und Feuerschutz angeordnet sind. Einigen sich die beiden Seiten nicht, bekäme der A400M keine zivile Zulassung. Auch die zentrale sogenannte Flight Management Software (FMS) des französischen Herstellers Thales funktioniert den Quellen zufolge noch nicht nach Wunsch, ebenso wenig wie einige der militärischen Systeme.

Airbus-Chef Enders will nun versuchen, eine abgespeckte Version des A400M durchzusetzen und die Kosten besser zu verteilen. Während Frankreich bereits Entgegenkommen signalisiert hat, droht ihm vom größten Kunden Deutschland, der 60 Flugzeuge bestellt hat, Gegenwind. Und nicht wenige in der Branche rechnen damit, dass Großbritannien ganz aussteigen wird. Das Land hat 25 der bislang 192 Maschinen bestellt.

Airbus hat einen Prototypen des Militärtransporters A400M im Juni 2008 in Sevilla vorgestellt. Der Erstflug verzögert sich jedoch immer weiter. Foto: dpa

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HUGO BOSS

Bis zu 150 Jobs fallen weg

Metzingen - Der Modekonzern Hugo Boss baut bis zu 150 seiner mehr als 2800 Arbeitsplätze in Deutschland ab. Für die betroffenen Mitarbeiter sei ein Sozialplan ausgehandelt worden, sagte ein Unternehmenssprecher am Montag in Metzingen im (Kreis Reutlingen. Bereits in der vergangenen Woche hatte Deutschlands größter Modekonzern angekündigt, wegen eines Firmenumbaus Stellen zu streichen. Die im März für fünf Jahre geschlossene Standort- und Beschäftigungsvereinbarung soll aber nicht angetastet werden. Sie gilt für 2500 langjährige Mitarbeiter. Mit der Neuausrichtung sollen Angaben des Unternehmens zufolge Entscheidungsprozesse beschleunigt werden. dpa

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RICHEMONT

Luxus läuft nicht mehr

Zürich - Der Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont gibt sich pessimistisch: "Die Nachfrage nach Luxusgütern ist dramatisch gefallen, und Richemont sieht sich mit den härtesten Marktbedingungen seit seiner Gründung vor zwanzig Jahren konfrontiert", erklärte der Hersteller von Cartier-Schmuck, Jaeger-Lecoultre-Uhren und Montblanc-Füllern am Montag. Der Umsatz für die Monate Oktober bis Dezember sank beim zweitgrößten Luxuswarenhersteller der Welt um sieben Prozent auf 1,552 Milliarden Euro und lag damit deutlich unter den Analystenschätzungen. Auch für die nähere Zukunft rechnet die Firma nicht mit einer signifikanten Erholung. Laut einem Unternehmenssprecher wird auch ein Stellenabbau geprüft. Eine Entscheidung sei noch nicht gefallen. Reuters

Cartier-Angestellte arrangiert Ringe an einem Messestand. Foto: Bloomberg

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T-MOBILE

Google-Telefon

Hamburg/Frankfurt - Die Deutsche-Telekom-Tochter T-Mobile bringt das neue Google-Telefon Anfang Februar nach Deutschland. Der Verkauf sei exklusiv, sagte T-Mobile-Chef Hamid Akhavan. Das T-Mobile G1 werde in Verbindung mit einem Zwei-Jahres-Vertrag angeboten und werde auch in Österreich, Tschechien, Polen und den Niederlanden erhältlich sein. T-Mobile bietet das Gerät bereits in den USA und Großbritannien an. Mit dem G1 will die Telekom den Massenmarkt für das mobile Internet erschließen. Das Telefon wird vom taiwanischen Smartphone-Hersteller High Tech Computer gebaut, hat eine computerähnliche Tastatur und ist das erste mit dem Betriebssystem Android. Reuters

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ZF

Kurzarbeit im großen Stil

Friedrichshafen - Der drittgrößte deutsche Automobilzulieferer ZF rechnet bald mit Kurzarbeit in erheblichem Umfang. Aktuell seien erst 700 Mitarbeiter bei ZF Sachs in Schweinfurt und Eitorf in Kurzarbeit, aber es werde an zahlreichen Standorten verhandelt, sagte ein Konzernsprecher am Montag. Bei ZF in Passau sollen von Februar an 3800 Mitarbeiter in Kurzarbeit gehen. Dort werden Bau- und Landmaschinen gefertigt. Wegen der schwachen Nachfrage nach Pkw und Nutzfahrzeugen wird auch an anderen Standorten von ZF über Kurzarbeit verhandelt. Große Teile der in der Produktion beschäftigten Mitarbeiter würden im ersten oder zweiten Quartal in Kurzarbeit gehen. dpa

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Bayern sichert Hilfe zu

Rosenthal braucht offenbar einen Überbrückungskredit

Berlin/München - In den Rettungsbemühungen um den insolventen fränkischen Porzellanhersteller Rosenthal hat das bayerische Wirtschaftsministerium dem Traditionsunternehmen Hilfe zugesagt. "Der Freistaat Bayern wird alle verfügbaren Maßnahmen ergreifen, damit es bei Rosenthal weiter geht", erklärte Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) am Montag. Rosenthal erwägt nach Angaben einer Sprecherin eine Bitte um einen staatlichen Überbrückungskredit. Laut Rosenthal habe auch Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), der aus Franken stammt, Hilfe zugesagt.

Der größte deutsche Porzellanproduzent, der in der vorletzten Woche Insolvenz anmelden musste, hofft möglicherweise auf eine Kreditlinie von etwa 30 Millionen Euro. Zeil erklärte, er stehe in laufendem Kontakt mit der Geschäftsführung, den Banken und dem vorläufigen Insolvenzverwalter. "Ich werde ihn weiterhin nach besten Kräften unterstützen, ein Finanzierungskonzept zu erstellen und einen neuen Investor für das Unternehmen zu finden, der mit frischem Eigenkapital Rosenthal übernimmt und die Standorte und Arbeitsplätze in Oberfranken nachhaltig sichert", sagte der neue Wirtschaftsminister. Es gebe grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten staatlicher Unterstützung, darunter etwa Bürgschaften, hieß es.

Offenbar braucht Rosenthal eine Zwischenfinanzierung, bis der erhoffte neue Investor einsteigt. Nach Angaben des Insolvenzverwalters haben bis zu 20 Investoren Interesse an Rosenthal gezeigt. Rosenthal beschäftigt weltweit 1545 Mitarbeiter. Sie bekommen noch Insolvenzgeld bis Ende März. Das Traditionsunternehmen mit 130-jähriger Geschichte hatte am 9. Januar beim Amtsgericht Hof Gläubigerschutz beantragt. Der irische Konzern Waterford Wedgwood, der seit Ende der 90er Jahren 90,7 Prozent der Rosenthal-Papiere hält, war vier Tage zuvor in Insolvenz gegangen. AP/SZ

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Auch die Reichen knausern

Auktionshäuser leiden unter den Folgen der Finanzkrise. Der Kunstmarkt steht vor einem schweren Einbruch

Von Andreas Oldag

London - Die Gewitterwolken am einst so schönen Kunsthimmel zogen bereits im Herbst vergangenen Jahres auf: Das britische Auktionshaus Christie's wollte für das bekannte Bild "Study for Self Portrait" des Malers Francis Bacon einen Preis von etwa 40 Millionen Dollar (etwa 30 Millionen Euro) erzielen. Doch die Versteigerung wurde zum Flop und musste damals bei einem Preis von 27,4 Millionen Dollar abgebrochen werden. Infolge der weltweiten Finanzkrise zeigen sich mittlerweile selbst schwerreiche Investoren knauserig. Der Kunstmarkt steht vor einem schweren Einbruch, zumal auch Unternehmen für ihre Vorstandsetagen und Foyers kaum noch teure Gemälde einkaufen.

Die Schockwellen der Rezession haben die einst im Geld schwimmenden Auktionshäuser erreicht. Sie müssen sich einen harten Sparkurs verordnen und hoffen, dass sich die Zeiten irgendwann wieder bessern. Christie's kündigte jetzt "einen bedeutenden Stellenabbau" an. Firmenchef-Chef Ed Dolman hat die Mitarbeiter per Email über Stellenstreichungen in allen 85 internationalen Büros informiert. Zudem sollen Verträge mit freien Mitarbeitern und Kunstspezialisten offenbar nicht verlängert werden. Christie's beschäftigt etwa 2100 Menschen weltweit und hat in Deutschland unter anderem in Berlin, Hamburg und Düsseldorf Büros. Wie viele Stellen dort wegfallen, wurde noch nicht bekannt. "Wir müssen unser Geschäft neu aufstellen, um aus diesen schwierigen Zeiten als eine stärkere Firma hervorzugehen", schrieb Dolman Medienangaben zufolge an die Mitarbeiter. Der Stellenabbau soll bis April abgeschlossen sein.

Christie's steht nicht allein da. Der New Yorker Konkurrent Sotheby's hat den Personaletat um sieben Millionen Dollar gekappt. Viele der etwa 1500 Mitarbeiter fürchten um ihren Arbeitsplatz. 2009 werde ein schwieriges Jahr, warnte Sotheby's-Chef Bill Ruprecht. Die Auktionskataloge würden dünner werden. Im vergangenen Jahr hatte Sotheby's Verkaufserlöse in Höhe von 4,82 Milliarden Dollar erzielt. Der Rückgang gegenüber dem Vorjahr betrug bereits elf Prozent, obwohl das erste Halbjahr 2008 für den Kunstmarkt noch relativ gut gelaufen war. Dem Vernehmen nach gingen die Verkäufe von Christie's im gleichen Zeitraum um etwa 20 Prozent zurück.

Branchenexperten schätzen, dass die beiden führenden Auktionshäuser in der Herbstsaison auf Kunstwerken mit garantierten Preisen in Höhe von insgesamt 63 Millionen Dollar sitzengeblieben sind. In den Boomzeiten der vergangenen Jahre hatten die Kunstversteigerer großzügige Garantiepreise eingeräumt. Von dieser Praxis wird sich die Branche nun rasch verabschieden. Auch Rabatte bei Kommissionsgebühren sollen wegfallen. Immerhin hoffen die Häuser, dass die Krise verstärkt zu Notverkäufen führen wird. Klamme Investoren könnten ihre Gemälde und Skulpturen auf den Markt werfen, um rasch an Bargeld zu kommen. Er habe Klienten, denen die Kunst als einzige Anlage verblieben ist, nachdem ihre Aktien dramatisch an Wert verloren hätten, räumte Sotheby's-Chef Ruprecht gegenüber dem Wall Street Journal ein.

In Großbritannien kann Christie's auch auf die positiven Auswirkungen des schwachen Pfunds hoffen. Die britische Währung hat in den vergangenen Monaten gegenüber Euro und Dollar erheblich an Wert verloren. Dadurch werden Käufe für Ausländer im Vereinigten Königreich billiger. Indes gibt es in der Branche immer wieder Gerüchte, dass Christie's-Eigner François Pinault das Unternehmen wegen einer angeblich hohen Schuldenlast verkaufen könnte. Solche Spekulationen werden im Haus zurückgewiesen. Der französische Unternehmer, der das Auktionshaus 1998 übernommen hatte, habe ein langfristiges Interesse, heißt es.

Die Wurzeln von Christie's reichen bis in das Jahr 1766 zurück. Damals organisierte James Christie in London erste Auktionen und entwickelte sich schon bald zum Zentrum für Kunstverkäufe in Europa. Im Jahr 2000 mussten sich Christie's und Sotheby's gegen Vorwürfe wegen illegaler Preisabsprachen wehren. Dabei kam es sogar zu einer Untersuchung durch die amerikanische Bundespolizei FBI.

Unternehmen erwerben für

ihre Vorstandsetagen

kaum noch teure Gemälde.

Klamme Investoren könnten ihre Bilder und Skulpturen

auf den Markt werfen.

Im Dezember hat Christie's für Giambattista Tiepolos "Portrait of a lady as Flora" trotz der Krise unerwartet 2,8 Millionen Pfund erlöst. Foto: AFP

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An der MDax-Spitze

Papiere von Wincor Nixdorf setzten sich mit plus 4,2 Prozent auf 35,01 Euro an die Spitze des MDax. Der Geldautomaten- und Kassensystemhersteller hat im Auftaktquartal 2008/2009 Umsatz und Ergebnis überraschend gesteigert. Für das Gesamtjahr zeigte sich der Konzern am Montag in Paderborn aber weiter vorsichtig und rechnet mit einem Geschäft auf Vorjahresniveau. In den drei Monaten bis Ende Dezember verbesserte sich der Umsatz um sieben Prozent auf 646 Millionen Euro. Analysten hatten mit einer Eintrübung des Geschäfts gerechnet.

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Devisen und Rohstoffe: Rezessionssorgen belasten

Eine neue Prognose der EU-Kommission, wonach Europa durch die weltweite Finanzkrise in eine tiefe Rezession gestürzt wird, hat den Kurs des Euro belastet. Zudem stufte die Rating-Agentur Standard & Poor's Spanien als langfristigen Schuldner zurück. Gegen 16 Uhr notierte der Euro bei 1,3134 Dollar nach 1,3285 Dollar am Freitagabend.

Die Waffenruhe in Gaza führte an den Rohstoffmärkten zu einem Rückgang des Ölpreises. Ebenso trug die Beilegung des russisch-ukrainischen Gas-Streits zu Verkäufen von Ölkontrakten an den internationalen Terminmärkten bei. Ein Fass (159 Liter) Rohöl der US-Sorte WTI kostete 34,25 (Freitag: 36,51) Dollar. Die Nordseesorte Brent verbilligte sich auf 44,70 (46,57) Dollar.

Die Feinunze Gold wurde nachmittags in London auf 833 (Freitag: 833,75) Dollar festgesetzt. SZ/Reuters/dpa

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Deutsche Börse: Aktien drehen ins Minus

Die wichtigsten deutschen Aktienindizes

haben am Montag nach einem freundlichen Start in die Woche im Handelsverlauf mehrheitlich ins Minus gedreht. Der Dax verlor 1,3 Prozent auf 4308 Zähler und nahm damit seine am vergangenen Freitag nur kurz unterbrochene mehrtägige Talfahrt wieder auf. Der MDax mittelgroßer Werte fiel um 1,8 Prozent auf 4989 Punkte. Der Technologiewerte-Index TecDax verlor 1,1 Prozent auf 466 Punkte.

"Der Schwung von heute morgen durch die guten Vorgaben aus Übersee hat sich schon wieder erledigt", sagte Marktstratege Mirko Pillep von der Helaba. Gründe seien vor allem die im Handelsverlauf deutlich gestiegenen Kursverluste bei Bankaktien. "Der Markt ist mehr als angeschlagen und das Vertrauen etwa durch den Rekordverlust der Royal Bank of Scotland völlig zum Erliegen gekommen", so der Experte weiter. Deutsche Bank verloren 11 Prozent auf 117,83 Euro. Postbank gaben um 13,6 Prozent auf 7,47 Euro nach. Negative Unternehmensnachrichten bestraften BASF-Aktionäre mit Abschlägen, der Kurs fiel um 4,8 Prozent auf 22,63 Euro. Der Chemiekonzern ist in den Strudel des weltweiten Konjunkturabschwungs geraten und setzt wegen des Geschäftseinbruchs im Dezember und Januar Kurzarbeit an. "Ich vermute, dass damit eine Gewinnwarnung vorbereitet wird", kommentierte ein Händler die Aussagen. Im TecDax legten die Aktien von Manz Automation und Roth & Rau deutlich zu. Die beiden Solarzulieferer planen eine Kooperation. Am Rentenmarkt verlor der Bund Future 0,5 Prozent auf 125,00 (Freitag: 125,67).

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Kurssturz bei der Deutschen Bank

Die Aktie fällt auf den tiefsten Stand seit 25 Jahren. Furcht vor neuen Abschreibungen heizt Diskussion um Bad Bank an

Von Guido Bohsem, Thomas Fromm und Martin Hesse

Frankfurt - Der Rekordverlust der Royal Bank of Scotland (RBS) hat an den Börsen Angst vor weiteren Milliardenabschreibungen genährt. Darunter litt besonders die Aktie der Deutschen Bank. Der Kurs brach zeitweise um mehr als zwölf Prozent auf 17,40 Euro ein. So wenig war das größte deutsche Kreditinstitut zuletzt im Oktober 1984 wert.

Allein seit vergangenen Mittwoch hat die Deutsche Bank rund ein Viertel ihres Wertes verloren. Da hatte Vorstandschef Josef Ackermann eingeräumt, der Konzern habe im vierten Quartal 4,8 Milliarden Euro verloren. Nachdem die schottische RBS nun sogar bis zu 28 Milliarden Pfund Verlust gemeldet hat (siehe unten), fürchten Investoren, auf die Deutsche Bank und andere Großbanken könnten noch höhere Belastungen zukommen. Auch die Postbank sowie die französischen Institute BNP Paribas und Société Générale verloren an der Börse am Montag mehr als zehn Prozent.

Deutsche Kreditinstitute haben erst etwa ein Viertel auf ihre faulen Wertpapiere im Volumen von mehr als 300 Milliarden Euro abgeschrieben. Das geht aus einer vom Finanzministerium in Auftrag gegebenen Umfrage der Finanzaufsicht Bafin und der Bundesbank hervor, deren Ergebnis der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Dahinter stehen vor allem faule Kredite auf Immobilien, Studentendarlehen, Kreditkartenverbindlichkeiten und Autofinanzierungen sowie Übernahmekredite. Allein für die Hypo Real Estate werden 28 Milliarden Euro angesetzt. Die Problemkredite der Sparkassen und Genossenschaftsbanken sind nicht inbegriffen. Berücksichtigt man diese, hält das Finanzministerium einen Gesamtbestand von 320 Milliarden Euro für plausibel, derzeit würden diese in den Bilanzen mit 246 Milliarden Euro bewertet.

Diese Zahl ist nach Einschätzung des Finanzministeriums auch die Obergrenze, "die als finanzieller Aufwand bei der Errichtung einer Bad Bank für entsprechende Wertpapiere einkalkuliert werden sollte". In eine solche staatliche Bad Bank könnten Banken ihre faulen Kredite abladen. Offenbar wird an den Börsen spekuliert, vor allem die Deutsche Bank könnte daran Interesse haben. Bankchef Josef Ackermann hatte allerdings vergangenen Mittwoch erklärt, sein Haus habe Altrisiken weitgehend abgebaut. "Nach dem Risikoabbau, den wir vorgenommen haben, wüsste ich für die Deutsche Bank nicht, welche Papiere wir noch verkaufen könnten. Das ist nichts, was die Deutsche Bank braucht."

Andere deutsche Bankenvertreter sehen das Thema differenziert. "Man kann nicht alles beim Staat abladen, aber auch nicht alles bei den Banken belassen", sagte Karl-Georg Altenburg, Deutschland-Chef der US-Bank JP Morgan. Es müsse ein Mittelweg gefunden werden. Die Finanzpolitiker der Unionsfraktion sprachen sich auf ihrer Klausurtagung am Wochenende gegen die Schaffung einer staatlichen Bad Bank aus. Es sei jedoch denkbar, den Banken Papiere abzunehmen, die nach allgemeinen Ermessen durchaus werthaltig seien, derzeit jedoch durch das katastrophale Marktumfeld in Mitleidenschaft gezogen würden, sagte der Finanzexperte Leo Dautzenberg am Montag in Berlin. Das Bundesfinanzministerium wies Forderungen nach einer Bad Bank erneut zurück. "Wir halten dies für keine geeignete Lösung, diese Paiere allein zulasten von Steuerzahlern zu sozialisieren", sagte der Sprecher von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). Es müssten breitere Ansätze gefunden werden.

Uneinigkeit herrscht in der Koalition weiterhin über die Frage, wie der Staat sich bei einer Rettungsaktion für die angeschlagene Hypo Real Estate verhalten soll. Ohne auf den Einzelfall einzugehen, zeigten sich die Unions-Finanzpolitiker skeptisch, eine vollständige Übernahme eines Finanzinstituts gesetzlich möglich zu machen. Dies wird nach Informationen der Süddeutschen Zeitung in der Regierung erwogen. Das zur Bekämpfung der Finanzkrise geschaffene Finanzmarktstabilisierungsgesetz begrenzt den Einstieg des Staats auf rund 33 Prozent, ohne vorher die Genehmigung der Aktionäre einzuholen. Damit hätte er keine Mehrheit, um die Geschäfte des Instituts nachhaltig zu bestimmen. In Finanzkreisen rechnet man nicht mehr damit, dass es noch in dieser Woche zu einem Einstieg des Bundes bei der HRE kommt. "Dafür gibt es noch zu viele offene Fragen", heißt es dort. Allerdings geht man davon aus, dass der Bund bereits in den kommenden Tagen weitere Garantiezusagen machen wird. In Finanzkreisen spricht von einem "weiteren Unterstützungssignal", um die Zeit bis zu einer Entscheidung zu überbrücken. (Seite 4)

"Eine Bad Bank

ist nichts, was die

Deutsche Bank braucht."

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Marktdaten 19.01.09Vortag Änd.
MDax(16 Uhr)4988,445079,16 - 1,79 %
TecDax(16 Uhr)466,01471,20 - 1,10 %
Euro Stoxx 50(16 Uhr)2239,032281,45 - 1,86 %
Dow Jones(16 Uhr)8281,228212,49 + 0,84 %
Euro Interbanken(16 Uhr)1,31351,3285 -0,0150 $
Gold je Feinunze * 833,00833,75 - 0,75 $
Brent-Öl je Barrel(16 Uhr)44,7046,57 -1,87 $
10j. Bundesanl.(16 Uhr)3,012,93 + 0,08**
10j. US-Staatsanl.(16 Uhr)2,342,34 -**
* Londoner Nachmittagsfixing ** Prozentpunkte
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Auch Dänemark schnürt ein Paket

Kopenhagen - Ein zweites Hilfspaket für die dänischen Banken soll das ins Stocken geratene Kreditgeschäft wieder in Gang bringen. Das kündigte Wirtschaftsministerin Lene Espersen nach der Einigung mit fast allen Oppositionsparteien auf Hilfskredite von bis zu 100 Milliarden Kronen (13,4 Milliarden Euro) in Kopenhagen an. "Wir erwarten von den Banken jetzt eine aktivere Vergabe von Krediten an gesunde Projekte, Unternehmen und Privathaushalte", sagte sie. Nach Bekanntgabe des Pakets zogen die Aktien der dänischen Banken am Montag um teilweise mehr als zehn Prozent an.

Nach Ausbruch der Finanzkrise hatte die Regierung im Oktober zunächst 15 Milliarden Kronen zur Verhinderung von Bankzusammenbrüchen bereitgestellt. Dem zweiten Paket stimmten nun bis auf die linksgerichtete Einheitsliste alle im Parlament vertretenen Parteien zu. Die oppositionellen Sozialdemokraten konnten sich nicht mit ihrer Forderung durchsetzen, die Gehälter für Spitzenmanager auf 2,5 Millionen Kronen pro Jahr zu begrenzen.

Für die Staatskredite sollen die Banken durchschnittlich zehn Prozent Zinsen zahlen. Sie werden individuell festgelegt und sollen für "gesunde" Banken niedriger ausfallen als für "ungesunde". Beobachter in Kopenhagen werteten dieses Vorgehen als indirekte Förderung eines weiteren Konzentrationsprozesses im Bankensektor. Aus der Bankbranche wurde das Hilfspaket begrüßt, der hohe Zinssatz aber teilweise kritisiert. dpa

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Lebensversicherer zahlen weniger aus

Deutsche, die ihre Police vorzeitig kündigen, erleiden noch höhere Verluste. Generell sinken die Erträge bei einigen Anbietern massiv

Von Alexander Mühlauer

München - Wer vorzeitig aus seiner Lebensversicherung aussteigt, muss noch herbere Verluste hinnehmen als bisher. Viele Versicherer haben die Auszahlungsbeträge bei Kündigungen vor Vertragsende kräftig gekürzt. Aber auch das Geld, das Kunden beim Ende der Laufzeit ausgezahlt bekommen, die sogenannte Ablaufleistung, wurde teilweise massiv reduziert. Zu diesen Ergebnissen kommt das Versicherungsanalysehaus Franke & Bornberg. Die Hannoveraner haben insgesamt 16 Tarife untersucht. "Wir haben zum Teil deutliche Unterschiede festgestellt, die für den Verbraucher von großer Bedeutung sind", sagt Geschäftsführer Michael Franke. So hält zum Beispiel die Allianz die laufende Verzinsung bei 4,5 Prozent, dennoch sinken die Ablaufleistungen um gut fünf Prozent und die Rückkaufswerte im Durchschnitt um etwa vier Prozent. (Grafik)

Die Ablaufleistung ist der Betrag, den eine Versicherung bei Vertragsende auszahlt. Er setzt sich aus vier Teilen zusammen: aus dem Garantiezins, der Überschussbeteiligung, der Schlussüberschussanteile und der Beteiligung an den stillen Reserven. Der Garantiezins muss auf jeden Fall ausgeschüttet werden. Die Überschussbeteiligung wird jedes Jahr festgelegt - je nachdem, wie es dem Unternehmen geht. Ist die Beteiligung festgesetzt, kann die Zusage für das bestimmte Jahr nicht mehr verändert werden. Zusammen mit dem Garantiezins ergibt dies die laufende Verzinsung. Hinzu kommen die Schlussüberschussanteile. Diese gibt es nur bei Kapitallebensversicherungen. Wie hoch sie ausfallen, wird jährlich neu entschieden. Die Angaben können sich aber ändern, wenn es einer Gesellschaft zum Zeitpunkt der Ausschüttung schlecht geht. Dann kann das Unternehmen darauf verzichten. "Bei den Schlussüberschüssen haben die Versicherer am meisten Spielmasse - denn sie sind nicht garantiert", sagt Elke Weidenbach von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Wären da noch die stillen Reserven. Da scheint es allerdings so zu sein, dass diese vor allem aus den Schlussüberschüssen herausgenommen werden, sagt die Verbraucherschützerin. Es handele sich also um nichts weiter als eine Umschichtung. "Für den Verbraucher bringt das am Ende nicht mehr Ertrag", sagt Weidenbach. Hinzu kommt: In Deutschland wird lediglich ein Viertel aller Verträge bis zum Ende durchgehalten. Wer vorzeitig aussteigt, bekommt den Rückkaufswert - auch der sinkt bei vielen Gesellschaften. Bei der Europa zum Beispiel um 4,9 Prozent. (Grafik)

Dabei geben sich die Versicherer auf den ersten Blick Mühe, den Schein zu wahren: Zwei Drittel der Unternehmen haben die laufende Verzinsung 2009 nicht reduziert. Aber: "Einige Gesellschaften haben ihre Ablaufleistung und Rückkaufswerte gekürzt, um die laufende Verzinsung stabil zu halten oder weniger stark zu senken", sagt Franke. Jede Versicherung will eben kundenfreundlich dastehen.

Hauptgrund für die Ertragskürzungen ist die Finanzkrise. Die Gesellschaften tun sich schwer, die garantierten Zinsen zu erwirtschaften. Die meisten Unternehmen haben zwar ihre Aktienquote reduziert, aber sie wissen nicht so richtig, wohin mit dem Geld der Versicherten. Risikolose Anlagen in Staatspapiere werden wegen der Niedrigzinspolitik der Notenbanken schwieriger. So ist der durchschnittliche Kapitalmarktzins auf weniger als drei Prozent gesunken. Die Versicherer garantieren ihren Kunden aber eine höhere Mindestverzinsung - je nach Datum des Vertragsabschlusses zwischen 2,25 und vier Prozent; der Durchschnitt beträgt etwa 3,5 Prozent. Dem Versicherungsanalysehaus Map-Report zufolge würden Beispielrechnungen "zum Teil schmerzhafte Einschnitte in den zu erwartenden Leistungen" zeigen.

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Neue Milliardenhilfen für kriselnde britische Geldhäuser

Die Royal Bank of Scotland erwartet den höchsten Verlust, den je ein Unternehmen auf der Insel machte. Amerikaner wollen Kreditvergabe ankurbeln

Von Andreas Oldag

London - Die schwer angeschlagene britische Bankenbranche erhält weitere Milliardenhilfen der Steuerzahler. Kernelement ist eine staatliche Kreditversicherung: Die Banken sollen ihre faulen Kredite und Wertpapiere offenlegen. Gegen eine Gebühr sichert der Staat dann bis zu 90 Prozent des Ausfallrisikos ab. Die Labour-Regierung von Premierminister Gordon Brown hofft darauf, dass die Banken wieder stärker Geld verleihen und das Kreditgeschäft ankurbeln. Experten schätzen das Ausfallrisiko, für das der Steuerzahler bei den Banken einsteht, auf insgesamt bis zu 200 Milliarden Pfund (etwa 220 Milliarden Euro).

Die Einzelheiten über die neue Kreditversicherung müssen mit den Banken noch geklärt werden. Unklar ist unter anderem, wie die faulen Papiere bewertet werden sollen. Das Hilfspaket ist für diejenigen Institute vorgesehen, die bereits Kapitalhilfen von der Regierung erhalten haben. Dabei handelt es sich unter anderem um die Royal Bank of Scotland (RBS), die fusionierte Bank Lloyds/HBOS sowie die verstaatlichte Hypothekenbank Northern Rock. Barclays und HSBC lehnen Hilfen weiterhin ab.

Nach Meinung der oppositionellen Tories hat die Regierung einen "Blankoscheck" für Banken ausgestellt, die sich selbst in die Krise geritten hätten. Der britische Schattenfinanzminister George Osborne warnte davor, dass sich Großbritannien zu hoch verschuldet. "Die Regierung ist die einzige Organisation, die eingreifen kann, wenn die Märkte versagen", erklärte dagegen Regierungschef Brown.

Gleichzeitig griff Brown die bisherige Geschäftsstrategie der RBS an: Das Institut habe ein "unverantwortliches Verhalten" gezeigt, kritisierte der Premierminister. RBS rechnet für das vergangene Jahr mit einem Rekordverlust von bis zu 28 Milliarden Pfund. Die Kredit- und Marktbedingungen im letzten Quartal von 2008 seien "besonders schwierig" gewesen, sodass mit einem Verlust zwischen sieben und acht Milliarden Pfund ohne Abschreibungen auf den Firmenwert (Goodwill-Abschreibungen) gerechnet werden müsse, teilte die RBS mit. Inklusive Abschreibungen vor allem wegen der Teilübernahme der niederländischen ABN Bank Amro 2007 könne der Jahresverlust auf bis zu 28 Milliarden Pfund steigen. Dies wäre der höchste Verlust eines Unternehmens in der britischen Wirtschaftsgeschichte.

Infolge des hohen Verlusts gibt RBS neue Stammaktien für fünf Milliarden Pfund aus. Damit erhöht sich der Staatsanteil von knapp 58 Prozent auf 70 Prozent. Das Kapital soll das bisher von der Regierung gegebene Vorzugskapital ersetzen. Die Regierung sichert die Kapitalerhöhung ab und garantiert die Ausgabe der Papiere zu 31,75 Pence je Aktie.

Um der in einer Rezession steckenden Wirtschaft zu helfen, soll die britische Notenbank Bank of England (BoE) vom 2. Februar an hochwertige Schuldtitel von Unternehmen der Privatwirtschaft kaufen. Dafür stehen ihr zunächst 50 Milliarden Pfund zur Verfügung. Das britische Finanzministerium erstattet der Notenbank die Kosten. Indes verkündete die EU-Kommission, sie erwarte, dass die britische Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 2,8 Prozent schrumpfen wird - so viel wie in keinem Land unter den großen EU-Staaten.

Nach amerikanischen Medienberichten will auch die US-Regierung ihre Hilfen für krisengeschüttelte Banken weiter ausweiten. Finanzministerium, Notenbank und die Behörde zur Einlagensicherung beraten mit Mitgliedern der künftigen Regierung von Barack Obama über eine Reihe von Lösungen. Ziel sei, Privatkapital in das Bankensystem zu pumpen. "Diese Ideen zielen darauf ab, die Kreditvergabe zu erleichtern", erklärte die Chefin der Einlagensicherungsbehörde FDIC, Sheila Bair. "Es ist von höchster Wichtigkeit, dass wieder Privatkapital in diese Banken fließt." Ähnlich wie die britischen Banken erhalten auch die Citibank und die Bank of America staatliche Garantien für faule Kredite.

