Bewährung im Fall der Fußballer-Führerscheine

Göttingen - Im Korruptionsprozess um deutsche Führerscheine für ausländische Fußball-Profis hat das Landgericht Göttingen am Donnerstag Bewährungsstrafen verhängt. Ein 56-jähriger Fahrlehrer aus dem Kreis Northeim erhielt zwei Jahre Haft wegen Bestechung und Urkundenfälschung, ein 42 Jahre alter früherer Regionalleiter des TÜV Nord 18 Monate Haft wegen Bestechlichkeit. Der Fahrlehrer hatte den TÜV-Mann für falsche Prüfungsbescheinigungen bezahlt und Unterlagen gefälscht. Zahlreiche Fußballer aus dem Ausland, darunter nach Angaben der Staatsanwaltschaft auch der Bremer Star Diego, hatten so ihre deutschen Führerscheine ohne korrekte Prüfung erhalten. dpa

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Ein Abenteurer mit Tiefenwirkung

"Auftauchen nicht vergessen": Am heutigen Freitag feiert der Meeresforscher und Filmemacher Hans Hass seinen 90. Geburtstag

Von Jürgen Claus

Wer Hans Hass kennt, wird kaum überrascht sein über diesen Auftrieb. An seinem 90. Geburtstag an diesem Freitag will er bei der Düsseldorfer "boot" aufkreuzen, wahrscheinlich wird er umlagert von einer Vielzahl seiner Anhänger. Im Berlin der frühen vierziger Jahre hatte er mit dramatischen Schilderungen der Unterwasserjagd bereits den Grundstein für einen späteren Welterfolg gelegt. Heute noch faszinieren seine Filme Millionen Taucher weltweit.

Es gab eine Zeit, da hatte er sich, um dem Rausch der Tiefe zu entgehen, auf einer Aluminiumtafel notiert: "Auftauchen nicht vergessen!" Damals wurde noch mit Sauerstoff aus einem Luftsack unter Wasser geatmet. Hans Hass hat alle Techniken der Anpassung an den Unterwasser-Planeten mitgemacht, mehr noch: Er hat den Kompass aus der Horizontalen um 90 Grad nach unten gedreht. Alles fing damit an, dass der junge Wiener Anwaltssohn 1937 beim südfranzösischen Théoule mit einem überlangen Speer den Fischen nachjagte. Vom Tauchen wollte man seinerzeit nichts wissen, erste Artikel musste er in Angelsport-Zeitschriften veröffentlichen. Seine Doktorarbeit in Biologie - "die erste mit Hilfe eines autonomen Schwimmtauchgerätes ausgeführte wissenschaftliche Untersuchung" - holte er nach einem Bombenangriff in Berlin 1943 aus einem Safe der Universität heraus. Ihn selbst fischte man später zweimal "praktisch fast tot" aus dem Meer, wie er lebhaft erzählt.

Wiener Walzer am Meeresgrund

Direkte Naturbeobachtung, Feldforschung unter Wasser war sein Ziel. Dazu brauchte es ein Schiff, das er mit Vorträgen und Filmen finanzierte. Er kaufte 1943 von Graf Felix von Luckner dessen berühmtes Schiff Seeteufel, baute es als schwimmendes Forschungslabor für Taucher um und verlor es bei Kriegsende in Stettin. Mit dem erfolgreichen Unterwasserfilm "Abenteuer im Roten Meer", 1950 gedreht, auf der Biennale in Venedig preisgekrönt, legte Hass den finanziellen Grundstein für ein neues Forschungsschiff. Man spielte mit Unterwasser-Lautsprechern einen Wiener Walzer in die Tiefe, und die Fischschwärme schienen im Dreivierteltakt zu tanzen. Das Publikum war begeistert. Die junge Wienerin Lotte Baierl, die er im gleichen Jahr in zweiter Ehe heiratete, hatte genug Courage, auf Haie direkt zuzutauchen - legendäre Filmszenen. Zusammen mit ihr brachte es Hass zu Weltruhm.

1953 erwarb er sein eigenes, lange erträumtes Schiff, die Xarifa. Den 1927 gebauten Dreimastschoner, 50 Meter lang, 8 Meter breit - Vorbesitzer war der amerikanische Nähmaschinenkönig Singer - hatte er in Kopenhagen ausgemacht. Die Segelmasten waren abgeschnitten, das Schiff war zum Kohlentransporter degradiert. Die neue PR-trächtige Karriere der Xarifa begann nach einem kostspieligen Umbau mit einer Forschungsfahrt 1953 zu den Galapagosinseln. Der Herzog-Filmverleih bestand auf einem Spielfilm, der in allen großen Filmtheater laufen sollte. Der Text passte sich dem an: "Endlich nähert sich das Boot in brausender Fahrt der Felswand, wo Lotte getaucht ist. Lotte ist am Ende ihrer Kräfte. Sie kann sich der Haie nicht länger erwehren. Alles scheint verloren. Da gelingt es Hass, niederzustoßen und die blutgierigen Bestien zurückzutreiben. Mit letztem Atem schwimmen die beiden empor."

Heute, da digitale Unterwasserkameras mit hochverfeinerten optischen Objektiven an der Tagesordnung sind, kann man sich über den technischen Aufwand der Hass-Filme, die jetzt auf DVD vorliegen, nur wundern. Die acht Wissenschaftler, Techniker, Filmleute an Bord mussten mit der zwölfköpfigen Besatzung alle Arbeiten multifunktional verrichten. Um Farbfilme unter Wasser zu drehen, setzte Hass riesige wasserdichte Filmscheinwerfer ein, zwei Generatoren mit je 30 Kilowatt an Bord lieferten den Strom über Kabel von 500 bis 700 Meter Länge. Hass tauchte, filmte, sprach in Mikrophone über und unter dem Wasser.

Nach der zweiten Xarifa-Filmexpedition, die 1957 über die Malediven und Nikobaren bis Singapur führte, zog Hans Hass schließlich ein Resümee. "Ich war nur der Manager des Ganzen", klagte er. Die wissenschaftlichen Ergebnisse, die den promovierten Biologen zutiefst faszinierten, blieben außen vor, beziehungsweise den anderen Expeditionsteilnehmern vorbehalten. Um die jährlichen Unterhaltskosten von 400 000 Mark einzuspielen, hätte er pro Jahr 13 Filme à 60 Minuten oder 26 Halbstundenfilme abliefern müssen. Hier zeigt sich auch der Unterschied zum neun Jahre älteren Jacques-Yves Cousteau, dem "Kommandanten": Cousteau war mit seinem 1951 gekauften und umgebauten Schiff, der Calypso, notfalls auch bereit, Fracht zu bewegen, um seine Mannschaft zu halten. Wichtiger noch: Cousteau erhielt staatliche Unterstützung, so ab 1955 vom Unterrichtsministerium in Paris, und zudem Geld von der National Geographic Society. Hass dagegen musste vier Fünftel seiner Kosten über die Filme einspielen.

In seinem Bericht zur zweiten Xarifa-Expedition beschreibt er das traumhafte Erlebnis des Tauchens und des Auftauchens: "Das Gefühl, wieder ins Leben zurückzukehren, gleicht einer bewusst erlebten, sich lawinenhaft entfaltenden neuen Geburt. Die Luftblasen platzen auseinander, perlen, torkeln trunken, tanzen hinauf zum Licht. Eine dieser lebenstrunkenen Blasen ist man selbst."

Die zweite Karriere

Er war erst 41 Jahre alt, als er die Xarifa 1960 an einen italienischen Großindustriellen verkaufte. Hans Hass hatte neue Pläne. Er zog sich zunächst völlig vom Meer zurück und begann eine zweite Karriere. Ihn interessierte nunmehr "Das verborgene Gemeinsame", wie sein späteres Buch im Untertitel hieß - eine komplexe evolutionstheoretische Studie, in der es um den Lebensstrom und die Energieflüsse von Organismen geht. Hass erfand für seine These den Namen "Energone" und forschte zehn Jahre an seinem Projekt. 1978 setzt er eine Prämie von 100 000 Mark für die Widerlegung seiner These aus. Das Geld ist bis heute nicht ausgezahlt.

Hans Hass, der 1977 von der Universität Wien den Professorentitel erhielt, hat sich mit seiner wissenschaftlichen Arbeit bei den Tauchern nicht beliebt gemacht: Die Kollegen haben seine Hinwendung zur Wissenschaft glatt übersehen. Für sie ist Hass, wo immer er auftaucht, der geniale Erfinder unzähliger Tauchtechniken, der film- und fotobesessene Abenteurer der sieben Meere, der Kapitän Nemo der Unterwasserexpeditionen. Schließlich kehrte er auch mit neuen Filmen in die Unterwasserszene zurück. Er besuchte die Riffe, die er Jahrzehnte zuvor als Pionier aufgenommen hatte. Es war nun eine andere Welt. Auch durch seine eigenen Erfolge war die Unterwasserwelt Hunderttausenden Tauchern zum Urlaubsziel geworden.

In der Frühzeit des Tauchens erlebte der Poet und Filmemacher Jean Cocteau zusammen mit dem Tauchsportpionier Yves Le Prieur die Unterwasserwelt und sagte entzückt: "Sie haben mir eröffnet, was die Zukunft bringt. Die Fürsten Ihres Königreiches sind Leonardo und Ju- les Verne." Diesen Entdeckungen ist das Lebenswerk von Hans Hass gewidmet.

Ein Pionier, der die Tauchtechnik voranbrachte: Hans Hass 1945 bei einem Einsatz unter Wasser und im Jahr 2004. Oben: Gemeinsam mit seiner Frau Lotte filmte und fotografierte er an Bord der Xarifa. Foto: Getty, AP, dpa

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Alzheimer: Peter Falk droht Vormundschaft

Los Angeles - Die Familie des an Alzheimer leidenden US-Schauspielers Peter Falk ("Columbo") streitet sich um die Vormundschaft für den 81-Jährigen. Wie der Internetdienst tmz.com berichtete, kämpft Falks Ehefrau Shera vor Gericht gegen den Antrag seiner Adoptivtochter Catherine, die Geschäfte ihres Vaters zu regeln. Mitte Dezember machte die Tochter beim Superior Court in Los Angeles geltend, ihr Vater brauche "Vollzeit-Betreuung für seine Gesundheit und Sicherheit". Ihr Vater erkenne "bekannte Menschen, Plätze und Dinge" nicht mehr, sagte die Tochter. Shera, die mit Falk seit über 30 Jahren verheiratet ist, hält eine Vormundschaft dagegen nicht für notwendig. dpa

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Priester finanziert Spielsucht mit Spenden

Delray Beach - Für seinen alles andere als katholischen Lebenswandel hat sich ein US-Priester aus der Spendenkasse seiner Gemeinde bedient. Der 66-jährige John Skehan gestand am Mittwoch vor Gericht, jeden Sonntag nach der Messe in der Kirche Saint Vincent Ferrer in Delray Beach in Florida einen Teil der Spenden abgezweigt und auf ein ausländisches Konto überwiesen zu haben. So habe er gut 800 000 Dollar (615 000 Euro) beiseite geschafft, mit denen er sich kostspielige Kasino-Besuche in Las Vegas, Luxusgüter sowie seine Geliebte finanziert habe, die frühere Buchhalterin der Gemeinde. Ihm drohen bis zu 31 Jahre Haft. Ein zweiter Priester der Gemeinde hat ähnliche Taten gestanden. AFP

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EIN ANRUF BEI . . .

Thomas Krappweis, Erfinder des Kika-Maskottchens, zur Entführung von "Bernd das Brot"

Der Star des ARD/ZDF-Kinderkanals "Bernd das Brot" ist von seinem angestammten Platz am Erfurter Rathaus entführt worden. Auf YouTube ist ein Bekenner-Video zu sehen, in dem Hausbesetzer behaupten, sie hätten die zwei Meter große Kunststoff-Figur in ihrer Gewalt. Erfunden wurde Bernd von Thomas Krappweis, 37, Oberwitzbold bei der Münchner Produktionsfirma Bumm Film.

SZ: Herr Krappweis, das Brot ist weg. Was sagen Sie dazu?

Krappweis: Ich bin bestürzt und erschüttert, gleichzeitig etwas zerknirscht. Es ist bestimmt das dritte Mal, dass dem armen Bernd etwas passiert ist in Erfurt. Er wurde schon beschmiert, umgeworfen und nun auch noch entführt. Ich würde unserem Brot wirklich wünschen, dass man es mal in Ruhe lässt.

SZ: Wie kommen Menschen denn auf die Idee, ein sprechendes Brot zu entführen - und das auch noch aus politischen Gründen?

Krappweis: Jeder hat sich vielleicht schon mal gefühlt wie Bernd. Unter Druck gesetzt. In die Ecke gestellt. Missachtet. Vielleicht sympathisieren die Hausbesetzer deshalb mit dem Brot - und hoffen, dass Bernd umgekehrt mit ihnen sympathisiert. Aber Bernd sympathisiert vorrangig mit sich selbst, und ich glaube, er zöge Mieten dem Besetzen vor.

SZ: Wie fühlt sich Bernd wohl in der Hand der Entführer?

Krappweis: Wie ich ihn kenne, möchte er einfach nur nach Hause. Recht hat er.

SZ: Bernd das Brot ist abends und nachts in einer Endlosschleife auf dem Kinderkanal zu sehen, sein Gesicht erscheint öfter auf dem Bildschirm als das von Angela Merkel. Hoffen die Entführer vielleicht auf den hohen Bekanntheitsgrad des Brotes?

Krappweis: Es scheint so zu sein. Und Frau Merkel wird ja auch besser bewacht als Bernd. Auf jeden Fall sind die Entführer profunde Bernd-Kenner. Das Bekennervideo ist von den Bernd-Texten her ziemlich gut recherchiert.

SZ: Heißt das, es könnte jemand vom Fernsehen dahinter stecken? Ist das Ganze gar eine inszenierte PR-Aktion?

Krappweis: Nein, davon wüßte ich, meine Firma produziert ja alle Sendungen mit Bernd. Wir besetzen auch keine Häuser. Außerdem würden wir den Original-Bernd nehmen und nicht das sackschwere Denkmal. Aber es war scheinbar ein Bernd-Fan, der das Video produziert hat, denn er hat Töne aus Folgen verwendet, die bereits vor langer Zeit gesendet wurden. Bernd das Brot gibt es ja schon seit dem Jahr 2000.

SZ: Wie kamen Sie eigentlich damals auf die wahnwitzige Idee, ein depressives Kastenbrot zum Star eines Kinderfernsehsenders zu machen? Man hätte auch auf etwas kuscheligere Wesen wie Häschen oder Mäuschen setzen können.

Krappweis: Der Kika war auf der Suche nach einem Maskottchen und hatte bei mehreren Produktionsfirmen angefragt, auch bei Jim Henson. Eigentlich wollte der Kika ein Schaf haben, weil das damals noch nicht besetzt war. Beim Abendessen in einer Pizzeria habe ich dann mit dem Blick auf den Brotkorb auf einer Serviette herumgekritzelt. Dabei entstand eine Figur in Kastenbrotform, das Gesicht stammt von meinem Kollegen Norman Cöster. Der saß mir gegenüber, sieht in etwa so aus wie Bernd und hat auch sonst viel mit ihm gemein.

SZ: Ihre Botschaft an die Entführer?

Krappweis: Lasst Bernd frei! Der arme Kerl hat genug zu leiden. Entführungen, und seien es auch nur Entführungen von Brot, halte ich für das falsche Mittel, um politische Ziele durchzusetzen.

Interview: Titus Arnu

Entführt: Bernd das Brot. Entsetzt: Tommy Krappweis. Foto: Bumm Film/oh

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Ein Fall mit vielen Folgen

Ex-Postchef Klaus Zumwinkel zeigt sich im Prozess als reuiger Steuersünder, und erstmals seit elf Monaten taucht er hinter großen Summen wieder als Person auf. Der Angeklagte will zu seiner Verantwortung stehen, der Richter will ihn nicht anders behandeln als andere - und draußen stehen Menschen, die das kaum glauben wollen

Von Hans Leyendecker

Bochum - Als Klaus Zumwinkel an diesem Donnerstagmorgen vor dem Landgericht Bochum vorfährt, muss er wieder einmal erfahren, dass schon die bloße Erwähnung seines Namens für Unruhe und Getöse sorgt. Demonstranten haben vor dem Gebäude eine Mahnwache eingerichtet und halten Plakate und Transparente hoch: "Je reicher, desto gleicher", ist zu lesen, und: "Für Zumwinkel ist alles klar - ein Strafprozess wird zum Basar."

Eine linksalternative Gruppe aus dem Revier singt das für diesen Anlass geschriebene "Bochumer Zumwinkel-Lied vom Dealen für Freiheit und Gerechtigkeit": "Schiebst du deine Millionen still am Steuersack vorbei, Richter werden dich verschonen, bisschen dealen, bleibst du frei", lautete die erste von sieben Strophen. Am Ende heißt es: "Wird der Rechtsstaat auch zur Leiche - Freiheit für besonders Reiche." Zu den Initiatoren der Demonstration gehörte auch ein linker Bochumer Amtsrichter.

Wer in den Saal 240 C will, wo Zumwinkels Fall von 11.35 Uhr an verhandelt wird, muss eine Sicherheitsschleuse passieren. Der Spießrutenlauf durch das Heer der Fotografen bleibt dem früheren Postchef immerhin erspart. Er gelangt auf Nebenwegen in den Saal. An seiner Seite sind seine Anwälte Hanns Feigen und Rolf Schwedhelm. Nur drei Fotografen und zwei Kameraleute dürfen vor Beginn der Verhandlung in den Gerichtsaal: Zumwinkel steht aufrecht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Manchmal wendet er sich zur Seite.

Dass er nicht wie ein Champion einziehen würde, war klar. Trotzdem versucht der 65-Jährige wie ein Mann dreinzuschauen, der auch im größten Getümmel über der Situation steht.

Ganz leicht fällt ihm diese früher so selbstverständliche Souveränität an diesem Tag sicherlich nicht. Dafür ist in den vergangenen elf Monaten zu viel passiert. Über den ehemaligen "Strategen des Jahres" und "Manager des Jahres" ist nicht nur an den Stammtischen das Urteil längst gesprochen worden. Einen "neuen Asozialen" hat ihn der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil genannt, weil Zumwinkel Millionen Euro bei der LGT-Bank in Liechtenstein vor dem Fiskus versteckt hatte. Und auch ehemalige Kollegen haben ihn behandelt, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Dabei gab Zumwinkel eigentlich nur den ungezählten Steuersündern im Land einen Namen.

Auf der Richterbank haben die Mitglieder der 12. Großen Wirtschaftsstrafkammer Platz genommen: drei Berufsrichter, zwei Laienrichter. Einige von ihnen haben schon eine Menge Erfahrung mit der Bewältigung von Wirtschaftsstrafprozessen. Vor allem der Vorsitzende Richter, Wolfgang Mittrup, 56, ist sehr routiniert.

Auf der Bank der Ankläger sitzen die Staatsanwältin Daniela Wolters, 34, und der Bochumer Oberstaatsanwalt Gerrit Gabriel, 39, die noch nie so im Scheinwerferlicht standen. Zumwinkel lächelt freundlich. Die junge Staatsanwältin hat er schon am 14. Februar 2008 kennengelernt, als die Villa in Köln, die er gemietet hat, durchsucht wurde.

Der Vorsitzende Richter Wolfgang Mittrup, 56, verliest die Personalien des Unternehmersohns Zumwinkel. Das Gericht erfährt von ihm, dass in der Anklage bei den Vornamen (Klaus Peter Richard) ein Otto unterschlagen wurde. Die Staatsanwältin nimmt seinen Hinweis auf den fehlenden Otto gleich auf, als sie den Anklagesatz vorträgt und nennt alle Vornamen.

Zumwinkel wird vorgeworfen, zwischen 2003 und 2007 rund 967 000 Euro Einkommensteuer einschließlich Solidaritätsbeiträgen hinterzogen zu haben. In Liechtenstein lagerten Ende 2006 auf seinen Konten rund 11,8 Millionen Euro. Zahlen mit vielen Nullen schwirren durch den Raum. Einige Zuhörer seufzen.

Mehr als diese Zahlen interessieren das Publikum und auch die Medien Schicksal, Lebenskurve, Biographie. Als die Erklärungen zur Person kommen, trägt Zumwinkel seine beeindruckende Vita vor. Es wird still im Saal. Zumwinkel erzählt von sich. Von Menschen. Von Geschäften. Erst war er Direktor bei der Unternehmensberatung McKinsey & Company, dann Chef von Quelle, bis er 1990 als Chef der Post anfing und tüchtig aufräumte: "Ein Sanierungsfall, stark defizitär." Er hat in seinem Berufsleben eine Stufe nach der anderen genommen, immer höher. Die Chinesen, die Japaner, alle wollten seinen Rat, mehrere Kanzler auch. Vor dem 14. Februar 2008 wurden ihm Posten und Ehrungen angeboten. Er hatte die Auswahl - bis er abstürzte.

Jetzt hat der einst Vielgefragte nicht nur in Kontrollgremien keinen Platz mehr. "Aufgrund meiner Reputation", fängt er einen Satz an und fügt dann rasch hinzu: "In dem Feld." Er redet über das Ansehen, das er als Manager hatte. Seine Sprache ist seltsam gefärbt - der Klang vom Niederrhein und vom Revier mischen sich - das klingt sympathisch.

Fast ein Jahr lang hat dieser Mann in der Öffentlichkeit geschwiegen. Er hat keine Interviews gegeben, er hat sich nicht in Talkshows einladen lassen; manchmal hat er davon geträumt, wenigstens Wohltätigkeitsveranstaltungen zu besuchen. Dazu sei die Zeit noch nicht reif, haben seine Berater gemeint, und er hat sich wieder auf seine 800 Jahre alte Burg über dem Gardasee zurückgezogen, die heute einen Wert von rund fünf Millionen Euro hat.

Auffällig ist bei seinem Vortrag, dass er sich mit Zahlen schwer tut. Wann der Vater oder die Mutter geboren und gestorben sind, bleibt im Ungefähren. Der Postzusteller Heinz-Otto Labudda, der schon 41 Jahre die Post in Gevelsberg austrägt und am frühen Morgen um halb sechs Uhr vor dem Landgericht stand, um Einlass zu bekommen, findet das "komisch". "Warum hat der eine solche Gedächtnislücke?", fragt er, und die vielen Fernsehkameras filmen Labudda, weil auf seiner gelben Jacke "Deutsche Post" steht.

Vielleicht fallen Zumwinkel manche Zahlen an diesem Tag nicht ein, weil er aufgeregt ist. Er hat einen sehr roten Kopf. Eigentlich ist Zumwinkel, wie seine Freunde sagen, ein Familienmensch. Seine Frau Antje, mit der er seit 37 Jahren verheiratet ist, und die beiden 29 und 28 Jahre alten Kinder stehen zum Vater. Einige Freunde auch.

Hier im Saal verhandeln Menschen miteinander, die aus verschiedenen Welten kommen. Nur das Strafrecht hat sie zusammengebracht, und sie versuchen, die Sprache der anderen zu verstehen. Während Zumwinkel redet, hört ihm der Vorsitzende Richter Mittrup aufmerksam zu. Er hat gleich klar gemacht, dass er diesen Prozess wie jeden anderen Prozess führen werde, und dass es weder eine besondere Behandlung gebe, noch eine Absprache gegeben habe. Es wird rasch klar, dass der Vorsitzende, der ebenso wie Anwalt Feigen im Revier geboren ist, ein gelassener Mann ist, und selbst wenn er ein anderes Naturell hätte, geböte ihm die Vernunft, an diesem Tag gelassen zu wirken.

Dann werden die Vermögensverhältnisse Zumwinkels erörtert. Der angeblich so gierige Ex-Manager hat die Burg, zwei Autos, ein Boot am Gardasee, und auf dem Konto liegen rund acht Millionen Euro. Sein Nettoeinkommen schätzt er auf 600 000 Euro jährlich. Als er sein Vermögen addiert, seufzt wieder ein Zuhörer vernehmlich. Bei solchen Betrachtungen kommt es meist nur auf den jeweiligen Standort an. Ob einer aus dem Tal oder vom Gipfel aus auf die Welt schaut, macht schon einen Unterschied.

Zumwinkel hat einen Fehler gemacht, und über das Wesen des Fehlers hat der zynische Polizeiminister Napoleons, Joseph Fouché, mal gesagt: "Das ist mehr als ein Verbrechen, es ist ein Fehler."

Zumwinkel sagt nun vor Gericht, das Versteck in Liechtenstein "war der größte Fehler meines Lebens". Die Folgen seien "schmerzhaft" gewesen. "Meine beruflich Tätigkeit hat ein jähes Ende gefunden." Und der Beruf sei doch "mein Leben" gewesen. Dabei stockt seine Stimme immer wieder. Im vergangenen Jahr habe er oft über diesen "Fehler" nachgedacht. "Die größte Strafe" habe er schon "erlitten". Die Auswirkungen auf die Familie seien gewaltig gewesen. Sein Haus sei belagert worden, es habe Drohanrufe gegeben, böse Briefe. "Ich will aber nicht klagen."

Richter Mittrup fragt: "Warum sind Sie 1986 nach Liechtenstein gegangen? Sie waren doch ein vermögender Mann." Zumwinkel antwortet: "Herr Vorsitzender, diese Frage habe ich mir auch in den vergangenen Monaten sehr häufig gestellt." Ihm sei damals geraten worden, "schon einmal versteuertes Geld nicht noch einmal zu versteuern", und das habe ihm eingeleuchtet. Mittrup hakt nach: "Warum haben Sie das nicht gestoppt?" Es gab doch Amnestien für Steuerflüchtlinge. Er habe Angst vor einer Indiskretion gehabt, antwortet Zumwinkel. Eine Selbstanzeige, die publik geworden wäre, hätte auch das berufliche Ende sein können. Er habe doch erlebt, dass Details aus seiner Steuerakte in den Zeitungen gestanden hätten. Aber, fügt er hinzu: "Die Angst war ein schlechter Ratgeber." Er wolle nicht klagen, sondern stehe zu seiner Verantwortung. Mit der heutigen Verhandlung wolle er auch einen Schlussstrich ziehen.

Eher beiläufig sagt Zumwinkel, er habe kein strittiges Verfahren führen wollen. Dabei habe ihm mancher geraten, lange zu prozessieren, um festzustellen, ob die Steuerbehörden die Datensammlung aus Liechtenstein überhaupt verwenden dürfen. Ein untreuer früherer Angestellter der LGT-Bank hatte Unterlagen mit Angaben über mehr als 4500 Stiftungen in Liechtenstein gestohlen und dem Bundesnachrichtendienst vier DVDs für rund 4,6 Millionen Euro verkauft. Der BND hat sie an die deutschen Steuerbehörden weitergereicht. "Aus der Geschäftsbesorgung des BND" könne ein "straf- und steuerrechtliches Beweisverwertungsverbot abgeleitet" werden, hatten Experten wie der Neuwieder Rechtsprofessor Franz Salditt gemeint. Mittrup nimmt den Hinweis Zumwinkels auf. Auch die Kammer habe die Verwertbarkeit geprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sie zulässig sei. Andererseits sei das eine juristisch "interessante Frage". Er würde es "begrüßen, wenn Obergerichte diese Frage prüfen würden".

Da schaltet sich Zumwinkels Anwalt Feigen ein. Das Problem bei den juristischen Prüfungen sei doch, dass "kein Mensch in dieser Welt, außer ein paar BND-Leuten weiß, wie die Story wirklich war." Angeblich wurden die Unterlagen dem BND angedient, und der Dienst will nur Amtshilfe geleistet haben. Dann können die Daten vermutlich verwendet werden. Es gibt aber auch Gerüchte, dass der Nachrichtendienst den Datendieb angeworben haben soll. Um das zu kaschieren, soll er sich als Informant ausgegeben haben. Feigen weist darauf hin, dass viele Kollegen Tipps gegeben hätten, wie ein solches Verfahren aus Verteidigersicht zu führen sei. Sogar Plädoyers sind ihm geschickt worden. Die Ratschläge sind auf drei Begriffe zu reduzieren: kämpfen, kämpfen, kämpfen.

Aber jeder Kampf geht mal zu Ende, und dann? Möglicherweise, so hat es Anwalt Feigen ausgerechnet, könnte sein Mandant bei einer strittigen Verteidigung obsiegen, eher aber nicht. Möglicherweise fiele bei einer Konfliktverteidigung nicht die im Fall Zumwinkel zu erwartende Bewährungsstrafe an, sondern eine Haftstrafe. Dann könnte er in die Revision gehen und würde beim zuständigen 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs landen. Der Senat hat vor kurzem schon sehr grundsätzlich geurteilt, bei Hinterziehung in Höhe von einer Million Euro könne nur in Ausnahmefällen auf die Haft verzichtet werden.

Voraussichtlich am kommenden Montag wird das Urteil verkündet werden. Auch weil ein Bad Homburger Kaufmann, der 7,6 Millionen Euro Steuern hinterzogen hatte, im Sommer 2008 in Bochum mit zwei Jahren auf Bewährung davonkam, wird es bei Zumwinkel voraussichtlich eine Bewährungsstrafe geben.

Einige der Demonstranten werden ein solches Urteil möglicherweise für Klassenjustiz halten. Bevor sich die Demo vor dem Landgericht auflöst, geht ein Mann auf die Gruppe zu und sagt: "Für eine schlappe Million stellt ihr euch hin. Als die amerikanischen Banker 350 Milliarden verbrannten, wart ihr nicht zur Stelle, ihr Eichhörnchen."

Zahlen mit vielen Nullen schwirren durchs Gericht. Zuhörer seufzen

"Die Angst war ein schlechter Ratgeber"

"Ich will nicht klagen": Klaus Zumwinkel (links) gibt sich beim Prozessauftakt in Bochum sehr kooperativ. Foto: AP

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Die Masse will Gewicht

Beim HSV möchten die Fans nicht nur im Stadion den Ton angeben, sondern auch im Aufsichtsrat - sollten sie Erfolg haben, wäre es das erste Mal in der Bundesliga

Von Ralf Wiegand

Hamburg - Der 46. Geburtstag hatte schon gut angefangen für Bernd Hoffmann. Jedes seiner vier Kinder trat am Morgen des vergangenen Mittwochs mit einer Rose in der Hand an sein Bett, um ihm zu gratulieren. "Da konnte ja schon gar nichts mehr schiefgehen", sagt Hoffmann ein paar Stunden später vergnügt - und es kam sogar noch besser. Im Laufe der Nacht hatte Manchester City, seit kurzem im Besitz von Scheich Mansour bin Zayed al Nayan aus Abu Dhabi, für den Einkauf des Hamburger Defensivspielers Nigel de Jong tatsächlich 18 Millionen Euro lockergemacht. "Das kann man nicht ablehnen", sagt Hoffmann. Er formulierte noch vor dem Frühstück mit seiner Vorstandskollegin Katja Kraus den Text, in dem der Verein später den Abschied des Holländers bekanntgab.

Was für ein Kerl: Auch an seinem Geburtstag ruht der emsige Klubchef nicht, sondern verschafft dem HSV die höchste Transfereinnahme seiner Geschichte. Und so einen wollen die Fans nicht mehr haben? Gegen den ist ein von langer Hand geplanter Putsch im Gange? Hoffmann hebt die Schultern - ist wohl so.

Der HSV steht unmittelbar vor seinem wichtigsten Spiel der Saison, noch ehe die Rückrunde auf dem Rasen überhaupt begonnen hat. Anpfiff ist am Sonntag um elf Uhr im Congress-Centrum, auf dem Spiel steht die Zukunft des Vereins. Denn dann werden acht von zwölf Positionen im Aufsichtsrat durch Wahlen neu besetzt. Auf der Kandidatenliste stehen die üblichen Verdächtigen: Firmenbosse, Klinikchefs, ehemalige Klub-Honoratioren, der frühere Publikumsliebling Sergej Barbarez - aber auch vier Hardcore-Fans, die jedes Wochenende mit HSV-Kutte im Fanblock stehen, die eigene Elf nach vorne und den Gegner niederbrüllen.

Dass die Anhänger eines Vereins zum Sprung über den Zaun ansetzen, um im Kontrollgremium ihrer großen Liebe zu landen, ist ein Novum in der Bundesliga. Mindestens. "Ganz Europa schaut auf uns", sagt Manfred Ertel, 58. Zu klären sei die Frage, wem der Verein gehört. Die Antwort glaubt er zu kennen: "Der HSV gehört uns, den Mitgliedern, den Fans." Er will auch in den Aufsichtsrat.

Überall in Europa hat sich Fußball in den vergangenen zehn Jahren zum Event gewandelt, mit mehr Kunden statt Fans und mehr Komfort statt Currywurst. Logen verdrängen die Stehplätze in den Stadien, an die Stelle der Emotion tritt die Unterhaltung. Das Publikum, hat Ertel beobachtet, ist inzwischen sogar im Fußball-Mutterland England "eine schweigende Masse. Wir beim HSV wollen kein Teil der schweigenden Masse werden."

Dass die eigenen Anhänger versuchen können, so viel Einfluss im HSV zu bekommen, und das Establishment deshalb eine erbitterte Abwehrschlacht führt, liegt an der einmaligen Vereinsstruktur. Zwar haben auch andere Fußball-Klubs dank der aus ihrer Bundesliga-Zugehörigkeit resultierenden Strahlkraft eine Mitgliederzahl, von der Turnvereine nur träumen können. So zählt etwa der FC Bayern München gut 130 000 Mitglieder. Doch nur in Hamburg sind die eingeschriebenen HSV-Fans in einer eigenen Abteilung organisiert. "Supporter" heißt die mit Abstand größte aller 32 Vereinssparten, in der rund 50 000 Menschen ihrer Leidenschaft frönen: HSV-Fan zu sein.

Manchmal kommt dabei Leidenschaft allerdings von leiden. Vergangenen Dienstag, ein paar Männer-Grüppchen pilgern über die Fußwege durch den finsteren Volkspark, nur 8000 Karten sind im Vorverkauf abgesetzt worden, später werden 11 000 Besucher da sein. Auf dem Spielplan steht ein Test gegen Hansa Rostock auf einem Acker, der einem Truppenübungsplatz ähnlicher ist als einem Hochleistungsrasen der Bundesliga. Er wird noch vor dem Gastspiel des FC Bayern zum Rückrundenstart in einer Woche ausgetauscht. Während der Rest der Welt verfolgt, wie Barrack Obama als 44. US-Präsident vereidigt wird, gewinnt der HSV vor den treuesten Fans mit 3:0. Wichtiger aber ist, was am Rande passiert: Die Supporter verteilen Flugblätter, mit denen sich ihre vier Aufsichtsratskandidaten vorstellen. Der Titel: Change. Wechsel.

Am Morgen danach schiebt Bernd Hoffmann das Kampfpapier missmutig über den Tisch. Dass er nach sieben Jahren als insgesamt 25. HSV-Präsident so etwas wie der George W. Bush des Vereins sein soll, mag ihm nicht einleuchten. "Der HSV ist wirtschaftlich stabil, sportlich erfolgreich und ein Botschafter dieser Stadt", sagt Hoffmann, dem das komplexe Gebilde Großverein bisweilen eine skurrile Agenda beschert: "Da beschäftige ich mich gleichzeitig mit einem Millionentransfer von Nigel de Jong, der Vorbereitung einer Versammlung mit ein paar tausend Mitgliedern - und dem Wiederaufbau der abgebrannten Halle der Tennisabteilung in Norderstedt." Wenn dann noch die Sparte Gymnastik klagt, es fehlten acht Matten zum Üben, wünscht sich der mit einem Millionengehalt entlohnte Manager manchmal die Ausgliederung des Profifußballs in eine eigene Kapitalgesellschaft. Er hat das Vorhaben auf Eis gelegt - nicht, weil er es für falsch hielte. Sondern für nicht mehrheitsfähig.

Ein Teil der Supporter fürchtet, dass Hoffmann die umstrittenen Pläne nicht für alle Zeiten begraben wird. Durch eine mögliche Ausgliederung der höchst profitablen Sparte Profifußball würde dem Gesamtverein HSV dann womöglich das Geld fehlen, um Breitensport und Nachwuchsangebote zu unterhalten. Die politisierten Fans klagen über den Verkauf von Namensrechten an Sponsoren oder über die Preisgestaltung. Weil etwa für das Nordderby gegen Werder Bremen in der Hinrunde bis zu 97 Euro für ein Ticket fällig wurden, blieben erstmals seit Jahren bei diesem Schlagerspiel 1000 Karten liegen. Mit Hoffmann haben die kritischen Fans ein passendes Feindbild. Denn dieser ist nicht in Jugendmannschaften des HSV groß geworden, sondern beim Sportrechtevermarkter Sport Five. Ihn umgibt, wie er selber sagt, kein "Airbag an Fußballemotion". Außerdem sei der Aufsichtsrat, so Manfred Ertel, "leider viel zu vorstandsnah" - ein Abnickgremium der Klubführung.

Für Hoffmann könnte es bald ungemütlicher werden. Zwar hat der Aufsichtsrat seinen Vertrag gerade ohne großes Federlesen um drei Jahre verlängert, doch schon beim nächsten Mal könnten insgesamt fünf Supporter in dem zwölfköpfigen Gremium sitzen - einen Sitz hat die Abteilung dort garantiert. Das würde ausreichen, eine Vertragsverlängerung für den Chef der Firma HSV, die 140 Millionen Euro Jahresumsatz macht, zu blockieren. Dafür ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig. Der Aufsichtsrat segnet auch die Finanzpläne ab, in denen die Ticketpreise geregelt sind, und redet bei größeren Ausgaben und teuren Spielertransfers mit. Da klingt es für den Vorstand wie eine Drohung, wenn Supporter-Kandidat Johannes Liebnau sagt: "Wir sind alle kommerzkritisch. Wir wollen Geld verdienen, um Fußball zu spielen, und nicht Fußball spielen, um Geld zu verdienen."

An Liebnau, mit 26 Jahren der jüngste der vier Supporter-Kandidaten für den Kontrollrat, lässt sich der Kampf im Klub am besten beschreiben. Der Betriebswirtschaftler besucht jedes Spiel des HSV, ob zu Hause oder auswärts, ob in München oder Moldawien. Sein Platz ist dabei meistens auf dem Sicherheitszaun, mit dem Rücken zum Spielfeld. Liebnau führt mit Megaphon die Fan-Gesänge an. Dabei geht es auch mal derber zu. "Tod und Hass dem SVW", skandierten die Fans unter Liebnaus Regie im Spiel gegen Bremen. Solche "nicht immer komplett gesellschaftsfähigen Gesänge, die auch mal den Gegner verunglimpfen", gehörten nun mal dazu, sagt Liebnau, der im zivilen Leben ein höflicher Mann ist. Der Vorstand rümpft die Nase: Ob ausgerechnet der Einpeitscher aus dem Fanblock im Aufsichtsrat den Verein repräsentieren sollte, sei diskussionswürdig.

Der zur Verteidigung des Kulturguts Fußball stilisierte Wahlkampf wird mit harten Bandagen geführt. Sogar Manfred Ertel, als Spiegel-Redakteur und Lebensgefährte der stellvertretenden grünen Bundestags-Fraktionsvorsitzenden Krista Sager erfahren in Machtspielen, ist von der Ruppigkeit überrascht. "Wir werden behandelt wie der letzte Pöbel aus der Westkurve. Ich verbitte mir ganz persönlich, von einem ehemals verdienten HSV-Mitglied, das noch nie ein Wort mit mir geredet hat, als Idiot bezeichnet zu werden."Gemeint ist der Ex-Präsident Wolfgang Klein, der die aufbegehrenden Fans nicht nur als Idioten, sondern auch als Totengräber bezeichnet hatte. "Notwehr" nennt Medienprofi Ertel jetzt die spätere Initiative, selbst Pressekonferenzen der Supporter zu organisieren, Flugblätter zu verteilen, Wahlkampf zu machen.

Bernd Hoffmann ist auf alles gefasst. Er würde gerne noch 2017 im Amt sein, wenn der Verein die Arena abbezahlt und jährlich 20 Millionen Euro mehr in der Kasse haben wird als jetzt. Die Versammlung am Sonntag könnte aber turbulent werden. "Herr Hoffmann muss sich von uns aber nicht bedroht fühlen", sagt Manfred Ertel. "Nur sein Job wird schwerer."

Es geht ihnen mehr ums Fußballspielen als ums Geldverdienen

Erfolgreich und trotzdem umstritten: der HSV-Vorstandsvorsitzende Bernd Hoffmann. Foto: dpa

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Gesucht und gefunden

Die Münchner sind weniger umzugsfreudig als andere Bundesbürger

Wer in München wohnt, will dort meist auch bleiben. Im Vergleich zu anderen deutschen Städten ziehen die Münchner deutlich seltener um. Und wenn jemand doch das Weite sucht, dann richtig: Etwa die Hälfte der Wegzügler geht ins Ausland. Diese und andere Umzugsgewohnheiten erläutert Elmar Huss, stellvertretender Leiter des Statistischen Amtes der Stadt.

SZ: Sind die Münchner besonders umzugsfreudig?

Huss: Die Münchner sind viel weniger umzugsfreudig als andere Bundesbürger. Sie haben gefunden, was sie suchten, eine Stadt, die seit Jahren nach allen Umfragen stabil die Listen anführt, wenn es um die Bewertung wichtiger Standortfaktoren geht.

SZ: Gibt es Bevölkerungsgruppen, die etwas mobiler sind?

Huss: Das sind die jungen Einpersonenhaushalte der 20- bis 35-Jährigen, die entweder dem ansässigen, elterlichen Haushalt entwachsen oder frisch zugezogen sind. Sie realisieren den Weg von der "Bude" in eine der teuren Lagen des Innenstadtrands. Eine weitere Mobilitätswelle trägt die Münchner in den verschiedenen Lebensphasen der Familie. Wenn zum Beispiel Kinder geplant sind, zieht man tendenziell in ruhigere Quartiere des mittleren Stadtgürtels oder in die mehrgeschossigen Wohngebäude einiger Randbezirke.

SZ: Wie sehen die Umzugsbewegungen aus, gibt es Besonderheiten in bestimmten Vierteln?

Huss: Je länger man im Viertel wohnt, desto mehr ist man dort zu Hause, kennt sich aus, hat ein soziales Netz geknüpft. Erwachsene und Kinder haben Freunde, Bekannte in der Nachbarschaft, hier sind Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen. Wenn man tatsächlich umziehen muss, gibt man das alles nur ungern auf. Grundsätzlich finden wir deshalb die höchsten Umzugsraten innerhalb des eigenen Viertels - jeder dritte Umzug hat Ausgangspunkt und Ziel im gleichen Stadtbezirk. Besonders standortgebunden sind die Bürger zum Beispiel in Bogenhausen, Obersendling, Fürstenried, Solln oder Milbertshofen. Durchgangsstationen sind dagegen die Innenstadt und ihre Vorstädte. Ansonsten gilt der Trend: von innen nach außen, also vom Zentrum in den Rand. Was in der Innenstadt frei wird, füllen Zuzüge von außerhalb wieder auf.

SZ: Wie lang wohnt denn ein Münchner in seiner Wohnung?

Huss: Ein Münchner wohnt im Schnitt zwölfeinhalb Jahre an ein und derselben Adresse. In nahezu allen Vierteln mit überwiegendem Altbestand an Ein-, und Zweifamilienhäusern - vorwiegend am Stadtrand gelegen - wohnen die Menschen deutlich länger. Spitzenwerte erzielen zum Beispiel Lochhausen mit 17 Jahren oder Waldperlach mit 16 Jahren. Überdurchschnittliche Sesshaftigkeit finden wir aber auch in Stadtteilen, die von älteren, mehrgeschossigen Großsiedlungen geprägt werden. In diese Kategorie gehören etwa Fürstenried West oder die Blumenau. Umgekehrt sind Quartiere mit stark unterdurchschnittlicher Aufenthaltsdauer zum Beispiel Riem oder Marsfeld. Hier und in anderen Bereichen mit vielen Wohnungs-Neubauten liegt ja der Bezug erst kurze Zeit zurück, was den statistischen Mittelwert natürlich nach unten zieht.

SZ: Der Region München wird ein Bevölkerungszuwachs von 20 Prozent bis zum Jahr 2025 vorausgesagt - vor allem durch Zuzug. Woher kommen die Neubürger vorwiegend?

Huss: Der Zuwachs stammt etwa zur Hälfte aus dem eigenen Land und zur anderen Hälfte aus dem Ausland. Wir rechnen damit, dass Neubürger künftig zunehmend aus dem Ausland zuwandern werden, vor allem aus den Staaten Europas, besonders aus osteuropäischen EU-Saaten. Ohne Zweifel wird aber auch der anwachsende Wanderungsaustausch mit Asien ein stetig steigendes Wanderungsplus für die Landeshauptstadt erbringen.

SZ: Und wohin gehen die Wegzügler?

Huss: Die eine Hälfte geht ins Ausland, die andere Hälfte bleibt in der Republik. Dabei ist der Trend ins Umland seit Jahren stabil und ungebrochen. Allein in die Region 14, das sind die acht Landkreise des unmittelbaren Münchner Umlands, zogen 2007 fast 18 000 Münchner. Das ist ein Viertel aller Abwanderer.

SZ: Alte Menschen ziehen deutlich seltener um als Jüngere. Erwarten Sie da eine Veränderung angesichts der demographischen Entwicklung?

Huss: Ja, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zunächst wird der Anteil der Senioren steigen, die allein leben und Unterstützung familienfremder Dienstleister brauchen und in ein geeignetes Wohnumfeld umziehen müssen. Das Spektrum reicht von der barrierefreien über die WG-geeignete Wohnung bis zum Seniorenheim. Es wird auch immer mehr Ältere geben, die finanziell in der Lage sind, in teure Luxusappartements mit jedem denkbaren Service umzuziehen.

Interview: Ingrid Brunner

Interview

Elmar Huss Foto: oh

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Fest verwurzelt

Gertraud Eibl wohnt seit 60 Jahren in derselben Wohnung. Als sie einzog, gackerten in Laim noch die Hühner

Von Ingrid Brunner

Wenn Gertraud Eibl aus ihrem Wohnzimmerfenster im Münchner Stadtteil Laim blickt, sieht sie einen begrünten Innenhof - eine Wiese mit stattlichen Bäumen, dazwischen Teppichstangen. "Ich hab' mal nachgezählt", erinnert sich Gertraud Eibl, "da draußen haben Anfang der fünfziger Jahre, als meine Tochter klein war, 51 Kinder gespielt." Damals, nach dem Krieg, ging es im Freien lebhaft zu - Kindergeschrei, Frauen, die Wäsche aufhängten. Auch vor der Haustür sah es noch anders aus als heute, die Straße war ein Sandweg, Gehsteige gab es noch keine, zwei Autos gab es da im ganzen Block. Längst ist die schmale, kaum hundert Meter lange Heinrich-Goebel-Straße geteert, auf den Gehsteigen drängt sich ein Auto so dicht ans andere, dass kaum noch ein Fußgänger durchkommt. Und in der gepflegten Grünzone ist es still geworden, nur noch wenige Kinder leben im Wohnblock, die meisten Mieter sind älter als vierzig Jahre, manche auch viel älter.

Viel Leben auf der Straße

So wie Gertraud Eibl. Von ihren bald 84 Lebensjahren hat sie mehr als sechzig in derselben Wohnung gelebt. Auf 57,5 Quadratmetern, unterteilt in zweieinhalb Zimmer. In einer Zeit grenzenloser Mobilität, in der viele Menschen bereit sind, für ihren Job überall hin zu ziehen, mutet diese Sesshaftigkeit schon fast exotischer an als eine lange Umzugskarriere. Frau Eibl findet daran nichts Besonderes. Umgezogen sei sie schließlich oft genug in ihrem Leben. Geboren ist sie 1925 in Berlin, als Gertraud Hacker. Ihr Vater war angestellt bei der Reichsmonopolverwaltung für Branntwein, 1935 wurde er von der Hauptstadt nach München versetzt. "Wir hatten eine Dienstwohnung in der Neumarkter Straße", berichtet sie. Dort wuchs sie auf. "Ich war in der kaufmännischen Lehre, als der Krieg kam", doch dann unterbrachen die Kriegszeiten ihre berufliche Laufbahn. Sie wurde erst einmal für drei Monate nach Landsberg am Lech geschickt, wo sie zur Funkerin ausgebildet wurde. Nach Kriegsende arbeitete sie als kaufmännische Angestellte bei Möbel Storz im Tal.

Im April 1948 zog Gertraud Eibl, frisch verheiratet, in der Heinrich-Goebel-Straße bei ihrem Mann, in ihre jetzige Wohnung ein. Vier Jahre lang teilte sich das junge Paar die Wohnung mit einem anderen Ehepaar - zwei Familien mit je einem Kleinkind. "Wir haben uns immer gut vertragen", sagt die alerte alte Dame. Konflikte wegen der Wohnsituation habe es nicht gegeben. "Das geht alles", sagt Gertraud Eibl, "man kannte das ja gar nicht anders, die Wohnungen hier im Viertel waren alle so stark belegt, entweder durch Ausgebombte oder durch kinderreiche Familien." Viel mehr als heute spielte sich das Leben auf der Straße ab. "Damals hat man noch mehr Kontakt mit den Nachbarn gehabt, man hat sich getroffen, sich gegenseitig geholfen und stundenlang auf der Straße gestanden und geratscht - über die Kinder, über Gott und die Welt." Frau Eibl kann sich noch gut erinnern, und was sie erzählt, ist ein Stück Münchner Zeitgeschichte des Stadtteils Laim. Damals, als sie jung war, ging es noch ländlich zu im Quartier, "da liefen sogar noch Hühner auf manchen Straßen herum".

Geheizt wurde mit Holz, Kohle und Eierbriketts - aber nicht in jedem Raum stand ein Ofen. Im Bad stand eine Wanne auf Tatzenfüßen, wollten man baden, musste erst der Badeofen mit dem Wasserkessel angeheizt werden. Im Winter zog es trotz Doppelfenstern in die Zimmer. "Die Öfen haben wir erst nach und nach bei der Heimag beantragt", erinnert sie sich. Die Heimag München GmbH, gegründet 1919 mit dem Ziel, "gesunde Wohnungen zu billigen Preisen für minderbemittelte Familien und Einzelpersonen" zu schaffen, hat bis heute einen gemeinnützigen Auftrag. 4788 Wohnung habe die Heimag im Bestand, davon 513 Wohnungen in Laim, sagt Barbara Schlumpp, Assistentin der Heimag-Geschäftsführung. "Die Heimag hat sich uns Mietern gegenüber immer sehr kulant gezeigt", meint Eibl. Diese Einschätzung ist sicher ein Grund dafür, dass es mehr solch langjährige Mieter gibt, besonders in Laim. Es sei sogar üblich, den Mietern zum fünfzigjährigen Wohn-Jubiläum zu gratulieren. "Eine Dame aus Laim musste kürzlich altersbedingt ihre Wohnung kündigen. Ihr Mietvertrag war vom erstem September 1943", berichtet Schlumpp.

Wanne mit Tatzenfüßen

Viel hat sich verändert in Frau Eibls Heim im Laufe von sechzig Jahren. Sie zeigt mit dem Finger nach unten. Direkt unter dem Wohnzimmer, sagt sie, sei früher die Waschküche gewesen, mit Waschkessel und Schleuder. Wäsche waschen war damals noch ein tagesfüllendes und sehr anstrengendes Unterfangen. "Und im zweiten Stock links", diesesmal deutet sie mit dem Finger nach oben, "da hat nach dem Krieg der Doktor Erhardt seine Praxis angefangen. Ich kenne den Sohn, seit er ein kleiner Bub war, der kommt noch immer auf Hausbesuch zu mir."

Die größte Verbesserung? "Anständige Öfen", erwidert sie spontan, später kamen die winddichten Isolierfenster, sogar Balkone hat die Heimag den Wohnungen in der gesamten Siedlung angebaut. Tatsächlich ist es wohlig warm im Wohnzimmer, behaglich hat die alte Dame es sich gemacht. An den Wänden hängen Erinnerungen, alte Fotografien, eine Zeichnung von München mit Frauendom und Rathaus sowie Souvenirs von Reisen in die weite Welt. Ihre Augen leuchten, wenn sie von vergangenen Zeiten erzählt, doch wehmütig blickt sie nicht zurück, auch wenn sie schon seit 45 Jahren Witwe ist. Der ältere Herr im Bilderrahmen ist Gegenwart. "Dieser Herr war mal mein Chef und ist heute mein Freund", sagt sie stolz. Ihre beruflichen Wege hatten sich getrennt, aber Jahre später seien sie sich dann privat näher gekommen.

Gesundheitliche Probleme schränken den Aktionsradius der alten Dame stark ein. Schwere körperliche Arbeiten erledigt heute der Zivi eines privaten Pflegedienstes, eine Krankenschwester wechselt regelmäßig ihr Morphiumpflaster. "Aber ich koche mir noch selbst", sagt sie, selbst gemacht ist eben doch besser als das Essen auf Rädern. Ein Alarmknopf verständigt im Notfall sofort den Malteser Hilfsdienst. Langeweile? "Hab' ich nie", sagt sie, sie lese viel und halte sich mit Kreuzworträtseln geistig fit. Ihre Tochter sieht regelmäßig nach dem Rechten und außerdem telefoniert sie mehrmals täglich mit ihrem Freund. Nochmal umziehen? "Wieso sollte ich?"

Ob Nachbarn, die Straße oder die Häuser: Vieles in Gertraud Eibls Umgebung hat sich im Laufe von sechs Jahrzehnten verändert, sie selbst ist geblieben. Als sie kurz nach dem Krieg in ihre Wohnung einzog, ging es es im Stadtteil München-Laim noch ländlich zu, statt geteerter Straßen gab es noch Sandwege. Foto: Robert Haas

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Schöne Bauten aus subjektiver Sicht

Architektur-Netzwerk Be Urban zeichnet zehn Amateur- und Profi-Fotografen für ihre Arbeiten aus

Die gebaute Umwelt aus individueller Perspektive zu präsentieren - dies war Ziel des Architekturfotografie-Wettbewerb "Hottest Building in Town". Nun stehen die Sieger fest: Zehn Teilnehmer, die ihre ganz persönlichen Ansichten ihres Lieblings-Gebäudes eingereicht hatten, wurden vor kurzem in Berlin ausgezeichnet.

Ausgelobt hat den Wettbewerb das Münchner Architektur-Netzwerk Be Urban in Zusammenarbeit mit dem Berliner Verlag Archimappublishers. "Mit mehr als 100 Teilnehmern aus sieben Ländern und mehr als 600 eingereichten Fotos sind unsere Erwartungen weit übertroffen worden", zog Architekt und Jurymitglied Nils Peters von Archimappublishers Bilanz. Die Bewerber stammen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg, Liechtenstein, England und Spanien.

Für die eingereichten Arbeiten spielte es keine Rolle, ob es sich um ein berühmtes Gebäude handelte oder ein unbekanntes. Hobbyfotografen konnten genauso teilnehmen wie Profis. Die zehn Sieger erhielten Sachpreise, darunter einen von Hadi Teherani designten Stuhl und eine Leuchte von Artemide. Der fünfköpfigen Jury gehörte unter anderem auch Regine Geibel, Architektin und Mitbegründerin von Be Urban, der Grazer Architekt Erich Prödl, Friedrich Löhrer von der Kronacher Löwe AG sowie der Architektur-Fotograf Werner Huthmacher an.

"Uns geht es mit solchen Wettbewerben darum, Menschen mit Architektur zu konfrontieren und die aktive Auseinandersetzung mit Bauten zu fördern", erklärt Geibel, die den Wettbewerb zum ersten Mal veranstaltet hat. In Planung ist eine weitere Ausschreibung zum Thema Architekturfotografie. Allerdings sollen nächstes Mal nicht die Ansichten von aus individueller Sicht besonders attraktiven, sondern missglückten Bauten gekürt werden. ssc

Gebrauchte Immobilien sind im Schnitt um ein Drittel billiger als Neubauten. Doch auch Bauherren, die sich ein nagelneues Domizil wünschen, haben viele Möglichkeiten, Geld zu sparen. Laut einer aktuellen Umfrage, die TNS Infratest unter anderem im Auftrag der Landesbausparkassen vorgenommen hat, gaben neun von zehn Befragten an, bewusst kostensenkende Maßnahmen angewandt zu haben. 59 Prozent der Häuslebauer setzten auf Eigenleistungen am Bau. 39 Prozent verzichteten auf den Keller, um den Geldbeutel zu schonen, 25 Prozent gaben dem Carport gegenüber der teureren Garage den Vorzug. An die 30 Prozent der Bauherren wählten ein kleineres Grundstück. Quelle: LBS Research

Futuristisch wirkt dieses Treppenhaus der Kartause Ittingen in Warth am Bodensee. Dabei handelt es sich um ein zum Seminarzentrum umgebautes, ehemaliges Kloster (Foto rechts). Einen Preis gab es auch für die Ansicht des Dokumentationszentrums Bergen-Belsen. Fotos: Stefan Müller, Katrin Derleth (von links)

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Interview

"Verträge vor Gericht wasserdicht"

Der Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB) und die Eigentümerschutz-Gemeinschaft Haus & Grund haben gemeinsam zwei neue Bauvertragsmuster entwickelt: eines zur Vergabe von Handwerkerleistungen und einen Einfamilienhaus-Vertrag für Aufträge an Bauunternehmen. Karl Robl, Hauptgeschäftsführer des ZDB, erklärt, welche Vorteile diese Dokumente für Hauskäufer haben.

SZ: Warum haben Sie die Bauvertragsmuster entworfen?

Robl: Da der Bundesgerichtshof die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/B) in Verträgen mit privaten Bauherren seit seinem Urteil vom 24. Juli 2008 nur noch eingeschränkt für wirksam hält, wollten wir ein allgemein anerkanntes, ausgewogenes Vertragswerk erarbeiten. Auf diese Weise sollen sichere Voraussetzungen für einen möglichst reibungslosen Ablauf des Bauprozesses geschaffen und Streitigkeiten vermieden werden.

SZ: Welche Aspekte regeln die neuen Verträge?

Robl: Die Verträge bieten die Gewähr, dass sie vor Gericht wasserdicht sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten beider beteiligter Parteien. Geregelt wird, wer für Wasser- und Stromanschluss zuständig ist, wer im Schadensfall haftet, wie hoch die Abschlagszahlungen sind und welche Versicherungen abgeschlossen werden müssen. Kernstück des Bauvertrags ist die Leistungsbeschreibung, die detailliert auflistet, was mit welchem Material gebaut werden soll. Der Vertrag schreibt auch Aspekte der Bauqualität fest und dokumentiert die termingerechte Baufertigstellung.

SZ: Ist es nicht dennoch besser, den Vertrag individuell auszuhandeln, statt ein Formular zu verwenden?

Robl: Der Vertrag gestattet große Flexibilität und gibt auch Wahlmöglichkeiten, zum Beispiel ob man eine Gewährleistungssicherheit vereinbaren will oder nicht. Sie räumt dem Bauherren die Möglichkeit ein, etwaige Mängel auf Kosten des Bauunternehmens beseitigen zu lassen. Einzelne Klauseln lassen sich individuell verändern. Die Bauverträge kann man kostenlos im Internet herunterladen, unter www.zdb.de.

SZ: Wird es mit diesen Mustern weniger Rechtsstreitigkeiten geben?

Robl: Das hoffen wir. Wir wollen dazu beitragen, dass die juristischen Streitigkeiten zurückgehen. Entscheidend ist, dass die Vertragspartner seriös sind. Denn was nützt der beste Vertrag, wenn sie sich nicht an die Vereinbarungen halten. Der beste Bauvertrag ist derjenige, der nach Unterzeichnung in der Schublade bleibt, weil alles nach Plan läuft.

Interview: Andrea Nasemann

Karl Robl Foto: privat

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Wie es euch gefällt

Bei dem Konzept "Design Ready" kann der Käufer selbst über Raumaufteilung und Innendesign bestimmen

Von Jürgen Hoffmann

Im Jahr 1271 brach Marco Polo zu seiner Reise in eine damals unbekannte Welt auf. Ihn trieben Sehnsucht und Abenteuerlust. Eine gewisse Lust am Abenteuer - in puncto Wohnen - dürften auch die künftigen Bewohner des nach dem Seefahrer benannten Turms in der Hamburger Hafen-City verspüren. Dessen Vermarktungskonzept könnte Schule machen: Wer im neuen Marco Polo Tower in der Hamburger HafenCity eine Eigentumswohnung erwirbt, bekommt seine vier Wände als Halbfertigprodukt. Keine Innenwand steht, keine Dusche, keine Küche. Es gibt keine Steckdosen und keine Türen. Nur der Eingangsbereich, die Flure, Balkone und andere allgemeine Bereiche sind ausgebaut. Der Käufer muss sein Appartement in Eigenregie komplettieren. "Design Ready" nennen Projektentwickler Dietrich Rogge und Makler Björn Dahler ihr Konzept, das im Segment hochwertiger Eigentumswohnungen den Beginn eines neuen Vermarktungstrends markieren könnte.

Im exklusiven Wohnungsbau ist neben einer zunehmenden Markenbildung - von Star-Designern wie Philippe Starck oder Renzo Rosso entworfene Appartements erzielen Höchstpreise - eine Tendenz zur Individualisierung erkennbar: Je teurer eine Wohnung, desto größer der Wunsch, sie innen möglichst weitgehend nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Häufig reißen Wohnungskäufer große Teile der miterworbenen Ausstattung heraus und ersetzen sie durch eine andere - selbst bei Neubauwohnungen. Nach Überzeugung von Dietrich Rogge ist es daher nur logisch, Käufern die Freiheit zu geben, das Innere ihrer künftigen Wohnung von vornherein individuell zu gestalten: "Jeder entscheidet, wo er schlafen, kochen, baden, essen und entspannen will. Es gibt keine Vorgaben." Wer im Marco Polo Tower kauft, kann für seine Planungen Computer-Simulationen nutzen. Die offene Küche mit schwarzem Tresen im weiß eingerichteten Wohnzimmer? So würde das aussehen. Rogge: "Die Bilder helfen den Käufern, Ideen zu entwickeln und ihre Aufträge an Innenarchitekten zu konkretisieren." Damit nicht genug: Sieben Designer haben der Projektgesellschaft Marco Polo Tower, ein Konsortium aus DC Residential und Hochtief Projektentwicklung, Entwürfe für einen Ausbau vorgelegt. Die Profis von Behnisch Architekten über Graft und Villa Harteneck bis Davide Rizzo durften ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Ihre Varianten gehören nicht zu den billigsten. Wer feinsten Marmor, einen vier Meter breiten Kamin oder goldene Wasserhähne haben möchte, muss tief in die Tasche greifen. Dass es auch günstiger geht, beweist ein Entwurf von KBNK Architekten, dessen Realisierung etwa 1200 Euro pro Quadratmeter kosten würde. Rogge: "Nach oben gibt es preislich keine Grenze." Er schätzt das Marktpotential der Idee, Luxus-Wohnungen im "veredelten Rohbau" zu verkaufen, in Metropolen auf etwa fünf Prozent. In Hamburg sind das Neubauwohnungen ab etwa 6000 Euro pro Quadratmeter, in Berlin ab circa 5500 Euro, in München ab knapp 6800 Euro. Insgesamt besitzt der 17-geschossige Marco Polo Tower 58 Luxus-Appartements, wobei circa 25 Prozent bereits verkauft sind. Die Wohnungen sind 57 bis 340 Quadratmeter groß. Die Preise belaufen sich auf bis zu 11 000 Euro pro Quadratmeter, je weiter oben ein Appartement, desto teurer.

Damit zum Rohbau verschiedene Innenausstattungen passen, müssen alle am Bau Beteiligten frühzeitig und intensiv zusammen arbeiten. Im Marco Polo Tower beispielsweise sind Fußböden und Decken bis zu 53 Zentimeter dick, damit der Käufer die Räume flexibel aufteilen und gestalten kann. Egal ob ein Wohnungseigentümer seine Badewanne direkt am Fenster platzieren oder hochmoderne Haustechnik einsetzen möchte - die Projektentwickler haben die notwendigen Voraussetzungen geschaffen. Und das Tragwerk im noblen Wohn-Turm unweit des Kreuzfahrtschiff-Terminals ist so konzipiert, dass auch große und hohe Räume die Last ihrer Decken tragen können, ohne dass Säulen zwingend notwendig sind. "Der Eigentümer kann dadurch fast völlig frei entscheiden, wo und in welcher Größe er seine Räume haben möchte", weist Hochtief-Projektentwicklerin Vera Spörl auf die gestalterische Freiheit hin. Für ihren Konzern sei das "Design Ready"-Konzept etwas Neues: "Unser Vorstand steht voll hinter dieser Idee, weil sie eine neue, Erfolg versprechende Entwicklung einläutet."

Könnten Finanzmarktkrise und Rezessionsängste die kühnen Konzepte für die Wohlhabenden nicht Makulatur werden lassen? Makler Björn Dahler gibt sich gelassen: "Die Käufer solcher Objekte verfügen meist über einen hohen Anteil an Eigenkapital. Die brauchen das Wohlwollen von Banken nicht. Im Übrigen schichten viele Gutbetuchte derzeit von Aktien oder Fonds auf Immobilien um."

Individualisten zieht der Marco Polo Tower in der Hamburger Hafen-City besonders an. Nur der Rohbau ist vorgegeben - über die Raumaufteilung und das Ambiente seiner Wohnung kann der Käufer frei entscheiden. Oder einen der sieben Entwürfe zum Innenausbau von verschiedenen Designern wählen. Fotos: Projektgesellschaft Marco Polo Tower

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Ratgeber zum Wohn-Riester

"Wohneigentum in der Altersvorsorge" heißt eine neue, kostenlose Broschüre, die der Deutsche Sparkassenverlag herausgegeben hat. Sie beantwortet Fragen zum Wohn-Riester und klärt, wer förderberechtigt ist, welche Zulagen zu erwarten sind, und was man unter einem "Berufseinsteiger-Bonus" versteht. Zudem liefert der Ratgeber Tipps und Beispielrechnungen. Er lässt sich unter www.lbs.de/ratgeber bestellen. ssc

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Buchtipp

Steuern sparen unter Palmen. Mit einem Domizil im Ausland will so mancher seine Lebensqualität erhöhen. Gut beraten ist, wer dabei nicht nur auf die Ästhetik des Gebäudes achtet, sondern auch auf den Wertzuwachs sowie steuerliche und erbrechtliche Gesichtspunkte. In seinem Werk über Wohnimmobilien in Steueroasen beschreibt Hans-Lothar Merten, wie sich der Kauf einer Auslandsimmobilie mit Steuervorteilen verbinden lässt. Was passiert im Erbfall oder beim Wiederverkauf? Lohnt sich ein Wechsel von Wohnsitz oder Staatsbürgerschaft? Nach solchen Fragen durchforstet der Autor Rechtssystem und Wirtschaftslage von 60 Staaten, wobei der Schwerpunkt auf Europa liegt. Ob spanische Finca, Altersruhesitz in Florida oder ein City-Appartement in Dubai - Merten beleuchtet wesentliche Aspekte des Immobilienkaufs und informiert über steuerliche Rahmenbedingungen. Hilfreich für eine Entscheidung sind die übersichtliche Struktur des Handbuchs sowie ausführliche Checklisten. Übertrieben wirkt allerdings der schwärmerische Werbebroschüren-Stil des Autors.

Merten kennt sich auch im obersten Luxussegment aus. Wie wäre es mit einem Schloss oder einer eigenen Insel? Und in Zentralamerika gebe es so manche "Fluchtpunkte steuergestresster Europäer", etwa das kleine Land Belize, wohin der Ruheständler seinen "gesamten Hausstand samt Yacht und Sportflugzeug" steuerfrei einführen könne. Steuerlich unschlagbar ist übrigens der Wohnsitz auf dem schwimmenden Luxus-Schiff The World. Bord-Appartements kosten mindestens 1,4 Millionen Euro, bieten aber dafür lebenslang Ruhe vor sämtlichen Finanzämtern der Welt. anrö

Hans-Lothar Merten: Wohnimmobilien in Steueroasen. Ausgabe 2008/2009, Regensburg, Walhalla Verlag, 240 Seiten, 29,90 Euro

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2-Zimmer-Wohnungen
Stadt / Ort / LandkreisNeubau / Erstbezug Sonstige / Wiederverkauf
Preis in Euro je Quadratmeter Wohnfläche Preis in Euro je Quadratmeter Wohnfläche
Anz.Wfl.min.mittelmax.Anz.Wfl.min.mittelmax.
München-Stadt
- einfache Lage896025003200380047558150024003500
- mittlere Lage2126127003500440050359190027004000
- gehobene Lage385732003700470022459220030004800
- gesamt33960250035004700120259150027004800
München Umland
München-Land Nord/Ost46572100310039009458150023003400
München-Land Süd/West186028003400450014659150024003800
Lkr. Freising9592200280030007959120020003100
Lkr. Erding16612100270033003758130020002800
Lkr. Ebersberg17592400290035005559120022003400
Lkr. Starnberg12572800310035009763180026004000
Lkr. Fürstenfeldbruck225921002900350018560110021003500
Lkr. Dachau126221002800340011056140021003500
Augsburg/Ingolstadt
Stadt Augsburg32651500230029002365660014002600
Region Augsburg13632100240028001655780015002400
Stadt Ingolstadt4560190024002800935770016002900
Region Ingolstadt1660170023002600735760015002500
Übrige Region
Lkr. Landshut1664190024002900905980016002700
Lkr. Rosenheim18632200270035002515980017003700
Lkr. Miesbach8632300340053007461120022003700
Lkr. Bad Tölz7522800300037007758120020003200
Lkr. Garmisch000007663100023003800
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SZ-WOHNIMMOBILIEN-INDEX

Durchschnitts-Preise für Zwei-Zimmer-Wohnungen in München und Umgebung

Wir informieren Sie heute über die aktuellen Preise von Zwei-Zimmer-Wohnungen. Die Zahlen basieren auf den Auswertungen von 40 000 Immobilien-Angeboten. Erhebungszeitraum waren die Kalenderwochen elf bis 33 des Jahres 2008. Es handelt sich bei den ausgewerteten Objekten um Angebotspreise. Die beim Verkauf erzielten Werte können jeweils in Plus- und Minusrichtung abweichen. Quelle: IMV/SZ

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Konditionen konservieren

Experten raten im Hinblick auf die Finanzierung zu einer langfristigen Zinsbindung

Von Heinz-Josef Simons

Ein Dach über dem Kopf zu haben, das nicht das eigene ist, wird zu einer immer kostspieligeren Angelegenheit. Es ist eben kein Vergnügen, wenn Mieter in Deutschland, wie der Immobilienverband Deutschland (IVD) kürzlich herausfand, mehr als ein Drittel ihres monatlichen Haushaltsnettoeinkommens für Miete und Betriebskosten ausgeben müssen. Grundlage für die IVD-Erkenntnisse waren Daten aus den 100 größten Städten Deutschlands. Jens-Ulrich Kießling, Präsident des IVD, nennt den Ausweg aus dem Dilemma: "Wir müssen über neue Wohnungen in den Städten genauso sprechen wie über deren Ausstattung. Benötigt werden überdies barrierefrei erstellte alten- und behindertengerechte Wohnungen sowie Mehrgenerationenhäuser."