Mitarbeiter der Royal Bank of Scotland in London. Foto: dpa

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Weltbörsen: Finanzwerte im Abwärtssog

Schlechte Nachrichten aus dem Finanzsektor haben die europäischen Aktienmärkte am Montag auf Talfahrt geschickt. Der Euro Stoxx 50 verlor bis 16 Uhr 1,4 Prozent auf 2250 Punkte. In London gab der FTSE 100 um 1,1 Prozent auf 4103 Zähler nach. Hier reagierten die Anleger geschockt auf einen Rekordverlust der Royal Bank of Scotland (RBS), deren Aktie um 66 Prozent nach unten ging. Andere Bankaktien gerieten ebenfalls in den Abwärtsstrudel der RBS: Titel der Barclays-Bank verloren knapp zehn Prozent, obwohl das Geldhaus noch am Freitagabend bekräftigt hatte, dass es mit seinem Jahresgewinn die Erwartungen übertreffen würde. Der Branchenindex Dow-Jones-Stoxx-Banks für europäische Banken sackte um mehr als zehn Prozent ab.

Aus den USA kamen keine Impulse. Wegen des Feiertages Martin-Luther-King-Day blieben die Börsen dort am Montag geschlossen.

Die Aussicht auf ein massives Konjunkturpaket des künftigen US-Präsidenten Barack Obama stützte die Börsen in Asien. In Tokio verhalf zudem ein schwächerer Yen Exportwerten wie Honda und Toshiba zu Kursgewinnen. Der Nikkei 225 legte um 0,3 Prozent auf 8256 Punkten zu.

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Heute in der SZ

Die Diener der Nation

Im Weißen Haus erleben ein paar schwarze Butler einen Wandel, an den sie nie geglaubt haben. Von Reymer Klüver 3

Amerikas neues Gesicht

Mit Pomp und Pathos feiert die Nation Obamas Amtsantritt und ihren eigenen Wandel. Leitartikel von Kurt Kister 4

Schwarz-Rot-Gold

Die neue Rolle der FDP: Aus der großen Koalition wird nun eine riesengroße Koalition. Leitartikel von Nico Fried 4

Ohne Popcorn, mit Champagner

In Berlin gibt es jetzt ein Kino für Menschen, die Beinfreiheit schätzen - ein Besuch der "Astor Film Lounge". 9

Wendekreis der Komik

Eine Flucht, keine Katharsis: Hape Kerkelings "Ein Mann, ein Fjord!" im ZDF. Von Hermann Unterstöger 15

Im Netz steckt der Wurm

Computerschädling befällt weltweit zehn Millionen PC.

Von Helmut Martin-Jung 16

Aktionäre auf der Flucht

Nur 8,8 Millionen Deutsche legen ihr Geld in Unternehmenskapital an. 26

TV- und Radioprogramm 32

Rätsel 15

München · Bayern 30, 31

Familienanzeigen 30

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Erdogan will Türkei schnell in EU führen

Brüssel - Die Türkei will den dringenden Wunsch der Europäer nach mehr Unabhängigkeit vom russischen Gas zur Beschleunigung ihres Beitritts in die EU nutzen. In Brüssel stellte Premier Recep Erdogan die von der EU geplante Pipeline Nabucco durch sein Land zwar nicht direkt in Frage. Aber er warnte, dass "die öffentliche Meinung" in seinem Land stark davon beeinflusst werde, wie die EU sich bei den Beitrittsverhandlungen verhalte. (Seiten 4 und 8) wtr

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SPD-Abgeordneter will Bundesrat reformieren

Koalitionen sollen Stimmen in Länderkammer teilen dürfen / FDP lehnt Vorhaben ab

Von Peter Fahrenholz

München - Nachdem sich durch den Wahlerfolg der FDP in Hessen die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat verändert haben, ist die Diskussion um die Abstimmungsregeln in der Länderkammer neu aufgeflammt. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann forderte, mit einer Änderung des Grundgesetzes den Zwang zu einem einheitlichen Stimmverhalten der Länder im Bundesrat abzuschaffen. Weil Hessen künftig von einer schwarz-gelben Koalition regiert wird, verfügt die große Koalition im Bundesrat nur noch über die 30 Stimmen jener Länder, in denen entweder eine große Koalition oder eine Alleinregierung von CDU oder SPD amtiert. Für eine Mehrheit sind aber 35 der insgesamt 69 Stimmen nötig.

Nach Oppermanns Vorstellungen soll für Koalitionsregierungen künftig ein Stimmensplitting erlaubt sein. Damit könnten Koalitionsregierungen bei strittigen Vorhaben im Bundesrat unterschiedlich abstimmen, wobei der größere Partner dabei dann logischerweise auch eine höhere Stimmenzahl haben müsste. Oppermann will damit verhindern, dass unterschiedlich gefärbte Länder-Koalitionen die Gesetzgebung des Bundes lahmlegen können. "Es kann nicht sein, dass sich in einem Sechs-Parteiensystem Koalitionsregierungen der Länder wechselseitig blockieren", sagte der SPD-Politiker der Rheinischen Post.

Bei der FDP, deren Gewicht im Bundesrat deutlich gewachsen ist, stießen die Vorschläge umgehend auf scharfen Protest. FDP-Fraktionsvizin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wies die Idee als "abwegig und politisch gefährlich" zurück. Die Regeln im Bundesrat hätten sich bewährt, weil sie politische Kompromisse beförderten, sagte sie. SPD-Chef Franz Müntefering relativierte den Vorstoß bereits wieder. Es handele sich um einen grundsätzlichen Vorschlag, der wegen mangelnder Erfolgsaussichten jetzt nicht weiterverfolgt werde, sagte Müntefering.

Erst im November war Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit einem ähnlichen Vorschlag auf ebenso scharfe Ablehnung gestoßen. Schäuble hatte angesichts der Querelen um das BKA-Gesetz vorgeschlagen, dass künftig im Bundesrat nicht mehr die absolute Mehrheit der Länderstimmen notwendig sein soll, sondern die Mehrheit der abgegebenen Ja-Stimmen für eine Zustimmung der Länderkammer ausreicht.

Bislang gilt gemäß Artikel 52 des Grundgesetzes, dass der Bundesrat seine Beschlüsse "mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen" fassen muss. Das bedeutet, dass Enthaltungen faktisch wie Nein-Stimmen wirken, weil damit die erforderliche Zahl von Ja-Stimmen verhindert werden kann. Für Koalitionsregierungen in den Ländern ist es aber ein probates Mittel, sich im Bundesrat der Stimme zu enthalten, wenn sie sich in einer Frage uneinig sind. Das erspart lästige Koalitionsstreitereien zu Hause.

Einen eleganten Ausweg aus diesem Dilemma, der Länderregierungen zugleich zwingen würde, in Streitfragen Farbe zu bekennen, hat der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker bereits im November aufgezeigt. Er plädierte dafür, bei Abstimmungen nicht mehr danach zu fragen, wer zustimmt, sondern wer die Zustimmung verweigert. Damit würden Enthaltungen faktisch zu Ja-Stimmen für das jeweilige Gesetz.

Machtinstrument Bundesrat: Die FDP will in der Länderkammer ihren gewachsenen Einfluss nutzen. Foto: ddp

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Erfolgreiche Verlierer

Die Grünen legen kräftig zu - und müssen in die Opposition

Berlin - Sie haben gewonnen und doch verloren, in Hessen jedenfalls. Trotz eines kräftigen Zugewinns von 6,2 Prozentpunkten bleiben die Grünen in Wiesbaden auf den Oppositionsbänken. Der guten Stimmung in der Bundeszentrale tat dies am Montag keinen Abbruch. Fröhlich bestritten Parteichefin Claudia Roth und der hessische Grünen-Chef Tarek Al-Wazir, die Bundestagsspitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin jedwede Signalwirkung der Hessen-Wahl auf die Bundestagsentscheidung am 27. September. Das "herausragende Ergebnis, das noch bei weitem das von Bayern überflügelt", verschaffe "Rückenwind für die kommenden Monate und den bestmöglichen Auftakt im Superwahljahr 2009". Man könne stolz darauf sein, dass die Menschen weit über Hessen hinaus nun honorierten, dass grüne Politik sich selbst in Krisenzeiten verlässlich an ihren Inhalten orientiere. Für die große Koalition in Berlin sei das hessische Wahlergebnis "eine richtige Klatsche", diagnostizierte Roth. Daran sei das "drastische Versagen der Sozialdemokraten" allerdings mehr schuld als die CDU. Trittin betonte, in den vergangenen Jahren einer Bundestagswahl habe es im Januar immer satte Mehrheiten für Schwarz-Gelb gegeben. Bis zum Herbst hätten sich die Werte jedoch stets verändert.

Nicht ganz so fröhlich gab sich der Co-Vorsitzende Cem Özdemir. Seine am Morgen erhobene Forderung nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Roland Koch hatte offenbar nicht den Beifall der Führungskollegen gefunden. Wenn Koch "noch einen Funken Anstand" habe, dann solle er jetzt die Konsequenzen aus seinem schlechten Wahlergebnis ziehen und den Weg freimachen für einen personellen Neubeginn, hatte Özdemir getönt. Am Nachmittag befand er nur: "Da, wo andere ihre Hose haben, hat er eine Menge Pattex". Trittin spöttelte, man hätte im Wahlkampf statt "Ohne Koch geht's besser" passender plakatiert: "Ohne Koch schmeckt's besser." SZ

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Gas-Vertrag unterzeichnet

Moskau - Die staatlichen Energieversorger Russlands und der Ukraine, Gazprom und Naftogaz, haben am Montag in Moskau nach einem beispiellosen Gasstreit einen neuen Vertrag unterzeichnet. Das Dokument lege Gaspreise und Transitgebühren fest, meldete die Agentur Interfax. Damit ist nach fast zwei Wochen Totalblockade offenbar der Weg frei für eine Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen durch die Ukraine in Richtung Westen. (Seite 7) SZ

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Bewährungsstrafe für Mobilcom-Gründer

Kiel - Das Landgericht Kiel hat den Mobilcom-Gründer Gerhard Schmid wegen dreifachen vorsätzlichen Bankrotts zu 22 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts soll der ehemalige Star des Neuen Markts und einstige Milliardär 1,24 Millionen Euro nach Liechtenstein auf die Seite geschafft haben, als er offiziell bereits zahlungsunfähig war. (Wirtschaft) AFP

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Podolski kehrt zum 1. FC Köln zurück

München - Der Wechsel von Lukas Podolski vom FC Bayern zum 1. FC Köln ist perfekt. Der Fußball-Nationalstürmer kehrt im Sommer zu seinem einstigen Klub zurück. Der Vertrag läuft bis 2013, gilt aber nur, wenn Köln in der Bundesliga bleibt. Die Höhe der Ablösesumme liegt bei zehn Millionen Euro. Für diese Summe kam Podolski 2006 aus Köln nach München. (Sport) SZ

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Steinmeiers Friedensplan

Außenminister startet Nahost-Initiative

Berlin - In den Bemühungen gegen ein Wiederaufflammen der Gewalt in Gaza zieht Deutschland noch vor Amtsantritt der neuen US-Regierung die diplomatische Initiative an sich. In einem der Süddeutschen Zeitung vorliegenden Arbeitsplan wirbt Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) für ein koordiniertes Vorgehen der EU. Das Papier ist nach Angaben aus dem Auswärtigen Amt mit dem EU-Außenbeauftragten Javier Solana und der tschechischen Ratspräsidentschaft abgestimmt. Tschechien ist offenbar mit einer aktiven Rolle Deutschlands einverstanden. In fünf Stufen sieht Steinmeiers Arbeitsplan humanitäre Hilfe sowie Unterstützung im Kampf gegen den Waffenschmuggel, bei der Öffnung von Grenzübergängen, dem Wiederaufbau und der Wiederaufnahme des Friedensprozesses vor. (Seite 7) SZ

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"Völlig aus der Luft gegriffen"

CDU-Minister: Missbrauchsanzeige ist eine Verleumdung

Von Detlef Esslinger und Christoph Hickmann

Wiesbaden - Vier Minuten vor halb zehn, es tritt der Mann ein, der als Justizminister für Strafverfolgung und als Kultusminister für Schulkinder zuständig ist. Er nimmt Platz, zieht einen Zettel hervor und sagt, es sei ihm wichtig, persönlich diese Stellungnahme abzugeben; Nachfragen werde er nicht zulassen. Wiesbaden am Morgen nach der Wahl. In der hessischen Landespolitik geht es grundsätzlich hart zu - aber dass ein Minister einmal vor einer Situation stehen könnte wie nun Jürgen Banzer, das lag bisher auch hier jenseits aller Vorstellungen.

Jürgen Banzer (CDU) trägt mit fester Stimme vor, er habe am vergangenen Donnerstag erfahren, "dass schwerwiegende verleumderische Behauptungen gegen meine Person verschiedenen Presseorganen zugeleitet wurden". Die Behauptungen hätten sich auf eine "angeblich gegen mich gerichtete Strafanzeige" gestützt. Den Vorwurf nennt Banzer nicht; als Gerücht zirkulierte er seit Tagen unter Journalisten. Gegen den geschäftsführenden Minister wurde Anzeige erstattet, wegen Missbrauchs einer Minderjährigen, angeblich im Januar 2007. Der Erstatter lebt der Anzeige zufolge in der Schweiz und bezeichnet sich als Vater des angeblichen Opfers. Weil es über die Anzeige hinaus keine Hinweise gab, griff niemand das Thema vor der Landtagswahl auf. Banzer sagt nun am Montag: "Die Verleumdungen sind empörend und völlig aus der Luft gegriffen."

Warum dies alles ausgerechnet jetzt bekannt wird, dafür gibt es, sagt der Minister, nur einen Grund: Irgendjemand habe Einfluss auf den Wahlausgang nehmen wollen. Seine Indizien: Die Strafanzeige sei "mehr als zwei Jahre nach der angeblichen Tat" gestellt worden, unmittelbar vor der Wahl, aus dem Ausland heraus, und nicht persönlich, sondern unter Einschaltung einer Anwaltskanzlei. Banzer hat nun seinerseits Strafanzeige gestellt.

Vorsichtiger, doch in die gleiche Richtung äußern sich die Staatsanwaltschaften in Wiesbaden und Frankfurt. In Wiesbaden war die Anzeige in der vergangenen Woche eingegangen, am Freitag hatte die Behörde sie an die Frankfurter Kollegen weitergeleitet. Bei den Wiesbadener Strafverfolgern heißt es, die Anzeige sei ihnen von Anfang an "dubios" vorgekommen, und die Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft sagt, es stimme "sehr nachdenklich", dass all dies so kurz vor der Wahl geschehen sei, zwei Jahre nach dem angeblichen Vorfall.

Noch deutlicher wird der Rechtsanwalt des angeblichen Anzeigeerstatters: "Eine inszenierte Kampagne, die kurz vor der Wahl laufen sollte", sagt Sebastian Windisch der Agentur dpa. Zwar war seine Kanzlei als Vertretung des vermeintlichen Opfer-Vaters angegeben, doch Windisch sagt, er habe das entsprechende Fax an die Wiesbadener Staatsanwaltschaft nie gesehen. Zweimal habe der Mann angerufen, Termine für ein Treffen aber verstreichen lassen. Auch dessen angebliche Handynummer habe sich als falsch erwiesen. Die Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft sagt, in der Anzeige seien zwar ein Name und eine Adresse angegeben - "aber das heißt noch nicht, dass es diesen Mann gibt". Dies wolle man nun prüfen; ebenso die Gegenanzeige Banzers.

Obwohl er in den Landtag gewählt wurde, gilt Banzer bis zur Verkündung des amtlichen Endergebnisses als "gewählter Bewerber". Als solcher genießt er keine Immunität. Überdies sind die Staatsanwaltschaften dem Justizministerium unterstellt und haben eine Berichtspflicht. Banzer aber sagt, es sei sichergestellt, dass "kein Interessenkonflikt zu möglichen Ermittlungen auftreten kann". Er habe volles Vertrauen in Polizei und Staatsanwaltschaft, dass "der oder die Täter" ermittelt und zur Rechenschaft gezogen würden, so endet am Montagmorgen seine Erklärung. Sie bietet keinerlei Raum für Interpretationen.

Hat volles Vertrauen in die Staatsanwaltschaft: Jürgen Banzer. AP

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Linke zufrieden mit stabilem Ergebnis

Berlin - Durch das Wahlergebnis in Hessen sieht sich die Linke darin bestätigt, eine Partei mit gesamtdeutschem Anspruch zu sein. "Das sind positive Startbedingungen für das Wahljahr 2009, die zeigen, dass die Linke in Deutschland ständig wächst und stärker wird", sagte Parteichef Lothar Bisky am Montag in Berlin. Mit 5,4 Prozent schaffte die PDS-Nachfolgepartei erstmals den Wiedereinzug in einen westdeutschen Landtag.

Auch der hessische Spitzenkandidat Willi van Ooyen zeigte sich über die stabile Wählerschaft in Hessen zufrieden. Wie in diesem Bundesland könne man die Linke nun als feste Konstante für ganz Westdeutschland sehen. Gleichzeitig räumte er ein, dass einige Themen der Linken "nicht gefunkt hätten" und die Belastungen für die junge Partei im vergangenen Jahr zu Überforderungen geführt haben. Warum die Linke nicht von den Stimmenverlusten der großen Parteien, insbesondere der SPD profitieren konnte, erklärte der Bundeswahlkampfleiter Dietmar Bartsch damit, dass der Linken keine hohe Wirtschaftskompetenz zugerechnet werde. Die Gewinne bei den Erstwählern könne man dagegen auf die Abschaffung der Studiengebühren in Hessen und den jugendlichen Wahlkampf zurückführen. Die Partei konnte ihr Ergebnis von 5,1 vor einem Jahr auf 5,4 Prozent leicht verbessern. Kurz vor der Landtagswahl waren 45 Mitglieder mit massiven Vorwürfen gegen die Parteispitze ausgetreten. Das habe man laut Bartsch nun wieder wettmachen können. Noch am Wahlabend seien 50 neue Mitglieder in die Partei eingetreten. Laura Weißmüller

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Probleme mit der Demut

Nach dem Machtzuwachs fordert die FDP in Hessen mehr als zwei Ministerposten und stärkere Steuernsenkungen im Bund

Von Detlef Esslinger und Christoph Hickmann

Wiesbaden - Die Koalitionsverhandlungen in Hessen, zumindest erste Gespräche, beginnen an diesem Dienstag, und selbstverständlich behaupten alle Politiker von CDU und FDP, zunächst nur über Inhalte und erst am Ende über Posten zu sprechen. Nun ja, fast alle behaupten das. Einer nicht. Dieter Posch, stellvertretender Vorsitzender der hessischen FDP, will Minister werden, und zwar für Wirtschaft und Verkehr, wie schon von 1999 bis 2003. Auch Posch sagt zwar am Montag zunächst, Personalfragen würden am Ende der Verhandlungen geklärt, doch es bedarf nur weniger Zusatzfragen, damit der Mann konkreter wird. Was spreche eigentlich dafür, den erfolgreichen CDU-Amtsinhaber Alois Rhiel auszutauschen, will ein Reporter von Posch wissen. Der antwortet, auch er selbst habe "in dem Bereich" mehrmals erfolgreich Verantwortung übernommen, zudem sei Wirtschaftspolitik ein klassisches FDP-Feld. Aber werde er nicht in diesem Jahr 65 Jahre alt, könne er denn die ganze Wahlperiode von fünf Jahren zur Verfügung stehen? Poschs Antwort: "Wenn ich das Amt übernehme, mache ich das so wie vorgesehen." Ganz klar, hier will einer der Nachfolger seines Nachfolgers werden.

Weder vorwärts noch aufwärts

Man merkt schon, es fällt der hessischen FDP ein bisschen schwer, ihre sagenhaften 16,2 Prozent mit jener "Demut" entgegenzunehmen, die ihr Vorsitzender Jörg-Uwe Hahn am Sonntagabend versprochen hatte. Dass sie mehr als ihr traditionelles Quorum von zwei Ministern beanspruchen wird, gilt als ausgemacht, dass sie vor allem ihre neue Macht im Bundesrat nutzen will, verheimlichen auch ihre hessischen Spitzenpolitiker nicht. Ihr erstes Thema dabei: das Konjunkturpaket der Bundesregierung, die FDP will die Steuern stärker senken als die große Koalition. Hahn und der Bundesvorsitzende Guido Westerwelle sagen zwar, sie würden den Bundesrat nicht als Instrument zur Blockade nutzen. Aber Posch sagt auch: "Die Bundesregierung täte gut daran, mit der FDP und den Ländern zu verhandeln."

Das Thema könnte eines der wenigen sein, bei denen es in den Verhandlungen zum Konflikt kommt. Der hessische CDU-Generalsekretär Michael Boddenberg sagt am Montag, seine Partei werde "auch den einen oder anderen Punkt streitig stellen" und nennt als Beispiel das Abstimmungsverhalten im Bundesrat. Üblich ist, dass sich eine Koalitionsregierung dort der Stimme enthält, wenn sie sich untereinander nicht einig ist. "Oppositionsparteien sollen und müssen dort ihren Teil beitragen", sagt Boddenberg. Mit anderen Worten: Im Bund ist die FDP in der Opposition, deshalb soll sie es mal bitte nicht übertreiben. Ansonsten aber ist alles schon ziemlich klar: Am späten Montagnachmittag sollte der Landesausschuss der CDU zusammenkommen, am Abend der FDP-Landesvorstand. Beide Gremien sollten die Koalitionsverhandlungen beschließen.

Mit derlei Dingen wird sich die Hessen-SPD vorerst nicht beschäftigen müssen; dementsprechend ging es am Montagmorgen in einer Schaltkonferenz des Landesvorstands um Themen wie das Verhältnis zur Linkspartei, das nun auch auf Bundesebene endlich geklärt werden müsse. Mit dabei in der Konferenz war auch Andrea Ypsilanti, am Abend zuvor von ihren Ämtern als Fraktions- und Landesvorsitzende zurückgetreten - und in Thorsten Schäfer-Gümbel jener Mann, der den Neuanfang organisieren muss. Vor allem personell wird das eine knifflige Aufgabe, beide Flügel der Partei erwarten nun von ihm, eingebunden zu werden. Denn auch mit Ypsilantis Rückzug ist die Spaltung des Landesverbands nicht vorbei; auf Schäfer-Gümbel warten jede Menge klärender Gespräche.

Immerhin soll es in der neuen Fraktion vorbei sein mit der Spaltung in die Vorwärts-Runde der Parteilinken und die Aufwärts-Gruppe, in der sich die Parteirechten und Netzwerker gesammelt hatten. So schlägt es jedenfalls Nancy Faeser vor, in der alten Fraktion Sprecherin der Aufwärts-Runde. "Wir müssen die Partei jetzt einen, und dazu gehört, dass die Gruppen in der Fraktion aufgelöst werden", sagte sie der Süddeutschen Zeitung. "Die Meinungsbildung muss wieder in der Fraktion stattfinden, statt in separaten Gruppen." Die Gruppen hätten "zur Spaltung beigetragen", sagte sie: "Die Meinungsbildung hat nur noch innerhalb dieser Gruppen stattgefunden, so dass es ständiger Vermittlungen zwischen deren Sprechern bedurfte." Dadurch sei "ein erhebliches Maß an Energie verschwendet worden".

Solche Sorgen plagen Grüne und Linkspartei am Montag nicht: Während der Linken-Landesvorstand am Abend den alten Fraktionschef Willi van Ooyen wieder für dieses Amt vorschlagen wollte, erklärte bei den Grünen Tarek Al-Wazir, er wolle ebenfalls wieder an der Fraktionsspitze stehen. Immerhin das, wo für die Grünen doch wieder nichts geblieben ist als die Opposition.

Für die SPD steht die Welt auf dem Kopf: Nach der Schlappe von Hessen hat das große Aufräumen begonnen - ein Helfer verlädt ein Plakat Thorsten Schäfer-Gümbels (oben). Der gescheiterte Spitzenkandidat soll den Neuanfang in der Partei organisieren. Für Ministerpräsident Roland Koch wird das Regieren nun leichter. Er kann sich nach dem Zugewinn der FDP auf eine stabile Mehrheit stützen. Fotos: dpa/Reuters

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Köhler-Mehrheit in Bundesversammlung

Berlin - Bundespräsident Horst Köhler kann nach der Hessen-Wahl damit rechnen, in der Bundesversammlung am 23. Mai fünf Stimmen über der absoluten Mehrheit zu liegen. Nach Berechnungen unabhängiger Experten der Internetseite www.wahlrecht.de verteilen sich die 44 Sitze aus Hessen in der Bundesversammlung wie folgt: CDU 18, SPD 11, FDP 7, Grüne 6 und Linke 2. Die Bundesversammlung setzt sich aus den 612 Bundestagsabgeordneten und einer gleich hohen Anzahl von Delegierten aus den Ländern zusammen. Union und FDP wollen Köhler im Amt bestätigen. Die SPD hat Gesine Schwan nominiert, die am Montag ihren Anspruch auf das höchste deutsche Staatsamt bekräftigte. Zwar habe Köhler eine Mehrheit, "aber eine hauchdünne", sagte sie in Berlin. dpa/ddp

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Das Streiflicht

(SZ) Die deutsche Wurstgeschichte lässt sich, so vielfältig sie sein mag, an drei Ereignissen festmachen. Das erste ist uns lediglich als Kindergedicht überliefert: "Hermann, der Cheruskerfürst, handelt mit die Leberwürst, geht die Straße auf und ab, kaufts mir meine Würstl ab, geht die Straße auf und nieder, gebts mir meine Würstl wieder." Die Geschichte krankt daran, dass der Mann Arminius hieß und nicht Hermann, doch wenn wir den Wursthandel zeitlich im Umkreis der Varus-Schlacht lokalisieren, also um das Jahr 9 nach Christus herum, können wir ihn heuer guten Gewissens mitfeiern. Als zweites Ereignis sei die Erfindung der Münchner Weißwurst am Rosenmontag, dem 22. Februar 1857, herangezogen. Eine feine Sache, nur dass besagter 22. Februar kein Montag war, sondern ein Sonntag, der freilich dadurch geadelt wird, dass an ihm Heinrich Hertz zur Welt kam. In der Wurstkunde wird Hertz kaum je erwähnt, aber da er die elektromagnetischen Wellen erforschte und man Weißwürste auch in der Mikrowelle erhitzen kann, ist der große Mann hier so gut aufgehoben wie in der Physik.

Das dritte, uns zeitlich am nächsten liegende Wurstereignis wird diesen Mittwoch begangen. Dann ist es 50 Jahre her, dass beim Patentamt München unter der Signatur H 14344 NR. 721319 das Rezept für eine Soße namens "Chillup" unter Markenschutz gestellt wurde. Inhaberin des Patents war die Berliner Wurstbraterin Herta Heuwer, die sich um die Ernährung im Deutschland der Nachkriegszeit auf eine kaum adäquat zu würdigende Weise verdient gemacht hat. Bereits 1949 hatte sie die Currywurst erfunden, jetzt sicherte sie sich das Betriebsgeheimnis der dazu erforderlichen Soße. Der Witz an der Sache ist der, dass Frau Heuwer die Soße nicht ausgetüftelt hatte, sondern dass diese sich ergab, als sie einmal aus Langeweile allerlei Gewürze mit Tomatenmark zusammenrührte.

Damit hat sie sich in die Schar jener Erfinder eingereiht, die auf etwas kamen, ohne es gesucht zu haben, für die also jener Anonymus arbeitete, den auch die Polizei unter dem Tarnnamen "Kommissar Zufall" gern beschäftigt. Charles Goodyear etwa hätte den Gummi wohl nie erfunden, wäre ihm nicht ein Gemisch aus Schwefel und Kautschuk aus Versehen auf die heiße Herdplatte gefallen. Der Zufall verbindet Herta Heuwer über Raum und Zeit hinweg auch mit Sepp Moser, der die Weißwurst erfand. Angeblich waren ihm die Schafsdärme für Bratwürste ausgegangen, weswegen er das Brät in Schweinsdärme füllte, die zum Braten zu dünn waren, zum Sieden aber taugten. Über des Cheruskerfürsten Leberwürste wissen wir nichts, viel hingegen über die Schlacht im Teutoburger Wald. Nimmt man Schillers "Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen" auch für sie in Anspruch, könnte Hermann gelernter Metzger gewesen sein.

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Nach der Wahl in Hessen

Merkel warnt FDP vor Blockade im Bundesrat

"Liberale dürfen neue Macht nicht überreizen" / Freie Demokraten für Änderungen am Konjunkturpaket

Von Nico Fried

Berlin - Die große Koalition steuert wegen der Machtverschiebung im Bundesrat auf einen Konflikt mit der FDP zu. Weil Schwarz-Rot nach der Hessen-Wahl in der Länderkammer bald keine Mehrheit mehr hat, warnten Kanzlerin Angela Merkel und SPD-Chef Franz Müntefering die FDP, den Preis für ihre Unterstützung von Koalitionsvorhaben zu hoch zu schrauben. Die neue Regierung in Hessen soll bereits am 5. Februar gewählt werden.

Merkel sagte, mit der Regierungsbeteiligung in Hessen und den künftigen Einflussmöglichkeiten im Bundesrat übernehme die FDP auch zusätzliche Verantwortung. Deshalb dürfe sie mit Nachforderungen zu Korrekturen am Konjunkturpaket der großen Koalition ihre Position "nicht überreizen". Dies werde "bei der Bevölkerung nicht gut ankommen", sagte Merkel. Deutlicher als die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende erteilte die SPD Änderungswünschen der FDP am Konjunkturpaket eine Absage: "Das Paket steht so, da gibt es nichts nachzubessern", sagte Parteichef Müntefering. "Ich gehe davon aus, dass alle, die jetzt nicht parteitaktisch entscheiden wollen, dem zustimmen im Bundesrat."

Die große Koalition verfügt nach der Wahl in Hessen nur noch über 30 von 69 Stimmen im Bundesrat und ist auf die Unterstützung von Landesregierungen unter Beteiligung anderer Parteien als Union und SPD angewiesen. Da die FDP in den fünf größten Ländern mitregiert, wird sie der erste Ansprechpartner sein. Am kommenden Mittwoch will sich der FDP-Bundesvorsitzende Guido Westerwelle mit Merkel treffen. Westerwelle sagte, die Liberalen würden ihren gewachsenen Einfluss im Bundesrat "klug nutzen", um Entlastungen für die Bürger zu erreichen. Die FDP werde eine konstruktive Rolle in der Länderkammer spielen. "Wir werden ganz sicher nicht abheben", sagte der FDP-Chef.

Aus der FDP waren zuvor jedoch bereits Forderungen laut geworden, die im Konjunkturpaket von Juli an vorgesehenen Steuerentlastungen vorzuziehen. FDP-Schatzmeister Hermann Otto Solms verlangte zudem, auf die Abwrackprämie für Altautos zu verzichten. Die Bundesregierung will deshalb das Konjunkturpaket aufspalten in einen Teil, der im Bundesrat zustimmungspflichtig und einen zweiten Teil, der nicht zustimmungspflichtig ist. Das kündigte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm an. Würde es nur ein Gesetz geben, würden eigentlich zustimmungsfreie Bestandteile des Konjunkturpakets im Bundesrat ebenfalls zustimmungspflichtig. "Das macht keinen Sinn", sagte Wilhelm. Nicht zustimmungspflichtig ist zum Beispiel die Abwrackprämie, bei der Käufer von Neuwagen unter bestimmten Bedingungen 2500 Euro erhalten sollen. Dies gelte bereits rückwirkend zum 14. Januar, hieß es am Montag.

CDU und FDP in Hessen wollen voraussichtlich bereits am Dienstag mit Koalitionsverhandlungen beginnen. Das kündigte der hessische FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn in Berlin an. Ziel sei es, die Gespräche so abzuschließen, dass bereits am 5. Februar bei der ersten Sitzung des neuen Landtages das Kabinett gewählt werden könne. Der derzeit geschäftsführende Ministerpräsident und hessische CDU-Chef Roland Koch räumte ein, dass er trotz des Sieges am Sonntag vom Ergebnis seiner Partei enttäuscht sei. "Ich will nicht verhehlen, dass ich zwei bis drei Prozent mehr toll gefunden hätte", sagte Koch. Die CDU hatte am Sonntag 37,2 Prozent erhalten. Der designierte SPD-Vorsitzende in Hessen, Thorsten Schäfer-Gümbel, kündigte nach dem Desaster seiner Partei eine Neuaufstellung an. (Seiten 3, 4, 5, 6 und Wirtschaft)

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Vor dem großen Tag

An den Stufen des Kapitols: Von dieser Tribüne aus werden die Zuschauer an diesem Dienstag den besten Blick auf die Zeremonie zur Amtseinführung Barack Obamas haben. Um zwölf Uhr Ortszeit (18 Uhr deutscher Zeit) wird der 44. amerikanische Präsident als erster Schwarzer in der amerikanischen Geschichte den Amtseid schwören und dabei eine Hand auf die Bibel seines großen Vorgängers Abraham Lincoln legen. Zu den Feiern werden in Washington etwa zwei Millionen Menschen erwartet. (Seiten 2, 3, 4 und Feuilleton) Foto: AFP

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EU sieht Deutschland vor starker Rezession

Brüssel - Die EU-Kommission erwartet für Deutschland den schärfsten Einbruch der Wirtschaftsleistung seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) werde 2009 im Vorjahresvergleich um 2,3 Prozent schrumpfen, teilte die Kommission in ihrem Konjunkturgutachten mit. In der Eurozone insgesamt wird das BIP im laufenden Jahr um 1,9 Prozent zurückgehen; für 2010 sehen die EU-Experten ein kleines Wachstum von 0,4 Prozent vorher. (Wirtschaft) dpa

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Neue Rauchzeichen

Bayern lockert das strenge Verbot in Gaststätten

Im vorigen August war die Welt für die CSU noch eine andere. Dementsprechend trat sie auch auf - und wenn es nur um das Rauchverbot ging. Das bayerische Gesetz, tönte der damalige Gesundheitsminister Otmar Bernhard (CSU), werde Vorbild für alle Bundesländer sein. So stolz war er, dass das Bundesverfassungsgericht nichts an seinem Gesetz auszusetzen hatte. Seit einem Jahr hat Bayern das strengste Rauchverbot bundesweit, zumindest auf dem Papier. Und ein verfassungskonformes. Doch an diesem Dienstag wird sein Ende eingeläutet, dann beschließt das bayerische Kabinett eine weitreichende Lockerung.

Denn die Welt hat sich in Bayern mit dem Wahldebakel der CSU im September geändert, seitdem muss sie mit der FDP in einer Koalition regieren. Die Liberalen waren im Wahlkampf gegen das Rauchverbot zu Felde gezogen; auch Horst Seehofer (CSU), inzwischen Ministerpräsident, hielt es für überzogen - weshalb man sich bei den Koalitionsverhandlungen rasch auf die Lockerungen einigte. War bisher das Rauchen in allen Gaststätten und Discos verboten, so soll es in Nebenräumen künftig erlaubt sein. Kleine Kneipen mit nur einem Raum können sich zur Raucherkneipe erklären. Dann dürfen aber Minderjährige - wie auch in die Nebenräume - nicht hinein. Nur in Bierzelten wird das Rauchen wieder uneingeschränkt erlaubt, auch Jugendliche haben dort Zutritt. In der schwarz-gelben Koalition ist davon nicht jeder begeistert, zumal man Klagen befürchtet von den Wirten größerer Lokale, die keinen Nebenraum haben, sie würden ungleich behandelt. Doch der Aufschrei der vielen Befürworter im Landtag, die vor gut einem Jahr fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit das strenge Rauchverbot beschlossen hatten, ist ausgeblieben. Auch die Gesundheitspolitiker der CSU haben sich still der allgemeinen Meinung gefügt, das Rauchverbot sei mit schuld gewesen an der Wahlniederlage.

Dabei hat sich nach der anfänglichen Aufregung vor einem Jahr die Situation vielerorts im Sinne der Liberalitas Bavariae eingespielt. Vor allem dank der skurrilen Erfindung des Raucherklubs: In Gaststätten ist das Rauchen laut Gesetz verboten, sofern sie "öffentlich zugänglich" sind. Diesen Passus hatte der damalige Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) einfügen lassen - um private Feiern vom Rauchverbot auszunehmen. Doch schon damals ahnten manche, was auf Bayern zukam: Tausende Kneipen deklarierten sich zu Raucherklubs, in München etwa soll es jede zehnte Gaststätte gewesen sein. Das war legal, sofern der Wirt eine Mitgliederliste führt und den Einlass kontrolliert. Faktisch degenerierte so das Rauchverbot zu einem einzigen Schlupfloch, da Mitgliedsanträge, wenn überhaupt, bei der Bierbestellung ausgefüllt wurden. Zudem weigerten sich viele der für die Kontrollen zuständigen Kommunen, streng hinzusehen. Und spätestens seit der Koalitionsvereinbarung im Oktober wird ohnehin vielerorts wieder völlig frei gequalmt.

Man habe nichts davon, wenn die Bevölkerung den Gesetzgeber auslache, begründete Seehofer damals die Kehrtwende der CSU. Zudem könne man kaum "von Gesundheitsschutz reden, wenn Menschen das massenhaft mit der Gründung von Raucherklubs umgehen". Sie sollen künftig passé sein. Verboten bleibe das Rauchen in öffentlichen Gebäuden, weil man dort ja nicht freiwillig hingehe wie in eine Kneipe, sagt Seehofer. Eigentlich ändere sich gar nichts. Dabei ist die Welt des Freistaats längst eine ganz andere geworden. Kassian Stroh

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Das Wetter

München - Vom Schwarzwald bis nach Sachsen dichte Wolken und vereinzelt Regen, in höheren Lagen Schneefall. Sonst wechselnd bis stark bewölkt, mit Schauern im äußersten Nordwesten. Zwei bis fünf Grad. (Seite 31)

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Drohvideo beunruhigt deutsche Behörden

Im Film zu sehender Islamist lebte jahrelang in Bonn und soll Zugang zur Führung von al-Qaida haben

Von Daniel Brössler

Berlin - Im Wahljahr 2009 sehen die deutschen Sicherheitsbehörden eine erhöhte Terrorgefahr für Deutschland. "Wir machen uns schon Sorgen", sagte der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, August Hanning, am Montag in Berlin und verwies dabei ausdrücklich auf das am Wochenende bekannt gewordene Video mit Terrordrohungen gegen Deutsche. Der in dem Video zu sehende Mann sei den deutschen Sicherheitsbehörden bekannt. "Wir kennen ihn als Islamisten", sagte Hanning. Es gebe Hinweise darauf, dass er Zugang zur Führung des Terrornetzwerkes al-Qaida habe.

Bei dem Mann handelt es sich nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts um den in Marokko geborenen deutschen Staatsbürger Bekkay Harrach. Zwar firmiert der fließend Deutsch sprechende Mann in dem Video als "Abu Talha, der Deutsche", gibt sich aber auch als "Herr Harrach" zu erkennen. Nach Erkenntnissen der deutschen Behörden lebte der 1977 geborene Harrach mehrere Jahre in Bonn und hält sich seit 2007 im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auf. Die Region gilt als Rückzugsraum für Taliban-Kämpfer und Al-Qaida-Angehörige. Im Zuge der Beobachtung der islamistischen Szene war Harrach schon vor seiner Abreise nach Pakistan ins Visier der deutschen Ermittler geraten. Harrach schildert in dem Video ein angebliches Treffen mit Mitarbeitern des Bundesverfassungsschutzes in einem Hotel in Bonn. Zu aktuellen Ermittlungen im Umfeld Harrachs in Deutschland sagte Hanning: "Wir tun, was unsere Pflicht ist."

Als "hochproblematisch" stufen deutsche Experten Harrach nach Angaben Hannings ein, weil er sich neben seinem Zugang zur Führungsebene von al-Qaida sehr gut in Deutschland auskenne. In dieser Kombination wird ein besonderer Grund zur Sorge gesehen. Das auf einer einschlägigen islamistischen Webseite veröffentlichte Video enthält nicht nur zahlreiche Drohungen gegen Deutsche wegen des Engagements der Bundeswehr in Afghanistan, sondern ist auch gespickt mit Anspielungen auf die deutsche Innenpolitik. "Was jetzt neu ist, ist die direkte Adressierung Deutschlands", sagte Hanning. Von Islamisten bedroht worden war Deutschland allerdings auch schon in der Vergangenheit, etwa 2002 nach dem Anschlag auf eine Synagoge auf Djerba.

Die Tatsache, dass die Ausführungen Harrachs teilweise wirr wirken, gibt aus Sicht deutscher Experten keinen Anlass zur Entwarnung. Die Diktion und seltsam anmutende Gestik in dem Video halten sie nicht für untypisch. Der Wortschatz Harrachs sei sehr "beachtlich", sagte Hanning, sein "intellektuelles Niveau" liege über dem von den Sicherheitsbehörden gesuchten, zum Islam konvertierten Deutschen Eric Breininger.

Keine Klarheit haben deutsche Sicherheitsexperten indes bislang darüber, ob ein Selbstmordanschlag vor der deutschen Botschaft in Kabul am Samstag tatsächlich der Vertretung galt. Dafür spricht ein Bekenneranruf nach der Tat, bei der fünf Menschen in den Tod gerissen wurden. Allerdings befindet sich in unmittelbarer Nähe der Botschaft ein Ausbildungslager der US-Armee für afghanische Soldaten, das als Ziel ebenfalls in Frage käme. Zu Ermittlungen wurde ein Team des Bundeskriminalamtes nach Kabul geschickt. Ungewiss ist, ob die Botschaft saniert werden kann oder neu errichtet wird.

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Deutschland prescht bei Friedensdiplomatie in Gaza vor

Steinmeier fordert EU-Initiative / Frankreich regt Konferenz zur Gründung eines Palästinenser-Staates an

Von Daniel Brössler

Berlin - In den Bemühungen gegen ein Wiederaufflammen der Gewalt in Gaza zieht Deutschland noch vor Amtsantritt der neuen US-Regierung die diplomatische Initiative an sich. In einem der SZ vorliegenden Arbeitsplan wirbt Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier für ein koordiniertes Vorgehen der EU. "Es gibt jetzt eine Zäsur", hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Diese müsse auch von der EU genutzt werden. Steinmeier habe das Papier mit dem EU-Außenbeauftragten Javier Solana und dem tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg abgestimmt, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Tschechien hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne, ist aber offenbar mit einer aktiven Rolle Deutschlands einverstanden.

Die Bemühungen zielen erkennbar auch darauf ab, der neuen US-Regierung nicht die alleinige Initiative zu überlassen. Steinmeier, der während des Gaza-Krieges zwei Mal in die Region gereist war, verfolgt mit dem Arbeitsplan unter anderem das Ziel, der palästinensischen Autonomiebehörde wieder zu mehr Geltung im von der Hamas beherrschten Gaza-Streifen zu verhelfen. An den Vorbereitungen einer internationalen Konferenz für den Wiederaufbau solle sich die EU "in enger Abstimmung" mit der Autonomiebehörde beteiligen, heißt es in dem in Stichworten gehaltenen Papier. Frankreich rief sogar zu einer Konferenz auf, die die Gründung eines palästinensischen Staates vorbereiten solle.

Der deutsche Vorschlag sieht einen fünfstufigen Plan vor, beginnend mit humanitärer Hilfe, etwa der Finanzierung von Medikamenten, Lebensmitteln, Notunterkünften und Treibstoff. Im zweiten Schritt sollen Aktivitäten gegen den Waffenschmuggel unterstützt werden, was einer Hauptforderung Israels entspricht. Im Vorgehen gegen den Waffenschmuggel sieht das Auswärtige Amt Deutschland in einer "Vorreiterrolle", weil Deutschland mit Ägypten bereits zu einer Vereinbarung gekommen sei. Eine Delegation aus vier Experten des Innenministeriums und einem Vertreter des Auswärtigen Amtes soll in Kürze nach Ägypten aufbrechen und dort sondieren, wie das Land beim Kampf gegen den Schmuggel von Waffen durch das verzweigte Tunnelnetz an der Grenze zu Gaza unterstützt werden kann.

Im Arbeitspapier der Berliner Diplomaten ist von "Training und Förderung" ägyptischer Sicherheitskräfte die Rede. Dies ist heikel, weil Ägypten Wert auf die Wahrung seiner Souveränität legt, während Israel auf eine Mission hofft, die auch überwachend tätig ist. Die Öffnung von Grenzübergängen, der Wiederaufbau in Gaza und im letzten Schritt eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses werden in dem Steinmeier-Papier als weitere Bereiche genant, in denen sich die EU koordiniert engagieren soll.

Die Initiative Steinmeiers folgt auf einen eintägigen Kurzbesuch von Kanzlerin Angela Merkel in der Region. In der Nahost-Politik gibt es zwischen Kanzlerin und Kanzlerkandidat keine Differenzen, aber offenbar einen Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit. Steinmeier stellte sein Konzept auch im SPD-Präsidium vor und erhielt dort nach Angaben von Teilnehmern volle Unterstützung. Steinmeiers Beitrag für eine Lösung der Konflikte im Nahen Osten werde anerkannt. Der gemeinsame Auftritt von Bundeskanzlerin Merkel mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und anderen europäischen Regierungschefs am Sonntagabend in Ägypten sei dagegen "etwas belächelt worden".

König Abdullah von Saudi-Arabien forderte Israel unterdessen auf, das von ihm bereits vor mehreren Jahren vorgeschlagene arabische Friedensangebot anzunehmen. "Der arabische Vorschlag liegt nicht mehr lange auf dem Tisch", drohte er während eines Gipfeltreffens der Arabischen Liga in Kuwait. Das Angebot, das 2002 in Beirut von allen Staaten der Liga akzeptiert worden war, bietet Israel die Aufnahme normaler Beziehungen zu den arabischen Staaten an, falls sich der jüdische Staat aus allen Gebieten zurückziehen sollte, die er im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzt hat. Die Angriffe der israelischen Armee im Gaza-Streifen in den vergangenen Wochen bezeichnete der König als "gnadenlos".

"Der arabische Friedensvorschlag liegt nicht mehr lange auf dem Tisch."

Begehrte Hilfe: Nach dem jüngsten Gaza-Krieg sind die meisten Palästinenser auf Lebensmittel der Vereinten Nationen angewiesen. Foto: AFP

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Neue Einigung im Gas-Streit

Moskau - Die staatlichen Energieversorger Russlands und der Ukraine, Gazprom und Naftogaz, haben am Montag in Moskau nach einem beispiellosem Gasstreit einen neuen Vertrag unterzeichnet. Das Dokument lege Gaspreise und Transitgebühren fest, meldete die Agentur Interfax. Damit ist nach fast zwei Wochen Totalblockade der Weg frei für eine Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen durch die Ukraine in Richtung Westen. Die Verhandlungen der Gas-Konzerne beider Länder über Details des neuen Vertrages hatten sich am Montag bis nachmittags hingezogen.

In der Nacht zu Sonntag hatten sich die Regierungschefs beider Länder über Rahmenbedingungen geeinigt. Genaue Zahlen wurden allerdings nicht genannt. Die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko und ihr russischer Amtskollege Wladimir Putin hatten verkündet, dass die Ukraine ab 2010 europäische Preise zahlen soll und in diesem Jahr einen Nachlass von 20 Prozent bekommt. Bei den Gesprächen am Montag sei es deshalb vor allem um den genauen Preis gegangen, sagte ein Sprecher der ukrainischen Botschaft in Moskau.

Bogdan Sokolowskij, Berater des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko, hatte neue Änderungsvorschläge für Gas- und Transit-Preise ins Spiel gebracht. Die Ukraine wählt in diesem Jahr ein neues Parlament, Juschtschenko und Timoschenko sind Rivalen. Einer der Gründe für das Scheitern der Verhandlungen Ende Dezember liegt nach Meinung von Beobachtern auch darin, dass Juschtschenko Timoschenko den Verhandlungserfolg nicht gönnen wollte und sie kurz vor einer Einigung abberief. Am Montag bekräftigte Juschtschenko aber, dass die ukrainische Delegation "ein Mandat" für den Abschluss eines Vertrages habe. zri/dpa

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Böhmer kritisiert Berlin

Berlin - Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), hat die Entscheidung des Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening, kritisiert, nicht an einem Treffen mit Schulleitern aus Berlin-Mitte im Kanzleramt teilzunehmen. "Diese Haltung ist für mich absolut unverständlich", sagte Böhmer. Bei dem Gespräch mit den Rektoren soll für soziale Brennpunkte in der Stadt eine Lösung gefunden werden. dpa

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38 Suizidversuche

Berlin - In Deutschland haben von 2005 bis 2007 mehr als 40 Abschiebehäftlinge Selbstmord begangen oder einen Suizidversuch unternommen. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Fraktion hervor. Danach kam es in sieben Bundesländern zu 38 Suizidversuchen. In Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen brachten sich insgesamt drei Gefangene in Abschiebehaft um. ddp

Viele Abschiebehäftlinge wollen sich nicht in ihr Schicksal ergeben. ddp

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Krisenstab eingesetzt

Sanaa/Berlin - Das Schicksal des am Sonntag im Jemen entführten Deutschen bleibt ungewiss. Das Auswärtige Amt bestätigte am Montag den Fall offiziell. Man bemühe sich, den Mann freizubekommen, sagte eine Sprecherin, nannte aber keine Einzelheiten. Der Krisenstab der Botschaft sei intensiv bei der Arbeit. Das örtliche Gasunternehmen Yemen LNG hatte die Entführung des Deutschen bereits am Sonntag gemeldet. Zusammen mit dem Mann seien im Süden des Landes zwei einheimische Mitarbeiter verschleppt worden. Die Männer seien am Sonntag in der Provinz Schabwa von Stammesangehörigen gekidnappt worden, die damit ein inhaftiertes Mitglied freipressen wollten, sagte ein Gewährsmann aus Kreisen der Sicherheitskräfte. AP

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Köhler: Gesetze sind keine Bananen

Bundespräsident plädiert bei Richterbund-Jubiläum für deutlichere Rechtssätze

Von Helmut Kerscher

Berlin - Bundespräsident Horst Köhler hat den Beitrag der Gerichte zum Rechtsfrieden und zur Rechtssicherheit betont. Die hohe Bedeutung des Rechts in Deutschland sei eine kulturelle Leis-tung, zu der die Richterschaft entschei-dend beigetragen habe, sagte er in Ber-lin im Maxim-Gorki-Theater bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Richterbundes. Zugleich warnte Köhler die Gerichte, den Gesetzgeber und die Verwaltung vor einer weiteren Verrechtlichung. Diese müsse Grenzen haben, weil andernfalls "die gesellschaftliche Strangulation und der Justizinfarkt" drohten.

Er lese, sagte Köhler, manchen Normenbestand nur mit sehr gemischten Gefühlen, so detailliert werde da alles geregelt. Wer solle das lesen, behalten und verstehen, fragte der Bundespräsident. Das Recht solle helfen, die Komplexität des Lebens zu reduzieren. Paradoxerweise drohe die Gerechtigkeit gerade in überkomplexen Regelwerken zu verschwinden. Köhler richtete seinen Appell an alle drei Staatsgewalten. So hätten die Ge-richte ihre Anforderungen an die Umsicht und Weisheit des Gesetzgebers immer weiter verfeinert. Gesetzgeber und Verwaltung sorgten zunehmend für Un-bestimmtheiten und Widersprüche. "Gesetze und Verordnungen sind keine Bananen; sie dürfen nicht erst beim Abnehmer reifen", sagte Köhler und erntete dafür heitere Zustimmung. Er plädierte für längere Reifezeiten von Rechtssätzen. Der Präsident rief die Gerichte dazu auf, als Dolmetscher zu wirken und den Buchstaben und den Geist der Gesetze zu erklären. Dies setze voraus, dass die Gerichte lebensnah und mit Verständnis für soziale und ökonomische Zusammenhänge arbeiteten. Den Gerichten sollten zudem die engen Grenzen einer richterlichen Rechtsfortbildung bewusst sein. Generell müsse die Justiz "auch in Deutschland attraktiv bleiben für die besten Köpfe", sagte Köhler. Er habe Verständnis dafür, dass Richter und Staatsanwälte angemessen honoriert werden wollten.

Eine andere zentrale Forderung des Deutschen Richterbundes, nämlich die nach einer Selbstverwaltung der Justiz, unterstützte in ihrer Festrede Jutta Lim-bach, die frühere Präsidentin des Bun-desverfassungsgerichts. Sie halte es für einen folgerichtigen Fortschritt auf dem Weg einer konsequent durchgeführten Gewaltenteilung, dass die Justiz sich aus der "Vormundschaft oder Obhut" der Justizministerien befreien und selbst die Personal- und Budget-Hoheit übernehmen wolle. Limbach bat jedoch eindringlich um die Berücksichtigung auch der negativen Erfahrungen mit der Justizselbstverwaltung im Ausland. Man solle nicht dem Irrglauben aufsitzen, in anderen Ländern gelänge es besser, Personal- und Haushaltsgeschäfte aus der Parteipolitik herauszuhalten.

Auch Limbach hob den Beitrag der Richterschaft zur Entstehung einer demokratischen politischen Kultur in Deutschland hervor. Wie Köhler betonte sie die Bedeutung lesbarer Texte. Es fehle an einer "vernünftigen Informationspolitik", was in der Mediengesellschaft ein schweres Versäumnis der Justiz sei. Auch für Richter und Staatsanwältinnen gehöre Klappern zum Handwerk.

"Die Justiz muss für die besten Köpfe attraktiv bleiben."

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Bußgeld für Lustreisen

Gummersbach - Im Lustreisen-Prozess vor dem Gummersbacher Amtsgericht sollen die Verfahren gegen zehn der 14 angeklagten Kommunalpolitiker eingestellt werden. Nach drei Verhandlungstagen hatten die Verteidiger die Einstellung "wegen geringer Schuld" beantragt. Die Staatsanwaltschaft stimmte in zehn Fällen zu. Daraufhin setzte das Gericht für die Politiker, die der Vorteilsannahme und Untreue angeklagt waren, Bußgeldzahlungen in Höhe zwischen 1500 und 13 500 Euro fest. jon

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Mehr Bildung für Kleinkinder

Neuer KMK-Präsident will Erzieher-Beruf aufwerten

Von Birgit Taffertshofer

München - Henry Tesch ist an diesem Montag in Berlin als neuer Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) angetreten. Der Bildungs- und Wissenschaftsminister aus Mecklenburg-Vorpommern wird turnusgemäß für ein Jahr der obersten Bildungsinstanz in Deutschland vorstehen. Der 46-jährige CDU-Politiker will vor allem die frühkindliche Förderung verbessern sowie die Ausbildung der Erzieher aufwerten. In jedem Fall komme man nicht umhin, sich auf gewisse bundesweite Standards zu einigen, sagte Tesch bei seiner Amtseinführung. Die 16 Kultusminister müssten einen Kompromiss finden, um die derzeit unterschiedlichen Ansätze in der Erzieherausbildung zu vereinheitlichen.

Tesch, der früher Lehrer und Direktor eines Gymnasiums in Neustrelitz war, wurde 2006 Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern. Bisher musste sich der gebürtige Schweriner in dem weitflächigen Bundesland vor allem dafür einsetzen, trotz des Schülerschwunds genügend wohnortnahe Schulen zu erhalten. Seit der Vereinigung hat sich die Zahl der Erstklässler etwa halbiert. Ein neues Schulgesetz soll nun helfen, indem es den Schulen erlaubt, die Klassengrößen selbst zu bestimmen.

Tesch folgt auf die saarländische Kultusministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die auch der CDU angehört. Am politischen Kurs seiner Vorgängerin will Tesch wenig verändern. Neben der frühkindlichen Bildung stellt er ebenfalls die berufliche Weiterbildung in den Mittelpunkt seines Programms. Berufstätige ohne Abitur sollen künftig leichter Zugang zu den Hochschulen bekommen. Dies sei ein wichtiger Beitrag, das deutsche Bildungssystem durchlässiger zu machen, sagte Tesch. Ein Beschluss zum Hochschulzugang soll noch im Jahr 2009 konkrete Verbesserungen bringen.

Außerdem plant Tesch, die musisch-ästhetische Bildung aus ihrem Schattendasein zu holen. Trotz knapper öffentlicher Mittel müssten alle gesellschaftlichen Kräfte mithelfen, die kulturelle Kompetenz der Jugend zu fördern. Aufgabe der Politik sei es, die Voraussetzungen für die Arbeit der Initiativen zu verbessern. Unter anderem will Tesch Museen als außerschulische Lernorte stärken und Kriterien für Kooperationen zwischen Schulen und Jugendarbeitern entwickeln.

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"Abwegige" Forderungen

Länder weisen Lohnwünsche der Gewerkschaften zurück

München - Die Gewerkschaften haben die Bundesländer aufgefordert, bei der nächsten Tarifverhandlung für die Länderbeschäftigten im öffentlichen Dienst in der kommenden Woche ein Angebot vorzulegen. "Die Beschäftigten brauchen ein klares Signal, woran sie sind", sagte der stellvertretende Vorsitzende des Beamtenbunds, Frank Stöhr, am Montag nach der ersten Verhandlungsrunde in Berlin. Sie dauerte knapp zwei Stunden, beide Seiten beschränkten sich aber im wesentlichen darauf, ihre Positionen vorzutragen. Der Verhandlungsführer der Länder, Niedersachsens Finanzminister Hartmut Möllring (CDU), sagte, man sei auf einem guten Weg. Die Forderung nach einer Gehaltserhöhung von acht Prozent nannte er "abwegig".

In den Tarifverhandlungen geht es unmittelbar um 866 000 Arbeiter und Angestellte in 14 Bundesländern, und mittelbar um 1,1 Millionen Beamte in diesen Ländern. Deren Bezüge werden formal durch die Landesgesetze festgelegt; der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers (CDU), hat aber bereits angekündigt, den Beamten exakt dieselbe Steigerung wie den Arbeitern und Angestellten zu gewähren. Hessen und Berlin wiederum sind nicht Mitglied der Tarifgemeinschaft der Länder. Mit Hessen verhandeln die Gewerkschaften von diesem Mittwoch an separat, Verhandlungen mit Berlin stehen zum Jahresende an. Verdi-Chef Frank Bsirske sagte, die ablehnende Haltung der Arbeitgeber sei kein Grund zu besonderer Unruhe. In der Tarifrunde 2005/2006 sei ein Jahr lang verhandelt und 16 Wochen gestreikt, danach aber ein verlässlicher Tarifabschluss erreicht worden. Bislang laufe alles "so, wie man das kennt und erwarten konnte", sagte Bsirske. "Insofern besteht kein Grund zu besonderer Unruhe, sondern zu viel Gelassenheit." In den Verhandlungen mit dem Bund und den Kommunen hatten die Gewerkschaften vor einem Jahr 5,9 Prozent Lohnsteigerung für zwei Jahre erzielt. Bsirske sagte, dieses Ergebnis sei für die Gewerkschaften "der Maßstab". Außer Verdi und dem Beamtenbund sind in der Tarifrunde auch die GEW und die GdP vertreten. de.

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Ein Watzmann für Berlin

Architekten würden auf dem ehemaligen Flughafenareal Tempelhof gerne eine alpine Landschaft bauen, doch der Senat favorisiert Wohnungen

Von Constanze von Bullion

Berlin - Es ist ein Berg für Visionäre, und er soll den Berliner Stadtplanern sozusagen zu etwas mehr Sauerstoff in den Gehirnen verhelfen. Man muss sich diesen Berg mächtig vorstellen wie den Watzmann, mit Skipisten und lauschigen Almen zum Wandern. Mitten in Berlin soll der Riese sich erheben, genauer gesagt: auf dem Gelände des stillgelegten Traditionsflughafens Tempelhof.

Kein Witz, der Berliner Architekt Jakob Tigges hat ein Konzept entwickelt, das aus dem brachliegenden Flugfeld in Tempelhof eine mehr als 1000 Meter hohe alpine Landschaft macht. Bisher existiert sie nur als Computeranimation, und dass sie je Wirklichkeit wird, ist nicht geplant. Der 35-Jährige hat den virtuellen Gipfel beim Ideenwettbewerb zu Bebauung des Flugfelds eingereicht. Er versteht ihn als bitterböse Kritik an der Einfallslosigkeit des Berliner Senats.

"Ich finde es erbärmlich, wie der Senat mit dem Tempelhofer Feld umgeht", sagt Tigges. "Die Fläche ist viel zu wertvoll, um sie mittelmäßigen Wohnungsbauten zu opfern." Statt das Riesengelände von den Seiten her mit Wohnhäusern zuzupflastern und in der Mitte einen Park übrigzulassen, müsse Berlin eine "große, schöne und wichtige Idee" für den berühmten Ort entwickeln. Etwas Erhabenes sozusagen, das Sehnsüchte wecke wie ein Berg. Stattdessen verzettle sich die Stadt in Wettbewerben und gesichtslosem Klein-Klein. "In Berlin gibt es keinen Entwicklungsdruck", sagt der Architekt, lieber solle man 20 Jahre warten, bis ein tolles Projekt gefunden sei.

Beim Berliner Senat sieht man das anders, hier will man - nach Jahren ohne jeden Denkversuch - das Tempelhofer Feld zügig entwickeln. Am Montag stellte Senatsbaudirektorin Regula Lüscher in der ausgestorbenen Haupthalle des Flughafens erste Ergebnisse des Ideenwettbewerbs vor, an dem sich auch Berg-Fan Tigges beteiligt hat. Zwölf Architekten wurden ausgewählt, die Vorschläge für die 105 Hektar im Norden des Fluggeländes gemacht haben. Hier soll das "Columbiaquartier" entstehen, das Kreuzberg und Neukölln vernetzt, "innovatives Wohnen" ermöglicht und das Flughafengelände als "Frischluftgebiet und Kühlschrank" der Stadt erhält.

Während ein Vorschlag ovale Hochhausinseln im Grünen wie Ameiseneier auf der Wiese vorsieht, setzen andere auf eine sukzessive Erschließung des Geländes, auf dem erst Sportflächen oder Apfelbaumhaine wachsen sollen und dann Wohnhäuser. Senatsbaudirektorin Lüscher zeigte sich "zufrieden" mit den Entwürfen, die aber noch auf finanzielle Solidität geprüft werden müssten. Der Sieger soll im Mai feststehen.

Erste Ergebnisse gibt es auch beim call for ideas, dem Ruf nach Ideen, den der Senat ausgestoßen hat, um das Hauptgebäude des Flughafens wiederzubeleben. Der Erhalt des denkmalgeschützten Baus, in dem 300 000 Quadratmeter Gewerbefläche liegen, alte Hangars und Bürolabyrinthe des Kalten Krieges, kostet das Land 14,2 Millionen Euro im Jahr. Verkauft werden kann es erst, wenn die Eigentumsfrage zwischen Land und Bund geklärt ist. Bis dahin soll vermietet werden, möglichst an die "Kreativwirtschaft".

61 Vorschläge sind nun eingegangen, von Eventmanagern, alternativen Energieproduzenten, Hoteliers, Bildungsträgern und Sportfreunden. Ihre Namen sind noch anonym, aber es ist kein Geheimnis, dass die Babelsberger Filmstudios zu den Favoriten des Senats gehören."Wir sind in der Poleposition", sagte der Geschäftsführer der Filmbetriebe Berlin-Brandenburg, Christoph Fisser.

Fisser hat mal alte Bundeswehrkasernen in München entwickelt und will nun auch in Tempelhof Film- und Fernsehstudios ansiedeln. "Das Gebäude muss zehn Millionen Euro erwirtschaften, das trauen wir uns durchaus zu", sagt er. Beim Senat wird das noch leise bezweifelt, hier wünscht man nur Bewerber, die ohne öffentliches Geld auskommen - offiziell. Hinter den Kulissen aber glaubt hier keiner mehr, dass sich ein Investor finden wird, der den Tempelhofer Koloss ganz allein in Schuss halten kann.

"Die Fläche ist zu wertvoll, um sie mittelmäßigen Wohnungsbauten zu opfern."

Der Architekt Jakob Tigges provoziert mit seiner Idee, Tempelhof in eine Berglandschaft umzuwandeln. Foto: oh

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Dschingis Khans Urenkel rebellieren

Die Krimtataren, in der Sowjetunion verfolgt und entrechtet, fordern von der ukrainischen Regierung ihre Rehabilitierung

Von Thomas Urban

Simferopol - Vorsichtshalber warnt Enver Kakura die Gäste seines Hotels, das sich ein paar Schritte vom Simferopoler Bahnhof entfernt befindet: Nachts sei das ganze Viertel unbeleuchtet. Man könnte in eines der Kanallöcher auf der Straße fallen, die schweren Deckel aus Gusseisen wurden wohl von Schrottdieben entwendet. Selbst bei Tageslicht muss man die Örtlichkeit gut kennen, um das Hotel überhaupt zu finden. Denn es gibt weder Reklametafel noch Firmenschild. Doch ist das kleine, sehr gepflegte und überraschend modern eingerichtete Gasthaus, das gerade einmal sechs Zimmer zählt, meist ausgebucht. Die Gäste kommen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien und vor allem aus der Türkei nach Simferopol, die Hauptstadt der Halbinsel Krim. Sie kommen gewissermaßen zu einem Verwandten, denn Enver Kakura ist Krimtatare. Und zu Glaubensbrüdern, denn die Tataren sind Muslime.

Aber nicht nur deshalb ziehen sie es vor, nicht aufzufallen, sondern eher im Verborgenen zu bleiben. Den Krimtataren schlägt nämlich immer wieder offen Feindschaft entgegen, von Seiten der russischsprachigen Mehrheit, die mehr als 90 Prozent der etwa zwei Millionen Einwohner der zur Ukraine gehörenden Halbinsel stellt. Eine Rolle spielt dabei die historische Feindschaft: Im Mittelalter hatte die von Enkeln Dschingis Khans geführte Goldene Horde für zweieinhalb Jahrhunderte Russland besetzt, die Krimtataren sind ihre Nachfahren. Später war die Krim zwischen Russland und dem Osmanischen Reich umkämpft, die Tataren standen dabei auf Seiten der Türken. Vor allem aber sieht sich die russische Mehrheit heute durch tatarische Forderungen bedroht. Es geht auch um Geld, um Millionen aus dem Immobiliengeschäft und der Touristikbranche.