Doch das ist einfacher gesagt als getan. Denn der Erwerb, also der Bau oder Kauf selbstgenutzten Wohneigentums wirft vielerorts und häufiger mehr Probleme auf als noch vor ein oder zwei Jahren. Dies hängt - wie fast alles heutzutage - mit der Finanzmarktkrise zusammen. "Banken und Sparkassen sind deutlich zurückhaltender bei der Vergabe von Hypotheken-Darlehen geworden", sagt der erfahrene Marktbeobachter und Finanzierungsexperte Max Herbst, Chef der Frankfurter FMH Finanzberatung. Dies aber trifft genau jene Zielgruppe unter den Häuslebauern, die am meisten auf sprudelnde Kreditquellen angewiesen ist: junge Familien mit Kindern. "Bei ihnen ist die Finanzierung oft auf Naht genäht, sodass kaum noch Luft bleibt für unvorhergesehene Fälle", lautet die Einschätzung von Herbst.

Bei der oft vergleichsweise geringen Eigenkapital-Ausstattung insbesondere jüngerer Menschen winken die Geldhäuser in zunehmendem Maße ab. Oder aber sie verlangen deutliche Zinsaufschläge wegen des angeblich höheren Risikos. Diese Vorgehensweise verteuert die Finanzierungskosten für die Bauherren ganz erheblich; sie lassen sich mit dem Familieneinkommen dann nicht mehr stemmen.

Dabei sind die Hypothekenzinsen weiterhin historisch niedrig, auch wenn sie sich zwischenzeitlich um den einen oder anderen Zehntel Prozentpunkt nach oben bewegen. Deshalb empfiehlt Robert Haselsteiner, Gründer und Vorstand des Münchner Finanzierungs-Beratungs-Unternehmens Interhyp AG, seit Wochen mit Nachdruck, "sich die aktuellen Konditionen zu sichern und dabei vor allem längere Laufzeiten zu bevorzugen".

Beide Empfehlungen sind sinnvoll. Baugeld ist absolut betrachtet - mit circa 4,5 Prozent - nicht nur sehr billig, sondern die Hypothekenzinsen liegen auch deutlich unter ihren langfristigen Durchschnittssätzen. Bei einer zehnjährigen Festschreibung - hier beträgt der Durchschnittspreis ungefähr sieben Prozent - kommen die Bauherren sowie die Finanzierer derzeit fast drei Prozentpunkte besser weg.

Und auch die von Haselsteiner wärmstens empfohlene sehr lange Zinsfestschreibung scheint vernünftig. Denn die Differenz zwischen fünf- und 25-jähriger Zinsbindung beträgt gerade einmal circa einen Prozentpunkt. Ein durchaus angemessener Zuschlag für ein Vierteljahrhundert Kalkulationssicherheit und dafür, dass man sich nicht vor einer späteren, sündhaft teuren Umschuldung fürchten muss. Gleichwohl sollten Eigenheim-Aspiranten den von Banken, Sparkassen und vor allem Darlehensvermittlern gepriesenen "Spitzen-Konditionen" nicht vorbehaltlos trauen. Das sind oft Schnäppchenpreise, die "aus Werbe- und Marketinggründen ins Schaufenster gestellt werden", warnt Herbst. In vielen Einzelfällen sind die Kreditzinsen am Ende deutlich höher, etwa weil der künftige Eigenheimer zu wenig Eigenkapital oder ein zu geringes verfügbares Einkommen hat, oder sein Arbeitsplatz in einer Krisenbranche ist.

Allerdings reichen die historisch niedrigen Hypothekenzinsen bei weitem nicht aus, um das Finanzierungs-Konzept für die eigenen vier Wände langfristig wetterfest zu machen. Darlehen sollten so flexibel wie möglich gestaltet werden, empfehlen übereinstimmend Verbraucherschützer und Finanzierungsexperten. Möglichkeiten in puncto Flexibilität, die vor es vor zehn Jahren noch nicht gab, sind längst Standards geworden: gebührenfreie jährliche Sondertilgungen, vertraglich fixierte Tilgungsaussetzungen bei finanziellen Engpässen, die wiederholte und ebenfalls kostenlose Veränderung der jährlichen Tilgungsrate entsprechend den finanziellen Möglichkeiten - "Forward-Darlehen" lautet hier das Stichwort. Mit deren Hilfe können Immobilieneigentümer die günstigen Konditionen mit geringfügigem Zinsaufschlag in der Spitze mehr als vier Jahre konservieren.

Ein eminent wichtiger Faktor beim Bau oder Kauf der eigenen vier Wände ist deren Lage. Denn nur wenn diese gut oder sehr gut ist, lässt sich die Immobilie zu einem angemessenen Preis wieder verkaufen. So romantisch ein Häuschen auf dem Land auch erscheinen mag - wenn die Verkehrsanbindung ungünstig ist, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen sowie Schulen und Kindergärten weiter entfernt liegen, wird ein späterer Verkauf schwierig. Denn Mängel bei der Infrastruktur schrecken potentielle Käufer erfahrungsgemäß ab. Zentrumsnahe Lagen sind gefragt. Dies wiederum "wird vergleichsweise teuer, besonders in Metropolen wie München, und ist speziell für junge Familien oft nicht zu finanzieren", räumt Marktkenner Herbst ein. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die Immobilienpreise im deutschlandweiten Schnitt seit Jahren eher stagnieren oder gar geringfügig sinken. "Das wird voraussichtlich auch noch einige Zeit so bleiben, angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land", sagt Erich Gluch, Immobilien-Analyst beim Münchner Ifo-Institut, voraus. Wobei zur statistischen Breite auch teils erhebliche Preisausschläge nach unten und nach oben gehören.

Im statistischen Durchschnitt sind Immobilien, also Häuser und Wohnungen, in etwa so teuer respektive so preiswert wie vor zehn Jahren. Anders verhält es sich in der Metropole München und an deren Peripherie. In Ostdeutschland indes finden Schnäppchenjäger mittlerweile ein sehr preisgünstiges Angebot.

Dass sich zumindest am durchschnittlich günstigen Preisniveau in Deutschland vorläufig nichts ändern dürfte, dafür sprechen mehrere Gründe. Vor allem die schärfste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg und die daraus resultierende Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Wer nicht weiß, ob er in einigen Monaten noch einen Job hat, der wird langfristige finanzielle Verpflichtungen vermeiden.

Wen das nicht kümmert, der hält sich ebenfalls zurück beim Erwerb und bei der Finanzierung. Aber aus einem anderen Grund. So haben wissenschaftliche Untersuchungen übereinstimmend ergeben, dass die Nachfrage nach Baudarlehen in Zeiten niedriger Hypothekenzinsen stagniert oder zurückgeht. Viele Häuslebauer in spe hoffen dann, dass die Zinsen weiter fallen. Sobald Baugeld teurer wird, steigt das Interesse an Krediten - aus Sorge, dass die Zinsen weiter anziehen.

Bei Darlehen kommt es

heute auf Flexibilität an

In München steigen die

Preise, im Osten fallen sie

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Hypothek

Ohne fremdes Geld wird eine Wohnimmobilie in Deutschland so gut wie nie erworben. Denn nur wenige Menschen besitzen so viel Vermögen, um das Haus im Grünen oder die Eigentumswohnung ausschließlich mit Eigenkapital zu kaufen oder zu bauen, schon gar nicht junge Familien. Der wichtigste Bestandteil einer Immobilienfinanzierung sind neben Bausparkrediten sogenannte Annuitäten-Darlehen von Sparkassen oder Banken.

Diese Darlehen allerdings werden nur vergeben, falls die Institute Vorsorge tragen für den Fall, dass der Kreditnehmer seinen

finanziellen Verpflichtungen

(Zinszahlung und Schuldentilgung) nicht mehr nachkommen kann. Diese Absicherung geschieht über die erworbene Immobilie. Sie kann, sollten alle Stricke reißen, durch die finanzierende Bank zwangs-

verwertet werden. Diese Schuld wird im Grundbuch eingetragen und mit dem Fachbegriff "Hypothek" bezeichnet.

Die Banken und Sparkassen wollen üblicherweise für ein Hypotheken-Darlehen an erster Stelle des Grundbuchs stehen. Deshalb spricht man von der ersten Hypothek, auch 1a-Hypothek genannt. Bei finanziellen Schwierigkeiten des Kreditnehmers und einer möglichen Zwangsversteigerung der Immobilie wird die 1a-Hypothek als erstes durch den Verkaufserlös bedient. In der Regel erweitert sich der Finanzierungsrahmen des Immobilienkäufers oder des Bauherrn durch die zweite

Hypothek (auch 1b-Hypothek

genannt).

Gefordert wird ein

zweitrangiges Grundpfandrecht

und oftmals auch eine Bürgschaft.

Sobald die Banken und Sparkassen einen Teil des Immobilien-

Darlehens durch eine 1b-Hypothek absichern lassen, kostet dies den Bauherrn einen um viele Zehntel Prozentpunkte höheren Darlehenszins. Auf diese Weise lassen sich die Geldgeber das - zumindest theoretisch - erhöhte Risiko

abgelten. Bauspardarlehen werden in der Regel sowieso an zweiter Rangstelle des Grundbuchs

eingetragen. simo

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SZ Wochenende

bringt morgen:

Wasser und Politik

Vollmondabfüllung, Horrorflakons und privatisierte Quellen in den Schwellenländern. Sprudel ist heute "Aqua Gaga"! Von Stefan Gabányi

Büro und Wahnsinn

Peter Piller macht aus dem trüben Alltag in deutschen Firmen und Vororten sehr reizende Kunst. Eine Doppelseite. Von Holger Liebs

Lüge und Hollywood

Der US-Psychologe Paul Ekman im großen Interview: "Mir entgeht kein Gesichtsausdruck. Die Trefferquote ist 100 Prozent." Von Michaela Haas

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Bilder sehen sich an

Die Frankfurter Schirn zeigt das umstrittene Spätwerk des abstrakten Malers Ernst Wilhelm Nay

Ein "Farbsetzer" wollte er sein, so wie der Komponist Tonsetzer ist. Angesichts der seriellen Radikalität, mit der Ernst Wilhelm Nay (1902 bis 1968) den Anspruch auf, wie er sagte, "absolute Malerei" in seiner letzten Werkphase umgesetzt hat, kommt der Besucher der soeben eröffneten Ausstellung in der Frankfurter Schirn aus dem Staunen nicht heraus: Ist das noch der Maler der Nierentischära, dessen "Scheibenbilder" in der Nachkriegszeit die Kunstkalender füllten? Und was ist von dieser reduzierten Palette plakativer, kaum vermischter und beinahe poppiger Farben zu halten, von der Berührung grüner und blauer, schwarzer, gelber und violetter Farbflächen? Und von jenem grellen, zu breiten Farbbändern ausgebreiteten Gelb auf nebeneinander hängenden großformatigen quadratischen Tafeln, vor denen man mit Gottfried Benn ausrufen möchte: "Das ist reines Gelb. Das löst wie Zuckerei, da kann Gott nicht weit sein ..."

Mit Gottfried Benns artistischer Konfession, die das "Gemachte" der Kunst verkündete, während der vielbelesene Maler E. W. Nay in dem Dichter den Geistesverwandten wähnte, ist man in keiner schlechten Gesellschaft in Gegenwart der rund 30 letzten großen Bilder Nays, den von ihm so genannten "elementaren" Bildern. Sonst stünde man im bogenüberwölbten Saal der Schirn nämlich da wie der Maler selbst, der von sich sagte: "Also bin ich allein mit meiner Leinwand, vollkommen allein nach allen Seiten" - allein vor diesen merkwürdigen Gemälden mit ihren von Ketten, Bändern und Spindeln, von Ellipsen und Bögen oder nach Art von Arabesken mit floralen und amorphen Ornamenten durchzogenen Kompositionen, die wie aus einem eigenen inneren Antrieb heraus über die Bildränder hinausdrängen, sich nach allen Seiten im Raum ausdehnen wollen. Wüsste man nicht um den Künstler, so würde man sich vielleicht in einer Schau der New York School wähnen und erinnerte sich womöglich der Frage, die Barnett Newman im Jahr 1948 stellte: "Kann jemand irgendeinen europäischen Maler nennen, der fähig ist, sich vollkommen von der Natur zu befreien?"

Ja, man kann: Ernst Wilhelm Nay war oder wäre jener Maler gewesen, der sich die "wahrhaft abstrakte Welt" Newmans und seiner Malerkollegen Adolf Gottlieb, Mark Rothko und Clyfford Still zum Ziel auch seiner Kunst gesetzt hatte: "NAY", das ist nach der letzten handschriftlichen Kritzelei des Malers vor seinem Tode, "Malerei ohne Geometrie, ohne Illusion, ohne Optik, ohne Mythos".

Früh zog der humanistisch gebildete Berliner Beamtensohn, der sein Malerhandwerk bei Karl Hofer gelernt hatte, die Aufmerksamkeit von Kunstkritikern wie Paul Westheim und Will Grohmann, von Kunsthistorikern wie Carl Georg Heise und Werner Haftmann sowie von Galeristen wie Günther Franke auf sich. Dem - wie er sich selbst nannte - jüngsten unter den verfemten Malern (zwei seiner Bilder hingen 1937 in der Ausstellung "Entartete Kunst" in München) vermittelte Heise einen längeren Aufenthalt bei Edvard Munch in Norwegen, wo die Reihe der "Lofoten"-Bilder entstand. Den Krieg verbrachte Nay in Frankreich als Kartenzeichner, und fand in der Nachkriegszeit für sechs Jahre Zuflucht in Hofheim im Taunus, im Haus der Kunstsammlerin Hanna Bekker vom Rath. Seit 1951 bewohnte Nay ein Atelierhaus in Köln. Verhältnismäßig schnell kam er zu künstlerischem Erfolg, nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland und in Übersee. Einzelausstellungen und die Teilnahme an einer Schau des MoMA führten Nay seit 1955 mehrmals nach New York, wo er Mark Rothko und Robert Motherwell kennenlernte.

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms regte ihn Arnold Bodes für die dritte Kasseler documenta 1964 zu drei übergroßen, tonnenschweren Tafeln in den Farbkontrasten Blau-Rot-Gelb, Weiß-Schwarz-Grau und Rot-Grün an. Bode ließ sie hintereinander und schräg versetzt als Deckengemälde über einem korridorähnlichen Raum anbringen. In Nays Ouvre gehören sie zu den "Augenbildern" - das Augenmotiv resultiert aus dem Durchstreichen jener "Scheiben", die in Nays Vorrat an Elementarformen als Hauptvokabeln fungierten. Was den Betrachter hier so spektakulär von oben herab anblickte, war in der neueren Kunstgeschichte ungewöhnlich. Als logistische Meisterleistung der Frankfurter Schau ist die Kasseler Installation, an der sich seinerzeit heftige öffentliche Anfeindungen gegen Nay und lautstarke Polemiken für und wider die abstrakte Kunst entzündeten, in der Schirn originalgetreu rekonstruiert. Wie eine triumphale Schleuse ins Reich der reinen Kunst leitet diese Rauminstallation den Übergang zu Nays letzten, den "elementaren" Bilder ein.

Anders als die Retrospektiven zu Nays 100. Geburtstag im Jahr 2002 und die Ausstellung von Aquarellen und Gouachen zwei Jahre darauf in der Münchener Pinakothek der Moderne verzichtet die von Ingrid Pfeiffer kuratierte Frankfurter Präsentation bewusst auf die Demonstration dieser Entwicklung. Der Purismus, Nays letzte Werke allein für sich selbst sprechen zu lassen, ist dem Selbstverständnis dieses Malers angemessen. In der Wiederholung, mit der hier eine relative geschlossene Werkgruppe quasi wie neu präsentiert wird, wird der souveräne und provokante, auch von unverzichtbarem Hochmut nicht ganz freie Gestus des Künstlers deutlich. Den neuerlichen Test bestehen diese Werke, die aufgrund ihres Reduktionismus zu Nays Lebzeiten von der Kunstwelt eher zurückgewiesen wurden, heute mühelos. Statt zu verblassen, wie so vieles andere aus ihrer Zeit, haben sie in vier Jahrzehnten an Leuchtkraft oder - mit einem Wort von Werner Haftmann, Nays erstem Monographen - an "Blickkraft" gewonnen und strahlen zurück. Lauter letzte, lauter erste Bilder.

VOLKER BREIDECKER

"E. W. Nay. Bilder der 1960er Jahre" in der Schirn in Frankfurt am Main bis zum 26. April. Katalog 24,80 Euro. Info: www.schirn-kunsthalle.de

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Keine Angst vor der Wiederholung: E.W. Nays "Metablau (Rot-Ultramarin)" von 1967 Abb.: E. Nay-Scheibler, Köln

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Georg Katzer music alliance membran

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Szene mit Izumi Shuto und Ihsan Rustem in "Before the Tempest . . ." von Cathy Marston Foto: Philipp Zinniker

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Die fantastischen Vierbeiner

Ein zweiteiliger Ballettabend zu Shakespeares "Sturm" in Bern

In Bern stehen die Zeichen auf Sturm. Nicht, dass einen das beunruhigen müsste. Im Gegenteil: Der frische Wind, der hier zurzeit über das Bühnengeviert in der Vidmarhalle weht, beflügelt. Bei Cathy Marston, der Choreographin aus London, die nach vier Jahren mit Richard Wherlock in Luzern und sieben Jahren als freie Choreographin im Sommer 2007 die Leitung des Bern-Balletts übernahm, wussten einige schon vorher, was sie erwarten würde. Denn ihr Stück "Before the Tempest . . . After the Storm" wurde bereits 2004 als Pro- und Epilog einer Auftragsoper von Thomas Ades zu Shakespeares "Sturm" an der Royal Opera in London uraufgeführt und heftig gelobt.

Die beiden Duette auf leerer Bühne zur akustischen Untermalung von Jules Maxwell gehen nunmehr nahtlos ineinander über und verweisen auf das komplexe Verhältnis von vier Figuren zueinander: Die Hexe Sycorax und ihr Sohn Caliban als Erdengeschöpfe, der Zauberer Prospero und Ariel als Geist- und Luftwesen. Sycorax (Martina Langmann) entzieht sich Prosperos Herrschaft durch den Tod; Caliban (Chien-Ming Chang) wird von ihm sehr grob, Ariel hingegen auf subtile, aber nicht weniger grausame Weise versklavt.

Ein monströs verstärkter Schrei begleitet die Geburt des Caliban. Noch eins mit seiner Mutter, wankt diese schwerfällig in ziegelrotem Mantel einher, die nackten Füße, das Gesicht irden brüniert. Es entwindet sich ihr ein wildes Geschöpf mit Lendentuch, braun wie sie, das sich zunächst noch um ihren Leib legt, dann aber, wohl auch gezwungenermaßen, sein höchst lebhaftes Einzeldasein in kraftvollen Drehsprüngen, gleichwohl mit nachdrücklicher Bodenhaftung, an den Tag legt. Die ihm das Leben schenkte, liegt tot am Boden, Caliban schreit einen stummen Schrei, bis ihn Dunkel umhüllt. Statt des erdhaft-expressiven Paares thronen nunmehr weit noblere Wesen, weiß und blau, auf dem Stein. Die schwerelose Ballettpose passt zu ihrer luftigen Allüre. Ariel (Jenny Tattersall) ist, platziert auf Prosperos Händen (Erick Guillard) wie der Falke auf dem Arm des Falkners, allzeit bereit, für seinen Herrn auszufliegen - ein letztes Mal, angesichts baldiger Rettung nun frei.

Cathy Marston hat ein Händchen dafür, die Vorgänge und Stimmungen um ein Geflecht von Abhängigkeiten ebenso genau wie eindringlich zu erzählen. Ihr halbstündiges Diptychon empfiehlt sich als saubere Arbeit - ein hübsches Vorspiel zu "Pfeil nach rechts" von Guilherme Botelho.

Es ist das erste Mal, dass der Brasilianer aus São Paulo, der schon für Oscar Araiz in Genf tanzte, für diese Uraufführung mit einer anderen als seiner eigenen Kompanie Alias in Genf gearbeitet hat. Die an Lautstärke und Intensität an- und abschwellende elektronische Klangfolie von Murcof trägt zur atemberaubenden Spannung eines Stückes "für 1200 Tänzer" (O-Ton Botelho) bei, die er fünfzig Minuten lang zu halten versteht.

Zwölf Tänzerinnen und Tänzern queren ununterbrochen von links nach rechts in wechselnden Formationen die nackte Bühne, variieren Tempo und Bewegung derart, dass man sie nicht zählen kann. "Such stuff that dreams are made on" - das Motto dieses zweiteiligen Abends nach Motiven aus Shakespeares Drama "Der Sturm", hat den Choreographen offenbar tiefer angerührt als das Thema selbst, das ihm vorgegeben war. Es sind eben nicht nur vom Wind verwehte, sich diesem entgegenstemmende Kreaturen, die er meint, sondern solche, die durch die Zeiten getrieben werden und deren Evolution zum Homo erectus Botelho nachzeichnet.

Man schaut staunend auf diese Wesen, die im Vierfüßlerstand über die Bühne schlurfen wie behäbige Primaten und im nächsten Augenblick, die Beine ein wenig gestreckter und flinker voran, Weberknechten auf Wanderschaft gleichen, während andere, unförmigen Reptilien ähnlich, in embryonaler Krümmung über den Boden krauchen. Die "1200" Tänzer verwandeln sich dabei in mindestens ebenso viele Arten, bis einer von ihnen aufsteht. Jetzt bekommt das instinktive Vorwärts, das nur von wenigen Kehrtwendungen, Rückwärtsrollen oder gelegentlichem Innehalten unterbrochen wird, eine andere Qualität: Ihm wächst Bedeutung hinzu. Die ins Leere gereckten Arme zweier tanzender Menschen inmitten von Paaren zeigen Sehnsucht an.

Und wenn sie alle über die Bühne jagen - windschlüpfrig, da aller Kleider entledigt - sind wir endlich angekommen in der großstädtischen Alltagshatz, die keinen Gegenverkehr duldet. Die Pointe daran: Botelho choreographiert die Regression auf vier Füße mit. Da capo? Gern. EVA-ELISABETH FISCHER

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Jedes Tor ist offen

Komponist Georg Katzer über die Neue Musik-Szene der DDR, die bei Berlins Ultraschall Festival wiederbelebt werden soll

Die Neue Musik in der DDR steht im Mittelpunkt des heute beginnenden Ultraschall Festivals in Berlin. Das Thema: Wie steht es um die Halbwertzeit der Werke, die in der kleinen, aber regen ostdeutschen Musikszene seit den sechziger Jahren entstanden sind? Zu den tonangebenden Komponisten der DDR gehörte auch der 1935 geborene Georg Katzer.

SZ: Zur Eröffnung erklingt ihr 1990 geschriebenes Werk "Mein 1989". Würden Sie das heute anders komponieren?

Georg Katzer: Ich glaube nicht. Meine Sicht der Dinge ist auch nach 20 Jahren noch immer die gleiche. Außerdem ist in dem Stück die Musik nur eine von mehreren Schichten. Ebenso wichtig sind die Geräusche vom Zerlegen der Mauer und akustische Dokumente wie Redeausschnitte von Honecker und Mielke. Und die haben sich ja auch nicht verändert.

SZ: Wenn am Ende von "Mein 1989" die Mauer fällt, kann man das als einen Aufbruch verstehen. Haben sich die Hoffnungen erfüllt, die Sie damals hegten?

Katzer: Es haben sich nur meine Hoffnungen als Bürger, Konsument und Reisender erfüllt. Als Künstler und Komponist sehe ich die Entwicklung zwiespältiger: Innerhalb weniger Jahre wurde die ostdeutsche Neue-Musik-Szene abgewickelt. Wenn ich heute Festivalprogramme aufschlage, tauchen keine Namen ostdeutscher Komponisten mehr auf.

SZ: Vielleicht hat es ihren Kollegen ja auch einfach die Sprache verschlagen?

Katzer: Nein, die komponieren schon noch. Aber an den Schaltstellen sitzen jetzt Leute, die ihre Klientel und ihren Geschmack mitgebracht haben. Das will ich nicht verurteilen - nur etwas Neugier auf die Musik, die aus der DDR erwachsen ist, würde ich mir schon wünschen.

SZ: Haben die Ereignisse von 1989 Ihre Art, Musik zu schreiben, verändert?

Katzer: Ich glaube, dass kaum feststellbar ist, ob man als Komponist auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert oder ob Veränderungen einfach das Resultat eines persönlichen Reifeprozesses sind, der vielerlei Ursachen haben kann. Anlässe für Wut, Verzweiflung und Wohlgefühl gibt es ja immer, aber die Musik kann nur den Zustand ausdrücken, nicht aber den Grund dafür.

SZ: Schostakowitsch hat sein Leiden unter dem Stalin-Terror kaum verschlüsselt in seiner Musik verarbeitet.

Katzer: Vermutlich hätte er auch unter anderen Verhältnissen so geschrieben. Außerdem hat er auch ganz andere Musik geschrieben. Die Filmmusik "Der helle Weg" ist reinste Operette. Ich denke sogar, dass ihm das Spaß gemacht hat.

SZ: Sie haben geschrieben, dass die Ereignisse des Prager Frühlings ihr Weltbild erschüttert hätten.

Katzer: Das war allerdings ein Einschnitt, zumal ich teilweise in Prag studiert hatte und dort noch in der Nacht vor dem sowjetischen Einmarsch bei Freunden war. Die Stimmung in dieser Nacht war optimistisch. Dass an der Grenze schon die Panzer standen, wusste keiner von uns. Bis dahin habe ich ja wie viele meiner Freunde geglaubt, dass der Sozialismus irgendwann zu einem guten Ende finden würde und habe im Pathos der gesellschaftlichen Erwartungen komponiert. Das hat sich dann geändert. Vor allem die Schlüsse meiner Werke wurden immer leider. Da war nichts kräftiges, knalliges mehr.

SZ: Sie haben davon gesprochen, dass die politischen Inhalte von Musik schwerer fassbar sind als bei anderen Künsten. Wie haben sich denn Einflussnahme und Zensur in der DDR überhaupt geäußert?

Katzer: Um ein Beispiel zu geben: Eines meiner Stücke besaß als zentrales Element ein Klavierriff, das immer wieder über die ganze Tastatur brauste - eine Betriebsamkeit, die aber zu keinem Ergebnis führte. In Verbindung mit dem Titel "La révolution permanente" wurde das natürlich nicht gern gesehen. Ich habe das Stück nach der Wende bearbeitet und "Hektischer Stillstand" getauft. Mit Revolution war da ja nichts mehr. Oder der Auftrag für ein Rundfunkoratorium, für das ich Texte des ohnehin nicht besonders gelittenen christlichen Lyrikers Johannes Bobrowsky ausgewählt hatte. Bei der Textzeile "Jedes Tor ist offen" hat die Abnahmekommission natürlich die Mappe zugeklappt und die Auftragserteilung an mich abgelehnt.

SZ: Wurden Sie nicht dazu gedrängt, volkstümlicher zu schreiben?

Katzer: Klar, die Appelle gab es. Aber wenn jemand an mich herantrat und mir sagte ich solle doch bitte im Stil des sozialistischen Realismus schreiben, habe ich einfach geantwortet: Aber was ich schreibe, ist sozialistischer Realismus! Da wollte dann in der Regel keiner mehr weiterdiskutieren. Vielleicht auch, weil vielen, die uns kontrollieren sollten, das peinlich war oder sie sogar Sympathien für uns hatten. Immerhin hat mich das Kulturministerium nach Bratislava ins Studio für elektroakustische Musik geschickt, und jedes Jahr pilgerten 15 bis 20 Komponisten zum Warschauer Herbst und sogen dort die Einflüsse von Penderecki und Lutoslawski auf. Die DDR war kein Monolith, sondern bot auch Leuten Raum, die nicht auf Linie waren und statt des offiziellen Karrierewegs eine freischaffende Künstlerexistenz wählten.

SZ: Wie groß war die Szene?

Katzer: Es gab wohl einige hundert E-Musik-Komponisten, die oft nebenberuflich komponierten. Der Anteil derjenigen, die wie Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Rainer Bredemeyer und ich echte zeitgenössische Musik schrieben, war allerdings klein: Ich schätze diesen harten Kern auf etwa 20, 30 Köpfe.

SZ: Im Westen haben sich die Komponisten der fünfziger und sechziger Jahre radikal vom Publikum abgewandt. Wäre das auch für die Komponisten der DDR ein Weg gewesen?

Katzer: Theoretisch vielleicht. Aber Komponieren funktioniert ja anders: Man will etwas mitteilen und wird dann bei der Arbeit unversehens zu seinem eigenen Publikum. Und hinterher ist man tief enttäuscht, wenn einen die Leute nicht verstehen und nicht merken, dass die Musik auch von ihren eigenen Verletzungen handelt. Entscheidender ist jedoch: Die Komponisten der DDR mochten avantgardistisch schreiben, sie ließen jedoch den traditionellen Werkbegriff unangetastet. Deshalb wurde zwar Zwölftonmusik rezipiert, Phänomene wie John Cage oder die Minimal Music gingen an der DDR jedoch spurlos vorüber.

SZ: War das Publikum für Neue Musik in der DDR ein anderes als heute?

Katzer: In jedem Fall war es gut und umfangreich. Selbst bei elektroakustischer Musik stürmten die Leute die Kasse. Und sicher gab es einen anderen Hunger auf Kultur, weil von ihr eine Alternative erwartet wurde.

Interview: Jörg Königsdorf

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NACHRICHTEN

Einen Tag vor dem 20. Todestag von Salvador Dalí hat die spanische Polizei 81 mutmaßliche Kunstwerke des berühmten Surrealisten beschlagnahmt. Wie die Ermittler am Donnerstag mitteilten, ist ein Teil dieser Werke vermutlich gefälscht, ein anderer Teil gestohlen worden. Die Beamten stellten die Kunstwerke in einem Hotel in der südspanischen Urlauberhochburg Estepona an der Costa del Sol sicher.

Eine Pressekonferenz des Theatermachers Hubsi Kramar, der ein Stück zum Inzestfall Fritzl angekündigt hat (SZ vom 22. Januar), hat am Donnerstag in Wien unter Polizeischutz stattgefunden. Kramar hatte Drohbriefe erhalten. Auch die für Februar angekündigten fünf Vorstellungen von "Pension Fritzl" sollen von der Polizei geschützt werden.

Der Schriftsteller Siegfried Lenz erhält den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009. Das Lew-Kopelew-Forum in Köln würdigt damit die Verdienste des in Ostpreußen geborenen Schriftstellers, teilte der Hoffmann und Campe Verlag am Donnerstag in Hamburg mit. Lenz habe sich in seinen Werken und seinem Tun stets für die Annäherung und den Ausgleich zwischen den Völkern ausgesprochen. Die undotierte Auszeichnung wird dem 82-Jährigen am 29. März in Köln verliehen. SZ

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Maillols Muse

Dina Vierny, Modell des Bildhauers, ist gestorben

Wer in den Tuilerien spaziert, wird ihre üppige, bronzene Weiblichkeit schon oft bewundert haben. Die 18 monumentalen Skulpturen, die hier aufgestellt sind, wurden von Aristide Maillol geschaffen, der einmal sagte: "Geben Sie mir einen Garten, ich werde ihn mit Statuen bevölkern". Diesen Wunsch erfüllte er sich im Garten des Ateliers im Hinterland seines Geburtsorts Banyuls-sur-Mer am Fuße der französischen Pyrenäen, wo er von 1940 bis zu seinem Tod 1944 lebte. Besagte Statuen wurden 1964 dem französischen Staat geschenkt - von jener Frau, die Maillol Muse und Modell war und deren schwellender Körper sein Spätwerk prägte: Dina Vierny. André Malraux, der damalige Kulturminister, war so galant, die Plastiken in den Tuilerien aufstellen zu lassen.

Dina Vierny, die am 25. Januar 1919 in Moldawien geboren wurde, kam 1925 mit ihren jüdischen Eltern nach Paris, wo sie in den dreißiger Jahren als junges, sehr selbstbewusstes und politisch engagiertes Mädchen in Kontakt mit den Surrealisten kam, als Nebendarstellerin in Filmen agierte. 1934 begegnete sie erstmals Maillol, dem sie in seinem damaligen Atelier Modell stand. In ihr begegnete Maillol seinem Ideal üppiger, aber noch unschuldiger Weiblichkeit. "Das junge Mädchen", so sagte er einmal, "ist für mich das Wunder der Welt und eine immerwährende Freude."

Nach Ausbruch des Krieges 1940 ging Vierny mit Maillol in die Pyrenäen und schloss sich der Résistance an. Gemeinsam mit ihm organisierte sie die "Voie Maillol", einen Weg, auf dem Flüchtlinge aus dem besetzten Frankreich unbemerkt nach Spanien gelangten. Um die Gefahr für sie zu tarnen, entschloss sich Maillol, seine Muse an die Malerfreunde Raoul Dufy, Henri Matisse und Pierre Bonnard als Modell "auszuleihen".

Nach dem Tod Maillols bei einem Autounfall verwandte Dina Vierny ihre ganze Energie darauf, dem Werk Maillols, der im Nachkriegsfrankreich wegen seiner Verbindungen zum Nazi-Bildhauer Arno Breker geächtet war, Anerkennung zu verschaffen. Diesem Einsatz ist nicht zuletzt 1995 die Eröffnung der "Fondation Dina Vierny - Musée Maillol" in der Rue de Grenelle zu danken, über dem sie bis zu ihrem Tod am Dienstag kurz vor ihrem 90. Geburtstag lebte. Am Samstag wird Dina Vierny im engsten Familienkreis beigesetzt. JOHANNES WILLMS

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Dina Vierny neben Aristide Maillol (1944). Foto: AFP

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Meine Mutter, meine Feindin

Franquismus und Machismus: Maria Barbal erzählt von einer Jugend in Katalonien

Irgendwann, vermutlich in den vierziger Jahren, hat Ritas Mutter, eine einfache Frau aus Katalonien, sich die Augenbrauen ausgezupft, weil ein Kohlestrich damals in der westlichen Welt für schicker gehalten wurde. Es ist die einzig mondäne Tat, die die Tochter an der Mutter je bemerkt hat. Davon abgesehen, hat die Mutter eigentlich nur noch eine einzige freie Entscheidung gefällt: Sie hat einen Mann geheiratet, der nicht aus ihrem Dorf stammt, der nicht von der Feldarbeit lebt. Mit dieser Wahl hat sie auf ihr Erbe und auf ihre Heimat verzichtet. Es war eine Flucht.

In dem Dorf, aus dem Ritas Mutter in eine Ehe entflohen ist, wurde der Vater der Mutter während des Spanischen Bürgerkriegs von den franquistischen Faschisten umgebracht und in einem Massengrab verscharrt. Ritas Mutter hat den Mord an ihrem Vater nie verwunden. Sie schämt sich, sie tut Buße, ihr Leben lang. Sie hat das Kreuz auf sich genommen, Dienerin von Mann und Sohn zu sein. Sie dient nicht Franco, sondern dem spanischen Machismo. An ihrer Tochter lässt sie ihren Hass auf sich selbst und ihre unglückliche Geschichte aus. Sie überschüttet die Tochter mit Schmähungen. Schon als Fünfjährige lernt Rita, sich minderwertig und schuldig zu fühlen. Allmählich merkt sie: Die Mutter lebt in einem eigenen, in ihrem "inneren Land". Das ist Rita fremd, sie will es ergründen.

Maria Barbals Roman "Inneres Land", ihr zweites Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde, greift vieles auf, was die in einem katalanischen Dorf geborene Autorin selbst erlebt hat. Es ist ein langer Monolog, den die Tochter an die Mutter richtet, ein um Verständnis heischendes Plädoyer. Sie erzählt der Mutter, wie sie ihre Kindheit und Jugend wahrgenommen hat. Das Buch ist wie ein langer Brief, in dem die Mutter oft mit "du" angesprochen wird. Diese Erzählperspektive ist schwierig, weil sie die Gefahr birgt, allzu emphatisch zu wirken. "Mir wird klar, dass du mit der Welt haderst und gar nicht so sehr auf mich böse bist. Aber dann höre ich dein Schluchzen und mir ist, als ob ich den Boden unter den Füßen verliere, ich bleibe stehen und muss dich immerzu anschauen", sagt Rita. Kann man diesen Stil lange durchhalten, ohne den Lesern ein bisschen auf die Nerven zu gehen?

Ja, man kann. Maria Barbal hat nämlich einen Kunstgriff angewandt, der glanzvoll aufgeht: Ihre Ich-Person, Rita, beginnt ihre zumeist im Präsens gehaltene Rede an die Mutter in der Zeit, als sie ein kleines Kind ist. Von ihrem Unverständnis und ihrem hilflosen Staunen über die Welt der Erwachsenen zeugt ihr Bericht. Da wird nichts im Nachhinein rationalisiert. Rita schreibt auf, wie ihr als Volksschulkind zumute war und wie sie ihre Umgebung in jener Zeit wahrgenommen hat. Damals hat sie begriffen: Die Mutter missbilligt, dass eine katalanische Nachbarin einen nicht aus Katalonien stammenden Polizisten geheiratet hat. (Der Polizist arbeitet für das Regime, aber vom Regime weiß Rita als kleines Kind noch nichts.) Außerdem hat sie begriffen, dass die Mutter keine Ausbildung hat. Sie denkt, ihre Mutter möge sie allenfalls deshalb, weil sie selbst zur Schule geht. "Ich bin unwissend. Doch das ist die einzige Beleidigung, die du dich niemals trauen würdest, mir an den Kopf zu werfen." Diese zwei Dinge hat Rita schon sehr früh verstanden. Und nun, das ist Maria Barbals literarische Taktik, will man wissen, wie sich die Geschichte von Ritas allmählicher Reifung entfaltet. Wann wird sie was verstehen? Wie wird die Autorin es darstellen?

Weil Maria Barbal genau kennt, was sie beschreibt, ist ihr etwas ganz Ungewöhnliches gelungen: Ein Entwicklungsroman, der Ritas Reifung nicht bloß psychologisch und politisch, sondern auch in der Sprache zeigt. Rita wird älter, verständiger. Erst in den Kapiteln über ihre Jugend wird ihr die "Ohnmacht" der Mutter klar, die sie als Kind "hinter all deiner Energie" lediglich "zu erahnen glaubte". Und der Vater, der sie liebt, zeigt sich ihr allmählich als ein Mann, der durchaus seine Schwächen hat. Rita sucht sich selbst. Und so wie einst ihre Mutter sich die Augenbrauen auszupfte, bearbeitet sie nun auch ihre Haare: Sie bittet eine Bekannte, sie möge ihre wilden Locken mit einem Bügeleisen plätten, das dürfte etwa Mitte der sechziger Jahre sein. Weil die 1949 geborene Autorin selbst dichtgelocktes Haar hat, mag man für möglich halten, dass sie sich diese Episode nicht ausgedacht hat.

"Inneres Land" erzählt auch, was die Historiker "Geschichte von unten" nennen. Je mehr Maria Barbal von Francos Spanien erzählt, desto mehr will man erfahren. Ritas Reifung geht mit der Emanzipation der spanischen Bevölkerung vom Franco-Regime einher. So unterdrückt wie Rita als Kind ist, so unterdrückt lebten die Spanier in den vierziger und fünfziger Jahren. Und so wie viele Spanier in den sechziger Jahren Francos Regierung für verknöchert und überlebt zu halten begannen, lernt Rita in dieser Zeit die Lust auf Freiheit und Selbstbestimmung.

Wie die Autorin selbst es getan hat, fängt auch Rita damals in Barcelona ein Studium an. Sie beginnt, sich zu emanzipieren, trägt einen roten Minirock und lässt sich in die Studentenproteste einbinden. Nur von ihren Schuldgefühlen der Mutter gegenüber kommt sie nicht los. Sie liebt sie und findet schließlich in der Politik die Ursache dafür, warum die Mutter sie immer so schlecht behandelt hat: Als die Faschisten den Vater der Mutter erschossen, haben sie auch sie um ihr Leben gebracht. Manchen Lesern wird nicht ganz einleuchten, dass wirklich nur die franquistischen Verbrechen die Lieblosigkeit der Mutter erklären sollen. Warum soll eine Spanierin allein aus der Ermordung ihres Vaters den Schluss ziehen, dass Mädchen und Frauen lediglich als Anhängsel eines Mannes etwas wert seien? Warum muss sie deshalb ihre kleine Tochter gewaltsam packen und ihr ohne jede Zärtlichkeit Ohrlöcher stechen, damit das Kind bei der Kommunion "gut" ausschaue? Rita sieht es aber nun einmal so. Und es ist in der Tat denkbar. Es wird vorgekommen sein.

Eines Tages begibt Rita sich auf die Suche nach dem Namen des Mannes, der ihren Großvater während des Bürgerkriegs bei den Faschisten denunzierte. Sie findet ihn. Da entfaltet Maria Barbal, was sie mit Andeutungen vorbereitet hat: einen kleinen historischen Krimi und zugleich eine zarte Liebesgeschichte. Zu den Befreiungen, die Rita erlebt, gehört aber auch die Entdeckung, dass man keine Ohrlöcher braucht, weil es Clips gibt. FRANZISKA AUGSTEIN

MARIA BARBAL: Inneres Land. Roman. Aus dem Katalanischen übersetzt von Heike Nottebaum. Transit Verlag, Berlin 2008. 398 Seiten, 22,80 Euro.

Barcelona im Aufbruch, 1969: Eine Demonstration gegen General Franco Foto: Keystone/laif

Maria Barbal Foto: Isolde Ohlbaum

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Thron der Herrlichkeit, Wonne des Erdenkreises

Seit Jahrhunderten studieren Architekten die Hagia Sophia in Istanbul. Ein neuer Band erzählt die Bildergeschichte des Bauwerks - bis zur Digitalisierung

"Du Himmel auf Erden, Thron der Herrlichkeit Gottes, zweite Himmelsfeste, Verkünderin der Werke Gottes, du einzigartiger Bau, einzigartiger Anblick, du edler Wurzel entsprungene Wonne des Erdenkreises!" Mit diesen Worten pries der Historiker Niketas Choniates 1204 die damalige Kathedrale Konstantinopels, die Sophienkirche. Seit ihrer schwindelerregend zügigen Entstehung (532 bis 537) unter dem spätrömischen Kaiser Justinian gibt die Hagia Sophia Rätsel auf. Man hat versucht, ihr mit Poesie nahezukommen und sie in die Reihe der Weltwunder aufgenommen. Seit dem neunzehnten Jahrhundert wurde sie vermessen und erforscht. Und immer hat man sie auf Zeichnungen, Stichen und Fotos gebannt, um in Bildern ihren Ruhm in aller Welt zu mehren.

Die Darmstädter Landesbibliothek hat nun in einem Bildband die Frage nach der "Medialisierung" der Hagia Sophia aufgeworfen. Seit dem ausgehenden Mittelalter haben sich Architekten aus Orient und Okzident intensiv mit dem Bauwerk auseinandergesetzt, Pläne, Risse und Ansichten gezeichnet, um die legendenumwobene Konstruktion verstehen zu können. Diese Bilder erzählen viel - wie nicht anders zu erwarten - über die jeweilige Zeit ihrer Entstehung. Guiliano da Sangallo etwa konturierte die ornamentale Wandfelderung so stark, dass sie an Marmorintarsien italienischer Renaissancekirchen erinnert. Das Barock liebte es, den gigantischen Raum mit Menschen zu beleben. Mal sind es kämpfende Muselmanen, mal verschleierte Damen, mal unbeteiligte Passanten, Repoussoirfiguren, die dem Betrachter den Weg zum Verstehen eröffnen sollen. Erst die Darstellungen des 19. Jahrhunderts ergründen nicht mehr allein die Raumdisposition, sondern das Raumerlebnis. Durch den Fensterkranz unter der goldgelben Kuppel dringt gleißender Sonnenglanz ins Innere, die massigen Bauglieder verlieren die Schwere und schweben im Licht.

Anlass des vorliegenden Bandes - der kein bibliophiles Meisterwerk ist, aber ausgestattet mit brillanten Abbildungen - war die digitalisierte Bearbeitung des Innenraumes durch die Technische Universität Darmstadt, die eine virtuelle Rekonstruktion des Urzustandes der Hagia Sophia ermöglichen soll. Der Leiter des Projekts, der Archäologe Rudolf Stichel, hat in Ergänzung der eigenen Aktivitäten die grandiosen Bestände der Darmstädter Bibliothek ausgewertet, um zu sehen, wie seine Vorgänger mit der Visualisierung des Raumwunders umgingen. In einer konzentrierten Einleitung blättert er im Kapitel der Rezeptionsgeschichte. Das geschieht mit großer Kenntnis und Gelassenheit, im Bewusstsein der Relativität des eigenen Bemühens und mit der Freude am architektonischen Faszinosum, die auch nach forschungsreichen Jahren nicht gemindert scheint. Man kann sich nur verneigen vor einem solch geheimnisvollen Bauwerk, das die letzte Weisheit wohl auf ewig für sich behalten wird. CHRISTIAN WELZBACHER

HELGE SVENSHON (Hrsg.) Einblicke in den virtuellen Himmel. Neue und alte Bilder vom Inneren der Hagia Sophia. Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen/Berlin 2008. 140 Seiten, 19,80 Euro.

Ein Blick in den Himmel der Hagia Sophia in Istanbul Foto: AP

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Innere Gespenster

Eine Spätgeborene des Fin de siècle: Die Mailänder Poetin Laura Pozzi

Ihr kurzes Leben erinnert an einen Fin-de-siècle-Roman: Laura Pozzi wurde 1912 als Tochter einer großbürgerlichen Familie in Mailand geboren, führte ein typisches großbürgerliches Leben und litt an einer typischen großbürgerlichen Pathologie. Ihre Schwermut konnten selbst Klavierstunden, Zeichenunterricht, Opernbesuche, ein Haus in den Bergen, Wanderungen, Skitouren, Ausritte und Gedichte, die sie dann und wann niederschrieb, nicht vertreiben. Erst als sich Laura Pozzi auf dem Gymnasium in ihren Lehrer Antonio Maria Cervo verliebte und eine Beziehung mit ihm einging, schienen die inneren Gespenster vertrieben: das Du verspricht in ihren reimlosen Versen Erlösung. Ein gemeinsames Kind wäre Ausdruck der geglückten Symbiose: "Und wenn es geboren sein wird/ wirst du das Fenster öffnen/ damit wir die ganze Morgenröte/ sehen können - ".

Keine standesgemäße Verbindung, fanden die Eltern und verboten der Tochter den Umgang. An ein, zwei Menschen versuchte sich Laura Pozzi noch festzuhalten, doch mit sechsundzwanzig waren ihre Kräfte verbraucht; sie schluckte Gift und starb. In ihren über dreihundert posthum erschienenen Gedichten umkreist sie in knappen, entschlackten Versen ihren seelischen Zustand, stilisiert die Natur als einen Hort des Trostes und lässt das lyrische Ich in Verschmelzungssehnsüchten aufgehen. "Ich gebe dir mich selbst, / die jungfräuliche Sonne meiner Morgen / an märchenhaften Ufern /unter übriggebliebenen Säulen / und Olivenbäumen und Ähren." Die begeisterte Rilkeleserin knüpft an deutsche Traditionen ebenso an wie an italienische. Ihre Bildwelten überschneiden sich mit der so genannten "linea lombarda", einer Mailänder Spielart der Hermetik und gehen oft von konkreten Landschaften aus. Das ist literaturhistorisch zwar durchaus interessant ist, ästhetisch aber eher durchschnittlich. Anrührend ist vor allem die verzweifelte Einsamkeit der jungen Lyrikerin. MAIKE ALBATH

LAURA POZZI: Worte - Parole. Gedichte. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gabriella Rovagnati. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 336 Seiten, 24 Euro.

KURZKRITIK

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Jeder Vers ein Metallbolzen

Gut verriegelt: Dieter M. Gräfs Gedichtband "Buch Vier"

"Buch Vier" heißt der - Überraschung! - vierte Gedichtband von Dieter M. Gräf, und so unprätentiös der Titel zunächst scheint, so zeigt sich doch, dass auch Kürzelhaftes, ins Äußerste getrieben, einen geradezu barock-überbordenden Eindruck machen kann. Nicht blumige Fülle verursacht in diesen Gedichten ein beinahe Übelkeit erregendes Völlegefühl, sondern der durch und durch manierierte Gestus der Verknappung.

"N. überquert die Alpen, Taipeh" heißt eines, "Der Pockennarbige tötet W."ein anderes. Nicht, dass man von Napoleon und Winckelmann schon genug gehört hätte, das wohl auch, aber warum, fragt sich der vielleicht zu unbescholtene Leser, steht da bloß das Initial? Warum diese Verrätselung, wenn die Abkürzung im "Appendix" des Buches, den man ehrlicherweise wohl Anmerkungsapparat nennen müsste, aufgelöst wird? Genauso verhält es sich mit einigen Motti, die einzelnen Gedichten vorangestellt sind. Als Autoren werden da "P.P.P." und "R.D.B." ausgewiesen. Am Ende des Buches werden die Namen von Pier Paolo Pasolini und Rolf Dieter Brinkmann dann ausgeschrieben.

Überhaupt diese Anmerkungen! Es ist durchaus üblich, dass ein Lyriker ein paar Bezüge kennzeichnet, Quellen offenlegt, allein schon, um sich nicht des Plagiats verdächtig zu machen. Was Gräf da aber alles hineinschreibt, wirkt überaus eitel, ganz als wolle er sich als sein eigener Philologe betätigen. So knapp seine Gedichte sind, so wuchernd ist ihr Kommentar. Zu "Die Brustwarzen der Heiligen", einem bloß sechszeiligen Gedicht, liefert der Autor gar eine ganze, eng bedruckte Seite.

Und sonst? Unzugänglich wie ein Tresor wirkt Gräfs Lyrik. Mit jedem Vers hört man einen Metallbolzen, wie er sich ins Schloss schiebt. Der Verdacht aber bleibt, dass hinter der sorgsam verriegelten Tür Leere herrscht, nur das "sich aus/ drücken in ein glänzen/ des Nichts". Gerne übrigens setzt Gräf den Zeilenbruch mitten im Wort: "hin/ gegen", "Froh/ locken" "Gott/ heiten". Auch das äußerst manieriert.

Thematisch, so weit man das sagen kann, steht in "Buch Vier" der Tod im Vordergrund. Gleich zu Beginn montiert Gräf ein Gedicht aus einem Bericht über eine malaiische Ameisenart, die zur Feindabwehr Selbstmordattentate begeht, und Friedrich Hölderlins "Der Tod fürs Vaterland". Es endet so: "von der Basis der Kiefer/ bis zum hinteren Körper// ende) sterben lieb' ich nicht,/ doch lieb' ich zu fallen // auf den Feind gespritzt/ werden am Opferhügel/ fürs Vaterland, zu bluten - -".

Soll das nun ironisch sein? Grotesk? Oder ist es doch bloß Kunsthandwerk, billig verschraubt? Da will einer ganz viel, so der Eindruck, und bleibt doch ganz - steril. TOBIAS LEHMKUHL

DIETER M. GRÄF: Buch Vier. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008. 112 Seiten, 15,90 Euro.

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Euer Führer, unser Führer

Wolfgang Schieders glänzende Untersuchung des Faschismus

Die vergleichende Faschismusforschung erlebt in den letzten rund fünfzehn Jahren in den englischsprachigen Sozial- und Geisteswissenschaften einen regelrechten Boom. Erstaunlicherweise wird dies hierzulande nur in engeren Fachkreisen bemerkt. Dabei hat sich im Zuge des Aufschwungs der Globalgeschichte das aus den sechziger und siebziger Jahren bekannte Schlagwort erheblich gewandelt. Nunmehr wird unter "Faschismus" ein transnationaler Begriff verstanden, der es erlaubt, nicht nur den Vergleich, sondern auch die Verflechtung vieler europäischer Gesellschaften der Zwischenkriegszeit zu untersuchen. Der Begriff wird darüber hinaus zu einer kulturwissenschaftlichen Analysekategorie, welche die Selbstbeschreibungen und Verhaltensmuster der Faschisten ernst nimmt. Anstatt also ihre Ideologie lediglich aus den Klassenwidersprüchen, Gruppeninteressen oder den sozialen Abstiegserfahrungen der Mitglieder und Wähler abzuleiten, stehen jetzt Performanz, Aktionsmodi, Stil, Organisationspraxis und die visuell-mediale Repräsentation des Faschismus im Zentrum der Forschung.

Wolfgang Schieder greift in seinem neusten Buch diese neuen Forschungstendenzen auf. Der Band umfasst zwanzig, fast sämtlich vorab publizierte Aufsätze des Nestors der deutschen Faschismusforschung. Diese Einzelstudien sind keinesfalls veraltet - rund die Hälfe von ihnen ist ohnehin erst nach der Jahrtausendwende entstanden. Der Autor beweist mit diesem Band, wie innovativ seine Deutungen sind. Für ihn übte der Archetyp der faschistischen Bewegung und Diktatur in Italien die entscheidende Prägekraft auf die anderen faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit aus. Benito Mussolini mit seinem damals sensationellen politischen Erfolg steht für den Ursprungsfaschismus, vor allem Adolf Hitler dann für dessen nachahmende Anverwandlung und Radikalisierung. Im Verlauf der Regimeentwicklung drehte sich das Machtverhältnis der Diktatoren um. Schieder beschreibt Form und Wandlungen des Faschismus in seinem historischen Verlauf. So entfaltet sich ein prozessuales Faschismusmodell, welches die Kontinuität und Veränderungen zwischen Bewegung, Machteroberung, Regimekonsolidierung und Radikalisierung im Krieg hervorhebt.

Die Charakterisierung des italienischen Faschismus erfolgt in den ersten sechs Aufsätzen. Der Autor liefert mit diesem Durchgang zur Bedeutung des charismatischen Führers Mussolini, zur futuristischen Avantgarde, zum Rom-Mythos, zur steckengebliebenen Urbanisierung des Landes, zur Charakteristik der faschistischen Staatsorganisation und zur durchweg kriegerischen Gewaltpolitik ein farbiges, immer spannend zu lesendes Panorama des italienischen Faschismus.

Kernstück des Buches ist das zweite Kapitel, welches sich in vier glänzenden Aufsätzen mit der Strahlkraft des "italienischen Experiments" befasst. Im Zentrum steht die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Deutschland - denn nicht nur in der aufstrebenden NS-Bewegung breitete sich ein "philofaschistisches Meinungsklima" aus. Der Italofaschismus wurde zum "Markenzeichen der Diktatur eines charismatischen Führers", welche einen "dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus sowie vor allem Massenkonsens und polizeistaatlicher Unterdrückung" einschlug und so eine hohe Symbolwirkung erzielte, gewissermaßen als erlösender Ausweg aus der Krise der Moderne. In Deutschland reichte das Spektrum der Bewunderer von den Rechtsradikalen und Nationalkonservativen, Katholiken und Zentrumspolitikern über liberale Publizisten und Unternehmer bis hin zu Sozialdemokraten und Kommunisten. Als die Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Jahr 1929/30 vornehmlich links eingestellte Arbeiter und Angestellte befragten, wer denn die "größten Persönlichkeiten" in Geschichte und Gegenwart seien, rangierte Benito Mussolini auf dem fünften Platz, gleich hinter Marx, Lenin, Napoleon und Bismarck - und weit vor August Bebel, Karl Liebknecht oder Friedrich Ebert.

Dem systematischen Vergleich von Hitlers Deutschland mit dem Italien Mussolinis gelten die letzten beiden Kapitel. Schieder betont die relative Gleichzeitigkeit von Verfassungskonflikten, wirtschaftlichen Wachstumskrisen und Problemen der inneren Nationsbildung in Italien und Deutschland. Beide Länder hoben sich dadurch von den anderen europäischen Mächten ab. Die dreifache Krise ist letztlich die Ursache für den Erfolg des Faschismus. Ohne die Unterschiede zwischen den Faschismen zu verwischen - die der Autor vor allem in der Machtstellung der alten Eliten innerhalb der Regime als auch in der abschließenden Radikalisierungsphase des nationalsozialistischen Holocausts erkennt -, streicht er die Parallelen vor allem zwischen Italien und Deutschland heraus.

Das gilt auch für die imperialistische Politik des italienischen Faschismus, der sich nach der Eroberung von Libyen (1934) und Abessinien (1936) in den Spanischen Bürgerkrieg (1936) stürzte und Albanien (1939) innerhalb weniger Tage niederwarf, um dann ausgerechnet beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs militärisch erschöpft dazustehen. Trotz mancher Fehlplanungen - operettenhaft waren diese mit massivem Giftgaseinsatz und Massakern an den Zivilbevölkerungen geführten Vernichtungskriege keineswegs. Erst in seiner letzten Radikalisierungsphase unterschied sich der Nationalsozialismus durch seine totalitäre Durchherrschung entscheidend vom italienischen Vorbild der "Vermittlungsdiktatur". Auch überstieg die Radikalität und tödliche Konsequenz der nationalsozialistischen Judenvernichtung den italienischen Rassismus, welcher sich mit dem Aufbau eigener Kolonien und mit der Politik in den besetzten Gebieten des Balkans etabliert hatte.

Am Schluss des Buches findet sich ein Originalbeitrag zu den fotografischen Inszenierungen der beiden Führer. Die Utopie der Volksgemeinschaft wurde über die allgegenwärtigen medialen Repräsentationen zu einer ebenso virtuellen wie wirkmächtigen Realität. Die Führer befanden sich dabei in einem ebenso rigiden wie losen Verhältnis zur Gefolgschaft - sie standen als einsame und doch kollektive Figuren in einem wechselseitigen Unterordnungsverhältnis zur Masse.

Ingesamt zeigt sich, dass die Faschisten ihren Habitus des "vivere pericolosamente", des gefährlichen Lebens, permanent inszenierten und in ihrer stets vorwärts drängenden, kulturrevolutionären Dynamik populistische Akklamation mit rassistischer Gewalt verklammerten. In ihren Mythen, Symbolen und Riten verbanden die Faschisten radikalen Nationalismus mit sakraler Formensprache, ohne dabei eine kohärente, systematische Ideologie zu entwickeln. Denn in ihren Verhaltensformen verband sich so Gegensätzliches wie antibürgerlicher Populismus einerseits und Bündnisse mit den Eliten andererseits. Neben den Fanatismus trat ein programmatischer Opportunismus, neben den Willenskult eine Kultur des Drills und neben den Führerkult die Beschwörung der Volksgemeinschaft. Die faschistischen Regime haben es verstanden, Terror und materielle Zuwendung, Propaganda und Plünderung, Utopie und Nihilismus miteinander zu verknüpfen. Diese paradoxe Mischung wurde durch den pausenlosen Aktionismus, ein Jugendpathos der Unbedingtheit und durch einen kriegerischen Männlichkeitskult zusammengehalten.

Wolfgang Schieder gelingt mit diesem Band eine vorzügliche Verknüpfung von Politik-, Kultur- und Sozialgeschichte des Faschismus. Mit seinen sozial breit verankerten Sammlungsbewegungen gelang es den faschistischen Regimen, Kontrolle und Mobilisierung, Gewalt und Konsens zu vereinen. Die Symbolwirkung und Leitfunktion des italienischen "fascismo" herausgearbeitet und die stufenweise Entwicklung und Wandelbarkeit der europäischen Faschismen aufgezeigt zu haben, sind die größten Verdienste dieser brillanten Studie. SVEN REICHARDT

WOLFGANG SCHIEDER: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 591 Seiten, 39 Euro

Die Strahlkraft Mussolinis war in Deutschland gewaltig

Terror und Zuwendung, Utopie und Nihilismus

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HEUTE

FEUILLETON

Bilder sehen sich an

Das Spätwerk des abstrakten Malers Ernst Wilhelm Nay in Frankfurt Seite 12

LITERATUR

Meine Mutter, meine Feindin

Maria Barbal erzählt von einer Jugend in Katalonien Seite 13

MEDIEN

Zeugen unerwünscht

Dürfen die Deutschen alte Nazi-Zeitungen lesen? Bayern sagt Nein Seite 15

WISSEN

Wälder unter Stress

In den USA hat ein verheerendes Baumsterben begonnen Seite 16

www.sueddeutsche.de/kultur

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Die Mitte und das Geld

Was den Suhrkamp-Verlag nach Berlin locken könnte

Als der Suhrkamp-Verlag im Februar 2006 in einer Beletage in der Fasanenstraße seine Berliner Repräsentanz eröffnete, verband der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seine Begrüßungsansprache mit einer launig-forsch formulierten Einladung, der Verlag möge doch seinen Frankfurter Hauptsitz aufgeben und ganz und gar in die Hauptstadt ziehen. Damals lächelte die Verlagschefin Ulla Unseld-Berkewicz diplomatisch. Aber natürlich behandelte sie die Avancen, die Wowereit dem Verlag machte, als Gedankenspiel, nicht aber als Offerte, über die sie hätte ernsthaft nachdenken müssen.

Etwas muss sich in den seither vergangenen knapp drei Jahren geändert haben. Denn derzeit schießen die Gerüchte über eine bevorstehende Umzugsentscheidung im Hause Suhrkamp ins Kraut, ohne dass sie vom Verlag dementiert würden. Und es entbehrt nicht der Pikanterie, wenn ausgerechnet der Hamburger Unternehmer Hans Barlach, der über die Winterthurer Medienholding mit 29 Prozent Anteilseigner bei Suhrkamp ist, gegenüber dem Börsenblatt den Umzug nach Berlin begrüßt, als sei er schon beschlossen: "Wir begrüßen den Schritt und die damit verbundenen Entwicklungen."

Denn mit allen juristischen Mitteln hatten Ulla Unseld-Berkewicz und die Unseld-Familienstiftung Ende 2006 verhindern wollen, dass Barlach und sein damaliger Geschäftspartner Claus Grossner die Suhrkamp- und Insel-Anteile übernahmen, die der langjährige Schweizer Mitgesellschafter Andreas Reinhart über seine Volkart Holding AG verkauft hatte. Die Auseinandersetzung schloss eine im Herbst 2007 eingereichte Verleumdungsklage der Suhrkamp-Verlegerin gegen Barlach und Grossner ein.

Nun gab Barlach einseitig bekannt, alle Rechtsstreitigkeiten zwischen der Unseld-Familienstiftung und der Winterthurer Medienholding seien beigelegt: "Alle Verfahren wurden eingestellt." Tanja Postpischil, Pressechefin des Suhrkamp-Verlags, mag das nicht bestätigen: Man werde, solange die Vergleichsverhandlungen nicht abgeschlossen seien, den Vorgang nicht kommentieren. Und Thomas Sparr, stellvertretender Verlagsleiter und Chef der Berliner Suhrkamp-Repräsentanz, gibt derzeit immer wieder möglichst knapp zu Protokoll: Ja, es gebe "eine Einladung" der Stadt Berlin, aber man sei da nicht unter Zeitdruck, und im Übrigen müssten bei einer Entscheidung alle Gesellschafter einbezogen werden. An diesen Statements fällt vor allem auf, was sie nicht sind: ein Dementi.

Kurz, der Suhrkamp-Verlag befördert das Umzugsgerücht, indem er es nicht als Gerücht, sondern als Option behandelt. Da er aber kein börsennotiertes Unternehmen ist, führt das nicht zu Schwankungen auf dem Aktienmarkt, die das Gerücht bewerten. Es führt zu Diskussionen über das Verhältnis von Ortsbindung und kulturellem Kapital. Schon meldet sich Hilmar Hoffmann, ehemaliger Frankfurter Kulturdezernent und Ex-Präsident des Goethe-Institutes, warnend zu Wort: "Ich halte nichts von einem Umzug. Der Verlag von Siegfried Unseld ist ein Synonym für Frankfurt, das man nicht aus finanziellen Gründen verraten kann."

Leicht lässt sich für den Standort Frankfurt am Main plädieren: Warum sollte der Verlag, der wie kein anderer für das Erbe der Frankfurter Schule steht, der Stadt den Rücken kehren, in der Adorno, Horkheimer und Habermas lehrten? Warum sollte er die Nähe zur Buchmesse und zur Paulskirche aufgeben, in der viele Suhrkamp-Autoren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahmen?

Aber ebenso leicht lässt sich die Gegenfrage stellen. Ist nicht gerade diese Symbiose von Suhrkamp und Frankfurt am Main als geistigem Lebensraum und alter Bundesrepublik längst historisch geworden, Umzug hin oder her? Hat nicht den aktuellen Suhrkamp-Bestseller, Uwe Tellkamps "Der Turm", ein junger Autor aus den neuen Bundesländern geschrieben, statt des abgewanderten Martin Walser? Kam er nicht in einen Verlag, in dem schon Volker Braun, Christoph Hein und Christa Wolf publizierten, und ist nicht Rainald Goetz ein Suhrkamp-Blogger in Berlin-Mitte? Und ist nicht ein Charakteristikum der Suhrkamp-Programmpolitik in den letzten Jahren die Öffnung zu den jüngeren Autoren Mittel- und Osteuropas, vom Polen Andrzej Stasiuk über den Ungarn László Davarsi bis zum Rumänen Filip Florian?

Nein, das symbolische Kapital des Suhrkamp-Verlages ist nicht an die Frankfurter Lindenstraße gekettet, nur weil es von dort so nahe ist zu Adornos Kettenhofweg. Und in Berlin gibt es, nicht nur weil Peter Suhrkamp sich hier von den Erben des Fischer-Verlages trennte und seinen eigenen Verlag gründete, im Blick auf die Backlist so manches Verwurzelungspotential. Der Großteil des Nachlasses von Walter Benjamin, dem Suhrkamp derzeit eine neue große kritische Ausgabe widmet, ist aus dem Frankfurter Adorno-Archiv ins Archiv der Berliner Akademie der Künste gewandert, an die Seite von Bertolt Brecht. Und hat man nicht eben erst mit großem Aplomb in Berlin die fertiggestellte Heiner-Müller-Ausgabe präsentiert?

So lässt sich munter hin und her fragen. Doch spielt das symbolische Kapital auch im Hause Suhrkamp bei Entscheidungen wie dieser nicht die Hauptrolle. Verlagsumzüge haben in der Regel pragmatische, ökonomische Gründe. In der deutschen Verlagslandschaft der letzten Jahrzehnte ist die Mobilität der Verlage ein Symptom der Konzentrationsprozesse innerhalb der Branche insgesamt.

Durch ihre Einbindung in größere ökonomische Strukturen haben zwar nicht Verlage wie Rowohlt oder S. Fischer, wohl aber zahlreiche mittlere Traditionsverlage ihre Ortsbindung verloren. Wer, außer Branchenkennern, kann die Wege nachzeichnen, die etwa den in Berlin gegründete Luchterhand-Verlag in der Nachkriegszeit von Neuwied über Darmstadt, Frankfurt und Hamburg nach München und unter das Random-House-Dach führten? Oder die Wanderungen des in Hamburg gegründeten Claassen-Verlages unter das Ullstein-Dach nach Berlin, an die Seite der ebenfalls recht mobilen Verlage Econ und List?