"Unter uns gärt es ganz gewaltig", sagt Temur Chelebi, ein Mitarbeiter des tatarischen Kulturzentrums in Simferopol. "Wir fordern Gerechtigkeit!" An erster Stelle verlangen sie ihre Häuser zurück, aus denen sie am Ende des Zweiten Weltkriegs vom sowjetischen Geheimdienst NKWD vertrieben wurden, sowie ihre Felder, die heute teilweise teures Bauland geworden sind. Die Krimtataren konnten während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg zu ihren Häusern und Grundstücken zurückkehren, die sie während der Kollektivierung unter Stalin hatten verlassen müssen. Nachdem die Wehrmacht im April 1944 abgezogen war, wurden sie folglich kollektiv als Kollaborateure gebrandmarkt.

"Schon am Tag nach der Rückkehr der Roten Armee verhaftete der NKWD alle unsere Männer", weiß Chelebi zu berichten. In den folgenden Wochen wurden sie an den Polarkreis, nach Sibirien, Kasachstan oder Usbekistan deportiert. In einer zweiten Welle folgten die Alten, Frauen und Kinder. Insgesamt waren es 350 000 Personen, etwa ein Drittel kam in der Kälte um.

Enver Kakura, der Besitzer des kleinen Familienhotels, vor dessen Fenstern wilder Wein wächst, ist im fernen Usbekistan geboren. "Wir haben dort die Sehnsucht nach der Krim mit der Muttermilch aufgesogen", berichtet er. Die Großeltern hätten die Märchen und Legenden erzählt, die Lieder gesungen, die nur von einem handelten: der Schönheit der Krim.

Die Tataren, die zu Sowjetzeiten beim Versuch, auf die Halbinsel zu gelangen, vom allgegenwärtigen KGB aufgegriffen wurden, kamen in Arbeitslager. Ihre Führer wurden inhaftiert, gefoltert, einige kamen bei Mordanschlägen um. Die Kinder durften keine höheren Schulen besuchen. Aus Protest gegen die Unterdrückung seiner Landsleute übergoss sich im Sommer 1978 ein junger Mann namens Mussa Mamut mit Benzin und zündete sich an. Er gilt seitdem den Krimtataren als nationaler Märtyrer, zu seinem 30. Todestag versammelten sich im vergangenen Jahr mehrere tausend im Zentrum von Simferopol, auf Spruchbänder hatten sie ihre Forderungen geschrieben.

An erster Stelle verlangen die Krimtataren ihre juristische Rehabilitierung. Zuständig dafür wäre keineswegs die von Russen dominierte Regionalregierung in Simferopol, sondern das Oberste Gericht im fernen Kiew sowie Staatspräsident Viktor Juschtschenko. Zum großen Unwillen der Russen auf der Krim waren die Krimtataren vor vier Jahren während der "orangenen Revolution" für den Reformer Juschtschenko auf die Straße gegangen. "Doch jetzt sind wir von ihm enttäuscht", sagt Kakura. "Er hat nichts für uns getan." Im tatarischen Kulturzentrum meint man, Juschtschenko wolle die Spannungen mit den Russen auf der Krim nicht noch weiter vergrößern. Deshalb verweigere er den Krimtataren seine Unterstützung bei ihrer Forderung nach Rehabilitierung. Denn dies würde bedeuten, dass sie auch wieder in ihre Eigentumsrechte eingesetzt werden müssten. Schon im Jahr 1990 besetzten die ersten Rückkehrer die Grundstücke, die ihnen oder ihren Vorfahren gehört hatten. In der Umgebung von Simferopol errichteten sie Hunderte Holzhütten auf Feldern und Wiesen, auf die sie Anspruch erheben.

Während sich im Landesinneren kaum jemand um diese Hütten kümmert, gehen die Behörden in den Touristengebieten an der Südküste hart gegen die Haus- und Grundstücksbesetzer vor. Erst im vergangenen Herbst kam es auf dem Berg Ai-Petri, einem beliebten Ausflugsziel nördlich von Jalta, zu Zusammenstößen zwischen tatarischen Demonstranten und Ordnungskräften, die sogar mit gepanzerten Mannschaftswagen vorfuhren. Die Touristikbranche auf der Krim, die fest in der Hand einheimischer Russen ist, wehrt sich mit aller Kraft gegen die Forderungen der Tataren. Kakura hat kürzlich in der Zeitung gelesen, dass eine Baufirma in der Touristenhochburg Aluschta eine attraktive Parzelle, die einst seinen Großeltern gehört hatte, für fünf Millionen Dollar erworben hat.

"Nein, ums Geld geht es den meisten von uns gar nicht", sagt jedoch Lenur Junussow, ein Journalist, der für eine russischsprachige Zeitung arbeitet. Für die meisten seiner Landsleute sei die Pflege ihrer Religion und Kultur am wichtigsten. Mehrere Dutzend kleiner Moscheen sind in den letzten Jahren entstanden, meist erst nach heftigen Kämpfen mit den Lokalbehörden. Im Forderungskatalog stehen denn auch Tatarisch als Schulfach, vor allem aber die Wiedereinführung der alten Ortsnamen, die unter Stalin abgeschafft worden waren. Stattdessen bekamen die Kleinstädte und Dörfer auf der Krim damals typisch sowjetische Namen wie Pionerskoje, Pjerwomajskoje (1. Mai-Dorf) oder Tankowoje (Panzerdorf). Die Vertreter der Tataren schlagen dabei einen Kompromiss vor: Ortsschilder mit den russischen und den tatarischen Namen. Sie verweisen darauf, dass der Name der Halbinsel selbst aus dem Tatarischen stammt: Er wurde abgeleitet vom Wort "Qirim", was "Festung" bedeutet.

Doch ihre junge Generation sieht sich aus der eigenen Festung ausgesperrt. Deshalb gingen immer mehr zum Studium in die Türkei und kehrten von dort nicht zurück, wie der Journalist Junussow klagt. Er aber möchte trotz aller Widrigkeiten nie mehr die Krim verlassen, ebenso wenig wie Kakura. An der Wand des orientalisch dekorierten Esszimmers seines kleinen Hotels steht in großen Lettern auf Tatarisch: "Zuerst die Heimat!"

Fünf Millionen Dollar für das Grundstück der Großeltern

Überwältigt von der Erinnerung: Bei einer Gedenkveranstaltung in Simferopol trauern Krimtataren über das Schicksal ihrer Vorfahren, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee deportiert wurden. Foto: AP

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Türkei nutzt Gaskrise als Druckmittel

Erdogan verbindet Planung einer Pipeline durch sein Land mit der Beitrittsfrage

Von Martin Winter

Brüssel - Die Türkei will die Gaskrise zwischen Russland und der Ukraine offensichtlich nutzen, um ihre Aufnahme in die EU voranzutreiben. Bei seinem ersten Besuch seit vier Jahren in Brüssel ließ Ministerpräsident Recep Erdogan am Montag kaum einen Zweifel daran, dass das Schicksal der geplanten Nabucco-Pipeline auch davon abhänge, dass die Beitrittsverhandlungen vorankommen. Bei einer Pressekonferenz wollte er die Freigabe eines Teils der Beitrittsverhandlungen zwar nicht direkt zur Bedingung für Nabucco machen. Aber er wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Verhalten der EU in der Beitrittsfrage einen "großen Einfluss auf die öffentliche Meinung" in seinem Land habe.

Nabucco ist ein wichtiges Instrument beim Versuch der Europäer, sich von russischen Gasquellen und ukrainischen Pipelines unabhängiger zu machen. Die Leitung soll Gas aus dem kaspischen Raum und aus dem Mittleren Osten über die Türkei und an Russland vorbei nach Europa bringen. Die Türkei bekäme mit Nabucco eine wichtige strategische Bedeutung für die Versorgungssicherheit in Europa.

Der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, drängte seinen Gast, Fragen der Energiesicherheit nicht mit bestimmten Teilen des Beitrittsprozesses "zu verbinden". Doch nachdem Ankara in den letzten zwei Jahren wegen seiner nachlassenden Reformanstrengungen immer heftiger in der EU kritisiert worden war und die Stimmen gegen eine Aufnahme immer lauter wurden, will es jetzt offenbar einen neuen Anlauf nehmen. Dabei steht aber im Wege, dass wichtige Kapitel der Beitrittsverhandlungen politisch blockiert sind, weil die Türkei Verpflichtungen aus ihrer Zollunion mit der EU dem EU-Mitglied Zypern gegenüber nicht nachkommt.

Seit bald einem Jahr versuchen Zypern und das türkisch beherrschte Nordzypern einen Weg zur Überwindung der Teilung zu finden, die die eigentliche Ursache für die Blockade der türkischen Ambitionen ist. Barroso versprach Erdogan, dass die Kommission alles in ihrer Macht Stehende tun werde, dass bald über alle Teile eines Beitritts verhandelt werden könne. Die Europäer müssten begreifen, dass die Türkei "keine Last, sondern ein Gewinn" für die EU sei.

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Prozess gegen Folter-Chef

Phnom Penh - Fast genau 30 Jahre nach dem Ende der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha beginnt im Februar der erste Prozess gegen einen überlebenden Verantwortlichen. Der heute 66 Jahre alte Ex-Chef des berüchtigten Foltergefängnisses S-21 in Phnom Penh, Kaing Guek Eav alias Duch, müsse sich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten, teilte das Völkermord-Tribunal am Montag in Phnom Penh mit. Unter dem Regime der Khmer von 1975 bis 1979 verschwanden in S-21 mehr als 16 000 Menschen. dpa

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Majestätsbeleidigung

Bangkok - Ein australischer Autor ist in Thailand wegen Majestätsbeleidigung zu drei Jahren Haft verurteilt worden. In seinem Buch habe der 41-jährige Harry Nicolaides einem - erfundenen - Prinzen Machtmissbrauch vorgeworfen, hieß es zur Urteilsbegründung. Der Angeklagte sagte, er fühle sich "fürchterlich". Er wolle sich entschuldigen, da er König Bhumibol "uneingeschränkt respektiere". AP

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Guerilla an die Macht

San Salvador - El Salvador steht offenbar vor einem Machtwechsel. Nach Auszählung von zwei Dritteln der Stimmen errang die frühere Guerilla Front Farabundo Martí für die Nationale Befreiung (FMLN) bei der Parlamentswahl am Sonntag mehr Sitze als die seit 20 Jahren regierende Nationalistische Republikanische Allianz (Arena) von Präsident Elías Antonio Saca. Die FMLN erklärte sich zur Siegerin. Vertreter beider Parteien hatten im vor 17 Jahren zu Ende gegangenen Bürgerkrieg gegeneinander gekämpft. Die Linke hatte es seitdem nie geschafft, die Vormacht der stark an die USA angelehnten Nationalisten zu brechen. SZ/AFP

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"Die Europäer sollen Obama helfen"

Amerikanische Anwälte suchen Aufnahmeländer für Ex-Häftlinge aus Guantanamo

Shayana Kadidal leitet das Guantanamo-Projekt am New Yorker Center for Constitutional Rights. Die Menschenrechtsorganisation organisiert ein Netzwerk von Anwälten, die Gefangene aus dem US-Lager auf Kuba vor Gericht vertreten wollen.

SZ: Der neue US-Präsident Barack Obama hat versprochen, Guantanamo rasch zu schließen. Was folgt daraus?

Kadidal: Inoffiziell haben Regierungsvertreter immer davon gesprochen, dass die Mehrheit der Gefangenen nicht verurteilt würde. Es ist davon auszugehen, dass maximal 25 der jetzigen Insassen tatsächlich eine Haftstrafe zu erwarten haben - das ist ein Zehntel jener 245 Männer, die noch in Guantanamo sind. Die anderen werden wohl freigelassen, so wie jene 520 Menschen, die schon in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Allerdings können einige Insassen aus humanitären Gründen nicht nach Hause geschickt werden, weil ihnen dort Folter droht.

SZ: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier kann sich vorstellen, dass Deutschland einige Häftlinge aufnimmt. Bisher steht er damit in Berlin aber ziemlich allein. Warum sollten andere Länder als die USA Verantwortung für die Menschen in Guantanamo übernehmen?

Kadidal: Viele Länder haben die Existenz von Guantanamo angeprangert. Gemeinsam mit der neuen Obama-Regierung sollte es eine multilaterale Anstrengung zur schnellen Schließung des Lagers geben. Europa, vor allem Deutschland, könnte so ein neues Kapitel in den Beziehungen zu den USA aufschlagen, die seit dem Irak-Krieg schlechter geworden sind. Europa könnte Obama helfen, sein Wahlversprechen umzusetzen.

SZ: Es scheint aber, als wären die Europäer dazu nicht bereit. Warum?

Kadidal: Nun, man könnte sagen, George W. Bush hat sich die Suppe selbst eingebrockt. Aber man sollte bedenken: Jahrelang hat Bush verkündet, die Guantanamo-Häftlinge seien das Böseste vom Bösen. Und nun soll Obama den Leuten klarmachen, dass die USA all diese Ex-Häftlinge aufnehmen sollen? Die Europäer dagegen wissen, dass es viele zu Unrecht Inhaftierte gegeben hat, darunter auch Europäer, etwa Murat Kurnaz. Diese Ex-Häftlinge konnten glaubhaft machen, dass sie niemals dorthin hätten gebracht werden dürfen.

SZ: Sie schlagen vor, als symbolischen Akt den 17 noch in Guantanamo einsitzenden Uiguren in den USA Schutz zu gewähren. Interessanterweise sind das jene Uiguren, von denen es hieß, sie könnten am ehesten in Deutschland Aufnahme finden. Warum sind sie so beliebt?

Kadidal: Weil sie die einfachsten Fälle sind. Das Militär hat von Anfang an eingeräumt, dass man sie nicht hätte festnehmen sollen. Genauso klar ist aber, dass sie nicht an China ausgeliefert werden können. Leider hat die Regierung in Peking so viel Macht, dass es selbst für EU-Staaten ein Problem ist, sich ihren Forderungen zu widersetzen. Das Schicksal der Uiguren ist in der US-Öffentlichkeit seit langem bekannt. Für die Amerikaner sind das unschuldige Jungs, die für Geld verkauft wurden. Außerdem gibt es um Washington herum eine kleine Gemeinde von etwa 2000 Uiguren. Das alles sind Argumente, sie in den USA aufzunehmen.

SZ: Was geschieht, wenn kein europäisches Land den etwa 40 Ihrer Ansicht nach schutzbedürftigen Ex-Häftlingen Asyl gewähren will?

Kadidal: Das wird hoffentlich nicht passieren. Es geht letztlich nur um relativ wenige Menschen. Wenn die Welt von ihren Schicksalen erfährt, wird man ihnen Schutz gewähren wollen.

Interview: Katja Riedel

Shayana Kadidal vom New Yorker Center for Constitutional Rights. Foto: AP

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Notprogramm für die Milch

EU kämpft mit Exporthilfen gegen die sinkenden Preise

Brüssel - Die EU-Agrarminister haben Notmaßnahmen beschlossen, um den zuletzt dramatisch abgefallenen Milchpreis zu stützen. "Wir müssen jetzt etwas tun, damit die Situation nicht in die Katastrophe abrutscht", sagte Gert Lindemann, Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium, in Brüssel. Damit machen die Minister den Weg frei für den Plan der EU-Kommission, die in der vergangenen Woche vorgeschlagen hatte, die seit Juni 2007 ausgesetzten Exporterstattungen für Butter, Käse und Milchpulver wieder einzuführen. So soll der Milchpreis stabilisiert werden. "Bei Exportsubventionen ist es aber wichtig, dass es sich dabei nur um eine zeitlich befristete Notmaßnahme handelt", sagte Lindemann. Die Kommission müsse sicherstellen, dass die Exportbeihilfen nicht zu Lasten von Bauern in Entwicklungsländern gingen, forderte der Ministerrat. Erzeuger in Afrika könnten benachteiligt sein, wenn billige europäische Produkte den Kontinent überschwemmten. Deutschland sieht den Preisverfall der vergangenen Monate auch als Resultat der im März 2008 beschlossenen Erhöhung der Milchquote um zwei Prozent.

Außerdem haben die EU-Minister über Maßnahmen beraten, wie sich Preissprünge bei Nahrungsmitteln vermeiden lassen. Im vergangenen Jahr waren die Lebensmittelpreise stark angestiegen und hatten in der EU zwischen August 2007 und Juli 2008 zu einem Kaufkraftverlust der Konsumenten von einem Prozentpunkt geführt. Die Minister äußerten sich mehrheitlich positiv zu einem Vorschlag der EU-Kommission, Lebensmittelpreise künftig europaweit kontinuierlich zu überwachen und bei starken Abweichungen steuernd einzugreifen. Auch die Konsumenten sollen Zugang zu einem solchen zentralen Preis-Monitoring der Kommission erhalten und Angebote so grenzüberschreitend vergleichen können. Deutschland argumentiert hingegen, dass die bestehende Preisüberwachung auf nationaler Ebene ausreiche. Uneinig waren sich die Minister auch über Vorschläge der EU-Kommission, den Wettbewerb in der Nahrungsmittelbranche zu fördern und Regelungen, die den Wettbewerb behindern, zu lockern. Dazu gehören etwa die Ladenöffnungszeiten, die nach dem Wunsch der deutschen Delegation jedoch Sache der Mitgliedsstaaten bleiben sollen.

Keine Einigung gab es auch bei der Abstimmung über die Zulassung von zwei gentechnisch veränderten Pflanzen. Dabei handelt es sich um eine in Australien gezüchtete Nelke mit blauen Blütenblättern und um eine Ölrapssorte von Bayer CropScience aus Kanada. Nun muss die Kommission entscheiden, ob die beiden Pflanzensorten in der EU zugelassen werden dürfen. Martin Kotynek

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Mädchen-Schulen zerstört

Peschawar - Die radikalislamischen Taliban haben in ihrem Kampf gegen die Ausbildung von Mädchen mehrere Schulen im Nordwesten Pakistans zerstört. In Mingora, der größten Stadt im Swat-Tal, erschütterten laut Polizei am Montag Sprengstoffexplosionen fünf Schulen, in denen Mädchen unterrichtet wurden. Es sei aber niemand verletzt worden. Taliban-Rebellen hatten damit gedroht, alle Mädchen zu töten, die nach dem 15. Januar noch eine Schule besuchten. Das Swat-Tal war früher eine beliebte Urlaubsregion. Seit einiger Zeit kämpfen dort Radikale für die Einführung des islamischen Scharia-Rechts. AFP

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Schuh-Werfer will Aysl

Irakischer Volksheld strebt Ausreise in die Schweiz an

Von Karin El Minawi

München - In der arabischen Welt wurde der irakische Journalist Montasser al- Saidi gefeiert, nachdem er in Bagdad bei einer Pressekonferenz seine Schuhe auf George W. Bush geworfen hatte. Jetzt will der 29-Jährige politisches Asyl in der Schweiz beantragen. Sein Genfer Anwalt bestätigte einen entsprechenden Bericht der Schweizer Zeitung La Tribune de Geneve. Saidi wurde am 14. Dezember unmittelbar nach der Schuh-Attacke festgenommen und sitzt seither in einem irakischen Gefängnis.

Anfang Januar trat die Familie Saidis über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz mit dem Genfer Anwalt Mauro Poggia in Kontakt. Offenbar machte sie sich große Sorgen um das Leben ihres Angehörigen. Seit dessen Inhaftierung durften die Familie ihn angeblich nur zweimal besuchen, wie der Spiegel unter Berufung auf den irakischen Anwalt des Journalisten, Dija al-Saadi, berichtet. Poggia geht ebenfalls davon aus, dass das Leben des Schuh-Werfers in Gefahr ist.

Saidi soll in der Haft gefoltert worden sein. Nach Angaben seiner Familie, so Poggia, habe der Journalist Verletzungen am Auge, Rippenbrüche, Wunden an Nase und Ohr erlitten. Die irakische Regierung hat die Foltervorwürfe bestritten. Es soll auch kein Besuchsverbot für Saidi geben. Der Anwalt dagegen betont, sein Klient, der für den TV-Sender Al Baghdadia gearbeitet hat, werde im Irak zudem seinem Beruf nicht mehr nachgehen können. Er sei gegenüber der gegenwärtigen Regierung zu kritisch eingestellt. Außerdem müsse er mit Aggressionen von Extremisten rechnen. "Das Leben in seiner Heimat könnte für ihn die Hölle werden", sagte der Anwalt. Die Familie Saidis betrachte die Schweiz dagegen als Land des Friedens und der Menschenrechte. Außerdem habe die Schweiz einen guten Ruf als Flüchtlingsaufnahmeland.

Ein offizielles Asylgesuch könnte Saidi in der Schweizer Botschaft in Bagdad allerdings erst nach seiner Freilassung stellen. "Für die Schweiz müsste es eine Ehre sein, diesem Mann die Hand zu reichen, der gezeigt habe, dass man seine Missbilligung auch ohne Sprengstoff zeigen könne", sagte Poggia im Westschweizer Radio. Er geht davon aus, dass Saidi in der Schweiz auch wieder als Journalist tätig sein könnte.

Saidi sollte bereits Ende Dezember wegen "Aggressionen gegen einen ausländischen Staatschef" vor den irakischen Strafgerichtshof gestellt werden. Der Prozess wurde allerdings auf unbestimmte Zeit vertagt, um einen Einspruch der Verteidigung zu prüfen. Sie will den Schuh-Wurf nur als einfache Beleidigung beurteilt sehen, was zu einem milderen Urteil führen würde. Andernfalls müsste der arabische Volksheld mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen.

Journalist als Volksheld: Montasser al-Saidi (rechts) wird seit seinem Schuh-Würfen auf US-Präsident George W. Bush von vielen Muslimen verehrt. Foto: AP

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Die Krönung im deutschen TV

Von den frühen Morgenstunden an berichten die Nachrichtensender N 24 (7.00 Uhr) und n-tv (7.30 Uhr) an diesem Dienstag über die Amtseinführung Barack Obamas. Phoenix beginnt um 14.45 Uhr mit einem rund zehnstündigen Sonderprogramm. ARD, ZDF (beide 17.03 Uhr) und RTL (17.58 Uhr) gehen live auf Sendung, wenn Obama den Eid schwört. Das Heute-Journal (ZDF) berichtet um 21.45 Uhr ebenfalls live aus Washington. Das Erste fasst um 22.45 Uhr in der Reportage Obama!!! die Ereignisse des Tages zusammen. SZ

Große Worte mit Aussicht auf große Taten

In Washington wird erwartet, dass der neue Präsident sofort nach Amtsantritt wichtige Entscheidungen trifft

Von Reymer Klüver

Mitbürger", donnerte der Redner zu Füßen des marmornen Abraham Lincoln, "wir können der Geschichte nicht entkommen." Der Schauspieler Tom Hanks hat die Worte gesprochen am Sonntag vor dem gigantischen Lincoln Memorial in der amerikanischen Hauptstadt Washington. Es waren nicht die seinen. Es war ein Ausspruch Lincolns. Aber sie deuteten an, was so viele Menschen bewegte bei der Massenparty für Barack Obama, für den künftigen Mann im Weißen Haus, den sie schon jetzt für einen Großen halten: Sie glauben, Zeuge eines bedeutenden Moments in der Geschichte ihres Landes zu sein.

John Bon Jovi, der alte Rocker, sang davon, dass nun endlich "der Wandel da ist". Und Stevie Wonder spielte seinen alten Hit "Higher Ground", der vom Streben nach den höheren Dingen handelt. Es war wahrlich keine Stunde der kleinen Gesten. Wie überhaupt diese Feiertage in Washington, da der 44. Präsident der Vereinigten Staaten an diesem Dienstag sein Amt antreten wird, eher Tage der großen Worte sind.

Natürlich waren die Stufen des Lincoln Memorial nicht zufällig gewählt für den Auftritt der Stars und für Obamas letzte Begegnung mit den Massen vor seiner Amtseinführung. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass vor dem monumentalen Denkmal bequem Zehntausende, ja Hunderttausende Platz finden. 400000 waren wohl da. Natürlich ist das Lincoln Memorial gewählt, weil es Schauplatz der legendären Rede Martin Luther Kings vor 46 Jahren war. Der Rede, in der King seinen Traum von einem einigen Amerika beschwor, das den Rassismus überwunden hat. Und nun wird das so lange als unmöglich Erachtete tatsächlich wahr: Ein Schwarzer wird Herr im Weißen Haus, Oberkommandierender der Streitkräfte, Präsident Amerikas.

Doch es ist nicht einmal so sehr diese gewiss historische Zäsur, die Obama und seine Leute an diesen festlichen Tagen bemühen. Von der Zugfahrt nach Washington am Samstag, die in Philadelphia am Schauplatz der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten begann, über das Konzert am Sonntag und den Tag im Dienst des Gemeinwohls an diesem Montag. Über allem schwebt ein anderer Ton, ein hoher Ton, den Obama die ganze Zeit über angeschlagen hat, im Wahlkampf und erst recht danach: Obama appelliert an die Einheit der Nation und zu einer neuen Solidarität der Amerikaner. "Das überwölbende Ziel", formuliert Linda Douglass in der Prosa der Eventplaner, "ist es, mit Hilfe der Aktivitäten und Veranstaltungen zu kommunizieren, dass wir ein Volk sind." Douglass ist Sprecherin des Presidential Inaugural Committee, der von Obama eingesetzten Arbeitsgruppe, welche die Vier-Tage-Feier organisiert.

Tatsächlich hat Obama auf der Zugfahrt einmal mehr die Einheit der Nation beschworen, als er sagte, er hoffe, "alle zusammenzubringen - Demokraten, Republikaner und Unabhängige. Nord, Süd, Ost und West. Schwarz, Weiß, Latinos, Amerikaner asiatischer Abstammung und Indianer. Schwule und Heteros, Behinderte und Nicht-Behinderte." Das hat er auf den Stufen des Lincoln Memorial wortgleich wiederholt. Aber war es nicht auffällig, dass er an dieser Stätte Martin Luther King nur mit einem Satz, zugegeben einem poetischen Satz, erwähnte? "Direkt vor uns liegt der Pool", sagt er in Anspielung auf den Reflecting Pool vor dem Lincoln Memorial, ein langgezogenes Wasserbecken, "der noch immer den Traum eines Königs widerspiegelt und den Ruhm eines Volks, das auf die Straße gegangen ist und bluten musste dafür, dass seine Kinder nur aufgrund ihres Charakters beurteilt werden" - und nicht nach ihrer Hautfarbe.

Und während Obama am Sonntagmorgen von der Kranzniederlegung auf dem Soldatenfriedhof von Arlington zu einem Kirchbesuch und zum Konzert am Lincoln Memorial quer durch Washington eilte (sein gepanzerter Cadillac hat übrigens das Kennzeichen 44), bereiteten seine Berater in den Talkshows des Frühstückfernsehens die Botschaft seiner Rede zur Amtseinführung vor. Obama dürfte sich kaum damit aufhalten, allein die historische Stunde zu beschwören. Responsibility ist auf einmal in aller Munde - zumindest reden seine engsten Mitarbeiter davon. "Wir brauchen mehr Verantwortung und Verantwortlichkeit, vor allem sicher was das Regierungshandeln angeht", sagte der künftige Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs. Der neue Stabschef Rahm Emanuel sprach von einer "Kultur der Verantwortung".

Und sie machen seit Tagen klar, dass Obama nach dem Feiermarathon gleich loslegen wird. Sofort nach der Amtseinführung wird er, wie er es im Wahlkampf versprochen hatte, die Militärführung zusammentrommeln, um über den Rückzug aus dem Irak zu reden - und den weiteren Aufmarsch in Afghanistan. Das kündigte David Axelrod, Obamas engster Berater, am Sonntag an. Und er wird die Schließung Guantanamos per Dekret verordnen, versicherte Sprecher Gibbs. Auch das wird weithin erwartet.

Vor allem aber wird er damit beschäftigt sein, das gigantische Konjunkturprogramm für Amerikas Wirtschaft auf den Weg zu bringen. Spätestens am 13. Februar will er es unterschreiben, da geht der Kongress in Ferien. Wie auch immer es im Einzelnen aussehen mag: Niemals seit den Zeiten Franklin Roosevelts konnte ein US-Präsident auf einmal über so viel Geld verfügen. Als Bill Clinton 1993 sein Amt antrat, beantragte er 16 Milliarden Dollar. Gemessen an den 825 Milliarden Obamas eine lächerliche Summe. Gewiss wird Obama nicht alles bekommen, was er haben will: der 3000-Dollar-Steuernachlass für jeden neuen Arbeitsplatz zum Beispiel dürfte schon gestrichen sein. Aber vieles im Konjunkturprogramm liest sich geradezu als "Anzahlung" auf seine Reformversprechen, wie die New York Times schreibt. Energiesicherheit und Klimaschutz, die Reduzierung der Gesundheitskosten, bessere Schulen, Entlastung für Geringverdiener - für alles sollen ein paar Milliarden abfallen. Für kleine Gesten ist gerade nicht die Zeit in Washington - und auch nicht für kleine Ausgaben.

sueddeutsche.de bringt zur Inauguration: einen Live-Ticker, Bilder und Videos zur Feier, ein Obama-Quiz, eine Dokumentation der großen Antrittsreden amerikanischer Präsidenten und schließlich eine Abstimmung der Nutzer zu Obamas Plänen.

Und . . . stillgestanden! Im Namen des Präsidenten und seiner Familie proben Armeeangehörige den Ablauf der Feierlichkeiten vor dem Kapitol. Reuters

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Die Amtseinführung Barack Obamas

Es ist eigentlich nur eine Amtseinführung, so wie sie jeder neue Präsident der Vereinigten Staaten erlebt. Doch was da an diesem Dienstag in Washington veranstaltet wird, könnte durchaus auch mit der Krönung eines Königs verglichen werden. Zum einen, weil Barack Obamas Inauguration wohl die größte und teuerste aller Zeiten sein wird. Und zum anderen, weil es tatsächlich ein historischer Moment ist, wenn der erste schwarze Präsident der USA in seiner ersten Rede als Amtsinhaber verkünden wird, wie er sich den Wandel vorstellt.

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Aktuelles Lexikon

Inauguration

Seit 1789 schwört der neue US-Präsident am Inaugurationstag feierlich, dass er die Verfassung erhalten, schützen und verteidigen werde. Aber selten passte die Ursprungsbedeutung der "Inauguration" so gut zu den Erwartungen, die die Welt an Barack Obama stellt, den verklärten Heilsbringer. Heute bezeichnet "Inauguration" allgemein die feierliche Übernahme eines hohen Amtes und ist im kirchlichen wie universitären Umfeld erhalten. Im Römischen Reich besaß der Begriff religiöse Bedeutung. Auguren waren Priester, die aus dem Verhalten der Vögel göttliche Zeichen deuteten. Bei der "Vogelschau" beobachteten sie Bewegung und Gesang der Tiere im Templum, einem abgegrenzten Bereich. Daraus schlossen sie, ob die Götter zu einer Angelegenheit ihr Placet gaben. Übergab ein Augur das Amt mit einer feierlichen Weihe des Pontifex Maximus an den Nachfolger, hieß dieser Vorgang inauguratio. Noch heute wünschen Italiener zu Festtagen "tanti auguri". Obama wird an diesem Dienstag vor dem Kapitol also nicht nur in den Fußstapfen seiner 43 Vorgänger stehen, sondern einen uralten Ritus fortsetzen. Nicht immer waren die Inaugurationsfeiern seiner Amtsvorgänger jedoch gute Vorzeichen: 1873 erfroren bei der Amtseinführung von Ulysses Grant Hunderte Kanarienvögel, die dem Fest eine exotische Note hatten verleihen sollen. Seine Präsidentschaft erschütterte ein schwerer Korruptionsskandal. kari

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Der Mann hinter Obamas Worten

Redenschreiber Jon Favreau

Von Christian Wernicke

Der Aufstieg des Jon Favreau zum obersten Redenschreiber der Nation ist atemberaubend. Und dieser 27-jährige Mann ist sensibel genug, dies noch selbst zu spüren. So wie vor acht Wochen, als Favreau aus seinem Büro geflohen war und Entspannung beim Joggen suchte. Er war soeben auf Washingtons Mall angekommen, dem langen und geschichtsbeladenen Grünstreifen zwischen dem Kapitol und dem Lincoln Memorial, als ihm die Luft wegblieb. Favreau stoppte und ließ sich überwältigen von der Vorstellung, dass hier am 20. Januar zwei, vielleicht gar drei Millionen Menschen stehen und seinen Worten lauschen werden.