Zu diesen Mobilitätsbeispielen steht der Suhrkamp-Verlag in markantem Kontrast. Er hat zwar mehrere Gesellschafter, steht aber für sich allein und muss nicht umziehen, um sich in eine Konzernstruktur zu integrieren. Er kann für die Umzugspläne, mit denen er spielt, nur ein plausibles ökonomisches Motiv haben. Dieses Motiv kann nicht eine Villa in Berlin sein, mag Klaus Wowereit sie noch so günstig anbieten. Es ist der Umzug selbst. Denn Umzüge über die Grenzen mehrerer Bundesländer hinweg sind eine attraktive Technik der Kosteneinsparung durch die Verschlankung eines Betriebs. Bei einem Firmenumzug geht oft rund ein Drittel des Personals nicht mit. Der Suhrkamp-Verlag hat etwa 150 Mitarbeiter, von denen sich laut Börsenblatt in einer Umfrage des Betriebsrates 80 Prozent gegen einen Umzug ausgesprochen haben. Ebendiese Umzugsunwilligkeit des Personals aber erhöht, so ist zu vermuten, die ökonomische Attraktivität des Umzugs für den Fall, dass Suhrkamp drastische Einsparungen vornehmen muss. LOTHAR MÜLLER

Adorno und Paulskirche - Suhrkamp sei ein "Synonym für Frankfurt", sagen Umzugskritiker

Der Verlag befördert das Umzugsgerücht, indem er es als Option behandelt

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Die Feier des Augenblicks

Das erfolgreiche Vergehen der Nostalgie: Das neue Album von "Franz Ferdinand"

Es ist nicht einfach, sich dieser Platte zu nähern. Pophistorisch ist dieses nunmehr dritte Album der britischen Indiepop-Band mit dem Namen Franz Ferdinand, "Tonight" (Domino, 2009) kein bedeutender Wurf. Vor allem am Stellenwert und Erfolg der Band gemessen - rund 6 Millionen Platten hat sie bisher verkauft, in der Zeit des massenhaften illegalen File-Sharings - ist es wahrscheinlich sogar eher eine mittlere Enttäuschung, wie allerdings auch schon das zweite, 2005 veröffentlichte Album "You Could Have It So Much Better". Als naturgemäß schwierige, weil erste Platte nach einer allseits verblüffenden, wegweisenden Arbeit genoss "You Could Have It So Much Better" jedoch noch so etwas wie Artenschutz; wurde entsprechend wohlwollend begrüßt, auch mal verhalten gefeiert, der rechtmäßige Hype hielt ja noch an; und besser als das meiste Übrige war sie natürlich allemal.

Jetzt also "Tonight". Das Markenzeichen der Band bleibt der helle, schneidend scharfe Sound, der entsteht, wenn eine Single-Coil-E-Gitarre wie die Fender Telecaster laut und rhythmisch sehr kantig gespielt wird. Alex Kapranos tiefe, variantenreiche Stimme windet sich denkbar elegant. Das klingt schnöselig genug, um als smarte Antirock-Geste durchzugehen, engagiert genug, um dem Spektakel des Augenblicks nicht im Weg zu stehen. Rhythmisch ist das Album im Kern noch mehr auf Tanzbarkeit ausgelegt. Disco gibt den Takt an.

Der Einsatz von deutlich mehr elektronischen Sounds als bei den beiden Vorgängern hat schon das Missfallen konservativer Fans erregt, funktioniert aber besonders bei der ersten Single "Ulysses" hervorragend. Schöner, weicher, druckvoller klingt der Bass im Indie selten. "Lucid Dreams" endet sogar als grandios stampfend technoide Elektro-Nummer. "Bite Hard" rollt großartig, ebenso wie "What She Came For".

Eine echte Blöße gibt sich die Band also nicht. Ihre bemerkenswerteste Eigenschaft hat sie schließlich nicht verloren: Franz Ferdinand haben genau so viel Herz wie nötig ist, um den Willen zur Kunst zu bändigen, und genau so viel Kunstwillen wie es bedarf, um kühlen Kopf bewahren zu können. Ideale Vorraussetzungen für großen Pop. Es ist deshalb auch nicht so, dass sich jetzt einfach sagen lässt, hoch geschätzte Pop-Kunststücke wie "Darts Of Pleasure", "Michael", "This Fire", "Take Me Out" und das unbetitelte Debüt-Album, die Platte des Jahres 2004, seien glücklicher Zufall gewesen.

Disco mit den Mitteln des Punk

Und doch: Das vermeintliche Potential der Band und seine Materialisierung in "Tonight" fallen deutlich auseinander. Über den Grund lässt sich spekulieren: Als "New New Wave" schlossen Franz Ferdinand zu Beginn des Jahrzehnts unüberhörbar an die späten siebziger und frühen achtziger Jahre an, die im Rückblick vielleicht wichtigste Zeit für die Stabilisierung des bis heute herrschenden Systems Pop. Anders als die flüchtige Draufsicht vermuten lässt, hatten damals nicht arbeitslose Jugendliche, sondern, wie meist in Großbritannien, ambitionierte Kunststudenten mit Punk den authentizitätsverliebten Rock und das ganze Business-Establishment um ihn herum herausgefordert. Und gewonnen.

Die Künstlichkeit, die rotzige Abscheu, die Punk gegen den Mainstream etablierte, verfeinerte sich in den Jahren nach 1977 schließlich bis hin zum musikalisch anspruchsvollerem, aber natürlich nicht weniger kalten New Wave in der Spielart etwa der Gang Of Four, die Punk mit Funk und Dub mischten. Der popimmanente Drang zur performativen Radikalisierung wiederum konnte nach Punk natürlich nicht über die Darbietung funktionieren. Da waren vorerst hörbar Grenzen erreicht. Ganz abgesehen davon, dass sich natürlich schon die Industrie der Subversion des Punk bemächtigt hatte.

Die Radikalisierung verlief über die Haltung. Bis hin zu 1982, der Zahl die längst nicht mehr nur ein Jahr anzeigt, sondern eben auch eine ganz bestimmte Perspektive auf die Dinge und ihren Lauf. Dass man nämlich, wie es der Theoretiker Diedrich Diederichsen in dieser Zeitung formulierte, gefälligst den Moment anbete, sich keinem besonderen Stil verpflichtet fühle und keiner genau umrissenen Weltsicht, sondern einfach nur "von heute sein muss". Die Feier des Augenblicks.

Auch Franz Ferdinands Mitglieder wurden im Umfeld der Kunsthochschulen von Glasgow und München künstlerisch sozialisiert. Und sie wurden mit der Wiedervorlage der Feier des Augenblicks berühmt. "Disco mit den Mitteln des Punk" heißt ihre Formel. Wenn jetzt also Franz Ferdinand mit dem neuen Album so etwas wie die Wiedervorlage der Wiedervorlage des Augenblicks präsentieren, dann bleibt ein etwas schaler nostalgischer Nachgeschmack. Der aber war schon beim ersten Album ein Grund des Erfolgs gewesen. Immerhin gilt Franz Ferdinand als Band für mehrere Generationen. Die Väter der ersten Fans dürften zu einem guten Teil der Generation 1982 entstammen. Auf Franz Ferdinand wurde man sich einig.

Exemplarisch bleibt das Vergehen der Band so oder so. Es dürfte kein Zufall sein, dass andere wichtige New-New-Wave-Gruppen wie Interpol und Bloc Party ins Experimentelle auswichen und Phoenix zwar 2006 noch fulminant nachlegten, seither jedoch schweigen. Wer die Feier des Augenblicks zur Wiedervorlage bringt, darf aber nicht daran denken, dass das nicht ewig dauern kann. JENS-CHRISTIAN RABE

Eine Band für alle: Franz Ferdinand mit Alex Kapranos (re.) Foto: Mark O'Flaherty, Camera Press, Picture Press

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Erinnerung, sprich

Neue Internet-Seite zeigt Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern

Zwölf Millionen Menschen haben während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit im oder für das Deutsche Reich geleistet. Bekannt war das immer. Allein 1944 arbeiteten im Reichsgebiet sechs Millionen zivile Arbeitskräfte aus anderen Ländern, zwei Millionen Kriegsgefangene und 500 000 KZ-Häftlinge; wie sollte so etwas verborgen geblieben sein? Aber zu einem Thema politischer Verantwortung wurde es erst Ende der neunziger Jahre, auf Druck der amerikanischen Öffentlichkeit. Nur schwerfällig erklärte sich die deutsche Wirtschaft bereit, ihren Teil zu leisten, doch 2001 war sichergestellt, dass zehn Milliarden Mark, je zur Hälfte aufgebracht vom Bund und der deutschen Wirtschaft, bereitstanden, ehemaligen Zwangsarbeitern eine Entschädigung zu zahlen. Gewaltige Beträge waren das nicht, pro Kopf bis zu 7500 Euro, aber für die Betroffenen, die zum größten Teil in Osteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lebten, eine Hilfe. Und es war eine Anerkennung des Unrechts, das ihnen angetan war.

Man bekommt einen Eindruck davon, was das bedeutet, wenn man auf der soeben freigeschalteten Internetseite www.zwangsarbeit-archiv.de die Ausschnitte aus Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern sieht. Sie nehmen das Gespräch ernst, reden gesammelt, sie dramatisieren nicht, aber es ist ihnen wichtig, ihre Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Verantwortet wird die Internetseite von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die für die Entschädigung der Zwangsarbeiter 2000 gegründet wurde. Die Zahlungen sind inzwischen weitgehend geleistet. Doch sie sieht ihren politischen Auftrag auch in der Dokumentation der Zwangsarbeit, und so haben, von ihr angeregt und finanziert, Wissenschaftler mit bislang 590 Opfern lange Gespräche geführt.

Auf der Website, die die Freie Universität Berlin eingerichtet hat, werden diese Gespräche nach und nach veröffentlicht, insgesamt 2000 Stunden. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, wird jedes Interview als Video- oder Audio-Dokument vorliegen, in einer originalsprachigen Transkription und in deutscher Übersetzung. Es ist eine Arbeit, die sich an Wissenschaft und Bildungswesen wendet. Allgemeine Informationen und kurze Proben sind jedermann zugänglich. Wer auf das gesamte Material zugreifen will, muss sich registrieren lassen. Der Zugang wird Forschern und Lehrern wohl regelmäßig gewährt, im übrigen nach der Plausibilität des jeweiligen Vorhabens. Die künftige Betreuung übernimmt das Deutsche Historische Museum, das Videomaterial dieses Projekts auch in seine Daueraustellung integriert hat. stsp

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Zarte Klanggewitter

Carolin Widmann spielt Bach und Boulez in Elmau

Das sei so, als ob man sich nackt ausziehe, meinte eine Zuhörerin, als Carolin Widmann allein mit ihrer Geige das Podium in Elmau betrat. In der Tat ist die Einsamkeit und Verletzlichkeit des Solospiels für jeden Musiker eine riesige Herausforderung. Das eigentlich Intime des Alleinspielens verwandelt sich vor Publikum in einen heroischen, ja in manchen Augenblicken monumentalen Akt des sich Behauptens und - Gelingen vorausgesetzt - schließlich Siegens.

Carolin Widmann, längst eine der führenden Violinistinnen besonders für neue Musik, stellte zwischen die beiden "Anthèmes"-Fassungen von Pierre Boulez Bachs d-Moll-Partita wie einen Fels in der Brandung. In den ersten "Anthèmes" von 1991/1992 entfaltet Boulez ein geigerisches Vokabular auf allen Registern des Instruments: ab- und aufsteigende Läufe, Glissandi, Pizzikati, Doppelgriff-Détaché-Passagen und immer wieder ausgezogene Haltepunkte als Ruhezonen. Widmann vermittelte das genau und deutlich. Ihr charakteristisch herber Ton erlaubt eine ungewöhnliche Trennschärfe der Akkorde und eine Vielfalt verschiedener dynamischer Nuancen, gleichsam ohne Weichzeichner. Jenseits von Akkuratesse und Beherrschung der technischen Mittel prägt jene Leidenschaftlichkeit Widmanns Spiel, die aus bezwingender Konzentration erwächst.

Das galt auch für die Bach-Partita. Wieder fesselte Widmanns Intensität und Unbeirrbarkeit in der Verdeutlichung der Musik. Mochten sich die ersten vier Sätze im Tempo ähneln - ihre Kontur vermochte Widmann geradlinig mätzchenfrei zu zeichnen. Vor der "Ciacona" hält jeder Geiger kurz inne im Bewusstsein, nicht nur das bedeutendste Stück für Solovioline, sondern eines der epochalen Werke vor sich zu haben. Widmann spielte mit Verve, Spannkraft und Dispositionsvermögen.

In "Anthèmes II" von 1997 erweitert Boulez das Material des früheren Stückes und fügt Live-Elektronik hinzu, was zu einer überraschenden, dialogisierenden Verräumlichung führt. Da gibt es nicht nur Echoeffekte, Frage- und Antwortspiele, sondern es klingt bald, als gerate die Violine in zarte, von ihr ausgelöste Klanggewitter, in denen die einzelnen Klangelemente vielfach geschichtet werden. Die Aufführung wurde zum spannenden Hör- und Instrumentaltheater: Carolin Widmann schritt nämlich geigend eine Phalanx von Notenständern ab, während Michael Acker und Joachim Haas vom Experimentalstudio des SWR der Solistin den vielfältig aufgefächerten, dann wieder verdichteten elektronischen "Spiegel" ihrer Klangproduktion vorhielten. HARALD EGGEBRECHT

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"Ich bin mir nicht sicher, ob Heath wirklich tot ist"

Der Regisseur Terry Gilliam über seine Arbeit an Heath Ledgers letztem Film - und den Wert eines posthumen Oscars

Regisseur Terry Gilliam trägt nicht zu Unrecht den Spitznamen "Captain Chaos". Er ist nicht nur für Filme wie "Der König der Fischer" bekannt, sondern auch dafür, dass er Probleme bei Dreharbeiten förmlich anzieht: Bei der Entstehung von "Brazil" zog er sich eine temporäre Teillähmung der Beine zu, Streitigkeiten mit den Produzenten der "Gebrüder Grimm" führten zu einer einjährigen Startverzögerung, und sein Langzeitprojekt "The Man Who Killed Don Quixote" musste 2001 nach einer Serie von Naturkatastrophen und Unfällen während der Dreharbeiten abgeblasen werden.

Im Januar 2008 erlitt der Regisseur dann seinen bislang größten Rückschlag, als sein Hauptdarsteller und Freund

Heath Ledger inmitten der Dreharbeiten seines neuesten Films "The Imaginarium of Dr. Parnassus" im Alter von 28 Jahren plötzlich starb. Doch Gilliam arbeitet unverdrossen weiter an dem Fantasy-Film, in dem eine reisende Theatertruppe einen Pakt mit dem Teufel eingeht.

SZ: Mr. Gilliam, wie steht es um "The Imaginarium of Dr. Parnassus"?

Gilliam: Der Film ist eigentlich fix und fertig - bis auf etwa 600 Spezialeffekte, die gerade den letzten Feinschliff bekommen.

SZ: Ist diese enorme Anzahl an Effekten auf den plötzlichen Tod Ihres Hauptdarstellers zurückzuführen - den sie dann durch drei andere Stars ersetzt haben: Johnny Depp, Colin Farrell und

Jude Law?

Gilliam: Heath wird im Film nicht durch Effekte zum Leben erweckt, soviel ist schon einmal sicher! Allerdings musste das Drehbuch an vielen Stellen neu strukturiert werden. Dazu kam, dass wir mit Johnny, Colin und Jude nur einen sehr begrenzten Zeitraum zur Verfügung hatten, da sie natürlich alle auch in andere Projekte involviert waren. Da wir auch noch einen schlüssigen Übergang finden mussten, der die Verwandlung von Heaths Rolle in die drei anderen Charaktere erklärt, hat dies einfach mehr Zeit in Anspruch genommen. Glücklicherweise konnten wir wenigstens jeden einzelnen Zentimeter Film benutzen, den wir mit Heath gedreht hatten.

SZ: Was genau ging in Ihnen vor, als Sie von Heath Ledgers Tod erfuhren?

Gilliam: Meine Tochter Amy, eine Produzentin des Films, kam in den Raum und bat mich, ihr ins Büro zu folgen. Dort angekommen sah ich die News auf der Internetseite der BBC: "Heath Ledger tot aufgefunden!" Meine erster Gedanke war, dass Warner Brothers damit einen PR-Stunt für "The Dark Knight" inszeniert habe - aber leider war dem nicht so. Wir standen ihm alle so nahe. Es war einfach schrecklich. Den Rest des Tages lagen wir nur herum. Ich konnte es damals einfach nicht fassen. Sogar heute bin ich mir immer noch nicht sicher, ob Heath wirklich tot ist. Immerhin arbeite ich jeden Tag mit ihm im Schneideraum!

SZ: Wer kam auf die Idee, Heath Ledgers verbleibende Szenen mit Hilfe von drei anderen Stars zu Ende zu bringen?

Gilliam: Mein erster Gedanke war, die Dreharbeiten sofort einzustellen. Aus, Ende, Good Bye. Aber um mich herum redeten die Leute auf mich ein, dass ich das Projekt im Gedenken an Heath und sein Talent irgendwie beenden müsste. Da ich wusste, dass ein einziger Schauspieler unmöglich in der Lage gewesen wäre, Heath Ledgers Rolle sinnvoll weiterzuspielen, kam ich irgendwann auf die Idee, einfach mehrere Leute dafür anzuheuern. Alle drei waren Freunde von Heath. Johnny war der erste, den ich anrief und um Hilfe bat. Er antwortete nur: "Ich bin für dich da. Ruf an, wenn du mich brauchst, meine Zusage hast du!" Ähnlich waren die Reaktionen von Jude und Colin.

SZ: Stimmt es, dass die Gagen der drei an Heath Ledgers Tochter ausbezahlt werden sollen?

Gilliam: : Ja, sie haben mehr oder weniger umsonst gearbeitet. Es ist schrecklich, wenn man sich mit Versicherungsgesellschaften herumschlagen muss. Wir wollen deshalb sicherstellen, dass Heaths Familie so viel wie möglich bekommt.

SZ: Vor einigen Wochen kritisierten Sie Warner Brothers für die Bemühungen, die Oscar-Academy zu einer posthumen Nominierung Ledgers für seinen Auftritt als Joker in "The Dark Knight" zu bewegen. Wieso haben Sie so reagiert?

Gilliam: Ich habe Warner Brothers nicht in der Art und Weise kritisiert, wie es von der Presse dargestellt wurde. Ich bin auch sicherlich nicht der Meinung, dass Heath diesen Oscar nicht verdient hätte! Schwachsinn. Ich stellte lediglich fest, dass mich das Verhalten der Studios nicht verwundert, weil Studios nun mal in diesen Marketing-Dimensionen denken. Sie benutzen jeden nur erdenklichen Vorteil, ihren Film zu vermarkten. So läuft das in Hollywood eben.

SZ: Wie bitte wollen Sie Ihren Film auf die richtige Art und Weise vermarkten?

Gilliam: Eigentlich ist die Arbeit ja schon fast getan. Die Presse hat mir das bereits abgenommen! Natürlich werden wir nicht verschweigen, dass es Heaths letzter Film war, das lassen sich unsere zukünftigen Verleiher sicher auch nicht nehmen. Aber da es jeder bereits weiß, muss man darum auch nicht mehr viel Wind machen. Ein Blick auf Google zeigt zur Genüge, wie sehr dieser Film schon jetzt in aller Munde ist.

SZ: Um Heath Ledgers Tod ranken sich viele Gerüchte. Man sprach zuerst von Selbstmord, dann von einer möglichen Drogenüberdosis und schließlich von einem versehentlich konsumierten, toxischen Medikamentenmix. Haben Sie in den Tagen vor seinem Tod irgendein seltsames Verhalten erkennen können?

Gilliam: Nein. Man hört, das System hätte ihn umgebracht, aber das ist alles Schwachsinn, totaler Schwachsinn. Es war Samstagnacht, als wir in London unsere Dreharbeiten mit ihm beendeten. Er flog kurz darauf nach New York, am Dienstag war er tot. Dabei war er ein Mensch voller Lebensdrang und Energie. In der letzten Nacht unseres gemeinsamen Drehs hatte er diese große Szene, in der er schlittern, springen und fallen musste, während um ihn herum Explosionen detonierten. Er übernahm seine Stunts selbst, es gab nichts, zu was dieser Mensch nicht in der Lage gewesen wäre.

SZ: Stimmt es, dass er einer der Schauspieler war, die so lange in ihren Rollen verweilen, bis ein Film abgedreht ist? Es hieß, die Beschäftigung mit Ihrem Film und die vorangegangene Rolle als Joker ließen ihn in ein tiefes Loch fallen.

Gilliam: Wer behauptet denn so etwas? Er war nichts dergleichen! Heath drehte eine Szene so, wie es von ihm gefordert wurde. Er lachte, schrie oder weinte, aber schon eine Minute später war er wieder ganz der Alte und erzählte Witze. Heath wurde nie von seinen Rollen dominiert. In Bezug auf seine Rolle als Joker sagte er mir während der Vorbereitung zu "Dr. Parnassus" noch selbst, wie viel Erfüllung ihm die Rolle bringt, weil er dadurch endlich einmal Dinge tun könne, die er in seinem Leben nie zuvor getan hatte. Er war auch nie ein Method Actor, sondern ein so versierter Meister seines Fachs, dass er Szenen einfach auf sich zukommen ließ. Ich denke, dass das System etwas zu stark daran arbeitet, ihn zum nächsten James Dean aufzubauen. Ich kann Ihnen allerdings versichern: Er ist es nicht.

SZ: Interessiert es Sie, ob er für den Oscar nominiert wird?

Gilliam: Nein. Wenn die Oscars wirklich etwas Wichtiges wären, würde ich anders denken. Aber ich weiß ja nicht einmal, was sie repräsentieren sollen.

SZ: Was ist Ihre Definition von Erfolg?

Gilliam: Ich muss stolz auf meine Arbeit sein. Meine größte kreative Befriedigung ist es, wenn ein Film im Bewusstsein der Zuschauer hängen bleibt, über die zwei Stunden Laufzeit hinaus. Ich habe von einer Frau in New York gehört, die nach einem Kinobesuch meines Films "Der König der Fischer" zwanzig Blocks nach Hause lief und erst dann bemerkte, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Das ist für mich Erfolg!

SZ: Nach all den Schwierigkeiten verwundert es, dass Sie sich gleich wieder der Verfilmung von "The Man Who Killed Don Quixote" widmen wollen, einem Projekt, das sie vor Jahren wegen zahlreicher Probleme einstellen mussten. Hatten Sie in den letzten Monaten noch nicht genug Stressmomente?

Gilliam: Tja! Mein Partner Tony Grisoni und ich werden in Kürze wieder daran schreiben, da ich nach erneuter Lektüre festgestellt habe, dass es doch nicht so perfekt ist, wie ich eigentlich gedacht hatte. Johnny Depp soll wieder die Hauptrolle spielen, mal sehen, ob das klappt. Er ist ja inzwischen ein vielbeschäftigter Junge. Auf alle Fälle ist es Zeit, an die Arbeit zu gehen, denn es besteht wirklich großes Interesse an dem Projekt. Es ist ein Werk, das bereits mehr Publicity als jeder andere Film bekommen hat.

SZ: Sie sollten vielleicht einen Drehort wählen, an dem das Klima mild ist und Stürme eher unwahrscheinlich . . .

Gilliam: Sie haben verdammt Recht!

SZ: Sonst haben Sie keine Bedenken?

Gilliam: Nein, meine einzige Sorge ist, dass der Film in der Vorstellung der Leute vielleicht besser ist als das, was ich daraus machen werde. Andererseits bin ich der festen Überzeugung, dass man einen gewissen Wahnsinn pflegen muss, um sich auf "Don Quixote" einzulassen. Ich würde sogar behaupten, dass jeder, der sich mit "Don Quixote" einlässt, ähnlich endet. Das Thema ist schwer infektiös!

SZ: Was fürchten Sie noch?

Gilliam: Furcht kenne ich nicht mehr, das ist das Großartige an meiner jetzigen Situation. Ich habe inzwischen alles mitgemacht, den Tod wie das Leben. Der Gedanke daran, was mir als nächstes vor die Füße geworfen werden könnte, fällt mir deshalb etwas schwer.

Interview: Johannes Bonke

Den Rest des Tages lagen wir nur herum. Ich konnte es damals einfach nicht fassen.

Es gab nichts, wozu dieser Mensch nicht in der Lage gewesen wäre.

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Knotenpunkte

Gidon Kremer und Komponistin Raminta Serksnyte in München

Vom Star des Abends ist im Münchner Herkulessaal erst einmal nichts zu sehen. Gidon Kremer lässt sein Streicherensemble Kremerata Baltica zwei Stücke spielen, bevor er selber eingreift. Das Bemerkenswerteste: Die Trauersymphonie "De profundis", mit der die Komponistin Raminta Serksnyte mit einem vielfältig entwickelten Streicherklang in ungeahnte Sphären vorstößt. Serksnyte schafft überraschend intensive Klangerlebnisse mit symphonischen Mitteln, mit kalkulierten Crescendi, wichtigen Unisono-Knotenpunkten und einer durchscheinenden Dialektik von Einzelstimme und Gruppenbildung - letztlich dem Versuch, im Stück selber eine Gruppensprache zu entwickeln.

Was ihr Werk über das Virtuos-Handwerkliche und Effektvoll-Blendende hinaushebt, ist die Geisteshaltung, die dahinter steht oder die Vorstellung, die dem komponierenden Bewusstsein unterlegt ist: Nach Serksnytes Worten eine Summe "gehobener Geisteszustände, die sich in Klängen materialisieren", wobei die Eindrücklichkeit der Vermittlung von der handwerklichen Meisterschaft des Komponierens abhänge. Letztere kann man der 1975 in Litauen geborenen und ausgebildeten Pianistin und Komponistin ohne weiteres nachsagen. Selbst wenn sie sich Formen des Minimalismus, der Spätromantik oder des Jazz zu eigen macht, so geschieht dies doch in einem umfassenden Vereinnahmungsprozess, der aus fremden Worten die eigene Sprache macht, aus Gefühlsstationen dramatische Verläufe, aus Melancholie baltische Mystik, wie man es vergleichsweise am ehesten von Giya Kancheli kennt.

Bei ihm, das hörte man auf wundersame Weise in seinem "Silent Prayer", verbinden sich immer wieder scharf ziselierte Dissonanzen mit tröstlich weichem Wohlklang. Dass die singend-leidende Erzählstimme vom Tonband kam, war sowohl klanglich wie auch im Bezug auf die Intonation mit der Sologeige Gidon Kremers problematisch. Eine Live-Stimme hätte sich vielleicht zu sehr in den Vordergrund gesungen. Kancheli ist ein Meister des zarten Tons, und er hat in Gidon Kremer einen Meisterinterpreten gerade dafür gefunden.

Wie populistisch, oft an der Grenze zum banal-routinierten Handwerk klang da Krzysztof Pendereckis "Ciaccona", wie einfallsreduziert Leonid Desyatnikovs anfangs vielversprechende Streicher-Variationen über Schuberts "Leiermann", wie bemüht kreativ die eigenwillige Variante von Mozarts "Serenata notturna"KV 239, die an bedenklich ausufernden Rubati litt. Brillant arrangiert immerhin: Victor Kissines Ensemble-Version von Beethovens Streichquartett op. 127, in dem trotz neuer Klangfülle der intime Charakter dominiert. HELMUT MAURÓ

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Lauter Prachtstücke

Ein Wettstreit der Kostümfilme - "Der seltsame Fall des Benjamin Button" dominiert die Oscar-Nominierungen

Für einen Trend im Kino stehen die Oscarnominierungen auf jeden Fall: Hollywood hält alles, was für die Oscars in Frage kommen könnte, zurück bis zum Herbst. Wenn es dann aber losgeht, machen sich wochenlang die Prachtstücke amerikanischer Filmkunst gegenseitig das Rampenlicht streitig. Die Filme, die die Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences jetzt in der Königsklasse nominiert haben, als besten Film des Jahres, laufen bei uns fast ausnahmslos in den nächsten Wochen an, kein einziger läuft schon im Kino: "Der seltsame Fall des Benjamin Button" von David Fincher , "Milk" von Gus Van Sant, "Der Vorleser", von Stephen Daldry, Ron Howards "Frost / Nixon" und Danny Boyles "Slumdog Millionär". Die Regisseure dieser fünf Filme sind ebenfalls alle für einen Oscar nominiert.

Es gibt zwei klare Favoriten: "Benjamin Button" mit dreizehn Nominierungen und "Slumdog" mit zehn - den Rekord halten zwar immer noch "Titanic" und "Alles über Eva" mit 14 Nominierungen, aber dreizehn - das ist immerhin eine mehr als "Ben Hur". . .

In "Benjamin Button" spielt Brad Pitt einen Jungen, der als alter Mann geboren wird, also bis auf einen Moment in der Mitte seines Lebens immer im falschen Körper steckt - die Nominierung war ihm fast sicher. "Benjamin Button" ist großes Erzählkino, dem man anmerkt, dass Eric Roth, der "Forrest Gump"-Autor, (zusammen mit Robin Swicord) das nominierte Drehbuch geschrieben hat. "Slumdog Millionär", bei den Golden Globes am Ende der Sieger, - erzählt die Geschichte eines jungen Inders, der sich in einer Quizshow seine eigenen Lebenserfahrungen zunutze macht. "Frost / Nixon" ist der politische Außenseiter, ein Abschiedsgruß an Ex-Präsidenten - es geht um ein großes Fernsehinterview, den letzten großen Showdown zwischen Nixon und seinen enttäuschten Wählern.

Die Liste zeigt, dass Hollywood sich wieder auf sich selbst besinnt, auf seine traditionellen Stärken. Die in Wirklichkeit ohnehin längst eingemeindeten kleinen Produktionen wurden in die Nebenkategorien gedrängt: Mickey Rourke ist als Hauptdarsteller für "The Wrestler" nominiert, Meryl Streep tritt für ihre Rolle in "Glaubensfrage" an, Mike Leighs Drehbuch von "Happy-Go-Lucky" ist ebenfalls im Rennen.

Im Zentrum stehen opulentes Ausstattungskino und große Emotionen - beides trifft, irgendwie, sogar auf "Milk" zu, einen Film über einen offen homosexuellen Politiker in den Siebzigern, den Sean Penn spielt - wie die vier anderen Anwärter auf den besten Film, ist "Milk" ein Kostümfilm, ein emotionaler noch dazu.

Deutschsprachige Filmemacher sind gleich mehrfach vertreten. Werner Herzogs "Encounters at the End of the World" über die Antarktis ist als bester Dokumentarfilm nominiert, "Der Baader Meinhof Komplex" von Uli Edel und Bernd Eichinger in der Kategorie für den besten fremdsprachigen Film. Gegen "Waltz with Bashir", Ari Folmans halbdokumentarisches Zeichentrick-Spektakel über die Kriegserinnerungen israelischer Soldaten, hat sich das RAF-Drama bei den Golden Globes nicht durchsetzen können. Das letztjährige Siegerland Österreich ist schon wieder dabei, mit Götz Spielmanns bösem Thriller "Revanche". SUSAN VAHABZADEH

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Oscarmania 2009

Die Nominierungen im Detail

Bester Film

Der seltsame Fall des Benjamin Button

Frost / Nixon

Milk

Der Vorleser

Slumdog Millionär

Bester fremdsprachiger Film

Der Baader Meinhof Komplex

Die Klasse

Okuribito / Departures

Revanche

Waltz With Bashir

Bester Animationsfilm

Bolt

Kung Fu Panda

Wall-E

Bester Hauptdarsteller

Richard Jenkins, The Visitor

Frank Langella, Frost /Nixon

Sean Penn, Milk

Brad Pitt, Der seltsame Fall des Benjamin Button

Mickey Rourke, The Wrestler

Beste Hauptdarstellerin

Anne Hathaway, Rachels Hochzeit

Angelina Jolie, Der fremde Sohn

Melissa Leo, Frozen River

Meryl Streep, Glaubensfrage

Kate Winslet, Der Vorleser

Bester Nebendarsteller

Josh Brolin, Milk

Robert Downey Jr., Tropic Thunder

Philip Seymour Hoffman, Glaubensfrage

Heath Ledger, The Dark Knight

Michael Shannon, Zeiten des Aufruhrs

Beste Nebendarstellerin

Amy Adams, Glaubensfrage

Penelope Cruz, Vicky Cristina Barcelona

Viola Davis, Glaubensfrage

Taraj P. Henson, Benjamin Button

Marisa Tomei, The Wrestler

Beste Regie

David Fincher, Benjamin Button

Ron Howard, Frost / Nixon

Gus Van Sant, Milk

Stephen Daldry, Der Vorleser

Danny Boyle, Slumdog Millionär

Bestes Originaldrehbuch

Courtney Hunt, Frozen River

Mike Leigh, Happy-Go-Lucky

Martin McDonagh, Brügge sehen . . . und sterben?

Dustin Lance Black, Milk

Andrew Stanton, Jim Reardon, Pete Docter, Wall-E.

Beste Drehbuch-Adaption

Eric Roth und Robin Swicord, Benjamin Button

John Patrick Shanley, Glaubensfrage

Peter Morgan, Frost / Nixon

David Hare, Der Vorleser

Simon Beaufoy, Slumdog Millionär

Beste Kamera

Tom Stern, Der fremde Sohn

Claudio Miranda, Benjamin Button

Wally Pfister, The Dark Knight

Chris Menges und Roger Deakins, Der Vorleser

Anthony Dod Mantle, Slumdog Millionär

Bester Schnitt

Kirk Baxter und Angus Wall, Benjamin Button

Lee Smith, The Dark Knight

Mike Hill und Dan Hanley, Frost / Nixon

Elliot Graham, Milk

Chris Dickens, Slumdog Millionär

Bestes Produktionsdesign

Murakami / Fettis, Der fremde Sohn

Burt / Zolfo, Der seltsame Fall des Benjamin Button

Crowley / Lando, The Dark Knight

Carlin / Alleway, Die Herzogin

Zea / Schutt, Zeiten des Aufruhrs

Beste Kostüme

Catherine Martin, Australia

Jacqueline West, Benjamin Button

Michael O'Connor, Die Herzogin

Danny Glicker, Milk

Albert Wolsky, Zeiten des Aufruhrs

Bestes Makeup

Greg Cannom, Benjamin Button

Caglione / O'Sullivan, The Dark Knight

Elizalde / Floutz, Hellboy II

Beste Musik

Alexandre Desplat, Benjamin Button

James Newton Howard, Defiance

Danny Elfman, Milk

A.R. Rahman, Slumdog Millionär

Thomas Newman, Wall-E

Bester Song

"Down To Earth", Wall-E

"Jai Ho", Slumdog Millionär

"O Saya", Slumdog Millionär

Bester Tonschnitt

The Dark Knight

Iron Man

Slumdog Millionär

Wall-E

Wanted

Beste Tonmischung

Benjamin Button

The Dark Knight

Slumdog Millionär

Wall-E

Wanted

Beste Spezialeffekte

Benjamin Button

The Dark Knight

Iron Man

Bester Dokumentarfilm

The Betrayal (Nerakhoon)

Encounters at the End of the World

The Garden

Man on Wire

Trouble the Water

Kate Winslet in "Der Vorleser", Heath Ledger, posthum für seine Nebenrolle als Joker in "The Dark Knight" nominiert, Sean Penn als Harvey "Milk" (oben von links), Meryl Streep in "Glaubensfrage" , "Der Baader Meinhof Komplex" und Brad Pitt als "Benjamin Button" Fotos: Senator, Warner (2), Constantin (2), Miramax

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Kommentar

Wettbewerb muss fair sein

Als das Krankenhaus Schwabing vor dem Ersten Weltkrieg seinen Betrieb aufnahm, galt es als eine der modernsten Kliniken Deutschlands. Fast alle Patienten blickten aus großen Fenstern Richtung Süden in einen grünen Park. Das, so dachte der Planer Richard Schachner durchaus ganzheitlich, konnte die Heilung nur befördern. Heute stellt der Betrieb eines modernen Krankenhauses andere Anforderungen an dessen Architektur. Kurz müssen die Wege sein, die diagnostischen Abteilungen eng zusammen liegen, damit nicht teures Personal Betten mühsam durch lange Gänge schiebt. Komfort sollen die Zimmer bieten, damit die Patienten nicht zur Konkurrenz flüchten. Daher müssen die Stadtkliniken hunderte Millionen Euro investieren, damit ihre Häuser in Schwabing, Harlaching und Neuperlach wieder werden, was sie bei ihrer Eröffnung waren: höchst modern.

Es geht bei diesen Renovierungen um nicht weniger als den Fortbestand der kommunalen Kliniken. Nur wenn sie auf dem neuesten Stand sind, lassen sie sich wirtschaftlich betreiben und bleiben für Patienten attraktiv. Das wissen die mächtigen Betreiberkonzerne von Privatkliniken längst, und so bringt der sich verschärfende Wettbewerb zwischen den Klinikträgern gerade in einer mit Krankenhäusern so gut versorgten Großstadt wie München für die Patienten durchaus Vorteile. Aber dieser Wettbewerb muss fair sein. Denn die Bürger brauchen auch Krankenhäuser, die sich nicht nur auf ertragreiche Fälle spezialisieren, sondern die jeden Patienten zu jeder Tages- und Nachtzeit aufnehmen, ganz egal, welche Krankheit er hat und was die Behandlung kostet. Dieser Service ist teuer, und darum brauchen gerade kommunale Kliniken, die ihn bieten, viel Geld, um ihn leisten zu können. Auch daran muss noch viel gearbeitet werden auf der Dauerbaustelle Gesundheitswesen. Jan Bielicki

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Nachdem BMW Kurzarbeit angekündigt hat

Das Jahr des Zitterns hat begonnen

Überall in Bayern bangen die Beschäftigten, wie lange ihre Firmen durchhalten, ohne Leute zu entlassen

München - Mit Kurzarbeit in den BMW-Werken Dingolfing, Regensburg und Landshut sowie bei zahlreichen Zulieferern hat die Autokrise nun Bayern voll erfasst. Allein an den drei BMW-Standorten werden ungefähr 26 000 Beschäftigte im Februar und im März weniger arbeiten. Bei den Zulieferern spitzt sich die Lage ebenso dramatisch zu. So werden in Nürnberg in den ersten beiden Monaten mindestens 17 000 Beschäftigte kurzarbeiten müssen. Betroffen sind 16 Betriebe, darunter MAN, Bosch und Diehl Metall. In Bamberg arbeiten 3500 Beschäftigte bei Bosch kurz. Bei FTE im unterfränkischen Ebern sind 1700 Beschäftige betroffen. Und im unterfränkischen Zulieferbetrieb Wagon Automotive droht momentan jedem Vierten der 650 Mitarbeiter in Waldaschaff die Entlassung.

Glaubt man Hans Peter Staber, so sieht es vor allem um die Zukunft der Automobilzulieferer finster aus. Der Geschäftsführer des Nürnberger Zulieferbetriebs FCI hat gerade angekündigt, mehr als jeden sechsten Mitarbeiter entlassen zu müssen. Von den 600 Beschäftigen des Betriebs im Nürnberger Norden werden demnächst 108 die Firma verlassen müssen. Nürnbergs IG Metall-Chef Jürgen Wechsler erklärt, die Geschäftsführung des Anbieters von Steckverbindungen spiele "offenkundig verrückt". Durch die Drohung, den Standort notfalls schließen zu müssen, würden bei FCI "Belegschaft und Betriebsräte erpresst".

Allerdings befürchtet auch die IG Metall, dass vor allem die Zulieferer die Belegschaft die Krise spüren lassen. Mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 250 Beschäftigten seien sie oft nicht in der Lage, über Arbeitszeitkonten, Abbau von Überstunden und ähnliche Instrumente so flexibel zu reagieren wie ein Großunternehmen, sagte Metallerchef Werner Neugebauer. Auch verfügten kleinere und mittlere Unternehmen oft nur über eine geringe Kapitalausstatung und seien von der derzeit schleppenden Kreditvergabe durch die Banken besonders betroffen. Neugebauer forderte deshalb von der Staatsregierung einen "eigenen Mittelstandsschirm".

FCI-Geschäftsführer Staber will seit Oktober sämtliche Möglichkeiten ausgereizt haben: Kurzarbeit, die Trennung von Zeitarbeitern, Überstundenabbau. Den Weihnachtsfrieden habe man noch wahren wollen. Im neuen Jahr aber glaubt der Firmenchef zu wissen, dass "einfaches Aussitzen nicht mehr weiterhelfen wird". Staber prognostiziert, was die Entlassungen betrifft, sei sein Betrieb "nur die Speerspitze" in Franken - andere mittelständische Unternehmen "werden uns demnächst folgen".

Auch in Schwaben geht die Furcht vor Entlassungen um. Anlässlich eines Krisengesprächs im Augsburger Rathaus verabschiedeten zahlreiche Betriebsräte eine Resolution, 2009 dürfe nicht das Jahr der Entlassungen werden. Nach Angaben von Jürgen Kerner, dem Chef der IG Metall in Augsburg, hätten nahezu alle Autozulieferer in seinem Zuständigkeitsgebiet Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt. "Wir reden von 3500 Beschäftigten", sagt Kerner. Er geht davon aus, dass sich die Zahl im kommenden Monat noch verdoppeln werde. Bei den Zulieferbetrieben Federal Mogul in Friedberg und Emcon in Augsburg etwa ginge die Zahl der neuen Aufträge dramatisch zurück. "Wir rechnen damit, dass die Kurzarbeit in vielen Betrieben das ganze Jahr über anhält", so Kerner. Sorgen bereitet ihm auch der traditionell in Augsburg stark vertretene Maschinenbau. Konzerne wie der Schiffsmotorenbauer MAN-Diesel haben zwar derzeit noch volle Auftragsbücher, spüren aber ebenfalls bereits die Kaufzurückhaltung. Mit zeitlicher Verzögerung werde die Krise auch diese Firmen treffen, so Kerner.

In Ostbayern ist die Stimmung trotz der Kurzarbeit bei BMW noch einigermaßen zuversichtlich. Heinrich Trapp, der SPD-Landrat des Kreises Dingolfing-Landau, rechnet zwar mit einer Durststrecke von zwei bis drei Jahren. Aber BMW werde diese dank der guten Qualität seiner Autos besser überstehen als andere Unternehmen. Trapp betonte, dass der Konzern zu seinen Mitarbeitern stehe. Dies zeige sich daran, dass sie während der Kurzarbeit 93 Prozent des Nettogehalts erhielten. Auch der Regensburger OB Hans Schaidinger betonte, dass die Regelung für die Beschäftigten fair sei. Die Belegschaften treiben derweil vor allem Detailfragen um. "Die Kollegen wollen natürlich wissen, wie das ist, wenn sie während der Kurzarbeit krank werden oder was es auch für die Altersteilzeit bedeutet", sagte Thomas Zitzelsberger, der stellvertretende Betriebsratschef des Dingolfinger BMW-Werks. "Ansonsten ist die Lage hier vergleichweise ruhig." msz/prz/cws

Jetzt stoppt auch Audi in Ingolstadt für fünf Tage die Produktion. Foto: ddp

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Wenn BMW hustet, hat Niederbayern die Grippe

Die Kurzarbeit trifft nicht nur die Autoindustrie, sondern auch Bäcker, Brauer, Busfahrer und Pfarrer

München - "Natürlich sind alle gedrückt", sagt Rita Dobler. "Auch wenn schon letztes Jahr jeder gewusst hat, dass es nicht immer so weitergeht, jedes Jahr noch mehr Autos zu produzieren." Rita Dobler, 66, ist Wirtin des Café Dobler in Reisbach, einer Institution unter den 700 BMW-Mitarbeitern, die täglich vom niederbayerischen Ort Reisbach ins BMW-Werk nach Dingolfing pendeln. Nicht wenige kehren nach Schichtende bei Rita Dobler ein. Und natürlich reden die BMWler hier darüber, was ihnen auf der Seele liegt. Besonders jetzt, wo das Vorzeigeunternehmen in seinem Dingolfinger Werk, dem mit 20 000 Mitarbeitern größten BMW-Werk überhaupt, auf Kurzarbeit geht. "Das trifft alle", sagt Rita Dobler, "auch wenn sie hoffen, dass das nur eine kurzfristige Delle ist."

Viele Jahre hat das Dingolfinger BMW-Werk ganz Niederbayern wirtschaftliche Sicherheit und Wohlstand garantiert. Nun muss die Region womöglich lernen, was das Stuttgarter Sprichwort "Wenn Daimler hustet, hat der Schwabe eine Grippe" bedeutet. Besonders Reisbach. 7500 Einwohner zählt der Heimatort von Ex-CSU-Chef Erwin Huber. "Von unseren 4000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten alleine 700 bei BMW", sagt Bürgermeister Josef Steinberger. "Natürlich treibt es den Ort um, wenn die in Kurzarbeit gehen." Noch sieht Steinberger aber nicht allzu schwarz. "BMW hat ja gesagt, dass das vorübergehend ist, wir hoffen, dass es im April wieder aufwärts geht", sagt er. "Außerdem bekommen die Leute ja 93 Prozent ihres Nettogehalts."

Andererseits lässt Steinberger keinen Zweifel daran, dass Kurzarbeit bei BMW vom ersten Tag an auf Reisbach durchschlägt. "Unsere Brauerei ist der größte Getränkelieferant des Dingolfinger Werks", sagt er. "Jeder Tag Kurzarbeit bedeutet für die Brauerei einen imensen Ausfall." Das gleiche gilt für eine Großbäckerei, die Semmeln und Brezen an BMW liefert, und das Busunternehmen, das die Pendler hin- und herkutschiert. Doch das ist längst nicht alles. Bei Martin Ramoser, dem Pfarrer der Reisbacher Sankt-Michael-Kirche schütten dieser Tage viele ihr Herz aus. "Natürlich machen sich die BMWler Sorgen", sagt der 56-jährige Geistliche. "Aber denen geht es noch relativ gut." Dann erzählt Ramoser von den Mitarbeitern eines Autozulieferers, denen bereits gekündigt wurde und die nun nicht wissen, wie sie die Raten für ihr Haus bezahlen sollen. Oder von dem Bauern, der in seinen Hof zehn Appartements eingebaut hat und sie seit Monaten nicht vermieten kann, weil BMW keine Leiharbeiter und Praktikanten mehr beschäftigt. "Für den hat sich auf einen Schlag das Einkommen halbiert", sagt der Pfarrer. "Und da gibt es viele, die die Krise voll getroffen hat, nur dass man das halt nicht so sieht."

Das meint auch Rita Dobler. "Die BMWler haben sicher eine Durststrecke vor sich", sagt sie. "Aber die sollen froh sein, dass sie ihre Arbeitsplätze haben." Das erklärt die Wirtin auch an den Stammtischen, wenn sie dort klagen, dass nun die schönen Gewinnausschüttungen weg seien und das Weihnachtsgeld gekürzt werde. Christian Sebald

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Papst und Landesvater

Nervös sei er vor dem Treffen schon gewesen, räumte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer ein. Nach der Privataudienz war er aber wieder Herr seiner selbst und berichtete freimütig, was Papst Benedikt XVI. und er zu bereden gehabt hatten. Vornehmlich sei es um die globale Krise gegangen, doch habe der Heilige Vater auch für deren bayerische Seite viel Verständnis gezeigt. "Oh je!", habe er gesagt, als die Rede auf die zehn Milliarden Euro Staatshilfe für die Bayerische Landesbank gekommen sei. "Eine große Persönlichkeit", resümierte Seehofer. Foto: dpa

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In Oberammergau wird es haarig

Das Dorf bereitet sich auf das Passionsspieljahr 2010 vor

Von Sabine Buchwald

München - Er ist ein Besessener, einer, der glüht, wenn es ums Theater geht. Einer, der den Kopf in den Wolken hat, aber beide Füße auf dem Boden. Auf kaum einen Künstler seiner Kategorie trifft dieses Bild besser zu als auf Christian Stückl. Nur zwei Tage nach der Premiere der Pfitzner-Oper "Palestrina" am Münchner Nationaltheater steht Stückl an diesem Donnerstag vor Journalisten und Fotografen im "Volksgarten", der Hauskneipe des Münchner Volkstheaters, an dem er Intendant ist.

Stückl spricht als Spielleiter der kommenden Passionsspiele in Oberammergau - und als Einheimischer. Jetzt sei endlich Zeit, sich ganz auf die Passion und alles drumherum zu konzentrieren, sagt er. Neben ihm steht der Oberammergauer Oberbürgermeister Arno Nunn. Der hat einen völlig anderen Zungenschlag als Stückl. Nunn, unüberhörbar Franke, ist angetreten, den Schuldenberg der Gemeinde abzutragen. Das Passionsspiel im nächsten Jahr soll dazu beitragen, die schiefe Finanzlage wieder in die Gerade zu rücken. Ein Reinerlös von 25 Millionen Euro blieb im Jahr 2000. Über Geld aber spricht niemand recht gern, auch wenn es seine Rolle hat bei der 41. Version des Laienspiels. Die veranschlagten 32,8 Millionen Euro Produktionskosten wurden zum ersten Mal schon vorab publik gemacht. Die Staatsregierung hat die Summe billigend hingenommen und hilft mit einer Bürgschaft, die hohen Ausgaben für das Mammutprojekt vorzufinanzieren.

Die Zeichen in Oberammergau stehen also nun auf Passion. Eine Liste mit 1834 Namen von Erwachsenen und von 638 Kindern, die von ihrem Spielrecht Gebrauch machen wollen, hat der Gemeinderat Christian Stückl gerade übergeben. Der sagt nun gefasst und lachend: "Das sind 300 Menschen mehr als vor zehn Jahren. Das bedeutet auch 300 Kostüme mehr. Aber ich werde sie schon irgendwie unterbringen im Spiel." An sie alle wird am 25. Februar der Aufruf ergehen, die Haare wuchern zu lassen und die Bärte. Nur wer als Römer auf der Bühne stehen wird, der darf sein Haupt in Richtung Schere neigen. Der Römerjob sei bei ledigen Männern um die 40 besonders begehrt, weiß Stückl. Denn mit Zottelhaar- und Bart, mei, da tue man sich halt schwerer, eine Frau zu finden.

Wichtige Termine

Nach dem Haar- und Barterlass am Aschermittwoch sind der 17. und 18. April weitere wichtige Tage im Vorbereitungsjahr. Denn am 17. erhält der Gemeinderat die Besetzungsliste für die Hauptrollen. Mit einer Zweidrittel-Mehrheit kann sich der gegen einzelne Personen wehren, die im Sinne von Stückl spielen sollen. Dann müsste der Spielleiter den Ersatz benennen, der dann am 18. bekannt gegeben wird. Vor zehn Jahren hat der Gemeinderat noch ganz und gar über die Besetzung abgestimmt. Stückl hatte seine erneute Wahl zum Spielleiter an die Bedingung geknüpft, dieses Mitspracherecht auf ein Vetorecht zu reduzieren.

Von April an werden in Oberammergau auch die Werkstätten aufgebaut, in denen unter der Leitung von Bühnenbildner Stefan Hageneier die Kulissen gebaut und die Kostüme angefertigt beziehungsweise umgeändert werden. "Es wird ein neues Erscheinungsbild geben", sagt Stückl. Und auch an den Text wolle er nochmal "rangehen". Als er 25 war, habe er Jesus noch als Revoluzzer betrachtet. Heute sehe er ihn als jemanden, der 100-prozentig für seine Sache einstand.

Am 20. April beginnt auch der Kartenvorverkauf für das Passionsspiel, das am 15. Mai 2010 Premiere haben wird. Rund eine halbe Million Besucher erwartet die Gemeinde, die selbst nur 5000 Einwohner zählt. Diesen November beginnen schließlich die Proben. Bis dahin aber gilt es für die Oberammergauer noch andere Etappen zu nehmen. Im Juli zum Beispiel das Pestspiel. Auch das hat seine Tradition in Oberammergau. Die erste Passion wurde bereits ein Jahr nach dem Gelöbnis, im Zehnjahresrhythmus ein Passionsspiel aufzuführen, im Jahr 1634 auf die Bühne gebracht. Das Pestspiel basiert auf einem Text aus den 1920er Jahren und erzählt, wie die tödliche Krankheit den Ammergau befallen hat. "Die Pest" wird von 3. bis 18. Juli zu sehen sein - erstmals im Passionsspielhaus. Um die in die Nacht verschobenen Aufführungszeiten vorzubereiten, soll das Theater demnächst eingerüstet werden. Das Dach der Halle wird verstärkt - und zum ersten Mal werden Lampen installiert. (www.passionsspiele2010.de)

Spielleiter Christian Stückl stellt das Plakat zur Passion vor. Foto: dpa

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Drei Jugendliche überfallen Busfahrer

Dachau - Drei Jugendliche haben am Mittwochabend in Dachau einen 41-jährigen Busfahrer aus der Kreisstadt mit einem Messer bedroht und ausgeraubt. Die bislang unbekannten Täter verübten ihren Überfall an der Endstation Ratibohrer Straße in Dachau Ost und flüchteten anschließend mit einer Beute von etwa 1000 Euro stadtauswärts. Der Busfahrer kam mit dem Schrecken und einer Schramme am Hals davon.

Nach Angaben von Heinz Rindlbacher, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern in Ingolstadt, sind zwei junge Männer im Alter von 18 bis 20 Jahren und ein zwischen 16 und 18 Jahre altes Mädchen gegen 20.10 Uhr zwei Haltestellen vor der Endstation zugestiegen. Der Fahrer bat sie dort auszusteigen. Als er gerade seine Sachen zusammenpackte, spürte er einen spitzen Gegenstand an seinem Hals. Die Täter flüchteten dann mit dem Geld, das der Busfahrer auf die Kasse legen musste.

Dass jemand unter Anwendung von Waffengewalt einen Bus überfällt, so einen Fall hat es in Dachau bislang nicht gegeben. Die Kriminalpolizei in Fürstenfeldbruck ermittelt in dem Fall. Mehr als die Angaben des Busfahrers hat sie nicht. Dazu gehören aber auch die Hinweise, dass nur einer der beiden Männer während des Überfalls gesprochen habe, und zwar akzentfreies Deutsch. Außerdem seien eine Haltestelle vor der Endstation zwei ältere Damen ausgestiegen. "Wir bitten die beiden wichtigen Zeugen, sich unter der Telefonnummer 08141/6120 bei der Kriminalpolizei zu melden", sagt Rindlbacher. Die Ermittler in Fürstenfeldbruck sind bei der Ergreifung der Täter auf weitere Zeugenaussagen angewiesen: "Die Öffentlichkeits-Fahndung ist im Moment unsere einzige Chance auf eine Spur", sagt ein Beamter.

Matthias Vogel

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Pater wegen Diebstahls von Pornos verurteilt

Würzburg - Zu sieben Monaten Haft auf Bewährung ist ein 50 Jahre alter Pater verurteilt worden, der in einem Würzburger Sexshop mindestens 42 Filme homoerotischen Inhalts gestohlen hat. Der Benediktiner aus dem Kloster Maria Laach - der in Medienberichten mehrfach als "Porno-Pater" bezeichnet worden ist - hatte zunächst Einspruch gegen eine Verurteilung per Strafbefehl eingelegt. Jetzt hat er diesen zurückgezogen. Das Urteil ist damit rechtskräftig, teilte das Würzburger Amtsgericht mit. Kurz vor dem geplanten Beginn der Gerichtsverhandlung am vergangenen Dienstag hatte der Pater beantragt, die Öffentlichkeit davon auszuschließen. Der zuständige Richter hatte dies abgelehnt, der Prozess musste daraufhin verschoben werden. Die Staatsanwaltschaft legt dem Pater einen "Diebstahl mit Waffen" zur Last, weil der Geistliche ein Messer bei sich getragen hatte, als er beim Diebstahl der Pornofilme erwischt worden war. prz

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Hunderte Millionen Euro für die Kliniken

Stadt will die kommunalen Krankenhäuser in Neuperlach, Schwabing und Harlaching grundlegend sanieren

Von Jan Bielicki

München - Die städtischen Kliniken wollen in den kommenden vier Jahren mehr als 100 Millionen und nach 2012 noch einmal mehr als eine Viertelmilliarde Euro in Sanierung und Neubau ihrer Krankenhäuser stecken. Dem Stadtrat legte Gesundheitsreferent Joachim Lorenz (Grüne) einen Überblick über die Baupläne des städtischen Krankenhauskonzerns vor. Danach sollen bereits in diesem Jahr die Bauarbeiten in Neuperlach und Schwabing beginnen. Bis 2012 soll das Haus in Neuperlach vollständig saniert sein und das Schwabinger Klinikum einen neuen Zentraltrakt erhalten. Bis 2017 will Klinik-Chef Manfred Greiner auch das Krankenhaus Harlaching zu einem großen Teil durch einen Neubau ersetzen - der allerdings kleiner ausfallen wird, als es bisherige Pläne vorsehen. Greiner wie Lorenz bekannten sich zum Bestand aller vier städtischen Häuser. Auch Harlaching sei "unverrückbarer Bestandteil unseres Klinikkonzepts, sagte Lorenz.

Und so sehen die Baupläne aus:

In Neuperlach steht bereits ein provisorischer Bau mit 120 Betten, in den ein Teil der Patienten ziehen soll, wenn im Sommer die Arbeiten im Haus A beginnen. Dort sollen Notaufnahme und Diagnoseabteilungen neu entstehen. Jedes Krankenzimmer bekommt Bad und Toilette, die Stationen werden größer, um sie effizienter zu betreiben. Das soll 42 Millionen Euro kosten. Nachdem das Haus B mit seinen Operationssälen von 2001 bis 2005 für 29 Millionen Euro generalüberholt wurde, "ist das Haus dann auf einem Top-Stand", sagt Greiner.

In Schwabing ziehen noch 2009 die Entbindungsstationen in die Kinderklinik. Der Umzug und die Erneuerung der drei Kinder-Operationssäle kosten 7,5 Millionen Euro. 2010 soll der Bau eines neuen Klinikkerns gleich am Haupteingang beginnen. Der Neubau soll sich nach Plänen des Berliner Architekten Stefan Ludes zwischen die denkmalgeschützten Fassaden des hundert Jahre alten Klinikkomplexes einfügen und Notaufnahme, Diagnoseabteilungen und Intensivstationen Platz bieten. Dazu werden in diesem ersten, 65 Millionen Euro teuren Bauabschnitt zwei Bettenhäuser saniert. Insgesamt will das Klinikum in Schwabing rund 140 Millionen Euro ausgeben, um wirtschaftlicher zu arbeiten. So soll es künftig nur vier statt bisher zehn Bettenhäuser geben. In die Gebäude am Rande des Geländes sollen andere Nutzer ziehen - etwa psychiatrische Stationen des Bezirkkrankenhauses.

In Harlaching muss die Klinikleitung die 2004 in einem Wettbewerb gekürten Neubaupläne dagegen grundlegend umarbeiten. "Es wird etwas kleiner", sagt Greiner. Künftig soll es nur rund 700 statt, wie bisher vorgesehen, 800 Betten geben. Neu gebaut werden muss das mehr als 40 Jahre alte Bettenhaupthaus B. Das soll von 2014 bis 2017 geschehen. Der Neubau soll ungefähr 185 Millionen Euro kosten, allerdings seien, so warnt Greiner, solche Schätzungen so viele Jahre voraus "nur bedingt belastbar".

In Bogenhausen stehen keine großen Umbauten an: "Das Haus", sagt Greiner, "ist in den achtziger Jahren einfach genial gebaut worden."

Während für die bis 2012 angesetzten Bauarbeiten Finanzierung und Zuschüsse des Landes stehen, hält es Greiner für noch zu früh, über Aufstellung und Verteilung der Kosten für die späteren Bauten zu sprechen - zumal sich mit einer anstehenden Reform der Krankenhausfinanzierung deren Grundlagen ändern. Auch auf Geld aus dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung will Greiner noch nicht setzen: "Wie der Freistaat die Mittel verteilt, ist noch völlig offen."

Zufrieden äußert sich der Klinikchef zum Geschäftsverlauf des vergangenen Jahres. Es kamen mehr Patienten, das Defizit sei wohl weiter gesunken. Bereits 2010, so rechnet Greiner, sollen die Kliniken keine roten Zahlen mehr schreiben.

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Auch die Moderne ist alt geworden

Architekten und Städteplaner müssen sich mit ihren Sünden auseinandersetzen

Leider verweigert sich auch Holger Liebs ("Bode und Bauhaus", 21. Januar) einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der komplexen Thematik stadträumliche (Neu-) Gestaltung und (kritische) Rekonstruktion. Das Bauhaus wird ideologisch - mit dieser Polemik macht es sich der Autor schlicht zu einfach. Wer wird einmal den Mut haben, diesen unsinnigen und nur noch destruktiven Streit zwischen den unterschiedlichen Positionen der Akteure (Tradition versus Moderne) zu beenden und hier einen sinnvollen Brückenbau zu ermöglichen? Sicher, Rekonstruktionsprojekte müssen sich einer kritischen, historischen Auseinandersetzung mit etwa Nazi-Terror, Krieg und Zerstörung stellen. Zu einer kontroversen Debatte gehört auch, die Grenzen von Rekonstruktionen zu erkennen.

Dennoch muss sich auch die Architekturmoderne kritischen Fragen stellen und sollte die eigene Geschichte (und die Fehler und Irrtümer) nicht ignorieren. Nicht nur alte Bautraditionen, auch das Bauhaus der Zwanziger und Dreißiger Jahre wurde von den totalitären Diktaturen missbraucht und für Parteipropaganda instrumentalisiert (Albert Speer verfasste Anfang der 40er Jahre ein Vorwort für das Lehrbuch "Bauentwurfslehre" von Ernst Neufert. Nach Auffassung von Speer ermöglicht der Funktionalismus des industriellen und seriellen Bauens einen zügigen Wiederaufbau nach dem "totalen Krieg". Dieses Lehrbuch war eine Grundlage für den Wiederaufbau in Deutschland nach 1945.

Architekten und Stadtplaner müssen sich mit den städtebaulichen Verheerungen der autogerechten Stadt der Nachkriegszeit und ihren Auswirkungen erneut auseinandersetzen. Diese sollten jetzt nicht noch (auch durch die Denkmalpflege) nachträglich verklärt und zwingend konserviert werden. Was heute als die Moderne in den Medien gefeiert wird, ist bei nüchterner Betrachtung oft auch nur ein Retro-Design, derzeit eine Wiederholung der Gestaltung der sechziger und siebziger Jahre. Auch die Moderne ist alt geworden.

Die Rekonstruktion einzelner kulturell und historisch bedeutsamer Bauten ermöglicht eine notwendige Wiederherstellung einer vernünftigen Balance zwischen Tradition und Moderne. Der Bau menschlicher und maßvoller Stadträume braucht einen konstruktiven Dialog zwischen den unterschiedlichen Positionen und auch eine Kenntnis über die regionalen Bautraditionen. Warum soll es nicht auch möglich sein, an alte Bautraditionen für die Gestaltung von Neubauten teilweise anzuknüpfen?

Markus Erich-Delattre

Hamburg

Selbst ein Scientologe

hat das nicht verdient

Was wollen Sie mit der Kommentierung und Bewertung ihres Interviewpartners und seiner Antworten ("Den Wahnsinn weglachen", 20. Januar) bezwecken? Von Journalismus, der ernst genommen werden will, wünsche ich mir wenigstens ein Bemühen um Objektivität. Auf subjektive, persönliche Interpretationen - wohl mit der Absicht, den Befragten bloßzustellen - verzichte ich hingegen gerne. Welcher Glaubensgemeinschaft Tom Cruise angehört, ist seine Sache. Ich sehe keinen Grund, ihn deswegen als Person zu missachten. Vielleicht ist er ja tatsächlich schräg und sein Hirn von Scientology gewaschen. Aber falls dem so ist, möchte ich es lieber mittels Informationen erfahren, die Raum für ein eigenes Urteil lassen und nicht durch derartige Polemik.

Benjamin Berger

München

Listige

Interview-Tricks

Tom Cruise mag umstritten und seine Rolle als Stauffenberg unpassend sein, ihn auf diese Weise persönlich anzugreifen, ist jedoch unanständig. Nichts spricht dagegen, neben das Interview davon getrennt einen Kommentar zur Person Tom Cruise zu schreiben, der durchaus provozierend sein kann. Hält man die Mitgliedschaft bei Scientology für unmoralisch, dann soll man es offensiv, aber vor allem offen ansprechen. Dies heimlich in ein Interview einzuflechten und die Aussagen zu kommentieren, um seine Person lächerlich zu machen, ohne ihm eine Möglichkeit der Antwort zu geben, ist der Süddeutschen Zeitung unwürdig. Wenn man es nicht schafft, durch geschickte Fragen ein spannendes Gespräch zu führen, darf man sich nicht mit listigen Tricks etwas zusammenbasteln, was mit dem Gesagten nichts zu tun hat. Solch eine Behandlung hat niemand verdient, auch kein Scientologe wie Tom Cruise.

Anton Schuberl

Eging am See

Wer kontrolliert

die unabhängigen Richter?

Glauben Sie doch bitte nicht, dass Richter besser richten, nur weil sie "unabhängig" sind ("Die Staatsgläubigkeit ist Vergangenheit", 19. Januar). Im Gegenteil, wer kontrolliert sie dann? Wer kann sie zur Rechenschaft ziehen? Wenn die deutschen Richter es den anderen 23 europäischen Staaten gleich machen wollen, dann sollten sie auch mit Videosystem in allen Gerichtssälen arbeiten, zum Schutze des Bürgers und zur Kontrolle. Die deutsche Justiz muss transparenter werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Richter Machtmissbrauch betreiben, solange keine Videopflicht besteht. Solange dürften sie auch nicht im "Namen des Volkes" Urteile sprechen. Und wer im "Namen des Volkes" spricht, hat diesem auch Rechenschaft abzulegen. Sonst ist es keine Demokratie, sondern eine "Schein"-Demokratie, die dem Volk vorgaukelt, alles in ihrem Sinne zu tun und tatsächlich nur nach Machtgewinn ohne Rechenschaft strebt. Die Journalisten haben die Aufgabe, die Rechte des Bürgers nicht nur zu sichern, sondern zu erweitern.

Farida Bischoff

Grafschaft

Die FDP hat die Krise

mitverursacht

Es war keine Überraschung, dass die SPD bei der Hessenwahl derartig in den Keller gerauscht ist . Umso überraschender ist dagegen der starke Anklang, den die Freien Demokraten beim Wähler gefunden haben ("Gelb ist die Hoffnung", 20. Januar). In Deutschland gehört die FDP mit ihren wirtschaftspolitischen Leitbildern zu den Hauptverursachern der katastrophalen Finanzkrise und der damit verbundenen existentiellen Gefährdung der deutschen Wirtschaftsunternehmen. Deregulierung, Befreiung der Wirtschaft von Regelungen und Vorschriften, Zurückdrängung des Staates und Reduzierung seiner Einflussmöglichkeiten, Verringerung der Steuereinnahmen durch den Staat, damit der Markt über mehr Kapital verfügen kann - alles das, um den Spielraum und vor allem die Risikobereitschaft wirtschaftlichen Handels zu erhöhen und damit eine Dynamik in der Wirtschaft zu erzeugen, die Wirtschaftswachstum schaffen soll. So weit so gut. Was aber geschieht, wenn die befreiten Risiken in die Krise führen, in der Finanzwelt riesige Vermögenswerte dadurch verloren gehen, Wirtschaftsunternehmen ins Wanken geraten oder gar schließen müssen? Die von Kontrollen und Zwängen befreiten Verantwortlichen der Krise packen ihr Köfferchen und ziehen zu ihrem Geld ins Ausland. Die Leidtragenden, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nämlich haben es auszubaden. Der einzige Schutz, der ihnen bleibt, ist dann ein starker Staat, der wie gegenwärtig mit den Steuermitteln der Bürger in der Lage ist, milliardenschwere Hilfsprogramme aufzulegen, um die Krise zu meistern. Den Staat schwach zu machen, ein Hauptcredo der Liberalen, bedeutet einfach nur, die Bevölkerungsmehrheit schutzlos zu lassen. Die FDP, der es eh nur darauf ankommt, ihren politischen Freunden möglichst viele Bereicherungsmöglichkeiten zu schaffen, ficht das natürlich nicht an. Den Wählern aber sollte das zu Denken geben. Der FDP jetzt zu einem Höhenflug zu verhelfen und sie jetzt in die politische Verantwortung zu bringen, heißt, den Bock zum Gärtner zu machen.

Dieter Menyesch

Ludwigsburg

Das Kreuz

der Wähler

Die wachsende Zahl der Nichtwähler als Ausdruck grundsätzlicher Zufriedenheit mit der Politik zu deuten ("Der Schlaf der Demokratie", 20. Januar) verkehrt die Motive vieler Nichtwähler ins Gegenteil. In Wirklichkeit ist es doch so, dass immer mehr Menschen der Politik den Rücken kehren, weil sie keinerlei Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erkennen. Weil es egal ist, wo man sein Kreuz macht - es geschieht doch nichts oder nur das Falsche. Das parlamentarische System hat den Kontakt zur Außenwelt verloren. In Fraktionszwang behaftet und von Lobbyisten zugetextet, wird kaum mehr nach Vernunftmaßstäben gehandelt. Dafür wird die mediale Außenwirkung jeder Entscheidung vorher intensiv geprüft, nur damit man in der Tagesschau wieder gut dasteht. Es wäre vielleicht wirklich keine schlechte Idee, wie von Heribert Prantl skizziert, nur noch so viele Parlamentssitze zu besetzen, wie in absoluten Zahlen Stimmen an der Wahlurne abgegeben wurden. Denn dann müssten sich die Parteien reformieren und wieder aktiver auf den Wähler zugehen.

Klaus Strohschön

München

Autos

wie Flundern

Wirklich beeindruckend das geduckte Design des neuen Audi A7 ("Grün ist alle Theorie", 19. Januar): von sportlicher Eleganz und Dynamik, so richtig geformt, und ein Fahrerlebnis, das nur nach den Intentionen des Fahrers frei gestaltet wird. Als wenn die Form Gefühle befriedigen könnte, die sich im Normalverkehr nicht mehr erleben lassen. Die Realität ist leider anders, schon heute.