Sprechen wird allein Barack Obama, der 44. US-Präsident. Aber niemand hat seit Mitte November 2008 so unermüdlich an jeder Silbe von dessen Antrittsrede gefeilt wie Jon Favreau. Die Nation, ja die Welt erwartet gespannt, welches Motto Obama seiner Präsidentschaft wohl geben mag, wenn er an diesem Dienstag gleich nach dem Eid auf die Verfassung seine erste, etwa 20 Minuten lange Rede als amtierender Präsident anstimmen wird. Die Chancen stehen gut, dass die Zauberformel aus dem Laptop von Obamas jüngstem Vertrauten stammt.

Obamas Pressesprecher verbreiten zwar, ihr Chef habe sich seine Rede selbst geschrieben. Und das mag auch irgendwie stimmen - mindert dennoch nicht Favreaus Einfluss. Denn so arbeiten Obama und sein wichtigster Wortschmied nun schon seit fünf Jahren: Der Chef diktiert dem Schreiber seine Gedanken, Favreau entwirft ein Skript, das Obama wiederum redigiert. Kenner dieses Zusammenspiels behaupten, eigentlich sei Obama - immerhin Autor zweier Bestseller - der bessere Schreiber. Das Talent des Jon Favreau aber ist, dass er mehr als andere spürt, wie Amerikas künftiger Präsident denkt. Und was genau er sagen will. "Jon ist völlig synchronisiert mit Obama, und er hat zu allem und jedem Zugang", vertraute neulich ein Kollege von Favreau der Washington Post an.

Begegnet sind sich die beiden das erste Mal im Juli 2004, beim Wahl-Parteitag der Demokraten in Boston. Favreau hatte gerade seinen Bachelor an einer katholischen Uni geschafft und war eher zufällig stellvertretender Redenschreiber im Stab des damaligen demokratischen Präsidentschafts-Kandidaten John Kerry geworden. Kerry scheiterte, Favreau wurde arbeitslos, doch er war dem Senator aus Chicago aufgefallen. Und schon wenige Monate später heuerte Obama den arbeitslosen Novizen als Mitarbeiter seines Washingtoner Büros an. Favreau avancierte zum jüngsten aller "Chief Speechwriter" des Weißen Hauses.

Der neue Job verlangt ihm alles ab. Favreau ist kein Schnellschreiber, über der Antrittsrede brütete er nächtelang bei Espressi und Red Bull. Zudem darf er sein ganzes Leben neu ordnen. Bis zum Sommer lebte er in Wohngemeinschaften, jetzt hat er sich sein eigenes Apartment gekauft. Und etliche Anzüge samt Krawatte: Die Zeiten, da er nur in Jeans und Pullis herumlaufen durfte, sind bei Dienstantritt am Mittwoch vorbei.

Jon Favreau, 27 Jahre alt Foto: oh

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Voran mit leisen, ruhigen Schritten

Wie es Barack Obama gelungen ist, die lange Übergangsphase vom Tag seiner Wahl bis zum Datum seines Amtsantritts mit glücklicher Hand zu gestalten

Von Christian Wernicke

Ein Rekord ist ihm sicher, noch ehe seine Amtszeit überhaupt begonnen hat: Mit mindestens 825, vielleicht sogar mehr als 900 Milliarden Dollar wird Barack Obama demnächst einen Not- und Sonderfonds vom US-Kongress bewilligt bekommen, wie es noch nie einem seiner 43 Amtsvorgänger vergönnt war. Spätestens Mitte Februar, also in den ersten vier Wochen seiner Amtszeit, wollen Senat und Repräsentantenhaus das Finanzpaket zur Wiederbelebung der US-Wirtschaft verabschieden. Obama darf dann zwei Haushaltsjahre lang aus dem Vollen schöpfen - und er kann dann, im Namen der Krisenbekämpfung, fast sämtliche Versprechen einlösen, die er im Wahlkampf riskiert hat.

Obamas Milliardenprogramm ist nur das teuerste Symbol für die außerordentlich gelungene Vor-Amtszeit des 44. Präsidenten. Trotz Kriegs und Krise blicken laut jüngster Umfrage der New York Times inzwischen acht von zehn Amerikaner "optimistisch" auf die nächsten vier Jahre. Auch 58 Prozent jener Wähler, die im November noch für den Republikaner John McCain stimmten, teilen diese Zuversicht. Den Eindruck, Obama habe die lange Übergangsphase vom Tag seiner Wahl bis zum Datum seines Amtsantritts mit überaus glücklicher Hand gestaltet, nährt auch seine Personalauswahl: Trotz einiger Pannen stoßen fast alle seine designierten Minister auf breites Wohlwollen im Kongress.

So wird der US-Senat vielleicht noch in dieser Woche der Ernennung Hillary Clintons zur Außenministerin zustimmen. Noch vor wenigen Wochen hatten auch manche Berater in der Obama-Mannschaft befürchtet, die Republikaner würden die Anhörung der ehemaligen First Lady zur neuerlichen Generalabrechnung mit der Clinton-Ära nutzen oder Bills weitverzweigte Verbindungen zu fremdländischen Gönnern seiner Stiftung anprangern. Am Ende mochte nur ein strammrechter Republikaner im außenpolitischen Ausschuss der Ministerin sein Vertrauen verweigern.

Ähnlich harmonisch verlief auch die Anhörung von Eric Holder, dem designierten Justizminister, der unter Clinton einst entscheidend beteiligt war an der äußerst fragwürdigen Begnadigung eines Finanzbetrügers. Schlagzeilen machte Holders Anhörung nur, als er erklärte, so manche unter der Bush-Regierung in CIA-Lagern und in Guantanamo einst übliche Verhörmethode sei eindeutig "Folter".

Fast scheint es, als hätten die Republikaner regelrecht Angst vor ihrem ersten Krach mit dem neuen Präsidenten. Peinlichkeiten wie etwa das Versäumnis des designierten Transportministers Ray LaHood, der dem Senat nicht einmal seine Bewerbungsunterlagen vollständig übermitteln konnte, lösten keinerlei Empörung aus. LaHood hilft, dass er Republikaner ist. Aber auch die recht anrüchigen Steuertricks des künftigen Finanzministers Tim Geithner mögen niemanden im Senat aufregen: Erst nach mehrmaliger Ermahnung und gestückelt in Raten mochte der Mann jener Bundes-Steuerbehörde Tribut zollen, die ihm demnächst höchstpersönlich untersteht. Die Angst, ein Parteien-Streit um den künftigen Chef der Treasury könne die Wall Street verunsichern, sowie einige milde Obama-Worte genügten offenbar, den Finanzausschuss gnädig zu stimmen. Am Mittwoch beginnt Geithners Anhörung - und falls er keine Sünden offenbaren muss, gilt auch seine Kür zum Minister als sicher.

Auf wundersame Weise ist es Obama sogar gelungen, den Fall Bill Richardson vergessen zu machen: Der Gouverneur von New Mexiko hatte Handelsminister werden sollen, musste aber aufgrund einer sträflich unterschätzten FBI-Ermittlung wegen des Verdachts korrupter Machenschaften verzichten. Obamas internes Kontrollsystem, sonst penibel bis perfektionistisch streng, hatte schlicht versagt.

Bisher ist es Obama gelungen, seinem Anspruch auf einen neuen, weniger parteipolitisch verseuchten Führungsstil gerecht zu werden. Die Republikaner im Kongress geben sich zahm, und konservative Publizisten wie der New York Times Kolumnist David Brooks schwärmen, welches Händchen der Noch-Nicht-Präsident da alltäglich beweise für eine "Mischung aus Pragmatismus und gelungener Symbolsprache". Das sei, was die Nation in der Krise - und nach acht Jahren Bush - suche: Führung ohne Konflikte oder Konfrontation.

Das wird sich nicht ewig durchhalten lassen. Vorerst jedoch scheint Obama bemüht zu sein, allem Streit aus dem Wege zu gehen. So hat er am Wochenende einen potentiellen Konflikt mit seiner eigenen Partei entschärft: Zwar kündigte Obama an, die Heerschar seiner Helfer und Anhänger aus dem Wahlkampf werde fortan den Namen "Organizing for America" tragen und als eben eigenständige Organisation fortleben. Zugleich aber platzierte er den Verbund - samt der wertvollen Email-Adressen von potentiell 13 Millionen Enthusiasten - unter dem Dach der Demokratischen Partei.

Zuvor hatten Berichte für Aufsehen gesorgt, Obama wolle praktisch neben der Partei eine Parallelorganisation aufbauen. Die können bei Bedarf auch mobilisiert werden, um per PR-Kampagne widerspenstige demokratische Kongressmitglieder auf Regierungskurs zu bringen. Nun sollen die vielen Freiwilligen helfen, überall in Amerika handfest und lokal am versprochenen Wandel mitzubauen. Und sie sollen sich bereithalten für "Obama 2.0" - für die Kampagne zur Wiederwahl im Jahr 2012.

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Gelb ist die Hoffnung

Berlin am Tag nach der Hessen-Wahl: Plötzlich dreht sich alles um die FDP, und Parteichef Guido Westerwelle genießt das neue Gefühl von Macht und Mitsprache. Union und Liberale blicken gemeinsam nach vorn, nur die SPD steht ziemlich verloren im Farbenfeld

Berlin - Die Tonlage ist staatstragend und der gewachsenen Bedeutung angemessen. Natürlich strahlt Guido Westerwelle über das ganze Gesicht, als er am Montagmittag in Berlin antritt, um das Ergebnis der Landtagswahl in Hessen zu kommentieren. Doch was er zu sagen hat, ist geprägt von demonstrativer Bescheidenheit. Dass Präsidium und Vorstand der Partei bei ihren Beratungen in "allerbester Stimmung" gewesen seien, brauche er ja wohl nicht besonders zu erwähnen, fängt Westerwelle an. Aber wegen des "herausragenden Ergebnisses" werde die FDP "nicht abheben". "Wir sind nicht plötzlich Regierungspartei, wir sind bis zum 27. September Oppositionspartei im Deutschen Bundestag." Die gesteigerte Verantwortung der FDP im Bundesrat werde die Partei "klug nutzen", sie werde "ganz solide vorgehen" und sich selbst "nicht überschätzen".

Die staatsmännische Pose übt der FDP-Vorsitzende schon seit langem. Der 47-Jährige legt Wert auf korrekte Umgangsformen, gepflegte Kleidung und wohl gewählte Worte. Wenn er vom Staatsoberhaupt Horst Köhler spricht, sagt er immer "der Herr Bundespräsident", sich selbst bezeichnet er gern als "deutschen Patrioten", der nie und nimmer um eines parteitaktischen Vorteils willen ein Vorhaben blockieren würde, das Deutschland nutzen könnte.

Am Tag nach der Wahl kommt immer das große Schaulaufen in Berlin, und so machen sich die Parteien daran, die Signale von Wiesbaden auszudeuten. Schwarz-gelb strahlt von Hessen aus auch auf den Bund aus, das weiß Westerwelle mit Blick auf die September-Wahl zu betonen, und in der großen Koalition ist es zu spüren. Zunächst aber hat sich erst einmal über Nacht eine neue Variante ins politische Farbenspiel gedrängt: die schwarz-rot-gelbe Koalition, die man auch schwarz-rot-gold nennen könnte, so sehr strahlt die FDP seit Sonntagabend. Es ist die Deutschland-Koalition, die inoffiziell dadurch geschaffen worden ist, dass die Liberalen durch ihre künftige Regierungsbeteiligung in Hessen die Sperrminorität im Bundesrat erlangt haben.

Wer in solcher Weise mitregiert, der ist allerdings auch gefordert, dem Bekenntnis zur konstruktiven Mitarbeit Taten folgen zu lassen. Dem Staatsmann Westerwelle dürfte das gefallen. Den Parteipolitiker Westerwelle könnte es jedoch schneller in die Bredouille bringen, als ihm lieb ist. Zwar verspricht die FDP, sie werde das gerade erst von der großen Koalition aufgelegte Konjunkturpaket nachverhandeln und dabei weniger Schulden für den Staat und mehr Entlastung für die Bürger herausholen. Doch auf eine Größenordnung will sich Westerwelle nicht festlegen. Und wie das Ganze erreicht werden soll, bleibt auch im Vagen.

Gesprächsmöglichkeiten gibt es viele. Teile des Konjunkturpakets müssen in Gesetzesform gegossen werden, da sind Beratungen im Bundestag nötig. Die FDP setzt dabei auf die angeblich vielen Unionsabgeordneten, die mit der geplanten Neuverschuldung auch nicht einverstanden seien. Manche Vorhaben bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, da werden Bund und Länder und die Länder untereinander verhandeln. Daneben lässt sich in Chefbüros und in verschwiegenen Restaurant so manches auskungeln. Dabei gilt es allerdings, auf die gesetzestechnischen Fallstricke zu achten. Wenn man wie der Finanzexperte Hermann-Otto Solms die Annullierung der Abwrackprämie für Altautos fordert, muss man bedenken, dass diese Wohltat für Bürger und Autoindustrie auf dem Verordnungswege umgesetzt wird und der Gesetzgeber da nicht mitreden kann.

Für den morgigen Mittwoch sind Westerwelle und Bundeskanzlerin Angela Merkel verabredet. Das Treffen war schon vor der Hessen-Wahl vereinbart worden, doch nun kann Westerwelle ankündigen, dabei "werden wir uns sicher nicht über unseren Weihnachtsurlaub unterhalten". Neben dem Konjunkturpaket dürfte auch das künftige Mit- oder Gegeneinander im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen. Am Abend der Hessen-Wahl hat man sich jedenfalls erst einmal per SMS ausgetauscht. "Frau Merkel hat uns gratuliert, und ich habe mich freundlich bedankt", verrät Westerwelle. Einen Gesprächstermin mit dem anderen De-Facto-Koalitionspartner, der SPD, gibt es offenkundig noch nicht. Hinter den Kulissen aber wird schon eifrig kolportiert, dass der Gesprächsfaden keineswegs abgerissen sei. Am 13. Februar will SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier immerhin eine Westerwelle-Biografie in Berlin vorstellen. Aber viel wichtiger mit Blick auf die Zukunft ist für Westerwelle derzeit die Union, der Wunsch-Partner für 2009.

Bei der CDU im Konrad-Adenauer-Haus hat man sich auch optisch schon auf das Superwahljahr eingestellt. Hinter orangefarbenen Platten haben sie das Geländer der Freitreppe verschwinden lassen, wie auf einer Perlenschnur reihen sich auf den Platten die Wahltermine bis hinauf zum ersten Stock. Die Aufschrift bei Stufe neun: Landtagswahl in Hessen. Von Stufe neun aus hat man auch einen guten Überblick zur Bühne, wo sich Angela Merkel breit gemacht hat. Ja, breit gemacht: Sie steht da breitbeinig hinter ihrem Rednerpult, hält es fest mit ausladenden Armen. Als müsste sie fürchten, jemand wolle ihr das Pult wegtragen. Selbst die Pose von Roland Koch, gleich neben ihr, wirkt im Vergleich dazu irgendwie bescheiden. Für Kochs Verhältnisse, für einen Wahlsieger: seltsam bescheiden.

Von Stufe neun aus gesehen steht die Union ganz eindeutig auf der Siegerseite, und das ist diesmal die Seite der FDP. Es geht deshalb jetzt auch weniger um das maue Ergebnis der Union als um die absolute Mehrheit von FDP und Union. "In diesen schwierigen Zeiten ein solches Ergebnis für Union und FDP hinzukriegen", sagt die Parteichefin Merkel, "ist für mich ein gutes Symbol." Das Ergebnis der Union mag zwar nicht berauschend sein. Aber Merkel weiß das schon hinzubiegen, etwas verschwiemelt vielleicht: "Die Deutlichkeit der Mehrheit lässt die positiven Gedanken weit, weit überwiegen." Rein partei-arithmetisch dürfte Kanzlerin Merkel ohnehin Gefallen an dem Ergebnis finden: Es bringt die Union in Hessen formal wieder an die Macht, gibt aber dem potentiellen Widersacher Roland Koch alles andere als Grund zum Übermut. Sie sei froh, dass es nun wieder "einen richtig gewählten Ministerpräsidenten Koch" gebe, sagt sie.

Wie haben sie doch Nöte gehabt, vor einem Jahr, am selben Ort. Auch damals stand Merkel da mit Koch, nur war er damals Wahlverlierer, und daneben stand zu allem Überfluss auch noch der strahlende Niedersachsen-Sieger Christian Wulff. Man dürfe gar nicht lange "drumrum reden", hatte Merkel damals erklärt. Die Niederlage sei für die Union "schmerzlich". Für Koch war der Auftritt wie eine Extra-Demütigung nach der Schlappe, damals scheute er jedes Wort über die fernere Zukunft. Alles war so ungewiss. Selbst an diesem Montag, ein Jahr nach der Niederlage, steuert er seine Euphorie mit Sorgfalt. "Ich will nicht verhehlen, dass ich zwei, drei Prozent mehr doll gefunden hätte", sagt er. Das Ergebnis sei "Ansporn, einiges besser zu machen". Aber er habe schon Verständnis für die Wähler, die ja vor allem sichergehen wollten, "dass das bürgerliche Lager zusammengeht".

Das "bürgerliche Lager", die "bürgerliche Mehrheit": Wie eine große Wortwolke schwebt sie in den Parteizentralen von Union und FDP. Als hätten die Hessen am Sonntag eine Art Gutschein für den Wahlsieg im September ausgestellt, bei der Bundestagswahl. Für Merkel geht es noch um mehr, die bürgerliche Mehrheit ist eine Art Rückversicherung für die Kanzlerschaft. Für die Harmonie in der großen Koalition freilich ist das Signal nicht das beste. "Die Sozialdemokraten sind in einem schwierigen Konflikt", sagt Merkel noch, aber mitfühlend ist das nicht unbedingt.

Damit hatten sie auch kaum rechnen können bei den Sozialdemokraten, wo sie zu kämpfen haben mit diesem Ergebnis aus Hessen. Wenn Franz Müntefering nuschelt, ist Vorsicht geboten. Denn Nuscheln schätzt der Sauerländer ebenso wie Schwadronieren - nämlich gar nicht. Der SPD-Vorsitzende liebt bekanntlich klare, knappe Sätze, die jeder versteht, er sieht darin einen Ausweis klarer Gedanken. Doch als er im Foyer des Willy-Brandt-Hauses steht, das miserable Abschneiden der Hessen-SPD abermals als landesspezifischen Betriebsunfall schildert und dann auf die FDP und die Bundestagswahl und die Koalitionsabsichten der SPD zu sprechen kommt, gerät Müntefering ins Drucksen.

Schließlich hatten sich er und einige andere aus der Partei bislang sehr angetan gezeigt von einer Ampelkoalition im Bund. Denn ein rot-gelb-grünes Bündnis ist die einzige halbwegs realistische Möglichkeit für die Sozialdemokraten, jenseits einer neuen großen Koalition an der Regierungsmacht zu bleiben. Mit der FDP, das könnte schon klappen, lautete diese Botschaft. Am Montag klang das anders: "Es wird Versuche geben für Schwarz-Gelb im Bund, so wie wir versuchen werden, es zu verhindern", sagt Müntefering vom Podium im Willy-Brandt-Haus herab. Die FDP, so erklärt Müntefering, werde "Arbeitnehmerrechte schleifen" und sich gegen "Regeln für das Wirtschaftsleben" sträuben. Es folgen ein paar genuschelte Worte zu den Grünen als möglicher Partner, dann die Versicherung, die SPD sei aber auch für Gespräche mit der FDP nach der Bundestagswahl offen, sie schließe allerdings auch eine neue große Koalition nicht grundsätzlich aus, aber solle sie nicht suchen. Nur zwei Optionen spart er aus: eine SPD-Alleinregierung und ein rot-rotes Bündnis im Bund.

Wer dem Parteivorsitzenden zuhört, muss zu dem Schluss kommen, dass es zwei freidemokratische Parteien im Land gibt: eine schlechte, die mit der Union gemeinsame Sache macht; und eine bessere, die zwei oder drei Minister in ein Kabinett des Kanzlers Frank-Walter Steinmeier schicken kann. Und um die Konfusion perfekt zu machen, sagt Müntefering noch, dass ihm die schlechten Freidemokraten im Moment lieber wären als die besseren: "Wenn da jetzt ein schwarz-gelbes Lager aufgebaut wird, macht uns das die Sache leichter".

Leichter? Auch im Präsidium haben die SPD-Spitzenleute über die FDP, große Koalitionen und die Aussichten für die Zeit nach der Bundestagswahl geredet - und offenkundig keine klaren Botschaften gefunden. Schleswig-Holsteins Landesvorsitzender Ralf Stegner vom linken Flügel warnt, zu laut über eine Neuauflage der großen Koalition zu sprechen. "Das wirkt wie Schlaftabletten auf die eigenen Leute. Wir brauchen aber Aufputschmittel", formuliert er. Schwarz-Gelb, das würde die SPD-Anhänger auf die Beine bringen, gegen Lockerungen beim Kündigungsschutz, gegen Atomenergie, für Mindestlöhne. In diesem Punkt sind sich Müntefering und Stegner, Vertreter zweier unterschiedlicher Flügel, offenkundig einig.

Überhaupt ging es im Präsidium, wie Teilnehmer berichten, äußerst friedfertig zu. Dazu hatte auch der stellvertretende Vorsitzende und Finanzminister Peer Steinbrück beigetragen - durch sein entschuldigtes Fernbleiben. Er musste nach Brüssel, zu einem Ministertreffen. Steinbrück hatte am Sonntagmittag seiner innerparteilichen Lieblingsfeindin, der hessischen Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti, den Rücktritt nahe gelegt, weil oder obwohl er wusste, dass sie das am Sonntagabend tun würde. Ypsilantis Nachfolger Thorsten Schäfer-Gümbel hätte ihm dazu gern ein paar Worte gesagt, ein paar andere im Präsidium auch. Doch dieser Disput musste vertagt werden.

Nun sind das Hessen-Debakel und der Mangel an zugkräftigen Koalitionspartnern bei weitem nicht die einzigen Probleme der SPD. Ihr droht eine neue Welle der Enttäuschung, der Lethargie, des Rückzuges. Wie mies sich selbst engagierte Ortsvereinsmitglieder fühlen, war am Wahlabend im Willy-Brandt-Haus zu beobachten. Einige der kleinen Hessen-Fähnchen, die die Stelltische im Foyer schmückten, waren von SPD-Aktivisten auf Halbmast gezogen worden. Müntefering weiß also: Die Partei braucht Trost und Aufgaben und positive Signale. Deshalb ist die halbe Belegschaft der Parteizentrale am Montag zu seinem Auftritt im Foyer erschienen, es wurde applaudierte, noch bevor ein Wort gesagt worden war. Deshalb schreibt Müntefering auch Briefe an die Wahlkampforganisatoren in Hessen, deshalb hält er die ganze Partei auf Trab, nach dem Motto: Kampf statt Tristesse.

Am 2. Februar beginnen offiziell die Arbeiten am Programm für den Bundestagswahlkampf. Im April soll das sogenannte "Regierungsprogramm" stehen. Spätestens aber im Mai droht der SPD eine neue Depression. Wenn kein Wunder geschieht, werden Union und FDP mit ihrer schwarz-gelben Mehrheit Bundespräsident Horst Köhler eine zweite Amtszeit bescheren. Und Müntefering muss erklären, warum das gut ist für die SPD.

Von Peter Blechschmidt, Michael Bauchmüller und Susanne Höll

Wenn Franz Müntefering nuschelt, ist Vorsicht geboten

Peer Steinbrück sorgt für Ruhe - indem er nicht zur Sitzung erscheint

"Wir sind nicht plötzlich Regierungspartei": FDP-Chef Guido Westerwelle (Bild oben) fühlt sich so im Aufwind, dass er verspricht, nicht "abheben" zu wollen. Angela Merkel (Bild Mitte) hat auch Grund zur Freude, weil Roland Koch nun wieder ein "richtig gewählter Ministerpräsident" ist. Nur bei der SPD gibt es für Franz Müntefering (Bild unten, links) und Thorsten Schäfer-Gümbel gar nichts zu jubeln. Fotos: ddp, Getty, AP

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Die Diener der Nation

Ins Weiße Haus kamen Schwarze früher nur als Sklaven, dann als schlecht bezahltes Personal. Nun erleben ein paar alte Butler einen Wandel, an den sie nie geglaubt haben

Von Reymer Klüver

Washington - Sogar ein Film soll nun über ihn gedreht werden. Ein richtiger, großer Hollywood-Streifen. Die Produzentin von Kinohits wie "Pretty Woman" und "Spider-Man" hat sich die Rechte gesichert. Ein Film über seine Lebensgeschichte wird es sein, das Leben eines schwarzen Mannes im Weißen Haus, und die Erfüllung eines Traums - seines ganz persönlichen und den der ganzen Nation.

Eugene Allen ist 89 Jahre alt, 34 davon war er Bediensteter im Weißen Haus, zuerst Küchenhelfer, zuletzt Chefbutler. Acht Präsidenten hat er gedient. Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Carter und Reagan. Allen hat er die Hand geschüttelt, einer hat ihn sogar an seinen Tisch gebeten. Aber die Schwarzen, das waren in all den Jahren die vom Personal. Nun, nach mehr als zwei Jahrhunderten, in denen das Weiße Haus als Amtssitz weißer Präsidenten Amerikas diente, zieht zum ersten Mal ein Schwarzer als Hausherr ein. "Das ist schon was", sagt Eugene Allen. Zu Übertreibungen neigt er gewiss nicht.

Als Allen 1952 anfing, durften Schwarze in seiner Heimat Virginia, nur einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt auf der anderen Seite des Potomac River, nicht einmal öffentliche Toiletten benutzen. Im Weißen Haus war er, als Präsident Dwight Eisenhower die Armee in Marsch setzte, damit neun schwarze Jugendliche eine bis dahin Weißen vorbehaltene Highschool in Little in Arkansas, im Süden der USA, besuchen konnten. Im Weißen Haus arbeitete er, als Martin Luther King 1963 den Marsch auf Washington organisierte. Eugene Allen erlebte, dass Präsident Lyndon Johnson ein Jahr später die Bundesgesetze unterschrieb, die den Schwarzen jedenfalls auf dem Papier die Gleichberechtigung sicherten. Und zwei Jahrzehnte später merkte er, dass sich wirklich etwas im Lande veränderte: Immer selbstverständlicher war es, dass Schwarze nicht nur zu den Gästen zählten, sondern auch zum Kreis der Mächtigen. Colin Powell hat er damals gesehen und Condoleezza Rice. Beide sollten später Außenminister Amerikas werden.

Doch es waren immer Schwarze, die das Weiße Haus am Laufen hielten. Zuerst als Sklaven, später als - schlecht bezahlte - Angestellte. "The help", wie die Bediensteten genannt werden, war mit derselben Selbstverständlichkeit schwarz wie der Präsident weiß war. So war die Welt geordnet. Noch unter John F. Kennedy war es so, der doch den Weg für die Bürgerrechte ebnete. Aber als er erfuhr, dass der schwarze Entertainer Sammy Davis Jr. mit seiner Frau für einen Empfang auf der Gästeliste stand, wies er den Fotografen des Weißen Hauses an, das Ehepaar nicht gemeinsam abzulichten: Davis' Frau war eine Weiße.

Eugene Allen ist nicht der einzige und erste Butler, der ein bisschen aus der Schule plaudert. Einer, der legendäre Chefbutler Alonzo Fields, hat vor fast einem halben Jahrhundert sogar ein Buch geschrieben über seine Jahre im Schatten der Mächtigen: "Ich fühlte mich nicht als Diener eines Herrn. Ich fühlte mich als Diener meiner Regierung, meines Landes." (Fields hatte damals übrigens Eugene Allen eingestellt). Doch keiner hat den Ehrenkodex der Butlerbruderschaft jemals verletzt, das ungeschriebene Gesetz der Omerta des Weißen Hauses. Keiner hat auch nur eine Andeutung darüber verloren, wessen er in den vier Wänden der US-Präsidenten Zeuge geworden ist.

"Man spricht nicht über die Dinge, die bei der Arbeit passiert sind", sagt William Bowen. Er war von 1957 bis 1991 Butler, acht Präsidenten hat auch er erlebt. Nur harmlose Anekdoten erzählen sie. Etwa, dass er von Präsident Johnson auf dessen Ranch nach Texas eingeladen worden ist. Oder Lynwood Westray, der auf 32 Jahre im Weißen Haus kommt und ebenfalls acht Präsidenten diente, ehe er 1994 in Pension ging. Mit ihm hat Prinz Philip heimlich einen Schnaps getrunken, nachdem er sich beim Staatsbesuch seiner Gattin 1979 unauffällig von der offiziellen Delegation im State Dining Room in den danebenliegenden Red Room zurückgezogen hatte. Eugene Allen berichtet, dass Gerry Ford, der am selben Tag wie er Geburtstag hatte, es liebte, mit ihm übers Golfen zu fachsimpeln. Und Nancy Reagan war es, die ihn und seine Frau Helene kurz vor seiner Pensionierung im Namen des Präsidenten zu einem Staatsbankett gebeten hatte - ein Dinner zu Ehren von Helmut Kohl. Das war eine feine Geste. Damals haben Eugene Allen und seine Helene Champagner getrunken. Den hatte er zuvor im Keller sortiert. Allen ist jedes Mal gerührt, wenn er beim Blättern durch sein Fotoalbum das Foto von der Geburtstagsparty im Weißen Haus für die kleine Caroline Kennedy aufschlägt, Tage nur nach der Ermordung ihres Vaters. Gleich danach findet sich in dem Album eine Karte Jackie Kennedys zu ihrem Auszug aus dem Weißen Haus: "Wir werden Sie sehr vermissen. Wie glücklich haben Sie die Stunden gemacht, in denen Sie dem Präsidenten so gut gedient haben."

Damals, unter Kennedy, hatte es zaghafte Versuche gegeben, Schwarze nicht nur als Bedienstete einzustellen, sondern sie in die Büros des Weißen Hauses zu holen. Doch nur einer blieb über Kennedys erstes Amtsjahr hinaus. Erst unter Ronald Reagan bekam ein Schwarzer einen wirklichen Spitzenjob im Apparat des Präsidenten: 1987 wurde Colin Powell zum Sicherheitsberater ernannt.

Und nun gar ein schwarzer Präsident? "Ich habe nie gedacht, dass es jemals dazu kommt", sagt William Bowen, der heute 89 Jahre alt ist, "nicht in meinen kühnsten Träumen". Und Lynwood Westray gibt zu Protokoll: "Schwarze vor allem haben sich doch gefragt, ob das jemals passieren wird. Und nun ist es passiert. Klar bin ich froh darüber." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu. "Wäre ich nur 30 Jahre jünger - ich wäre wieder dort." Westray ist 82.

Und der freundliche Eugene Allen, der immer daran geglaubt hatte, "dass die Dinge besser werden" für die Schwarzen in Amerika, hatte sich einen schwarzen Herren im Weißen Haus eigentlich nicht vorstellen können. Deshalb sollte der 4. November, der Wahltag, ein Festtag werden für ihn und seine Frau. Gemeinsam wollten sie zur Wahl, danach sollte es zur Feier des Tages ein Essen geben. So wollte es seine Helene, sie freuten sich darauf. Es war, als sollte ein Traum Wirklichkeit werden.

Doch es kam anders, ganz anders. Helene, seine Frau von 65 Jahren, ist am Tag vor der Wahl gestorben. Ihr zu Ehren ist Eugene Allen dennoch zur Wahl gegangen und hat für Barack Obama gestimmt.

Bei Helmut Kohl gab es Champagner, bei Prinz Philip Schnaps

"Man spricht nicht über die Dinge, die bei der Arbeit passiert sind": William Bowen hat von 1957 bis 1991 als Butler acht Präsidenten gedient. Foto: AP

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BKA warnt vor Modedroge Spice

Berlin - Das Bundeskriminalamt (BKA) und das Rechtsmedizinische Institut der Uniklinik Freiburg haben eindringlich vor dem Konsum der Modedroge Spice gewarnt. Laboruntersuchungen hätten ergeben, dass eine chemisch leicht modifizierte Form des synthetischen Cannabinoids mit dem Namen CP-47,497 der Hauptwirkstoff der Droge sei, erklärte das BKA. Dieser Vertreter der nicht klassischen Cannabinoide weise Ähnlichkeiten mit dem Hauptwirkstoff der Cannabispflanze auf, besitze aber eine vielfach höhere pharmakologische Potenz. Spice ist eine Mischung aus getrockneten Pflanzenteilen, die geraucht werden. Man müsse von einem Suchtpotential ausgehen, das mit dem von Cannabis vergleichbar sei. Der Stoff sei sehr gefährlich, da bei der Umsetzung der Wirkstoffe im Körper giftige und potentiell krebserregende Produkte gebildet würden. Bislang war ein synthetischer Stoff mit dem Namen JWH-018 als Wirkstoff von Spice genannt worden. Bei den Untersuchungen konnte dieser Stoff aber nur in einigen Proben in vergleichsweise niedriger Konzentration nachgewiesen werden. AFP

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Ohne Popcorn, mit Champagner

In Berlin gibt es jetzt ein Kino für Menschen, die Beinfreiheit schätzen: Ein Besuch der "Astor Film Lounge"

Von Christian Mayer

Der junge Mann, ein auf Freundlichkeit getrimmter Dienstleister im sonst eher schnoddrigen Berlin, wartet am Kurfürstendamm auf Kundschaft; mit sicherem Blick erkennt er den Kinobesucher und entwendet ihm höflich, aber bestimmt den Autoschlüssel. Wäre ja auch eine Zumutung, sich erst mal einen Parkplatz suchen und durch den Straßendreck quälen zu müssen. Nach der Abgabe des Wagens wird der Gast in die Lobby geleitet, wo er ein Freigetränk erhält. Die Damen an der Theke haben offenbar ein erstklassiges Nicole-Kidman-Training im Lächeln absolviert. Geht ja schon mal gut los!

Seit knapp vier Wochen können sich die Berliner in der "Astor Film Lounge" einem gesteigerten Kinoerlebnis hingeben - mit allen Annehmlichkeiten, die man für 15 Euro pro Karte erwarten kann. Statt Popcorn und Cola werden im restaurierten Muschelsaal aus den fünfziger Jahren Champagner und Chablis serviert, statt Mäntelbergen zwischen den Sitzen gibt es eine Garderobe. Die Presse in der Hauptstadt jubelte bereits im Vorfeld über das "Luxuskino", gegen das sogar die Business-Klasse im Flugzeug bescheiden wirke. Bisher stößt das Angebot auf rege Nachfrage: "Wir sind oft ausverkauft, die Auslastung ist exzellent", sagt Theaterleiter Jürgen Friedrich. "An manchen Abenden könnten wir locker dreimal so viele Karten verkaufen."

Multiplex war gestern

Ausgerechnet der Cinemaxx-Gründer Hans-Joachim Flebbe hat das Traditionshaus am Ku'damm umgebaut, der Mann, den viele Programm-Kinobetreiber einmal für den Erzfeind gehalten haben. Seit seinem Rückzug aus dem Vorstand des Hamburger Unternehmens setzt der 57-Jährige auf ein neues Konzept: Klasse statt Masse, individueller Charme statt Multiplex-Kommerz. Der Erfinder klobiger Blockbuster-Klötze, in denen sich Actionhelden auf Horden von Teenagern einschießen, macht auf edel? Es sieht danach aus. Immerhin hat Flebbe das Astor um die Hälfte der Plätze verkleinert: Statt 480 muffiger Plüschsessel stehen nun 250 verstellbare schwarze Designersitze zur Verfügung. Auch technisch ist das Haus, in dem nach dem Krieg das legendäre Kiki-Filmtheater zu Hause war, jetzt auf dem neuesten Stand: Das Kino mit seiner in Berlin einmaligen Abspielstation für 3-D-Filme erfülle "Hollywood-Standard", auch Live-Übertragungen von Konzerten oder Opernaufführungen seien möglich. Flebbe, der Selbstvermarktungskünstler, sieht sich wieder mal ganz weit vorne.

Kino für zahlungskräftige Erwachsene ist ein Trend, der sich im Astor auch in der Auswahl der Filme bemerkbar macht. Gerade läuft hier die Literaturverfilmung "Zeiten des Aufruhrs". Und offenbar sind viele Besucher bereit, für ein spannendes Beziehungsdrama mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio den doppelten Preis von dem zu bezahlen, was in Berlin sonst üblich ist. Beim Kinotest macht sich vor allem die Verringerung der Sitzplätze positiv bemerkbar. Endlich kann man mal die Beine ausstrecken - oder auf die lederbezogenen Hocker legen. Jeder Platz verfügt auch über eine eigene Armlehne, der Nachbar bleibt auf Ellbogendistanz, nur für Paare gibt es eine Kuschelbox, in der man sich freiwillig näher kommen kann. Hildegard Knef stimmt das Publikum mit rauchiger Stimme auf den Abend ein, als Dreingabe wird ein Kurzfilm aus Skandinavien gezeigt. Im Saal rücken sofort wieder die freundlichen Dienstleisterinnen an und servieren kleine Teller mit Jakobsmuscheln, Mini-Lasagne und einen Hauch von Lammrücken. Am Speiseangebot für das Vorprogramm muss das Kino aber noch arbeiten. Oder die Preise senken, denn 18 Euro für ein paar vorgefertigte Appetithäppchen aus dem Kühlregal ist schon viel verlangt. "Wir haben das Problem erkannt und arbeiten dran", verspricht Jürgen Friedrich.

Wer den Kinounternehmer Hans-Joachim Flebbe kennt, dürfte sich nicht wundern, wenn die "Astor Film Lounge" bald Schule macht. Obwohl der Zeitpunkt der Eröffnung mitten in der Wirtschaftskrise nicht ganz optimal gewählt ist: Auch in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt oder München existiert ein Publikum, das sonst zu Hause bei einem Glas Rotwein eine DVD einschiebt, aber ganz gerne auch in schönen, bequemen Kinosälen sitzt, ohne dass einem laut schmatzende Nachbarn auf die Pelle rücken. Die Sache hat nur einen Haken: Ein Großteil der kommerziell erfolgreichen Filme bedient ein junges bis sehr junges Publikum, dem es weniger auf stilvolles Mobiliar und Beinfreiheit ankommt. Im Astor will Flebbe auf die Zielgruppe der Teenager nicht verzichten - deshalb läuft hier auch der Vampirfilm "Twilight". Allerdings mit deutlich geringerem Erfolg als in den Massenkinos der Hauptstadt: 15-jährige Mädchen mit besonderen Vorlieben für schnucklige Untote brauchen keinen Einparkservice und keinen Champagner, um glücklich zu sein. Ein Pappbecher mit Brause reicht auch.

Der umgebaute Muschelsaal in der "Astor Film Lounge" am Berliner Kurfürstendamm bietet viel Platz für Kinogenießer, die gerne unter sich bleiben wollen. Foto: Jan Bitter

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"Rüttelstreifen" auf der Autobahn rettet Leben

Köln - Die Zahl schwerer Autobahnunfälle kann mit Hilfe von "Rüttelstreifen" deutlich verringert werden. Das ist das Ergebnis einer mehrjährigen Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen zusammen mit dem Landesbetrieb Straßenwesen Brandenburg. Wie die Bundesanstalt am Montag in Bergisch Gladbach bei Köln berichtete, sank die Zahl der Unfälle mit Getöteten und Schwerverletzten im Vergleich drei Jahre vor und drei Jahre nach Realisierung der "Rüttelstreifen" um 15 Prozent. Unfälle, bei denen Autos nach rechts von der Fahrbahn abkamen, gingen sogar um 43 Prozent zurück. Getestet wurde auf einer 35 Kilometer langen Strecke auf der A24 in Fahrtrichtung Berlin, zwischen den Anschlussstellen Herzsprung und Fehrbellin in Brandenburg. Dort waren die rund 40 Zentimeter breiten "Rüttelstreifen" im Herbst 2003 in den Asphalt eingefräst worden. Wird dieser Bereich überfahren, so macht sich ein akustisches und auch körperlich spürbares Signal beim Fahrer bemerkbar, das ihn warnt und seine Aufmerksamkeit erhöht. "Eingefräste Rüttelstreifen stellen eine über alle Fahrzeugarten und -klassen wirkungsvolle Maßnahme zur Reduktion von Unfällen mit Getöteten und Schwerverletzten dar", folgert die Bundesanstalt. dpa

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STILKRITIK

Krisenmode

In Zeiten, in denen das wichtigste Accessoire die Pappkiste geworden ist, in der Freigesetzte ihre Habe auf die Straße tragen, stimmen auch die Designer Molltöne an. Der erste Trauerzug im Marathon der Modeschauen im Frühjahr findet derzeit in Mailand statt. Entsprechend sieht die erste Reihe bei den Herrenschauen für den Herbst/Winter 2009 aus wie ein Ausflug von Konkursverwaltern. David Beckham etwa, sonst modisch eher ungestüm, zeigte sich bei Emporio Armani im dunkelblauen Anzug. Ein fuchsiafarbener Zweireiher, präsentiert von Dolce & Gabbana, muss als einsame Trotzreaktion verstanden werden, bestimmen sonst Schwarz, Grau und als Farbtupfer Weiß das Bild.

Die Krise diktiert den Stil, und so lehnt man sich an andere karge Zeiten an. "Moderne Nostalgie" heißt das. Zweireiher, Cardigans und Grobstrick erinnern bei Burberry Prorsum an die Endvierziger, Frankie Morello (Foto) zitiert mit Pyjamahemd und Ballonmütze eine Kreuzung aus Mr. Ripley und Oliver Twist: "Please Sir, can I have some more?" Nein, die Zeiten sind hart, Hosen sind aus. Gut, dass auch bei Morello die Reisetasche als modische Fortführung der Pappkiste eine wichtige Rolle spielt. Im Notfall ließen sich darin frühere Kollektionen verstauen. Doch eigentlich will die in Mailand keiner mehr sehen. Man glaubt sogar eine gewisse Erleichterung bei den Kritikern auszumachen: Endlich sind sie vorbei, die Zeiten fliederfarbener Kaschmirpullunder, Krokoledermäntel und alberner Blumendrucke! In dieser Beziehung muss man der Krise fast dankbar sein. Claudia Fromme

Foto: dpa

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Heute bei

"Ich bin kein Luder"

Das Münchner It-Girl Davorka Tovilo über die Scheinwelt der Promis, ihre katholische Erziehung und den Sinn des Lebens. Ein ernsthaftes Gespräch.

www.sueddeutsche.de/davorka

Casting-Tenor als Werber

Die Preisträger des "Jahrbuches der Werbung" für 2009 stehen fest. Besonders erfolgreich: Die Macher des "Paul-Potts-Fernsehspots" für die Telekom. www.sueddeutsche.de/werber

Foto: dpa

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Althaus muss bis März in der Reha bleiben

Allensbach - Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) muss nach seinem schweren Skiunfall voraussichtlich bis mindestens Anfang März in der Rehabilitationsklinik am Bodensee bleiben. Er denke an einen Mindestzeitraum für die Reha von vier bis sechs Wochen, sagte Althaus' behandelnder Arzt Joachim Liepert von den Kliniken Schmieder am Montag. Der beim Zusammenstoß mit einer Skifahrerin schwer am Kopf verletzte Politiker leide unter Störungen des Gleichgewichts, seine Denkabläufe und Reaktionsgeschwindigkeiten seien verlangsamt. Eine Vernehmung zu dem Unfall, bei dem die Skifahrerin tödliche Verletzungen erlitten hatte, sei noch nicht möglich, sagte Liepert. AFP

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Flugschreiber bestätigt Absturzursache

New York - Bei dem am Donnerstag auf dem Hudson River in New York notgelandeten Airbus A320 haben nach ersten Untersuchungen beide Triebwerke gleichzeitig versagt. Das geht aus ersten Auswertungen des Flugschreibers und des Stimmenrekorders der Maschine hervor. Wie eine Sprecherin der US-Sicherheitsbehörde NTSB am Sonntagabend (Ortszeit) mitteilte, sind beide Geräte in ausgezeichnetem Zustand. Die bisherigen Erkenntnisse bestätigten die Schilderungen, dass das Flugzeug von einem Vogelschwarm getroffen wurde. Der Flugschreiber lasse erkennen, dass sich der Zwischenfall 90 Sekunden nach dem Start vom Flughafen La Guardia ereignet habe. Bei der anschließenden Notwasserung auf dem Hudson River konnten wie durch ein Wunder alle 155 Insassen des Flugzeugs gerettet werden. dpa

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Sieben Tote bei Unfällen auf glatten Straßen

Berlin - Spiegelglatte Straßen haben zu Wochenbeginn in weiten Teilen Deutschlands den Berufsverkehr zu einer Rutschpartie werden lassen. Nach Polizeiangaben ereigneten sich am Montag in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Sachsen und ganz Norddeutschland mehrere hundert Verkehrsunfälle. Dabei kamen mindestens sieben Menschen ums Leben. In Baden-Württemberg verunglückten drei Menschen tödlich, in Rheinland-Pfalz starben eine Mutter und ihre zehn Jahre alte Tochter, als ein 22-jähriger Autofahrer auf eisglatter Straße die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. In Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden zwei weitere Verkehrsteilnehmer getötet. ddp

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Sechs Jahre Haft wegen Kindstötung in Gotha

Erfurt - Im Prozess um den Tod eines drei Monate alten Kindes aus Gotha ist die 39-jährige Mutter zu sechs Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt worden. Das Landgericht Erfurt sah es als erwiesen an, dass die Frau ihrem Sohn im März 2004 einen Gegenstand gegen den Kopf geschlagen und das Baby heftig geschüttelt hatte. Der Junge starb acht Tage später im Krankenhaus. Zum Prozessauftakt hatte die dreifache Mutter zunächst die Verantwortung für den Tod des Jungen zurückgewiesen. Sie hatte eingeräumt, ihren Sohn geohrfeigt und ihm einen "Klaps" auf den Hintern gegeben zu haben. Später gab sie die Tat zu. Als Grund nannte sie umzugsbedingten Stress. ddp

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DIE FRAGE

Ist Herbert Grönemeyer ein Schlagersänger?

Herbert Grönemeyer ist Schauspieler, Sänger, Buchautor und Produzent. Darf man ihn als Schlagerfuzzi bezeichnen?

Dieter Thomas Heck, ehemaliger Moderator der ZDF-Hitparade: "Ein Künstler wie Grönemeyer ist ein Schlagersänger, auch wenn er es ungern hört. Man muss nicht immer so viel Wirbel um Schlagermusik machen und Negatives in sie hineininterpretieren. Schlager ist eine Wegwerfware, man pfeift sie vor sich hin, weil man fröhlich ist."

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LEUTE

Dieter Bohlen, 54, Musikproduzent und Juror der Casting-Show "Deutschland sucht den Superstar", musste sich am Montag in Lübeck selbst einer Jury stellen. In einem Raubprozess war Bohlen als Zeuge geladen. Das Landgericht verhandelte über einen der zahlreichen Einbrüche in Bohlens Villa in Tötensen bei Hamburg. Am 13. Dezember 2003 soll der 47 Jahre alte Angeklagte zusammen mit Komplizen die Villa ausgeräumt haben, während Bohlen in Köln vor der Kamera stand. Die Diebe stahlen Handys und einen Flachbildfernseher sowie Kunstwerke. "Am meisten ans Herz gegangen ist mir der Diebstahl eines Gemäldes, das einen abstrakten Flügel zeigte. Dafür würde ich glatt 50 000 Euro zahlen", sagte Bohlen. Foto: AP

Harry Nicolaides, 41, australischer Autor, ist in Thailand wegen Majestätsbeleidigung zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Nicolaides habe in seinem Buch einem fiktionalen Prinzen Machtmissbrauch vorgeworfen, hieß es zur Urteilsbegründung. Der Angeklagte entschuldigte sich und zeigte sich betrübt, da er den 81-jährigen König Bhumibol "uneingeschränkt respektiere". Nicolaides war am 31. August 2008 am Flughafen in Bangkok festgenommen worden, ohne über die Vorwürfe gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Die Vereinigung Reporter ohne Grenzen forderte von den thailändischen Behörden, die Strafe gegen Nicolaides sofort fallenzulassen.

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Großer Bärenhunger

Weil in China der Bambus knapp wird, leiden die Pandas - Ursachen sind Erdbeben und Umweltzerstörung

Von Henrik Bork

Peking - Den Pandas knurrt der Magen. Bambus, das Hauptnahrungsmittel der Tiere, ist in diesem Winter in China knapp geworden. Schon ist der Kadaver des ersten verhungerten Bären gefunden worden. Bedroht sind vor allem die Pandas in freier Wildbahn. "Sie leiden in diesem Winter Hunger", sagt Yang Jiangrong, eine Tierschützerin vom Wolong Panda Club.

Der Grund für die Krise ist das schwere Erdbeben vom Mai vergangenen Jahres, das viele Bambushaine verschüttet hat. Das Erdbeben ereignete sich in der Südwestprovinz Sichuan, wo 1200 der 1590 wilden Pandas in verschiedenen Naturreservaten leben. Auch die weltbekannte Panda-Forschungsstation in Wolong liegt nur wenige Kilometer vom Epizentrum des Bebens vom 12. Mai entfernt und war schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Drei Wärter waren dort damals ums Leben gekommen, ein Panda war getötet, 14 von 32 Panda-Gehegen waren zerstört worden, als sich "plötzlich der Himmel verdunkelte" und es "Steine zu regnen" begann, wie Augenzeugen damals berichteten.

In der Nähe von Wolong ist kürzlich nun ein verhungerter Panda gefunden worden. "Das Erdbeben hat besonders die Bambusvegetation an niedrigen Berghängen zerstört, was die Nahrungssuche der Pandas erschwert", zitiert die Zeitung Südliches Wochenende Zhang Hemin, den Direktor des Panda-Zentrums in Wolong. Auch er fürchtet, dass es nicht bei einem verhungerten Tier bleiben wird. "Mehr wildlebende Pandas werden in diesem Winter krank werden oder sogar sterben", sagte Zhang. Auch für die Pandas, die in der Wolong-Forschungsstation in Gefangenschaft leben, wird der Bambus knapp. Schon am ersten Tag nach dem Beben hatten die überlebenden Wärter begonnen, aus anderen Teilen des Landes Bambus auf Lastwagen herbeizuschaffen. Bis heute muss die Diät der Tiere, die in freier Wildbahn fast ausschließlich Bambus fressen, mit Obst und Gemüse gestreckt werden. Nur sieben der zuletzt 150 Pandas werden derzeit wieder im Forschungszentrum von Wolong gefüttert. Alle anderen Tiere sind über Zoos und Gehege im ganzen Land verteilt worden.

Für die freilebenden Tiere, die extrem menschenscheu sind und von Forschern oft lediglich anhand ihrer Kotspuren verfolgt und gezählt werden können, ist die Lage viel schlimmer. Der Hunger treibt einige der Tiere seit dem letzten Herbst zu verzweifelten Ausflügen. Am 26. Oktober ging Deng Wenpin, ein Bauer im Dorf Xingfu, Kreis Gengda, in der Nähe von Wolong in seinen Gemüsegarten. Plötzlich stand er einem der schwarz-weißen Bären gegenüber, der in seinen Beeten grub. Wilde Pandas sind normalerweise gefährlich, obwohl sie wegen ihrer Korpulenz und der schwarzen Ringe um ihre Augen allgemein als "niedlich" gelten. Doch dieses Tier war "schwach und hungrig und starrte Deng nur teilnahmslos an", hieß es in einem Zeitungsbericht. Das halbverhungerte Tier wurde noch nach Wolong gebracht und gepflegt, starb aber knapp zwei Wochen später.

Schon vor dem Erdbeben war das natürliche Habitat der nach wie vor vom Aussterben bedrohten Pandabären in China ständig geschrumpft. Die Tiere, die es in freier Natur nur in China gibt, sind bei der Nahrungssuche ausgesprochen wählerisch. Sie fressen zu 99 Prozent Bambus, am liebsten dessen Sprossen. Da sie schlechte Nahrungsverwerter sind, brauchen sie von dieser Kost täglich um die zehn Kilogramm.

Daher überleben sie langfristig nur an einsamen, mit Bambushainen bedeckten Berghängen von nicht mehr als 30 bis 40 Prozent Neigungswinkel. Denn dort können sie den ganzen Tag lang fressen, ohne durch anstrengendes Klettern zu viele Kalorien zu verbrennen. Auch sauberes Wasser ist wichtig. Doch natürliches Terrain dieser Art wird von Chinas rasantem Wirtschaftswachstum und seiner riesigen, nach Holz, Bauland und Ackerflächen suchenden Bevölkerung zunehmend zerstört. Ausgerechnet jetzt hat das Erdbeben zusätzlichen Schaden in den Wäldern angerichtet.

Auch in der Vergangenheit hatte es bisweilen Hungersnöte in Chinas Panda-Population gegeben. Besonders viele Tiere starben 1983, als eine selten auftretende und besonders weitflächige Bambusblüte ihre Nahrung zerstörte. "Verglichen mit 1983 ist der aktuelle Schaden durch das Erdbeben aber noch sehr viel ernster", sagt der Panda-Experte Zhang Hemin.

Panda in Not: Dieser Bär wurde nach dem Erdbeben vom Mai 2008 aus dem Panda-Reservat Wolong evakuiert. Foto: AFP

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Tod im Haus der Wiedergeburt

Beim Einsturz einer Kirche in Sao Paulo sterben neun Menschen

Die Zentrale der Igreja Renascer in Sao Paulo hatte viele Großereignisse hinter sich, ehe es zur Katastrophe kam. Teilweise im Stundentakt fanden in dem ehemaligen Kino im Süden der brasilianischen Metropole Gottesdienste der umstrittenen Pfingstkirche "Wiedergeburt in Christi" statt. Im Dezember 2005 heiratete dort der Fußballprofi Kaká, er ist das berühmteste Mitglied der Gemeinde und stiftete ihr seine Trophäe als weltbester Spieler. Am Sonntag wurde um 18 Uhr eine Messe gelesen, um 19 Uhr sollte die nächste beginnen, da brach um 18.56 Uhr das Dach über den Gläubigen zusammen. Bis zum Montag bargen die Rettungskräfte neun Tote und 100 Verletzte.

Wie die Renascer-Gemeinde berichtet, befanden sich in der kurzen Pause nur 60 Menschen in dem Saal, die Feuerwehr geht allerdings von 400 bis 500 Anwesenden aus. Überlebende berichteten von einer Druckwelle, die an einen Orkan erinnerte. "Als ich aus dem Bad kam, spürte ich einen heftigen Wind", schilderte ein Chorsänger in der Zeitung O Globo. "Ich sah Leute, die sich zu schützen versuchten, Sekunden später sehe ich Staub, und das Dach stürzt ein." Platten fielen wie Dominosteine herab, erzählte eine andere Zeugin, auf einen anderen Beobachter wirkte das Gebäude "wie Styropor". Betroffene irrten schreiend und weinend durch die Trümmer, eine Gruppe von 20 Kindern hatte sich im letzten Moment in Sicherheit bringen können. Verbogene Stahlträger und verbeultes Wellblech liegen nun ineinander verkeilt und lassen eine prekäre Konstruktion vermuten. "Es ist nur eine Ruine übrig", erklärte Sao Paulos Gouverneur José Serra.

Die Suche nach den Ursachen beginnt erst, doch erste Anschuldigungen wurden schnell laut. Ein Informant berichtete, ein Teil des Daches habe bereits in der vergangenen Woche nachgegeben und sei notdürftig geflickt worden, um den Betrieb fortsetzen zu können. Auch hatte es in Sao Paulo zuletzt viel geregnet. Bei anderen Kirchen-Unfällen dieser Art galten ebenfalls Baufehler oder ermüdetes Material als Grund. Renascer-Präsident Geraldo Tenuta widerspricht zwar dem Verdacht der Nachlässigkeit; es sei alles in Ordnung gewesen. Die Gerüchte werden aber auch genährt vom dubiosen Ruf des Religionsunternehmens.

Wie bei anderen Pfingstkirchen sprießen die Tempel der "Wiedergeburt in Christi" mit ihren zwei Millionen Mitgliedern aus dem Boden. Mehr als 1200 sind es in Brasilien und anderswo. Gegründet hatten die Vereinigung 1986 der PR-Mann Estevam Hernandes, der sich "Apostel" nennt, und seine Frau Sonia Moraes, die "Bischöfin". Später zogen sie steinreich nach Florida, wo sie unter Hausarrest stehen. Am Flughafen von Miami wurden sie 2007 mit nicht deklarierten 56 467 Dollar verhaftet, das Geld war in einer Bibel versteckt. Ihr Vermögen wird auf gut sechs Millionen Euro geschätzt; sie besitzen Häuser und Ländereien. Renascer gehört auch ein Fernsehsender. In Brasilien sind Hernandes und Moraes angeklagt wegen Geldwäsche und Dokumentenfälschung. Mit einem Trauerkommunique meldeten sie sich nun aus den USA. Peter Burghardt

Ein Bild der Verwüstung: Die zerstörte Zentrale der Pfingstkirche Renascer in der brasilianischen Metropole Sao Paulo. Foto: Reuters

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"Bissig, präzise, brutal"

Es herrscht Krieg auf der Skipiste: Die Namen mancher Sportgeräte erinnern eher an Kampfsport als an Winterspaß

Von Titus Arnu

Der "Dobermann Spitfire pro" hat keine Reißzähne und auch keine Sprengkraft. Er kann weder bomben noch beißen. Wenn man richtig mit dem Ding umgeht, kommt auch niemand zu Schaden. Es handelt sich nicht um eine Kreuzung aus Kampfhund und Sturzbomber, sondern um einen Carving-Ski.

Am besten fährt der unerschrockene Alpinsportler den schwarz-rot lackierten Ski mit dem dazugehörigen Rennschuh "Dobermann Aggressor". Laut Eigenwerbung der Firma Nordica ist dieses neue Produkt der Dobermann-Linie "gezüchtet aus der gleichen Rasse". Der Name des schwarzen, harten, kantig geformten hohen Stiefels sei Programm, urteilt das Fachmagazin Ski extreme, "der Renn-Skischuh Dobermann Aggressor WC 150 ist bissig, präzise, brutal."

Der Erfolg eines Produktes hängt entscheidend von dessen Namen ab, denn damit sind Assoziationen, Bilder und Gefühle verknüpft. Wer seine Füße in einen Aggressor steckt und die Stiefel an einem Dobermann festschnallt, will wahrscheinlich nicht zum sanften Wellness-Wedeln. Er demonstriert eher, dass er beabsichtigt, sich schnell wie ein Spitfire-Jagdflugzeug in die Tiefe zu stürzen.

Im beliebten Segment der Racecarver sind markige Markennamen derzeit äußerst populär. Die Namen mancher Sportgeräte erinnern eher an Kampfsport als an ein Wintervergnügen, nicht nur bei Nordica. Die Konkurrenz macht beim Wettrüsten mit und bietet ebenfalls einige Kracher an: Fischer hat den "Progressor 9" herausgebracht, Rossignol den "Radical 8X WC OS." Salomon hält in seinem Arsenal den explosiven Twintip-Ski "Gun" bereit und den dazugehörigen Skistiefel "Gun Crystal", der für "kraftvolle Impulsübertragung" sorgen soll und es dem Sportler angeblich erleichtert, "mit den Elementen zu kämpfen und dem Instinkt freien Lauf zu lassen". Die Namen einiger Turbogeräte lesen sich wie Werbung für saft- und kraftspendende Aphrodisika: Nordica verkauft den "Hot Rod Afterburner" und den "Hot Rod Eliminator."

Für Möchtegern-Rennfahrer

Grundsätzlich stehe der Markenname "Dobermann" für Skier und Schuhe, die für eine aggressive, sportliche Fahrweise geeignet seien, erklärt Christian Pichler, Marketing-Leiter bei Nordica. Und "Spitfire"? Auf das gleichnamige Jagdflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg sei die Firma noch nie angesprochen worden, versichert Pichler; der Name stehe für dynamische Allround-Pistenski. Geeignet seien die Dobermann-Produkte "für Rennfahrer und Möchtegern-Rennfahrer", wie es in der Werbung der Skifirma heißt. Weltcup-Athleten wie André Myhrer (Schweden) oder Patrick Thaler (Italien) können mit dem DobermannBiss fachgerecht umgehen, das Problem sind die weniger professionellen Pistenstars. Bei der Diskussion um die Sicherheit auf den Skipisten, die durch den tragischen Skiunfall von Thüringens Ministerpräsidenten Dieter Althaus ausgelöst wurde, wird viel über eine Helmpflicht gesprochen - und weniger über hochgerüstete Wintersportler, die eigentlich nicht fit genug sind für ihre Geräte.

Es ist statistisch nicht nachzuweisen, dass die Unfallzahlen durch die dynamisch geschnittenen Racecarver angestiegen sind. Aber man kann beobachten, dass der Fahrstil vieler Pseudo-Athleten in keinem gesunden Verhältnis zur Verkehrsdichte auf der Piste steht. "Zwischen Weihnachten und Neujahr ging es im Oberallgäu zu wie im Krieg", sagte der Landesarzt der Bayerischen Bergwacht, Herbert Forster, in einer Bilanz der Skiunfälle der letzten Wochen.

Benehmen sich Skifahrer, die einen aggressiv anmutenden Ski an den Füßen haben, auch zwangsläufig aggressiver? Und bewegen sich Frauen, die einen Lady-Ski mit Namen wie "Salomon Jewel Diadem", "K2 First Luv" oder "Rossignol Harmony" fahren, automatisch sanfter und harmonischer? Beides ist nicht unbedingt der Fall. Es kommt wohl, wie Experten vom Deutschen Skiverband, Bergretter und Skilehrer immer wieder betonen, vor allem auf Eigenverantwortung und Rücksichtnahme an.

Und der "Dobermann Spitfire" ist in Wirklichkeit auch kein harter Rennski für harte Kerle. Der handelsübliche Dobermann unterscheidet sich deutlich von einem Weltcup-Modell, er ist viel weicher und verhält sich auf der Piste nicht gerade brutal. Vielmehr entpuppt er sich als echter Spaßski, der brav macht, was man von ihm will - vorausgesetzt, man hat genug Kraft und beherrscht ihn. Das ist bei einem Hund auch nicht anders.

Skifahrer im Tiefflug: Manche perfekt ausgerüsteten Pistenlaien bringen sich und andere in Gefahr, obwohl sie nicht so gut mit ihren Sportgeräten umgehen können wie dieser Springer beim Freestyle-Weltcup in Lake Placid. Liebe Kinder, bitte nicht nachmachen! Foto: AP

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Luciano Moggi vor Gericht

498 Entlastungszeugen

Neapel (sid) - An diesem Dienstag beginnt der Prozess gegen Luciano Moggi, 71, den ehemaligen Sportdirektor von Juventus Turin. Moggi, der in Neapel mit weiteren 25 Personen vor Gericht steht, wird beschuldigt, mit Hilfe korrupter Schiedsrichter mehrere Spiele der Meisterschaften 2004/2005 und 2005/2006 zugunsten von Juventus manipuliert zu haben. Er wird auch der Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel beschuldigt, Einfluss auf Italiens Fußball-System zu nehmen.

In Hinblick auf den Prozess will Moggi 498 Entlastungszeugen laden lassen, darunter auch den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, den Trainer des AC Mailand, Carlo Ancelotti, den Geschäftsführer des Mailänder Klubs, Adriano Galliani, sowie den tschechischen Trainer Zdenek Zeman. Milan-Boss Berlusconi zeigte sich über Moggis Absicht, ihn als Zeugen laden zu lassen, überrascht: "Unsere Wege haben sich nie gekreuzt. Ich begreife nicht, wie ich ihm nutzen könnte." Vor Gericht müssen sich zudem Lazio-Präsident Claudio Lotito, Reggina-Chef Pasquale Foti und der Ehrenpräsident des Erstligisten AC Florenz, Diego Della Valle, verantworten.

Wegen Moggis Verwicklung im Manipulationsskandal hatte Italiens Fußballverband Juventus Turin die Meistertitel 2004/05 und 2005/06 aberkannt. Moggi war vor zwei Wochen von einem Gericht in Rom zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden, sein Sohn Alessandro zu 14 Monaten Haft. Moggi senior war wegen Verwicklung in den Manipulationsskandal, der Italiens Fußball im Sommer 2006 erschüttert hatte, zu einer fünfjährigen Berufssperre verurteilt worden.

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Reals umstrittener 3:1-Sieg

Verweigerte Elfmeter

Madrid (dpa) - Fußball paradox im Bernabéu-Stadion: Ein Angreifer der Gäste-Elf CA Osasuna wird zweimal im Strafraum von Real Madrid gefoult, bekommt aber keine Elfmeter zugesprochen, sondern wird vom Schiedsrichter wegen "Schauspielerei im Wiederholungsfall" vom Platz gestellt. Der Unglücksrabe Juanfran, der einst fünf Jahre bei Real Madrid unter Vertrag stand, verstand die Welt nicht mehr. Seine Elf, der Tabellenletzte, schien gerade in der Lage zu sein, beim Rekordmeister eine Überraschung zu landen, musste sich letztlich aber 1:3 geschlagen geben. Real verhinderte so am Sonntagabend eine Blamage beim Debüt des neuen Klubpräsidenten Vicente Boluda, der den kurz zuvor zurückgetretenen Ramón Calderón abgelöst hatte.