Deshalb müsste ein zukunftsfähiger Entwurf anders ausfallen: Keine so hohe Ladekante für den Kofferraum; keine durch lebhafte Wölbungen, herausragende Kanten und zurückgesetzte Seitenscheiben notwendigerweise dicke Türen, die in Parklücken bei eingeschränktem Öffnungswinkel ein bequemes Ein- und Aussteigen behindern. Deren zum Aussteigen bei gleichbleibender Stellplatzbreite verbleibender Türspalt erzwingt, sich mit katzenartiger Gelenkigkeit aus dem tief liegenden Sitz nach oben und schließlich nach außen zu hieven, um dann auch noch die beiden benachbarten Karosserien mit der eigenen Kleidung zu trocknen oder zu säubern. Eben keine immer stärker nach hinten abfallende Dachlinie bei ansteigenden unteren Fensterlinien, die die hinten Sitzenden in niedrige Sitzpositionen zwingen. Wenn Audi das in sein Lastenheft geschrieben hätte, wären seine Konstrukteure und Designer (nicht nur beim neuen A7) zu einem anderen Ergebnis gekommen.

Hans Lafrenz

Hamburg

Außenpolitik

mit dem Scheckbuch

Die Europäische Union hat die Palästinenser im Jahr 2008 mit 73 Millionen Euro unterstützt. Ein Teil davon dürfte für Waffenkäufe verwendet worden sein. Kaum sind die Kriegshandlungen, die von Palästinensern provoziert worden sind, abgeflaut, steht der deutsche Außenminister mit dem Scheckbuch auf der Matte ("Deutschland prescht bei Friedensdiplomatie in Gaza vor", 20. Januar). Damit gewinnt er vielleicht Sympathien in den islamischen Ländern, er gibt dafür die Sicherheit des Staates Israel preis. Der Teufelskreis hat sich wieder geschlossen.

Jürgen Bollinger

Neuwied

Von Menschen

und Fischen

In dem lesenswerten Artikel "Das Überleben der Schwächsten (13. Januar) steht, dass am besten erforscht der Einfluss des Super-Jägers, also des Menschen, im Fall von Dorsch und Kabeljau sei. Hinter diesen beiden verbirgt sich jedoch derselbe Fisch "Gadus morhua", wobei mit der Bezeichnung Dorsch zum Einen der Kabeljau aus der Ostsee, zum Anderen auch der noch nicht geschlechtsreife Kabeljau beschrieben wird. Als Dorsche (Gadidae) wird auch eine Familie der Knochenfische bezeichnet, dessen größte Art der Kabeljau ist.

Dr. Gerold Wempe

Heidelberg

Die Justiz könnte durch Videos im Gerichtssaal transparenter werden. ddp

Einzelne wiederaufgebaute Gebäude können eine Brücke zwischen Tradition und Moderne schlagen. Das Bild zeigt die Dresdner Frauenkirche. Foto: ddp

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IN EIGENER SACHE

Es gab vor und nach Abdruck des Interviews "Den Wahnsinn weglachen" mit Tom Cruise in der Redaktion viele Debatten, ob man ein Gespräch in dieser Form wiedergeben kann. Wir hatten uns im Feuilleton für die kommentierte Form entschieden, weil gerade bei Interviews mit Filmstars der Gesprächsverlauf viel über den Menschen erzählt. Da Tom Cruise ein Star ist, der im Interview viel mit Gesten, Mimik und Subtext kommuniziert, hielten wir es für angemessen, diese Ebene des Gesprächs mit einzuflechten. Das Fernsehen hat es in so einem Fall leichter.

Beim Redigieren des Textes haben wir allerdings streng darauf geachtet, dass die Kommentare unseres Filmkritikers Tobias Kniebe nicht ausschließlich in die eine oder andere Richtung gehen. Grundsätzlich hält Tobias Kniebe Tom Cruise für einen hervorragenden Schauspieler und "Operation Walküre" für einen sehr guten Film. Weil Cruise aber eine Figur ist, die gerade in Deutschland polarisiert, haben wir viele Leserbriefe erhalten, die uns entweder eine zu große Nähe oder eine zu kritische Haltung vorgeworfen haben.

Die Frage nach der Religionszugehörigkeit konnten wir in diesem Falle nicht aussparen, weil seine Rolle in der Church of Scientology die Debatte, ob er die Figur des Claus Schenk Graf von Stauffenberg spielen darf, ursprünglich ausgelöst hatte. Im Sommer 2007 hatte die Sektenbeauftragte der CDU, Antje Blumenthal, Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung geraten, die Dreharbeiten am Originalschauplatz der Erschießung von Stauffenberg und seiner Mitverschwörer wegen Cruises Zugehörigkeit zu Scientology zu untersagen - was zunächst auch geschah. Sowohl zum Streit um den dann doch durchgeführten Dreh im Bendlerblock wie auch zu den Kontroversen um seine Weltanschauung hat Tom Cruise Stellung in diesem Interview genommen. Beide Antworten wurden nicht kommentiert.

Bei den meisten Lesern stellte sich weder der Eindruck ein, Tobias Kniebe habe Tom Cruise auf ein Podest gestellt, noch fanden sie, er habe ihn lächerlich gemacht. Weil das kommentierte Interview bei vielen unserer Leser aber doch Irritationen hervorgerufen hat, werden wir in Zukunft mit dieser Form weiterhin sehr sparsam umgehen.

Andrian Kreye,

Ressortleiter Feuilleton

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US-Präsident Barack Obama will das umstrittene Gefangenenlager Guantanamo schließen, wo nach dem 11. September Terrorverdächtige inhaftiert wurden. Unter ihnen sind auch etwa 50 nachweislich unschuldig Inhaftierte. Soll Deutschland diese Häftlinge aufnehmen?

Mit der "Frage der Woche" will die Süddeutsche Zeitung die Diskussion mit

und unter ihren Lesern anregen. Bitte antworten Sie schriftlich, vorzugsweise per Mail an forum@sueddeutsche.de.

Die Zuschriften werden wir auf einer der nächsten FORUM-Seiten drucken. Bitte haben Sie Verständnis dafür,

dass wir nicht alle Briefe veröffentlichen können.

FRAGE DER WOCHE

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KORREKTUREN

In "Acker im Ausland" (Wirtschaft, 17. Januar, S. 26) hieß es, der südkoreanische Konzern Daewoo wolle 1,3 Millionen Hektar Land in Madagaskar pachten. Das entspricht etwa der Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Madagaskars und nicht wie irrtümlich

erwähnt der Hälfte der gesamten Inselfläche.

Am 20. Januar erschien im Feuilleton auf Seite 13 die Kritik "Doppelrahmstufe" über "Die lustige Witwe" an der Hamburger Staatsoper. Dirigiert hat jedoch nicht Simone Young, sondern ihre Stellvertreterin Karen Kamensek.

Barack Obama sei der jüngste US-Präsident seit John F. Kennedy, stand in "Ein Mann, ein Versprechen" (Seite Drei, 21. Januar). Das ist nicht korrekt. Denn Vorvorgänger Bill Clinton war

bei seinem Amtsantritt 46 Jahre und

154 Tage alt, Obama dagegen 47 Jahre und 169 Tage.

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Doch kein Anthrax

Die New Yorker Polizei hat das weiße Pulver, das am Mittwoch in 13 Briefumschlägen der Redaktion des Wall Street Journals zugestellt wurde, inzwischen für ungefährlich erklärt. Aus Sorge um einen möglichen Anschlag mit dem Milzbranderreger Anthrax waren zuvor zwei Etagen des Verlagsgebäudes evakuiert worden. Die mysteriösen Briefe wurden alle in Tennessee aufgegeben und waren an Führungskräfte adressiert. SZ

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Kerkeling macht's möglich

"Junge Zielgruppe" ist die Sehnsuchtsvokabel aller Fernsehveranstalter. Für das ZDF hat sich so gesehen am Mittwochabend eine Sehnsucht erfüllt. Ein Mann, ein Fjord!, die Verfilmung des Hörbuchs von und mit Hape Kerkeling, schauten 7,17 Millionen Zuschauer. 2,46 Millionen davon waren zwischen 14 und 49 Jahre alt. Der entsprechende Marktanteil bei den Jungen von 17,8 Prozent ist ein außergewöhnlich hoher Wert für ein TV-Movie, ein seltener fürs ZDF. SZ

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Zeugen unerwünscht

Peter McGee verkauft Nachdrucke von NS-Zeitungen - nun hat Bayerns Finanzministerium Strafantrag gegen ihn gestellt

Dürfen Deutsche im Jahr 2009 eine NS-Zeitung wie den Völkischen Beobachter von 1933 lesen? Der englische Verleger Peter McGee ist dafür, er hat am Donnerstag 150 000 Exemplare der zweiten Nummer seiner Publikation Zeitungszeugen ausliefern lassen, unter anderem mit einem Nachdruck des Völkischen Beobachters vom Tag nach dem Reichstagsbrand ("Das Maß ist voll!"). Das bayerische Finanzministerium, bei dem die Verwertungsrechte des Eher-Verlags liegen, der das Hetzblatt einst herausgab, ist dagegen. Es hatte McGee am 16. Januar, nach der Startausgabe, untersagt, Eher-Faksimiles zu verbreiten. McGee hat nicht darauf gehört. Das hat nun Folgen.

Am Donnerstag hat das Ministerium wegen der Ausgabe mit dem Völkischen Beobachter Strafantrag gestellt, unter anderem wegen Urheberrechtsverletzungen. Man werde zudem zivilrechtliche Schritte einleiten, hieß es, "um künftige Nachdrucke der NS-Hetzpresse wie dem Völkischen Beobachter zu verhindern".

McGees Berliner Anwalt Ulrich Michel gibt sich optimistisch. Er weist das Verbot im Gespräch mit der SZ aus mehreren Gründen zurück. So argumentiere das Ministerium, dass es die Urheberrechte am Völkischen Beobachter und anderen Eher-Publikationen durch öffentlich-rechtliche Akte des Alliierten Kontrollrates in den Jahren 1945 bis 1947 erhalten habe - um eine Wiederverbreitung zu verhindern. Michel zufolge gibt es für eine solche "gesonderte Rechtswahrnehmung" aber "keinen Raum mehr", da nach 1947 ordentliche Gesetze zur Verhinderung der Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen erlassen worden seien: "Die Verwaltung kann nicht über das Urheberrecht Verbote öffentlich-rechtlicher Natur durchzusetzen versuchen, für die es keine öffentlich-rechtliche Gesetzesgrundlage gibt."

Auch das Urheberrecht greife nicht. Es schütze den wirtschaftlichen Wert eines Werkes in Form der Verwertungsrechte und das Urheberpersönlichkeitsrecht. Der Freistaat habe aber betont, dass er eine Verbreitung verhindern wolle, an einer wirtschaftlichen Verwertung also kein Interesse habe. "Und dass sich das Ministerium für den Schutz des Urheberpersönlichkeitsrechtes der Autoren und Herausgeber, also Joseph Goebbels, einsetzen will, ist unvorstellbar."

Falls der Urheberrechtsschutz doch greifen sollte, gelte laut Michel die sogenannte Zitatfreiheit: "Eine Vervielfältigung wie die unseres Mandanten ist zulässig, wenn das zitierte Werk in ein selbständiges wissenschaftliches Werk aufgenommen wird. Das ist bei den Zeitungszeugen mit dem mehrseitigen Mantel, in dem renommierte Historiker die Faksimiles kommentieren, eindeutig der Fall." Und schließlich würde das Projekt noch durch die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Wissenschaft geschützt.

Und was sagt der Verleger? McGee gibt zu, dass er von dem Streit nicht überrascht worden sei; Michel und er hätten sich bereits im Juli 2008 beraten. "Dass wir das Ministerium nicht vorher um Erlaubnis gebeten haben, liegt daran, dass wir seine Haltung kannten", sagt er. Nach einem "Nein" vor dem Start wäre es für das Projekt viel schwieriger geworden. "Die Debatte, die jetzt stattfindet, begrüßen wir sehr. Wir wollen öffentlich über den Umgang mit Publikationen aus der NS-Zeit diskutieren." Juristisch will der englische Verleger "Schritt für Schritt" vorgehen, notfalls bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Er hoffe aber, sich mit dem Freistaat vorher noch zu einigen. MARC FELIX SERRAO

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Drinks gegen den Kater

Ganz ohne Schäumchen: Das neue Foodmagazin "Effilee"

Von klein auf hat sie ihn fasziniert, die Ente. Gebraten, gegart, in jeder Form. Heute genießt er sein Lieblingsgeflügel am liebsten, nachdem es - sparsam mit Salz und Pfeffer gewürzt - etwa 80 Minuten lang im Ofen war. Und weil er es sich leisten kann, hat der Unternehmer Vijay Sapre sein Magazin auch nach der klassischen Bezeichnung für hochwertiges Geflügel benannt, das nur von seinem Darm befreit und gerupft wurde: Effilee. Mit dem neuen Heft für und über Menschen, die Essen lieben, erfüllt sich der 46-Jährige einen Traum, den sich nur einer wie er leisten kann. 1996 hatte Sapre das Internetportal mobile.de gegründet, eine Verkaufsplattform für Gebrauchtwagen, 2005 hat er sie mit hohem Gewinn an Ebay verkauft. Für Sapre, der schon als Student Geld sparte, um ein, zwei Mal im Jahr ins Nobelrestaurant zu gehen, war klar: Das nächste Mal geht es ums Essen.

Mit der Gründung des Portals kochpiraten.de, einer Art Wikipedia zum Thema, verband Sapre kulinarischen Überzeugungen und Onlinekenntnisse. Doch nach einiger Zeit wurde ihm klar, dass sich das Internetgeschäft allein nicht rechnen würde. Außerdem hatte er das Bedürfnis, nach zwölf Jahren wieder etwas Anderes zu machen, etwas zum Anfassen. Zuerst wurde aus kochpiraten.de die Seite effilee.de. Dort, quasi als Printableger, entstand dann das Heft, im eigens gegründeten Verlag in Hamburg.

Ein Neuanfang war Effilee nicht nur für Sapre, der sein Team aus ehemaligen mobile.de-Kollegen und Leuten von außen zusammenstellte. Mit sieben festen und vier freien Mitarbeitern sollte es auch ein Neuanfang im "Foodjournalismus" werden. Sapres Ziel war ein Magazin mit Geschichten von Menschen zu entwickeln, die im weitesten Sinne mit Essen zu tun haben. Hefte, in denen sich ein Rezept ans nächste reiht und jede Saison eine Zutat durch alle Menüstufen dekliniert wird, gab es seiner Meinung nach genug: "Wenn ich viele Rezepte will, kaufe ich mir ein Kochbuch, nicht ein Foodmagazin." Bei Effilee sollte die Freude am Essen im Mittelpunkt stehen. "Es gibt viele üppige, bunte oder exotische Essensmagazine", sagt Redakteur Peter Lau, der früher beim Wirtschaftsmagazin Brand eins war. "Aber Freude?"

Freude am Essen zu vermitteln klingt naheliegend, ist in dem Marktsegment aber keine Selbstverständlichkeit. Anders als in Ländern wie Frankreich gab es in Deutschland bisher nur die Extreme. Einerseits Hefte wie den Feinschmecker, die Hochglanz-Tipps für teure Menüs in abgelegenen Ferienorten präsentieren. Andererseits Publikationen wie Essen & Trinken fürs tägliche Gebrutzel. Dazwischen Diät- und Vegetariermagazine, die versuchen, den Lesern im Herbst das Kraut schmackhaft zu machen, und jene Veröffentlichungen, die bloß die Rezepte der Fernsehköche abdrucken. Sapre sagt, er habe keine Zielgruppenforschung betrieben. Seine Leser stelle er sich als Menschen zwischen 35 und 40 Jahren vor, die einen festen Rahmen aus Beziehung und Beruf haben und gutes Essen einem Clubbesuch vorziehen. "Glauben Sie nicht, dass das nur ein Kochheft ist", schrieb er in seinem ersten Vorwort.

Schneller Teller

Zumindest sieht Effilee nicht so aus. Das Layout der ersten beiden Ausgaben wirkt leicht, mit Schwarzweißfotos zur Weingeschichte und Illustrationen statt knallbunter Food-Fotografie. In jeder Ausgabe gibt es eine Modestrecke in einem Lokal und die Rubrik "Drei Töpfe". Darin kochen Menschen aus drei Kulturen die gleiche Zutat oder das gleiche Gericht; in der aktuellen zweiten Ausgabe bereiten eine Schottin, eine Thailänderin und eine Argentinierin Hühnersuppe zu. Rezepte gibt es auch, allerdings seltener als anderswo. Sie heißen "Schnelle Teller" oder sind auf eine Zutat gemünzt - aktuell Steckrüben -, und sie sind eines der wenigen Dinge im Heft, die etwas uninspiriert wirken. Originell sind dafür die Cover: Statt elegant drapierter Filets an Schäumchen mit Häubchen gibt es ein Stück Butter in der Pfanne oder, passend zum Schwerpunktthema Kater, die Zutaten für eine "Prärieauster" lose versammelt, als wäre das Gebräu gegen einen dicken Kopf gerade erst angerührt worden.

Die Konkurrenz der Kochportale schrecke ihn nicht ab, sagt Sapre. "Der Erfolg dieser Plattformen und zahlreicher Foodblogs beweist, dass Nachfrage da ist." Doch nur ein gedrucktes Heft könne man am Frühstückstisch lesen. Effilee ist mit einer Auflage von 113 000 Stück und einem Preis von 6,80 Euro gestartet. Das Magazin soll alle zwei Monate und erstmal bis Ende des Jahres erscheinen. Das habe er seiner Redaktion versprochen, sagt Sapre, das könne er sich leisten. LEA HAMPEL

Wo ist das Essen? Ein Effilee-Bild zum Thema "Fitt durch Fett". Foto: Effilee

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Journalisten fordern Waffen

Nach dem Mord an der Journalistin Anastassija Baburowa und dem Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow in Moskau hat die russische Zeitung Nowaja Gaseta die Bewaffnung ihrer Reporter verlangt. Der Verlag des Blattes beantrage eine entsprechende Lizenz beim Inlandsgeheimdienst FSB, sagte Miteigentümer Alexander Lebedew am Donnerstag in Moskau. Die Reporterin und der Anwalt waren am Montag auf offener Straße erschossen worden. dpa

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"Keine Wiederholungsgefahr"

Erst nach Monaten hat die Telekom in ihrer Spitzelaffäre den Streit mit einem "Capital"-Redakteur beendet

Ein gutes halbes Jahr, nachdem René Obermann Vorstandschef der Deutschen Telekom geworden war, sprach ihn im August 2007 ein Mitarbeiter aus der Sparte T-Mobile an. Er informierte den Chefmanager über einen heiklen Vorgang. Die Sicherheitsabteilung des Konzerns habe die Verbindungsdaten des Capital-Redakteurs Reinhard Kowalewsky ausgewertet, um festzustellen, mit welchem Aufsichtsrat der Wirtschaftsjournalist wann und wie lange telefoniert hatte. Der Mann von Capital hatte den Vorstand mit Geschichten über vertrauliche geschäftliche Vorgänge genervt.

Am nächsten Tag schon schaltete Obermann den Chefjustiziar und den Leiter Wirtschaftsrecht ein und bat die beiden, sofort Ermittlungen aufzunehmen. Der Sicherheitsbereich wurde kurz darauf komplett umstrukturiert, Kompetenzen wurden neu aufgeteilt und Mitarbeiter versetzt. Auch erarbeitete der Telefonkonzern einen neuen Verhaltenskodex. Nur Kowalewsky wurde über die Ausspähung nicht informiert. Die Telekom sei zunächst von einem Einzelfall ausgegangen, erklärte Obermann später. Die Späher hatten herausgefunden, dass der Redakteur mit dem damaligen Aufsichtsrat Wilhelm Wegner telefoniert hatte.

Erst als im Mai 2008 nach einer Strafanzeige des Konzerns publik geworden war, dass es offenkundig solche illegalen Aktionen in Serie gegeben hatte und die Spitzelaffäre die Medien bewegte, entschuldigte sich Obermann bei Kowalewsky sowie bei Wegner. Es sollte noch Monate dauern, bis die Telekom ein kleines Anliegen des Journalisten erfüllte und vor kurzem zusagte, die Verbindungsdaten seiner Telefonanschlüsse nicht ohne seine Einwilligung zu nutzen, zu verarbeiten oder weiterzugeben. Mit einer Einschränkung: "sofern dies nicht aufgrund gesetzlicher Grundlagen zulässig ist". Schließlich sind die Daten notwendig, um die Gespräche abrechnen zu können.

Dass der Telefonkonzern so lange gebraucht hat, um der Aufforderung des 49 Jahre alten Capital-Redakteurs nachzukommen, hat wohl mehrere Gründe, die von mangelndem Fingerspitzengefühl bei der Telekom bis zu juristischen Feinheiten reichen und im Nachhinein ziemlich grotesk wirken. Die Erklärung, Kowaleskys Daten nur legal zu nutzen, versteht sich eigentlich von selbst, gibt es doch das Post- und Fernmeldegeheimnis. In einem anderen Fall, bei dem ebenso von den Spähern erfassten Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske, ging das viel schneller. Der Gewerkschaftschef erhielt die von ihm geforderte Unterlassungserklärung binnen einer Woche.

Die Verbindungsdaten von Bsirske, dessen Organisation oft und heftig mit der Telekom über Tarifverträge und wegen Stellenstreichungen streitet, sollen ein einziges Mal von der Sicherheitsabteilung des Konzerns unzulässig erfasst und ausgewertet worden sein. Ganz anders als bei Kowalewsky, dem Telekom-Experten von Capital, über dessen Geschichten sich die alte Konzernspitze offenbar wiederholt geärgert hatte. Die Staatsanwaltschaft Bonn und das Bundeskriminalamt messen noch immer die Ausmaße der Affäre aus, doch eines steht schon fest: Keiner wurde so lange und so konsequent ins Visier genommen wie Kowalewsky. Insgesamt waren knapp 60 Personen, darunter vor allem Gewerkschafter und Journalisten, bespitzelt worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Ex-Vorstandschef Kai-Uwe Ricke, den früheren Aufsichtsratsvorsitzenden Klaus Zumwinkel, und weitere Beschuldigte. Ein ehemaliger Telekom-Manager sitzt in Untersuchungshaft.

Künftig droht Schadenersatz

Gut zehn Wochen nachdem die Spitzeleien öffentlich bekannt geworden waren, hatte Kowalewsky Ende Juli 2008 Klage beim Landgericht Bonn gegen die Telekom erhoben. Mit Unterstützung seines Verlags Gruner + Jahr, der offenbar gerne noch härter gegen den Telefonkonzern vorgegangen wäre als der Wirtschaftsredakteur, dem es nur um die Unterlassungserklärung ging. Doch die Frankfurter Anwälte der Telekom stellten sich stur und reichten noch im November bei Gericht einen Schriftsatz ein, der teilweise ein Ausdruck von Ignoranz war. Die "ernsthafte Gefahr einer Wiederholung" bestehe nicht, schrieben die Juristen. So werde aufgrund der intensiven Berichterstattung in der Presse künftig niemand mehr annehmen können, solche Ausforschungen seien in irgendeiner Form zulässig. Außerdem werde mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft, wer gegen das Fernmeldegeheimnis verstoße, was ebenfalls gegen eine Wiederholung spreche. Die Strafnorm hatte frühere Konzernmitarbeiter freilich nicht von den Spitzeleien abgehalten.

Andererseits trug die Telekom bei Gericht auch vor, die von Gruner + Jahr geforderte Erklärung gehe zu weit. Werde es dem Konzern verboten, die Verbindungsdaten von Kowalewsky zu erheben, dann werde der Redakteur "keine Telefonate mehr führen können". Kowalewsky wurde das alles irgendwann zu bunt. Er rief den für Datenschutz zuständigen neuen Telekon-Vorstand Manfred Balz an, und der brachte schnell die gütliche Einigung auf den Weg. In der verpflichtet sich die Telekom auch, im Falle einer Zuwiderhandlung Schadenersatz zu zahlen, den Kowalewsky bestimmen und ein Gericht überprüfen kann.

Irgendwann einmal, wenn diese Affäre ganz aufgeklärt ist, wird der Capital-Redakteur wohl ohnehin Geld erhalten, Schmerzensgeld. 10 000 Euro oder vielleicht auch 15 000. Kowalewsky will das Geld dann spenden, an "Reporter ohne Grenzen" zum Beispiel.

HANS LEYENDECKER/KLAUS OTT

Die Zentrale der Deutschen Telekom in Bonn wird streng überwacht. Ähnlich erging es auch einigen kritischen Journalisten. Foto: dpa

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"Vanity Fair" sucht Chef

Der Chefredakteur der deutschen Vanity Fair, Nikolaus Albrecht, gibt seinen Posten zum Jahresende 2009 auf. Der 40-Jährige werde anschließend auf eigenen Wunsch als US-Korrespondent für die deutschen Ausgaben von Vogue und Vanity Fair tätig sein, gab Condé-Nast-Chef Jonathan Newhouse bekannt. Mit der Suche nach einem neuen Chefredakteur für das deutsche Magazin sei eine Pariser Personalberatung betraut. ddp

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Goldrausch in der Tiefsee

Metalle, Erze und Öl: Mit Wild-West-Methoden reißen sich Industrienationen um Rohstoffe am Meeresgrund - Umweltschützer sind alarmiert

Manchen Schätzen sieht man ihren Wert nicht an. In einer Lagerhalle am Stadtrand Hannovers beugt sich Michael Wiedicke über eine große, helle Plastikkiste. In Tüten verpackt liegen darin schwarze Klumpen, die aussehen wie schrumpelig-faule Kartoffeln. Es sind so genannte Manganknollen aus 5 000 Metern Tiefe im Pazifik. Für sie hat der Geologe der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) soeben acht Wochen auf einem Forschungsschiff zugebracht. Für sie hat er den Tropensturm Polo über sich ergehen lassen. Für sie hat er tagein tagaus schweres Gerät im wogenden Pazifik versenkt - und gemeinsam mit seinen Kollegen 400 Kilogramm Manganknollen an Bord geholt. Nun will er sie in Hannover genau untersuchen.

Es war die erste Expedition in ein Gebiet, das Wiedicke scherzhaft "Deutschlands 17. Bundesland" nennt - dabei liegt es 15 000 Kilometer von Berlin entfernt. Kaum jemand weiß, dass Deutschland seit 2006 die Rechte an einem riesigen Areal des Meeresbodens im Pazifik besitzt. Gekauft im Auftrag der Bundesregierung bei der Internationalen Seebodenbehörde in Jamaika, die Schürfrechte in internationalen Gewässern vergeben darf. Das deutsche Gebiet umfasst 75 000 Quadratkilometer - eine Fläche so groß wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein zusammen.

16 Anker halten ein Schiff

"Die Knollen stecken voller wertvoller Buntmetalle. Vor allem Kupfer, Nickel und Kobalt enthalten sie in viel höheren Konzentrationen als wir sie aus Erzminen an Land kennen", schwärmt Wiedicke. Er zeigt neue Fotos aus dem Pazifik: Dicht an dicht liegen massenhaft Manganknollen auf dem Meeresboden, über Hunderte von Kilometern. "So sieht es zwischen Hawaii und Mexiko fast überall aus, auf einer Fläche so groß wie die USA", sagt der Geologe. Nach Wiedickes Berechnungen könnten die Knollen den weltweiten Bedarf an Buntmetallen einhundert Jahre lang decken. Ihren Wert schätzt er auf bis zu 400 Dollar pro Tonne. Auf dem Tiefseeboden im Pazifik liegen Milliarden.

Deutschland ist nicht das einzige Land, das es auf die Manganknollen abgesehen hat. In seinem Büro zeigt Wiedicke eine Karte des Knollengebiets. Sie sieht aus wie ein buntes Schachbrett: Mitten im Pazifik liegt der deutsche Abschnitt, olivgrün gefärbt. Direkt daneben: Koreas Lizenzgebiet in rot, das eines osteuropäischen Staatenverbunds in gelb. Auch Russland, China, Japan und Frankreich haben hier ihre Claims abgesteckt, nur durch Linealstriche voneinander entfernt. Immer mehr Staaten entwickeln derzeit Techniken, um die Manganknollen zu heben. Am Meeresboden des Pazifiks liegen die Rohstoffe der Zukunft.

Diese Zukunft hat in Angola bereits begonnen. Hier fliegen Helikopter täglich von Angolas Hauptstadt Luanda aus weit vor die Westküste Afrikas. Sie setzen die Mitarbeiter des französischen Erdölkonzerns Total auf zwei gigantischen Ölförderschiffen ab. Mit ihnen erobert der viertgrößte Erdölkonzern der Welt schon heute die Tiefsee. Die sogenannten "Floating Production, Storage and Offloading Vessels" (FPSO) sind groß wie drei Bohrinseln - und kosten mehrere Milliarden Dollar. 16 Anker halten eine der schwimmenden Fabriken, während das schwarze Gold der Tiefsee in ihre Bäuche strömt. Bis auf 1 400 Meter Tiefe reichen die Ölleitungen von den Förderschiffen hinab, von dort aus gehen die Bohrungen weitere 1 000 Meter tief in den Meeresboden.

Noch vor zehn Jahren hatte das niemand für möglich gehalten. Die Öl-Förderung aus großen Wassertiefen galt als zu teuer und zu kompliziert. Heute pumpt Total 70 Millionen Liter Öl aus der Tiefsee vor Angola. Tag für Tag. Wichtigste Abnehmer sind China und die USA. Amerika bezieht bereits mehr Öl aus Angola als aus Kuwait. Aus einem der ärmsten Länder Afrikas ist das neue Dorado der Erdölindustrie geworden. Alle großen Öl-Konzerne lassen sich inzwischen in Luanda nieder. Während Experten warnen, dass die Förderung an Land zur Neige geht, wurden allein vor der Westküste Afrikas bisher zehn Prozent der weltweit bekannten Ölreserven entdeckt. Und je mehr gesucht wird, desto mehr wird gefunden.

Krisenherde unter Wasser

Ob Erdöl, Manganknollen oder sogar Gold - weltweit stoßen Forscher und Konzerne in der Tiefsee auf immer neue Lagerstätten. So auch vor Neuseeland. Das deutsche Forschungsschiff Sonne war dort im August 2007 drei Wochen lang unterwegs. Ein Team rund um Peter Herzig, den eigens angereisten Leiter des Kieler Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften IFM-Geomar, testete vor Neuseeland erstmals sein neuestes Forschungsgerät. Der Tauchroboter Kiel 6000, groß wie ein PKW und knallgelb gestrichen, war über ein sechs Kilometer langes Kabel mit dem Mutterschiff verbunden. Vom Kontrollraum der Sonne aus lenkten die Forscher das Hightech-Gerät ferngesteuert in die dunkle Tiefsee und prüften, ob seine Videokameras, Lampen und Greifarme einwandfrei funktionierten.

In 1600 Metern Tiefe erreichten sie ihr Ziel. Auf den Monitoren tauchten so genannte Schwarze Raucher auf, heiße Quellen am Meeresboden. Bis zu 400 Grad Celsius ist das Wasser warm, das diese meterhohen Schlote in die kalte Tiefsee speien. In dem Wasser haben sich Gold, Silber, Kupfer und Zink aus der Erdkruste gelöst. Mineralien, die sich nach und nach am Meeresboden absetzen, in meterdicken Schichten. "Wir müssen hier noch die Gehalte der Erze bestimmen. Aber vom Prinzip her ist das schon ein sehr attraktives Gebiet", sagt Peter Herzig. Er ist weltweit anerkannt als Experte für die rätselhaften unterseeischen Quellen. Attraktiv ist das Gebiet vor allem für die Bergbauindustrie. Neuseeland hat als eines der ersten Länder der Welt eine Erkundungslizenz für die Gold- und Kupferablagerungen am Meeresgrund verkauft - an das britisch-australische Unternehmen Neptune Minerals. Sie wollen die neuen Erzminen von 2010 an abbauen. Ein Projekt mit Signalwirkung: Schwarze Raucher gibt es auch vor den Küsten anderer Staaten, von Papua-Neuguinea bis Italien.

Dabei ist an vielen Stellen der Erde nicht klar, wem die Schätze der Tiefsee gehören. Zuletzt zeigte sich das am Nordpol. Im Sommer 2007 postierte dort ein russisches U-Boot die Nationalflagge am Meeresboden. Die Aktion sorgte weltweit für Aufsehen.

Geologen vermuten auch unter dem Eis der Arktis enorme Mengen Erdöl und Gas. Seither streitet Russland mit Norwegen, Dänemark, Kanada und den USA darüber, wem der Meeresboden der Arktis gehört - und wer über die dort enthaltenen Rohstoffe in Zukunft verfügen darf. Unter Wasser spielten Staatsgrenzen jahrhundertelang keine Rolle. Doch seit die Tiefsee technisch erschließbar wird, entbrennen neue Konflikte.

Auch vor Angola droht Streit. Innerhalb der 200-Seemeilen-Zone - einer Wirtschaftszone vor der Küste, die jedem Küstenstaat zusteht - verkauft Angolas Regierung die begehrten Tiefsee-Lizenzen für bis zu eine Milliarde US-Dollar an die Ölkonzerne. Kein Wunder also, dass der Staat seine Wirtschaftszone nun auf 350 Seemeilen erweitern will. Die beiden Nachbarstaaten Namibia und Kongo protestieren jedoch. Am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg rechnen die Völkerrechtler für die Zukunft mit zahlreichen ähnlichen Konflikten. Schon jetzt seien die Grenzverläufe auf See an rund 100 Orten weltweit umstritten. Der Streit eskaliert, wenn dort Rohstoffe gefunden werden.

Ein Gebiet ohne Regeln

Biologen und Umweltschützer verfolgen den Goldrausch in der Tiefsee mit Sorge. Im Labor des französischen Meeresforschungsinstituts Ifremer in Brest, wenige Hundert Meter von den steilen Klippen der Bretagneküste entfernt, untersuchen sie Proben aus allen Meeren der Welt. Sie kommen mit ihrer Arbeit kaum hinterher: Jede Expedition in die Tiefsee fördert Hunderte Lebewesen zutage, die die Forscher nie zuvor gesehen haben. Bis zu 10 Millionen Tierarten vermuten sie in den Ozeanen. Und gerade mal zwei Prozent davon haben bisher überhaupt einen Namen. Joelle Galéron und Lenaick Menot werten Videoaufnahmen aus, die sie im Pazifik gemacht haben - genau dort, wo die deutsche Regierung Manganknollen abbauen lassen will. Über den Monitor schwimmen knallbunte Seegurken, Anemonen biegen sich in der Strömung, und fremdartige Krebse verschwinden inmitten der Knollen. Doch dann stoßen die Biologen auf Spuren im Meeresboden, die wirken, als sei erst gestern dort ein Bagger durchgefahren. Es sind die Hinterlassenschaften eines Abbautests von vor 30 Jahren. Damals förderte ein Firmen-Konsortium, dem auch die deutsche Preussag angehörte, 800 Tonnen Manganknollen an Bord. Doch bald darauf brachen die Rohstoffpreise ein und der teure Tiefseebergbau wurde gestoppt.

Heute sind die Pläne aktueller denn je. Die Biologen haben Proben genommen aus dem Meeresboden unter den Knollen. Und sind alarmiert. "Dort leben Tiere, die nur einige Millionstel Meter klein sind", staunt Joelle Galéron. "Aber genau sie machen die ungeheuer reiche Artenvielfalt im Meeresboden aus." Ihr Kollege Lenaick Menot erläutert, dass ein Abbau über dem Meeresboden eine gigantische Staubwolke aufwirbeln könnte, jahrzehntelang. Er bezweifelt, dass sich die Lebensgemeinschaften der Tiefsee von einem solchen Eingriff erholen würden - es sei denn, man ließe große Flächen zwischen den Abbaugebieten unberührt.

Auch vor Angola waren die französischen Biologen unterwegs, zum Teil finanziert von Total. Ganz in der Nähe der Ölförderanlagen haben sie sensible Ökosysteme entdeckt: Kaltwasserkorallen sowie zahllose unbekannte Lebewesen am Meeresboden. Welche Folgen eine Ölpest in einer solchen Umgebung hätte, ist noch völlig unklar. Für dringend notwendige, umfassende Umweltstudien fehlt den Forschern das Geld. Verbindliche Umweltregeln gibt es in der Tiefsee bisher fast nirgendwo, auch Schutzgebiete fehlen. Der Meeresboden droht zum Pionierland wie einst der Wilde Westen zu werden - ein Gebiet ohne Regeln und Kontrollen, in dem sich jeder greift, was er kann. SARAH ZIERUL

Am Montag, 26. Januar, um 22 Uhr zeigt das WDR den Film der Autorin "Wem gehört das Meer? Wettlauf um die letzten Rohstoffe".

Gigantische Ölförderschiffe saugen den Meeresgrund vor Angola aus - mit gravierenden Folgen für die Umwelt. Ähnliches befürchten Biologen, wenn auch erzhaltige Manganknollen im großen Stil abgebaut werden. Fotos: Laif / Blickwinkel

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Wälder unter Stress

In den USA hat ein verheerendes Baumsterben begonnen

In den vom Menschen weitgehend unberührten Wäldern im Westen der USA sterben die Bäume. Die Sterberate hat sich seit 1955 mehr als verdoppelt. Das entnehmen der kalifornische Ökologe Phillip van Mantgem vom geologischen Dienst der USA und Kollegen den Aufzeichnungen über die Bestände. Van Mantgem spricht von einem demographischen Wandel im Wald. Es sei normal, dass in einem Bestand regelmäßig Bäume sterben. "Doch unsere Langzeitbeobachtungen haben gezeigt, dass die Sterberate gestiegen, aber der Nachwuchs konstant geblieben ist." Diese Veränderung könnten langfristig gesehen den gesamten Wald treffen und schließlich dazu führen, dass die Bestände insgesamt mehr von dem Treibhausgas Kohlendioxid ausstoßen, als sie bei ihrem Wachstum aufnehmen, sagt van Mantgem. Wenn viele abgestorbene Bäume verrotten, könnten die Wälder so den Klimawandel beschleunigen, statt ihm entgegenzuwirken.

In den ansonsten gesund aussehenden Wäldern seien alle Baumarten gleichermaßen betroffen, stellen die Forscher fest. Auch das Alter, ihre Größe oder die Höhe des Standortes spiele keine Rolle, berichten sie in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals Science (Bd. 323, S. 521, 2009). Aus diesem Befund folgert das Team, dass nicht einfacher Ressourcenmangel das Sterben verursacht. Zwischen 1970 und 2006 sei jedoch die durchschnittliche Jahrestemperatur im Untersuchungsgebiet um mindestens ein Grad Celsius gestiegen. Diesen Anstieg machen die Forscher nun für das Sterben verantwortlich. Er könne zu Wassermangel, Wärmestress und einer allgemeinen Anfälligkeit für Krankheiten und Schädlinge führen. Die Trockenheit halten die Forscher für "die wahrscheinlichste Kraft" hinter dem Baumsterben.

Auch beim nördlichen Nachbarn Kanada sterben in manchen Gebieten inzwischen mehr Bäume als nachwachsen. Untersuchungen der kanadischen Forstverwaltung haben gezeigt, dass sich die Wälder insbesondere in den vergangenen zehn Jahren von einem Kohlendioxidspeicher in eine Kohlendioxidquelle verwandelt haben. Der Effekt ist bereits so groß, dass die Regierung die Wälder bei der CO2-Bilanz im Rahmen des Kyoto-Abkommens stillschweigend hat ausklammern lassen. Noch sehen Experten keine Möglichkeit, um das Sterben rasch zu stoppen. HANNO CHARISIUS

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Seen

Der australische Meeresbiologe Lloyd Goodson verbrachte zwölf Tage in einem Container auf dem Grund eines Sees. Algen, die er mit seinem Urin goss, sorgten in dieser Zeit für zusätzliche Sauerstoffzufuhr.

Im Jahr 1986 starben an den Ufern des Nyossees in Kamerun binnen Minuten 1746 Menschen und mehr als 2000 Tiere. Aus dem Wasser quollen plötzlich 1,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid, das zuvor darin gelöst war. Die Bewohner der umliegenden Dörfer erstickten.

Der Vansee ist der größte See der Türkei. In seiner Umgebung leben auch die Van-Katzen, die einzige Katzen-Rasse, die gerne schwimmt.

Als sich in Grönland im Jahr 2006 ein Schmelzwassersee schlagartig leerte, entstand ein mächtiger Wasserfall: Pro Sekunde stürzten etwa 8,7 Millionen Liter Wasser aus dem See. Die Niagara-Fälle schaffen nur 2,8 Millionen Liter pro Sekunde.

Im Krater eines unterseeischen Vulkans im Marianengraben befindet sich ein See aus flüssigem Schwefel. Einen ähnlichen See gibt es sonst nur auf dem Jupiter-Mond Io.

Die Wissenschaft hat trocken anmutende Begriffe für manche Gewässer. So werden Seen, die seit mindestens einer Million Jahre Wasser enthalten, als Langzeitseen bezeichnet. Blumiger sind Gewässernamen, die auf mancher Landkarte zu finden sind: etwa der Süße See in Sachsen-Anhalt. Er wird von der Bösen Sieben gespeist.

Lacus Excellentiae, der See der Vortrefflichkeit, ist ein erstarrter Lava-See auf dem Mond. Dort zerschellte planmäßig die erste europäische Mondsonde Smart-1.

Im Baikalsee befindet sich in etwa 1100 Meter Wassertiefe ein Teleskop, mit dem Teilchen aus dem Inneren von Sternen erforscht werden: Neutrinos. Dazu registrieren Hunderte Sensoren diese kosmischen Winzlinge. Und zwar nachdem sie beinahe die ganze Erde durchdrungen haben und sich gerade auf dem Weg zurück an die Oberfläche befinden.

Unter dem gigantischen Eispanzer der Antarktis haben Geologen etwa 150 Süßwasserseen entdeckt. Der größte ist der Wostoksee. Sein Wasser ist wegen des hohen Drucks der Eismassen flüssig, obwohl es etwa minus drei Grad Celsius kalt ist.

Die Konstanzer Wasserwerke überprüfen mit Daphnien die Qualität des Trinkwassers, das sie aus dem Bodensee entnehmen. Taumeln die Wassertierchen auffallend, stimmt etwas nicht.SEBASTIAN HERRMANN

Illustration: Schifferdecker

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Oliver Stone's W.

Pro Sieben, 22.25 Uhr. Nach JFK und Nixon nähert sich der Regisseur und Bush-Gegner Oliver Stone filmisch bereits dem dritten US-Präsidenten. Er zeichnet Bushs Weg vom jungen Trunkenbold zum mächtigsten Staatschef der Welt nach - die Biografie eines Mannes, der offenbar von einem tiefverwurzelten Vaterkomplex getrieben wird. Foto: Pro Sieben

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Heute bei

Hauptsache schön

Woraus bestand der erste Lippenstift? Und welcher Duft ist dieses Jahr ein Muss für den technikaffinen Herrn? Testen Sie Ihr Wissen über Schönheit.

www.sueddeutsche.de/schoenheit

Der Kitzel der Pixel

Unscharfe Erotik: Wenn Aktmodelle aussehen, als kämen sie aus Legoland - der Fotograf Jean-Yves Lemoigne und seine Reihe "Pixxxels". www.sueddeutsche.de/kultur

Foto: ddp

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Nicht-öffentlicher Prozess gegen Fritzl

Wien - Der Österreicher Josef Fritzl steht wegen des Inzestverbrechens von Amstetten ab 16. März vor Gericht. Der Prozess werde zum Schutz der Opfer unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, sagte Franz Cutka, der Sprecher des Gerichts in St. Pölten. Der 73-Jährige hatte seine Tochter Elisabeth 24 Jahre in ein Kellerverlies unter seinem Haus in Amstetten gesperrt und mit ihr sieben Kinder gezeugt. Die Anklage wirft ihm vor, einen Säugling getötet zu haben, weil er dem kranken Kind die Hilfe verweigerte, obwohl er dessen lebensbedrohliche Lage erkannt habe. Fritzl ist auch wegen Sklaverei, Vergewaltigung, Freiheitsentziehung und Blutschande angeklagt. Der Prozess werde vermutlich eine Woche dauern, sagte Cutka. Reuters

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Zweifelhafte Haltung

Ein Ökohof hat beim Verkauf von angeblichen Bio-Puten Etikettenschwindel im großen Stil betrieben

Von Dirk Graalmann

Düsseldorf - Aus dem Radio dudelt leise Schlagermusik, und wenn einem der Tiere im Stall die seichte Berieselung nicht zusagt, kann es ein wenig mit dem Schnabel an den herumliegenden Lufballons picken. Und ob es einer der Puten, Hühner oder Gänse wirklich gut geht, pendelt die ausgebildete Geflügelwirtschaftsmeisterin Roswitha Franzsander im Zweifel anhand der Federn aus. Mit solchen Bildern bewirbt sich die Franzsander GbR, ein Ökohof im ostwestfälischen Delbrück, den das Ehepaar im Jahr 1994 gründete. "Geflügel o.k - Rendite o.k" lautet der Wahlspruch der familieneigenen Vertriebsfirma Robert's.

Seit Weihnachten ist nichts mehr in Ordnung. Denn die Franzsanders, die seit dem Jahr 2000 auch das Münchner Oktoberfest mit "Bio-Hendl" versorgen, sind nicht mehr "Bio". Das nordrhein-westfälische Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz hat den Betrieb "mit einem Vermarktungsverbot für Bioprodukte" belegt, der Hof ist gesperrt. Dem Biobauern, so das Landesamt, sei "ein nicht zulässiger Einsatz konventioneller Futtermittel nachgewiesen worden". Auch Bioland, Deutschlands größter Ökoanbauverband mit knapp 5000 Mitgliedern, kündigte die Verträge.

Berthold Franzsander zeigte sich reuig. "Ich habe Fehler gemacht und es tut mir aufrichtig leid", schrieb er seinen Kunden. Er habe den Putenküken im Sommer 2008 konventionelles Futter gegeben, da sie plötzlich die spezielle Futtermischung verweigert hätten. Die Pute, schrieb Franzsander, sei "sehr sensibel, und sobald es zu Problemen kommt, muss man schnell handeln, sonst nehmen sie überhaupt kein Futter mehr auf". Doch die Fragen blieben: Ist das der verzweifelte Versuch eines überforderten Ökobauern? Oder der kalkulierte Betrug eines gierigen Unternehmers, der sich das Bio-Siegel erschwindelt? Und vor allem: Kann der Verbraucher dem Bio-Siegel im Regal noch trauen?

Für Babette Winter vom Landesamt für Verbraucherschutz ist der Fall "der größte Bioschwindel Nordrhein-Westfalens". Es handele sich "definitiv nicht um ein Versehen. Der Betroffene wusste, dass es nicht erlaubt ist." Die Behörde stellte Strafanzeige, die Staatsanwaltschaft Paderborn leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Verdacht des Betruges und Verstoßes gegen das Ökolandbaugesetz ein. Gleichwohl sagt auch Winter, "dass man hier nicht von erhöhter krimineller Energie sprechen kann. Aber die ganze Bio-Branche lebt von Vertrauen."

Vertrauen auch darauf, dass ein solcher Etikettenschwindel auffällt. Die zertifizierten Prüfer der privaten Kontrollbehörde Abcert jedoch hatten bei ihrer Routinekontrolle nichts bemerkt. Sie prüfen lediglich die Plausibilität, also ob die Masse der verkauften Produkte in einem stimmigen Verhältnis zu Futtermitteleinsatz und Flächen steht. Franzsander war zuvor nie auffällig geworden. Erst als das Landesamt im November als Prüfbehörde der Futtermittelhersteller bei einem dieser Betriebe in Lieferlisten auf Franzsander stieß, rollte die Lawine an. Am Ende stellten die Prüfer fest, dass Franzsander 2008 rund 960 Tonnen konventionelles Futter eingekauft hatte.

War der Druck so groß? Die Bio-Branche mit ihren zweistelligen Zuwachsraten ist hart umkämpft und unterliegt zunehmender Konzentration. Franzsander etwa kaufte noch Geflügel von zwölf weiteren Höfen, die er dann zentral über seine Vetriebsfirma Robert's vermarktete. "Es geht nur so", sagte Bioland-Präsident Thomas Dosch der Süddeutschen Zeitung, "mit einem kleinen Hühnerhalter arbeitet kein Händler zusammen". Und Franzsander gehört für Dosch "zu den Pionieren artgerechter Haltung", der "in der Vergangenheit viel geleistet" habe. "Jetzt ist das Vertrauen hin." Dosch weiß um den wunden Punkt der Branche. Man habe aber in diesem Fall, anders als beim so genannten Nitrofen-Skandal 2002, "kontrolliert, festgestellt und reagiert", so Dosch: "Schneller und besser geht es nicht." Nur häufiger. Zumindest sollen die Kontrollen von komplexen Betrieben nun verdoppelt werden, die Prüfer künftig zweimal im Jahr zu angemeldeten Kontrollen ausrücken, zudem die Stichprobenkontrolle ausgeweitet werden. Franzsander wird das nicht mehr treffen: Er steigt aus dem Bio-Business aus, die Firma Robert's wird von früheren Mitarbeitern unter anderem Namen weitergeführt. Bioland wird sie wieder als Partner aufnehmen, "mit schärferen Auflagen", so Dosch. Es ist aus seiner Sicht vermutlich die bessere Alternative. Denn der Bioland-Präsident weiß auch, "dass schon wieder die Geier kreisen, um sich die Marktanteile zu sichern." Und unter den Greifvögeln sind nicht nur Produzenten, denen es um ökologisch saubere Aufzucht geht.

Bis zur Wiesn zumindest dürfte sich auch ein neuer Bioland-Partner für die Hühner- und Entenbraterei Ammer finden lassen. Damit der Oktoberfest-Besucher auch sicher gehen kann, dass er für 14,80 Euro ein halbes Bio-Hendl kriegt, das in seinem kurzen Leben kein konventionelles Futter gepickt hat.

Das kurze Leben einer deutschen Pute kann angenehm sein oder auch weniger angenehm, kommt ganz auf den Betrieb an. Leider sind nicht alle Puten biologisch so einwandfrei wie das Gütesiegel verspricht. Foto: Advantage

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Bummeln gilt nicht

Weil die Hamburger S-Bahn im vergangenen Jahr nur in neun von zehn Fällen pünktlich kam, kriegt sie jetzt eine Strafe aufgebrummt

Von Jens Schneider

Hamburg - Es erscheint wie eine Art pädagogisches Experiment, mit täglich Hunderttausenden Fahrgästen als Probanden. Zu klären ist bei diesem Versuch eine für Passagiere der Bahn oder S-Bahn wesentliche Frage: Kann Strafe besser machen? In Hamburg wird die S-Bahn, ein Tochterunternehmen der Bahn, demnächst eine Strafe von mehr als einer Million Euro zahlen müssen, weil ihre Züge im vergangenen Jahr nicht pünktlich genug waren. Die Hamburger S-Bahn mit ihren jährlich 200 Millionen Fahrgästen hat ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreicht. Sie habe eine Pünktlichkeitsquote von 94,7 Prozent angestrebt, aber nur einen Wert von gut 90 Prozent erreicht, so eine Sprecherin des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV).

Hamburgs S-Bahn wird deshalb innerhalb des Hamburger Verkehrsverbunds die Millionenstrafe zahlen müssen, die anderen Teilen des Verkehrsverbunds zugute kommt. Zum Verbund gehören die Hamburger Hochbahn, von der die U-Bahnen betrieben werden, oder diverse Busunternehmen. Anfang 2008 schloss der Verbund mit seinen Unternehmen eine Vereinbarung, um die Qualität des Nahverkehrs zu sichern. Sie setzten sich Ziele für die Pünktlichkeit, die Kundenzufriedenheit oder den Service. Ein Teil der Gesamteinnahmen wurde zurückgehalten, je nach Planerfüllung gibt es nun Bonuszahlungen oder eben auch Strafen.

Diese Hamburger Form des Qualitätsmanagements innerhalb eines Verbunds sei einzigartig, berichtet die Sprecherin des Verkehrsverbunds. Und die S-Bahn stehe in diesem Jahr wieder vor dem gleichen Ziel. Dass es zu Strafzahlungen für Unpünktlichkeit oder ausgefallene Züge kommen kann, ist indes keineswegs außergewöhnlich. Zwischen Verkehrsunternehmen und den Ländern als Auftraggebern gebe es in Verträgen entsprechende Klauseln, so ein Sprecher der Deutschen Bahn. Die durchschnittliche Pünktlichkeit für den Personenverkehr liege deutlich über 90 Prozent.

In Bayern hat die Bayerische Eisenbahngesellschaft als Besteller der Verkehrsleistungen wegen mangelhafter Leistungen gerade bis auf Weiteres ihre Zahlungen an die DB gekürzt. In Berlin haben Politiker der S-Bahn zuletzt nach Problemen in den eiskalten Tagen zu Jahresbeginn mit einer Kürzung der Zuschüsse gedroht. Der größte Fortschritt für die Fahrgäste dürfte bisher freilich im Zugewinn an Wissen liegen. Nur ist das Wissen nicht immer nützlich: Man wird nur intensiver über Gründe für Verspätungen informiert, und sei es mit dem Hinweis auf "Störungen im Betriebsablauf". In Hamburg soll die S-Bahn deshalb auch eine - winzige - Bonuszahlung bekommen: für die gute Information der Kunden bei Störungen.

Pendlergetümmel am Hamburger Hauptbahnhof: Nur 90 Prozent der S-Bahn-Züge sind hier pünktlich. dpa

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Acht Jahre Haft für Taleas Pflegemutter

Wuppertal - Für das qualvolle Sterben der fünfjährigen Talea ist die Pflegemutter des Mädchens zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Das Wuppertaler Landgericht sprach die 38-Jährige wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Missbrauchs von Schutzbefohlenen schuldig. "Die Angeklagte misshandelte Talea, erstickte sie und unterkühlte sie", sagte der Vorsitzende Richter. "Wie sie auf ein kleines Kind eingewirkt hat, erschreckt. Talea hatte am ganzen Körper und auch am Kopf Verletzungen." Eine rechtlich relevante Mitschuld von Jugendamtsmitarbeitern konnte das Gericht nicht feststellen - es kritisierte aber, das Amt habe nicht konsequent genug reagiert. dpa

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Keine Hoffnung nach Segel-Drama

Drei deutsche Segler und ihre drei Begleiter bleiben verschollen

Berlin - Für die vor der Küste Marokkos nach einem Bootsunglück vermissten drei deutschen Segler und ihre drei Begleiter gibt es praktisch keine Hoffnung mehr. Es müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie das Unglück nicht überlebt haben, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin. Von den insgesamt sieben Bootsinsassen konnte sich nur eine 19-jährige Deutsche retten. Bei den drei vermissten deutschen Seglern handelt es sich um einen 24 Jahre alten und einen 17 Jahre alten Mann aus Baden-Württemberg sowie um einen 28-jährigen Hamburger. Die drei anderen Vermissten stammen aus Österreich, Dänemark und Slowenien.

Die Gruppe war mit der achteinhalb Meter langen Yacht Taube auf dem Weg von Larache im Norden Marokkos nach Rabat. Bei schwerem Seegang und Sturm kenterte der Segler nahe Kenitra. Wie die österreichische Nachrichtenagentur APA unter Berufung auf das Außenministerium in Wien berichtet, machte ein starker Sturm die Suche nach den Vermissten unmöglich. Die Wellen seien bis zu sieben Meter hoch. Die junge Deutsche überlebte, indem sie sich auf eine Matte rettete. Die Segler gehörten einem Verein an, der sich nach eigenen Angaben unter dem Motto "Segeln für/in eine andere Welt" für die Völkerverständigung einsetzt. AFP

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Schäferhund beißt Kind ins Gesicht

Trappenkamp - Im schleswig-holsteinischen Trappenkamp ist ein Kind von einem Schäferhund gebissen und dabei im Gesicht schwer verletzt worden. Der sechs Jahre alte Junge sei in die Uni-Klinik Lübeck gebracht worden, teilte eine Polizeisprecherin in Bad Segeberg mit. Nach ersten Ermittlungen war der Hund vor einem Geschäft angebunden. Während der Besitzer einkaufte, ging der Junge an dem Tier vorbei. Dabei griff ihn der Schäferhund plötzlich an und biss ihn ins Gesicht. ddp

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DIE FRAGE

Warum werden Kinderfüße immer breiter?

Für einen "Kinderfußreport" haben Wissenschaftler im Auftrag des Deutschen Schuhinstituts (DSI) die Füße von mehr als 10 000 Kindern aus Deutschland und der Schweiz vermessen.

Frank Mayer, Direktor des Instituts für Sportmedizin an der Universität Potsdam: "Kinderfüße sind im Laufe der vergangenen Jahre tendenziell breiter geworden. Durchschnittlich betrachtet hat die Fußbreite um etwa einen bis zwei Millimeter zugenommen. Die Ursache dafür ist unklar. Mit der steigenden Zahl übergewichtiger Kinder hat die Fußbreite eher nichts zu tun. Wichtig ist, dass Kinder möglichst passgenaue Schuhe tragen. Sowohl zu kleines als auch zu großes Schuhwerk kann zu Zwangshaltungen und Veränderungen der Gang- und Laufbewegungen führen."

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LEUTE

George Clooney, 47, will offenbar noch einmal den Arztkittel der Notaufnahme anlegen. Wie der Internetdienst E!Online berichtet, soll der Oscar-Preisträger in den nächsten Tagen erneut für die TV-Serie "Emergency Room" ("ER") vor die Kamera treten. Clooney hatte immer wieder abgestritten, dass er noch einmal die Rolle von Dr. Doug Ross übernehmen würde, mit der er weltbekannt wurde. Die Serie läuft in diesem Frühjahr aus. Einzelheiten über seinen Gastauftritt wurden nicht bekannt. Nach Informationen des Magazins People soll aber "ER"-Regisseur John Wells bereits am vergangenen Mittwoch für einen Besuch von Clooney alle anderen Gäste und Zuschauer des Drehs ausgeschlossen haben. George Clooney spielte von 1994 bis 2000 in 108 "ER"-Folgen mit, bevor er ganz zum Film wechselte. Foto: dpa

Prinz Albert II., 50, Fürst von Monaco, ist von seiner 17-tägigen Reise zum Südpol zurückgekehrt. Nach Angaben des Fürstenhauses in Monaco besuchte Albert II. insgesamt 26 Forschungsstationen, um sich über die Folgen des Klimawandels zu informieren. Damit ist er das einzige Staatsoberhaupt der Welt, das beide Pole besucht hat: Im Jahr 2006 unternahm er bereits einen viertägigen Marsch durch Eis und Schnee zum Nordpol.

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Für Guantanamo ist auch Berlin zuständig

Deutschland sollte den USA anbieten, entlassene Häftlinge aus dem Rechtsbruch-Lager aufzunehmen

Von Kurt Kister

Wer in Deutschland etwas tut oder sagt, wofür er als "nicht zuständig" gilt, der macht sich in der Firma, im Sportverein und natürlich in der Politik unbeliebt bis verdächtig. Viele Juristen sind wahre Zuständigkeitsfanatiker, die schlimmsten unter ihnen sind jene, die sich als Politiker mit der inneren Sicherheit beschäftigen. Ja, die Rede ist wieder einmal auch von Wolfgang Schäuble. Der hat darauf hingewiesen, dass für die Aufnahme etwelcher aus Guantanamo Entlassener allein die Innenminister von Bund und Ländern zuständig seien - was implizit auch bedeutet, dass die sich schon dagegen aussprechen würden.

Der Innenminister irrt. Zuständig für die Aufnahme ehemaliger Guantanamo-Häftlinge sind alle Staaten, alle Politiker, denen Menschlichkeit etwas bedeutet. Bei jenen, die hoffentlich bald aus dem Rechtsbruch-Lager freikommen, handelt es sich um Leute, gegen die in den USA mangels Anlass keine ordentlichen Strafverfahren geführt werden. Auch die Regierung Obama wird durchaus die mutmaßlichen Terroristen oder Mordplaner unter den Bush-Internierten strafrechtlich verfolgen.

Viele derer aber, die man jahrelang in Käfigen gehalten hat, weil sie in Afghanistan oder im Irak zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren, erfüllen so ziemlich alle Kriterien, die in der EU für die Anerkennung als Asylbewerber wichtig sind. Wenn sie nach ihrer Entlassung nicht in den USA bleiben wollen, ist das sehr verständlich. Die Europäer sollten der Regierung Obama anbieten, diese Leute aufzunehmen. Man wird in jedem Einzelfall die Umstände oder gar eine mögliche Gefahr zu prüfen haben. Aber das tut man bei jedem Asylbewerber.

Gerade Deutschland hat sehr gute Gründe, sich offen und zuständig zu zeigen. Es geht darum, Gequälten zu helfen, denen die Internierung auch die Heimat genommen hat. Es ist außerdem eine Geste an die Neuen in Washington, dass alte Freunde zu einer veränderten Politik gerne die Hände reichen. Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist leider deutlich abgekühlt. Das hat mit den Zeitläuften und der Regierung Bush zu tun. Es gibt aber auf beiden Seiten auch ein manchmal bis über die Grenze der Ablehnung hinausreichendes Desinteresse aneinander.

Hinzu kommt, dass die rot-grüne Regierung und speziell der heutige Kanzlerkandidat Steinmeier Mitverantwortung für die lange Inhaftierung eines Menschen in Guantanamo tragen. Der Fall Kurnaz sollte nicht Motiv einer großzügigen Politik sein, aber dennoch ein Teil der Motivation dafür. Anders als Schäuble befürwortet Steinmeier die Aufnahme entlassener Guantanamo-Häftlinge. Auf keinen Fall darf daraus ein parteipolitischer Streit werden, ob es besser ist, großzügig oder sicherheitsbewusst zu sein. Zwar kennt die Berliner politische Klasse, zumal im Vorwahlkampf, kaum Tabus. Die Aufnahme von ein oder zwei Dutzend Traumatisierter aber sollte dem Gekeife entzogen werden - und sei es durch ein klares Wort der Kanzlerin.

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Blick in die Presse

Silberstreif für wenige

Die deutschen Kommentatoren beschäftigen sich mit der optimistischen Konjunkturprognose von Wirtschaftsminister Glos und der DIW-Studie zur Einkommensverteilung.

FRANKFURTER ALLGEMEINE:

"Im Wesentlichen stützt sich Glos' Zuversicht auf den Blick zurück, auf die im Aufschwung gewonnene Kraft der deutschen Unternehmen. Doch wie begründet ist die Annahme, dass wer gestärkt in eine Krise gehe, auch gestärkt herauskomme? Das Schicksal der deutschen Wirtschaft liegt zur Hälfte in der Hand des Auslands. Angesichts der Wirtschaftskrise wächst allerorten die Tendenz zur Abschottung. Will die Bundesregierung der Wirtschaft aus der Krise helfen, muss sie hier ansetzen."

RHEINPFALZ (Ludwigshafen):

"Es mag richtig sein, den Auguren aus Wissenschaft und Politik nicht (mehr) über den Weg zu trauen. Deren Prognosen zu Wirtschaftswachstum, Exportentwicklung, Binnennachfrage oder Steuereinnahmen waren zuletzt mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit das Papier nicht wert, auf dem sie niedergeschrieben waren. Immerhin weiß Glos die gute alte Bundesbank an seiner Seite. Auch die hat den Silberstreif gesehen und dem Bundeskabinett gestern davon berichtet. Das ist eine gute Nachricht - in einer Zeit, in der die Wirtschaftsverbände Horrormeldungen wie am Fließband produzieren und sich der Verdacht einschleicht, so manches Schreckensszenario werde als Vorwand genutzt, immer ungenierter beim Staat die Hand aufhalten zu können."

STUTTGARTER NACHRICHTEN:

"Nicht zuletzt gehört Deutschland zu den Ländern, in denen es keinen überhitzten Immobilienmarkt gibt. Gerade dieser aber war der entscheidende Auslöser der Krise. Daher hat die deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich gute Chancen, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Auch wenn derzeit niemand sichere Prognosen abgeben kann, ist es gut, dass Glos nicht den Untergangspropheten das Feld überlässt."

TAGESZEITUNG (Berlin):

"Es gehörte immer zur Erzählung der Bundesrepublik, dass in den Krisen "der Gürtel enger geschnallt" wird - auf dass in guten Zeiten jeder seinen Anteil erhält. Dieses ideologische Fundament gerät nun ins Rutschen. Inzwischen ist nur noch die Hälfte der Bundesbürger von der sozialen Marktwirtschaft überzeugt. Gleichzeitig sind Dreiviertel der Bevölkerung der Meinung, dass es in Deutschland ungerecht zugeht. Und sie täuschen sich nicht, wie die neueste DIW-Studie zeigt."

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Ende des Höhenflugs

Obwohl sie von der Finanzkrise eigentlich profitieren müsste, stagniert die Linkspartei

Von Daniel Brössler

Wenn schlechte Zeiten Politikern gute Tage bescheren, dann ist daran nichts Anstößiges. Im Kräftespiel der Demokratie bieten negative Entwicklungen der Opposition die Chance, sich den Wählern als Bessermacher zu präsentieren. Das gilt insbesondere, wenn diese Opposition vor Problemen gewarnt hat, die dann tatsächlich eintreten. So gesehen reiht sich nun gerade für die Linkspartei ein guter Tag an den nächsten. Donnerstag zum Beispiel: Auf Antrag der Partei debattierte der Bundestag über den beklagenswerten Zustand deutscher Banken. Selbstbewusst konnte die Linke der Bundesregierung das "Tricksen, Verschweigen, Schönreden" vorwerfen.

Finanzkrise und Rezession scheinen der Linkspartei des Oskar Lafontaine also interessante Perspektiven zu eröffnen. Hat sie nicht vor Wucherungen des "Neoliberalismus" gewarnt, als andere noch auf die Heilkraft des freien Marktes vertrauten? Weil das so ist, müsste es doch nun richtig gut laufen für die linken Rechthaber. Das aber tut es nicht wirklich. In Hessen ist die Linke wieder in den Landtag eingezogen, mit einem leicht höheren Prozentsatz, aber mit weniger Stimmen. In Umfragen liegt sie, wie schon seit langem, bei gut zehn Prozent. Für sich genommen ist das ein guter Wert, der zur von der Parteiführung ausgegebenen Zielmarke von zehn plus x für die Bundestagswahl im September passt. Enttäuschen muss er aber jene in der Partei, die aufgrund der Krise des Kapitals auf den Zulauf empörter Massen hofften. Schmerzen muss die Genossen auch, dass ausgerechnet die FDP zu den Gewinnern der Krise zu zählen scheint, aus Sicht der Linken also gerade die Hohepriester des neoliberalen Irrglaubens.

Führende Köpfe der Linkspartei haben für die Stagnation in doch eigentlich günstigem Umfeld eine Erklärung. Die Angst der Bürger stecke dahinter, sagt Fraktionschef Gregor Gysi. Sie verleite die Wähler dazu, für "das Gehabte" zu stimmen. Ängste seien eben ein schlechter Nährboden für Experimente aller Art. Petra Pau, die linke Vizepräsidentin des Bundestages, wiederum glaubt nicht an eine "Verelendungstheorie", wonach die Bürger ihre Partei unbedingt dann wählen, wenn es ihnen besonders schlecht geht. Diese Auskünfte sind interessant, weil sie zumindest gängigen Vorstellungen über den Erfolg der Linken widersprechen - dass nämlich die Ängstlichen und die Schwachen es sind, die sich der Gysi-Lafontaine-Partei zuwenden.

In der Tat entsprechen diese Vorstellungen so vereinfacht nicht der Wirklichkeit. Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom Herbst stammen die Anhänger der Linkspartei aus allen Einkommensschichten; in Ostdeutschland ist sie sogar in der gehobenen Mittelschicht besonders stark. In Westdeutschland gelang es ihr allerdings bislang, Anhänger überdurchschnittlich unter jenen zu rekrutieren, die Angst um die eigene wirtschaftliche Zukunft haben. Ursprünglich war Angst also sehr wohl ein Wahlhelfer der Linken. Dieses Potential aber scheint vorerst ausgeschöpft zu sein. Mehr besorgte Bürger bescheren der Linkspartei nicht mehr Wähler.

Viele Bürger billigen einem Oskar Lafontaine durchaus zu, die richtigen Fragen zu stellen. Das heißt aber nicht, dass sie vom einst davongelaufenen Finanzminister auch die richtigen Antworten erwarten. Bislang konnten die Linken stets argumentieren, die Regierung aus der Opposition heraus in die richtige Richtung zu lenken und zu einer sozialeren Politik zu zwingen. In Zeiten aber, da alle Politik von Finanzkrise und Rezessionsangst getrieben ist, schrumpft der Schrecken, der noch unlängst von der linken Truppe ausging. Wirtschaftliche Einbrüche befördern nach traditioneller linker Theorie jähe politische Veränderungen. Davon kann in der Praxis keine Rede sein. Nach einer Serie von Triumphen zwingt die Finanzkrise die Linkspartei nun zu Realismus.

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Hartz IV ist legislativer Wahnsinn

Hartz IV funktioniert wie eine gewaltige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die Arbeit wird nicht denen beschafft, die Arbeit brauchen, sondern denen, die schon genug haben: Die Sozialrichter ersticken in der Flut der Hartz-IV-Klagen. Deren Zahl ist binnen eines Jahres um 30 Prozent gestiegen, in Bundesländern im Osten hat sie sich verdoppelt.