So recht freuen konnten sich die Madrilenen aber nicht, denn ihr Erfolg wurde vom Skandal um den Schiedsrichter überschattet. Die Entscheidungen des Unparteiischen Alfonso Pérez Burrull lösten in der spanischen Fußballwelt eine Welle der Empörung aus. Die Presse schrieb am Montag einhellig davon, der Referee habe dem Außenseiter den Erfolg "gestohlen" und Real die Punkte "geschenkt". Burrull verweigerte dem Außenseiter die Elfmeter in einer Phase, in der das Spiel auf des Messers Schneide stand. Die Zeitung El País bezeichnete den Referee als "eingeschmuggelten Agenten (Reals)". Das Sportblatt Marca forderte: "Der spanische Verband RFEF sollte Pérez Burrull für möglichst lange Zeit auf Eis legen." Selbst Reals Sportdirektor Predrag Mijatovic räumte ein: "Ich denke, dass Osasuna benachteiligt wurde." Torwart Iker Casillas ergänzte: "Zumindest eine der beiden Szenen sah stark nach Elfmeter aus." Der gefoulte Juanfran verließ nach der gelb-roten Karte entnervt das Feld: "Ich gehöre nicht zu den Spielern, die sich im Strafraum fallenlassen", sagte er.

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Willkommen im Milieu

Von Christof Kneer

Diese Mannschaft, die leider nie zusammenspielen durfte, wäre bestimmt eine sehr gute Mannschaft gewesen. Sie hätte nicht nur hervorragend Fußball gespielt, sie wäre auch charakterlich vorbildlich gewesen. Im Tor dieser Mannschaft, die leider nie zusammenspielen durfte, steht Sepp Maier (FC Bayern), davor bilden von rechts nach links Schaaf (Bremen), Körbel (Frankfurt), Buchwald (Stuttgart) und Dietz (Duisburg) eine tapfer schuftende Viererkette, im Mittelfeld halten Eilts (Bremen) und Lameck (Bochum) als moderne Doppelsechs Allgöwer (Stuttgart) und Fritz Walter (Kaiserslautern) den Rücken frei, damit die ein paar schöne Pässe auf Uwe Seeler (Hamburg) und Gerd Müller (FC Bayern) spielen können. Die besonderen Qualitäten dieser Mannschaft, die nie zusammenspielen durfte, wären die funktionierenden Automatismen gewesen, wie man heute wohl sagen würde - denn diese Elf hätte ja vom ersten bis zum letzten Tag zusammengespielt. Es hätte vielleicht mal einer seine Karriere beendet, aber gewechselt? Gewechselt wäre nie einer. Und wenn - dann wäre er bald wieder zurückgekommen.

Lukas Podolski ist nun also heimgekehrt nach Köln und damit Anwärter auf einen Stammplatz in der vereinstreuesten Elf der deutschen Fußball-Geschichte. Bisher konnten sich diese Spieler ihrer Stammplätze sicher sein, denn es war ja undenkbar, dass es im globalisierten Fußball noch mal einen Profi geben würde, der sich für so eine heimatverbundene Mannschaft aufdrängt. Ab sofort konkurriert Podolski also mit Müller und Seeler, und falls er an denen nicht vorbeikommt, müsste die Mannschaft, die nie zusammenspielen durfte, eben ihr System ändern und künftig mit drei Spitzen spielen.

Lukas Podolski zählt nun also auch zur Gattung jener Milieuspieler, die wissen, wo sie hingehören. Der Milieuspieler ist die Antithese zum Söldner, und im Idealfall bringt es der Milieuspieler so weit, dass sie seinen Fuß in Bronze gießen und in Übergröße vors Stadion stellen (wie bei Uwe Seeler), oder dass sie, wie bei Fritz Walter, gleich ein ganzes Wetter nach ihm benennen. Der Milieuspieler leidet oft unter einem schweren Schicksal, er ist ja meist mit großem Talent geschlagen und muss dann immer erklären, warum er dieses Talent nicht in Madrid oder Mailand zur Schau stellt. Zumindest im Falle des modernen Milieuspielers Podolski klingt das Bekenntnis zum heimischen Biotop wie ein Abschied von der großen Ambition, und man kann das je nach Veranlagung naiv, rührend, albern oder sympathisch finden.

Vielleicht ist es aber auch so, dass Podolski seiner Zeit nicht hinterher ist, sondern weit voraus. Gerade haben sich Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm trotz milieufremder Angebote zur Münchner Heimat bekannt, und wenn Podolski nicht aufpasst, wird am Ende noch ein Trendsetter aus ihm. Und in der Elf der Heimattreuen wackeln die Stammplätze.

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Bundesliga diskutiert Aufstockung

Hoeneß für 18 Klubs

Frankfurt/Main (sid) - DFL-Chef Christian Seifert hat wegen der kontroversen Diskussionen um eine verkürzte Winterpause und eine Aufstockung auf 20 Klubs die Fußball-Bundesligisten zur Besonnenheit aufgerufen. "Das Thema Aufstockung ist ein ganz relevantes Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Aber wir sollten darauf verzichten, kurzfristig Dinge zu entscheiden, die das Bild der Bundesliga in den nächsten 20 Jahren deutlich verändern würden", sagte der Vorsitzende der Geschäftsführung der Deutschen Fußball Liga (DFL).

Laut Seifert dürfen die durch den neuen Medienvertrag in der kommenden Saison entstehende Delle bei den TV-Einnahmen in Höhe von knapp 25 Millionen Euro sowie die weltweite Finanzkrise nicht als Gründe angeführt werden, um "über eine Aufstockung nachzudenken".

Die Meinungen in der ersten und zweiten Bundesliga gehen weit auseinander. Einen ganz neuen Ansatz brachte dabei Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß ins Spiel: "Ich finde, dass die zweite Liga gerne auf 24 Vereine aufgestockt werden kann. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Aber die erste Liga muss dringend bei 18 Vereinen bleiben, ich bin eher dafür, sie auf 16 zu reduzieren", sagte er der Münchner Zeitung tz. Als Grund führte Hoeneß die zu hohe Belastung der Spieler an: "Wenn auch noch ein Ligapokal während der Saison dazukommen soll, dann muss ich mir die Frage stellen, was das alles soll? Das wichtigste Kapital für die Vereine sind die Spieler. Wenn man die noch mehr belastet und ein zusätzlicher Spieler deswegen verletzt wird, ist das viel teurer als die Einnahmen, die man durch zusätzliche Heimspiele im Ligapokal kriegt."

Das Problem der Überbelastung betrifft jedoch hauptsächlich die Spitzenklubs der Bundesliga. Für die Zweitligisten ist eine Liga mit nur 18 Vereinen Luxus. "Wenn sich die Bundesliga nicht zu einer Aufstockung durchringt, sollte die zweite Liga ihren eigenen Weg gehen. Wir können uns nicht immer von den Reichen regieren lassen. Die Zeit ist mehr als reif für eine Aufstockung", sagte Harald Strutz, Präsident von Mainz 05.

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Zurück zur Familie - halleluja!

Ganz Köln betrachtet die Heimkehr von Lukas Podoslki als Geschenk, doch das Team des 1. FC wird dadurch auf die Probe gestellt

Köln - Keinen Kölner hätte es mehr gewundert, wenn sie am Montagmorgen um neun im Südturm des Doms die St. Petersglocke geläutet hätten. Der "decke Pitter" ist die Paradeglocke der Kathedrale, und sein Einsatz ist eigentlich den hohen kirchlichen Feiertagen vorbehalten. Gelegentlich wird das 24 Tonnen schwere Stück aber auch bei profanen Anlässen in Gebrauch genommen, zum Beispiel läutete es im Jahr 1990 beim deutschen Wiedervereinigungsakt, und eine Form der feierlichen Wiedervereinigung ist die am Montag verkündete Heimkehr des Nationalspielers Lukas Podolski nach Köln auf jeden Fall. Das werden nicht mal die Skeptiker bestreiten, von denen es tatsächlich welche gibt in der Stadt und angeblich sogar im Klub - man kann sie bloß nicht hören. Sie schweigen lieber.

T-Shirts für 15 Euro

Podolski, 24, wird im Sommer vom FC Bayern zum 1. FC Köln wechseln, die letzten technischen Fragen des Geschäfts klärten die Parteien am Sonntag. Dafür mussten die FC-Sachwalter Michael Meier und Claus Horstmann nicht mehr nach München reisen, die entscheidende Verhandlungsrunde zu dem von beiden Seiten gewollten Handel hatte man bereits während der vergangenen Woche im Münchner Hotel "Vierjahreszeiten" bewältigt. Für die Kölner war Podolskis Heimkehrwunsch ein moralischer Auftrag, "er ist seinem Herzen gefolgt", wie Präsident Wolfgang Overath am Montag erläuterte. Für die Münchner galt Ähnliches: Man habe "dem Wunsch des Spielers entsprochen", erklärte Manager Uli Hoeneß. Angebote anderer Klubs, die den Bayern womöglich mehr Geld eingebracht hätten, gingen offenbar nicht in die Debatte ein.

Rund zehn Millionen Euro Entschädigung erhalten die Bayern, damit sie den Angreifer aus seinem bis 2010 geltenden Vertrag freigeben. Beim FC verpflichtete sich Podolski bis Juni 2013. Mit der Kollekte zur Kostendeckung begannen die Kölner gleich nach Bekanntgabe der Vereinbarung, auf seiner Homepage offerierte der Klub eine Auswahl an T-Shirts, deren Themen allesamt um das Leitmotiv dieser außergewöhnlichen Transaktion kreisten: Ein Sohn der Stadt kommt nach Hause - zurück zur Familie, halleluja! Auf einem der angebotenen T-Shirts ist Podolski das Puzzleteil eines Kölner Ganzen, das nur die wichtigsten zeitgenössischen Merkmale enthält: Dom mit Rheinpanorama, Müngersdorfer Stadion, Geißbock Hennes VIII, Poldi.

Die T-Shirts kosten zwölf bis 15 Euro, und jeder FC-Anhänger darf sich beim Kauf als Patriot fühlen. Seit die Klubgremien im frühen Herbst zum Ziel erklärt haben, Podolski aus dem bayrischen Exil zu erlösen, haben die Verantwortlichen an einem Finanzierungsmodell gearbeitet, die T-Shirts sind ein - kleiner - Teil davon. Vorstand und Verwaltungsrat haben den Plan für gut befunden, über Einzelheiten ist trotzdem nicht viel bekannt geworden - der FC hat das Geschäft trotz des ungeheuren Mediendrucks seriös und diskret abgewickelt. Aber dass der Klub mit dem Rekordtransfer einen Kraftakt leistet, ist offensichtlich: Die vergangene Saison, die zweite hintereinander in der zweiten Liga, war den FC teuer zu stehen gekommen, er verzeichnete ein Minus von 2,27 Millionen Euro. "Die zweite Liga kostet Substanz", hatte Geschäftsführer Horstmann erklärt und auf die geringeren TV- sowie Transfereinnahmen verwiesen. Für den Kauf Podolskis begibt sich der Klub nun erst recht ins Defizit, die zusätzlichen Vermarktungserlöse, die der "nationale Liebling" (Michael Meier) ermöglicht, werden nur einen Teil der benötigten Summe decken. Einen weiteren beweglichen Beitrag erhoffen sich die Kölner aus einem Gastspiel des FC Bayern im Sommer, das mit Hilfe von Sponsoren und der üblichen Volksmusikanten (Höhner, Brings) als großes Freudenfest inszeniert werden soll.

Für Trainer Christoph Daum ist der Erwerb des Nationalspielers ein sportliches Geschenk - und gibt doch Anlass zu ein paar Sorgen: Sein sorgsam ausbalanciertes Mannschaftsgefüge mit Fußballern aus 17 Nationen wird durch die Ankunft des Stars auf die Probe gestellt werden, Podolski wird außerdem erheblich mehr Gage erhalten als die bisherigen Großverdiener im Kader. Daum war sich der Empfindlichkeit des Themas aber immer bewusst, er hat öffentlich keinerlei Einwand anklingen lassen. Er hat lediglich darauf hingewiesen, dass er der Operation nur unter der Bedingung zugestimmt habe, dass seine Mannschaft im Sommer durch weitere neue Spieler verstärkt werde. Der Vollzugsmeldung der beiden Klubs schloss sich der Trainer mit angemessen großen Worten an: "Das ist ein Meilenstein in der Geschichte des FC und ein weiteres Zeichen des Aufbruchs", verkündete er.

Giftige Stacheln

Pathos und Rührseligkeit gehören zu dieser Geschichte dazu. Selbst Bundestrainer Löw hatte sich dem nicht entziehen wollen und seinem Schüler geraten, "auf sein Herz zu hören" - und also wieder nach Köln zu gehen. Doch die Zeit bis zum Umzug an den Rhein könnte sich für Podolski noch quälend hinziehen. Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann unterlässt es zwar in keiner Stellungnahme, Podolskis Begabung und menschliche Liebenswürdigkeit hervorzuheben, aber das Lob enthält auch jedesmal giftige Stacheln. Ob Klinsmann den abtrünnigen Spieler in der Rückrunde noch mal spielen lässt, erscheint ziemlich fraglich. "Das liegt an ihm", hat der Trainer am Wochenende gesagt, "aber es wird nicht einfach für ihn." Philipp Selldorf

Einmal Kölner, immer Kölner: Lukas Podolski (auf dem Foto im Sommer 2004) wird ab Juli wieder den Geißbock auf dem Herzen tragen. Foto: dpa

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Der dritte Mann

Jahrelang war Carsten Lichtlein Ersatz vom Ersatz, nun ist er im Tor des Handball-Nationalteams angekommen

Varazdin - Der dritte Torwart im Fußball hat wenigstens im zweiten Torwart einen Leidensgenossen, weil der auch nie spielt. Das macht es irgendwie erträglicher, dieses ewige Trainieren für einen Platz auf der Bank: dass da noch ein anderer ist, dem es genauso geht. Im Handball aber ist der dritte Torwart ganz arm dran. Meist wechseln sich der erste und der zweite Tormann ab, sie bilden ein Team, eine Mannschaft in der Mannschaft. Der dritte Torhüter aber ist allein, und in den vergangenen Jahren hieß der dritte Torhüter der deutschen Handball-Nationalmannschaft immer Carsten Lichtlein. Am Sonntagabend hat er in der kommunalen Sporthalle zu Varazdin gegen Tunesien gewonnen. Gut, die anderen haben beim 26:24 die Tore erzielt, aber es war sein Spiel. Carsten Lichtlein, der über die Jahre hundert Länderspiele angehäuft hat, die ohne Bedeutung waren, ist in diesem WM-Spiel ein richtiger Nationaltorhüter geworden: einer, der dem Team das Spiel rettet. "Er hat in den vergangenen Jahren viel Geduld beweisen müssen", sagte Bundestrainer Heiner Brand, "deshalb freut es mich besonders, dass er heute einen wichtigen Beitrag leisten konnte." Das mit dem "wichtigen Beitrag" ist die übliche Form der Brandschen Untertreibung.

Unfassliche Quote

Zunächst hatte Johannes Bitter auf dem Feld gestanden, der Mann vom HSV Hamburg. Bitter hat sich geduldig in die Mannschaft gearbeitet, er war zweiter Mann hinter Henning Fritz, dann war er gleichberechtigt, nun ist er die Nummer eins. Aber er hatte so einen Tag erwischt, an dem gar nichts ging, die Bälle zischten an ihm vorbei, und wenn er doch mal eine Hand an die Kugel brachte, sprang sie dennoch ins Tor. Jeder Torhüter im Handball kennt dieses Phänomen, auch erfahrenste Weltklasseleute, dass er plötzlich keinen Ball mehr hält. Brand wartete, ob Bitter sich fangen würde, doch Bitter fing sich nicht. Nach zwölf Minuten schickte er Carsten Lichtlein aufs Feld, da lagen die Deutschen noch mit vier Toren zurück. Zudem kamen sie nicht ins Rollen, sie kämpften zwar, nachdem sie miserabel gestartet waren, aber sie trafen nicht. Torsten Jansen und Michael Kraus verwarfen Siebenmeter. In solchen Phasen braucht eine Mannschaft einen exzellenten Torhüter, weil sonst der Gegner davonzieht. Carsten Lichtlein erreichte bis zur Halbzeit die unfassliche Quote von 67 Prozent gehaltener Würfe. Es war erstaunlich anzusehen, wie der Lemgoer seine Gliedmaßen durch die Lüfte warf, mal schnellten Arme und Beine hervor wie die Klinge eines Klappmessers, mal schien es, als fülle Lichtlein gerade auf unheimliche Weise das gesamte Tor mit seinem Körper aus, dann wieder war es nur eine kleine, kaum sichtbare Bewegung mit dem Fuß, und der Ball änderte die Flugbahn. Alles, was Bitter misslungen war, gelang nun Lichtlein, und es ist keine Übertreibung zu sagen: Ohne ihn wären die Deutschen in dieser Phase untergegangen. Nach der Halbzeit hielt er dann wie ein normaler Torwart, ein irdischer, aber immer noch sehr gut.

Bereits vor dem Turnier, beim Abschiedsspiel des ehemaligen Kapitäns Markus Baur, hatte Brand gesagt: "Über die Torwartposition mache ich mir die geringsten Sorgen." Immer schon scheint Deutschland eine Gegend zu sein, in der so viele gute Torleute geboren werden, dass es für alle Sportarten reicht. Während es den Engländern nicht gelingt, in ihrem Landstrich auch nur einen halbwegs brauchbaren Schlussmann zu finden, stehen in deutschen Mannschaften erstaunlich oft Weltklasseleute im Tor, sei es im Fußball, im Hockey oder im Handball. Bei den Olympischen Spielen 2004 wurde das besonders augenfällig, als die Hockeyfrauen dank überragender Torhüterinnen Gold holten und Henning Fritz im deutschen Handballtor im Viertelfinale gegen Spanien zur Idealform des Torhüters wurde, zur Wand. Damals gelangt es den Spaniern nicht, im entscheidenden Siebenmeterwerfen auch nur einen Wurf ins Tor zu setzen. Fritz wurde als erster Torhüter Welthandballer des Jahres.

Bei der WM 2003 bildete er mit Christian Ramota das deutsche Torhüterteam, damals erstmals als dritter Mann dabei: Carsten Lichtlein. Bei allen großen Erfolgen der vergangenen Jahre steht auch sein Name stets auf den Siegerlisten, obwohl er de facto keine Rolle spielte. 2004 ist Lichtlein Europameister geworden, und 2007 sogar Weltmeister. Anteil hatte er an diesen Titeln nicht, oder besser: nicht direkt. Sein Beitrag waren Geduld und Loyalität, und Brand wusste immer zu schätzen, dass Lichtlein da war und sich ruhig verhielt. Jetzt ist sein Beitrag ein direkter, ein sichtbarer geworden, und es wirkte, als freuten sich die Kollegen für Lichtlein, dass er nun endlich mitspielen darf. Selbst Johannes Bitter, der mit sich und seiner schlechten Leistung haderte, sagte: "Carsten hat so lange gewartet, ich freue mich für ihn." Lichtlein ist 28 Jahre alt, er hat noch Zeit als Torhüter. Beim TBV Lemgo spielt er gerade eine sehr gute Saison, es läuft jetzt gerade richtig gut für ihn.

Zum Nationalteam gehört übrigens auch ein gewisser Silvio Heinevetter, von dem man nie etwas hört. Heinevetter ist dritter Torwart, er wird bei dieser WM wohl nicht eine Sekunde spielen. Aber eines Tages, das sieht er jetzt an Lichtlein, kommt seine Stunde. Christian Zaschke

Als füllte sein Körper das gesamte Tor aus: Handball-Keeper Carsten Lichtlein lieferte in der ersten Halbzeit des Weltmeisterschafts-Spiels gegen Tunesien eine schier überirdische Leistung. Foto: nph

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Für 15,5 Millionen nach Manchester

Scheich holt Bellamy

London (dpa) - Im Bemühen um Verstärkungen für seine kriselnde Mannschaft hat Manchester City einen weiteren Transfer getätigt. Am Montag einigte sich der zwischenzeitlich sogar in Abstiegsgefahr geratene Premier-League-Klub mit West Ham United auf die Verpflichtung von Stürmer Craig Bellamy. Die Ablösesumme für den 29 Jahre alten walisischen Nationalspieler soll umgerechnet rund 15,5 Millionen Euro betragen. Zuvor war bereits Linksverteidiger Wayne Bridge vom FC Chelsea unter Vertrag genommen worden.

Doch mit dem Bellamy-Einkauf ist der seit der Übernahme durch Scheich Mansour bin Zayed al Nahyan liquideste Klub der Welt längst nicht am Ende seiner Wünsche. Der Milliardär aus Abu Dhabi, der Manchester City vom derzeitigen elften Tabellenplatz in die internationale Spitze führen will, plant weitere Transfers in einer neuen Größenordnung. So stehen besonders der Brasilianer Kaká vom AC Mailand (Angebot: 119 Millionen Euro), aber auch der Niederländer Nigel de Jong vom Hamburger SV (16,5 Millionen Euro) und der frühere Bayern-Stürmer Roque Santa Cruz (rund 19 Millionen/Blackburn Rovers) noch auf der Einkaufsliste. Milan hat Kaka die Freigabe bereits erteilt, obwohl Kaká im Verein bleiben will. Kakás Vater, der auch Berater seines Sohnes ist, drängt den Filius zum Wechsel auf die Insel. Eine Entscheidung wird in den nächsten Tagen erwartet.

Begonnen hatte Manchester die Einkaufstour im Sommer 2008. Damals holte City die Brasilianer Robinho (Real Madrid/43 Millionen Ablöse) und Jo (ZSKA Moskau/24 Millionen). In Manchester steht auch der derzeit verletzte Deutsche Dietmar Hamann unter Vertrag.

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Basketball-Euroleague

Schwere Lose für Alba

Berlin (dpa) - Alba Berlin hat für die Zwischenrunde der Basketball-Euroleague eine schwere Gruppe erwischt, darf gegen attraktive Gegner aber auf eine volle Halle hoffen. Berlin trifft in der Top-16-Runde auf die ehemaligen Europaliga-Sieger FC Barcelona, Real Madrid und Maccabi Tel Aviv. Im Rennen um einen der beiden Viertelfinal-Plätze sind die Hauptstädter damit krasse Außenseiter. Zuerst muss Alba am 28./29. Januar in Tel Aviv antreten. Die Berliner, die 1998 im Viertelfinale standen, kamen erstmals seit neun Jahren wieder über die Vorrunde der Euroleague hinaus.

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Kurz gemeldet

Spanien und Portugal bewerben sich gemeinsam um die Ausrichtung der Fußball-WM 2018 oder alternativ um die WM 2022. Spanien hatte 1982 die WM ausgetragen, Portugal war Ausrichter der EM 2004. Außerdem bewerben sich England, Mexiko, USA, Niederlande/Belgien, Japan, Katar, China und Australien.

Der FC Barcelona, Tabellenführer der spanischen Fußballliga, hat sein neues Trainingszentrum eröffnet. Das in den vergangenen Monaten für 68 Millionen Euro gebaute Trainingsareal, das rund vier Kilometer vom Stadion Nou Camp entfernt ist (es liegt im Vorort Sant Joan Despi), hat eine Größe von 136 839 Quadratmetern und beinhaltet fünf Natur- sowie vier Kunstrasenplätze.

Krzysztof Lijewski, 25, vom Handball-Bundesligisten HSV Hamburg, hat sich am Sonntag im WM-Spiel der polnischen Nationalmannschaft gegen Russland (24:22) eine Knieverletzung (Verdacht auf Außenbandanriss) zugezogen. Ungewiss ist, ob der Rückraumspieler am Donnerstag im WM-Spiel der Polen gegen die deutsche Mannschaft (17.30 Uhr) eingesetzt werden kann.

BB Bamberg, Basketball-Bundesligist, hat zur neuen Saison Dan Dickau verpflichtet. Der 30-Jährige mit der Erfahrung von 300 NBA-Spielen stand zuletzt beim italienischen Erstligisten und Euroleague-Starter Air Avellino unter Vertrag.

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Nürnbergs Handballerinnen

Teurer Europacup

Nürnberg (dpa) - Den Handballfrauen des 1. FC Nürnberg droht das Aus. "Im Moment kann ich davon ausgehen, dass wir nicht durch die Saison kommen, nicht mal ansatzweise", sagte Achim Klamroth, Präsident des FCN-Handball. Nach dem versöhnlichen Ende in der Champions League, in der der deutsche Meister mit dem 33:30 gegen Metz am Freitag vor 1397 Zuschauern den einzigen Sieg feierte, steht der Club wegen wirtschaftlicher Probleme vor der vierten Insolvenz binnen vier Jahren. Der drohende Kollaps gefährdet gar den laufenden Spielbetrieb in der Bundesliga.

Die Teilnahme am Europacup hat die Lage beim FCN deutlich verschlechtert. "Die Champions League hat uns nicht saniert. Das Gegenteil ist der Fall", stellte Klamroth fest. Zu den Alt-Schulden von etwa 100 000 Euro kommt nach Angaben von Klamroth ein Minus von "40 000 bis 50 000 Euro" hinzu. Zusätzliche Belastungen sind 45 000 Euro Mietkosten für die Arena (15 000 Euro pro Heimspiel), 9000 Euro für die TV-Übertragung, 4000 Euro für den vom Europäischen Handball-Verband (EHF) geforderten Boden inklusive Verlegungskosten und rund 10 000 Euro für Reisekosten sowie die Unterbringung von Schiedsrichtern und Offiziellen. An Einnahmen stehen 10 000 Euro Antrittsprämie für die Teilnahme an der Gruppenphase sowie die relativ knappen Zuschauereinnahmen aus den Heimspielen zu Buche.

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Hilferuf am Scheideweg

In der Basketball-Liga steigt die Angst vor Insolvenzen

Köln - Im Herbst war die Welt noch in Ordnung. Die finanziellen Planzahlen der Basketballklubs zum 30. September waren im Rahmen der Erwartungen ausgefallen, während der "Lehrstuhl für innovatives Markenmanagement" der Universität Bremen im Auftrag der Basketball-Bundesliga (BBL) unter Fans und Branchenbeobachtern eine Umfrage durchführte, deren Ergebnis in diesem Frühjahr präsentiert und der Liga zur Verbesserung ihrer Markenstrategie verhelfen soll. Die BBL war eigentlich gerade auf Innovation eingestellt, als ihr Geschäftsführer Jan Pommer am Freitag kurz vor der jährlichen Branchensause namens "All Star Day" eine Mitteilung auf seinem Blackberry empfing, die er "höchst verwunderlich" fand und die für all die Visionen kontraproduktiv war.

Die Paderborn Baskets, seit zweieinhalb Jahren eines der kleinen und unauffälligen Mitglieder in der Bundesliga, sehen ihre Spielbetriebs-GmbH von einer Insolvenz bedroht und haben diese Furcht ohne Absprache mit der Ligenleitung als Mobilisierungsversuch für die örtliche Wirtschaft in einer Pressemitteilung formuliert. Für die BBL war dies Anlass, am Rande des sonst von purer Zuversicht geprägten "All Star Days" ihre Aufbruchstimmung kurzerhand mit allerhand Warnsignalen zu verkleiden. "Wir machen uns Sorgen um das Sponsoring", sagt Pommer, "deshalb haben wir den Klubs ein Worst-Case-Szenario aufgezeichnet!" Dieses Szenario verheißt fünf bis zehn Millionen Euro weniger Sponsoringeinnahmen in der kommenden Spielzeit und veranlasste die Ligenleitung, ihre Klubs zu mehr Sparsamkeit anzuhalten. Ungeachtet dieser Aufforderung zur Genügsamkeit wird die BBL ihren Vereinen ab der kommenden Saison je einen hauptamtlichen Mitarbeiter für die Ressorts Finanzen, Marketing und Public Relations abverlangen. Das bedeutet für einige Klubs noch mehr Ausgaben.

Paderborner Probleme

Es wird also künftig noch enger für die Paderborner, selbst wenn die positiven Signale, die der Präsident Wolfgang Walter am ersten Wochenende nach dem Hilferuf bekommen hat, die Rettung bedeuten sollten. Etwa 300 000 Euro fehlen den Baskets bis zum Saisonende, "aber unsere Mitteilung hat schon jetzt einen Ruck in der örtlichen Wirtschaft ausgelöst". Die Paderborner GmbH rangiert mit einem Saisonetat von knapp 1,4 Millionen Euro am unteren Ende der BBL-Finanztabelle und beklagt in dieser Saison neben dem latenten Mangel an Sponsoren auch noch einen unerwartet deutlichen Einbruch bei den Zuschauerzahlen. Um knapp 500 Besucher pro Heimspiel ist der Schnitt auf 2131 abgestürzt. 20 Prozent weniger Zuschauereinnahmen verzeichnet in der ohnehin schwierigen Branche sonst kein Klub. Die klammen Paderborner sind im dritten Jahr ihrer Erstligazugehörigkeit am Scheideweg angelangt. Entweder finden sich neue Geldgeber, oder der vorbildlich geförderte Nachwuchs muss sich künftig mit dem Ziel Regionalliga begnügen.

Rückgang beim Sponsoring

Derlei Hilferufe von BBL-Klubs sind nicht neu. In der vergangenen Saison kamen sie aus Jena und Köln, in dieser aus Gießen und Paderborn. Die Furcht vor der existenziellen Not einzelner Klubs "gehört hier permanent dazu", sagt Pommer als Chef der in Köln ansässigen BBL-Zentrale. Dass die Wirtschaftskrise seiner Branche schaden könnte, hatte er sich schon vor der unheilvollen Mitteilung aus Paderborn ausgemalt, aber womöglich erst durch sie sah sich die Liga in letzter Konsequenz veranlasst, die wirtschaftlichen Erwartungen demonstrativ herunterzuschrauben. Der Gesamtumsatz der BBL betrug vergangene Saison 48 Millionen Euro, wovon 56 Prozent aus dem Sponsoring stammen. Das sind knapp 27 Millionen Euro. Aus der BBL heißt es, der Umsatz werde in der laufenden Saison wohl noch um ein paar Prozent ansteigen, aber schon zur kommenden Saison würden sich die Sponsoring-Einnahmen deutlich verringern. Dies würde sich angesichts der hohen Quote maßgeblich auf den Umsatz auswirken.

"Durch die Finanzkrise kommen erhebliche Sponsorenprobleme auf die Vereine zu", sagt der BBL-Präsident Thomas Braumann, "deshalb haben wir sie aufgefordert, ihre Budgets konservativ zu planen." Für eine höhere Kosten-Disziplin will die BBL künftig strenger in die Bücher schauen. Wer die Vorgaben nicht erfüllt, könnte schneller entlizensiert werden als bislang. Die BBL schließt eine Verkleinerung der 18 Teams umfassenden Liga nicht mehr aus. "Wenn nur noch 16 oder 14 Klubs die Standards erfüllen, kommt die Verkleinerung der Liga", sagt Braumann. Vor allem, dass die Paderborner der BBL am 4. November noch nichts von der Gefahr einer Insolvenz angedeutet hatten, sorgt in Köln für Missstimmung. "Im November hatten sie uns gesagt, es sei alles okay", sagt Braumann. "Sollten sie uns verkohlt haben, bekommen sie mit uns ein ernstes Problem." Ulrich Hartmann

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Neuartige Strategie

Russlands latent dopingverdächtige Biathleten werden seit Tscheressows Sperre langsamer

Ruhpolding - Die eigene Überlegenheit war zwischendurch zum Rätsel geworden. Halb nachdenklich, halb kokettierend hatte die russische Biathletin Ekaterina Iouriewa nach dem fulminanten Staffelsieg von Oberhof am 7. Januar ausgerufen: "Gibt es denn noch Hoffnung, dass wir nochmal verlieren?" Russlands Frauenteam war soeben mit dem kapitalen Vorsprung von einer Minute und zehn Sekunden ins Ziel gekommen. Als die Nachfolgenden ankamen hatten die Mannschaftsmitglieder von Trainer Alexander Selifonow bereits Händeschütteln und Schulterklopfen beendet. Die Dominanz verblüffte aber nicht nur Iouriewa. Denn eigentlich ist die Weltspitze im Biathlon breiter und stärker geworden und viele Nationen rüsten auf. Andererseits - lange musste die junge Russin sich nicht um ernstzunehmende Gegnerinnen sorgen. Denn am nächsten Tag wurde Männerkollege Tscheressow wegen zu hoher Hämoglobinwerte gesperrt, und seitdem kann von brutaler russischer Überlegenheit keine Rede mehr sein, weder bei Männern noch Frauen.