Das liegt nicht in erster Linie daran, dass Sozialleistungsempfänger nichts anderes zu tun haben und deshalb vor Gericht ziehen. Es liegt an der maßlosen Kompliziertheit des Gesetzes, es liegt an der Bürokratie, die dieses Gesetz erzeugt, und an der Überforderung der Sozialbehörden, die den Arbeitsanfall nicht bewältigen können. Wer sein bisschen Geld nicht kriegt, klagt. Eilantrag, Untätigkeitsklage, erneute Klage. Und weil die Leute, die klagen, ja kein Geld haben, stehen ihnen Prozesskostenhilfe und ein Anwalt zu. Was der Staat mit Hartz IV einspart, gibt er für die Klagen gegen Hartz IV wieder aus. Die Malaise beginnt schon mit der unseligen Rechtskonstruktion der "Bedarfsgemeinschaft", die allen Sozialleistungen zugrunde liegt. In einer Bedarfsgemeinschaft aus Eltern, Kindern, Lebensgefährten gibt es immer viel Bewegung, der eine hat Arbeit und dann wieder nicht, Kinder ziehen aus - es kommt zu Falschzahlungen, die gegenüber jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft geltend gemacht werden müssen. Fast jeder Satz des Hartz-Gesetzes ist so eine Klagenbeschaffungsmaßnahme. Hartz IV ist legislativer Wahnsinn.

Gäbe es bei der Strafjustiz auch solche Steigerungsraten, man spräche entsetzt von der Kriminalisierung Deutschlands. Was soll man zu den Steigerungsraten an den Sozialgerichten sagen? Armes Deutschland. pra

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Instrument der Hilflosigkeit

Monatelang, jahrelang hat die deutsche Politik über gesetzliche Mindestlöhne gestritten. Jetzt hat der Bundestag einen vorläufigen Schlusspunkt gesetzt und entsprechende Gesetze verabschiedet. Also gelten für weitere Branchen gesetzliche Vorgaben; mehrere Millionen Beschäftigte sind davon betroffen. Die Lohngrenzen sind unterschiedlich, mal sechs Euro, mal acht Euro die Stunde. Gemeinsam ist ihnen eine pharisäerhafte Hilflosigkeit.

Wer Mindestlöhne einführt, erweckt den Eindruck, etwas für die Menschen zu tun. Namentlich die SPD kann sich in diesem Lichte sonnen, trieb sie doch die Union bei diesem Thema von Anfang an vor sich her. In ihrem Bemühen, Schlimmeres zu verhindern, reichte die Kanzlerin der SPD erst den kleinen Finger, dann noch einen Finger und am Ende die ganze Hand. Am besten kann sich die Linkspartei fühlen, die sich zwar nicht durchgesetzt hat, aber mit der Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn die Herzen am heftigsten wärmt. Dabei müsste doch jedermann auf Anhieb das Problem erkennen: Entweder ein Mindestlohn ist so niedrig, dass er die Unternehmen nicht stört, dann hat er aber auch nur symbolische Wirkung. Oder er ist so hoch, dass er den Mitarbeitern wirklich hilft, dann aber vernichtet er Arbeitsplätze. Denn eines kann die Politik ganz sicher nicht: Sie kann privaten Unternehmen nicht ihren Stellenplan vorschreiben. Die Firmen werden immer so viel Beschäftigung anbieten, wie es der Geschäftserfolg zulässt. Je höher dabei die Löhne sind, desto weniger Jobs gibt es.

Bitte keine Hungerlöhne? Klingt gut, schließt aber als Norm Menschen von Arbeit aus. Nicht immer führen hehre Prinzipien zum Erfolg. mbe

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Der Abgang einer Kennedy

Am Ende schien Caroline Kennedy nur noch froh zu sein, dass alles vorbei ist. Entnervt, erschöpft und verbittert erklärte die Tochter aus berühmtem Hause, sie strebe nicht länger nach Washington. So verzichtet sie auf die Chance, als Nachfolgerin von Hillary Clinton den Staat New York im US-Senat zu vertreten. Sprach's, und zog sich zurück hinter die Gardinen ihres Appartements auf Manhattans Upper East Side.

Von dort wird Caroline Kennedy die Politik nun wieder so distanziert betrachten, wie sie es bis zum Januar 2008 meist getan hatte: Im Fernsehen und mit dem Gefühl, dass all dies Gerangel um Posten und Power nichts für sie sei. Es galt ja eh als Sensation, dass "Sweet Caroline", die schon als Kind besungene und zur Legende verklärte Tochter von JFK, sich vor einem Jahr vorgewagt hatte in die reale Welt des Politik. Mit dem Nimbus ihrer Dynastie und zusammen mit Onkel Teddy warb Kennedy für Barack Obama, avancierte sogar zu seiner Beraterin. Da verfielen dann zu viele Freunde - wohlmeinend und doch schlecht beraten - auf die symbolträchtige Idee, Kennedy solle als Aushilfs-Senatorin doch Hillary Clinton und obendrein ihren ermordeten Onkel Bobby beerben. Auf dass Camelot, der Mythos der Kennedys, fortlebe!

Doch Caroline Kennedy offenbarte schnell, dass sie für die große Bühne nicht geschaffen ist. Diese schüchterne Frau verbog sich, blamierte sich mit Banalitäten und Füllwörtern in Interviews. Schon ging das böse Wort um, sie sei "die Sarah Palin von New York" - also so dümmlich und peinlich wie zuvor die allseits veralberte republikanische Vize-Kandidatin aus Alaska. Per Verzicht hat Kennedy diese Häme widerlegt. Das war klug und hat ihren Namen gerettet. cwe

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Die Fehlsteuerung

Von Sebastian Beck

Deutschlands seltsamste Steuer ist die Kraftfahrzeugsteuer. Nach welchen Kriterien sie erhoben wird, erschließt sich auch nach längerem Studium der Berechnungstabellen nur ansatzweise. Schadstoffklassen und Hubraum werden zu einem willkürlichen Steuerbetrag zusammengerechnet, der sich obendrein für Benziner und Diesel unterscheidet. Seit Jahren schon arbeiten diverse Bundesministerien und Verbände deshalb an einer Reform der Kfz-Steuer. Das Resultat ist erbärmlich. Für den nun vorgelegten Kompromissvorschlag des Finanzministeriums wurden offenbar diverse Entwürfe mit dem Pürierstab behandelt. Anders lässt sich die breiartige Konsistenz des Zahlenwerks kaum erklären. Es ist nicht nur kompliziert, sondern führt auch zu dem völlig widersinnigen Ergebnis, dass Autos mit hohem Verbrauch in Zukunft sogar noch steuerlich begünstigt werden sollen.

Erneut handelt die Bundesregierung damit gegen all ihre klimapolitischen Absichtserklärungen. Bereits im vergangenen Herbst hatte sie den Käufern von Neufahrzeugen eine zweijährige Befreiung von der Kfz-Steuer spendiert. Nach der gängigen Hubraum-Berechnungsmethode profitieren auch hier vor allem die Fahrer von großen Autos. Dieses Steuergeschenk kostet zwar geschätzte 1,3 Milliarden Euro; dazu, die Autokonjunktur anzukurbeln, hat es dennoch nicht ausgereicht. Deshalb wurde nun rasch eine Abwrackprämie von 2500 Euro pro Altfahrzeug nachgeschoben, die ebenfalls auf ökologische Steuerung verzichtet: Um den staatlichen Zuschuss zu kassieren, reicht es aus, dass das neue Auto die Euro-4-Norm erfüllt. Dieser Mindeststandard ist technisch jedoch längst überholt und wird ohnehin bald durch strengere Vorschriften abgelöst. Was den Kraftstoffverbrauch betrifft, gibt es für die Auszahlung der Abwrackprämie keinerlei Vorgaben. Im Einzelfall ist es daher durchaus möglich, dass ein vergleichsweise umweltfreundliches Altfahrzeug durch einen spritfressenden Neuwagen ersetzt wird.

Der Grund für die laxe Regelung ist nur zu offensichtlich. Würden Subventionen für neue Autos an den CO2-Ausstoß gekoppelt, wären die Hersteller von Kleinwagen aus dem Ausland im Vorteil. Denn trotz aller Klima- und Rohstoffdebatten setzen die deutschen Autobauer in erster Linie immer noch auf PS-starke Fahrzeuge. Der neue allradgetriebene Audi Q5 etwa stößt in der sparsamsten Version 175 Gramm CO2 je Kilometer aus. Selbst die Basisversion des aktuellen Golf-Modells kommt auf 149 Gramm CO2 , auf eine Hybrid-Version müssen die Käufer weiter warten. Sowohl der VW Golf als auch der Audi Q5 liegen mit ihrem Verbrauch weit über dem EU-Ziel von 120 Gramm CO2 pro Kilometer, das nach Intervention der Bundesregierung auch noch von 2012 auf 2015 verschoben worden ist.

Aber wenn es um die Autoindustrie geht, betrachtet die Bundesregierung langfristige Interessen und Ziele als zweitrangig. In dieses Bild passt auch das Konjunkturpaket. Darin gibt es außer der Gebäudesanierung kaum Anreize für den Klimaschutz. Hingegen sollen Milliarden in den Bau von neuen Straßen gesteckt werden, obwohl schon jetzt das Geld nicht reicht, um die bestehende Infrastruktur zu erhalten. Der vielerorts marode Regionalverkehr der Bahn wurde aus dem Konjunkturpaket sogar ganz ausgeklammert. So müssen in diesem Winter wieder Millionen Pendler auf gleichermaßen unpünktliche wie angegammelte Züge warten, deren Waggons sie schon seit ihrer Kindheit kennen. Für die Sanierung der Gleise, für Ausweichstrecken und beschrankte Bahnübergänge fehlt schlicht das Geld.

Dabei ist es durchaus legitim, dass die Bundesregierung den schwer angeschlagenen Autoherstellern hilft. Wenn BMW und Audi ihre Belegschaft in Kurzarbeit schicken müssen, dann hat dies negative Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft in Bayern. Es kann aber nicht sein, dass die Firmen Subventionen in Milliardenhöhe bekommen, ohne dafür auch nur minimale Umweltvorgaben erfüllen zu müssen. So sollte die Abwrackprämie wenigstens an einen CO2-Ausstoß von 140 Gramm und die Einhaltung der Euro-5-Norm gekoppelt werden, wie es Andreas Troge, der Präsident des Umweltbundesamtes, fordert.

Doch die Bremser sitzen in der Union. CSU und CDU glauben, der Autoindustrie einen Gefallen zu tun, wenn sie entsprechende Pläne von Umweltminister Sigmar Gabriel durchkreuzen. Auch bei der Reform der Kfz-Steuer haben sich die Bedenkenträger aus Baden-Württemberg und Bayern durchgesetzt: Die überfällige Bindung der Steuer an den CO2-Ausstoß und somit an den Verbrauch, wie sie sogar der ADAC vorschlägt, ist gescheitert. Dabei wäre das ein Weg gewesen, um die Kfz-Steuer gerechter, umweltfreundlicher und einfacher zu regeln. Der noch bessere Weg wäre freilich, die Kfz-Steuer ganz abzuschaffen und auf die Mineralölsteuer umzulegen. Dann würden auf völlig unbürokratische Weise sparsame Autos gefördert. Eine solche Regelung hätte wegen der damit verbundenen Gefahr des Tanktourismus allerdings nur nach Abstimmung mit allen EU-Staaten Sinn. Sie wird daher utopisch bleiben.

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Uli Edel Oscar-nominierter Regisseur mit Sinn für kontroverse Themen

Sie waren zwei Kinder der deutschen lost generation, der Regisseur Uli Edel (Jahrgang 1947) und der Produzent Bernd Eichinger (Jahrgang 1949). Sie wuchsen auf in jenen Jahren, die gezeichnet waren von Unruhe und Anarchie, von Verbitterung gegenüber der Elterngeneration und ihrer Verstrickung in die Nazizeit, vom eskalierenden Widerstand gegen Springer und Staat, der Anfang der siebziger Jahre in den Terror der RAF mündete.

Beim Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München haben sie sich kennengelernt. Gemeinsam waren sie stark, das merkten sie damals. Und gemeinsam haben sie zwei der großen spektakulären Filme des deutschen Kinos gemacht - Eichinger als Produzent, Edel als Regisseur: "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", 1989, und im vorigen Jahr "Der Baader Meinhof Komplex", der es nun in die Endrunde für den Oscar in der Kategorie bester nichtenglischsprachiger Film geschafft hat. Zwei Filme, die am Puls der Zeit waren und die Unwirtlichkeit der deutschen Städte reflektierten. Einen dritten gemeinsamen Film gab es, der heute in Vergessenheit geraten ist - "Letzte Ausfahrt Brooklyn", nach dem Roman von Hubert Selby Jr. Damals schien er die Träume vieler junger Filmemacher widerzuspiegeln, war wie eine Flucht in eine andere Misere, die der USA.

In den zwanzig Jahren zwischen "Christiane F." und "Baader Meinhof Komplex" war Bernd Eichinger der erfolgreichere von beiden - als Produzent von Filmen, die in alle Welt verkauft wurden, vom "Geisterhaus" und "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" bis hin zu "Der Untergang" und "Parfum". Weniger erfolgreich war Eichinger, wenn er sich selbst als Regisseur versuchte, etwa beim "Mädchen Rosemarie".

Auch Uli Edel war - ohne Eichinger - nicht besonders erfolgreich. Er blieb in Hollywood, erfüllte sich den alten Traum deutscher Regisseure, an dem immerhin auch Wim Wenders scheiterte. Edel durfte 1991 eine Episode der Fernsehserie "Twin Peaks" drehen und inszenierte Madonna 1993 im erotisch dubiosen "Body of Evidence". Danach gab es einige Episoden der TV-Serie "Homicide", einen Fernsehfilm über den Boxer Mike Tyson und einen "Rasputin", mit Alan Rickman in der Titelrolle. Außerdem drehte er die Verfilmung von "Der kleine Vampir" und die amerikanische Shakespeare-Variante "King of Texas" mit Patrick Stewart als John Lear. Sein letztes großes Stück war der Mehrteiler "Der Ring des Nibelungen", hausgemachte deutsche Fantasy mit einem hausgemachten Star - Benno Fürmann als Siegfried.

Mit dem "Baader Meinhof Komplex", der heftig diskutiert wurde und nicht unbedingt der ersehnte große Erfolg wurde, sind Edel und Eichinger auf vertrautem Terrain zurück, dort wo sie einst begannen: "Der Film hat etwas mit mir und meiner Generation zu tun", erklärte Uli Edel. "Ich war Zeitzeuge. Und vor allem hatte ich das Gefühl, dass ich zu diesem Thema etwas sagen kann. Es war ein Stück Erinnerungsarbeit, das ich leisten musste. Ich habe zwei Söhne, 20 und 21 Jahre alt. Sie sind in den Staaten aufgewachsen und wussten nichts von Baader Meinhof." Fritz Göttler

Foto: ddp

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Das Ende von Guantanamo

Es war eines der großen Versprechen Barack Obamas: Das Lager Guantanamo wird aufgelöst, hatte er den Amerikanern zugesagt. Denn er wusste, dass in dem Gefängnis auf Kuba viele Häftlinge sitzen, die längst hätten freigelassen werden müssen. Obama weiß aber auch, dass von vielen Inhaftierten noch immer Gefahr ausgeht. Was soll mit ihnen geschehen? Und wer gibt den Unschuldigen eine neue Heimat?

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Außenansicht

Bewegt er uns doch?

Der Film "Walküre" erzählt zwar nicht die wahre Geschichte, aber er kann Interesse am deutschen Widerstand wecken

Von Peter Steinbach

Filme können manchmal viel bewirken. Wolfgang Staudtes Werk "Die Mörder sind unter uns" sorgte unmittelbar nach dem Krieg ebenso für einen präziseren Blick auf die politische Verantwortung der Deutschen für die Ahndung des nationalsozialistischen Unrechts wie Falk Harnacks "Das Beil von Wandsbek", der die Frage nach dem Verhältnis von NS-Tätern und kommunistischen Opfern stellte. Die Verfilmung des Tagebuchs der Anne Frank erleichterte den Deutschen eine wichtige Veränderung ihrer Wahrnehmung, denn nun konnten sie sich nicht mehr als Opfer der NS-Zeit und des Kriegs bezeichnen, sondern sahen die Welt mit den Augen der rassisch Verfolgten. Der Vierteiler "Holocaust" gab 1978 der Debatte über die Verjährung von Mord einen entscheidenden Schub. Dass wir dem Schreiner Johann Georg Elser, der 1939 mit dem Anschlag auf Hitler im Münchener Bürgerbräu-Keller den Krieg verhindern wollte, zu seinem 100. Geburtstag eine Briefmarke, eine Gedenkstätte und schließlich ein Denkmal widmen konnten, ist auch Folge des Films, in dem Klaus Maria Brandauer diesen "wahren Antagonisten" Hitlers spielte.

Und die Aufhebung der Schandurteile von Freislers Volksgerichtshof durch den Bundestag im Jahre 1998 war eine späte Folge des Spielfilms, mit dem Michael Verhoeven und Mario Krebs 1982 ein bewegendes Bild der "Weißen Rose" zeichnen konnten. Über den "Rettungswiderstand" schließlich sind wir durch Spielbergs "Schindlers Liste" anrührend informiert worden. Inzwischen wurde in Berlin eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die "Stillen Helden" errichtet, die an die Helfer der untergetauchten verfolgten Juden erinnert.

Diese Beispiele machen deutlich, wie stark die Deutung der Vergangenheit durch Dramatisierungen bestimmt wird. Dramatiker haben dies immer gewusst, wie Shakespeares und Schillers Dichtungen zeigen. Auch die Produzenten historischer Filme nutzen Dramatisierungen, gehen aber oft weiter. Denn sie beanspruchen nicht selten, weiße Flecken in der Erinnerung ihrer Zeitgenossen zu beseitigen. Spielberg erweckte den Eindruck, Schindler geradezu entdeckt zu haben. Auch die Behauptung, ein historisches Tabu zu brechen, kann für Aufmerksamkeit sorgen. Und manchmal das Versprechen, mit einem historischen Film ein wahres Bild von der Vergangenheit zu zeichnen. So aber begibt sich der Filmemacher auf gefährlichen Boden, denn sein Streifen wird dann an der historischen Realität gemessen oder für die Wirklichkeit genommen. Wohin das führen kann, machte Eichingers "Untergang" und seine Annäherung an die Rote-Armee-Fraktion deutlich.

Historiker und Filmemacher stehen sich zuweilen sehr kritisch gegenüber. Angebracht ist das nicht, denn Filme über historische Themen können Interessen wecken, Diskussionen anregen, die Beschäftigung mit der Vergangenheit beeinflussen. Die Filme über Martin Luther, über das Zeitalter der englischen Königin Elisabeth I. und Napoleon belegen dies. Spielfilme erreichen Menschen auf eine Weise, wie es Historiker selbst niemals schaffen können. Natürlich ist es unvermeidlich, dass Filme auch das Ergebnis dramaturgischer Verdichtung sind. Historiker sollten deshalb bei der Beurteilung historischer Filme - sei es zustimmend, sei es ablehnend - zurückhaltend sein. Denn Filme sind Filme, keine Quelleneditionen.

Historiker sollten Spielfilme als Anregung nutzen, auf entstandenes Interesse reagieren und Fragen aufgreifen, die sich stellen. Dass Filme Chancen bieten, hat nicht zuletzt Jo Baiers Stauffenberg-Film gezeigt, denn unmittelbar nach dessen Ausstrahlung verbanden über 80 Prozent der Deutschen etwas mit dem Namen des Attentäters.

Wenn Filme wirklich etwas bewirken können, dann ist die Hoffnung nicht unbegründet, dass auch die Verfilmung der Operation Walküre mit Tom Cruise neues Interesse an der Geschichte des deutschen Widerstands wecken könnte. Dies wäre dann von Geschichtslehrern, Zeithistorikern und Publizisten zu bedienen. Sie könnten die Bereitschaft, unter dem Eindruck des Walküre-Filmes mehr über den Widerstand zu erfahren, nutzen, um ein komplexeres Bild des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 zu zeichnen. Dessen Ziel war es, wie der Historiker Hans Mommsen betont hat, der bürgerlich- militärischen Opposition gegen Hitler neue politische Spielräume zu schaffen.

In dem neuen "Walküre"-Film handeln allerdings Offiziere, denen offensichtlich unfähige Zivilisten gegenüberstehen, die zu keiner klaren Entscheidung fähig sind - verbrauchte, ratlose, unentschlossene alte Männer, deren Tränensäcke die Maskenbildner zusätzlich konturieren. Dies ist aus dramaturgischen Gründen notwendig, würde aber die moralische Dimension des Widerstands entscheidend verkürzen, dem es bei dem Sturz der NS-Diktatur auch um eine politische Neuordnung auf rechtsstaatlicher Grundlage ging. Die Vertreter des bürgerlichen Widerstands verkörpern im Film nicht die historische Wende, die mit dem Umsturz einsetzen soll, sondern nur eine "Welt von gestern". Richtig ist: Die militärischen Verschwörer haben die entscheidende Rolle der zivilen Regimegegner immer akzeptiert. Stauffenberg war gebildet, wie es deutsche Offiziere nur selten waren. Er dachte weit über die Stunde X hinaus. Er ringt sich allmählich zu seiner entschlossenen Haltung durch, ist also kein Regimegegner der ersten Stunde. Aber gerade das ist kein Makel, sondern hätte Ausgangspunkt einer dramatischen Spiegelung seiner Umorientierung und wachsenden Entschlossenheit sein können, seiner Überwindung von Positionen, die er im Laufe der Zeit als falsch, fehlerhaft und verbrecherisch erkannt hatte.

Wir empfehlen dringend, diesen neuen Stauffenberg-Film von seinen pseudohistorischen Kontexten zu lösen. Dann schildert er die Geschichte eines Offiziers, der gegen Widerstände anderer einen verbrecherischen Diktator durch ein Attentat beseitigen will. Er heißt Stauffenberg, aber er hätte ebenso wie seine Mitverschworenen anders heißen können. Die NS-Zeit wäre dann nicht mehr als eine Folie, vor der eine dramatische und spannende Handlung positioniert wird. Man könnte diesen Film dann als spannenden Thriller sehen, sollte ihn aber nicht - fast als Ersatz für eine Geschichtsstunde - mit Bedeutung aufladen, die ihm nicht zukommt. Aber er kann helfen, diese Bedeutung zu erschließen. Dann erfüllt er wie andere historische Spielfilme durchaus eine Funktion.

Peter Steinbach ist wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin sowie Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim . picture-alliance

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Zur falschen Zeit am falschen Ort

Ein Beispiel für viele: Warum ein längst freigesprochener Uigure noch immer in Guantanamo einsitzt

Von Henrik Bork

Huzaifu Parhat sitzt in Guantanamo, was nicht sehr sinnvoll ist, aber vielen Menschen genützt hat. So lässt sich seine Geschichte zusammenfassen, und wenn das paradox klingt, dann sollte man dafür nicht Parhat selbst verantwortlich machen. Der 36-jährige Obsthändler aus China, der als Kind von einem Leben in den USA geträumt hatte, ist schließlich gegen seinen Willen, an Händen und Füßen gefesselt, in das Militärgefängnis auf Kuba verschleppt worden. Es ist ein abenteuerliches Kapitel der gerade beendeten Ära Bush, wie dieser Mann, der bis zu seiner Fesselung und Knebelung den Namen "Osama bin Laden" noch nie gehört hatte, als gefährlicher Terrorist verdächtigt werden konnte.

Der Erste, dem Parhats Festnahme genützt hatte, war ein namentlich nicht bekannter Pakistani. Er hatte Parhat und 17 weitere Uiguren im Winter 2001 in sein Haus nahe der afghanischen Grenze gelockt und ein Lamm für sie geschlachtet. Dann hatte er sie gegen Kopfgeld an das US-Militär verkauft. Wieviel der Pakistani damit verdient hat, weiß Parhat nicht genau, es sollen etwa 5000 Dollar gewesen sein. "Diese Summe haben sie in Pakistan im Gefängnis gehört", sagt Sabin Willett, sein Anwalt in Boston.

Am 11. September jenes Jahres hatten die Terroristen der al-Qaida Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert. Amerika antwortete mit seinem "Krieg gegen den Terror". Parhat war schon da, zur falschen Zeit am falschen Ort. Er hielt sich Mitte Oktober in Afghanistan auf, in einem Dorf in der Nähe von Dschalalabad, dessen Bewohner von den Amerikanern allesamt als Terroristen verdächtigt wurden. Später wurde es zerbombt.

Huzaifu Parhat ist Uigure. Er ist in Gulja geboren, also in der chinesischen Nordwestprovinz Xinjiang. Die Uiguren sind eine moslemische Minderheit, die von den Chinesen seit der militärischen Besatzung Xinjiangs unterdrückt werden. Fanatische Muslime oder gefährliche Terroristen vom Kaliber der al-Qaida gibt es in Xinjiang nicht, auch wenn die chinesische Regierung das in ihrer Propaganda behauptet. Doch es gibt viele Uiguren, die sich die Unabhängigkeit von Peking wünschen. Hin und wieder verüben sie Gewalttaten, so etwa im letzten Jahr kurz vor den Olympischen Spielen bei einem Angriff auf joggende Grenzsoldaten. Parhat soll in Guantanamo zugegeben haben, dass er in Afghanistan den Widerstand gegen China trainieren wollte, auch wenn sein Anwalt von dem Geständnis nicht überzeugt ist.

Sicher ist, dass sich Parhat als Opfer der chinesischen Repression in Xinjiang fühlt. Er flüchtete im Frühjahr 2001 aus China. Er habe "ernsthaft den Koran studieren wollen, was in China nicht möglich war", gab er an. Die Amerikaner hingegen bezichtigten ihn des "Waffentrainings in einem Lager der Islamischen Bewegung Ost-Turkestan" (East Turkestan Islamic Movement oder ETIM). Die ETIM habe Kontakte zu al-Qaida, behaupteten sie dann noch, haben aber öffentlich nie Beweise dafür vorgelegt. Die meisten internationalen Experten bezweifeln diese Verbindung.

"Die Sache mit dem angeblichen Waffentraining ist restlos übertrieben", sagt Anwalt Willett. "Dieses Dorf in Afghanistan war ein Ort für uigurische Flüchtlinge, die nicht wussten, wo sie sonst hinsollen." Das Dorf in den Weißen Bergen Afghanistans war nicht mehr als "eine Handvoll heruntergekommener Hütten, die von Lehmpfaden durchkreuzt wurden", heißt es in US-Gerichtsakten. Im Dorf gab es nur ein einziges AK-47 Sturmgewehr und eine Pistole. Auch Parhat durfte damit ein paar Mal schießen. "Das war zu einer Zeit, wo in jedem Restaurant in Afghanistan eine Kalaschnikow am Hutständer hing. Daraus hat die US-Regierung dann das ,Waffentraining' konstruiert", sagt der Anwalt.

Dass die Terrorvorwürfe gegen die Uiguren unhaltbar sind, hat inzwischen selbst die amerikanische Regierung eingesehen. Am 20. Juni 2008 entschied das Bezirksgericht von Columbia, die US-Regierung müsse Parhat "freilassen oder transferieren" - oder unverzüglich ein neues Militärtribunal abhalten. Selbst Republikaner haben öffentlich erklärt, dass die Festnahme der Uiguren ein Fehler war. Washington hat seitdem deren Haftbedingungen erleichtert. Sie haben jetzt einen Fernseher und ein paar Filme auf DVD, allerdings nur wenige in uigurischer Sprache. Washington kann die Uiguren nicht nach China abschieben, weil sie dort gefährdet sind. Ein Drittland, das sie aufnehmen will, hat sich bislang noch nicht gefunden.

Seit sieben Jahren sitzt Parhat nun schon in Guantanamo. Einige seiner Zellengenossen sind verrückt geworden. Ihre Schreie gellen nachts durch die Flure, heißt es in Berichten der US-Anwälte. Parhat, der Vater eines zehnjährigen Sohnes, litt besonders im Herbst 2007 unter Depressionen. "Als ich ihn damals besuchte, war er sehr niedergeschlagen. Er bat mich, seiner Frau auszurichten, dass sie sich von ihm scheiden lassen und neu verheiraten solle. Er wollte nicht, dass sie weiter auf ihn wartet", sagt Willett.

Dass das alles solange dauert, dass selbst vom Terrorvorwurf freigesprochene Insassen wie die Uiguren den Gulag auf Guantanamo noch immer nicht verlassen können, das hat wieder mit jenen Gruppen zu tun, denen ihre Inhaftierung nutzt. Dazu zählt die chinesische Regierung. Sie hatte aufmüpfige Uiguren früher stets als "Separatisten" bezeichnet. So war es zum Beispiel noch beim Aufstand von Gulja im Februar 1997, also in Parhats Heimatstadt in Xinjiang.

Junge, religiöse Uiguren hatten damals wütend gegen die Repressionen der Chinesen demonstriert. Unter anderem war ihnen die Organisation eines Fußballturniers verboten worden. Hunderte von Menschen starben, als die Sicherheitskräfte brutal einschritten. Tausende wurden später festgenommen und "schichtweise übereinander gestapelt" in Lastwagen abtransportiert. "Als die LKWs ankamen, warf die Polizei die Menschen einfach heraus. Dabei gab es gebrochene Beine und Hände. Ich sah eine Frau, der ein Ohr lose am Kopf hing", berichtete eine Augenzeugin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. "Mehrere meiner Mandanten sind nach dem Aufstand von Gulja aus China geflohen", sagt Sabin Willett über die Uiguren in Guantanamo.

Kurz nach dem 11. September 2001 vollzog Peking in seiner Terminologie eine "Kehrtwende um 180 Grad", wie es ein amerikanischer Historiker und Uiguren-Experte in einer Studie beschrieben hat. Aus uigurischen "Separatisten" wurden über Nacht "Terroristen". Peking machte Druck auf Washington, die obskure ETIM, die sich nie klar zu Terrorakten bekannt hat, mit auf ihre Liste terroristischer Organisationen zu setzen.

Im August 2002 gab Vize-Außenminister Richard Armitage bei einer Konferenz in Peking dieser Forderung nach. Die USA wollte die wichtige Regionalmacht China als Verbündeten in ihrem "Krieg gegen den Terror" gewinnen. Aus Chinas Repression der Muslime in Xinjiang wurde Chinas Mär vom eigenen "Kampf gegen den Terror". In diesen Tagen drohen nun Pekings Diplomaten in Berlin deutschen Politikern und Journalisten, die sich für die Uiguren einsetzen wollen. Für alle Strategen, die sich bei den Chinesen einschmeicheln wollen, ist humanitäre Hilfe für die Uiguren derzeit immer noch das Gegenteil von nützlich.

Nicht bekannt ist, ob der Obsthändler Huzaifu Parhat in seiner Zelle in Guantanamo schon gehört hat, dass Barack Obama das Lager Guantanamo nun innerhalb eines Jahres schließen will. "Die Häftlinge dürfen keine Nachrichten sehen", sagt sein Anwalt.

Symbol einer menschenverachtenden Politik: Blick in das US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba, in dem der heute 36 Jahre alte Uigure Huzaifu Parhat seit sieben Jahren festgehalten wird, obwohl im vergangenen Juni ein Gericht seine Freilassung angeordnet hat. Foto: dpa

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Aktuelles Lexikon

St. Galler Spitze

Die Nachricht machte schnell die Runde in der Schweiz: Das spektakuläre Kleid, das Michelle Obama bei der Vereidigung ihres Mannes trug, farblich zwischen senfgelb und zitronengrasgrün, ist aus St. Galler Spitze. Die Designerin der First Lady, Isabel Toledo, hatte den Stoff für 190 Dollar im Dezember bestellt, "dringend", wie der Ostschweizer Hersteller Forster Rohner berichtet. Es ist keine Spitze im traditionellen Sinn, also einer jener meist geklöppelten Stoffe mit größeren Löchern, wie sie Omas Tischdecke zieren. Vielmehr handelt es sich um eine Ätzstickerei, auch Guipure genannt, aus Wolle. Dazu wird auf ein Grundgewebe ein Muster gestickt, das dann in einem Säurebad entfernt wird. Zurück bleibt ein durchbrochener Stoff, der nur so aussieht wie Spitze. Prada, Gucci & Co. reißen sich derzeit um die meist sehr teuren Stoffkreationen einer Handvoll St. Galler Unternehmen. Diese liefern, was Designer anregt: verspieltes, glamouröses und vor allem edles Material. Die Textilherstellung hat in St. Gallen und Umgebung eine große Tradition, die ins dritte Jahrhundert zurückreicht und kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit der Maschinenstickerei ihren Höhepunkt fand. Damals lebten 70 000 Menschen von dem Gewerbe. Dann kam die Billig-Konkurrenz aus Asien. Überlebt haben schließlich nur jene Firmen, die, analog zur Entwicklung in der Uhrenindustrie, nach vorn flüchteten: in die Haute Couture. kit

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Wohin mit den Gefangenen?

In Deutschland wird bereits leidenschaftlich über die Aufnahme von Gefangenen aus Guantanamo diskutiert, ehe überhaupt ein einziger Häftling konkrete Aussicht hat, das Lager auf Kuba zu verlassen. Außenminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier hatte - aus schlechtem Gewissen wegen des Falles Murat Kurnaz, wie politische Gegner vermuten - schon vor Weihnachten Barack Obama Unterstützung angeboten. Am Donnerstag sprang ihm Justizministerin Brigitte Zypries bei. Das Argument der SPD-Politiker: Eine Schließung des Lagers dürfe nicht daran scheitern, dass es keine Aufnahmeländer für die Gefangenen gäbe. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat dieses Angebot brüsk zurückgewiesen. Er sieht vor allem die USA selbst in der Verantwortung und pocht, was die Diskussion in Deutschland anbetrifft, auf die Zuständigkeit der Innenministerien von Bund und Ländern. Kanzlerin Angela Merkel will zunächst abwarten, welche Vorstellungen von einer Verteilung der Gefangenen der neue US-Präsident überhaupt hat. Merkel will zudem in keinem Fall einen deutschen Alleingang, sondern eine europäische Position. nif

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Exekution per Federstrich

Barack Obamas Entscheidung

Von Christian Wernicke

Es war im Sommer 2006, als George W. Bush erstmals öffentlich Zweifel einräumte an einem Symbol seiner Politik. "Ich möchte Guantanamo schließen", gestand der 43. US-Präsident. Es sei, so fügte Bush hinzu, für ihn "keine Frage", dass das Militärcamp auf Kuba dem Image Amerikas schade. 30 Monate ist dieses Geständnis alt, und am Dienstag flog Bush per Hubschrauber aus dem Amt, ohne seine Nation von dem Schandlager befreit zu haben. 48 Stunden später, an seinem zweiten vollen Arbeitstag als Präsident, soll das nun Barack Obama erledigen. Mit drei Federstrichen. Denn Amerikas Umkehr, im Weißen Haus per präsidentieller Verfügung exekutiert, besteht aus drei Teilen.

Erstens wird die CIA angewiesen, endgültig die geheimen Gefangenenlager zu schließen, in dem die Supermacht einst bis zu 100 Terrorverdächtige ohne jeden Rechtschutz hin und herschob. Zweitens untersagt der Präsident seinem Geheimdienst von sofort an jegliche Folter: Auch die CIA muss sich fortan mit jenen 19 Verhörmethoden begnügen, die im Feldhandbuch der Armee genehmigt sind. Und damit ist das weltweit inzwischen berüchtigte "Waterboarding", also das simulierte Ertränken eines gefesselten Häftlings, verboten - jedenfalls so lange, wie der Präsident es per neuer Verordnung notfalls nicht doch wieder erlaubt. Das sei, zum Beispiel im Fall der Ergreifung von Osama bin Laden, jederzeit möglich, hieß es aus Obamas Stab.

Der dritte Akt läutet das Ende für Guantanamo ein, samt der umstrittenen Militärkommission im karibischen Zelt- und Containerdorf von "Camp Justice": Obamas Verfügung gebietet, das Lager solle "so schnell wie möglich geschlossen werden, und nicht später als ein Jahr vom Datum dieser Anordnung." Also spätestens am 21. Januar 2010.

Diese Übergangsphase von maximal einem Jahr beansprucht die neue Regierung, um das Erbe von Guantanamo zu ordnen. Allen voran das Pentagon und das Justizministerium müssen entscheiden, was mit den 245 noch einsitzenden "feindlichen Kämpfern" geschehen soll. Sie werden irgendwann aufs amerikanische Festland geflogen - aber es ist offen, ob die Obama-Administration geständige Drahtzieher der Anschläge vom 11. September wie etwa Khalid Scheich Mohammed dann vor ein Zivil- oder ein Militärgericht stellen will. Heftig umstritten unter Obamas Beratern ist zudem die Frage, was mit ganz offenbar gewaltbereiten Verdächtigen geschehen soll, gegen die die Beweislage nicht zur Anklage reicht (oder deren Geständnisse wegen foltergleicher Verhörmethoden unzulässig sind): Auch demokratische Sicherheitsexperten fordern, solche Gefangene schlicht in präventiver Schutzhaft zu behalten, während Bürgerrechler warnen, damit schaffe die Regierung nur "ein Guantanamo auf dem Festland".

Vergleichsweise leicht zu lösen ist das Schicksal jener mehr als 60 Gefangenen, die das Pentagon längst als ungefährlich einstuft. Sie sitzen nur fest, weil sie in Heimatländern wie China, Algerien oder Tunesien neue Folter fürchten müssen. Obama braucht Aufnahme-Hilfe aus Europa - um diese Opfer von der Insel zu lassen, ohne sie nach bis zu sieben Jahren Haft in einer neuen Hölle schmoren zu lassen.

Ein Wandel auch in Guantanamo: Austausch der Präsidentenfotos in der amerikanischen Militärbasis. Foto: AP

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Spionagesicheres Handy

Obama soll weiter SMS und E-Mails senden dürfen

Washington - Der neue US-Präsident Barack Obama wird nun doch elektronisch kommunizieren können. Zwar muss er auf sein geliebtes Blackberry verzichten, dafür bekommt er aber ein neues "Smartphone", eine Spezialanfertigung, die 3350 Dollar (rund 2500 Euro) kostet und "spionagesicher" ist, wie die Zeitschrift The Atlantic berichtete. Obama, selbst erklärter "BlackBerry-Abhängiger", hatte bereits vor seiner Vereidigung erklärt, die Sicherheitsdienste müssten ihm das geliebte Kommunikationsmittel schon "aus den Händen reißen". E-Mails und Anrufe von Freunden könnten ihm während seiner Amtszeit helfen, den Kontakt zur amerikanischen Alltags-Wirklichkeit nicht zu verlieren.

Während des Wahlkampfes, in dem Obama besonders auf Online- Kommunikation mit den US-Bürgern gesetzt hatte, war er immer wieder mit seinem "Smartphone" aufgetreten.

Wegen Sicherheitsbedenken mussten US-Präsidenten während ihrer Amtszeit bisher weitestgehend auf E-Mail-Kommunikation verzichten. Laut dem Sender CNN war Obamas Vorgänger George W. Bush bei seiner Amtsübernahme gezwungen worden, den elektronischen Briefverkehr ganz einzustellen. Bill Clinton hatte als Präsident zumindest noch zwei E-Mails verschicken dürfen: eine, um das E-Mail-System zu testen, eine zweite, als er dem Astronauten John Glenn alles Gute für dessen Reise ins All 1998 wünschte.

Die US-Geheimdienste befürchten, dass ausländische Agenten sich in das Internet-Postfach des Präsidenten hacken und vertrauliche Informationen in die falschen Hände gelangen könnten. Außerdem könnten gerade technisch anspruchsvolle Geräte wie das BlackBerry durch eingebaute Positionsbestimmungssysteme (GPS) den Aufenthaltsort des Staatschefs preisgeben.

Mit der Sonderanfertigung für Obama soll das nicht möglich sein. Das Smartphone heißt "Sectera Edge", wurde entwickelt vom Rüstungskonzern General Dynamics, und die nationale Sicherheitsbehörde NSA hat es für den militärischen Gebrauch freigegeben, hält es also für sicher. Ausgestattet ist das Gerät aber mit Programmen, die nicht als sehr vertrauenswürdig gelten: Das Betriebssystem ist Windows Mobile, kommuniziert wird über den Internet Explorer und den Windows Messenger. dpa/mri

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Republikaner verzögern Start des neuen Kabinetts

US-Senatoren bestehen auf eine weitere Befragung der designierten Justiz- und Finanzminister

Von Reymer Klüver

Washington - Obwohl der Senat Hillary Clinton mit überwältigender Mehrheit als US-Außenministerin bestätigt hat, zeichnet sich ab, dass konservative Republikaner entschlossen sind, der neuen Administration Barack Obamas heftigen Widerstand zu leisten. Die Bestätigung des designierten Justizministers Eric Holder wurde auf Druck der Republikaner um eine weitere Woche verschoben. Auch die Bestätigung von Timothy Geithner als Finanzminister ist nach scharfen Anhörungen vor dem Finanzausschuss des Senats zu seinen Steuernachzahlungen frühestens in der kommenden Woche möglich.

Clinton wurde am Mittwoch mit 94 zu zwei Stimmen im Senat bestätigt. In der Debatte zuvor wurde jedoch ein tiefer Graben bei den Republikanern deutlich. Erst nachdem der gescheiterte Präsidentschaftskandidat John McCain massiv ein Ende der Debatte gefordert hatte, kam es zur Abstimmung. "Wir sollten nichts verzögern", sagte McCain und erinnerte seine Senatskollegen daran, dass die USA zwei Kriege führten und vor außenpolitisch hochbrisanten Problemen stünden, etwa im Nahen Osten und Nordkorea. "Wir haben eine Wahl gehabt, und diese Nation hat sich zusammengefunden wie schon lange nicht mehr. Das amerikanische Volk sendet uns nun die Botschaft, dass es will, dass wir zusammenarbeiten und zwar jetzt." Zuvor hatte der konservative Senator John Cornyn die Bestätigung Clintons um einen Tag verzögert, was ihm die Geschäftsordnung des Senats erlaubt. Danach gab er seinen Widerstand auf. Zwei weitere konservative Senatoren ließen sich von dem emotionalen Appell McCains aber nicht beeindrucken und stimmten gegen Clinton. Senator Jim DeMint erklärte seine Ablehnung mit dem Umstand, dass künftig Organisationen in ärmeren Ländern der Welt US-Mittel bekommen könnten, die Abtreibungen als ein Mittel der Geburtenkontrolle anbieten.

Noch am Donnerstag wollte Präsident Obama gemeinsam mit seiner neuen Außenministerin zu den Mitarbeitern im State Department sprechen. Zuvor war ein Treffen hinter verschlossenen Türen mit Sicherheitsberater James Jones und Vizepräsident Joseph Biden angesetzt. Clinton war im Außenministerium von jubelnden Mitarbeitern begrüßt worden.

Im Justizausschuss des Senats machten die Republikaner von ihrem Recht Gebrauch, ihre Abstimmungsempfehlung für den gesamten Senat um eine Woche zu verschieben. Ohne diese Empfehlung kann der Senat nicht über die Nominierung befinden. Zur Begründung sagte der führende Republikaner Arlen Specter, dass weitere Fragen aufgetaucht seien zu Eric Holders Haltung einer möglichen Strafverfolgung von Angehörigen der Bush-Administration wegen ihrer Verwicklung in ungenehmigte Abhöraktionen und zu sogenannten harten Vernehmungspraktiken bei Verhören von Terrorverdächtigen. Der Ausschussvorsitzende Patrick Leahy, ein Demokrat, zeigte sich "äußerst enttäuscht" über die Verzögerung. Sieben Stunden Anhörungen und zahlreiche schriftliche Anfragen hätten den Republikanern ausreichend Gelegenheit zur Prüfung des Kandidaten gegeben.

Die Verzögerung hat zur Folge, dass auch Posten in der zweiten Ebene des Justizministeriums nicht besetzt werden können. Tatsächlich hatten sich die Republikaner von vorneherein auf Holder eingeschossen, weil er sich als stellvertretender Justizminister unter Präsident Bill Clinton hochumstrittenen Begnadigungen nicht in den Weg gestellt hatte. Holder hat das inzwischen bedauert. Brisant ist der Wechsel im Justizministerium für die Republikaner allerdings auch aus einem anderen Grund: Offenkundig sind zahlreiche Beamtenposten im Justizministerium, die üblicherweise nicht nach politischen Gesichtspunkten vergeben werden, unter Präsident George W. Bush systematisch an Republikaner gegangen.

Konjunkturpläne "unhaltbar"

Im Finanzausschuss musste sich der designierte Finanzminister Geithner erneut scharfen Fragen stellen. Der republikanische Senator Jon Kyl nannte Geithners Erklärungen zu seinen Steuernachzahlungen "nicht plausibel". Geithner hatte sich zuvor ausführlich dafür entschuldigt. "Ich hätte aufmerksamer sein müssen", sagte er. Geithner hatte Anfang des Jahrzehnts als Angestellter des Internationalen Währungsfonds versäumt, insgesamt 34 000 Dollar an Lohnsteuer zu zahlen. Einen Teil hat er später nachgezahlt, die volle Summe aber erst, nachdem er von Obamas Übergangsteam darauf hingewiesen worden war.

Der führende Republikaner im Ausschuss, Charles Grassley, räumte ein, dass Geithner "für einige nicht einfach nur erste Wahl für den Posten ist, sondern die einzige". Dennoch wollte er sich nicht festlegen. Der konservative Senator Kyl kritisierte nicht nur Geithners Steuerprobleme, sondern auch das Konjunkturprogramm der Regierung, das er federführend umsetzen wolle, als "unhaltbar". Ein weiterer Kandidat Obamas passierte die Anhörungen indes unbeschadet. Der Handels- und Verkehrsausschuss empfahl dem Senat einstimmig die Bestätigung des Republikaners Ray LaHood als Verkehrsminister. Aus Regierungskreisen verlautete zudem, dass Obama in Kürze den demokratischen Senator George Mitchell zum Sondergesandten für Nahost ernennen wollte.

Timothy Geithner am Mittwoch vor Senatoren in Washington Foto: AFP

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Doppelt geschworen hält besser

Nachdem Barack Obama bei der Vereidigungszeremonie am Dienstag den Satzverdreher des Obersten Richters John Roberts Wort für Wort - und damit falsch - nachgesprochen hatte, wollte man in der neuen Regierung kein Risiko eingehen. Am Mittwochabend wurde die Vereidigung deshalb im Weißen Haus wiederholt. Diesmal meisterte Roberts (links) mit Erfolg alle syntaktischen Herausforderungen: "I will faithfully execute the office of President of the United States", sagte er, wie es die Verfassung vorsieht und Obama sprach alles richtig nach. Tags zuvor war das Wort "faithfully" am Ende des Satzes gelandet.

Dass der Lapsus die neue Präsidentschaft in eine Legitimitätskrise gestürzt hätte, glaubte ernsthaft niemand. Und auch Obama selbst bemühte sich, die Sache in der gebotenen Harmlosigkeit erscheinen zu lassen: "Beim ersten Mal hat's so viel Spaß gemacht", scherzte er, deshalb habe man sich das Vergnügen gleich noch einmal gönnen wollen. Sowohl Verfassungsexperten als auch die juristischen Berater des Präsidenten waren sich einig, dass der doppelte Eid, den bisher nur zwei Präsidenten, Calvin Coolidge und Chester Arthur, ablegten, entbehrlich war. Doch wollte man sich wohl einerseits vor der Kritik schützen, leichtfertig mit der Verfassung umzugehen und andererseits der Sorte ätzender Gerüchte vorbeugen, die Obama im Wahlkampf verfolgten: Er sei Muslim, hieß es immer wieder; ja, er sei gar kein US-Bürger. Lincolns Bibel, die Obama am Dienstag symbolträchtig in der Hand hielt, fehlte diesmal. Schon zuvor hatte sich Vizepräsident Joe Biden, der für seine Tritte ins Fettnäpfchen bekannt ist, in den Fallen des Zeremoniells verfangen. Als Obama ihn bat, die Stabsmitglieder zu vereidigen, verstand Biden nicht gleich: "Muss ich das jetzt nochmal machen?", fragte er, offenbar im Glauben, er selbst müsse seinen Schwur wiederholen. "Stabsmitglieder", antwortete Obama knapp. Biden entgegnete lachend: "Meine Gedächtnis ist nicht so gut wie das von Richter Roberts." jhl

Barack Obama (rechts) legt im Kartenraum des Weißen Hauses zum zweiten Mal seinen Amtseid ab. Ihm gegenüber steht Richter John Roberts. Foto: AFP

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Überraschender Rückzug

Caroline Kennedy bewirbt sich doch nicht für den Senat

Von Christian Wernicke

Washington - Caroline Kennedy, die Tochter des ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy und zuletzt enge Vertraute von Barack Obama, hat am Donnerstag überraschend ihre Pläne für eine eigene politische Karriere aufgegeben. In einer knappen Erklärung teilte sie mit, sie stehe nicht länger zur Verfügung als potentielle Nachfolgerin von Hillary Clinton. Die bisherige demokratische Senatorin des US-Bundesstaates New York hatte ihr Amt am Mittwochabend niedergelegt, nachdem der Senat ihre Ernennung zur Außenministerin bestätigt hatte. Noch zu Wochenbeginn hatte es geheißen, New Yorks Gouverneur David Paterson sei entschlossen, Kennedy das Amt zuzusprechen.

Die 51-jährige Demokratin verwies zur Begründung ihres politischen Rückzugs auf die Krebskrankheit ihres Onkels Ted Kennedy. Der US-Senator war erst am Dienstag bei einem Festessen zur Vereidigung des neuen Präsidenten im Kapitol zusammengebrochen. "Ich habe Gouverneur Paterson heute informiert, dass ich aus persönlichen Gründen meinen Namen für Überlegungen um den Senat der Vereinigten Staaten zurückziehe," ließ Kennedy über einen Sprecher verbreiten.

In ersten Reaktionen zeigten sich zahlreiche Demokraten überrascht von der Entwicklung. Der Abgeordnete Keith Wright aus Harlem, ein enger Freund des New Yorker Gouverneurs, sagte der New York Times, erst vorige Woche habe ihm Kennedy versichert, "dass sie dabei ist, willens und fähig". Andere Parteifreunde verwiesen hingegen auf Umfragen, wonach zuletzt eine Mehrheit der Wähler in New York sich gegen eine Ernennung Kennedys zur Senatorin ausgesprochen hatten. In nationalen Umfragen hingegen hatte eine breite Mehrheit der Befragten eine Karriere der Präsidententochter befürwortet.

Als Ursache für den zuletzt schwindenden Rückhalt unter New Yorks Bevölkerung galt das Echo auf mehrere Medien-Interviews. Ende Dezember hatte Kennedy auf viele Fragen von Journalisten nur vage und ausweichend geantwortet. Die unter Demokraten extrem einflussreiche New York Times etwa veröffentlichte eine Abschrift und Tonband-Auszüge ihres Gesprächs, in denen Kennedy auf die meisten Fragen ausweichend antwortete und auf kritische Bemerkungen sogar schnippisch reagierte. Kennedys Hang zu Füllwörtern und Zwischenbemerkungen wie "you know" wurde sogar in Comedy-Shows parodiert.

Zuletzt hatte auch Gouverneur Paterson angedeutet, er sehe Kennedys mangelnde politische Erfahrung als eine Schwäche. Als ihre wichtigste Stärke hob der schwarze Demokrat nur hervor, die Kandidatin verfüge durch ihre persönliche Freundschaft mit Barack Obama über besten und wertvollen Zugang zum Weißen Haus: "Das ist ganz bestimmt ein Plus." Berater des Gouverneurs hatten argumentiert, angesichts eines drohenden Haushaltsdefizits von 15 Milliarden Dollar könne diese Verbindung dem Bundesstaat helfen, mehr Hilfsmittel aus dem Bundesetat zu ergattern.

Als Favorit für die Nachfolge von Hillary Clinton gilt nun New Yorks Staatsanwalt Andrew Cuomo. Der Sohn eines früheren Gouverneurs hat sich mit aggressiven und sehr populären Ermittlungen gegen die Machenschaften von Finanzinstituten an der Wall Street einen Namen gemacht. Allerdings steht Gouverneur Paterson parteiintern unter starkem Druck, erneut eine Frau nach Washington zu entsenden. Als Bewerberin werden die beiden Abgeordneten Kirsten Gillibrand und Carolyn Maloney genannt. Gillibrand werden allgemein bessere Chancen eingeräumt, da es ihr gelungen war, einen Wahlkreis im eher konservativen Norden des Bundesstaates zu erobern. Jeder Nachfolger wird nur für zwei Jahre ernannt und müsste sich 2010 einer Wahl stellen. Eine neue Wahl für eine dann sechsjährige Amtszeit im Senat ist 2012 vorgeschrieben. Vertraute des Gouverneurs deuteten an, eine Entscheidung solle spätestens an diesem Wochenende fallen.

Caroline Kennedy gibt persönliche Gründe für ihren Schritt an. Foto: dpa

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Mitarbeiter sollen Investoren werden

Berlin - Arbeitnehmer sollen stärker vom Erfolg ihres Arbeitgebers profitieren. Der Bundestag beschloss am Donnerstag ein Gesetz, das Mitarbeitern mehr Möglichkeiten gewährt, sich am eigenen Unternehmen zu beteiligen. So können Angestellte künftig 360 statt bislang nur 135 Euro steuer- und sozialabgabenfrei in Anteile ihrer Firma stecken.

Außerdem sollen vom 1. April an neue Mitarbeiterbeteiligungsfonds entstehen, in die Arbeitnehmer direkt investieren können. Bei solchen Fonds können sich zum Beispiel mehrere Arbeitgeber einer bestimmten Branche zusammenschließen. Die Fonds sind vor allem für die Angestellten kleiner und mittlerer Unternehmen interessant, denen es bislang nicht möglich war, sich etwa durch den Erwerb von Aktien an ihrem Arbeitgeber zu beteiligen. Die Fonds müssen 75 Prozent des eingesammelten Gelds in das Unternehmen stecken, von dessen Mitarbeitern es gekommen ist. Zudem haben künftig mehr Menschen Anspruch auf die Arbeitnehmer-Sparzulage. Bislang bekamen nur Arbeitnehmer, die weniger als 17 900 Euro (Verheiratete: 35 800 Euro) jährlich verdienten, einen Zuschlag vom Staat. Künftig steigen die Einkommensgrenzen auf 20 000 Euro für Alleinstehende und 40 000 Euro für Verheiratete. Die Arbeitnehmer-Sparzulage selbst steigt von 18 auf 20 Prozent.

Den Arbeitnehmern stehe "ein fairer Anteil am Erfolg der Unternehmen zu, für die sie ihre Arbeitskraft einsetzen", heißt es in der Gesetzesbegründung aus dem Haus von Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Der Ausbau der Kapitalbeteiligung mache Unternehmen für Mitarbeiter attraktiver und verbessere die Eigenkapitalbasis.

Wissenschaftler dagegen hatten das Vorhaben von Anfang an kritisiert. Es verkenne, "dass sich hohe Kapitalerträge auch mit hohem Risiko verbinden" hieß es in einem Brief des Wissenschaftlichen Beirats an Glos. Der Wissenschaftliche Beirat, dem mehr als 30 Experten angehören, soll den Bundeswirtschaftsminister unabhängig in allen Fragen der Wirtschaftspolitik beraten. Die Mitarbeiterbeteiligung erhöhe das Risiko für die Arbeitnehmer, schrieben die Experten. Geht es dem Unternehmen schlecht, verlieren die Mitarbeiter nämlich im Zweifelsfall nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch noch ihr Erspartes.

Der Unionspolitiker Klaus-Peter Flosbach verteidigte das Gesetz dagegen: "Die Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist ein zentraler Baustein dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft auch im 21. Jahrhundert ihre Erfolgsgeschichte weiterschreiben wird", sagte er. Daniela Kuhr

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Hoffnung für Gilad Schalit

Im Tausch gegen den entführten Soldaten will Israel angeblich 1500 Häftlinge entlassen

Von Thorsten Schmitz

Tel Aviv - Der israelische Regierungschef Ehud Olmert hat am Donnerstag erstmals erklärt, dass der Gaza-Krieg die Chancen auf eine Freilassung des entführten Soldaten Gilad Schalit erhöht habe. Olmert sagte im israelischen Rundfunk, die Offensive habe "eine Reihe von Hebeln in Bewegung gesetzt", die zur Freilassung Schalits beitragen könnten.

Wenn Schalit nach Israel zurückgekehrt sei, "wird es möglich sein, die ganze Geschichte zu erzählen, und zu berichten, wer Druck ausgeübt und wer welche Position unterstützt hat". Zuvor hatten israelische Medien in der Nacht zu Donnerstag gemeldet, dass inzwischen auch eine Mehrheit des Kabinetts für die Freilassung von 1500 palästinensischen Gefangenen sei, darunter auch Häftlinge, die in tödliche Terroranschläge verwickelt gewesen sind. Bislang hatte sich eine Mehrheit der israelischen Minister gegen eine Freilassung von palästinensischen Terroristen ausgesprochen.

Der israelische Soldat Schalit ist im Juni 2006 von Mitgliedern der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt worden. In Israel geht man davon aus, dass Schalit lebt. In der Nacht zu Donnerstag hatte sich Verteidigungsminister Ehud Barak ähnlich positiv wie Olmert über eine baldige Freilassung geäußert. In Interviews mit israelischen Fernsehsendern hatte Barak erklärt, die Offensive im Gaza-Streifen habe die Chancen auf eine Freilassung Schalits "deutlich verbessert". Bei der Offensive sind palästinensischen Angaben zufolge 1300 Menschen getötet und mehr als 5000 verletzt worden.

Der politische Berater im israelischen Verteidigungsministerium, Amos Gilad, hielt sich am Donnerstag zu Gesprächen mit Ägyptens Geheimdienstchef Omar Suleiman in Kairo auf. Nach Angaben israelischer Medien ging es um die Forderung von Hamas nach einer Öffnung der Grenzen im Gaza-Streifen. Israel will nach den Worten von Außenministerin Tzipi Livni die Grenzen jedoch nur dann öffnen, wenn eine Einigung über Schalits Freilassung erzielt worden sei. Sprecher der Hamas und des "Komitees für Volksbefreiung" erklärten, es habe keine Fortschritte in den Verhandlungen zu einem Gefangenenaustausch gegeben. Israel kündigte an, es werde von diesem Freitag an die Grenze zum Gaza-Streifen für Journalisten öffnen.

Der UN-Nothilfekoordinator John Holmes hat am Donnerstag den Gaza-Streifen bereist und sich dort ein Bild von den Schäden nach der dreiwöchigen israelischen Militäroffensive verschafft. Die Zahl der Opfer sei "extrem schockierend", sagte Holmes. Unmittelbar würden nun sauberes Wasser, Abwasserentsorgung, Strom und Unterkünfte benötigt. Die Grenzübergänge müssten geöffnet werden, um Baumaterialien einführen zu können. Holmes forderte Israel außerdem auf, die Angriffe auf UN-Gebäude in Gaza gründlich zu untersuchen.

Die Schmuggler nach Gaza sind wieder aktiv - Israels Verteidigungsminister Ehud Barak drohte ihnen am Donnerstag mit weiteren Angriffen. Reuters

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Todesurteile im Milchskandal

Drei Chinesen werden hingerichtet, weil sie Babynahrung mit Melamin gestreckt haben

Von Henrik Bork

Peking - Mit drei Todesurteilen und hohen Haftstrafen hat Chinas Regierung am Donnerstag versucht, in dem Skandal um verseuchtes Babymilchpulver das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Ein Gericht in der Provinzstadt Shijiazhuang verurteilte drei Männer zu Tode, die aus Profitgier Milch mit der Industriechemikalie Melamin gestreckt hatten, berichtete die Nachrichtenagentur Xinhua. Sechs Kleinkinder waren in China gestorben und 300 000 weitere Babys mit Nierenbeschwerden und anderen Krankheiten stationär behandelt worden. Der in China lange und absichtlich vertuschte Skandal war erst nach den Olympischen Spielen durch Protestbriefe aus dem Ausland aufgeflogen.

Die prominenteste Angeklagte in den Milchpulver-Prozessen, die Chefin des Milchunternehmens Sanlu, wurde ebenfalls am Donnerstag vom selben Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Tian Wenhua hatte sich schuldig bekannt, obwohl politische Beobachter den Verdacht äußerten, die Managerin sei als "Sündenbock" angeprangert worden, um die aufgebrachte Öffentlichkeit zu beruhigen.

Auch am Donnerstag protestierten Angehörige erkrankter oder verstorbener Kinder vor dem Gerichtsgebäude in der chinesischen Provinzstadt. "Ich denke, sie sollte erschossen werden. Ein Tod für einen Tod", sagte die 48-jährige Zhen Shuzhen, deren einjährige Enkeltochter im Juni an Nierenversagen verstorben war, über die Sanlu-Managerin.

Die profitgierigen Pantscher hatten Milch mit Wasser gestreckt und dann mit Melamin versetzt, weil so bei Qualitätskontrollen ein höherer Proteingehalt vorgetäuscht werden kann. Das Melamin ist jedoch vor allem für Kinder hochgiftig. Hinweise aus der Bevölkerung waren von örtlichen Beamten und Kadern der kommunistischen Partei sowie von Managern und kommunistischen Parteisekretären großer Milchunternehmen monatelang verheimlicht worden, unter dem Vorwand, Chinas Image im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele im August 2008 nicht zu gefährden.

Die Regierung war am Donnerstag erkennbar bemüht, die Wut in der Bevölkerung zu beschwichtigen. Etliche Eltern, die vor dem Gericht demonstrieren wollten, wurden von der Polizei noch bei der Anreise abgefangen und vorübergehend festgenommen.

Die Eltern eines verstorbenen Babys haben in der Zwischenzeit eine Entschädigung in Höhe von etwa 22 000 Euro erhalten. Doch ein loses Netzwerk von Eltern, das seit Monaten für ein Schuldgeständnis der Behörden und für Entschädigung kämpft, bezeichnete diese Summe als unzureichend. Auch ist bei weitem noch nicht klar, ob alle geschädigten Familien entschädigt werden. 200 Eltern haben daher versucht, die Regierung zu verklagen, was in China jedoch kaum Aussicht auf Erfolg hat.

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Alle locken Al-Wazir

Führende Grüne drängen den hessischen Landesvorsitzenden zu einem Wechsel in die Bundespolitik - der zögert aber noch

Von Daniel Brössler

Berlin - Er kann es wahlweise als Fluch oder Segen werten: Seit dem glänzenden Ergebnis seiner Partei bei der Hessenwahl wird mächtig an Tarek Al-Wazir gezerrt. Eine ganze Reihe prominenter Grüner haben offen oder weniger offen zu verstehen gegeben, dass sie sich einen Wechsel des hessischen Grünen-Chefs nach Berlin wünschen. Noch am Wahlabend hatte der Parteivorsitzende Cem Özdemir den Hessen unverhohlen in die Bundespolitik gelockt.

Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour bedrängte Al-Wazir: "Wir brauchen jeden unserer Spitzenleute für die Bundestagswahl." Deshalb solle Al-Wazir für den Bundestag kandidieren. In der gegebenen Konstellation sei Al-Wazir unverzichtbar. Renate Künast, Chefin der Grünen im Bundestag und zusammen mit Jürgen Trittin Spitzenkandidatin für die Wahl im September, ließ zwar öffentlich größere Zurückhaltung walten, gehört aber auch zu jenen, die Al-Wazir eindringlich zu einem Wechsel nach Berlin raten.

In die Hauptstadt hat Al-Wazir signalisiert, dass er nun erst einmal ein paar Tage für sich und eine Familie brauche. Die Situation für ihn ist heikel, denn die Grünen in Hessen setzen in Ermangelung weiterer Stars auf den Verbleib ihres Spitzenmannes, dem kein kleiner Teil des 13,7-Prozent-Ergebnisses bei der Landtagswahl zugeschrieben wird. "Er hat gesagt, dass er nächste Woche wieder für den Fraktionsvorsitz kandidieren will. Darüber freue ich mich und das finde ich gut", sagt Mathias Wagner, Fraktionsgeschäftsführer der hessischen Grünen. Damit sei "das Thema zunächst erledigt", die Möglichkeit, dass Al-Wazir sich dennoch um einen hessischen Listenplatz für die Bundestagswahl bemühen könnte, sei nichts als Spekulation. " Ich verstehe, dass viele in Berlin sehen, dass wir einen absoluten Spitzenmann hier in Hessen haben", sagt Wagner, aber mit so einem "phantastischen Ergebnis hat er das erste und fast das letzte Wort."

Doch genau das ist nach Meinung von Spitzen-Grünen noch nicht gesprochen. Schon lange vor dem Erfolg bei der Hessenwahl hatten sie mit der Überzeugungsarbeit bei Al-Wazir begonnen. Ein klares Nein, das dem Werben ein Ende gesetzt hätte, ist von Seiten Al-Wazirs dabei wohl nie gefallen. Es sei doch kein Zufall, dass die Listenaufstellung für die Bundestagswahl in Hessen relativ spät stattfinde, heißt es in Berlin. Alle Hintertüren in Richtung Hauptstadt seien jedenfalls offen.

Die Gründe für das Werben sind mehrschichtig. Dass es dem 38-jährigen Offenbacher in Hessen gelungen ist, zum populärsten Politiker aufzusteigen, ist dabei der offensichtlichste. Mit Al-Wazir hoffen die Grünen stärker als bisher in bürgerliche Wählerschichten vordringen zu können. Für das derzeit kaum erreichbar erscheinende Projekt, stärker zu werden als die FDP, wäre genau dies unabdingbar. Al-Wazir jedenfalls war in Hessen ein mehrfaches Kunststück gelungen: Er hatte das gescheiterte Projekt einer rot-grünen Landesregierung mit dunkelroter Duldung vorangetrieben, ohne dafür von den Wählern in Haftung genommen zu werden. Vielmehr hatte er neben der unbeirrbar wirkenden SPD-Frau Andrea Ypsilanti den seriösen Part gegeben. Vergessen ist in Berlin, dass man nicht immer glücklich war mit dem Agieren und Taktieren des Offenbachers, den nicht wenige in entscheidenden Situationen zu zögerlich, zu langsam fanden.

Mehr als die Grünen insgesamt versprechen sich die einst Realos genannten Reformer von einem Wechsel Al-Wazirs in die Bundespolitik. Es läuft schon eine ganze Weile nicht gut für das Lager; bei Listenaufstellungen hat es so manchen Dämpfer hinnehmen müssen. Parteichef Özdemir hat das beim gescheiterten Versuch, sich in Baden-Württemberg für den Bundestag zu empfehlen, selbst erlebt. "Wir brauchen Verstärkung", ist die Einschätzung führender Reformer. Al-Wazir könnte sie liefern, denn er verfügt über ein gutes Standing in der Partei. Mit einem Spitzenergebnis von 79 Prozent wurde er jüngst in den Parteirat gewählt. Fraktionschef Fritz Kuhn, der erfahrene Häuptling der Reformer, flog aus dem Gremium hinaus.

Der Offenbacher ist zum beliebtesten Politiker in Hessen aufgestiegen

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Der Preis der Arbeit

Am Anfang standen die Bauarbeiter, Gebäudereiniger und Briefträger - für diese 1,8 Millionen Arbeitnehmer gilt bereits ein Mindestlohn. Am Donnerstag hat der Bundestag nun sechs weitere Branchen in das sogenannte Entsendegesetz aufgenommen. So erhält eine weitere Million Menschen künftig ein Mindesteinkommen pro Stunde. Der Bundesrat muss aber noch zustimmen. Auch für die Zeitarbeit mit etwa 700 000 Beschäftigten hat der Koalitionsausschuss bereits das Einziehen einer Lohnuntergrenze vereinbart. SZ

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Heute in der SZ

Die Fehlsteuerung

Um der Autoindustrie zu helfen, opfert die Bundesregierung ihre Klimaschutz-Ziele. Leitartikel von Sebastian Beck 4

Todesstrafe im Milchskandal

In China werden zwei Männer hingerichtet, eine Firmenchefin muss lebenslang in Haft. Von Henrik Bork 7

Ein Abenteurer mit Tiefenwirkung

An diesem Freitag feiert der Meeresforscher und Filmemacher Hans Hass seinen 90. Geburtstag. 9

Die Mitte und das Geld

Was den Frankfurter Suhrkamp Verlag nach Berlin locken könnte. Von Lothar Müller 11

Goldrausch in der Tiefsee

Industrienationen reißen sich um die Rohstoffe am Meeresgrund - Umweltschützer sind alarmiert. 16

Chipkonzern Qimonda vor dem Aus

Infineon-Tochter fehlen im Überlebenskampf weitere 300 Millionen Euro. 17

Horrorsturz am Hahnenkamm

Kombinationsweltmeister Daniel Albrecht liegt nach einem schweren Unfall auf der Intensivstation. 29

TV- und Radioprogramm 32

Rätsel, Forum 15, 31

München · Bayern 30

Familienanzeigen 28

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HEUTE MIT

Richtige Handlung, fragwürdige Haltung: Plädoyer für ein differenziertes Bild des Hitler-Attentäters Stauffenberg. Eis am Stiel und Gratisarbeit: ein Interview mit den Stars Scarlett Johansson und Samuel L. Jackson. Bilder ohne Bart: der kritische Blick junger iranischer Fotografen auf ihre Heimat. Und zu guter Letzt: wissenswerte Hintergründe zum Jahr des Rinds.

Liegt nicht der gesamten Auslandsauflage bei

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Etikettenschwindel mit Bio-Geflügel

Düsseldorf - Ein ökologischer Großbetrieb für Geflügelaufzucht im ostwestfälischen Delbrück ist wegen eines Etikettenschwindels mit angeblichen Bio-Produkten von den nordrhein-westfälischen Landesbehörden mit einem zweijährigen Vermarktungsverbot für Bio-Produkte belegt worden. Dem Betreiber war nachgewiesen worden, dass er seine Putenküken mit konventionellem Futtermittel aufgezogen hatte. (Panorama) graa

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RAF-Film für Oscar nominiert

München - Der RAF-Film "Der Baader Meinhof Komplex" ist in der Kategorie "bester fremdsprachiger Film" für den Oscar nominiert worden. Als beste Filme sind "Slumdog Millionär", "Der seltsame Fall des Benjamin Button", "Frost/Nixon", "Milk" und die Schlink-Verfilmung "Der Vorleser" im Rennen. Außerdem wurde der verstorbene Heath Ledger nominiert. (Seite 4 und Feuilleton)SZ

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20 Seiten Immobilien, Kauf- und Mietmarkt

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Das Streiflicht

(SZ) Wenn ein Politiker den Leuten etwas erzählt, kommt er selten ohne den Begriff "großer Wurf" aus. Eine Steuerreform kann ein großer Wurf sein, auch eine Vereinbarung zur Reduzierung der Treibhausgase. Der große Wurf ist das Urversprechen, das Politiker ihren Wählern geben, vor allem natürlich dem "kleinen Mann", der vom "großen Wurf" am allermeisten profitiert. Dabei sind die großen Würfe der Geschichte in der Regel von kleinen Männern vollzogen worden, vom Münchner Werbegraphiker Helmut Winter zum Beispiel. Aus Protest gegen amerikanische Tiefflieger, die die Fenster in seinem Atelier zum Zittern brachten, hat Helmut Winter 1967 diese Flugzeuge unter Zuhilfenahme einer Wurfmaschine mit Knödeln beschossen, die von seiner Frau eigens zu diesem Zweck zubereitet worden waren. Die Geschichte war ein ziemlicher Reißer, internationale Fernsehteams drehten, und Helmut Winter gilt seitdem in Deutschland als eine Art Vater aller Bürgerbewegungen. In Amerika kennt ihn jeder als "Mister Knoedel", außerdem hat er eine Single mit dem Lied "Ich bin der Knödelschütz von Bayern" rausgebracht. Was auf der B-Seite war, ist nicht überliefert.

Noch immer ist der Wurf ein Weg, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Wurf ist wie ein Tritt aus größerer Entfernung. Gerade haben in Island ein paar Demonstranten den Ministerpräsidenten Geir Haarde beworfen, und zwar mit Schneebällen. Als Wurfobjekt schienen sie - eine Folge des weltweiten Klimawandels - schon aus der Mode gekommen zu sein, aber es ist ein kalter Winter diesmal, auch in Island, gerade in Island: Der Ministerpräsident kriegt die Kreditkrise nicht in den Griff. Die Demonstranten hatten alle Tricks drauf, die ein erfahrener Schneeballwerfer kennen muss: Sie tauten die Schneebälle in ihren Händen an, sie machten sie ein wenig härter, bevor sie sie warfen. Sie trafen ziemlich gut und schickten noch ein paar weichere Schneebälle hinterher, sodass der Ministerpräsident aus dieser Schlacht sowohl schmerzhaft getroffen als auch zart bestäubt hervorging. Er war nicht so geschickt wie vor kurzem George W. Bush, den ein irakischer Journalist bei einer Pressekonferenz mit Schuhen beworfen hatte. Mit einer für ehemalige Rodeoreiter charakteristischen Drehbewegung des Oberkörpers konnte Bush den Schuhen ausweichen.

Der Journalist wird im Irak einerseits als Held verehrt, andererseits ist er nach der Attacke ins Gefängnis gekommen. Ob seine Aktion ein großer Wurf war, ist mit letzter Sicherheit nicht zu sagen. Der große Wurf ist manchmal ein Versprechen, manchmal ein Wunsch, selten eine eindeutige Wahrheit. Letzte Meldung zum Thema: Auf einem Bauernhof in Sachsen-Anhalt hat Rhodesian-Ridgeback-Hündin Elescha 15 Welpen zur Welt gebracht. Ein großer Wurf.

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Abwrackprämie stark gefragt

München - Die Abwrackprämie von 2500 Euro für mehr als neun Jahre alte Autos stößt auf starkes Interesse. Das signalisieren Händler, Umfragen und das mit der Durchführung betraute Bundesamt für Wirtschaft. Nun droht die Gefahr, dass etliche Antragsteller leer ausgehen werden. Denn die von der Bundesregierung eingeplanten 1,5 Milliarden Euro reichen gerade einmal für 600 000 Verschrottungen. Etwa doppelt so viele Autobesitzer wollen aber die Prämie beantragen. (Wirtschaft) mik

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Bereits am zweiten Amtstag

Obama bricht mit Bushs Politik

US-Präsident verbietet Folter, beschränkt Lobbyismus und lässt Pläne für schnelleren Irak-Abzug ausarbeiten

Von Reymer Klüver

Washington - Der neue amerikanische Präsident Barack Obama hat bereits an seinem zweiten Tag im Amt die Abkehr von der umstrittenen Politik seines Vorgängers George W. Bush eingeleitet. In mehreren Dekreten verfügte Obama am Donnerstag die Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo und ein Ende der umstrittenen Praktiken des Geheimdienstes CIA im Anti-Terror-Kampf. Zuvor hatte er die Einflussmöglichkeiten von Lobbyisten auf die Arbeit der Regierung beschränkt.

Das Gefangenenlager soll laut Dekret innerhalb eines Jahres geräumt werden. Angesichts der "beträchtlichen Bedenken über diese Inhaftierungen" in den USA und weltweit, heißt es in dem Erlass Obamas, würde eine "unverzügliche und angemessene Entfernung der zur Zeit in Guantanamo festgehaltenen Individuen und die Schließung der Einrichtung die nationale Sicherheit und die außenpolitischen Interessen der Vereinigten Staaten fördern und im Interesse der Gerechtigkeit liegen". Zudem ordnete Obama eine erneute Überprüfung der Haftgründe aller 245 noch in Guantanamo Internierten an. Zuvor hatte er bereits die Aussetzung der umstrittenen Militärgerichtsverfahren in Guantanamo für 120 Tage verfügt.

Am Donnerstag unterzeichnete Obama noch zwei weitere Dekrete. Zum einen wurde der Erlass von Bush aufgehoben, der dem Geheimdienst CIA sogenannte "verschärfte Verhörmethoden" bei Terrorverdächtigen ermöglichte, etwa das "Waterboarding", das simulierte Ertränken eines Häftlings. Fortan sollen sich CIA-Angehörige an die Richtlinien der US-Streitkräfte für Verhöre halten, die dem Völkerrecht entsprechen. Zum anderen soll dem Geheimdienst die Inhaftierung von Terrorverdächtigen in Gefängnissen anderer Länder ausdrücklich verboten werden.

Bereits am Mittwoch hatte Obama einen neuen Verhaltenskodex für seine Administration unterzeichnet, der die Geheimhaltungspraktiken der Bush-Administration beenden soll. Regierungsmitarbeiter sind nun angewiesen, Dokumente nur bei zwingenden Gründen geheim zu halten. Bisher seien der Öffentlichkeit, wo es nur ging, Informationen vorenthalten worden, sagte Obama. "Diese Ära ist nun vorbei." Zugleich erließ er neue Regeln für den Kontakt zwischen Regierungsmitarbeitern und Lobbyisten. Danach dürfen Regierungsmitarbeiter nach ihrem Ausscheiden nicht als Lobbyisten tätig werden, solange die gegenwärtige Administration im Amt ist.

Die Reihe der sogenannten executive orders, Anordnungen des Präsidenten, macht deutlich, dass Barack Obama Wahlkampfversprechen sofort einlösen will. "Was für ein Moment", sagte er bei der Unterzeichnung der Lobbyistenregeln, "welch Gelegenheit, dieses Land zu verändern".

Am Mittwoch hatte Obama mit den militärischen Oberbefehlshabern und Diplomaten die Lage im Irak besprochen. In einer Erklärung des Weißen Hauses hieß es danach, dass Obama die Generäle gebeten habe, "die nötigen zusätzlichen Planungen für einen verantwortlichen Abzug aus dem Irak vorzunehmen". US-Medienberichten zufolge soll er in dem einstündigen Treffen vor allem zugehört haben und keine ausdrücklichen Anweisungen erteilt haben. Allerdings soll er zu verstehen gegeben haben, dass er mit einem Abzug bis auf einen Restbestand an Truppen binnen 16 Monaten ausgehe. Der Afghanistan-Krieg sei nur am Rande erwähnt worden. Aus dem Weißen Haus hieß es aber, dass Obama den Generalstab im Pentagon aufsuchen werde, um sich über die Situation in dem Land informieren zu lassen. (Seiten 2, 4 und 5)

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"Fehler meines Lebens"

Ex-Postchef Zumwinkel gesteht Steuerhinterziehung

Von Johannes Nitschmann

Bochum - Zum Auftakt seines Steuer-Strafprozesses vor dem Landgericht Bochum hat Ex-Postchef Klaus Zumwinkel am Donnerstag ein umfassendes Geständnis abgelegt. Er gab zu, sein Vermögen in Höhe von zuletzt mehr als elf Millionen Euro auf geheimen Konten in Liechtenstein angelegt zu haben. "Das war der größte Fehler meines Lebens", sagte Zumwinkel. Er wolle "reinen Tisch machen" und sei froh, mit dieser Hauptverhandlung "endlich einen Schlussstrich" unter seine Steuerstraftaten ziehen zu können. Er übernehme die volle Verantwortung und werde die "schmerzlichen Folgen" tragen. Nach seinem Geständnis kann der 65-Jährige auf eine Bewährungsstrafe hoffen. Das Urteil soll bereits am Montag gesprochen werden. Der Vorsitzende der 12. Bochumer Wirtschaftsstrafkammer, Richter Wolfgang Mittrup, stellte zu Beginn der Verhandlung klar: "Eine irgendwie geartete Absprache zur konkreten Strafhöhe gab und gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht."Der Staatsanwalt legt Zumwinkel in der Anklageschrift zur Last, im Zeitraum zwischen 2003 und 2007 insgesamt 967815 Euro Steuern über Geheimkonten in Liechtenstein hinterzogen zu haben. Auf dem Konto seiner Familienstiftung "Devation Family Foundation" bei der Liechtensteiner LGT-Bank habe sich zum 31. Dezember 2006 ein Guthaben in Höhe von 11,8 Millionen Euro befunden. Das Geld stamme weitgehend aus einer Erbschaft von seinem Vater, dessen Lebensmittelladen- und Textilhauskette die beiden Zumwinkel-Brüder 1973 an den Rewe-Konzern verkauft hätten.

Zumwinkel sagte, er sei "so beraten worden, dass man schon einmal versteuertes Geld nicht noch einmal versteuern sollte". Während der von der Bundesregierung erlassenen Amnestie für deutsche Steuerflüchtlinge will Zumwinkel überlegt haben, sich mit seinen verdeckten Liechtenstein-Konten beim Fiskus zu offenbaren. "Aber ich hatte große Angst, dass das durch Indiskretionen an die Öffentlichkeit kommt", sagte der Angeklagte. Damit wäre seine berufliche Tätigkeit als Post-Chef so belastet worden, dass dies "zu einem Desaster" geführt hätte. Heute wisse er, dass diese Angst "ein schlechter Ratgeber" gewesen sei.

Vor dem Bochumer Gerichtsgebäude protestierten Demonstranten mit Transparenten gegen die Bochumer Justiz. "Für Zumwinkel ist alles klar. Der Strafprozess wird zum Basar", hieß es auf einem der Transparente. (Seite 3)

Klaus Zumwinkel zwischen seinen Anwälten Hanns Feigen (rechts) und Rolf Schwedhelm. Foto: ddp

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Petrus geht ins Netz

Papst eröffnet eigenen Kanal auf Video-Portal Youtube

Womöglich hat ja der heilige Isidor von Sevilla auf den Papst eingewirkt, medial mit der Zeit zu gehen. Isidor ist der Schutzpatron der Surfer im Internet. Es dürfte in seinem Sinne sein, wenn der Vatikan und der Internet-Dienst Google nun einen Pakt schließen. Sein Inhalt wird an diesem Freitag vorgestellt, Eckpunkte sind aber schon bekannt. Demnach soll der Vatikan einen eigenen Kanal auf dem Videoportal Youtube erhalten, der von den Radio- und Fernsehmachern Benedikts betreut wird. So können die Menschen bald weltweit Filme und Bilder von Papstauftritten und anderen kirchlichen Ereignissen unkompliziert betrachten. Zudem möchte Google seine Suchkriterien verbessern, damit päpstliche Dokumente leichter zu finden sind. Immerhin hat Jesus seine Jünger beauftragt, Menschen zu fischen - wie ginge das leichter als per Internet?

"Die gute Botschaft der Kirche muss besser vermittelt werden", findet Pater Eberhard von Gemmingen, einer der Leiter bei Radio Vatikan. Über das Internet lasse sich die junge Generation erreichen. "Zwar kann man sich fragen, ob das Niveau im Netz für die Kirche zu primitiv ist. Da dürfen wir aber nicht elitär denken. Wir müssen dahin gehen, wo die Menschen sind." Auch Papst Benedikt XVI. fordert, seine Kirche müsse ihre Botschaft in jene Räume tragen, in denen "zahlreiche Jugendliche surfen, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens".

Die Päpste waren nicht immer so aufgeschlossen gegenüber den Medien. Gregor XVI. schrieb 1832 in seiner Enzyklika "Mirari Vos" von der "zu verabscheuenden und verwerflichen Freiheit der Presse". Dreißig Jahre später aber rief die Kirche den Osservatore Romano ins Leben, die heutige Zeitung des Pontifex. Im März 1931 sprach erstmals ein Papst übers Radio: "Die Erde höre die Worte aus meinem Munde. Oh höret alle Völker!", rief Pius XI. ins Mikrophon. 1983 gründete der Vatikan sein Fernsehstudio CTV, und in den neunziger Jahren begann die Ordensschwester Judith Zoebelein, Kardinäle an der Computer-Maus auszubilden. Zu Weihnachten 1995 ging die erste Vatikanseite online - und wurde binnen 48 Stunden von 300 000 Menschen besucht. Rasch wurde der Internet-Auftritt unter www.vatican.va ausgebaut. Die ersten drei Computer wurden nach den Erzengeln Michael, Gabriel und Raffael benannt. Michael musste vor allem Viren abwehren.

Die Webseite des Vatikans ist heute umfangreich. Für den Nutzer sind die Wege aber verschlungen. Pater von Gemmingen kritisiert, es sei zu mühsam, neue Nachrichten herauszufiltern. Auch sonst ist im Internet fast alles an Dokumenten, Fotos und Filmen über Papst und Kirche versteckt. Doch wer sucht, verliert sich leicht in der Unzahl an Angeboten. Wer etwa am Donnerstag auf der Youtube-Seite das Wort "Papst" eingab, bekam zuerst einen Satirefilm präsentiert, in dem Benedikt als "verstockter deutscher Katholik mit Augenringen wie die Panzerknacker" bezeichnet wurde.

Durch den Pakt mit Google will die Kirche sich nun geschickter präsentieren. Neue Kanäle der Verkündung allein aber reichen nicht, um die frohe Botschaft an junge Menschen zu bringen, warnt Pater von Gemmingen. Womöglich müsse Benedikt auch seine Sprechweise überdenken. "Was der Papst sagt, ist ja alles wahr, fromm und höchst gelehrt. Aber so erreicht er die Massen und die Jugend nicht." Wie müsste Benedikt also reden? Der Radio-Pater seufzt. "Vielleicht sollte er auch ab und zu einmal rufen: Yes we can!" Stefan Ulrich

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Das Wetter

München - Ein kräftiges Sturmtief bringt schauerartige Regen- und Schneefälle. Im Osten zunächst freundlich. Sonst stark bewölkt, in der zweiten Tageshälfte orkanartige Böen. Zwei bis sieben Grad. (Seite 31)

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Mindestlohn für fast vier Millionen Arbeitnehmer

Bundestag billigt Untergrenzen in sechs weiteren Branchen / Bundesrat wird wahrscheinlich zustimmen

Von Thomas Öchsner

Berlin - In Deutschland werden bald für knapp vier Millionen Arbeitnehmer Mindestlöhne gelten. Der Bundestag hat am Donnerstag beschlossen, in sechs weiteren Branchen solche Lohnuntergrenzen einzuführen. Davon sollen nach Angaben von Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) 1,2 Millionen Arbeitnehmer in der Alten- und häuslichen Krankenpflege, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, in der Abfallwirtschaft, bei industriellen Großwäschereien, in Bergbauspezialdiensten sowie in der Aus- und Weiterbildungsbranche profitieren. Der niedrigste Mindestlohn beläuft sich auf sechs Euro - für Wachleute in Ostdeutschland.

Anders als in anderen Industrienationen gibt es in Deutschland keinen einheitlichen Mindestlohn. Stattdessen einigte sich die Koalition auf ein Sammelsurium verschiedener Gesetze. Kernpunkt ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Es bietet die Möglichkeit, den Tarifvertrag einer Branche für alle Arbeitnehmer für verbindlich zu erklären und so Mindestlöhne festzuschreiben. Dies gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Sitz in Deutschland hat oder nicht. Das soll auch dazu beitragen, dass Billig-Anbieter aus dem Ausland nicht deutschen Firmen Aufträge abjagen können, weil sie besonders niedrige Löhne bezahlen.

Zusammen mit den sechs neuen Branchen gelten nun für neun Wirtschaftszweige Mindestlöhne. 1,8 Millionen Mitarbeiter in der Bau-, Reinigungs- und Briefbranche sind bereits durch das Entsendegesetz vor Dumpinglöhnen geschützt. Die Regelung greift nur dort, wo für mindestens 50 Prozent der Mitarbeiter Tarifverträge maßgebend sind. Um Mindestlöhne in Branchen ohne oder mit geringer Tarifbindung zu ermöglichen, billigte der Bundestag ein Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen. Die Bundesregierung kann damit per Rechtsverordnung Lohnuntergrenzen festsetzen.

Für die Zeitarbeitsbranche hatte die Koalition sich zuvor auf einen dritten Weg geeinigt. Für die 700 000 Leiharbeiter soll es ebenfalls einen Mindestlohn geben. Dieser wird im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verankert. Rechnet man diese Gruppe dazu, wären etwa 3,7 Millionen Beschäftigte durch Mindestlöhne geschützt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert dagegen nach wie vor einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro. "Wir werden das zum Thema im Wahlkampf machen", sagte DGB-Chef Michael Sommer.

Bei der namentlichen Abstimmung im Parlament votierten zehn Unions-Abgeordnete gegen die Lohnuntergrenzen. Der Wirtschaftsflügel der Union sieht wegen der Mindestlöhne die Tarifautonomie in Gefahr und hofft, dass sich mit den Stimmen der CDU/FDP-regierten Länder die Mindestlohngesetze im Bundesrat doch noch zu Fall bringen lassen. Die FDP lehnt Mindestlöhne kategorisch ab, weil sie Arbeitsplätze gefährdeten.

Ein Nein der Länderkammer ist jedoch unwahrscheinlich. Das Regierungslager kommt derzeit auf 30 Stimmen, das Nichtregierungslager auf 33. Die Mehrheit hängt damit wie auch beim Konjunkturpaket von den jeweils drei Stimmen aus Bremen und Hamburg ab, in denen die Grünen mit der SPD beziehungsweise der Union regieren. Das Ja aus Bremen ist so gut wie sicher - die dortige Koalition hatte sich bereits früher für einen Mindestlohn ausgesprochen. Die Zustimmung des Hamburger Senats gilt als wahrscheinlich. (Seiten 4 und 7)

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Gericht: Eltern dürfen Steuerklasse wechseln

Essen - Ehegatten dürfen vor der Geburt eines Kindes die Steuerklasse wechseln, um ein höheres Elterngeld zu beziehen. Dies hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in zwei Urteilen als erstes Landessozialgericht in Deutschland entschieden, wie das Gericht am Donnerstag mitteilte. Rechtskräftig sind die Entscheidungen noch nicht. Einen Steuerklassenwechsel zur Erhöhung des Nettoeinkommens vor der Geburt, nach dem sich die Höhe des Elterngelds richtet, schlössen weder das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz noch das Steuerrecht aus, hieß es in der Urteilsbegründung. Rechtsmissbrauch könne den Eltern nicht vorgeworfen werden, da sie eine legale steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeit nutzten."Hätte der Gesetzgeber den Steuerklassenwechsel ausschließen wollen, hätte er dies im Gesetz bestimmen können", sagte das Landessozialgericht. Geklagt hatten eine Beamtin im Landesdienst und eine Bankkauffrau. (Az.: Landessozialgericht Essen L 13 EG 40/08 und L 13 EG 51/08) AP

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CDU hält an Althaus fest

Erfurt - Die Thüringer CDU will auch dann mit Dieter Althaus als Spitzenkandidat in den Wahlkampf ziehen, wenn gegen den Ministerpräsidenten wegen seines Skiunfalls Anklage erhoben werden sollte. Der Sprecher der Landes-CDU, Heiko Senebald, sagte am Donnerstag in Erfurt, die Unschuldsvermutung gelte für jeden: "Wenn es zu einer Anklage kommen sollte, heißt es ja nicht, dass Dieter Althaus schuldig ist." AP

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Klagewelle gegen Hartz IV

Kassel - Vier Jahre nach dem Inkrafttreten von Hartz IV reißt die Klagewelle gegen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht ab. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am Donnerstag mitteilte, gingen im vergangenen Jahr 174 618 neue Verfahren bei den Sozialgerichten ein, gut 38 000 mehr als 2007. Das entspricht einem Zuwachs von 28 Prozent. "Der bisherige Trend hat sich nicht nur weiter fortgesetzt, sondern noch weiter verstärkt", betonte Gerichtssprecher Thomas Voelzke. Der Präsident des Bundessozialgerichts, Peter Masuch, forderte die Bundesregierung auf, die Arbeitsmarktreform nachzubessern. "Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen ebenso wie die Kostentragung für Unterkunft und Heizung scheinen mir noch klarstellungsbedürftig." Es sei "nicht befriedigend", wenn die Bewilligung staatlicher Leistungen in derart hohem Ausmaß zu Klagen und Eilanträgen bei den Sozialgerichten führe. Voelzke sagte, die Zahl von derzeit 1149 Richterstellen halte mit dieser Entwicklung nicht Schritt. So seien im vorigen Jahr bundesweit nur 76,5 neue Stellen geschaffen worden, ein Plus von lediglich sieben Prozent. ddp

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"Sprungschanze Gottes" wechselt den Besitzer

Ehemalige evangelische Kirche in Hannover wird an diesem Wochenende als Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde eingeweiht

Von Christiane Langrock-Kögel

Hannover - Die "Sprungschanze Gottes" liegt gegenüber vom städtischen Friedhof Hannover-Stöcken. Die Leute nennen den 60er-Jahre-Bau wegen seines markanten Schrägdachs so, manchmal heißt er auch etwas despektierlich "Seelenabschussrampe". Daneben stehen Wohnblocks, am Rand des Kirchplatzes liegt die Friedhofsgärtnerei. Bis vor zwei Jahren ragte vom Dach ein goldenes Kreuz in den Himmel. Das Gebäude war die Gustav-Adolf-Kirche, die zur evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover gehörte. Jetzt ziert eine goldene Metall-Konstruktion aus kleinen Dreiecken den Eingang. Über der Tür steht in hebräischen Schriftzeichen "Etz Chaim", Baum des Lebens. So heißt das jüdische Gemeindezentrum, das nach einem Jahr Umbauzeit am Sonntag eingeweiht wird. Es ist ein äußerst seltenes Ereignis, denn erst zum zweiten Mal überhaupt in der Bundesrepublik wird damit aus einer evangelischen Kirche eine Synagoge.

Dass Kirchen schließen müssen, dass sie mit anderen Gemeinden zusammengelegt werden, dass sie als Event-Location zu mieten sind, als Restaurant oder Wohnhaus genutzt werden, ist alles schon vorgekommen. Die Zahl der Kirchenmitglieder schrumpft, den Landeskirchen fehlt das Geld. So erging es auch der Gustav-Adolf-Gemeinde, die in ihren besten Zeiten mehr als 3000 Mitglieder hatte. Zuletzt blieben noch 1300, viele Andersgläubige waren in die Gegend gezogen. Allein die Heizkosten, die der schlecht isolierte Bau verschlang, überforderten den Etat. Schon in den neunziger Jahren, sagt die frühere Pastorin Lampe-Demsky, habe man über einen Verkauf diskutiert. Es gab Angebote eines Autohauses und eines Drogerie-Unternehmens. Eine Kletterwand wollte auch jemand installieren.

Dann kam Ingrid Wettberg, die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannovers (LJGH), der größten liberalen Gemeinde Deutschlands. Die LJGH, 1995 hervorgegangen aus der orthodoxen jüdischen Gemeinde Hannovers, suchte neue Räume. Aus der kleinen Gruppe von 79 Gründungsmitgliedern ist heute, vor allem durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, eine 600 Mitglieder starke Gemeinde geworden.

Dezent bleiben, nicht auffallen

Sie wollte raus aus den Büroräumen, die ihr als Gemeindezentrum und Betsaal dienten. Ingrid Wettberg sagt, vor der Gustav-Adolf-Kirche habe sie sich auch schon einmal eine zum Verkauf stehende evangelische Kirche angesehen. Das hatte einen Kirchturm, den man hätte abreißen müssen. "Das konnten wir nicht machen", sagt Wettberg, "Ich hatte Angst, es würde heißen: Die Juden reißen unsere Kirche ein." In Bielefeld hatte die bisher einzige Umwidmung einer evangelischen Kirche in die Synagoge Beit Tikwa sogar zwischenzeitlich zu einer Besetzung des Gotteshauses geführt.

Hannover ist damit die erste Kirchenumwidmung dieser Art, die vollkommen friedlich ablief. Die Gustav-Adolf-Kirche wechselte für 350 000 Euro den Besitzer und wurde von Grund auf saniert. Die Vorgabe an die Architekten des knapp drei Millionen Euro teuren Umbaus war, möglichst dezent zu bleiben, nicht zu provozieren. Das Land Niedersachsen, die Stadt und die Region Hannover sowie die jüdische Gemeinde selbst brachten je ein Drittel des Geldes auf. "Zwei Drittel unserer Mitglieder sind Zuwanderer. Wir sind keine reiche Gemeinde", sagt die Vorsitzende. Unterhalten könnten sie ihr Zentrum aber selbst.

Die bunten Glasfenster der Gustav-Adolf-Kirche sind verschwunden. Die neue Synagoge, hauptsächlich in Schwarz und Weiß gehalten, prägt eine lichte, moderne und dennoch warme Ausstrahlung. Zwischen siebenarmigen Leuchtern in mattem Gold steht die Heilige Lade, hinter deren Türen die Tora-Rollen aufbewahrt werden. Den orangefarbenen Samtvorhang hat Ingrid Wettberg als Zeichen der Kontinuität im evangelischen Kloster Marienberg besticken lassen. Und der Schmied, der das Kreuz der Gustav-Adolf-Kirche herstellte, hat nun die Chanukka-Leuchter geschmiedet.

Im Mai 2007 wurde die Gustav-Adolf-Kirche entwidmet, so heißt das Ritual, das die evangelische Kirche vor ein paar Jahren entwickelt hat, um Gotteshäuser würdig zu schließen. Die christlichen Symbole wie Taufschale, Abendmahlskelche und Kerzenleuchter wurden unter Singen und Beten aus der Kirche getragen. Die Orgel erklang ein letztes Mal, dann wurde die Tür abgeschlossen. Die Gemeinde kehrte samt der vier Kirchenglocken zurück in die zwei Kilometer entfernte Herrenhäuser Kirche, aus der sie Ende der 60er Jahre hervorgegangen war. Nein, die jüdische Gemeinde habe ihnen nichts weggenommen, sagte eine ältere Dame Ingrid Wettberg beim Tag der offenen Tür. Die Pastorin sprach von einer Wiedergutmachung an jene, deren Gotteshäuser vor 70 Jahren von den Nationalsozialisten zerstört wurden. Andere Nachbarn fühlen sich von der Polizeipräsenz rund um die neue Synagoge gestört und sorgen sich, dass nun Krawall ins Viertel kommt, durch Neonazis etwa.

Die großen Fenster zum Innenhof, die den Blick freigeben auf einen einladenden, alten Baum, sind aus schusshemmendem Glas. Schon jetzt ist der Hof von außen unzugänglich, aber wenn die Gemeinde das Geld hat, sollen noch überall im Erdgeschoss Rollläden eingebaut werden. Seit der Eskalation im Gaza-Streifen wurde die Bedrohung noch größer. Der Staatsschutz warnt vor Anschlägen auf jüdische Einrichtungen.

Die Freude an ihrem ersten eigenen Gotteshaus wirkt daher verhalten in der jüdischen Gemeinde in Hannover-Leinhausen. Wird die alte Kirche ein dauerhaftes Zuhause für die liberalen Juden? "Ich denke schon. Aber fragen Sie mich in einem Jahr noch einmal", sagt Ingrid Wettberg, "Vielleicht steht ja auch irgendwann wieder einmal ,Kirche' am Eingang".

Gabor Lengyel, Gemeinderabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover, bereitet die Torarollen für den Eröffnungsgottesdienst vor. Foto: epd

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Streitthema Sterbehilfe

Berlin - Der Deutsche Ethikrat hat sich erstmals mit einer Bewertung von Selbsttötungen befasst. Dabei forderte der Mannheimer Medizinrechtler Jochen Taupitz am Donnerstag in Berlin, ärztlich unterstützte Sterbehilfe zuzulassen. Mediziner seien am besten in der Lage, die psychische Verfassung von Sterbewilligen zu beurteilen. Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger warnte dagegen: "Es wird ein anderer Arzt sein, wenn ihm eine Suizidassistenz in Aussicht gestellt wird." KNA

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Erinnerungen an NS-Zwangsarbeit

München - "Für sie waren wir Untermenschen, nicht interessant. Sie wollten uns nur ausbeuten, nur uns irgendwie ernähren, damit wir arbeiten konnten", erzählt Sinaida Iwanowna B. So wie der Ukrainerin ging es während der NS-Zeit mehr als zwölf Millionen Menschen aus Ost- und Mitteleuropa, die die Nazis als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt hatten. Jahrzehntelang war das Wissen in der Bundesrepublik über dieses dunkle Geschichtskapitel dünn, erst durch die Entschädigung der ehemaligen Sklavenarbeiter nach dem Fall des Eisernen Vorhangs interessierte sich eine breitere Öffentlichkeit für deren Schicksal. Am Donnerstag wurde nun in Berlin als Erinnerungshilfe das Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945" vorgestellt.

Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ), die bis 2006 etwa 4,4 Milliarden Euro an mehr als 1,66 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter ausbezahlt hat, hat das Projekt zusammen mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum initiiert. Entstanden ist die größte internationale Sammlung von Video- und Audio-Interviews mit ehemaligen Sklavenarbeitern. 590 Zeitzeugen aus 26 Ländern erzählen über Jugend, Verfolgung und erzwungene Arbeit in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft oder privaten Haushalten. "Viele Überlebende haben in den nun vorliegenden Interviews erstmals über das Erlittene berichtet", sagte EVZ-Vorstand Günter Saathoff bei der Präsentation. Felix Kolmer, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees lobte, dass in dem Archiv "exemplarisch alle Leidensgeschichten vertreten" seien.

Zugang zum Archiv erhalten Forscher und Interessierte unter www.zwangsarbeit-archiv.de. Robert Probst

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"Vermutlich nie ein Ergebnis"

Ermittler finden im Fall des Passauer Polizeidirektors Mannichl viele widersprüchliche Hinweise und keine Spur

Von Annette Ramelsberger, Max Hägler und Susi Wimmer

München/Passsau - Der Fall des niedergestochenen Passauer Polizeidirektors Alois Mannichl gibt selbst erfahrenen Ermittlern schwere Rätsel auf. Auch fünf Wochen nach der Tat gibt es keine vielversprechende Spur, zu jedem Indiz findet die Polizei ein Gegenindiz, zu jeder Theorie die Gegentheorie. Die Sonderkommission "Fürstenzell" in Passau arbeitet so abgeschottet, die Informationen über den Fortgang der Ermittlungen tröpfeln so spärlich, dass bereits Kritik aufkommt, die Polizei wolle den Fall am Ende gar nicht aufklären. Selbst hohe Polizeibeamte sagen: "Da wird es vermutlich nie ein Ergebnis geben." Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) tritt dem entschieden entgegen. "Wir wollen ein Ergebnis, wir lassen nichts im Ungefähren versickern", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Aber wir können die Aufklärung nicht erzwingen."

Ende nächster Woche will die Polizei nach Informationen der SZ einen Zwischenbericht abgeben. Zumindest sondert sie nun Spuren aus, die sie in die Irre geführt haben. Gestern hat die Polizei endgültig die Fahndung nach zwei tätowierten Verdächtigen abgeblasen, die sie bisher mit Phantombildern bundesweit gesucht hatte. Die Hinweise auf diese Verdächtigen, die eine grüne Schlange hinter dem Ohr und ein Kreuz im Gesicht getragen haben sollen, kamen von einer einzigen Zeugin. Deren Angaben aber stuft die Polizei als nicht belastbar ein. Denn die Zeugin hatte zwar zwei Verdächtige aus der rechtsradikalen Szene an einer Tankstelle "mit hundertprozentiger Sicherheit" erkannt, wie sie der SZ sagte. Aber auf den Videoaufnahmen der Tankstelle waren weder sie noch die Verdächtigen zu sehen. Die Ermittler suchen aber weiterhin nach einem 1,90 Meter großen Mann mit Glatze, den Mannichl als Täter an der Tür erkannt hat. Für Hinweise auf diesen Mann wurde die Belohnung nun sogar auf 20 000 Euro erhöht.

Nach den Ermittlungspannen kurz nach der Tat, als die Polizei den Tatort nur unzureichend absuchte und die Familie von Mannichl erst nach Tagen verhörte, wird der Fall nun um so genauer untersucht. Die Polizei hat den Überfall nach der Beschreibung nachgespielt, die das Opfer Mannichl vom Tatablauf gegeben hat. Zwei Polizisten schlüpften in die Rolle Mannichls und des Täters, der ihn am 13. Dezember an der Haustür niedergestochen haben soll. Auf Video wurde der Kampf aufgenommen, auch die Worte des Täters: "Schöne Grüße vom nationalen Widerstand. Du trampelst nicht mehr auf den Gräbern unserer Kameraden herum." Anhand des Videos will man nun die Plausibilität des Ablaufs überprüfen.

Der neueste Stand ist, dass Mannichl den Mann nicht nur auf der Schwelle gesehen und versucht hat, in Sekundenschnelle das Messer wegzudrücken, das ihm der Mann in den Bauch rammen wollte - so wie die Ermittler bisher den Ablauf schilderten. Nun heißt es, Mannichl sei dem Mann mit dem Messer im Bauch noch nachgerannt, habe gesehen, wie er zur Straße lief und um die Ecke bog. Dann sei Mannichl zu seinem Haus zurückgegangen, auf der Schwelle zusammengebrochen und habe sich das Messer selbst herausgezogen. Bei den Ermittlern geht man jetzt davon aus, dass das Zusammentreffen von Opfer und Täter mindestens eine Minute, wenn nicht länger gedauert haben muss. Bisher war von Sekunden die Rede, was auch erklären sollte, warum das Opfer keine genaue Täterbeschreibung abgeben konnte.

Besonderen genau überprüfen die Polizisten von Landeskriminalamt und Mordkommission München derzeit die Familie, sowie Freunde und Bekannte Mannichls. Das wird nach Informationen der SZ noch bis Ende Februar dauern. "Wir haben bis jetzt nicht den geringsten Anhaltspunkt für Auffälligkeiten innerhalb der Familie", sagt ein hoher Verantwortlicher. Sämtliche Familienangehörigen seien vernommen, ihre Aufenthaltsorte zur Zeit der Tat anhand der Funkzellenanalyse ihrer Mobilfunktelefone überprüft worden.

Vor zwei Wochen wurde ein Gutachten über den Messerstich beim Rechtsmediziner Wolfgang Eisenmenger in München in Auftrag gegeben. Anhand des Stichkanals soll das Geschehen rekonstruiert werden. Als Mannichl im Dezember ins Krankenhaus kam, wurden Bilder von der Verletzung gemacht. Die zwölf Zentimeter lange Klinge des Küchenmessers war so eingedrungen, dass sie kein Organ verletzt hat. Eisenmenger sagt, man könne anhand des ärztlichen Bulletins aus Passau und der Bilder einiges erkennen. "Da ist nichts verloren gegangen." Eisenmenger überprüft auch das Messer, auf dem offenbar noch immer keine Fremdspuren gefunden wurden. Der Pullover Mannichls wurde einer Puppe übergezogen, so dass man anhand der durchtrennten Fasern Richtung und Wucht des Stichs erkennen kann.

Das zunächst festgenommene rechtsradikale Ehepaar aus München, das mehrere Tage in Haft saß, hat sich zur Tatzeit um 17.30 Uhr nicht in der Nähe von Passau aufgehalten. Um 19 Uhr wurde es auf einer NPD-Veranstaltung in Erding kontrolliert. Allerdings kann man bei hohem Tempo in dieser Zeit von Passau nach Erding gelangen. Dagegen spricht die Aussage eines V-Manns, der das Paar schon früher auf der Party gesehen haben will. Und dagegen spricht wiederum, dass spezielle Spürhunde am Wohnort Mannichls angeschlagen haben, als man ihnen Kleider der beiden Verdächtigen zum Schnüffeln gab. "Wir haben ein Dickicht an Hinweisen in jede Richtung", sagt ein Ermittler. "Und wir haben den Weg durch dieses Dickicht noch nicht gefunden. In diesem Fall dürfen wir uns keinen Fehler leisten."

"Wir lassen nichts im Ungefähren versickern"

Bayerns Innenminister Herrmann

"Wir haben ein Dickicht an Hinweisen in jede Richtung"

Ermittler im Fall Mannichl

Passau liegt im Winter ruhig da. Dabei arbeitet die Polizei fieberhaft an der Aufklärung des Falls des Polizeidirektors Alois Mannichl (unten). Nächste Woche wollen die Ermittler Ergebnisse vorlegen. Fotos: oh/ddp

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Schüler kostet 4900 Euro

Wiesbaden - Durchschnittlich 4900 Euro gibt der Staat jährlich für die Ausbildung eines Schülers aus. Die Pro-Kopf-Ausgaben lagen 2006 etwa 200 Euro höher als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Allerdings bedeutet der Anstieg bei den absoluten Kosten nicht, dass der Staat immer mehr Geld in die Bildung investiert: Nach vorläufigen Berechnungen sinkt der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt weiter. An Grundschulen kostet ein Schüler im Schnitt 4100 Euro, an Gymnasien mehr als 5500 Euro und an Förderschulen bis zu 12 800 Euro. AP

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Überfall auf Homosexuelle

Berlin - Ein weiterer brutaler Überfall, bei dem ein schwuler Mann in Berlin lebensgefährlich verletzt wurde, ist von Politikern scharf verurteilt worden. Die Berliner Linke forderte die Polizei auf, rund um den Nollendorfplatz in Schöneberg, wo viele Homosexuelle leben, mehr Präsenz zu zeigen. Hinweise auf die Täter gibt es laut Polizei nicht. Nach Einschätzung des Vereins lesbischer und schwuler Polizisten werden derartige Angriffe immer brutaler. Fünf Männer hatten in der Nacht zu Mittwoch ein schwules Paar überfallen und einen der beiden Männer zusammengeschlagen. dpa

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Wowereits bester Mann ist auf dem Sprung

Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin könnte im April zur Bundesbank wechseln / Spekulationen über Nachfolge

Von Constanze von Bullion

Berlin - Es soll ein Treffen der angenehmen Sorte werden, in einem Barockschloss, das an der Müritz liegt. Die Abgeordneten der Berliner SPD wollen ab Freitag in Fleesensee in Klausur gehen, über neue Berliner Stadtquartiere diskutieren und über die energiesparende Sanierung der Stadt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hat ein Referat über die SPD in den Metropolen angekündigt, aber die größte Aufmerksamkeit wird sich wohl auf einen anderen richten: Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin, der für Unruhe sorgt.

In der Berliner Landesregierung und im Parlament geht man inzwischen davon aus, dass Wowereits wichtigster Mann die Finanzverwaltung bald verlässt und in den Vorstand der Bundesbank wechselt. Sarrazin sagt dazu nur, dass noch nichts entschieden ist, was auch stimmt, oder wahlweise: "Ich bin Finanzsenator und ich bin es gern." Er hat aber schon früher zu verstehen gegeben, dass er den Job in Frankfurt für einen passenden Abschluss seiner Karriere halten würde. Er ist bald 64 Jahre alt, wenn der nächste Berliner Senat gebildet wird, ist er fast 67, nochmal wird er nicht Finanzsenator. Ein gemütlicher Lebensabend in der Datsche aber passt nicht zu dem Mann. Also wird er wohl zupacken. Der Zeitpunkt ist günstig.

Bei der Bundesbank wird im April ein Vorstandsposten frei, turnusgemäß werden Berlin und Brandenburg einen Kandidaten vorschlagen. Wowereit wird die Personalie also mit Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck auskungeln. Der hat bislang keinen besseren Kandidaten, und auch wenn sich in Potsdam niemand an öffentlichen Personalspekulationen beteiligen will: Man wird Sarrazin wohl keinen Stein in den Weg legen. Auch Wowereit wäre schlecht beraten, Sarrazin am Abschied zu hindern, zwei Jahre neben einem missgelaunten Finanzsenator sind wenig verlockend.

Der Regierende Bürgermeister soll Sarrazins Wünsche denn auch wohlwollend aufgenommen haben. Das ändert aber nichts daran, dass er mit ihm die wichtigste Stütze seiner Regierung verlieren würde. Sarrazin hat zwar einen Ruf als rabiater Wadlbeißer, lästert mal über die träge Verwaltung, mal über übergewichtige Hartz-IV-Empfänger und kriegt dafür oft Ärger. Er gilt aber - auch bei der Linken - als Garant der schwierigen Haushaltskonsolidierung und als einer, der Berlins Ruf im Bund aufbessert.

Wer also kommt, wenn Sarrazin geht? Ingeborg Junge-Reyer ist da ins Spiel gebracht worden, die SPD-Bausenatorin. Dass die studierte Germanistin für den Finanzjob das Format hat, wird allerdings auch von Leuten bezweifelt, die ihr gewogen sind. Wenn überhaupt, hätte man im Senat wohl lieber einen jüngeren Finanzexperten, und es gibt Gerüchte, dass Wowereit sich in Hamburg nach einem umgesehen habe, aber "abgeblitzt" sei. Fände sich kein Externer, müsste der Posten mit Berliner Personal besetzt werden, da aber sieht es düster aus.

Wirtschaftsenator Harald Wolf will angeblich Finanzsenator werden, ist aber in der falschen Partei, der Linken. Der will die SPD ein so wichtiges Ressort nicht überlassen, zumal in Krisenzeiten. Innensenator Ehrhart Körting und Schulsenator Jürgen Zöllner gelten als zu alt und zu gut, um wegrotiert zu werden. Der SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Michael Müller, wurde als Sarrazin-Nachfolger gehandelt, winkt aber ab: "Ich will nicht Senator werden." Andere berichten, Müller sehe sich selbst als Wowereit-Nachfolger, falls der in die Bundespolitik gehe. Bleibt Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, der eine jüngere, angesehene Kollegin im Nacken sitzt: Linken-Fraktionschefin Carola Bluhm. Fragt man die, ob sie gern Senatorin wäre, sagt sie: "Eine Fraktionschefin hat viel zu tun, ich mache den Job gern." Das klingt nach einem lauten Ja. Aber so will sie das natürlich nicht gemeint haben.

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Erfolg für Exil-Iraner

EU nimmt Volksmudschaheddin von der Terrorliste

Brüssel - Der jahrelange juristische Kampf der iranischen Volksmudschaheddin (PMOI), von der Terrorliste der Europäischen Union gestrichen zu werden, hat jetzt offenbar Erfolg. Wie die Süddeutsche Zeitung aus dem EU-Ministerrat erfuhr, steht die Exilgruppe nicht mehr auf der regelmäßig von nationalen Sicherheitsexperten aktualisierten Liste, die von den europäischen Außenministern auf ihrer Sitzung am Montag als sogenannter A-Punkt verabschiedet werden soll. A-Punkt bedeutet, dass die Angelegenheit ohne Beratung verabschiedet wird.

Die Terrorliste der EU enthält zur Zeit rund 50 Personen und rund 50 Gruppen, deren Vermögen auf europäischen Konten beschlagnahmt wurde, weil sie terroristischer Aktivitäten verdächtigt werden. Die Volksmudschaheddin kam 2002 auf die Liste. Als militante Oppositionsgruppe hatte sie gegen den Schah und das islamistische Nachfolgeregime gekämpft, aber seit 2001 nach eigenen Angaben der Gewalt abgeschworen.

Mehrere europäische Gerichte, darunter der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, hatten in den vergangenen zwei Jahren mehrmals Urteile zugunsten der Exil-Iraner gefällt. Es gebe keine Beweise dafür, dass sie Terroristen seien, befanden die Richter. Auf die Seite der PMOI hatten sich zuletzt auch viele Parlamentarier, Menschenrechtsgruppen und prominente Juristen gestellt. Sie warfen der EU vor, die PMOI nur aus politischen Motiven zu sanktionieren. cob

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Finanzkrise bringt Islands Regierung ins Wanken

Nach wütenden Protesten der Bevölkerung steht das besonders stark betroffene Land vor Neuwahlen

Von Gunnar Herrmann

Stockholm - Nach monatelangen Bürgerprotesten steht Islands Regierung vor ihrem Ende. Sozialdemokratische Politiker forderten ihre Parteiführung auf, die Koalition mit den Konservativen zu verlassen und den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Damit könnte die Finanzkrise erstmals eine amtierende Regierung zu Fall bringen. Selbst Ministerpräsident Geir Haarde schloss ein vorzeitiges Ende seiner Amtszeit nicht mehr aus. Uneins sind sich die Politiker jedoch über den Zeitpunkt für eine Wahl. Die ersten Sitzungstage des Parlaments nach der Weihnachtspause wurden in dieser Woche von schweren Unruhen begleitet. Tausende Menschen belagerten das Parlament, ein Polizist wurde verletzt.

Haardes konservative Unabhängigkeitspartei regiert seit 2007 gemeinsam mit den Sozialdemokraten. Wahlen stünden eigentlich erst 2011 an. Aber kaum jemand rechnet damit, dass die Regierung durchhält. Die Proteste, die schon drei Monaten dauern, werden immer heftiger. Die Polizei setzte in den vergangenen Tagen Pfefferspray ein und verhaftete Dutzende Demonstranten. Am Mittwoch sollen sich in Reykjavik mehr als 3000 Bürger versammelt haben, das entspricht einem Prozent der Bevölkerung.

Die Demonstranten geben der Regierung eine Mitschuld an der Bankenpleite vom Oktober. Waghalsige Spekulationen im Ausland hatten das Finanzsystem der Insel zusammenbrechen lassen. Mittlerweile mussten viele Unternehmen Konkurs anmelden. Rentner verloren ihr Erspartes, Arbeiter ihre Jobs. Experten erwarten, dass die Erwerbslosenquote bald auf mehr als zehn Prozent steigt. Viele Privathaushalte sind zudem hoch verschuldet.

Die Wut über die Misere richtete sich von Anfang an nicht nur gegen die Banker, sondern auch gegen die Politiker. Premier Haarde wurde am Mittwoch Ziel von Attacken. Demonstranten bewarfen seinen Dienstwagen mit Eiern und Schneebällen. Wenig später trat er vor die Kameras und wies die Forderungen der Menge erneut zurück. Ein sofortiger Regierungswechsel sei unvernünftig, das Land stehe vor wichtigen Entscheidungen. "Die Koalition ist stabil", behauptete er. Er kam den Demonstranten aber etwas entgegen und sagte, er habe nichts gegen Neuwahlen bis Jahresende.

Ob die Regierung sich so lange halten kann, ist zweifelhaft. Ebenfalls am Mittwoch versammelte sich der Ortsverein der Reykjaviker Sozialdemokraten zu einer Sondersitzung. Medienberichten zufolge demonstrierten Hunderte Isländer während des Treffens vor dem Gebäude. Am späten Abend verbreitete sich Partystimmung in der Protestgemeinde. Die Sozialdemokraten der Hauptstadt hatten mehrheitlich für ein Ende der Regierungskoalition und Neuwahlen noch in diesem Frühjahr gestimmt.

Ob der Reykjaviker Ortsverein diesen Wunsch in der Partei durchsetzen kann, war am Donnerstag offen. Eine Entscheidung wurde dadurch erschwert, dass Parteichefin Ingibjorg Solrun Gissladottir in Schweden weilte. Die Außenministerin war kürzlich wegen eines Tumors operiert worden und musste sich in einer Stockholmer Klinik einer Nachbehandlung unterziehen. Zum Wochenende wollte sie wieder in Reykjavik sein.

Ursprünglich hatten die Sozialdemokraten angekündigt, über eine Fortsetzung der Regierungskoalition Ende des Monats zu entscheiden. Dann hält die Unabhängigkeitspartei des Ministerpräsidenten einen Parteitag ab und diskutiert über ihren künftigen Kurs. Die wichtigste Frage ist die Haltung zur EU. Bislang war Islands Bevölkerung sehr europaskeptisch, aber in der Krise sehnen sich nun viele nach der Stabilität der Gemeinschaft. Haarde und seine Partei lehnten einen Beitritt bislang ab. Die Sozialdemokraten befürworten die Mitgliedschaft.

Protest in Reykjavik: Erzürnt über die Finanzkrise fordern die Isländer den Sturz der Regierung von Premierminister Geir Haarde. Foto: Reuters

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Ausgesetzt auf hoher See

Thailands Marine soll Motoren von Flüchtlingsbooten abmontiert haben / Hunderte Birmanen verschollen

Von Oliver Meiler

Singapur - Ein ungeheuerlicher Verdacht lastet auf Thailand. Die Erzählung der Opfer, die überlebt haben und diese Geschichte vor kurzem bekannt machten, hört sich so unmenschlich an, dass der thailändische Armeechef die Vorwürfe zunächst abstritt, noch bevor die Untersuchungen des Falls begonnen hatten.

Im vergangenen Dezember soll die thailändische Marine 992 Flüchtlinge aus Birma auf einer Insel in der Andamanischen See aufgespürt und sie in ihren Schiffen zurück ins Meer gestoßen haben, jedoch ohne Motoren. Diese hatte die Marine angeblich abmontiert. Versorgt wurden die Flüchtlinge nicht, obwohl Trinkwasser und Nahrung an Bord knapp waren. Nur zwei Säcke Reis und zwei Fässer Wasser wurde ihnen mitgegeben. Sie waren der See ausgeliefert.

Die indische Küstenwache rettete 107 der Flüchtlinge kurz vor Weihnachten vor den Andamanen. Ihr Zeugnis war der erste Hinweis auf den Fall. Am 7. Januar strandeten 193 Schiffbrüchige auf einer Insel vor Aceh in Indonesien. Wenige Tage später konnten 150 weitere Flüchtlinge auf der indischen Nikobaren-Insel Tillanchong an Land gehen. Die Hälfte jener 992 Birmanen, die Thailand offenbar ohne Rücksicht auf internationales Recht abschob, gilt noch als verschollen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie tot sind. Alle stammten sie aus Birmas westlichem Arakan-Staat, der neu Rakhaing heißt, genauer: aus dessen nördlicher Grenzregion zu Bangladesch, wo die Rohingyas leben, eine kleine muslimische Minderheit, der rund 750 000 Menschen angehören.

Volk ohne Heimat

Es ist ein heimatloses Volk. Die schlechte Behandlung durch das Militärregime im mehrheitlich buddhistischen Birma, das sie nicht als eigenständige Ethnie betrachtet und schon gar nicht als Ureinwohner des Staates, sondern als illegale Einwanderer aus Bangladesch, treibt viele von ihnen in die Flucht, vorzugsweise in Staaten mit muslimischer Mehrheit: Pakistan, Saudiarabien, Indonesien, Bangladesch. Oder, wie wahrscheinlich in diesem Fall, nach Malaysia.

In Malaysia dürfen Rohingyas arbeiten, wenn sie denn einen Job finden. In ihrer Heimat verbietet man ihnen sogar, sich frei von einem ins andere Dorf zu bewegen. Dafür braucht es eine Bewilligung. Die Rohingyas haben keine Bürgerrechte, weder in Birma noch in Bangladesch. Birmas Militär ging seit der Unabhängigkeit 1948 oft mit brutalen Offensiven gegen seine vielen Minderheiten vor, so auch gegen die Rohingyas. Es zerstörte Siedlungen, brannte Moscheen nieder und vertrieb Hunderttausende. 1992 zum Beispiel, nach der bisher letzten großen Militäroffensive, flüchtete fast ein Drittel der Rohingyas ins Nachbarland. Doch auch in Bangladesch sind sie nicht willkommen. Mehrere internationale Organisationen sind im Norden Arakans tätig, ohne deren Hilfe die Rohingyas kaum überleben könnten. So auch das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), das seit vielen Jahren auf die besondere Not des staatenlosen Volkes hinweist.

Vor einigen Tagen forderte das UNHCR die thailändische Regierung auf, dass sie ihm schnell Zugang gewähre zu einem Camp auf einer thailändischen Insel, in dem 126 Rohingyas vom Militär festgehalten werden sollen. Den Hinweis erhielten die UN von Menschenrechtsgruppen, die Thailand vorwerfen, es gehe systematisch gegen Rohingyas vor, die skrupellosen Abschiebungen seien nicht neu. Als Grund für die Praxis vermuten sie die Sorge Bangkoks, dass es unter den Flüchtlingen solche haben könnte, die sich, wenn man sie passieren ließe, dem Aufstand islamistischer Gruppen im Süden Thailands anschließen würden. In den vergangenen Monaten strandeten laut thailändischer Armee mehr als 4000 Rohingyas an den Küsten des Landes.

Nutzlose Beweise

Thailands neuer Premierminister, Abhisit Vejjajiva, der sein Amt erst seit einigen Wochen innehat, versicherte, er werde dieser Angelegenheit mit aller Konsequenz auf den Grund gehen. Doch dem UNHCR will er vorerst nur einen bedingten Zugang verschaffen zu den 126 mutmaßlich festgehaltenen Flüchtlingen. "Wir wollen schon mit den Vereinten Nationen kooperieren, doch zu unseren Bedingungen", sagte Abhisit, "sie sollten verstehen, dass jedes Land seine Probleme hat mit der Einwanderung". Er habe die Marine gebeten, ihm Fotomaterial zu unterbreiten, das ihren Umgang mit Migranten dokumentiere. Das Material stammt also genau von jener Einheit, die unter Verdacht steht.

Die indische Küstenwache hat mehr als hundert Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet von Birma und Bangladesch aus höchster Seenot gerettet. Überlebende beschuldigen die thailändische Marine, die Boote mit den Flüchtlingen von einer Insel in der Andamanischen See ins Wasser gestoßen zu haben. Thailand will den Fall angeblich untersuchen, zeigt dabei allerdings nur geringes Bemühen. Foto: AFP

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"Er sieht gut aus"

Ein Lebenszeichen von Fidel Castro

Buenos Aires - Kubas vormaliger Staatschef Fidel Castro hat sich nach längerem Schweigen wieder zu Wort gemeldet. Er hat die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner empfangen und Zweifel an der Politik des neuen US-Präsidenten Barack Obama geäußert. Obama habe "edle Absichten", doch es blieben "viele Fragezeichen", schrieb der schwerkranke Politiker in einem Leitartikel in der Parteizeitung Granma. Es sei unklar, wie ein "so verschwenderisches und konsumorientiertes System (wie die USA) die Umwelt schützen kann". Auch verwies der 82 Jahre alte Castro darauf, dass in den vergangenen 50 Jahren "trotz ihrer immensen Macht" zehn US-Präsidenten die kubanische Revolution nicht hätten zerstören können.

Dieser Beitrag war seit mehreren Wochen die erste seiner zuvor regelmäßigen "Reflexionen". Das Lebenszeichen und der Besuch der Argentinierin Fernández sollen Gerüchte über eine weitere Verschlechterung seiner Gesundheit zerstreuen. Zuletzt hatten mehrere Staatsgäste vergeblich auf ein Treffen mit ihm gehofft.

Fernández berichtete nach dem offenbar 40 Minuten langen Gespräch in Havanna, Castro habe gut ausgesehen. Allerdings gab es von dieser Begegnung anders als bei solchen Gelegenheiten sonst üblich bis zuletzt kein Foto. Zuvor hatte Cristina Fernández de Kirchner mit Fidel Castros Bruder und Nachfolger als Staatschef Raúl Castro mehrere Verträge unterzeichnet. pb

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Schwere Rüge für Bern

Regierung hätte Atom-Akten nicht vernichten dürfen

Bern/München - Als eine Art "Bananenrepublik" am Gängelband der USA lässt ein Untersuchungsbericht die Schweiz erscheinen, der am Donnerstag in Bern veröffentlicht worden ist. Es geht um den größten bekannten Schmuggel von Atomtechnologie in Staaten wie Libyen, Iran und Nordkorea. Zu den zentralen Figuren des Skandals gehören der "Vater" der pakistanischen Atombombe, Abdul Qadir Khan, der amerikanische Geheimdienst CIA sowie der Schweizer Geschäftsmann Friedrich Tinner und seine beiden Söhne Urs und Marco. Das für die Kontrolle geheimer Regierungstätigkeiten zuständige Parlamentsgremium in der Schweiz erhebt in dem Bericht schwere Vorwürfe gegen den früheren Schweizer Justizminister Christoph Blocher, die Galionsfigur der konservativen Schweizerischen Volkspartei.

Die Geschäftsprüfungsdelegation kommt zu dem Schluss, es habe keinen zwingenden Grund gegeben, umfangreiche Beweismittel in dem Strafverfahren gegen die Tinner-Brüder zu vernichten. Die Akten enthielten unter anderem Hinweise über illegale Tätigkeiten der CIA in der Schweiz. Der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heißt, hatte im November 2007 auf Anraten Blochers beschlossen, die Dokumente unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vernichten zu lassen. Dies war damit begründet worden, dass die Dokumente auch Baupläne für Atomwaffen enthielten, welche die Schweiz gemäß dem Atomwaffensperrvertrag nicht besitzen dürfe.

Nach Ansicht der Untersuchungskommission kann davon jedoch keine Rede sein. Die Schweiz sei in der Lage gewesen, für eine sichere Aufbewahrung zu sorgen, sagte Kommissionsvorsitzender Claude Janiak in Bern. Die Delegation rügt, die Schweiz hätte selbst die Atomwaffenpläne in dem Strafverfahren nutzen dürfen. Zudem habe es die Möglichkeit gegeben, diese Dokumente auszusondern und nur sie zu vernichten statt das gesamte Beweismaterial. Das Justizministerium habe dafür 16 Monate Zeit gehabt, da es schon Mitte 2006 davon erfahren habe, dass die Akten auch Waffenpläne enthielten. Zudem hätten die als Atomwaffenstaat zum Besitz solcher Pläne berechtigten USA angeboten, diese zu verwahren und für das Strafverfahren zur Verfügung zu stellen. Auch geht aus dem Bericht hervor, dass die Schweizer Behörden gut zwei Jahre lang Kopien der brisanten Pläne bei den Tinners ließen.

Merkwürdigerweise gebe es für manche Gespräche und Vorgänge in dem Zusammenhang keine schriftlichen Unterlagen. Deutlich wird aus dem Parlamentarier-Bericht, dass der USA-Geheimdienst ein erhebliches Interesse an der Aktenvernichtung hatte. Er war im Zuge der Affäre auch in der Schweiz illegal tätig geworden. So hatte die CIA etwa im Jahr 2003 eine regelrechte Hausdurchsuchung bei Tinners durchgeführt. Gegen ein Ermittlungsverfahren über die Operationen der CIA hat die Schweizer Regierung ihr Veto eingelegt. Warum die Regierung in Bern sich per Aktenvernichtung den amerikanischen Wünschen fügte, lässt der Untersuchungsbericht offen.

Durch die von Blocher vorangetrieben Schredderaktion steht infrage, ob die Rolle der Tinner-Brüder im Schmugglerring des pakistanischen Atomwissenschaftlers Abdul Qadir Khan je aufgeklärt werden kann. Das von Khan geführte Netzwerk hatte Libyen eine komplette Bombenfabrik verkauft. Urs Tinner war am Bau von Zentrifugen zur Urananreicherung in Malaysia beteiligt. Gegen ihn und seinen Bruder Marco ermitteln die Schweizer Behörden wegen Verstößen gegen das Güterkontrollgesetz und das Kriegsmaterialgesetz sowie wegen Geldwäsche. Auch wegen der Aktenvernichtung gibt es bis heute keine Anklage. Urs Tinner wurde deshalb nach mehr als vier Jahren Untersuchungshaft vor Weihnachten auf freien Fuß gesetzt, sein Bruder Marco soll nach einem Urteil der Bundesstrafgerichts in Bellinzona trotz Fluchtgefahr und dringendem Tatverdacht ebenfalls freikommen.

Urs Tinner sagte in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme dem Schweizer Fernsehen SF1, er habe erst während seiner Tätigkeit gemerkt, dass er am Bau einer Atomanlage mitgewirkt habe. Daraufhin habe er sich an die CIA gewandt und seine Mitarbeit angeboten. Er habe geholfen, Teile der Bombenfabrik zu sabotieren und beigetragen, dass die Dienste die größte Lieferung an den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi 2003 im italienischen Taranto abfangen konnten. Dies war der schlagende Beweis, damit sich Gaddafi drängen ließ, seine Massenvernichtungswaffen aufzugeben.Gerd Zitzelsberger/Paul-Anton Krüger

Der Schweizer Urs Tinner soll in den weltgrößten Fall von Atomschmuggel verwickelt sein. Foto: dpa

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Kritik an Sarkozy

Paris - In Frankreich hat Europastaatssekretär Bruno Le Maire Deutschland in seiner Kritik am Projekt der Mittelmeerunion beigepflichtet. Zwar habe Präsident Nicolas Sarkozy Recht gehabt, die Beziehungen zu den Mittelmeerstaaten auf eine neue Grundlage zu stellen. "Es war aber gleichzeitig eine Vision, die Europas Einheit als politisches Ganzes in Frage stellte, weil sie einen Teil der europäischen Staaten ausgeschlossen hat." Sarkozy hatte im November 2007 angekündigt, er wolle die Union nur mit Anrainern aus der Taufe heben und nicht mit allen EU-Staaten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte daraufhin gewarnt, das Projekt könne Europa spalten. Deutschland und andere Länder setzten dann durch, dass alle EU-Mitglieder beteiligt werden. AFP

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Jagd auf Schulschwänzer

Paris - Schulschwänzern in Frankreich geht es an den Kragen. Sogenannte Vermittler, 5000 an der Zahl, sollen im Auftrag der Regierung unentschuldigt fehlende Kinder und Jugendliche wieder in die Klassenräume bringen. "Mehr und mehr Schüler sind regelmäßig abwesend. Die berufliche und soziale Eingliederung der Jugendlichen ist bedroht", sagte der französische Bildungsminister Xavier Darcos der Zeitung Le Figaro. Jedes Jahr verließen 150 000 Jugendliche das Schulsystem ohne Abschluss. Die "Vermittler" sollen von März an eine Schnittstelle zwischen Schulen und Eltern bilden. Ausgewählt für den Job werden Mitarbeiter des Schulwesens, die die jeweiligen Stadtteile und Familien gut kennen. In 215 Problem-Vierteln sollen sich die Vermittler zudem um die soziale Integration der Kinder kümmern. dpa

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Annäherung im Irak

Bagdad - Die Bewegung des radikalen irakischen Schiiten-Predigers Muktada al-Sadr will sich mit der schiitischen Dawa-Partei von Ministerpräsident Nuri al-Maliki versöhnen. Baha al-Aradschi, ein Abgeordneter der Sadr-Bewegung, sagte der Tageszeitung Al-Sabah Al-Dschadid: "Eine Delegation der Sadr-Fraktion hat al-Maliki getroffen und mit ihm über die ungerechte Art und Weise gesprochen, wie Angehörige unserer Bewegung von den Behörden behandelt werden." Das Gespräch habe sich unter anderem um die Misshandlung von Gefangenen gedreht. Al-Maliki und die Delegation hätten sich darauf geeinigt, in mehreren Provinzen Komitees einzurichten, die sich mit diesen Fällen befassen sollten. Al-Maliki hatte die Miliz der Sadr-Bewegung, die Mahdi-Armee, zuletzt im März 2008 mit Unterstützung der US-Armee angegriffen. dpa

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Rebellenquartier erobert

Colombo - In Sri Lanka hat die Armee nach eigenen Angaben das Hauptquartier der tamilischen Rebellen im Norden der Insel eingenommen. Das verlassene Versteck im Bezirk Mullaitivu bestehe aus einem Versammlungsraum und einer Kommunikationszentrale, berichtete der britische Sender BBC am Donnerstag. Die Soldaten hätten in den teils unterirdischen Räumen Kartenmaterial mit wichtigen Armeestützpunkten gefunden. Die Rebellen der "Befreiungstiger von Tamil Eelam" (LTTE) seien nun auf ihre einzige verbleibende Bastion im Norden, den Dschungel in Mullaitivu, zurückgedrängt. Die Angaben der Armee lassen sich nicht überprüfen, weil nach wie vor keine unabhängigen Journalisten in das Kampfgebiet reisen dürfen. epd

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Schlag gegen al-Qaida

Islamabad - Die pakistanische Polizei hat im Nordwesten des Landes einen Terrorverdächtigen verhaftet, der in die Londoner Anschläge von 2005 verwickelt sein soll. Bei der Explosion mehrerer Sprengsätze im öffentlichen Nahverkehr wurden damals 52 Menschen getötet. Der Verdächtige, ein saudiarabischer Staatsbürger, soll mit al-Qaida in Verbindung stehen und wurde zusammen mit sechs weiteren Männern bei Peshawar festgenommen, wie Sicherheitsbeamte mitteilten. Der Razzia ging demnach ein Hinweis des US-Geheimdienstes voraus. Die Männer waren von einem unbemannten Flugzeug und drei Hubschraubern beobachtet worden. AP

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Neue Verhaftungswelle

Istanbul - Die türkische Polizei hat am Donnerstag weitere 30 Personen unter dem Verdacht festgenommen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Wie die Nachrichtenagentur Anatolien meldete, sind darunter mehrere aktive Offiziere der Armee, Polizisten sowie ein Gewerkschaftsfunktionär und ein Journalist. Bereits Anfang des Monats hatte es Dutzende Festnahmen gegeben. Die Aktionen dürften das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen der religiös-konservativen Regierung und dem weltlich ausgerichteten Establishment in Armee und Justiz weiter verschlechtern. Reuters

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Strafe wegen Islam-Hetze

Graz - Die rechte österreichische Parlamentsabgeordnete Susanne Winter, 51, ist wegen herabwürdigender Äußerungen gegen den Islam zu drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Sie muss auch eine Strafe von 24 000 Euro zahlen. Das Gericht sprach sie der "Verhetzung und Herabwürdigung religiöser Lehren" für schuldig. Sie hatte im Wahlkampf den Propheten Mohammed als "Kinderschänder" bezeichnet und gefordert, im Stadtpark ein "Tierbordell" einzurichten, "damit sich Grazer Moslems nicht an Mädchen vergreifen". dpa

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Emrichs plötzlicher Rücktritt

Zermürbt von der Liga

München - Vom Handballtrainer Heiner Brand besäße Armin Emrich zumindest gern die öffentliche Akzeptanz. Brand ist Bundestrainer der Männer und der Held seines Teams. Emrich war bis Mittwoch Bundestrainer der Frauen, aber er hatte sich zuletzt als Buhmann gefühlt, deshalb trat er von seinem Amt zurück. "Die aggressive Haltung einiger Bundesliga-Vertreter erinnert stark an Mobbing", sagt dazu Ulrich Strombach, der Präsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB). "Das ist an den Haaren herbeigezogen", entgegnet Kay-Sven Hähner, Vizepräsident der Liga-Vereinigung der Frauen (HBVF). "Es ging uns gar nicht um die Person Armin Emrich. Wenn wir den Bundestrainer wirklich hätten loswerden wollen, hätten wir das auch schneller erreichen können."

Emrich aber fühlte sich diskreditiert. Er hätte sich wehren, mit Rückendeckung des DHB den Kampf gegen seine Kritiker aufnehmen können, aber das wollte er nicht: "Das ist nicht mein Stil." Hähner sagt, er sei überrascht von Emrichs Rücktritt; für den 25. Januar sei ein Meeting verabredet gewesen, auf dem die weitere Zusammenarbeit besprochen werden sollte. Hähner beklagt, dass die Kommunikation zwischen dem DHB und der Liga mangelhaft sei. Auch die jüngsten Platzierungen der Auswahl seien nicht zufriedenstellend gewesen: "Wenn alles gepasst hätte, hätte es ja keinen Grund für einen Rücktritt gegeben."