Auf ihnen lastet wegen diverser Vorkommnisse aus der Vergangenheit ein gewisser Dopingverdacht. Nicht nur posisitive Proben wie bei Olga Pylewa (heutige Medwetsewa) nähren diesen, sondern vor allem das Verhalten eines Verbandes, der die Bemühungen um einen transparenten Antidopingkampf nicht ernst zu nehmen scheint. Weil die russische Biathlon Union (RBU) zum Beispiel eine Ausnahmegenehmigung für das Hämoglobinwunder Tscheressow (er war schon 2007 mit 18,2 Gr./dl Blut gemessen worden), spricht IBU-Medizinchef James Carrabre von einer rätselhaften russischen Mentalität und bedauert, die russischen Ärzte würden den internationalen Kollegen nicht vertrauten. Dass jenen das Misstrauen nun massiv entgegenschlägt, ist also selbstverschuldet.

Neuestes Indiz ist der Leistungsabfall der gesamten Mannschaft seit den Oberhofer Staffelrennen. Wie immer muss berücksichtigt werden, dass im Biathlon plötzliche Krankheiten oder verwachste Ski für vereinzelte Rückschläge sorgen können, doch der Einbruch der Russen ist umfassend und kam fast zur gleichen Zeit. Die besten drei Frauen und Männer aus der RBU-Auswahl ereilte seit dem Wochenende von Oberhof ein relativ gleichmäßiger Leistungsabfall von einer halben bis einer Minute.

Eins und eins

In der reinen Laufzeit, also abzüglich des Aufenthalts in der Schießarena, verschlechterte sich Iouriewa durchschnittlich um 50 Sekunden. Sie wendet ein, sie sei krank geworden. Albina Achatowa, 32, wurde im Vergleich zu ihren Laufleistungen im Dezember um 40 Sekunden langsamer. Und auch die Gesamtweltcupführende Swetlana Sleptsowa, vor Weihnachten fast immer die Schnellste, ließ seit Tscheressows Sperre um durchschnittlich 20 Sekunden nach.

Bei den Männern ist es ähnlich: Tscheressow, im Einzelrennen über 20 Kilometer am 18. Dezember noch Laufzeitbester mit zehn Sekunden Vorsprung, lief nach seiner Sperre in Ruhpolding dem Schnellsten einmal um 48 und einmal um 54 Sekunden hinterher. Dimitri Iaroschenko hatte nach der Sperre des Kollegen in Oberhof zunächst noch die üblichen Rückstände von einer halben Minute, in Ruhpolding brach er ein. Im Sprint lief er der Spitze um 77 Sekunden hinter, in der Verfolgung trat er gar nicht an. Maxim Tschudow, 26, schließlich verlor in derselben Zeit grob eine halbe Minute. Tschudow ist der Mann, der bei der WM 2008 in Östersund durchschnittlich eine halbe Minute schneller war als der Rest der Biathlonwelt.

Relative Zeiten sind das, gemessen wird immer nur am Tempo des Besten, und Uwe Müssiggang, der Trainer der deutschen Biathletinnen, wies in Ruhpolding darauf hin, dass seine Läuferinnen in der Zwischenzeit ja auch besser geworden seien. Neuartig wirkt die Strategie der russischen Vorbereitung zum Saisonhöhepunkt dennoch: dreieinhalb Wochen vor der WM kollektiv nachzulassen.

Dass viele Beobachter sich darüber nicht nur wundern, sondern auch eins und eins zusammenzählen, hängt zudem mit Umständen zusammen, für die die aktuelle Weltcupmannschaft der RBU vielleicht gar nichts kann. In den vergangenen beiden Jahren wurden russische Mannschaften in zwei anderen Ausdauersportarten des gemeinsamen systematischen Dopings überführt. Der Leichtathletikweltverband sperrte vor Olympia sieben russische Mittel- und Langstreckler. Und wegen einer Serie von Dopingvergehen wäre auch die komplette russische Rudermannschaft fast von den Spielen in Peking ausgeschlossen worden.

Die Sportarten unterscheiden sich, die Strukturen sind jedoch ähnlich. Bezahlt und trainiert werden die Athleten jeweils von einem mächtigen, ehrgeizigen, manchmal willkürlich agierenden und undurchsichtigen Verband. So wie auch im Biathlon. Volker Kreisl

Plötzlich außer Puste: Die Weltcup-Erste Swetlana Sleptsowa präsentiert sich nach überragendem Saison-Auftakt in den vergangenen Wochen auffällig müde. Foto: AP

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DFB-Pokalfinale ab 2010

Frauen verlassen Berlin

Berlin (sid) - Das DFB-Pokalfinale im Frauen-Fußball findet vom nächsten Jahr an nicht mehr in Berlin statt. "Nach 25 Jahren in Berlin und mit der Weltmeisterschaft 2011 in Deutschland will man einfach den nächsten Schritt gehen", sagte Hannelore Ratzeburg, Vizepräsidentin des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Der DFB bereitet gerade die Ausschreibung für einen neuen, festen Austragungsort vor. "Damit kann der Frauenfußball eine eigene Tradition entwickeln", sagte Ratzeburg. Zuletzt hatte das Frauen-Finale wenige Stunden vor dem Männer-Finale stattgefunden.

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Sprint-WM im Eisschnelllauf

Nichts für Spezialisten

Moskau (dpa) - Mit zwiespältigen Gefühlen verabschiedeten sich Anni Friesinger und Jenny Wolf von der Sprint-WM der Eisschnellläufer in Moskau. Einerseits hatte Friesinger bei ihrem zweiten Start nach zehnmonatiger Verletzungspause (Meniskusoperation) ein starkes Comeback gezeigt, andererseits war aber auch deutlich geworden, dass beide trotz ihrer Titelgewinne 2007 (Friesinger) und 2008 (Wolf) nicht das Ideal einer Sprint-Mehrkämpferin abgeben, wie es Monique Garbrecht war, die zwischen 1991 und 2003 fünfmal die WM gewinnen konnte.

Anni Friesinger (Inzell) mag die 500 Meter nicht, Jenny Wolf (Berlin) stöhnt über die 1000 Meter. Was aber in Moskau wie eine Schwäche wirkte, dürfte sich in Kürze als Vorteil erweisen: Die Spezialisierung - so haben beide bei der Einzelstrecken-WM im März in Vancouver ihre Titel zu verteidigen. In Moskau gewann Jenny Wolf zwar beide 500-Meter-Rennen, musste aber wegen ihrer schwächeren 1000 Meter den Vierkampf-Sieg der Chinesin Wang Beixing überlassen. Im Schlussrennen über 1000 Meter kam Anni Friesinger in Bahnrekordzeit zu ihrem ersten Saisonsieg und belegte insgesamt Rang sechs.

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Olympiadorf wird weitergebaut

Kredit für Vancouver

Vancouver (sid) - Der Weg für eine Kreditaufnahme der Olympia-Stadt Vancouver in Höhe von 485 Millionen Euro ist frei. Das Parlament der kanadischen Provinz British Columbia beschloss eine Änderung der Stadt-Charta Vancouvers, um die Kreditaufnahme zu ermöglichen und die Fortsetzung der Bauarbeiten am Olympischen Dorf für die Winterspiele 2010 zu gewährleisten. Der Beschluss würde die "Steuerzahler und die Bauarbeiten am Olympischen Dorf schützen", sagte Gordon Campbell, Premierminister von British Columbia. Für die Aufnahme des Kredits hätte Vancouver die Zustimmung seiner Einwohner benötigt, nun wird eine Volksabstimmung durch das Votum des Parlaments umgangen.

Vancouver muss seit Oktober die offenen Rechnungen für den Bau der repräsentativen Athletenwohnungen am Wasser bezahlen, da die Finanzierungsgesellschaft Fortress ihre Zahlungen an den Bauträger eingestellt hat. Da ein Baustopp droht, braucht Vancouver 275 Millionen Euro für die zum 1. November geplante Fertigstellung des Projekts. Mit dem Rest der Kreditsumme soll der Bauträger aus dem Geschäft herausgekauft werden. Dann könnte die Stadt einen Teil ihrer Verluste mit dem Verkauf der Athletenwohnungen gutmachen.

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Langlauf-Weltcup in Whistler

Holzadler gewonnen

Whistler (sid) - Mit zwei Podestplätzen feierten die deutschen Langläufer eine gelungene Olympia-Generalprobe in Whistler/Kanada. "Mit so einem Superergebnis für unser Vierer-Miniteam hätte ich nie gerechnet", sagte Bundestrainer Jochen Behle. Stefanie Böhler (Ibach) und Nicole Fessel (Oberstdorf) schafften als Zweite im Teamsprint einen erstaunlichen Erfolg, denn ein vergleichbar gutes Weltcup-Resultat im Frauen-Teamsprint hatte es nur im Oktober 2004 gegeben. Damals waren Manuela Henkel und Evi Sachenbacher in Düsseldorf auf Platz zwei gelandet. Den zweiten Podestplatz erreichte Josef Wenzl (Zwiesel) als Dritter im Einzel-Sprint. "Natürlich ist es der Traum eines jeden Sportlers, einmal bei Olympia oben auf dem Podest zu stehen", meinte Nicole Fessel im Hinblick auf Vancouver 2010.

Diesmal gab es als Belohnung anstatt Medaillen einen Holzadler und Geld. Die zusätzlich auf Platz fünf im 15-km-Jagdrennen gelandete Böhler will die 6500 Schweizer Franken (4400 Euro) aus Kanada anlegen. Fessel möchte ihre 4000 Schweizer Franken (2700 Euro) in die Abzahlung ihrer Wohnung investieren. Vor allem aber kann sie nach dem größten Erfolg ihrer Laufbahn auf eine Teilnahme bei der WM in einem Monat in Liberec/Tschechien hoffen, für die Böhler längst gesetzt ist.

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Quarterback aus dem Supermarkt

Ein Sieg über die Experten: Kurt Warner führt mit 37 Jahren das Außenseiterteam Arizona Cardinals in die Super Bowl

Phoenix - Kurt Warner ist ein frommer Christ, deshalb bekommt man von ihm meist ein Lächeln zu sehen, selbst wenn Schadenfreude oder Kraftausdrücke angebracht wären. Wie sich das alles angehört haben muss für ihn, diese Statistiken, all diese Experten, die sagten, er habe keine Chance mehr. Für einen, der doch schon einmal die Super Bowl gewonnen hat, nachdem ihn jahrelang kein NFL-Team haben wollte. Der lange Zeit für den amerikanischen Mindestlohn im Supermarkt gearbeitet hat, später in die damalige Football-Europaliga abgeschoben wurde, und der in den vergangenen sechs Jahren gerade mal 58 Spiele bestreiten durfte, weil er immer wieder jüngeren Quarterbacks weichen musste. Jetzt hat Kurt Warner erneut die Super Bowl erreicht, und alles, was er sagt ist: "Ohne meine Familie hätte ich das nie geschafft." Die habe immer an ihn geglaubt. Im Gegensatz zu den Experten. Er schaffte es ausgerechnet auch noch mit den Arizona Cardinals, jener Mannschaft, die zuletzt die Meisterschaft gewann, als diese noch gar nicht Super Bowl hieß. Als das Team noch nicht einmal in Arizona spielte und Harry S. Truman Präsident war, 1947. Und wie die Experten im Vorfeld über Kurt Warner redeten, hörte es sich an, als sei Warner damals schon dabei gewesen.

Chronisch unterschätzt

Warner ist jetzt 37 und damit der drittälteste Quarterback, der jemals das Finale erreichte. Das ist eine von den vielen Statistiken, die nichts besagen. Sein Alter spielte in der NFC-Championship-Partie gegen die Philadelphia Eagles keine Rolle. Die Cardinals gewannen mit 32:25, weil Warner eben nicht so langsam auf den Beinen ist, wie viele immer noch denken. Donovan McNabb, der ebenfalls chronisch unterschätzte Quarterback der Eagles, tat in der zweiten Halbzeit sein Bestes, um den deutlichen Rückstand wettzumachen. Doch nach einem kurzen Rückstand gewannen die Cardinals durch einen Touchdown von Tim Hightower drei Minuten vor Schluss.

So sehr Warner jetzt geschätzt wird, er ist nicht alleine verantwortlich für den Erfolg. Die Cardinals haben noch mehr gute Spieler in ihrer Offensive, doch wegen Verletzungen standen sie bisher nur selten gemeinsam auf dem Feld. Die junge Abwehr wirkte zudem oft nicht eingespielt und war für sieben Niederlagen in 16 Spielen verantwortlich. Philadelphia zum Beispiel watschte die Cardinals in der Punkterunde mit 48:20 ab. Vor den Playoffs sind die wichtigen Spieler wieder gesund geworden, und es zeigt sich, dass die richtige Mischung wichtiger ist als alle Zahlen, mit denen die Experten versuchen, die Footballwelt zu erklären. Außerdem wurde Receiver Larry Fitzgerald mit jedem Spiel besser. Gegen die Eagles fing er drei Touchdown-Pässe von Warner. Der Quarterback fühlt sich wohl mit Fitzgerald, ebenso mit Coach Ken Whisenhunt, der in seinem zweiten Jahr als Cheftrainer die Weisheit besaß, dem alternden Quarterback den Vorzug zu geben. Doch eine Wohlfühlstatistik gibt es nicht einmal in der National Football League (NFL). Ebenfalls zu kurz kommt die Diskussion über einen Trend in der NFL, der auf den ersten Blick schöne, unglaubliche Schicksale wie jene von Kurt Warner verspricht. Langfristig aber bringt er die Ligaverantwortlichen in Erklärungsnot. Immer öfter nämlich stehen Außenseiter im Finale.

Der Trend zum Außenseiter

2002 wurde die Struktur der Liga geändert, seitdem spielen die Teams in kleineren Divisionen, dafür gibt es mehr. Und weil sich jeder Divisionssieger automatisch für die Playoffs qualifiziert, bleiben nun immer öfter Divisionszweite auf der Strecke, die eigentlich eine bessere Saison gespielt haben. Dieses Mal konnten die New England Patriots nach elf Siegen und fünf Niederlagen zu Silvester Urlaub nehmen. Die Indianapolis Colts mussten trotz einer 12:4-Serie (12 Siege, 4 Niederlagen) in der ersten Playoff-Woche auswärts antreten - und verloren gegen das 8:8-Team San Diego Chargers.

In der Super Bowl 43 treffen nun am 1. Februar in Tampa die Cardinals auf den AFC-Champion Pittsburgh Steelers, die in einem brutal geführten Spiel die Baltimore Ravens mit 23:14 besiegten. In diesem Fall stand das Ergebnis laut Statistik tatsächlich schon fest, denn die Steelers stellen die beste Abwehr der Liga. Sie sind immer gut für einen Sieg und zweifelsfrei Favorit. Doch das Wort Cardinals, das wird nun in den USA ausgesprochen wie "Barack Obama", mit einer Mischung aus Unglaube und Hochachtung. "Arizona Cardinals und Super Bowl in einem Satz, na, wie hört sich das an?", rief Kurt Warner nach dem Spiel den Journalisten zu. Es hört sich neu an. Und das aus dem Mund eines so alten Mannes. Christoph Leischwitz

"Cardinals und Super Bowl, na, wie hört sich das dann?" Kurt Warner, Dirigent des Football-Teams aus Arizona. Foto: Reuters

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Erstmals in den Top 20 der Welt

Kaymer greift wieder an

München - Der Horizont der nationalen Sportwelt endet meist dort, wo sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen ausschaltet. So ist es zu erklären, dass jüngst bei der Kür der deutschen Sportler des Jahres der Name eines jungen Mannes aus Mettmann fehlte, dem im Jahr 2008 in einem global betriebenen Profisport ein Aufstieg sondergleichen gelungen ist. Nicht einmal der emotionale Sieg beim Turnier in München hat den Golfer Martin Kaymer, 24, in die Top 20 der deutschen Helden befördert, zu denen die Fernseh-Preisboxer Sturm und Abraham zählen und die endet beim Rennrodler Felix Loch. Kaymer kann das verschmerzen. Seine Erfolge brachten ihm blitzartig Preisgeld und Werbeverträge in Millionenhöhe. Und wer ihn nach dem phänomenalen Jahr 2008 für eine Eintagsfliege hielt, den hat er am Wochenende eines Besseren belehrt. In Abu Dhabi, wo Martin Kaymer im vergangenen Jahr seinen ersten Turniersieg auf der European Tour feierte, landete er am Sonntag auf Platz zwei, einen Schlag hinter Paul Casey aus England. Und in der Weltrangliste stieß er damit erstmals unter die besten 20 vor. Rang 19. Es scheint weiter aufwärts zu gehen.

"Ziemlich cool"

Für den jungen Mann gebe es kaum Grenzen, sagte jüngst Bernhard Langer, bloß an seinem kurzen Spiel müsse er feilen. Über den Winter hat Kaymer offenbar daran gearbeitet, jedenfalls beendete er sein erstes Turnier 2009 am Sonntag mit einem spektakulären Putt am 18. Loch, der ihm einen Eagle bescherte, zwei Schläge unter Par, und damit fast noch ein Playoff um den Sieg. Casey, vor der Runde vier Schläge vor Kaymer, rettete sich ins Ziel, doch der Deutsche, schlaggleich mit dem Südafrikaner Louis Oosthuizen, konnte damit gut leben. Er verbuchte ein Preisgeld von 127 000 Euro, sah im geschlagenen Feld den Weltranglisten-Zweiten Sergio Garcia und den Weltranglisten-Dritten Padraig Harrington, und auch der Mann, der ihn bezwang, zählt zu den großen Kalibern. Casey hatte in Abu Dhabi 2007 gewonnen und gehörte zum europäischen Ryder-Cup-Team 2008.

"Ziemlich cool" fand Martin Kaymer das verlängerte Wochenende in Abu Dhabi. Er genoss die Erinnerungen an seinen ersten großen Sieg vor einem Jahr und konnte Mut schöpfen aus dem Eagle zum Schluss, der zum wiederholten Mal bewies, dass Kaymer im entscheidenden Moment nicht zittert, sondern angreift. Auf diese Qualität wird es in den kommenden Monaten ankommen, denn die Luft ist sehr dünn in den Sphären, in denen Kaymer sich inzwischen bewegt. Er hat viele Weltranglistenpunkte zu verteidigen, zum Beispiel in zwei Wochen in Dubai, wo er vergangenes Jahr nur an Tiger Woods scheiterte, aber auch noch Luft noch oben bei den Majors und der ebenso hochkarätigen WGC-Serie mit den monströsen Preisgeldern von jeweils acht Millionen Dollar. "Einer der hellsten Sterne der Golfszene", so rühmt ihn die Londonder Times. In britischen Medien wird Kaymer fast ausführlicher gewürdigt als in deutschen, das kann seiner Karriere nicht schaden in der, wie sich auch in Abu Dhabi zeigte, sehr britisch dominierten Welt des europäischen Golf.

Wetten auf Montgomerie

Der Ryder Cup 2010 in Celtic Manor/Wales ist ein fernes Ziel, doch sollte Kaymer er sich qualifizieren, wird er es nach Berichten der britischen Presse mit dem Schotten Colin Montgomerie als Kapitän zu tun haben. Bislang galt der Spanier José María Olazábal als Favorit, doch die Briten leisteten in Abu Dhabi ganze Lobby-Arbeit. Spitzenspieler wie Padraig Harrington sprachen sich für den Schotten aus, ehe sich das zuständige Tournament Committee der European Tour mit der Personalie befasste. Olazábal hatte keine Fürsprecher und war auch nicht zugegen. Die offizielle Bekanntgabe der Personalie wird in zwei Wochen erwartet, doch als untrügliches Zeichen wertete die Times den Wettmarkt. Unmittelbar nach der, natürlich streng geheimen, Sitzung des Komitees wurden in London massive Wetten auf Colin Montgomerie platziert. Und die Quote für einen Ryder-Cup-Kapitän Montgomerie sank flugs von 16:1 auf 2:1. Es ist eine sehr seltsame Welt, in der Martin Kaymer Karriere macht. Josef Kelnberger

Champions von Abu Dhabi: Martin Kaymer (r.) mit Paul Casey Foto: dpa

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Kugelstoßer Harting attackiert DLV

Goldmann will klagen

Frankfurt/Main (dpa) - Der Doping-belastete Trainer Werner Goldmann will gegen den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) vors Arbeitsgericht ziehen. Dies betätigte der 58-Jährige am Montag. "Das ist sein gutes Recht", sagte DLV- Präsident Clemens Prokop, der davon ausgeht, dass das Arbeitsgericht in Darmstadt für den Fall zuständig ist. Angesichts des bevorstehenden Verfahrens wollte Goldmann, Coach von Diskus-Vizeweltmeister Robert Harting, keine weiteren Angaben machen. Gegen den Werfer-Spezialisten waren vor Olympia in Peking Dopingvorwürfe aus seiner Zeit als DDR-Trainer erhoben worden. Der frühere Kugelstoßer Gerd Jacobs, staatlich anerkanntes Dopingopfer aus DDR-Zeiten, hatte behauptet, Goldmann habe ihm in den 80er Jahren das Anabolikum Oral-Turinabol verabreicht. Der Trainer hatte die Vorwürfe bestritten und die vom DOSB geforderte Ehrenerklärung unterschrieben. Vom DLV hat er ab 1. Januar keinen neuen Vertrag mehr erhalten. Der Verband folgte damit der Empfehlung der Unabhängigen Anti-Doping-Kommission des DOSB unter Leitung des früheren Bundesverfassungsrichters Udo Steiner.

Gegen das Vorgehen des Verbandes hatten 20 deutsche Werfer, darunter Diskus-Weltmeisterin Franka Dietzsch, per offenem Brief protestiert. Harting hatte zudem den DLV ungewöhnlich scharf angegriffen. Das Verhalten des Verbandes sei "eine Schande für alle Sportler", sagte der 24-Jährige Berliner in einem Interview. Und: "Ich fühle mich vom Verband verraten!" Der Diskuswerfer hatte aber auch eingeräumt, Goldmann habe mehrmals die Möglichkeit gehabt, "richtig auszupacken und hat es nicht gemacht".

Eine der Kernfragen im Arbeitsprozess sei, ob Goldmann nach fünf Arbeitsverträgen überhaupt noch in einem Zeitvertragsarbeitsverhältnis stand oder bereits ein unbefristetes Arbeitsverhältnis hatte, sagte DLV-Generalsekretär Frank Hensel dem Deutschlandfunk.

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Todesursache weiter ungeklärt

Herms' große Finanznot

Dresden (dpa) - Mit bitteren Worten hat die Witwe des unter ungeklärten Umständen gestorbenen Mittelstrecken-Läufers René Herms über die Lebensumstände der Familie und eine vom Scheitern bedrohte Sportler-Karriere gesprochen. In der Sächsischen Zeitung beklagte Stefanie Herms mangelnde Unterstützung durch den Deutschen Leichtathletik- Verband (DLV). "So lange René gut gerannt ist, war er der tolle Sportler. Als er aber in Schwierigkeiten steckte und Hilfe gebraucht hätte, wurde ihm der Rücken gekehrt", sagte die 24 -Jährige Physiotherapeutin. DLV-Chef Clemens Prokop habe ein Kondolenzschreiben geschickt, "ansonsten habe ich vom Verband noch nichts gehört". Ihr Mann hätte "nur etwas Unterstützung gebraucht: Für Trainingslager, für richtige Rennen. Wenn er reden wollte, war keiner da. Zuletzt flog René sogar aus dem B-Kader." Der 26-Jährige mehrfache deutsche Meister habe in zuletzt - ohne WM (2007) und Olympia-Nominierung (2008) - "fast alles verloren, was ihm ein problemloses Training ermöglicht hätte".

Als sportliche Erfolge ausblieben, sei die finanzielle Lage immer kritischer geworden. "Wir sind wegen der Miete sogar von Pirna nach Lohmen gezogen. René standen im Grunde zuletzt rund 500 Euro im Monat vom Verband zur Verfügung." Ihr Mann habe einen Kredit aufgenommen, zuletzt seien die Prämien des Ausrüsters ausgeblieben, "die leistungsbezogen waren oder für die René hätte deutscher Meister werden müssen".

Mit dem Obduktionsergebnis ist laut Oberstaatsanwalt Avenarius in Dresden "gegen Ende der Woche" zu rechnen. Der Leichnam wurde am 10. Januar gefunden und am letzten Freitag obduziert.

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Sinkewitz stellt Blutwerte ins Internet

Schritt zur Transparenz

Künzell (sid) - Radprofi Patrik Sinkewitz hat wie angekündigt die Ergebnisse seiner Dopingkontrollen auf seine persönliche Internetseite gestellt. "Sie finden hier sämtliche Blutwerte aus allen Tests, die (der Radsportweltverband) UCI seit dem letzten Quartal 2008 veranlasst und für mich sichtbar gemacht hat", teilte Sinkewitz mit. Ein solches Vorhaben hatte auch der siebenmalige Tour-Gewinner Lance Armstrong vor seinem Comeback angekündigt, bisher aber nicht umgesetzt.

Der geständige Dopingsünder Sinkewitz wurde in dem Zeitraum dreimal getestet. Sein Hämatokrit-Wert lag bei 48,3 Prozent (18. September), 45,5 Prozent (23. September) und 43,9 Prozent (13. Oktober). Der Grenzwert liegt bei 50 Prozent. Ein höherer Wert kann, muss aber kein Hinweis auf Doping sein. Athleten mit Werten, die diese Grenze überschreiten, werden aus Gesundheitsgründen für einige Tage suspendiert.

Der Hesse teilte er mit, er sei weitere Male getestet worden. Dies geschah jedoch durch die nationale Antidoping-Agentur und die Weltantidoping-Agentur Wada. Diese Werte, so Sinkewitz, werden ihm nicht zur Verfügung gestellt: "Man teilte mir mit, dass das Blood-Passport-Tool derzeit nur von der Wada und den internationalen Verbänden genutzt werden kann. Die Nada veröffentlicht momentan keine Testergebnisse."

Sinkewitz fährt derzeit in Diensten des zweitklassigen Teams PSK aus Tschechien. Sein Comeback nach anderthalbjähriger Abstinenz wird der vom Topfahrer-Betrieb ausgegrenzte frühere Sieger der Henninger-Turm-Rundfahrt bei der Ruta del Sol (15. bis 19. Februar) geben.

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"Ich höre auf meinen Körper"

Tennisprofi Florian Mayer über seine achtmonatige Turnierpause und die neue Lust auf Reisen

Florian Mayer, 25, ist zurück. Von Mai bis Dezember 2008 hatte der Tennisprofi pausiert. Ausgelöst hatte die Auszeit eine gerissene Sehne des Zeigefingers der linken Hand. Doch Mayer merkte schnell, dass nicht nur ein paar Fasern nachwachsen mussten, bevor er sich wieder auf die Tennistour würde wagen können. Er hatte die Lust auf den Sport verloren, mit dem er im Alter von fünf Jahren begonnen und der ihn bei seinem ersten Wimbledon-Auftritt 2005 gleich ins Viertelfinale geführt hatte. Drei Monate lang rührte er keinen Schläger an. Dann begann er, systematisch an seiner Fitness zu arbeiten. In die Australian Open startete er am Montag als Qualifikant mit einem 6:2-, 6:1-, 6:2-Erfolg gegen den Argentinier Lamine Ouahab - und einigen ungewöhnlich offenen Bekenntnissen.

SZ: Es ist selten, dass ein Tennisprofi im Alter von 25 Jahren länger pausiert, als er unbedingt muss. Wie kam es dazu?

Mayer: Die Pause war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Die vergangenen Jahre waren hart. Ich war ausgebrannt. Ich fühlte mich auf dem Platz schlecht, nicht fit. Auf die Turnierreisen hatte ich auch keine Lust mehr.

SZ: Warum?

Mayer: Immerhin mache ich das jetzt auch schon seit sechs Jahren - um die Welt reisen, immer die gleichen Städte und Turniere sehen. Da rutscht man leicht in eine Krise. Viele Spieler auf der Tour kennen das.

SZ: Wie haben Sie die Motivation wiedergefunden?

Mayer: Ich habe monatelang kein Tennis gespielt. Das war gut. Man verlernt das Spiel ja nicht. Nach einer Woche war ich wieder drin. Ich habe in der Zeit aber gelernt, wie wichtig es ist, mental voll da zu sein. Der Kopf ist fast das wichtigste Körperteil beim Tennis. Man muss immer präsent sein, kämpfen. In den vergangenen ein, zwei Jahren habe ich das nicht gemacht. Ich habe viele Matches verloren, weil sie mir im Grunde egal waren. Das ist jetzt wieder anders.

SZ: Wie ist es jetzt?

Mayer: Ich bin wieder ganz der Alte. Ich habe Spaß, bin motiviert und freue mich auf die Reisen. Selbst wenn die bloß nach Heilbronn oder Wolfsburg gehen. Ich habe so viele Weltranglistenpunkte verloren, dass ich wieder bei kleineren Turnieren spielen muss. Aber das stört mich nicht.

SZ: Haben Sie irgendwann überlegt, das Profi-Tennis ganz aufzugeben?

Mayer: Nein. Mir war klar, dass ich spielerisch vor keinem Angst haben muss. Ich war zweimal schon an den Top 30, ohne dass ich mein bestes Tennis gespielt hätte. Ich weiß, dass ich dort wieder hinkommen kann. Ich habe immer gehofft, dass die Lust und der Spaß wiederkommen.

SZ: Haben Sie denn Angst vor einem Rückfall?

Mayer: Nein. In einem halben Jahr kann man sehr viel Kraft tanken. Ich bin mir sicher, dass mir etwas Ähnliches in den nächsten Jahren nicht passiert.

SZ: 2004 sind Sie innerhalb von vier Monaten von Weltranglistenplatz 250 bis auf Position 33 geschossen. Kam der Erfolg zu schnell?

Mayer: Ganz sicher. Ich bin mit den vielen Veränderungen nicht klargekommen. Die großen Turniere, der Rummel, der Druck. Manche finden es geil, wenn sie auf den Center Court spielen dürfen und im Mittelpunkt stehen. Mir war das unangenehm. Ich hätte mehr Zeit gebraucht, um mich darauf einzustellen.

SZ: Wie hat die Pause Ihre Einstellung zum Tennis verändert?

Mayer: Ich versuche, alles etwas lockerer zu sehen, die Reisen zu genießen. Ich gehe die Turnierplanung sorgfältiger an. Ich gönne mir mehr Pausen. Ich höre auf meinen Körper.

SZ: Welche Rolle spielt die Fitness?

Mayer: Eine große. Früher habe ich das total unterschätzt. Damals habe ich gedacht, es reicht, wenn ich viel Tennis spiele. Das war ein Trugschluss. Jetzt bin ich ein halbes Jahr lang gerannt, habe Kraft- und Schnelligkeitstraining gemacht. Das merke ich. Ich bin sicher doppelt so fit wie früher. Mir fällt es viel leichter, mich zu konzentrieren. Ich regeneriere schneller. Ich habe schlicht keine Angst mehr, müde zu werden.

SZ: Spaß, Lust, Genuss - das klingt fast so, als sei Ihnen die Weltrangliste nicht mehr so wichtig?

Mayer: Im Moment ist das so. Natürlich will ich in den nächsten ein, zwei Jahren wieder in die Top 30 kommen. Aber wenn ich gut spiele, dann klappt das automatisch.

Aufgezeichnet von René Hofmann

Erstrundensieg: Florian Mayer Getty

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Im Schatten eines Teenies

Roger Federer hat bei den Australian Open mehr im Visier als bloß einen Ball - aber spätestens seit 2008, als er in Melbourne geschwächt antrat und das Halbfinale gegen Novak Djokovic verlor, weiß der Schweizer, wie ernst man manche Sportfloskeln zu nehmen hat, zum Beispiel: Immer bloß ein Spiel nach dem anderen angehen - bloß nicht zu weit nach vorne schauen. Am Montag gelang das, auch wenn das 6:1, 7:6 (4), 7:5 gegen den Italiener Andrea Seppi durchaus mühsam war. Federer dürfte es ganz recht gewesen sein, dass er im Schatten eines Einheimischen stand: Der 16-jährige Australier Bernard Tomic, 2008 Sieger der Junioren-Konkurrenz in Melbourne und in der Weltrangliste auf Position 768 notiert, gewann bei seinem Grand-Slam-Debüt gegen den Italiener Potito Starace 7:6 (5), 1:6, 7:6 (5), 7:6 (6). Damit ist Tomic - im Alter von 16 Jahren und 89 Tagen - der bisher jüngste Spieler, der bei den Australian Open ein Match gewann. Tomic ist 94 Tage jünger, als es sein Landsmann Todd Woodbridge bei dessen Erstrundensieg im Jahr 1988 war. Auch der älteste Spieler im Feld kam weiter: Der Franzose Fabrice Santoro, 36, entzauberte den ehemaligen Weltranglisten-Ersten Juan Carlos Ferrero 6:3, 6:2, 6:7 (5:7), 6:2 - und trifft nun auf Philipp Kohlschreiber. Der Augsburger überzeugte beim 7:6 (6), 6:3, 6:2 gegen Sam Querrey und war neben Florian Mayer der einzige von sechs deutschen Männern, der am Montag die zweite Runde erreichte. SZ / Foto: AP

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