Emrich wäre gern Bundestrainer geblieben, aber angesichts eines als Machtkampf wahrgenommenen Disputs zwischen der Liga und dem DHB um die Rollenverteilung im Frauen-Handball hat er lieber aufgehört. Nach massiver Kritik aus der Liga sah er keine Basis mehr für eine harmonische Arbeit. Der Honorartrainer wird in seinen in Teilzeit praktizierten Beruf als Sport-Fachleiter zurückkehren. Der DHB muss schnell einen neuen Coach finden. Im März ist der nächste Lehrgang, im Juni müssen sich die Handballerinnen im Playoff gegen Serbien für die WM im November in China qualifizieren.

Die ersten drei Jahre von Emrichs Amtszeit waren ruhig verlaufen. Die Mannschaft wurde bei zwei Europameisterschaften Vierter, dazu WM-Sechster 2005 und WM-Dritter 2007. Erst nach Platz elf bei Olympia in Peking im August und dem vierten Rang bei der EM in Mazedonien im Dezember wuchs die Kritik. Dass der DHB seinen Vertrag bis 2012 verlängern wollte, stieß auf Gegenwehr. Hähner, auch Manager des HC Leipzig, hatte nach Olympia gesagt: "Die Nationalmannschaft spielt einen veralteten Handball, taktische Varianten sind Mangelware, viele Weltklasseteams lachen uns aus - dass der DHB das akzeptiert, ist schockierend." Heute sagt er, er habe damit "einen Diskussionsprozess in Gang setzen wollen".

Doch der persönliche Angriff war für Emrich der Anfang vom Ende. Den vermeintlichen Machtkampf zwischen HBVF und DHB wähnte er auf seinem Rücken ausgetragen. Am Mittwoch hat er seine Spielerinnen informiert. "Ich war überrascht und enttäuscht", sagt die Leverkusenerin Anna Loerper. Doch Emrich war nicht bei allen beliebt. Die für Kopenhagen spielende Maren Baumbach war nach Olympia wegen eines "mangelnden Vertrauensverhältnisses" zu Emrich zurückgetreten. Die Leipzigerin Susann Müller sagte zwei Wochen vor der EM im Dezember ab, weil sie sich müde gefühlt habe, und die für Müller nachnominierte Nürnbergerin Christina Rohde hatte beklagt, sie sei von Emrich während der EM in stetem Einzeltraining isoliert worden und habe sich "wie ein Fremdkörper" gefühlt.

Die HBVF wird ihr Interesse an Mitsprache auch künftig zum Ausdruck bringen. "Wir wollen eingebunden werden", sagt Hähner, "ich kenne keine Sportart, in der nicht mit den Vereinen kommuniziert wird - schließlich bezahlen wir die Spielerinnen." Ulrich Hartmann

Armin Emrich Foto: dpa

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Keine Lust mehr auf Mickymaus-Plätze

Für Tennisprofi Tommy Haas geht es bei seinem Comeback in Melbourne vor allem ums Gefühl, nicht so sehr ums Resultat

Melbourne - Es gibt Tenniscourts, die nennt Tommy Haas "Mickymaus-Plätze". Eng, kleine Tribünen, viel Himmel zu sehen. In Wimbledon gibt es fast nur Mickymaus-Plätze, "deshalb", sagt Haas, "ist das eine Katastrophe für mich". Tradition hin, Tradition her. Die Plätze bei den Australian Open sind ganz anders. Neben der riesigen Rod-Laver-Arena steht in dem Park, in dem das Turnier seit 1988 steigt, ein zweites, Baukran-hohes Stadion, dessen Dach sich auf Knopfdruck schließen lässt. Auch der drittgrößte Sportplatz trägt noch einen klangvollen Namen: Margaret Court Arena. 6000 Menschen finden dort Platz. Immerhin die Hälfte davon sind es gleich daneben, in den beiden kreisrunden Manegen, die als Showcourts zwei und drei ausgeschildert sind und die an Stierkampfarenen erinnern. Wenig Tradition, viel Stimmung - auf die Formel lässt sich der Melbourne Park bringen. Haas gefällt das. "Ich würde gerne immer auf solchen Plätzen spielen", sagt er.

Eher Opfer denn Opponenten

An diesem Samstag ist dem 30-Jährigen ein Erlebnis dieser Art sicher. In der dritten Runde trifft er auf Rafael Nadal. Der Spanier ist aktuell die Nummer eins der Weltrangliste und bei den Australian Open als Nummer eins gesetzt. Haas war im Lostopf. Eine Schulterverletzung hat seinen, vom Computer errechneten Stellenwert wieder einmal auf Position 79 fallen lassen. Aber das ist nur eine Nummer. "Das Ranking interessiert mich nicht mehr so sehr. Das Wichtigste ist, dass ich mich wohl fühle, dass ich das Gefühl habe, ich bin fit. Wenn das so ist, gehe ich da raus und spiele gegen wen auch immer", sagt Haas selbstbewusst. In Runde eins bezwang er den Argentinier Eduardo Schwank 6:3, 6:3, 6:4. Runde zwei endete gegen den italienischen Qualifikanten Flavio Cipolla noch deutlicher: 6:1, 6:2, 6:1. Nach 98 Minuten war die Show schon wieder vorbei. Schwank und Cipolla waren eher Opfer denn Opponenten. Das Match gegen Nadal dürfte für Haas dagegen ein Vorgeschmack auf das werden, was ihm künftig öfter droht. "Ich werde länger nicht gesetzt sein, da können in den ersten Runden immer schwere Brocken kommen", weiß er.

Nadal ist in Melbourne fulminant gestartet. Gleich den ersten Satz gewann er 6:0. Auch danach wurde es für Erstrunden-Gegner Christophe Rochus nicht angenehmer. Gerade einmal vier Spiele gingen an den Belgier, der anschließend bedauerte, nicht Roger Federer gegenüber gestanden zu haben - der ließe wenigstens Ballwechsel zu, wenn er einen bloßstelle. Nadals zweiter Widersacher war an diesem Donnerstag der Kroate Roko Karanusic. 6:2, 6:3, 6:2 in 97 Minuten, anschließend keine einzige Frage zum Match - mehr gibt es von der Partie nicht zu berichten. Am meisten Sorge bereitet den Nadal-Fans zurzeit, dass ihr Idol keine ärmellose T-Shirts mehr trägt. Der martialische Look ist weg. Dass der 22-Jährige seine Muskeln weniger spielen lässt, heißt das allerdings nicht. "Er spielt die wichtigen Punkte extrem gut", sagt Haas: "Dass er Linkshänder ist, macht ihn noch gefährlicher."

Dreimal sind die beiden schon aufeinandergetroffen, dreimal auf Hartplatz, dreimal gewann Nadal. Noch nicht einen Satz hat er an Haas abgegeben, doch einige waren knapp. "Er kann mit Slice spielen, er hat eine gute Rückhand und eine gute Vorhand. Seine Aufschläge sind gut. Er kann alles. Wenn ich gewinnen will, muss ich härter und schneller spielen", sagt Nadal: "Das wird der erste große Gegner hier für mich." Ort und Zeitpunkt der Begegnung erhöhen Haas' Chancen. Von dem blauen Untergrund, der in Melbourne in den Arenen verlegt ist, springen die Bälle nicht so schnell ab wie von anderen Hartplätzen. Und sie nehmen nicht so leicht Drall auf wie auf Sand. "Bei den French Open", sagt Haas über Nadal, "würde ich ihm nicht so gerne gegenüberstehen."

Nichts zu verteidigen

Vielleicht liegt seine große Chance aber in ganz etwas anderem. Nadal hat Platz eins der Weltrangliste lange gejagt. Jetzt will er ihn so schnell nicht wieder hergeben. Das kann zur Last werden. Roger Federer, der den Platz an der Spitze vor Nadal so lange innehatte wie noch keiner zuvor, hat darüber in Melbourne viel erzählt. "Es ist schön, nicht mehr jede Woche etwas verteidigen zu müssen", sagt Federer. Haas hat nichts zu verteidigen. "Ich will das jetzt einfach genießen", sagt er. Ihm geht es eher ums Gefühl als ums Resultat. "Ich habe hier einige gute Matches bestritten, wahrscheinlich die besten meiner Karriere." Das Australian-Open-Achtelfinale im Jahre 2002 gehört dazu: Damals wehrte Haas in der Rod Laver Arena einen Matchball ab und rang in fünf Sätzen Roger Federer nieder. Haas war damals 23, Federer 20. Zwei junge Wilde, über die noch keiner sagen konnte, wer es weiter bringen würde. Vier Jahre später trafen sich die beiden wieder in Melbourne im Achtelfinale. Wieder war es eng, wieder ging es über fünf Sätze, um halb eins in der Nacht hieß der Sieger Federer. Der hatte da schon sechs Grand-Slam-Titel gesammelt. Ein Tennismatch ist manchmal mehr als bloß ein Kräftemessen. Manchmal ist es ein Wegweiser, wo es noch hingehen kann. Nur eines weiß Tommy Haas schon: Auf Mickymaus-Plätze hat er immer weniger Lust. René Hofmann

Schnell noch ein Erinnerungsbild: Für Tommy Haas naht schon wieder der Abschied aus Melbourne - nächster Gegner ist Rafael Nadal. Foto: AP

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"Jeder muss wissen: Es wird weh tun"

Handball-WM: Am deutschen Abwehrchef Oliver Roggisch kommt kein Gegenspieler ungestraft vorbei

Varazdin - Oliver Roggisch wird in jedem Spiel gerammt, gerempelt, gestoßen, geschlagen, geschoben und geschubst, und er findet es wunderbar. "Einen schöneren Beruf kann ich mir nicht vorstellen", sagt er. Auf die Zumutungen antwortet er, indem er rammt, rempelt, stößt, schiebt und schubst, er macht das mit Freude, und manchmal, wenn er mit einem Gegenspieler besonders heftig zusammengerasselt ist, grinst er breit und reicht ihm die Hand. "Ich spiele einfach gerne hart", sagt er, "und ich weiß, dass manche denken: Der Roggisch ist bekloppt." Das denken vor allem Gegenspieler des Abwehrchefs der deutschen Handball-Auswahl, wenn sie zu nahe ans Tor kommen, denn Roggischs Devise ist: "Jeder, der in meinen Bereich kommt, muss wissen: Es wird weh tun."

Handball ist bisweilen ein seltsamer Sport, hart ist er immer, und am härtesten wird er im Mittelblock, wo Menschen wie Roggisch stehen. An der Offensive nimmt er nicht teil; wenn die Mannschaft angreift, eilt er zur Bank und tauscht den Platz auf dem Feld mit Pascal Hens. Nur sehr, sehr selten kommt es vor, dass Roggisch einen Angriff mitläuft, er bewegt sich dann mit der Wucht eines frisierten Traktors, und noch seltener erzielt er ein Tor. Aber Tore sind ihm nicht wichtig. Was ist schon ein Tor gegen das Gefühl, einen Gegenspieler 60 Minuten so in die Mangel zu nehmen, dass er anschließend den Tag seiner Jugend verflucht, an dem er sich dachte: Handball könnte ganz nett sein, das fang ich mal an.

Vorbild Torgowanow

Roggisch war nicht immer ein reiner Abwehrspieler, zunächst spielte er auch im Angriff am Kreis, und er erzielte reichlich Tore. 1998 hat er in Schutterwald angefangen, dann ging er nach Göppingen, von dort wechselte er 2002 nach Essen. Dort spielte damals Roggischs Vorbild, der russische Kreisläufer Dimitri Torgowanow. "Da war klar, dass ich nicht mehr viele Spielanteile in der Offensive bekomme. Aber ich habe von ihm so viel in der Abwehr gelernt, dass ich all das erreichen konnte", sagt Roggisch. All das - damit meint er, dass er eine Stütze der Nationalmannschaft ist, 2007 Weltmeister wurde und als Größe der Bundesliga zählt, wo er mittlerweile bei den Rhein-Neckar-Löwen unter Vertrag steht.

Der Preis des Erfolgs ist nicht eben gering. Wer so Handball spielt wie Roggisch - ihn also als Kampfsport versteht -, der ist davon irgendwann gezeichnet. Roggisch ist jetzt 30 Jahre alt und mehr als zehn Mal operiert worden, am Meniskus, am Schienbein, an den Bändern, und immer so weiter. Drei Finger hat er sich ausgekugelt, das oberste Gelenk des rechten kleinen Fingers lässt sich in alle Richtungen bewegen, vier Strecksehnenrisse zählt er bisher. "Aber meine Daumen sind völlig intakt", sagt er, "da bin ich sehr stolz drauf." Dafür ist die Nase dreimal gebrochen, was dazu führt, dass Roggisch durch ein Nasenloch keine Luft bekommt. Er hat sich deshalb angewöhnt, durch den Mund zu atmen. Da man kaum gleichzeitig essen und atmen kann, holt er nach einem größeren Bissen Luft wie ein Fisch an Land, wozu Mitspieler Michael Müller sagt: "Er klingt dann wie ein 80-jähriger Asthmatiker."

Durch seine Spielweise ist Roggisch in den Fokus der Schiedsrichter geraten. Eine Zeitlang war er der Zeitstrafenkönig der Liga, aber das hat sich gebessert. Er vermeidet jetzt, was er "unnötige Strafen" nennt. "Wenn man schon zwei Minuten bekommt, dann muss es sich wenigstens gelohnt haben", findet Roggisch, "der Gegner muss dann denken: Oh, da komme ich heute nicht durch." Unnötig sind seiner Ansicht nach zum Beispiel zwei Minuten fürs Trikotziehen. "Das sind zwei Minuten, die kein Mensch braucht", erklärt er. Zudem sehen die Schiedsrichter mittlerweile, dass Roggisch hart spielt, aber nie unfair. "Wenn es früher irgendwo gekracht hat und ich war in der Nähe, dann dachten die Schiris: Na, das wird er schon gewesen sein. Das ist jetzt weniger so", sagt er.

Beim 33:22 in der Partie gegen Mazedonien, mit dem die deutsche Auswahl das Erreichen der WM-Hauptrunde sicherstellte, hat er doch mal wieder drei Zeitstrafen kassiert, was die rote Karte bedeutete, aber diesmal tatsächlich zu Unrecht. Einmal wurde er gar bestraft, als er geschubst wurde, und das waren dann zwei Minuten, die sich wirklich kein bisschen gelohnt hatten. Er hat es mit Humor genommen und später mit Kiril Lazarov gescherzt, der ebenfalls die rote Karte gesehen hatte. Das verbindet.

Vor jedem Spiel macht sich Roggisch heiß, indem er ruft und brüllt und sich von Torwart Johannes Bitter viermal mit voller Wucht auf die Brust schlagen lässt. Später dann, wenn das Spiel läuft, spürt er keine Schmerzen mehr, "da bin ich voller Adrenalin", sagt er. Einmal hat er sich während eines Spiels einen ausgekugelten Finger wieder eingerenkt und weitergespielt. Das alles erzählt Oliver Roggisch mit einem feinen Lächeln, es ist, als rede er über eine andere Person, diesen freundlichen Irren, der diesen seltsamen Sport ausübt, denn privat, sagt Roggisch, sei er selbstverständlich die Sanftheit in Person. Christian Zaschke

Rammen, rempeln, schlagen, schieben und schubsen: Oliver Roggisch (links) in seinem Element Foto: nordphoto

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Offene Gegenwehr

Von Christian Zaschke

Alle zwei Jahre ist die Handball-WM die große Bühne für Hassan Moustafa, den Präsidenten des Weltverbandes IHF. Der Ägypter hält dann feierliche Reden, in denen er die Handball-Familie beschwört, er thront in den Hallen, und stets trägt er ein Lächeln im Gesicht, das so echt wirkt wie eine Rolex für 20 Euro. In Kroatien beschied er in seiner Eröffnungsrede vor einigen Tagen, dies werde die beste WM aller Zeiten. Moustafa ist nicht plötzlich Hellseher geworden, er muss gute Laune verbreiten, denn allmählich spürt er, der sich so lange als Alleinherrscher des Welthandballs gerierte, offene Gegenwehr. Dass der Generalsekretär des Verbandes, Peter Mühlematter, den Rücktritt Moustafas gefordert hat, ist eine Sensation; trotz Skandalen in Masse ist Mühlematter der erste IHF-Mann, der öffentlich gegen den Präsidenten auftritt. Moustafa regiert, indem er gibt und nimmt, indem er Angst verbreitet und Zuneigung gewährt, und seit dem Jahr 2000 hat er so ein System geschaffen, das seine Macht sichert.

In Moustafas Ägide wurden offensichtlich Spiele manipuliert (er selbst hatte für die Ansetzung der entsprechenden Schiedsrichter gesorgt, wie der Sportgerichtshof Cas bestätigte), die Anti-Doping-Regeln interessieren ihn laut des vormaligen Chefs der Medizinkommission nicht, Spesen rechnet er ohne Belege ab, weil er es als unnötig empfindet, solche vorzulegen - und der Verband bestätigt ihm, dass sei schon okay so. Wie weit Moustafa mittlerweile allem Irdischen enthoben ist, hat sich noch nie besser gezeigt, als jetzt in Kroatien: Der Präsident lässt sich laut Aussage eines IHF-Delegierten bisweilen per Hubschrauber zu den Spielorten fliegen, weil er das als standesgemäß empfindet.

Die spannende Frage ist, ob Mühlematters Vorstoß Aussicht auf Erfolg hat. Im Juni stellt sich Moustafa - nach jetzigem Stand in seinem Heimatland Ägypten - zur Wiederwahl. Zwar wird der Handball von den Europäern dominiert, wählen dürfen jedoch alle Mitgliedsverbände der IHF mit je einer Stimme - die Stimme des deutschen Verbandes mit mehr als 800 000 Mitgliedern zählt also ebenso viel wie die von Benin. Über die kleinen Verbände sichert Moustafa seine Mehrheit, seit einiger Zeit schon ist er wieder als lächelnder Wahlkämpfer unterwegs. Das klappte in der Vergangenheit auch deshalb so gut, weil die Europäer ihn gewähren ließen. Mühlematter ist der erste, der das Schweigen gebrochen hat. Es wäre nun an den Funktionären der großen europäischen Verbände, es ihm gleichzutun.

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Erste Überraschung in Melbourne

Aus für Venus Williams

Melbourne (sid) - Die Australian Open in Melbourne haben ihre erste große Überraschung: Die an Position sechs gesetzte siebenmalige Grand-Slam-Siegerin Venus Williams (USA) verlor gegen die Spanierin Carla Suarez Navarro 6:2, 3:6, 5:7 und schied bereits in der zweiten Runde aus. Venus Williams zeigte sich trotz der Enttäuschung sehr gefasst. "Das ist eben das Schöne am Tennis, es kann immer alles passieren", sagte die 28-Jährige: "Carla hat gut gespielt. Das habe ich nicht anders erwartet."

Mit der Niederlage setzt sich die Negativserie der Amerikanerin beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres fort. Ihr bestes Ergebnis datiert aus dem Jahre 2001, als sie das Halbfinale erreichte. 2006 schied sie sogar in der ersten Runde aus. "Das ist nicht lustig, aber das soll auch keine Ausrede sein", kommentierte Williams ihr erneut schlechtes Abschneiden in Australien. Derweil war die 20 Jahre alte Suarez Navarro, die in diesem Jahr erstmals bei den Australian Open mitmacht, fassungslos: "Ich weiß gar nicht, was ich gemacht habe. Ich hab einfach gespielt. Was soll ich sonst sagen?"

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Generalsekretär kontra Präsident

Moustafa soll gehen

Varazdin (SZ) - Im Internationalen Handball-Verband (IHF) wird der Konflikt zwischen Präsident Hassan Moustafa und Generalsekretär Peter Mühlematter immer heftiger. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung forderte der Schweizer nun sogar den Rücktritt des IHF-Chefs aus Ägypten. "Für den Handball ist eine solche Leitung gar nicht gut. Er müsste sein Amt niederlegen", wird Mühlematter zitiert, der bei der Männer-WM im deutschen Gruppenspielort Varazdin eingesetzt ist.

Moustafa führt den Handball-Weltverband seit dem Jahr 2000, und zwar sehr autoritär, wie Mühlematter beklagt, einer der wenigen Handball-Funktionäre, der seinen Unmut öffentlich äußert. Widerspruch dulde Moustafa jedenfalls nicht, mit Kritik könne er nicht umgehen. Jüngster Anlass für Mühlematters Äußerungen ist offenbar der Ausschluss des Kontinental-Verbandes Ozeanien durch den IHF-Rat im vorigen Oktober - eine Aktion, die nach Meinung des Generalsekretärs nicht den Statuten entspricht; denen zufolge könne ein solcher Ausschluss nur vom IHF-Kongress beschlossen werden. Mühlematter vermutet hinter der Aktion eine Intrige Moustafas, weil Ozeaniens Präsident, der Neuseeländer Vernon Winitana, "immer wieder auf Schwierigkeiten aufmerksam gemacht hat, die wir intern haben".

Hassan Moustafa ist wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei Spesenabrechnungen verbandsintern bereits ins Gerede gekommen. Wegen seiner Ablehnung, die Bestimmungen der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) umzusetzen, hat sich unlängst die Anti-Doping-Einheit der IHF aufgelöst. Wegen des krassen Verstoßes gegen die Wada-Regeln könnte der IHF im schlimmsten Fall sogar der Ausschluss aus dem olympischen Programm drohen. Die Funktionäre des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) sind bereits seit vorigem Jahr alarmiert, was die IHF angeht: Damals musste die Olympia-Qualifikation Asiens wegen offensichtlicher Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern wiederholt werden. Imagefördernd für den Handballsport sind solche Affären in der Tat nicht.

Hassan Moustafa Foto: Getty

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Horrorsturz am Hahnenkamm

In diesen Momenten weicht im Skirennsport Glamour und Trubel betretener Stille, und in den Medienzentren ist nur noch banges Harren auf Nachrichten aus der Intensivstation. Am Donnerstag im zweiten Training für die Hahnenkamm-Abfahrt holte der Horror wieder mal den alpinen Weltcup ein: Der Schweizer Kombinationsweltmeister Daniel Albrecht, 25, fährt über den Zielsprung (die Radarmessung davor ergab 138,1 km/h), gerät in Rücklage, die Skispitzen steigen, der Fahrtwind greift unter den Ski an, es entsteht ein Strömungseffekt wie unter einer Tragfläche: Das ganze System - das in diesem Fall Daniel Albrecht heißt - wird angehoben, Albrecht bekommt einen furchteinflößend hohen Luftstand, gerät in Rückwärtsrotation. Albrecht rudert mit den Armen, machtlos. Als es ihn in die Waagrechte gedreht hat, endet die ballistische Kurve, kracht er nach 70-Meter-Flug auf die Piste (Photo: dpa), erst mit dem Rücken, dann mit dem Hinterkopf. Er bleibt ohnmächtig liegen wie vor einem Jahr an gleicher Stelle Scott Macartney. Der Amerikaner konnte nach vier Tagen aus der Klinik entlassen werden.

Albrecht wurde im Zielraum erstversorgt und nach 22 Minuten mit dem Helikopter ins Spital von St. Johann geflogen. Dort erlangte er eine Stunde nach dem Sturz wieder das Bewusstsein, wurde anschließend in ein künstliches Koma verletzt. Die erste Diagnose von Rennarzt Helmuth Obermoser lautet auf Schädel-Hirntrauma mit Gehirnblutung und Lungenquetschung, Brüche habe Albrecht nicht davongetragen. Albrecht wurde zu eingehenden Untersuchungen in die Innsbrucker Uniklinik ausgeflogen. Tags zuvor, nach dem ersten Training, hatte Albrecht verkündet, er habe "die perfekte Linie" gefunden. Sein Teamkollege Didier Cuche, der Trainingszweiter hinter Bode Miller wurde, sagte: "Ich wusste, dass er frech fahren wird." Um 12.14 Uhr wurde das Training fortgesetzt mit Startnummer 6, Hermann Maier. gä

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Sagnol als Manager nach Monaco

Baumjohann zu Bayern

München - Nach der erwartbaren Personalie Lukas Podolski, der also im Sommer endlich wieder nach Köln ziehen darf, hat der FC Bayern weitere Routineentscheidungen zu vermelden. So sind sich die Münchner jetzt einig geworden mit dem Mönchengladbacher Mittelfeldspieler Alexander Baumjohann, der seit Dezember als Zugang gehandelt wurde. "Er hat noch nicht unterschrieben, aber er hat uns mitgeteilt, dass er sich für den FC Bayern entschieden hat", sagte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge der SZ. Baumjohann, der an diesem Freitag seinen 22. Geburtstag feiert, stand in der Hinrunde sechs Mal in der Startelf der Borussia, er wechselt ablösefrei.

Endgültig Klarheit besteht nun auch im Falle Willy Sagnols: Der französische Rechtsverteidiger, seit Sommer 2000 im Verein, beendet seine Karriere und wird offenbar bereits zur kommenden Saison Manager des Erstligisten AS Monaco - von den Monegassen war er vor gut acht Jahren nach München gewechselt. "Ich habe Willy am Mittwoch getroffen, und er sagt: ,Es hat keinen Sinn mehr.' Denn egal, wie und was er trainiert, der Willy hat leider Schmerzen an seiner Achillessehne", sagte Rummenigge, "deshalb müssen wir nun alle Verständnis haben, wenn ein Spieler uns sagt: ,Ich höre auf.'" Sagnols Verbleib im Metier begrüßt Rummenigge, "Willy hat die Fähigkeiten dafür". Nach der Auflösung seines bis 2010 gültigen Vertrages, die in diesen Tagen vorgenommen wird, will sich Sagnol auf einer Pressekonferenz verabschieden und in die Heimat zurückkehren. Sagnol, der in der Nähe von Monaco ein Haus besitzt, spielte 184 Mal für Bayern in der Bundesliga (und dreimal in der Regionalliga); in der französischen Équipe Tricolore kam der WM-Teilnehmer von 2006 auf 56 Einsätze. Für die Nationalelf stand er auch zuletzt auf dem Rasen, beim 1:4 im Juni im EM-Viertelfinale gegen die Niederlande.

Somit werden sich die Bayern wohl zum Sommer nach einem neuen Mann für ihre rechte Abwehrseite umschauen müssen. Denn dort gilt Christian Lell, 24, eher als Ergänzungsspieler, und der vom AC Mailand bis Saisonende ausgeliehene Italiener Massimo Oddo, 32, drängte sich bisher für ein anschließendes Kaufgeschäft nicht auf. "Wir müssen uns da bis zum 31. März entscheiden, wie es weiter geht", sagt Rummenigge, "bis Mitte März werden wir Klarheit bei Massimo haben." Weitaus schneller vollzieht sich der Abschied des argentinischen Nationalspielers José Ernesto Sosa: Bei dem Mittelfeldspieler kommt nun offenbar das angestrebte Ausleihgeschäft zustande: Der italienische Erstligist, momentan Tabellenachter in der Serie A, hat Interesse an einem Engagement des 23-Jährigen, der 2007 für eine Ablöse von rund zehn Millionen Euro kam. abur/nee

Alexander Baumjohann Foto: Getty

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Biathlon-Sprint in Antholz

Wilhelm Dritte

Antholz (dpa) - Die deutsche Siegesserie ist gerissen, doch Kati Wilhelm hat mit ihrem dritten Platz in Antholz an ihre hervorragenden Leistungen in diesem Jahr angeknüpft. "Das ist eine gute Ausgangsposition für den Verfolger am Samstag", sagte die Thüringerin. Im Ziel des Sprints lag sie 20,7 Sekunden hinter Tora Berger. Die Norwegerin war die sechste Gewinnerin im sechsten Sprint des Winters. Mit Platz zwei und nur 8,1 Sekunden Rückstand schaffte die Weißrussin Darya Domratschewa das beste Weltcup-Ergebnis ihrer Laufbahn. Die Weltcupführende Swetlana Sleptsowa (Russland) war wegen einer fiebrigen Erkältung kurzfristig nicht angetreten.

Lange in Führung war Magdalena Neuner gelegen, die in Antholz 2007 drei WM-Titel geholt hatte. Stehend verfehlte sie dann aber drei Scheiben, insgesamt vier Strafrunden waren zu viel. "Da hilft dir auch die schnellste Laufzeit nicht weiter." Sie habe ein paar Probleme mit der Höhe von 1600 Meter am Antholzer See gehabt. Mit ihrem 15. Platz und 55 Sekunden Rückstand war Neuner diesmal nur viertbeste Deutsche hinter Wilhelm, Martina Beck (Mittenwald/10.) und Andrea Henkel (Großbreitenbach/12.).

Die Thüringerin hatte drei Nächte im 500 Meter tiefer gelegenen Niederrasen verbracht, weil sie Probleme mit der Höhe bekommen hatte. "Inzwischen fühle ich mich aber wieder wohl", sagte Henkel. Kathrin Hitzer (Gosheim) wurde 16., die Oberhoferin Juliane Döll bei ihrem ersten Weltcup-Einsatz 19. "Bis zu 'Jule' liegen sie alle weniger als eine Minute zurück. Das lässt für Samstag hoffen", sagte Bundestrainer Uwe Müssiggang. Der Weltcup im Antholzer Tal wird am Freitag (14.15 Uhr, ZDF und Eurosport) mit dem Sprint der Männer fortgesetzt.

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Super-G und Abfahrt abgesagt

Nebel in Cortina

Cortina (dpa) - Schlechte Witterung hat das Abfahrtstraining der alpinen Ski-Rennläuferinnen in Cortina d'Ampezzo verhindert und den Rennplan stark durcheinandergebracht. Am Dienstag und Mittwoch war bereits das Super-G-Training wegen Schneefalls ausgefallen, weshalb das Rennen am nächsten Tag nicht gestartet werden konnte. Wegen Nebels am Donnerstag wurde dann auch das Abfahrtsprogramm zumindest verschoben. Die schlechte Sicht machte Trainingsfahrten zu gefährlich, sie sollen am heutigen Freitag nachgeholt werden. Der Start des Abfahrtstrennens ist nun für Samstag geplant.

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Großes Kino

Mit einer hinreißenden Kür gewinnen Savchenko/Szolkowy ihren dritten EM-Titel - Trainer Ingo Steuer treibt sie weiter vorwärts

Helsinki/München (sid/dpa/SZ) - Es war einer jener perfekten Momente, die den Eiskunstlauf so faszinierend machen. Alles harmonierte: die Musik, der künstlerische Ausdruck, der sportliche Vortrag. Im Mittelteil der Kür von Aljona Savchenko und Robin Szolkowy hielten 6000 Zuschauer den Atem an. Kein Radioreporter, kein TV-Kommentator gab gefühlte zwanzig Sekunden lang einen Laut von sich. Nur das Kratzen von vier Schlittschuhen war zu hören in der gigantischen Hartwall-Areena. "Mir lief ein Schauer über den Rücken", sagte Savchenko zu später Stunde, immer noch bewegt. Ihr eher nüchterner Partner Robin Szolkowy nahm die außergewöhnliche Szene mit Humor: "Ich dachte: Entweder sind die Zuschauer eingeschlafen oder sie genießen es."

"Olympia im Blick"

Gebannt wie im Kino hatten sie ihn genossen, den Lauf der alten und neuen Europameister im Paarlauf. Die Menschen in der Halle erhoben sich hinterher ergriffen von ihren Sitzen. Und sogar der Mann, der hinter dem Erfolg der beiden steckt, war diesmal zufrieden. "Ich bin sehr stolz auf die Zwei", sagte Ingo Steuer, ihr manisch ehrgeiziger Trainer. Während der Kür hatte er aus lauter Begeisterung immer wieder seine rechte Faust gen Hallendach gestoßen.

Ihr EM-Titel Nummer drei war alles andere als Routine für die amtierenden Weltmeister und deren Coach. Schon wegen der gewagtem Wahl der Kür-Musik: der Soundtrack von John Williams aus dem Film "Schindlers Liste". Vom Pathos zur Peinlichkeit ist es nur ein kleiner Schritt, zumal bei dem heiklen Thema des Films, zumal bei dieser gedämpften Musik. Im Kontrast dazu kann jede falsche Geste, jeder Fehler im Lauf verheerend wirken. Doch bei allen Schwächen, die Steuer haben mag: Er ist stilsicher, wenn es gilt, Lauf und Musik zusammenzuführen. Sein Paar setzte die Vorgaben perfekt um. Auch das empfand der Trainer als außergewöhnlich, nachdem er sich zuvor über die Arbeitsauffassung von Robin Szolkowy beklagt hatte.

"Das war die beste Kür dieses Winters, da war Spannung drin, da war Dramatik drin", redete sich der Coach geradezu in Rage. Steuer lobte das "Kämpferherz" von Robin Szolkowy, nachdem ihn dieser am Abend zuvor noch mit einem verpatzten Toeloop geärgert hatte. "Robin muss manchmal immer noch lernen, was es heißt, sich total auf ein Ziel zu konzentrieren", hatte der Coach den 29-Jährigen nach dessen Patzer in der Kurzkür kritisiert. Diesmal fand Steuer: "Der Biss war da." Dennoch kündigte er eine Aussprache zu Hause in Chemnitz an. "Wir haben die Auswertung der Leistung dann Schwarz auf Weiß, da kann keiner lügen", erklärte Steuer, "und dann werden wir uns zielstrebig auf die Olympischen Spiele in Vancouver vorbereiten."

Zwar steht noch die WM im März in Los Angeles mit der starken chinesischen Konkurrenz auf dem Programm, doch wenn die Sachsen ebenso gut laufen wie in der finnischen Hauptstadt, müssen sie niemanden fürchten. So deklassierten sie mit 199,07 Zählern die Russen Yuko Kawaguchi/Alexander Smirnow (182,77) und Maria Muchortowa/Maxim Trankow (182,07), die zuvor in Führung gelegen hatten. "Wir müssen in den nächsten Wochen noch eine Kohle drauflegen", findet aber Steuer, der sein Paradepaar in jedem Winter zu immer neuen, schwierigeren Elementen treibt. So überraschte das Duo nach dem verlorenen Grand-Prix-Finale mit einer Umstellung in der Kür, in der die Höchstschwierigkeit Dreifach-Wurfsalchow als Höhepunkt nun erst am Ende kommt. "Das ist gut, so bleibe ich bis zum Ende konzentriert", sagte Savchenko. Manch anderem Duo geht nach vier Minuten die Luft aus, die austrainierten Sachsen könnten noch eine Weile weiterlaufen.

Ein fragiler Dreier-Bund

Deshalb wollte Szolkowy auch nicht ansatzweise Ingo Steuers Kritik an seiner angeblich zu laschen Trainingseinstellung gelten lassen. "Ich wüsste nicht, was ich noch tun sollte für den Sport", meinte der Sohn eines tansanischen Arztes mit dem sächsischen Slang, "es war doch nur ein Toeloop, der daneben ging." Der Vorwurf, er würde sich nicht zu hundert Prozent auf den Eiskunstlauf konzentrieren und stattdessen lieber die Freizeit mit seinen Freunden genießen, wies er weit von sich: "Wenn ich das machen würde, könnte ich nicht einmal zehn Prozent von dem bringen, was wir hier gezeigt haben." Der stets ruhige 29-Jährige ist der Gegenpol zur energiegeladenen Savchenko sowie dem fordernden Coach und gleicht viele Meinungsverschiedenheit aus. "So lange wir erfolgreich bleiben, gehe ich gern durch diese Täler", sagte Szolkowy.

Ein sehr fragiler Dreier-Bund scheint da in Chemnitz am Werk zu sein. Täglich werden auch weiterhin in der Trainingsarbeit Kompromisse zwischen den Ehrgeizlingen Ingo Steuer und Aljona Savchenko auf der einen und dem eher unaufgeregten Robin Szolkowy auf der anderen Seite nötig sein, damit es auf dem Weg zum olympischen Paarlauf-Gold 2010 in Vancouver keine Fehltritte gibt.

"Da war Spannung drin, da war Dramatik drin": Ingo Steuer über die Kür von Aljona Savchenko und Robin Szolkowy Foto: AP

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Dopingaffäre um Trainer Goldmann

Harting fordert Deal

Berlin (dpa) - Robert Harting, der WM-Zweite im Diskuswurf, hat sich erneut in drastischen Worten für seinen Doping-belasteten Trainer Werner Goldmann stark gemacht. "Es gibt genug Gründe, einen Deal zu finden", sagte der 24-Jährige am Mittwochabend beim Neujahrsempfang der Berliner Leichtathleten. "Das Thema muss vom Tisch, die Zeit drängt." Es gehe nicht an, dass der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) die alten Trainer quasi erpresse zu sagen, da habe ich mitgemacht, es dabei aber nicht bewenden lasse. "Man kann dann nicht immer noch weiter machen und ständig neue Sachen wissen wollen. Da muss ein klarer Deal her", sagte Harting auch mit Blick auf die WM 2009 in Berlin.

Der DLV hatte Goldmann, der Bundestrainer für Wurfdisziplinen gewesen war, keinen neuen Arbeitsvertrag vom 1. Januar an gegeben. Ein Grund dafür war, dass vor den Olympischen Spielen in Peking der ehemalige Kugelstoßer Gerd Jacobs behauptet hatte, Goldmann habe ihm in den achtziger Jahren Anabolika verabreicht. Der Trainer, der 1988 den Kugelstoßer Ulf Timmermann zu Olympia-Gold führte, bestreitet das. Jacobs ist ein offiziell anerkanntes Dopingopfer, sein Herz war vom Dopen so geschädigt, dass er es vor sechs Jahren durch ein neues ersetzen lassen musste.

Harting klagte, der Fall Goldmann belaste sein Training. Er sei "eher leistungsvernichtend als fördernd". Harting findet: "Die Trainingsgruppe heute muss wichtiger sein als das, was früher war." Er hoffe immer noch, dass der DLV Interesse an den Athleten zeige und für "diplomatische Wege" gewonnen werden kann. Zuvor hatte sich Harting mit 18 anderen Athleten in einem offenen Brief für Goldmann eingesetzt, der zu seinen Verstrickungen ins Dopingsystem der DDR schweigt und auf Wiedereinstellung klagt. DLV-Präsident Clemens Prokop hatte Passagen des Briefes als "nicht akzeptabel" kritisiert: "Auf solch eine Art und Weise, wie hier geschehen, kann man sich nicht mit dem Schicksal eines anerkannten DDR-Dopingopfers auseinandersetzen." Harting erwiderte: "Ich frage mich auch, warum uns Athleten jetzt ein Clemens Prokop so gegen die Karre fährt. Ich schäme mich dafür. Ich schäme mich für den Verband." In der Fachzeitschrift Leichtathletik hat Prokop ("Zu der Kritik sage ich nichts. Sie kommentiert sich von selbst") mittlerweile angekündigt, sich mit Harting und den anderen Athleten treffen zu wollen.

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Abschied von der Tour Down Under

Greipels Unfall

Adelaide (dpa) - Vorjahressieger André Greipel hat die Tour Down Under nach einem schweren Sturz beenden müssen. Der Rostocker Radprofi kollidierte am Donnerstag an einer unübersichtlichen Stelle der Strecke mit einem Polizeimotorrad und musste mit ausgekugelter Schulter sowie Verletzungen an Armen und Beinen ins Krankenhaus gebracht werden. Dem Fahrer vom Team Columbia droht eine Pause von bis zu drei Monaten. "Die Situation war sehr unglücklich", sagte Columbia-Sportdirektor Allan Peiper, "das Rennen war sehr schnell, André konnte den Vorderteil des Feldes nicht sehen und ist als Erster in das Motorrad gekracht." Den Tagessieg nach 136 Kilometern holte Lokalmatador Graeme Brown im Zielsprint. Er setzte sich auf der Etappe in der Nähe von Adelaide vor Quick-Step-Fahrer Davis und dem dritten Australier, Stuart O'Grady vom Team Saxo Bank, durch.

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Präsenz dringend erwünscht

Alpindirektor Wolfgang Maier sichtet sein WM-Team für Val d'Isère - nach stark aufgeweichten Kriterien

Kitzbühel - Andreas Strodl, 21, hatte im ersten Abfahrtstraining von Kitzbühel "eine Schaun-wir-mal-Fahrt" absolviert. Er ist Debütant auf der Streif, genauso wie sein fünf Jahre älterer Bruder Peter. Für Stephan Keppler aus Ebingen ergab die Radarmessung die Höchstgeschwindigkeit an diesem Tag mit 137,1 Stundenkilometern, und er sagte: "Immerhin irgendwo mal Nummer eins." Es ist keine übertrieben kühne Prognose, dass die deutschen Skirennfahrer die Speedrennen auf dem Hahnenkamm nicht prägen werden, auch wenn sie dringend Resultate bräuchten zur Erfüllung der Nominierungskriterien für die WM in Val d'Isère. Müssen die in Kitzbühel für die Qualifizierung Kopf und Kragen riskieren? Eben nicht - "im Gegenteil", erklärt Alpindirektor Wolfgang Maier, "ich möchte auf keinen Fall, dass einer von ihnen sich in Kitzbühel zerlegt. Die Strodls werden wahrscheinlich sowieso nur den Super-G fahren, in der Abfahrt soll alleine Keppler antreten."

Es ist im deutschen Sport ziemlich ehern festgeschrieben, dass, wer für ein globales Championat gemeldet werden will, dafür auf höchster Ebene ein Resultat unter den besten Acht oder zwei unter den Top 16 vorweisen muss. Nach diesen Kriterien fänden bei der Alpin-WM einige Wettbewerbe der Männer ohne Deutsche statt - alle, für die Torläufer Felix Neureuther nicht in Frage kommt. Maier hat sich aber mit Thomas Pfüller, dem Generalsekretär des Deutschen Skiverbandes, auf eine andere Vorgehensweise verständigt: "Wir möchten in Val d'Isère auf jeden Fall mit jemandem in Abfahrt und Super-G antreten. Das nicht zu machen, wäre ein völliger Wahnsinn in Hinblick auf das, was später kommt." Genau gesagt: Das, was in zwei Jahren kommt - die WM in Garmisch-Partenkirchen. Es ergäbe tatsächlich ein eigenartiges Bild, wenn der Veranstalter von 2011 zwei Jahre zuvor in Schlüsselwettbewerben nicht präsent wäre. Wie es wirkt, wenn seine Repräsentanten in diesen Schlüsselwettbewerben unter ferner liefen abschneiden, sei dahingestellt.

Prinzipiell sähe ihre Personalplanung für die bevorstehende WM nicht anders aus, auch wenn Deutschland 2011 nicht der Ausrichter wäre, sagt Maier. Es wurde von oben signalisiert, dass in Anbetracht der Investitionen für die Speedstrecken am Garmischer Kreuzeck eine Präsenz deutscher Abfahrer in Val d'Isère dringend erwünscht sei, Maier ist aber ohnehin überzeugt davon, "dass Leute wie der kleine Strodl eine Perspektive haben. Der ist so jung, fuhr letztes Mal in Wengen um einen Platz an den Top 30 vorbei, er hat in Kanada gepunktet. So einen möchte ich nicht rasieren, sondern in den muss man mal was investieren." Sollen für einen wie den Partenkirchener ("die Kraft in den Oberschenkeln ist da, nur die Masse fehlt", sagt der Jüngling von sich selbst) die tradierten Nominierungsqualifikative des deutschen Sports außer Kraft gesetzt werden? Modifiziert für diesmal, hat sich der Alpinchef vorgenommen und Weltcuppunkte als minimale Anforderung gestellt.

"Ich setze mich gerne für einen Athleten ein, von dem ich das Gefühl habe: Er will. Bei Andreas Strodl habe ich dieses Gefühl: Der möchte Rennfahrer werden, dafür tut er alles, und er bietet eine ordentliche Vorstellung. Das kann man anschauen, das ist brauchbar. Und Stephan Keppler war viermal unter den besseren 30 - für mich ist es keine Frage, dass wir den mitnehmen." Letztes Mal, 2007, nahmen sie Viktoria Rebensburg bar jeden Qualifikationsresultats mit zur WM nach Are - und sie wurde als Achte des Riesenslaloms einer der raren Lichtblicke im Team. Maier: "Kein Mensch wusste, dass sie nominiert war. Die hatte überhaupt kein Kriterium erfüllt. Wir ließen sie einfach fahren, sie wurde unser Winner, und plötzlich war es super, dass wir sie aufgestellt hatten."

Mit seinem Statement: "Ich muss dieses olympische Nominierungsprozedere nicht mitmachen - wir entscheiden, wen wir aufstellen", hat sich der Alpindirektor selbstverständlich und umgehend Widerspruch eingehandelt aus Landesverbänden, diversen Gremien. "Natürlich wurde das Thema intern relativ heftig diskutiert", sagt Maier, "es gibt den Vorwurf, wir Alpinen verlören wieder mal Maß und Ziel bei unserer Nominierung." Die Nordischen mahnen eine Angleichung der Kriterien an, die anderswo eisern eingehalten werden: Die deutschen Biathleten zum Beispiel gehen nur und strikt nach den klassischen Qualifikationskriterien vor. Was anderes bleibt ihnen bei der Unzahl ihrer Weltklasseathleten allerdings auch gar nicht übrig.

Der Kredit auf die alpine Zukunft soll kein Freifahrtschein sein: Es ist nicht gesagt, dass alle drei, die diesen Freitag im Kitzbüheler Super-G für Deutschland antreten, auch in Val d'Isère dabei sind. Maier sagt: "Es muss nicht, kann aber sein." Finale Argumente können die Strodls und Keppler im Nachtrag bei den Garmischer Heimrennen liefern, ebenso in Cortina d'Ampezzo Viktoria Rebensburg. Wirklich nötig hat das die junge Riesenslalomfahrerin diesmal aber nicht mehr. "Sie war Zwölfte, hat die halbe Norm, und sie war außerdem dreimal im Finale", argumentiert Wolfgang Maier. "Da setze ich mich durch, da gibt es keine Diskussion." Vermutlich aber Gegenwind - aus Landesverbänden und diversen Gremien. Da muss man als Alpiner durch. Wolfgang Gärner

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Aktuelles in Zahlen

Basketball

NBA

Milwaukee - Dallas 133:99 (Villanueva 32/10 Reb., Redd 27, Sessions 21, Jefferson 15/8 Ass. - Nowitzki 30, Howard 19, Kidd 18), Detroit - Toronto 95:76, Miami - Boston 83:98, New York - Phoenix 114:109, New Orleans - New Jersey 102:92, Houston - Utah 108:99, Portland - Cleveland 98:104, Sacramento - Washington 107:110, Golden State - Oklahoma City 121:122, LA Clippers - LA Lakers 97:108, Charlotte - Memphis 101:86.

Männer, BBL-Pokal, Viertelfinale

Giants Düsseldorf - Brose Baskets Bamberg 78:73 (47:39), Telekom Baskets Bonn - EWE Baskets Oldenburg 86:71 (41:36), Paderborn Baskets - Alba Berlin 69:81 (27:34).

Biathlon

Weltcup in Antholz

Frauen, Sprint (7,5 km): 1. Berger (Norwegen) 21:25,5 Min./1 Schießfehler; 2. Domratschewa (Weißrussland) 8,1 Sek. zur./1; 3. Wilhelm (Zella- Mehlis) 20,7/1; 4. Bulygina 27,4/1; 5. Achatowa (beide Russland) 30,2/1; 6. Mäkäräinen (Finnland) 32,2/1; 7. Saue (Estland) 36,7/0; 8. Kudraschowa (Weißrussland) 39,4/ 0; 9. Ponza (Italien) 39,7/0; 10. Beck (Mittenwald) 40,3/1; 12. Henkel (Großbreitenbach) 45,6/1; 15. Neuner (Wallgau) 55,3/4; 16. Hitzer (Gosheim) 55,9/2; 19. Döll (Oberhof) 59,1/1; 37. Hauswald (Gosheim) 1:30,4/3.

Eishockey

NHL

New Jersey - Montreal 5:2, New York Islanders - Anaheim 2:1, Philadelphia - Atlanta 5:3, Toronto - Boston 3:4 n.P., Tampa - Buffalo 5:3, Florida - Dallas 1:4, Chicago - St. Louis 0:2, Colorado - Los Angeles 5:6, Calgary - Columbus 5:4 n.P.

Eiskunstlaufen

Europameisterschaften in Helsinki

Paarlauf, Endstand: 1. Savchenko/Szolkowy (Chemnitz) 199,07 Punkte, 2. Kawaguchi/Smirnow 182,77, 3. Muchortowa/Trankow (alle Russland) 182,07, 4. Wolososchar/Morosow (Ukraine) 171,34, 5. Iljuschechko/Maisuradse (Russland) 147,84, 6. della Monica/Kocon (Italien) 135,33, 7. Risseeuw/Paxton (Großbritannien) 129,78, 8. Hausch/Wende (Oberstdorf/Essen) 129,67, 9. Canac/Coia 129,06, 10. James/Bonheur (alle Frankreich) 127,71.

Eistanz, nach dem Originaltanz: 1. Chochlowa/Nowitzki (Russland) 99,60 Punkte, 2. Faiella/Scali (Italien) 95,06, 3. S. Kerr/J. Kerr (Großbritannien) 92,60, 4. Pechalat/Bourzat 91,94, 5. Carron/Jost (alle Frankreich) 89,39, 6. Cappellini/Lanotte (Italien) 86,96, 7. A. Zaretski/ R. Zaretski (Israel) 81,18, 8. Sadoroschnjuk/ Werbillo (Ukraine) 80,52, 9. Fraser/Lukanin (Aserbaidschan) 79,59, 10. Rubljewa/Shefer (Russland) 79,01, 14. C. Hermann/D. Hermann (Dortmund) 74,15.

Fußball

Testspiele

Hannover 96 - AC Mailand 2:3, TuS Koblenz - Bayer Leverkusen 0:1, VfL Bochum - FSV Frankfurt 0:1.

England, Liga-Pokal, Halbfinale

Rückspiel: FC Burnley - Tottenham Hotspur 3:2 n.V.; Hinspiel 1:4, Tottenham im Finale gegen Manchester United (1. März).

Italien, Pokal, Viertelfinale

Inter Mailand - AS Rom 2:1, Udinese Calcio - Sampdoria Genua 2:5 n.E. (1:1, 0:0).

Spanien, Pokal, Viertelfinale

Hinspiele: FC Valencia - FC Sevilla 3:2, Espanyol Barcelona - FC Barcelona 0:0

Handball

Männer, WM in Kroatien, 4. Spieltag

Gruppe A in Osjek

Australien - Rumänien 20:40 (9:21)

Ungarn - Argentinien 31:20 (17:8)

Slowakei - Frankreich 26:35 (9:15)

Argentinien - Australien

Slowakei - Rumänien

Frankreich - Ungarn

1. Frankreich* 4 4 0 0 141: 84 8:0

2. Ungarn* 4 3 1 0 126: 88 7:1

3. Slowakei 4 2 1 1 124: 96 5:3

4. Rumänien 4 2 0 2 118:107 4:4

5. Argentinien 4 0 0 4 97:121 0:8

6. Australien 4 0 0 4 60:170 0:8

Gruppe B in Split

Kuba - Südkorea 26:31 (13:17)

Schweden - Kuwait 30:19 (17:9)

Spanien - Kroatien 22:32 (11:18)

Kuwait - Kuba

Spanien - Südkorea

Kroatien - Schweden

1. Kroatien* 4 4 0 0 140: 89 8:0

2. Schweden* 4 4 0 0 136: 88 8:0

3. Spanien 4 2 0 2 144:103 4:4

4. Südkorea 4 2 0 2 116:103 4:4

5. Kuwait 4 0 0 4 76:151 0:8

6. Kuba 4 0 0 4 80:158 0:8

Gruppe C in Varazdin

Deutschland - Mazedonien 33:23 (13:14) Deutschland: Bitter (Hamburg), Lichtlein (Lemgo) - Glandorf (9/Nordhorn), Schöne (8/Göppingen), Kraus (7/1/Lemgo), Jansen (3/1/Hamburg), Preiß (3/Lemgo), Klein (1/Kiel), Hens (1/Hamburg), Müller (1/Großwallstadt), Kaufmann (Lemgo), Tiedtke (Großwallstadt), Strobel (Lemgo), Roggisch (Rhein-Neckar Löwen)

Mazedonien: Ristovski, Angelov - Stoilov, Alushovski 1, K. Lazarov 9/3, Mitkov 1, Temelkov 7, Mirkulovski, Markovski, Mojsovski 1, Dimovski 2, F. Lazarov 1, Makalovski 1, Gjorgonovski.

Algerien - Russland 28:29 (14:17)

Polen - Tunesien 31:27 (16:11)

Mazedonien - Russland

Deutschland - Polen

Tunesien - Algerien

1. Deutschland* 4 3 1 0 117: 93 7:1

2. Polen* 4 3 0 1 123:101 6:2

3. Russland 4 2 1 1 113:109 5:3

4. Mazedonien 4 2 0 2 109:106 4:4

5. Tunesien 4 1 0 3 107:117 2:6

6. Algerien 4 0 0 4 89:132 0:8

Gruppe D in Porec

Saudi-Arabien - Brasilien 24:26 (10:14)

Norwegen - Serbien 26:27 (10:12)

Ägypten - Dänemark 17:26 (7:12)

Serbien - Saudi-Arabien

Ägypten - Brasilien

Dänemark - Norwegen

1. Dänemark* 4 4 0 0 135: 93 8:0

2. Norwegen 4 3 0 1 134: 91 6:2

3. Serbien 4 2 0 2 123:117 4:4

4. Brasilien 4 2 0 2 106:133 4:4

5. Ägypten 4 1 0 3 85:104 2:6

6. Saudi-Arabien 4 0 0 4 78:123 0:6

Die mit einem Stern (*) gekennzeichneten Teams sind für die Hauptrunde qualifiziert.

Bundesliga Frauen, 13. Spieltag

1. FC Nürnberg - Oldenburg 32:27 (19:20)

Radsport

Tour Down Under in Australien

3. Etappe, Unley - Victor Harbor (136 km): 1. Brown (Australien/Rabobank) 3:15:35 Std.; 2. Davis (Australien/Quick Step); 3. O'Grady (Australien/Saxo Bank); 4. Hincapie (USA/Columbia); 5. Sanchez (Spanien/Caisse d'Epargne); 6. Elmiger (Schweiz/AG2R); 11. Knees (Euskirchen/Milram); 12. Voigt (Berlin/Saxo Bank); 32. Armstrong (USA/Astana) alle gleiche Zeit. - Greipel (Hürth/Columbia) und Eichler (Mönchengladbach/Milram) ausgeschieden.

Stand: 1. Davis 10:47:11 Std.; 2. Brown gleiche Zeit; 3. O'Grady 0:05 Min. zur.; 4. Elmiger 0:14; 5. Rogers (Australien/Columbia) 0:18; 6. Wilson (Australien/UniSA) 0:19; 16. Knees 0:24; 37. Voigt 0:29; 39. Armstrong gl. Zeit.

Tennis

97. Australian Open in Melbourne

(12,02 Mio. Euro)

Männer

2. Runde: Haas (Hamburg) - Cipolla (Italien) 6:1, 6:2, 6:1; Stepanek (Tschechien/22) - Berrer (Stuttgart) 6:3, 6:2, 6:7 (3), 7:5; Melzer (Österreich/31) - Beck (Stuttgart) 5:7, 7:6 (7), 6:4, 6:3; Nadal (Spanien/1) - Karanusic (Kroatien) 6:2, 6:3, 6:2; Murray (Großbritannien/4) - Granollers (Spanien) 6:4, 6:2, 6:2; Tsonga (Frankreich/5) - Ljubicic (Kroatien) 6:7 (4), 7:6 (8), 7:6 (7), 6:2; Simon (Frankreich/6) - Guccione (Australien) 6:7 (5), 6:4, 6:1, 6:2; Blake (USA/9) - De Chaunac (Frankreich) 6:3, 6:2, 6:3; Monfils (Frankreich/12) - Koubek (Österreich) 6:4, 6:4, 3:6, 6:2; Gonzalez (Chile/13) - Cañas (Argentinien) 7:5, 6:3, 6:4; Verdasco (Spanien/14) - Clement (Frankreich) 6:1, 6:1, 6:2; Almagro (Spanien/17) - Fognini (Italien) 6:2, 7:5, 6:0; Andrejew (Russland/18) - Gulbis (Lettland) 6:4, 6:4, 5:7, 3:6, 6:4; Gasquet (Frankreich/24) - Istomin (Usbekistan) 6:3, 6:4, 6:4; Ancic (Kroatien) - Karlovic (Kroatien/25) 5:7, 7:5, 4:6, 6:4, 6:3.

Frauen

2. Runde: Stosur (Australien) - Lisicki (Berlin) 6:3, 6:4; Kusnezowa (Russland/8) - Malek (Bad Saulgau) 6:2, 6:2; S. Williams (USA/2) - Dulko (Argentinien) 6:3, 7:5; Dementjewa (Russland/4) - Benesova (Tschechien) 6:4, 6:1; Suarez-Navarro (Spanien) - V. Williams (USA/6) 2:6, 6:3, 7:5; Pennetta (Italien/12) - Moore (Australien) 6:4, 6:1; Asarenka (Weißrussland/13) - Garbin (Italien) 4:1 Aufgabe; Razzano (Frankreich) - Schnyder (Schweiz/14) 6:3, 6:1; Cibulkova (Slowakei/18) - Yung-Jan (Taiwan) 6:0, 6:2; Mauresmo (Frankreich/20) - Baltacha (Großbritannien) 4:6, 6:3, 6:2; Garrigues (Spanien/21) - Coin (Frankreich) 6:1, 6:4; Jie (China/22) - Czink (Ungarn) 7:6 (0), 5:7, 6:3; A. Bondarenko (Ukraine/31) - Bremond (Frankreich) 7:6 (1), 1:6, 6:2.

Volleyball

Champions League, Männer, Gruppe F

VfB Friedrichshafen - PGE Belchatow 3:0 (22, 20, 18), Pan. Athen - Iskra Odinzowo 2:3 (25:17, 28:30, 25:17, 20:25, 13:15). - Tabelle: 1. Odinzowo 6/13:9/ 10, 2. Friedrichshafen 6/13:10/9, 3. Belchatow 6/9:10/9, 4. Athen 6/9:15/8. - Friedrichshafen im Achtelfinale.

Wasserball

Männer, Weltliga, 1. Spieltag

Europa-Gruppe 3: Kroatien - Russland 12:7, Spanien - Deutschland 8:7.

Sport im Fernsehen

Freitag, 23. Januar

9.30 - 14.15 Uhr, Eurosport: Tennis, Australian Open in Melbourne.

9.55 - 13.00 Uhr, ZDF: Rennrodeln, Weltcup in Altenberg, Team-Staffel; Ski alpin, Weltcup in Kitzbühel, Super-G, Männer.

14.05 - 16.00 Uhr, ZDF/Eurosport: Biathlon, Weltcup in Antholz, 10-km-Sprint Männer.

19.15 - 21.55 Uhr, Eurosport: Eiskunstlauf, EM in Helsinki, Eistanz, Kür.

22.00 - 23.00 Uhr, Eurosport: Skispringen, Weltcup in Vancouver, Qualifikation.

23.00 - 1.00 Uhr, Eurosport: Motorsport, Rallye Monte Carlo.

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Kurz gemeldet

Borussia Dortmund, Fußball-Bundesligist, hat rechtliche Schritte gegen den spanischen Klub Racing Santander wegen ausstehender Ablösezahlungen beim Transfer von Ebi Smolarek eingeleitet. Smolarek war im August 2007 für geschätzte 4,8 Millionen Euro zum spanischen Erstligisten gewechselt.

Derek Boatengs Wechsel von Beitar Jerusalem zum Bundesligisten 1. FC Köln ist perfekt. Der 25-jährige ghanaische Mittelfeldspieler erhält einen Vertrag bis 2013. Die Ablösesumme soll angeblich 350 000 Euro betragen.

Torhüter Jochen Reimer verlässt nach Saisonende die Düsseldorfer EG und wechselt innerhalb der Deutschen Eishockey Liga (DEL) zum Konkurrenten Grizzly Adams Wolfsburg. Reimer war nur Nummer zwei hinter Jamie Storr.

Geherin Melanie Seeger ist schwanger und wird nicht bei der Leichtathletik-WM im August 2009 in Berlin starten können. Sie erwarte ihr erstes Kind im Juli, berichtete die 32-Jährige vom SC Potsdam.

Österreichs Fußball trauert um Peter Persidis. Der ehemalige Nationalspieler erlag in Wien im Alter von 61 Jahren einer schweren Krankheit. Persidis sammelte Meistertitel mit Olympiakos Piräus (1973, 1974 und 1975) und Rapid Wien (1982). Für Österreich absolvierte der Libero sieben Länderspiele.

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Das Ungeheuer macht Karriere

DFB-Trainer Horst Hrubesch betreut gleich zwei Nachwuchs-Mannschaften

Köln - Bezeichnend für das Denken, die Natur und den Charakter Horst Hrubeschs ist die Geschichte, wie er 1980 Co-Autor des Fachbuches "Dorschangeln vom Boot und an den Küsten" wurde. Es begann damit, dass er sich als leidenschaftlicher Angler - 27jährig von Rot-Weiß Essen zum Hamburger SV gewechselt - fragte, wie man das eigentlich macht: Brandungsangeln an der norddeutschen Küste. "Als Westfale hatte ich davon natürlich keine Ahnung", erzählt er, bisher kannte er nur Flüsse, Teiche und Seen. Weil ihm beim HSV keiner helfen, er auch keine Lektüre zum Thema finden konnte, suchte er Rat beim Parey-Verlag und dessen Fachzeitschrift Fisch und Fang. Auf seinen Brief kam bald Antwort, das Buch bezeugt den ersten telefonischen Dialog der späteren Autorenpaars: "Hrubesch." - "Schicker. Wollen wir zusammen angeln gehen?" Dieter Schicker, der Fachmann, hat den Mittelstürmer dann tatsächlich mit ans Wasser genommen, und was folgte daraus? Ein Bestseller, die erste Auflage mit 30 000 Exemplaren war schnell vergriffen. "Es waren ja auch", sagt Hrubesch heute, "die besten Jahre beim HSV."

1979, 1982 und 1983 ist der als "Ungeheuer" gefürchtete Angreifer Deutscher Meister mit dem HSV geworden, er gewann den Landesmeisterpokal und wurde 1980 Europameister, aber für die Sportfischerei hat er heute weniger Zeit als damals. Seiner Vorliebe fürs Lachsangeln steht der Job beim DFB entgegen, besonders dieses Jahr: Wenn im Mai die Lachssaison beginnt, dann bereitet er sich darauf vor, die U-21-Nationalelf bei der EM in Schweden zu trainieren, und wenn die Saison im September ausklingt, dann geht er daran, mit seiner U-20-Nationalmannschaft Weltmeister beim Turnier in Ägypten zu werden. Diesen hohen Anspruch betrachtet er nicht deshalb als Verpflichtung, weil DFB-Sportdirektor Matthias Sammer gewohnt maximalistisch verlangt, man wolle 2009 "mindestens einen Titel holen" im Juniorenfußball. Hrubesch hält das für selbstverständlich. Schließlich fährt sein Team als amtierender Europameister ins Pharaonenland. "Wir haben gute Chancen", findet der Trainer.

Womöglich ist vielen im Publikum entgangen, dass Horst Hrubesch, 57, im deutschen Fußballbetrieb eine beispiellose Karriere gemacht hat, was ihn jetzt in die Lage versetzt, als erster Titelhalter unter den DFB-Trainern seit 1992 binnen drei Monaten gleich bei zwei großen Turnieren Nationalteams führen zu dürfen. Dabei hieß es überall, dass Hrubeschs Gnadenzeit im Verband bald beendet sein werde, als Jürgen Klinsmann 2004 aus Amerika kam, die Revolution ausrief und den Umbau im DFB-Trainerapparat von unten bis oben verkündete. Auf seinem Ruf lastete ein berühmter Versprecher ("wir müssen das Paroli laufen lassen"), die Zeit als Assistent des unseligen Erich Ribbeck und sein bekannt uneitler Auftritt - für den er sich überhaupt nicht schämt. "Der ist rustikal, hieß es immer", weiß er, "und da sage ich: Na klar, das werd' ich auch bleiben. Ich bin der Hrubesch. So ist das." Gegangen sind dann Stielike und Skibbe, später auch Eilts, geblieben ist Hrubesch, mittlerweile vom Erfolg belohnt. "Ich war als Spieler ein Spätzünder, und als Trainer bin ich es auch", stellt er fest.

Heutzutage schwärmt Sammer von Hrubeschs "Offenheit für neue Maßnahmen", für den Gelobten ist das wieder nur selbstverständlich. Als Klinsmann vom totalen Wandel im angeblich so trägen DFB kündete, weckte er beim damaligen U 18-Trainer keine Furcht, sondern Neugier: "Die Frage ist: Setzt man sich mit dem Jüngeren auseinander oder hält man dagegen? Ich hab's immer so gehalten, dass ich nachgedacht habe: Was will der eigentlich? Und wenn ich Sachen finde, die mir weiterhelfen, dann hab ich doch was gewonnen. Wir lernen alle dazu, und je älter du wirst, umso mehr kannst du umsetzen." Er kann sich dadurch selbst überraschen: "Wenn vor zehn Jahren einer zu mir gesagt hätte: 'Hrubesch, du musst mit dem Computer umgehen', dann hätte ich ihm gesagt, wir lassen es lieber. Heute habe ich die Wundertüte täglich in Betrieb."Was die Fortschritte im deutschen Nachwuchsfußball seit dem Wendejahr 2000 angeht, verweist er auf die Arbeit der Klubs und die Einflüsse der wesentlich Beteiligten: Skibbe, Klinsmann, Sammer. "Man hat die Lage richtig diagnostiziert und macht weiter damit: Sammer und Löw sind zum Glück nicht die Typen, die sich auf etwas ausruhen." Über seinen eigenen Beitrag redet er weniger, aber das ist klar: Dieser Mann liebt seinen Beruf.

Eines aber möchte er doch mal klarstellen, weil ja viele Leute glauben, der Posten als Juniorentrainer sei ein Rentnerjob: "Ich kenne keinen DFB-Trainer, der nicht 200 Tage im Jahr unterwegs ist." Von den Tagungen, Lehrgängen und sonstigen Pflichten bekommt das Publikum bloß nichts mit. Der Dank geht jedoch nicht an Matthias Sammer, sondern an seine Frau Angelika. Die hat das Geheimnis von 37 Jahren Ehe mal so erklärt: "Kein Wunder, der Horst war ja auch 20 Jahre nicht zuhause." Und so, sagt Hrubesch, "ist die Ehe immer frisch geblieben". Philipp Selldorf

Als Spieler ein Spätzünder, als Trainer auch: Horst Hrubesch, einst aktiv beim Hamburger SV, jetzt erfolgreich als Verbandscoach Foto: dpa

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Schlechte Zeiten für Google

Android-Entwickler Horowitz verlässt den Konzern

Wenige Tage noch, dann kommt das erste Google-Handy auch nach Deutschland. G1 heißt es, aber nicht die Hardware ist das Besondere. Auf dem Mobiltelefon läuft ein Betriebssystem namens Android, mit dem es besonders leicht sein soll, unterwegs im Internet zu surfen. Auf diese Weise will der Suchmaschinenbetreiber gegen Rivalen wie Apple, Microsoft oder Nokia punkten. So ist es für Google keine gute Nachricht, dass ausgerechnet jetzt Steve Horowitz, der Chefentwickler des Handy-Systems, den Konzern verlässt. Besonders dürfte die Google-Führung aber seine Begründung schmerzen: Im Wirtschaftsabschwung sehe er bei seinem neuen Arbeitgeber, dem Entwickler von Online-Rabattsystemen Coupons.com, bessere Chancen.

Google galt bislang als Enfant terrible der IT-Branche. Die Gründer der Internetsuchmaschine Sergey Brin und Larry Page veranstalteten noch Partys mit Champagner, als es beim Rest der Branche schon lange nur Selters gab. Das Wachstum durch Werbung im Netz schien grenzenlos. Nun stößt in der Wirtschaftsflaute auch Google an Grenzen. Zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte müssen Beschäftigte gehen, unrentable Dienste werden eingestellt. Der 41-jährige Horowitz hielt die Zeit für gekommen, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen - mit besseren Perspektiven.

Seine neue Firma, Coupons.com, bietet Online-Rabattmarken zum Herunterladen. Zwei Dollar Abschlag etwa gibt es dort aktuell auf ein Shampoo oder 75 Cent für ein italienisches Salatdressing aus dem Supermarkt. Horowitz wird Technikchef bei Coupons.com. Die Aufgabe klingt wenig aufregend für einen Mann, der vorher bei Apple, Microsoft und zuletzt seit 2006 bei Google gearbeitet hat - doch Horowitz glaubt, dass die Firma mit weniger als 100 Angestellten in unruhigen Zeiten die bessere Alternative zum Posten beim 17 000-Mann-Konzern ist. Thorsten Riedl

Steve Horowitz Foto: oh

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Im Blickpunkt

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Licht im Nebel

Der Bundesgerichtshof hält in der Online-Werbung manchen Trick für zulässig - die Grundsatzfrage verweist er aber nach Luxemburg

Von Helmut Kerscher

Karlsruhe - Jeder "User" kennt das Bild: Nach der Eingabe von Begriffen in der Internet-Suchmaschine Google erscheinen in Sekundenschnelle links Tausende Treffer und rechts eine Spalte mit "Anzeigen". Was nicht jeder weiß: Wie diese Online-Werbung funktioniert, was sie kostet und wie oft sich damit schon Gerichte befasst haben. Nach etwa 100 Entscheidungen gab es am Donnerstag endlich zwei Grundsatzurteile des Bundesgerichtshofs (BGH) - und einen Beschluss, mit dem die wichtigste Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg überantwortet wurde. So lichtete sich der Nebel über der überaus lukrativen Online-Werbung nur teilweise.

Im Zentrum des juristischen Schlachtgetümmels steht ein Wort, das sich wie "Edward" anhört und "Adword" geschrieben wird. Es geht auf das englische Wort "Adverts" für Werbeanzeigen zurück und ist für den weltweit größten Suchmaschinenbetreiber Google im doppelten Sinn ein Schlüsselwort. Zum einen spielen die Adwords einen großen Teil der Milliardengewinne ein, zum andern handelt es sich dabei tatsächlich um Schlüsselworte (keywords). Wer bei Google eine Anzeige schaltet, kann bestimmte Adwords mit Firmenbezug festlegen. Kommen diese in einer Trefferliste vor, dann erscheint zugleich im Anzeigenfeld das werbende Unternehmen mit einem Link. Wenn der Nutzer diese Anzeige anklickt, sind Nutznießer sowohl Google als auch die werbende Firma. Letztere hat eine ziemlich zielgenaue Werbung, wofür sie pro Klick an Google zahlt. Der Konzern bietet den Kunden an, die Werbekosten durch ein festes Budget zu begrenzen. Als Beispiel nennt Google ein Tagesbudget von fünf Euro und einen maximalen Betrag von zehn Cent pro Klick.

Bleibt bloß die Frage: Welche Adwords sind erlaubt? Absichtlich oder unabsichtlich können sie mit geschützten Kennzeichen kollidieren. So verwendete eine Anbieterin von Erotikartikeln das Adword "bananabay" - was aber die geschützte Wortmarke einer konkurrierenden Firma ist. Wer also bei Google "bananabay" eingab, sah neben der Trefferliste auch die Anzeige der Firmen, die "bananabay" als Adword angegeben hatten. Der Streit über die Zulässigkeit dieses mit einer fremden Marke identischen Adwords wanderte von Braunschweig nach Karlsruhe und wird nun das EU-Gericht in Luxemburg beschäftigen. Der BGH sah sich aus rechtlichen Gründen außerstande, den Streit selbst zu entscheiden.

Die einschlägigen Bestimmungen des deutschen Rechts beruhten nämlich auf harmonisiertem europäischen Recht, weshalb der BGH die Luxemburger Kollegen zu einer Vorabentscheidung anrief (Az: I ZR 125/07). "Die eigentlich streitige Frage, ob Adword-Werbung eine markenmäßige Benutzung darstellt, ist damit nach wie vor offen", sagte BGH-Richter Joachim Bornkamm bei der Verkündung. Als Beispiel nannte er die Verwendung des Adwords "Coca-Cola" durch einen kleinen Limonaden-Produzenten. Seine Anzeige würde dann neben der Trefferliste der Suchmaschine erscheinen. Juristisch gehe es darum, ob die Marke Coca-Cola dabei als Marke im Sinn des Markengesetzes benutzt werde oder nicht.

In zwei weiteren Verfahren entschied der BGH gleich selbst, jeweils großzügig, über die Zulässigkeit einer Adword-Werbung bei Google. Im einen Fall ging es um das Schlüsselwort "pcb", was für "printed circuit board" steht und auf Deutsch Leiterplatte heißt. Eine Firma hatte sich die Marke "PCB-POOL" schützen lassen, eine Konkurrentin hatte bei Google als Adword "pcb" angegeben. Damit erschien beim Googeln von "PCB-POOL" im Anzeigenblock der Hinweis auf die Konkurrenz. Das Oberlandesgericht Stuttgart hielt die Verwendung dieses Adwords für rechtswidrig. Der BGH erklärte es hingegen für zulässig. Es handle sich nämlich bei "pcb" um eine beschreibende Angabe. Dagegen könne auch der Inhaber einer Marke mit diesen Buchstaben-Teilen nichts unternehmen (Az: I ZR 139/07).

Auch im zweiten Urteil ließ der BGH eine klagende Firma abblitzen. Es ging dabei um den Begriff "Beta Layout GmbH", eine Unternehmensbezeichnung, die ein Wettbewerber als Adword angegeben hatte. Es bestehe im Fall des gleichzeitigen Erscheinens von "Beta Layout" auf der Trefferliste und im gesonderten Anzeigenblock keine Verwechslungsgefahr, hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf vor zwei Jahren entschieden. Der Internetnutzer nehme nämlich nicht an, dass die Anzeige von der Beta Layout GmbH stamme. Diese Bewertung bestätigte der BGH (Az: I 30/07).

Um Internetsurfer auf ihre Webseite zu locken, verknüpfen Unternehmen eigene Anzeigen mit den Namen ihrer Wettbewerber. Foto: AP

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Wachwechsel bei Citigroup

Die von der Finanzkrise schwer getroffene US-Großbank Citigroup wechselt den Chef ihres Verwaltungsrates aus. An der Spitze des Kontrollgremiums steht künftig der frühere Chef des US-Medienkonzerns Time Warner, Richard Parsons. Der 60-Jährige löst am 23. Februar Sir Winfried Bischoff ab, der wegen der Schieflage der Bank massiv in der Kritik steht. Die US-Regierung musste die Bank bereits mit Milliardensummen und einem enormen Rettungsschirm stützen, große Bereiche des Instituts sollen vekauft werden. Am Markt wurde zuletzt sogar immer wieder über eine komplette Verstaatlichung spekuliert. Parsons sitzt bereits seit 1996 im Verwaltungsrat. Bischoff, der vorwiegend in London lebt, war Ende 2007 übergangsweise für einen Monat auch Konzernchef (CEO) der Citigroup. Mit der Berufung von Vikram Pandit auf den Chefsessel wechselte er vor gut einem Jahr an die Spitze des Verwaltungsrates. Über seine Abberufung war bereits seit Monaten spekuliert worden. Nach Ansicht von Kritikern hat Bischoff nicht aktiv genug an der Rettung der Citigroup mitgewirkt. Angesichts der Notlage des Konzerns steht allerdings auch Pandit unter Druck. dpa

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Sprecher der Banken

Karl-Peter Schackmann-Fallis, Vorstandsmitglied im Deutschen Sparkassen- und Giroverband, wird neuer Vorsitzender des Europäischen Ausschusses der Kreditwirtschaft (EBIC). Er folgt damit dem Generalsekretär der italienischen Bankenvereinigung, Giuseppe Zadra, der turnusgemäß den Chefposten abgibt. EBIC ist eine Interessenvertretung europäischer Banken. Reuters

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Neuer Job für Ziebart

Der frühere Infineon-Chef Wolfgang Ziebart soll in den Aufsichtsrat des niederländischen Chipausrüsters ASML einziehen. Der Manager sei für den Posten nominiert, er müsse nun von der Hauptversammlung Ende März bestellt werden, teilte ASML mit. Ziebart war Ende Mai vergangenen Jahres nach langen internen Querelen als Vorstandschef von Infineon zurückgetreten. SZ

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Gerüchte um Hippe

Vor zwei Wochen wurde er noch als neuer Finanzchef der Post gehandelt, jetzt meldete das Manager Magazin, Alan Hippe wechsele zu Thyssen-Krupp. Sein Arbeitgeber, Continental, kommentiert das nicht. Fest steht, dass der 42 Jahre alte Conti-Finanzchef unter Top-Personalvermittlern als erste Wahl gilt. Und dass Hippe auf dem Sprung ist, wird auch schon eine Weile gemunkelt. mth.

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Londons Strippenzieher

Wirtschaftsminister Peter Mandelson gilt als Meister der politischen Intrige. Nun muss er die britische Industrie retten

Von Andreas Oldag

Peter Mandelson hat sich in diesen Tagen Studien über die britische Wirtschaftspolitik in den 40er und 50er Jahren genau angeschaut. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Briten große Teile der Industrie verstaatlicht - und damit keine guten Erfahrungen gemacht. Eine sich krakenartig ausbreitende Staatsbürokratie beherrschte damals die Kohle- und Stahlproduktion und später auch die Autofirmen - und beschleunigte Großbritanniens Abstieg als Industrienation. Eine Wiederauflage dieser Geschichte will der neue Wirtschaftsminister im Kabinett von Premierminister Gordon Brown vermeiden. Doch es ist ein schwieriger Balanceakt angesichts der dramatischen Auswirkungen der Finanzkrise. Die Insel ist stärker als andere europäische Staaten in eine schwere Rezession abgerutscht. Banken hängen am Tropf der Steuerzahler. Schon fordern einflussreiche Labour-Politiker die vollständige Verstaatlichung von Kreditinstituten. Dagegen sperrt sich Mandelson. Bislang noch erfolgreich.

Das Problem ist, dass der Wirtschaftsminister nun aber gleich an mehreren Brandherden löschen muss. Er sei für Brown ein Feuerwehrmann, der 24 Stunden lang im Einsatz sei, meinte die Boulevardzeitung Evening Standard. Autohersteller wie Jaguar und Land Rover stehen vor drastischen Personaleinschnitten. Zwischen London und Edinburgh geht die Angst um die Arbeitsplätze um. "Britische Unternehmen sind der Lebenssaft unserer Wirtschaft. Es ist entscheidend, dass die Regierung jetzt wirkungsvoll hilft", meinte der Minister.

"Prinz der Finsternis"

Mandelson, der erst im Oktober seinen Posten als EU-Handelskommissar in Brüssel aufgab und von seinem alten Widersacher Brown nach London gerufen wurde, weiß, dass es für Großbritannien in dieser dramatischen Lage um den Fortbestand als Industrienation geht: Wie kaum ein anderes EU-Land hat die Insel in den vergangenen Jahren auf den Ausbau der Finanzdienstleistungen gesetzt. Vor allem die Millionen-Metropole London profitierte davon und zog Banker und Broker aus der ganzen Welt an. Entsprechend schrumpfte der Anteil der verarbeitenden Industrie an der Wirtschaftsleistung in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 31 auf 13 Prozent. Nun will Mandelson die Industriepolitik reanimieren und Investitionen in umweltfreundliche Energieerzeugung, Elektroautos und Biotechnologe vorantreiben. "Für New Labour ist dies ein kritischer Moment", räumte der frisch gekürte Lord ein, der nun im Oberhaus einen Sitz hat.

Der 55-Jährige hat eine beeindruckende Karriere hinter sich. In der politischen Aufstiegsphase des ehemaligen Premierministers Tony Blair war Mandelson einer der Architekten von "New Labour" - jener grundlegenden Reform also, mit der sich Labour vom verstaubten Gewerkschaftsimage abwandte. Nicht zuletzt war es Mandelson, der sich zu einer liberalen Finanzmarktordnung bekannte und die Partei darauf einschwor, in diesem Punkt das Erbe der Eisernen Lady Margaret Thatcher fortzuführen.

Schon damals avancierte Mandelson aber auch zu einem der umstrittensten britischen Politiker. Der Oxford-Absolvent, Anti-Vietnamkriegs-Demonstrant und zeitweilige Sympathisant einer kommunistischen Jugendorganisation orientierte sich rasch um in Richtung britische Oberklasse. Fortan suchte er seine Freunde vor allem unter einflussreichen Managern, Bankern und Industriellen. Zugleich zog er im Parteiapparat als Kommunikationschef die Strippen. Als Blair nach seinem grandiosen Wahlsieg 1997 als Premierminister in die Downing Street 10 einzog, installierte Mandelson so viele Medienberater wie niemals zuvor am Regierungssitz. Die Presse nannte den Großmeister der politischen Intrige den "Fürsten der Finsternis".

Einladung auf die Yacht

Zumindest intransparent waren Mandelsons private Kontakte zu schwerreichen Geschäftsleuten. Wegen Korruptionsvorwürfen und angeblicher Vetternwirtschaft verlor er zweimal - 1998 und 2001 - seine Ministerämter. 2004 ging der Labour-Politiker dann als Handelskommissar nach Brüssel, wo sich "Mandy", wie er von seinen politischen Freunden genannt wird, der britischen Tradition entsprechend für eine weitere Liberalisierung des Handels einsetzte.

"Ich bin ein Kämpfer, kein Kapitulierer", sagte Mandelson einmal in einem Interview. Diese Fähigkeit stellte er auch kurz nach seiner Berufung zum Wirtschaftsminister Ende vergangenen Jahres unter Beweis. So wurden Vorwürfe in der britischen Presse laut, dass sich Mandelson im vergangenen Sommer - also noch während seiner Amtszeit in Brüssel - mit dem russischen Oligarchen Oleg Deripaska auf dessen Super-Yacht Queen K in Korfu getroffen habe.

Delikat war die Einladung deshalb, weil Deripaska für seinen Aluminium-Konzern Rusal eine Senkung der EU-Einfuhrzölle forderte. Und für dieses Thema war Mandelson zuständig. Die EU-Kommission sah in dem Yacht-Kaffeekränzchen allerdings keinen Interessenkonflikt. Zweifel äußerte die britische Presse vor kurzem auch an der Finanzierung von Mandelsons 2,5 Millionen Pfund teuren Villa nahe des Londoner Regent's Park. Angeblich könne er aus eigener Tasche nicht so viel Geld gehabt haben, heißt es. Der Minister bestreitet die Vorwürfe. Premierminister Brown hält an seinem Krisenmanager fest. Er braucht ihn auch als gewieften "Spin Doctor" für die nächsten Parlamentswahlen, die spätestens 2010 stattfinden.

Der Gegenspieler

In Krisenzeiten sind altgediente Experten gefragter denn je. Das gilt nicht nur für Wirtschaftsminister Peter Mandelson, sondern auch für seinen konservativen Gegenspieler Kenneth Clarke. Der ehemalige Finanzminister der konservativen Regierung von John Major Anfang der 90er Jahre ist nun zum Schattenwirtschaftsminister der Tories gekürt worden. Hinter dem Schachzug steckt der neue Parteichef der Konservativen, David Cameron. Er erhofft sich von dem 68 Jahre alten Clarke frische Rezepte gegen die Rezession und natürlich auch wirtschaftspolitischen Rat für die nächsten Parlamentswahlen. Die derzeitige Wirtschaftskrise sei die schwerste, die er je erlebt habe, erklärte Clarke. Er gilt übrigens als Befürworter der europäischen Gemeinschaftswährung, die bislang von der Mehrheit der Tories strikt abgelehnt wird. old.

Peter Mandelson war einer der Architekten von Tony Blairs "New Deal", später wechselte er als EU-Kommissar nach Brüssel. Seit Oktober ist er der starke Mann im Kabinett von Gordon Brown. Foto: Bloomberg

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Erfinder des Ervolkswagens

Werner Butter prägte den Spruch "Und er rollt und rollt und rollt". Jetzt ist der bekannte Werber im Alter von 76 Jahren gestorben

Wirklich jeder kennt Sprüche von Werner Butter. Und jeder zitiert sie. "Da weiß man, was man hat" ist so ein Satz. Er prägt sich ein, geht leicht über die Lippen. Gute Werbung eben, in diesem Fall für Volkswagen. Werner Butter hat sein Leben lang gute Werbung gemacht. Am 20. Januar starb er im

Alter von 76 Jahren in seinem Haus auf Mallorca .

"Gute Werbung muss verkaufen", hat Butter einmal gesagt, "sonst taugt sie nichts." Wenn Werner Butter textete, dann lief der Verkauf. Bei der Ente von Citroën zum Beispiel, die im Deutschland der achtziger Jahre niemand mehr so recht kaufen wollte. Bis Butter kam und warb: "Ente geleast. Kotelett gekauft." Dazu eine schlichte technische Zeichnung von der Karosserie des Kleinwagens, versehen mit Kommentaren wie: "Platz für ein ganzes Schwein" oder "Saustark, das Motörchen". Da mochten die Deutschen die Ente wieder, und die Citroën-Händler mussten Nachschub ordern. Gute Werbung eben.

Butters Karriere begann Anfang der sechziger Jahre. Damals bewarb er sich als Texter bei der Werbeagentur DDB in seiner Heimatstadt Düsseldorf. Der Grund: "Ich wollte endlich mal mehr Geld als meine Frau verdienen." Da war er 32 Jahre alt und hatte Berufserfahrung als Stahlgroßhändler, Sägenmacher und Journalist beim Berliner Kurier. Den Job bekam er trotzdem.

Die New Yorker Agentur DDB hatte die deutsche Niederlassung gegründet, um den Kunden Volkswagen besser betreuen zu können. So wurde VW ein wichtiger Teil von Butters Leben - und das, obwohl er selbst nicht mal einen Führerschein besaß. Unter ihm wurde der Käfer zum "Ervolkswagen", zum "Statussymbölchen". Auf einem Plakat zeigte Butter Ende der Sechziger einfach nur einen roten Käfer, darunter in schwarzen Lettern: "Da weiß man, was man hat." Den Spruch habe er, das räumte er später einmal ein, von seiner Mutter geklaut.

Der Wolfsburger Autokonzern wusste auf jeden Fall, was er an dem Werbetexter hatte. Als der VW Golf in Produktion ging, übernahm wieder Butter die Kampagne. Sie entstand in seinem Haus auf Mallorca. Er war es, der den neuen "Volkssport" ausrief und der schrieb "Und er rollt und rollt und rollt".

Butter prägte auch eine bekannte Werbefigur vergangener Zeiten: der ewig schwitzende Tchibo-Kaffee-Experte, der immer overdressed im schwarzen Anzug und mit Hut in Afrika, Süd- oder Mittelamerika unterwegs war, ständig auf der Suche nach dem besten Kaffee. Dazu entwarf Butter Sprüche wie "Wer ist der Dicke neben dem Massai?" oder "5 Mark 60 für ein Pfund Goldmokka - das verzeiht er uns nie". So wurde Werner Butter zum Star der Branche und zum Mitglied in der "Hall of Fame der deutschen Werbung". Hannah Wilhelm

"Gute Werbung muss verkaufen, sonst taugt sie nichts." Werner Butter (oben) warb für Volkswagen und Citroën, für Nordrhein-Westfalen und für Tchibo (links). Seine Texte kannte bald jeder, sie beförderten ihn in die Hall of Fame der deutschen Werbung. Fotos: Agentur Butter

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MITTWOCH-LOTTO

6 aus 49 (21. Januar)

Lottozahlen: 5 - 7 - 8 - 10 - 38 - 40

Zusatzzahl: 36, Superzahl: 0

1. Rang (6 Treffer und Superzahl) unbesetzt, im Jackpot 20 846 442,30 Euro, 2. Rang (6 Treffer) 438 858,40 Euro, 3. Rang (5 Treffer mit Zusatzzahl) 60 952,50 Euro, 4. Rang (5 Treffer) 2433,90 Euro, 5. Rang (4 Treffer mit Zusatzzahl) 212,90 Euro, 6. Rang (4 Treffer) 34,30 Euro, 7. Rang (3 Treffer mit Zusatzzahl) 31,00 Euro, 8. Rang (3 Treffer) 8,40 Euro.

Spiel 77: 8 2 1 0 5 6 1

Gewinnklasse 1 (Super 7): 270 000,00 Euro, Gewinnklasse 2: 70 000,00 Euro, Gewinnklasse 3: 7000,00 Euro, Gewinnklasse 4: 700,00 Euro, Gewinnklasse 5: 70,00 Euro, Gewinnklasse 6: 7,00 Euro, Gewinnklasse 7: 2,50 Euro.

Super 6: 4 3 8 0 9 5 (Ohne Gewähr)

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Winter im Casino

Von Martin Hesse

Frankfurt im Januar, das ist schon in guten Jahren ein unwirtlicher Ort. Die kühlen Hochhausfronten im Bankenviertel wirken noch etwas eisiger und abweisender als sonst. Obdachlose drücken sich in die Häusernischen des Bahnhofviertels, kauern am Fuße der Katharinenkirche, verkriechen sich aus den Zwischengeschossen der U-Bahnstationen Hauptwache und Konstablerwache auf die Bahnsteige eine Etage tiefer. Wärme suchend. Nur um dort wieder verscheucht zu werden von übereifrigen Ordnungshütern, begleitet vom Kopfschütteln gut verpackter, wenn auch immer häufiger arbeitsloser Bankangestellter.

Schnell stecken die Passanten ihre Nasen verschämt wieder in Zeitungen, auf deren Titelseiten von der endlosen Misere ihrer Geldgeber und Geldvernichter die Rede ist. Wer noch Arbeit hat, und das sind hier noch immer die meisten, drängt rasch auf die Rolltreppe - "rechts stehen, links gehen!" -, nur schnell nach oben, weg von allem, was an den möglichen Absturz erinnert. Doch oben ragen die Skelette neuer Bankentürme unfertig in den aschgrauen Himmel und scheinen an den trostlosen Zustand der Finanzindustrie zu gemahnen. "Casino schließen", steht auf den angekratzten Wahlplakaten der Linken. "In Zeiten wie diesen kämpfen wir um jeden Arbeitsplatz", grinst Roland Koch von rechts.

In Zeiten wie diesen lieber schnell rein in die Kuschelkisten der Noch-Gutverdiener. Ins Café Opera zum Beispiel. Hier, wo die Welt noch in Ordnung ist, erwärmt man sich bei Loup de Mer auf Kürbischutney am neusten Krisentratsch. Ist das nicht Herr Großkotz von der Pleitebank? Und haben Sie schon das allerallerneueste gehört? Rasch noch eine Cappucinomousse in der Schokoladenträne. Ach! Und dann Kragen hoch und zurück ins Büro. Bank abwickeln, eingraben, auf den Frühling warten. Will denn der Winter niemals enden?

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Basistarif? Den gibt's noch nicht

Eigentlich müssen sich alle Bürger seit Jahresbeginn krankenversichern. Doch die Anbieter stellen sich quer

Von Marco Völklein

München - Bei der Krankenversicherung ist seit 1. Januar 2009 einiges neu: Für die gesetzlich Versicherten gibt es nun den Gesundheitsfonds, der das eingenommene Geld unter den gesetzlichen Krankenkassen verteilt. Und bei der privaten Krankenversicherung, abgekürzt PKV, existiert seit Januar der neue Basistarif - eine Art Grundversorgung innerhalb des Systems der PKV. Mehreren Verbraucherzentralen im Bundesgebiet liegen nun Beschwerden von Versicherten vor, die bei der Suche nach einem Basistarif von den Versicherungsgesellschaften offenbar "abgewimmelt" wurden, wie es die Verbraucherschützer ausdrücken.

Das ist besonders ärgerlich, da der Gesetzgeber zusammen mit den vielen Neuerungen auch eine generelle Krankenversicherungspflicht eingeführt hat. Wer sich nicht krankenversichert und dies kommt zum Beispiel bei einer schweren Krankheit oder nach einem Unfall heraus, muss sich spätestens dann versichern - auf die Versicherungsprämie werden aber Strafzuschläge fällig. "Das kann ein paar tausend Euro ausmachen", sagt Andrea Hoffmann, Versicherungsexpertin bei der Verbraucherzentrale Sachsen.

Die Leistungen des PKV-Basistarifs entsprechen denen der gesetzlichen Versicherung. Jede PKV-Gesellschaft muss einen solchen Tarif anbieten. Die Versicherungsprämie darf den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung von derzeit 570 Euro im Monat nicht überschreiten. Vor allem Kleinselbständigen, die bisher weder im gesetzlichen noch im privaten System versichert waren, soll der Basistarif helfen.

Doch die Verbraucherzentrale Sachsen berichtet von einem 55-Jährigen aus Zwickau, der seit 2006 ohne Krankenversicherungsschutz lebt. Er will nun zurück in die Private und fragte bei mehreren Gesellschaften an. "Bis Mitte Januar ist es ihm nicht ansatzweise gelungen, sich zu versichern", sagt Hoffmann. Mit verschiedenen Ausreden hätten die Unternehmen ihn abgewimmelt - unter anderem hieß es, die Tarifinformationen lägen noch nicht vor. Oder ein Rückruf wurde versprochen, erfolgte aber nicht. Ähnliche Erfahrungen machten nach Angaben der Verbraucherzentrale Interessenten aus Torgau, Leipzig und Dresden. Auch bei den Verbraucherzentralen Hamburg, Thüringen und Rheinland-Pfalz liegen erste Beschwerden vor.

Verbraucherschützerin Hoffmann macht das geringe Interesse der PKV-Unternehmen am Basistarif dafür verantwortlich. Laut Gesetz müssen die PKV-Unternehmen Menschen, die bisher nicht versichert waren, ohne Rücksicht auf Vorerkrankungen aufnehmen und dürfen diesbezüglich auch keine Risikozuschläge erheben. Das hebelt das bisherige System der privaten Krankenversicherung im Grundsatz aus und verursacht bei den Gesellschaften nach Darstellung des PKV-Verbandes hohe Kosten. 30 Unternehmen der Branche haben deshalb bereits Verfassungsbeschwerde gegen die neuen Regeln eingelegt.

"Wer abgewimmelt wird, sollte hartnäckig bleiben", rät Verbraucherschützerin Hoffmann - immerhin bestehe eine gesetzliche Versicherungspflicht. "Im Zweifelsfall muss man die Anfrage an den Versicherer schriftlich einreichen, als Einschreiben mit Rückschein", ergänzt Charlotte Henkel von der Verbraucherzentrale Hamburg. Wer dennoch nicht weiterkommt, sollte die Versicherungsaufsicht bei der Bafin , der Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht, einschalten. Infos: 01805/122 346.

Spätestens im Krankenhaus kommt es heraus, wenn jemand nicht krankenversichert ist. Gerade Kleinselbständige sind bislang oft nicht versichert. Ein Basistarif soll das jetzt ändern. Foto: ddp

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Reden wir über Geld mit Urs Widmer

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Mieterbund: Heizen 2008 drastisch teurer

Berlin - Die Bundesbürger müssen sich wegen der stark gestiegenen Energiepreise im Jahr 2008 und wegen des kälteren Winters auf eine deutlich höhere Heizkostenabrechnung einstellen als im Jahr zuvor. Mieter müssten deshalb mit hohen Nachzahlungen rechnen, sagte der Direktor des Deutschen Mieterbundes (DMB), Lukas Siebenkotten, bei der Vorstellung des neuen bundesweiten Heizspiegels.

Die Erhebung zu den Heizkosten basiert auf bundesweit erhobenen Daten von 63 000 Wohngebäuden mit Zentralheizung. Mieter und Eigentümer können die Zahlen ihrer aktuellen Heizkostenabrechnung des Jahres 2008 mit den Werten des Heizspiegels vergleichen und so ihr Gebäude einstufen. Der Heizspiegel bewertet den Energieverbrauch und die Heizkosten von Wohngebäuden in vier Klassen und unterscheidet zwischen Erdgas, Heizöl und Fernwärme.

Der aktuelle Spiegel weist aus, dass 2007 die Heizkosten für Mieter bei mit Erdgas beheizten Wohnungen durchschnittlich um 5,6 Prozent gesunken sind, bei Heizöl um 4,9 Prozent, bei Fernwärme um 3,2 Prozent. Der Heizenergieverbrauch ging sogar um rund sieben Prozent zurück. Ursachen dafür waren deutlich sparsameres Heizverhalten der Verbraucher, der milde Winter 2007 mit höheren Durchschnittstemperaturen und relativ stabile Energiepreise. Die Freude über diese Zahlen sei aber nur von kurzer Dauer. "2008 wird drastisch teurer", warnte Siebenkotten. AFP

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Wirbel um Interview mit Skandalhändler Kerviel

Paris - Der ehemalige Händler der Société Générale, Jérôme Kerviel, ist am Donnerstag offenbar das letzte Mal von den Untersuchungsrichtern in Paris vernommen worden. Die Beweisaufnahme soll damit endgültig beendet sein. Am Donnerstagmorgen erschien in der Boulevard-Zeitung Le Parisien eine lange Sammlung von Kerviel-Zitaten, die das Surrogat von sechs Gesprächen sein soll. Kerviel dementierte im Radio, dem Parisien jemals ein Interview gegeben zu haben. Die Zeitung blieb bei ihrer Version.

In dem Blatt wirft Kerviel den Untersuchungsrichtern Parteilichkeit vor: "Es ist so, als ob die Ermittlungen von der Société Générale gesponsert worden sind." Eine ungewöhnliche Aussage in einem schwebenden Verfahren. Überhaupt schlägt Kerviel in dem Blatt einen mitunter aggressiven Ton an. Inhaltlich bleibt er aber bei seinen Aussagen: Alle Kollegen hätten von seinen Spekulationen gewusst. Er sei eine wahre "Geldmaschine" für die Bank gewesen, aber ein "Sozialhilfe-Empfänger unter den Händlern".

Nicht zitiert wird er mit der Aussage, er habe gegenüber den Ermittlern eingestanden, dass sein Handelslimit bei 125 Millionen Euro lag. Kerviel handelte am Schluß mit 50 Milliarden Euro. Am Ende seines Prozesses drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe. kläs

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"Manche Manager sprechen wie Faschisten"

Der Schweizer Autor Urs Widmer über die Sprache der Wirtschaftselite, wie er Banker zum Weinen bringt und warum der Crash von 1929 sein Leben bis heute prägt

Wer zu Urs Widmer, 70, vordringen will, muss länger suchen. Sein Häuschen liegt versteckt zwischen prachtvollen Gründerzeithäusern in der Zürcher Innenstadt. Vor der Eingangstür wuchern schneebedeckte Büsche, die Besucher zum Bücken zwingen. Hier schreibt Widmer seine Bücher auf einer hässlichen elektrischen Schreibmaschine. Heute schreibt er nicht. Heute spricht er über das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück.

SZ: UrsWidmer, reden wir über Geld.

Urs Widmer: Ja, das Geld. Habe ich welches, kümmert es mich nicht sonderlich. Habe ich aber keins, rotiere ich wild herum. Als Kind wusste ich nie, waren wir reich oder arm. Wir lebten mit Bauhaus-Möbeln, aber meine Mutter redete sich und uns ein, wir seien am Verlumpen. Der Crash von 1929 ist in unserer Familiengeschichte präsent geblieben.

SZ: Wie das?

Widmer: Der Crash hat meinen Großvater getroffen. Er war gerade ein reicher Mann geworden - Villa am Rheinufer -, und schon war er wieder arm.

SZ: Was machte Ihr Großvater?

Widmer: Er wuchs mausarm auf, in Norditalien, studierte Chemie und fing bei einer kleinen Klitsche an. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Klitsche eine große Firma geworden, und mein Großvater einer ihrer Vizedirektoren. Er hatte eines der ersten Autos in Basel, einen Fiat, den er selber in Turin abholte.

SZ: Woran ist er gestorben?

Widmer: Er hat sich umgebracht.

SZ: Wegen des Crashs?

Widmer: Weiß ich nicht. Bald danach jedenfalls.

SZ: Und Ihre Mutter lebte stets mit der Angst vor dem plötzlichen Verarmen?

Widmer: (zögert) Ja, tat sie wohl. Völlig unbegründet: Mein Vater war Gymnasiallehrer und hatte einen redlichen Beamtenlohn. Ich habe die florierende Geld-Neurose meiner Eltern - Türenschlagen und Tränen - nicht geerbt. Das erstaunt mich selbst am allermeisten. Ich habe kein Chaos in meinen Geldgeschäften. Ich mache aber auch keine.

SZ: Noch nie?

Widmer: Ich habe zweimal in meinem Leben Aktien besessen. Zuerst die Aktien meiner Mutter, die ich punktgenau an jenem Tag im Oktober 1987 verkaufte, da die Kurse so tief abstürzten wie erst heute wieder. Das zweite Mal war's ein Erbe meines Cousins. Die verkaufte ich beim Höchststand 2006. Beide Male Zufälle. Aber ein Fall von ausgleichender Gerechtigkeit.

SZ: Gab es Zeiten, als Sie wenig Geld hatten?

Widmer: O ja. In den ersten Jahren nach 1969. Da hatte ich nämlich meinen Brotberuf aufgegeben und beschlossen, vom Dichten zu leben. Meine Frau verdiente auch noch kein Geld. Komischerweise erinnere ich mich nicht, dass wir irgendeine Not hatten.

SZ: Nicht einmal Geldnot?

Widmer: Wir flogen auf den Flügeln des Optimismus.

SZ: War es die beste Zeit?

Widmer: Eigentlich ja. (Überlegt.) Ja. Ich war grad 30, voll im Schwung, hatte eine entzückende Frau, war weg aus meiner Heimatstadt, war Schriftsteller geworden - ja, das war wohl so was wie die blühendste Zeit.

SZ: Wie entdeckten Sie das Thema Geld für Ihre Theaterstücke?

Widmer: Geld hat mit Macht zu tun, und Macht ist ein Kernthema des Theaters. Als wir 1996 "Top Dogs" machten, habe ich mich ins Thema verbissen.

SZ: Warum?

Widmer: Wir wollten ein Stück über Ökonomie machen, denn so was gab's noch gar nicht. Damals war die Arbeitslosigkeit der höheren Etagen ein neues Phänomen. Rein theatralisch gesehen ist es viel spannender zu sehen, wie der König stürzt, als wenn der Stallknecht zum 1. 1. gehängt wird.

SZ: Und wie haben Sie sich in die Bankenwelt eingearbeitet?

Widmer: Ich habe mich kundig gemacht. Mit entlassenen Managern gesprochen, mit vielen.

SZ: Die haben offen mit Ihnen gesprochen?

Widmer: Ja. Die haben mir die verrücktesten Geschichten erzählt. Da hatte sich einer, just vor seiner Entlassung, einen Porsche gekauft. Der stand nun in der Garage, mit 56 Kilometern auf dem Tacho. Der Mann setzte sich jeden Tag hinein, startete den Motor und trat aufs Gas. Brrrummmmm. Er ist nie aus der Garage hinausgefahren.

SZ: Warum gibt es kaum Theaterstücke über Wirtschaft?

Widmer: Weil das Theater von Individuen handelt, von einzelnen Menschen mit ihrer Psychologie. In der Ökonomie aber sind die Protagonisten austauschbar. Einer ist wie der andere. CEOs machen alle die gleichen Scherze und haben die gleichen Hobbys. Auch die rituelle Verkleidung ist bei allen gleich, nur Kardinäle sind noch komischer angezogen. Machen Sie mal mit braunen Schuhen eine Bankkarriere (lacht).

SZ: Die Credit Suisse hat ihr eigenes Theaterstück "Bankgeheimnisse" unterstützt. Sie leben vom Geld derer, die Sie kritisieren.

Widmer: Ich habe mein ganzes Leben nie um eine einzige Subvention angesucht. Aber das Theater hat damals von der Credit Suisse Geld bekommen. War dann auch ein schlechtes Stück.

SZ: Das auch noch.

Widmer: Ja. Ganz mein Fehler.

SZ: Saßen Banker von Credit Suisse im Publikum?

Widmer: Vielleicht. Bei "Top Dogs" jedenfalls haben mehrere Unternehmen ganze Vorstellungen gekauft und ihre Mitarbeiter reingeschickt. Vielleicht wollten sie denen ihre Zukunft zeigen (lacht). Es gab Manager, die sind tränenüberströmt aus dem Stück rausgelaufen.

SZ: Sie haben Manager zum Weinen gebracht.

Widmer: Erkenntnis wäre noch schöner gewesen. Allerdings will ich nicht einer sein, der mit erhobenem Zeigefinger dasitzt und andere belehrt.

SZ: In Ihren Stücken gibt es keine Lösungsvorschläge. Sie machen es sich einfach.

Widmer: Ein Stück bietet nie eine fixfertige Lösung an.

SZ: Warum?

Widmer: Weil es Fragen stellt. Und weil es ein Spiel ist. Weil es die Ambivalenzen sichtbar macht, die in jedem Menschen leben.

SZ: Was machen Sie persönlich mit Ihrem Geld?

Widmer: Ich habe es just eben von der UBS zur Zürcher Kantonalbank transferiert. Vom Teufel zum Beelzebub, kann sein (lacht). Im Übrigen fürchte ich mich weniger vor einem Crash der Bank als davor, dass uns die Inflation unser liebes Geld wegfrisst.

SZ: Also doch Ängste wie Ihre Mutter?

Widmer: Nein. Wenn ich Ängste hatte und habe, sind die von einem andern Kaliber. Ängste mit Großbuchstaben, sozusagen. Sie haben mich zum Schriftsteller gemacht. Meine Literatur war zu einem bedeutsamen Teil Angstbewältigung. Und ich habe mir mit einer Psychoanalyse geholfen. Heute haben mich die Ängste mehr oder minder verlassen.

SZ: Sie als Moralist müssen es wissen: Gibt es Hoffnung, dass alles besser wird?

Widmer: "Alles" ist wohl ein bisschen viel verlangt. Was die Ökonomie betrifft: Wenn wir es den Wahnsinnigen, die das derzeitige Desaster herbeigeführt haben, überlassen, ihr eigenes Wahnsystem zu stabilisieren, führt das in die nächste Katastrophe. Das Geld, das an der Börse gehandelt wird, muss wieder, wie einst, direkt auf real produzierte Waren bezogen sein. Alles andere, der Zocker- und Kasinoteil, muss ersatzlos gestrichen werden. Das können nur Leute von außen tun. Natürlich ist jetzt die Politik gefordert, und sie muss mehr tun, als einfach unser Steuergeld zu den Banken hinüberzuschieben. Mir gehört ja inzwischen die halbe UBS!

SZ: Und uns die Commerzbank.

Widmer: Asylantenwohnungen sollten wir daraus machen (lacht).

SZ: Als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging, sprachen Banker von einem Blutbad und Massaker. Was bedeuten diese drastischen Worte?

Widmer: Die Sprache der Ökonomie mag ein militärisches Vokabular. Sie ist auf Eindeutigkeit aus und verleugnet alle Widersprüchlichkeit. Sie errichtet eine Art Potemkinsches Sprach-Dorf aus lauter Euphemismen. Und sie will eine Sprache der Sieger sein. Wer sie spricht, gibt zu erkennen, dass auch er zu diesen Siegern gehören will.

SZ: Woher kommt diese Sprache?

Widmer: So richtig in Schwung kam sie in der Zeit Reagans und Frau Thatchers. Es ist eine Sprache, die die Gefühle, die sich auch im Business nicht ganz ausschalten lassen, wenigstens in den Griff kriegen will. Wer den neoliberalen Jargon spricht, will den Schwächeren ausschalten.

SZ: Wie bei Darwin?

Widmer: So was. Nur dass Menschen keine Schildkröten oder Salate sind. Manche Manager sprechen wie Faschisten. Das müssten sie spüren. Es müsste sie tief erschrecken.

SZ: Ist denn die Sprache der Banker immer brutaler geworden?

Widmer: Wer triumphal von Sieg zu Sieg eilt, lässt seiner Sprache freieren Lauf. "Lead, follow or get out of the way": Das haben wir vor noch nicht allzu langer Zeit aus dem Mund eines der großen Banker gehört.

SZ: Jetzt ist das Modell der Investmentbank gescheitert - mit ihm auch die Sprache der Banker?

Widmer: Die Sprache - diese Nebelwand, hinter der das reale Desaster verschwinden soll - wird jetzt noch mehr benötigt.

SZ: In Ihrem Theaterstück "Top Dogs" kritisierten Sie bereits 1996 die verharmlosende Sprache der Manager . . .

Widmer: Ich habe mich damals auch in die einschlägigen Bars rund um den Paradeplatz gesetzt und den Herren und Damen zugehört. Wenn sie den Feierabend genossen. Oder sich in Herzensangelegenheiten austauschten. Das Befremdliche war, dass sie auch dann keine andere Sprache hatten, auf die sie zurückgreifen konnten. Emotional war das alles doch sehr eng. Wenn du eine reiche Dame heiratest, die dich vergöttert, ist das eine Win-win-Situation.

SZ: Gibt es jetzt die Chance, dies zu ändern?

Widmer: Schön wär's. Nochmals: Die bisherigen Teilnehmer am Spiel werden allein schon deshalb die Spielregeln nicht radikal ändern wollen und können, weil sie andere Regeln gar nicht kennen. Die Lotterie- oder Kasino-Börse muss verschwinden. Natürlich wird sie dadurch massiv kleiner.

SZ: Dann müssen Betriebe zusperren, weil sie keinen Kredit mehr bekommen.

Widmer: Die Schraubenfabrik da vorn an der Ecke, die braucht einen Kredit, und die soll ihn kriegen. Normal investiertes Geld mit einer normalen Rendite. Heute! Die Börsensendungen im Fernsehen sind wie Berichte aus einem Tollhaus. Mit ernster Miene werden die neuesten Lottozahlen verlesen und analysiert - als hätten sie irgendetwas mit unserem normalen Leben zu tun, gar mit unseren Interessen.

SZ: Jetzt wird das Kasino zur Wirklichkeit. Die Konjunktur leidet, das Wachstum bricht ein, die Menschen verlieren ihre Arbeit.

Widmer: Ja. Die virtuelle Welt ist nicht völlig abgekoppelt von der realen. Es leiden die, die mit der Wall-Street-Welt gar nichts zu tun haben. Wetten, dass genau jetzt irgendwo einer von den Haifischen irgendwelche Schrottpapiere kauft, mit denen er in einem Jahr ein Riesengeld zu machen hofft?

Interview: Alexander Mühlauer

und Hannah Wilhelm

Biographie

Urs Widmer wird 1938 in Basel geboren. Er studiert Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach seiner Promotion ist er als Lektor tätig, beim Frankfurter Suhrkamp Verlag bleibt er 17 Jahre. Seitdem arbeitet der Schweizer als Autor. Neben Büchern schreibt er auch Theaterstücke. Sein bekanntestes heißt "Top Dogs", eine Sozialsatire über Top-Manager. Aus entlassenen Führungskräften, den sogenannten Top Dogs, werden darin Underdogs. In einem Outplacement-Center erleben sie selbst, was sie ihren Mitarbeitern angetan haben: wie entwürdigend es ist, plötzlich ohne Job zu leben. Widmer ist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, der gerne ökonomische Themen aufgreift. am

"Ich habe die florierende

Geld-Neurose meiner Eltern

- Türenschlagen und Tränen -

nicht geerbt."

"Börsensendungen sind wie Berichte aus einem Tollhaus. Mit ernster Miene werden

die Lottozahlen verlesen."

Spiegelbild eines Schriftstellers: Urs Widmer, auf der Frankfurter Buchmesse an einer Glasscheibe lehnend. Foto: ddp

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Chinas Wirtschaft wächst langsamer

Peking - Die Konjunkturkrise trifft Südostasiens Wirtschaft immer stärker. Das Wachstum in China verlangsamte sich Ende 2008 deutlich. Im Gesamtjahr war der Anstieg so gering wie seit sieben Jahren nicht mehr, teilte das Statistikamt in Peking mit. In Japan brachen die Exporte im Dezember so stark ein wie noch nie, in Südkorea schrumpfte die Wirtschaft doppelt so kräftig wie erwartet.

Chinas Wirtschaftswachstum verlangsamte sich nach amtlichen Angaben am Jahresende auf 6,8 Prozent - 2,2 Prozentpunkte weniger als zwischen Juli und September. Im Gesamtjahr stieg die Summe aller in China produzierten Waren und Dienstleistungen um neun Prozent. China hatte zuvor fünf Jahre lang zweistellige Wachstumsraten verbucht und ist dadurch an Deutschland vorbei zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt hinter den USA und Japan aufgestiegen.

Viele Ökonomen rechnen damit, dass die chinesische Wirtschaft in diesem Jahr nur noch um rund fünf Prozent zulegt. Dies wäre der langsamste Anstieg seit 1990. Die Regierung peilt ein Wachstum von acht Prozent an und hat bereits ein Konjunkturpaket aufgelegt. Die Ausfuhren Japans fielen im Dezember im Vorjahresvergleich um 35 Prozent und damit deutlich schneller als erwartet. Damit verzeichnete Japan erstmals seit 1980 drei Monate in Folge ein Handelsdefizit. Die Importe rutschten um rund 22 Prozent ab. Auch Südkoreas Wirtschaft ist von der Krise nicht ausgenommen: Asiens viertgrößte Volkswirtschaft schrumpfte Ende 2008 um 5,6 Prozent zum Vorquartal. Reuters

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Strengere Regeln für Managergehälter

Berlin - Die Koalition will Managergehälter strenger regeln. "Wir haben uns auf eine Reihe von Änderungen des Aktiengesetzes und des Handelsgesetzbuchs geeinigt", sagte der Finanzpolitiker Otto Bernhardt (CDU), der gemeinsam mit SPD-Fraktionsvize Joachim Poß die Koalitionsarbeitsgruppe zu Managergehältern leitet.

Zu den Kernpunkten zählt, dass Aktienoptionen nicht mehr bereits nach zwei Jahren, sondern erst nach vier Jahren eingelöst werden können. "Wir wollen das langfristige Denken unterstützen, und nicht das kurzfristige", sagte Bernhardt. In Zukunft soll der gesamte Aufsichtsrat über das Gehalt eines Vorstandsmitglieds entscheiden. Bisher hat sich damit meist nur ein vierköpfiger Ausschuss befasst. Zudem soll durch neue Formulierungen im Aktiengesetz klarer werden, wann ein Gehalt angemessen ist und dass man es unter gewissen Voraussetzungen nachträglich korrigieren kann. Die Koalition will im Gesetz betonen, dass Aufsichtsräte haften, wenn sie einem Vorstand ein unangemessenes Gehalt gewähren. Keine Einigung wurde bei der Frage erzielt, ob Vorstandsgehälter ab einer gewissen Höhe für die Unternehmen nur beschränkt steuerlich absetzbar sein sollen. Ebenso wenig einigte man sich, ob es bei den Haftpflichtversicherungen für Manager einen Selbstbehalt geben soll. Diese Punkte bleiben nun außen vor. Nächsten Donnerstag will die Arbeitsgruppe abschließend beraten. "Ziel ist, das Ganze bis zum 3. Juli parlamentarisch zu verabschieden", sagte Bernhardt. (Kommentare) dku

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Klimaretter essen Sonntagsbraten

Die Deutschen sollten weniger Fleisch essen und damit zusätzlich zum Klimaschutz beitragen. Diesen Rat gab der Chef des Umweltbundesamtes, Andreas Troge, am Donnerstag in der Berliner Zeitung. "Ich empfehle eine Rückkehr zum Sonntagsbraten und eine Orientierung an mediterranen Ernährungsgewohnheiten", sagte Troge (Foto: Mauritius). Das tue nicht nur der Gesundheit gut, sondern nütze auch dem Klima. Nach Berechnungen seines Hauses ist die Landwirtschaft für bis zu 15 Prozent aller Treibhausgasemissionen in Deutschland verantwortlich. Besonders energieintensiv und damit klimaschädlich sei die Fleischproduktion. In Rindermägen entstehe beim Verdauen Methan, bei der Düngung von Böden zudem schädliches Lachgas. Dazu komme der Kohlendioxid-Ausstoß der landwirtschaftlichen Maschinen und die energieaufwendige Herstellung von Mineraldünger. Beim Grünlandumbruch auf Äckern werde schließlich Kohlendioxid freigesetzt. Troge forderte mehr Mittel von Bund und Ländern für klimaschonende Maßnahmen. AP

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Kommentare

Helfer in Not

Das Krisenmanagement des Soffin ist besser als sein Ruf

Von Martin Hesse

Ausgerechnet jetzt. Die Bankenkrise erreicht einen neuen Höhepunkt, weitere Milliardenverluste werden offenbar, in vielen Ländern werden Kreditinstitute verstaatlicht, ständig andere Lösungsansätze diskutiert. Und ausgerechnet in diesem Moment tritt in Deutschland der Chef des Bankenrettungsfonds, Günther Merl, zurück. Das ist ein schlechtes Signal. Man könnte daraus schließen, das deutsche Krisenmanagement habe versagt und ohne den obersten Bankenretter rücke eine Lösung der Probleme in noch weitere Ferne. Doch so bedauerlich Merls Rücktritt auch ist, man sollte ihn nicht überinterpretieren. Es ist der Hilferuf eines Helfers, kein Beleg für ein Scheitern der Rettungsbemühungen.

Der von Merl geleitete Stabilisierungsfonds Soffin hat immerhin sein Minimalziel erreicht, einen Kollaps des deutschen Bankensystems zu verhindern. Doch natürlich ist das zu wenig. Der Fonds sollte außerdem den Geldfluss unter den Banken wieder in Gang bringen, ihre Kapitalbasis stärken und die Vertrauenskrise im Finanzsystem überwinden helfen. All das ist bislang allenfalls im Ansatz gelungen. Doch konnte der Soffin diese Ziele binnen drei Monaten überhaupt erreichen? Nein, zumal sich die Situation der Banken in der Zeit permanent weiter verschlechtert hat. Es liegt aber nicht an Merl oder daran, dass er nicht genug Kompetenzen hatte.

Merls Rücktritt ist Ausdruck einer Reihe von Missverständnissen. Es fängt damit an, dass der frühere Landesbankenchef eben nicht oberster Bankenretter war. In einer staatlichen Institution, die mit Steuergeldern Banken retten soll, müssen Volksvertreter, also Politiker, die Entscheidungen treffen. Und so sieht es das Finanzmarktstabilisierungsgesetz auch vor: Der von Merl geführte Leitungsausschuss schlägt vor, der von Politikern besetzte Lenkungsausschuss entscheidet. In zwei Gremien zu arbeiten, ist dennoch sinnvoll, weil nur der mit Bankexperten besetzte Lenkungsausschuss die Kompetenz hat, die für jede einzelne Bank angemessenen Hilfsinstrumente auszuarbeiten. Die Entscheider im Lenkungsausschuss sollten nicht in jede Stufe dieses Prozesses involviert sein. Hier offenbart sich ein Grundproblem in dieser Krise: Die Politik braucht die Expertise der Banken, um ihnen aus der Patsche zu helfen. Zugleich muss sie genauestens prüfen, ob die Banker ihnen nicht Rezepte einflüstern, die den Steuerzahler über Gebühr belasten und Kreditinstitute aus der Verantwortung entlassen. Merl hat seinen eigenen Einfluss womöglich überschätzt. Der Politik kann man vorwerfen, dass sie ihm zu wenig Rückendeckung gegeben hat gegen die Begehrlichkeiten aus dem Bankenlager.

Merls Rücktritt steht aber auch für den Frust aller Rettungshelfer, die hofften, durch das entschlossene Handeln im Herbst könnte die Krise rasch überwunden werden. Die Sehnsucht nach einer schnellen Komplettlösung ist groß. Es gibt sie aber nicht. Eine Verstaatlichung aller Großbanken würde nicht helfen, weil der Staat Banken nicht besser führt als private Manager. Die meisten Banken, die beim Soffin vorstellig wurden, sind ja bereits staatlich. Auch eine große Bad Bank, in der alle Geldhäuser ihre faulen Kredite abladen können, ist kein Ausweg. Schon Soffin leidet darunter, dass es kaum genug qualifiziertes und integres Personal gibt, um die Behörde erfolgreich zu leiten. Woher sollen all die Experten kommen, die hunderte Milliarden Euro an faulen Krediten bewerten, für die es keinen Markt gibt?

Die Krise wird mit vielen, kleineren Maßnahmen bewältigt werden müssen. Von einzelnen Verstaatlichungen über Garantien bis hin zu staatlich unterstützten Bad-Bank-Lösungen auf der Ebene einzelner Institute. Der Staat darf den Banken ihre Risiken und Verluste nicht abnehmen, er sollte ihnen nur helfen, die Probleme einige Jahre auszuhalten. Diesen Weg beschreiten Soffin und Bund bereits. Weil die Krise immer neue Probleme aufwirft, müssen die Instrumente zu ihrer Bewältigung ständig überprüft und gelegentlich modifiziert werden. Auch in allen anderen Ländern wechseln sich Versuch und Irrtum ab. Das ist nicht schön, aber es ist das Gebot der Krise.

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Folgenschwere Krise

Der Chipkonzern Qimonda mit seinen wichtigen Standorten in Dresden, München und Porto in Portugal leidet seit langem unter dem dramatischen Preisverfall bei Speicherchips und der Konkurrenz aus Fernost. Eine Insolvenz von Qimonda könnte gravierende Folgen für den großen sächsischen Halbleiter-Standort "Silicon Saxony" mit etwa 40 000 Beschäftigten haben. Bis zum Frühjahr sollen im Werk Dresden von rund 3200 Stellen bereits 950 abgebaut werden. Im Werk München sind 600 Stellen betroffen. mbal

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Millionen für Manager

Die neuen Regeln unterstreichen die Verantwortung des Aufsichtsrats

Von Daniela Kuhr

Wenn es um die Gehälter von Managern geht, kochen die Emotionen schnell hoch. Die einen halten sie für völlig überzogen. Die anderen tun das als bloße Neiddebatte ab. Beides wird in dieser Schlichtheit der Sache nicht gerecht. Doch es war in jedem Fall von Anfang an keine leichte Aufgabe, als sich im vergangenen Jahr eine Arbeitsgruppe der großen Koalition daran machte, neue Regeln für die Bezüge von Vorständen aufzustellen. Jetzt haben sie sich geeinigt. Das Ergebnis wird die einen erleichtern, die anderen jedoch enttäuschen. Denn eines ist klar: Gehälter in mehrfacher Millionenhöhe wird es auch in Zukunft geben.

Die größte Veränderung ist noch die, dass in Zukunft der gesamte Aufsichtsrat über die Bezüge der Vorstandsmitglieder entscheiden muss. Bislang war damit meist nur ein vierköpfiger Ausschuss befasst. Zudem sollen Aktienoptionen erst nach vier Jahren ausgeübt werden können. Ansonsten beschränken sich die neuen Regeln darauf, hier ein bisschen etwas klarzustellen und dort ein wenig zu konkretisieren. Tiefe Einschnitte sind nicht geplant - und das ist auch richtig so.

Zu den Auswüchsen der Vergangenheit ist es nicht etwa gekommen, weil die deutschen Gesetze zu lasch waren, sondern weil sie nicht konsequent angewandt wurden. Schon bislang durfte das Gehalt eines Vorstands nicht übertrieben ausfallen, sondern hatte angemessen zu sein. Und schon bislang musste der Aufsichtsrat das Geld im Zweifelsfall vom Vorstand zurückverlangen. Nur: In der Praxis fand das so gut wie nicht statt. Das muss sich ändern. Der Aufsichtsrat muss sich seiner Verantwortung bewusst werden, notfalls mit Hilfe der Gerichte. Wenn die neuen Regeln dazu beitragen, haben sie schon viel gebracht. (Seite 19)

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Vertrauen verspielt

In existenzieller Not schockiert das Qimonda-Management seine Helfer

Von Markus Balser

Eigentlich wollte Sachsens Wirtschaftsminister Thomas Jurk am Donnerstag im Landtag über den letzten Stand zur Rettung des Speicherchipherstellers Qimonda in einer Fragestunde berichten. Doch am Morgen holte Jurk das Thema kurzerhand von der Tagesordnung. Welche Antworten sollte er schon geben auf die Existenzkrise des bedrohten deutschen Chipherstellers, die selbst für Insider mehr und mehr zum undurchschaubaren Rätsel und für die Politik zum Fass ohne Boden wird?

Mit der abrupten Offenbarung, dass der Konzern zum Überleben statt 300 Millionen Euro nun stattliche 600 Millionen Euro braucht, verprellte das Management über Nacht das Vertrauen derer, die seine Existenz retten sollten. Die Begründung für die Millionenforderung ist dreist. Der angeführte Preisverfall ist seit Wochen im Gange. Seine Folgen dürften den Führungskräften in München schon lange vor den Gesprächen im Bundeskanzleramt über das geplante Hilfspaket bekannt gewesen sein.

Wie schlecht es wirklich um den Konzern bestellt ist, daraus macht Qimonda seit Wochen ein Geheimnis. Seit Anfang Dezember verzögert der an der New Yorker Börse notierte Konzern die längst fällige Veröffentlichung seiner jüngsten Quartalszahlen. Aktionäre und Mitarbeiter klagen zu Recht über mangelnde Transparenz. Halbwegs im Bilde über die Finanznot des Unternehmens sind wohl nur eine Handvoll Wirtschaftsprüfer und der Vorstand. Die Fronten im Existenzkampf des einstigen ostdeutschen Vorzeigekonzerns verschärft Qimondas Geheimniskrämerei zu denkbar ungünstiger Zeit. In Berlin und Dresden wächst die Angst, dass der Leidensweg von Qimonda im Abgrund endet.

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Rettungspaket droht zu scheitern

Qimonda braucht noch mehr Geld

Infineon-Tochter fehlen im Überlebenskampf weitere 300 Millionen Euro. Politiker überrumpelt

Von Markus Balser und Christiane Kohl

München/Dresden - Die Infineon-Tochter Qimonda kämpft mit größerer Finanznot als bislang bekannt. Wegen eines neuen Millionenlochs habe der Chipkonzern seinen Kapitalbedarf in den Rettungsgesprächen überraschend verdoppelt, verlautete aus Regierungskreisen. Das in wochenlangen Verhandlungen geschnürte Hilfspaket droht deshalb zu scheitern.

Bereits am Montagabend hatten sich Mitglieder der Konzernspitze beider Unternehmen nach Informationen der Süddeutschen Zeitung in Berlin mit Vertretern der Bundesregierung und des Freistaats Sachsen zu weiteren Gesprächen im Kanzleramt getroffen. Ziel sei es gewesen, letzte Details des geplanten 325-Millionen-Pakets festzulegen. Völlig überraschend habe der anwesende Qimonda-Manager dabei eine neue Deckungslücke in gleicher Höhe offenbart und damit den Finanzbedarf verdoppelt. Nach Berichten von Teilnehmern waren nicht nur die Vertreter aus Politik und Verwaltung überrascht, auch der anwesende Infineon-Repräsentant habe "etwas geschluckt".

Dem Chipkonzern mit Milliardenumsatz und weltweit 13 000 Beschäftigten steht damit das Wasser bis zum Hals. Denn dass die öffentlichen Kassen auch diese Deckungslücke füllen können, gilt als weitgehend ausgeschlossen. Sowohl der Freistaat als auch die Verhandlungspartner in Berlin lehnen offenbar weitere Hilfen ab. Dies sei auch in einer neuerlichen Runde im Kanzleramt klargeworden, die am Mittwoch tagte. Dort war man sich offenbar einig, dass "das neue Loch nicht zu stopfen ist". Die Hoffnungen auf eine Rettung des angeschlagenen Speicherchipherstellers verringerten sich stündlich, berichten Insider. In Sachsen machten Regierungsvertreter klar, dass der Freistaat nicht über das bereits bekannte Hilfspaket hinausgehen werde. Auch die Konzernmutter Infineon, die 77 Prozent der Anteile an Qimonda hält, will ihren Beitrag nicht aufstocken.

Derweil drängt die Zeit. Die drohende Insolvenz des Konzerns sei eher eine Frage von Tagen als von Wochen, hieß es im Management. Als Grund für das neue Millionenloch nannte Qimonda den Angaben zufolge den Preisverfall auf dem Markt für Speicherchips. Er sei selbst unter jenen Betrag gesunken, den man bei der Zusammenstellung des seit Dezember verhandelten Rettungskonzepts für das Hightech-Unternehmen als "Worst-case"-Szenario angenommen hatte. Allein im Dezember waren Preise für Chips, wie sie in Computern, Handys oder Digitalkameras Einsatz finden, um mehr als 60 Prozent eingebrochen.

Die Führung von Qimonda versuche nun, in hektischen Gesprächen frisches Geld aufzutreiben. So wurden am Donnerstag offenbar Verhandlungen mit der portugiesischen Regierung sowie mit Bankenvertretern geführt, um die Möglichkeit weiterer Bürgschaften auszuloten. Der Konzern wollte am Donnerstag weder den Finanzbedarf noch Angaben über neue Rettungsgespräche kommentieren. Anfang Dezember hatte der Konzern vor der möglichen Insolvenz bis Ende März gewarnt, sollte eine Finanzspritze scheitern.

Erst kurz vor Weihnachten hatten Sachsen, Portugal und der Mutterkonzern Infineon ein Rettungspaket über 325 Millionen Euro zugesagt. Sachsen will sich mit 150 Millionen Euro über einen Betriebsmittelkredit beteiligen, Infineon mit 75 Millionen Euro und Portugal als einer der Qimonda-Standorte mit 100 Millionen Euro. Als Voraussetzung für die Zahlung des Betriebsmittelkredits hatte die Landesregierung in Dresden, wo der Speicherchiphersteller rund 3000 Mitarbeiter beschäftigt, die exakte Einhaltung eines in den vergangenen Wochen erstellten Businessplans verlangt. Zudem pocht Sachsen auf eine Bestandsgarantie des Unternehmens von bis zu zwei Jahren. Dies lehne Infineon bislang ab, hieß es weiter.

Am Donnerstag schaltete sich auch die bayerische Landesregierung in die Verhandlungen ein. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sei über die schwierige Situation von Qimonda informiert, erklärte ein Sprecher der Staatskanzlei in München. Er habe Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) gebeten, alle Möglichkeiten auszuloten, Qimonda zu helfen. Das Management von Qimonda hat derweil bereits eine Anwaltskanzlei beauftragt, die ständig die Zahlen des Unternehmens im Blick haben soll. So will der Vorstand offenbar sicherstellen, dass er sich nicht der Insolvenzverschleppung schuldig macht. (Kommentare)

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Jeder Bank ihre Giftmülldeponie

Die Regierung überlegt, den Geldhäusern die Auslagerung "toxischer" Wertpapiere zu erlauben

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Die Bundesregierung denkt darüber nach, den krisengeschüttelten deutschen Banken die Auslagerung fauler Wertpapiere in Sonderfonds zu ermöglichen. Das Konzept ist eine Alternative zur bisher diskutierten Möglichkeit, die Risikopapiere der gesamten Branche in einer einzigen sogenannten "Bad Bank" zu bündeln. In Regierungskreisen hieß es, die Institute hätten mit sehr unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Deshalb könne es sinnvoll sein, kleine, auf die einzelnen Unternehmen zugeschnittene Bad Banks zu gründen. Diese könnten dann Hilfen des schon bestehenden staatlichen Rettungsfonds Soffin erhalten, ohne dass die Geldinstitute aus ihrer Mitverantwortung entlassen würden. Entschieden sei aber noch nichts.

Je nach Zählweise sitzen die Finanzhäuser noch auf "toxischen" Wertpapieren im Nominalwert von bis zu einer Billion Euro. Da diese Papiere derzeit praktisch unverkäuflich sind, müssen die Banken Quartal für Quartal Milliardenabschreibungen vornehmen. Die dadurch in Gang gesetzte Abwärtsspirale konnte auch durch die Gründung des Soffin bisher nicht gestoppt werden. Der Soffin kann für Kredite der Banken untereinander bürgen und Eigenkapital zuschießen. Er darf auch toxische Wertpapiere aufkaufen, hat das aber bisher nicht getan, weil die Finanzinstitute die gewählte Konstruktion für ungeeignet halten. Sie fordern deshalb eine Bad Bank.

Nach Angaben aus den Kreisen lehnen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) eine generelle Verstaatlichung von Wertpapierverlusten aber weiterhin strikt ab. "Würden wir eine Bad Bank gründen, würde das beide Koalitionspartner zerreißen: die Union, weil sie das ordnungspolitisch nicht mit ihren Grundprinzipien in Einklang bringen könnte, und die SPD, weil das sozialpolitisch nicht vermittelbar wäre", hieß es. Daher sei auch die jüngst kolportierte Idee, den Banken ihre Papiere gegen eine sogenannte Ausgleichsforderung abzunehmen, Unsinn. Zwar habe sich dieses Instrument bei der Sanierung der DDR-Banken bewährt. "Damals mussten die Vermögenswerte aber nur ein einziges Mal bewertet werden - und nicht jede Woche neu."

Kritik, der gesamte Bankenrettungsschirm der Bundesregierung einschließlich des Soffin sei falsch konzipiert, wurde in den Kreisen zurückgewiesen. Auch nach der Rücktrittsankündigung von Soffin-Chef Günther Merl gebe es keinen Grund, die Strukturen des Sonderfonds zu verändern. Merl steht dem Soffin-Leitungsausschuss vor, der das operative Geschäft führt. Er fühlte sich jedoch offenkundig durch das zweite Führungsgremium, den Lenkungsausschuss, gegängelt. Ihm gehören Spitzenbeamte der Regierung sowie der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an. Alle grundlegenden Entscheidungen, die wie die Teilverstaatlichung der Commerzbank auch öffentlich Furore machten, fielen dort. "Merl wollte einerseits mehr Einfluss, er wollte es aber zugleich den Politikern überlassen, für Entscheidungen des Fonds in der Öffentlichkeit den Kopf hinzuhalten", sagte ein Insider. "Es war zudem schon bei der Gründung des Soffin völlig klar, dass die Politik die letzte Instanz ist, wenn es um den Einsatz von Milliarden an Steuerngeldern geht."

Wer Merls Nachfolger wird, blieb zunächst offen. Zwar gibt es einen Kandidaten, dieser hat sich dem Vernehmen nach aber Bedenkzeit erbeten. Ohnehin ist es schwierig, geeignete Bewerber zu finden, wie die wochenlange Suche nach einem Ersatz für den ebenfalls ausgeschiedenen Karlheinz Bentele zeigt. Drittes Mitglied des Leitungsausschusses ist der frühere baden-württembergische Finanzminister Gerhard Stratthaus, der nach eigenem Bekunden aber nicht den Vorsitz übernehmen will. (Kommentare)

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INHALT

PERSONALIEN

Londons Strippenzieher

Peter Mandelson muss nun die britische Industrie retten. Seite 18

POLITIK UND MARKT

Das Auto und die Politik

Der Etat für die Abwrackprämie reicht möglicherweise nicht. Seite 19

UNTERNEHMEN

Ende der Party

Die Finanzkrise trifft jetzt auch die verwöhnten Luxuskonzerne. Seite 20

GELD

BayernLB von innen

Die Mitarbeiter warten gespannt auf Neuigkeiten zum Jobabbau. Seite 22

Kursteil Seiten 23 und 24

Fondsseiten Seiten 24 und 25

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Kurse des Tages

Der Technologiekonzern Apple hat die Wirtschaftskrise bislang scheinbar ohne größere Probleme weggesteckt. Der iPod-Hersteller verzeichnete im vergangenen Quartal einen unerwartet starken Gewinnanstieg. Die Aktie von Apple kletterte zeitweise um sechs Prozent auf 87,80 Dollar, nachdem das Unternehmen Rekordzahlen vorgelegt hatte. (Seite 21)

In Mailand sind Fiat-Papiere am Donnerstag um bis zu 13,2 Prozent auf 3,86 Euro eingebrochen. Der Gewinn des italienischen Autobauers Fiat war wegen

der weltweiten Absatzkrise um fast 70 Prozent zurückgegangen. Fiat hatte am Dienstag angekündigt, bei dem US-Hersteller Chrysler einzusteigen und Kleinwagen in den USA zu bauen.(Seite 21)

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"Landesbanken bedrohen System"

IWF fordert Deutschland dazu auf, den Finanzsektor umzubauen

Von Nikolaus Piper

New York - Als Konsequenz aus der Finanzkrise hat der Internationale Währungsfonds (IWF) Deutschland zur umfassenden Reform seines Finanzsektors aufgefordert. Insbesondere sollen die Landesbanken restrukturiert, die Einlagensicherung für Bankkunden verbessert und die Bankenaufsicht vereinheitlicht werden. In ihrem Deutschlandbericht sagen die Experten des IWF einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 2,5 Prozent voraus, 2010 sei allenfalls mit einer "langsamen Erholung" zu rechnen. Offensichtlich hat sich die Einschätzung des IWF über die deutsche Konjunktur innerhalb weniger Wochen dramatisch verschlechtert. In der Langfassung des Berichts vom 9. Dezember 2008 ist noch von einem Wachstumseinbruch von lediglich 0,8 Prozent die Rede. Nach den Statuten des IWF beurteilen Experten-Teams des Fonds in regelmäßigen Abständen die Wirtschafts- und Finanzpolitik jedes Mitgliedslands.

Die Finanzkrise habe die "Verwundbarkeit des deutschen Finanzsystems deutlich gemacht", schreiben die Experten. Diese könne durch die Rezession noch erhöht werden. Sie begrüßen die bisherige Krisenpolitik der Bundesrepublik, fordern aber noch weitere Schritte, um die Gesundung des Finanzsektors voranzutreiben. So sollten die Behörden "proaktiv" die Landesbanken gesundschrumpfen; diese bedrohten die Stabilität des gesamten Systems. Die Experten legen nahe, die Landesbanken in "gute und "schlechte" aufzuteilen und die guten so umzubauen, dass sie privates Kapital aufnehmen können. Das Management des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung solle direkt mit den Landesregierungen zusammenarbeiten, um die bisherige Reformblockade zu durchbrechen, heißt es in dem Bericht.

Darüber hinaus schlägt der IWF vor, die bisher getrennten Einlagensicherungsfonds von privaten Banken, Genossenschaften und Sparkassen zu vereinheitlichen und besser mit Kapital auszustatten. Der Schutz, den diese Fonds bieten, sei im internationalen Vergleich niedrig.

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WIRTSCHAFT

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Junghans-Uhren in neuen Händen

Unternehmer Hans-Jochem Steim und Sohn kaufen Traditionsfirma

Frankfurt - Insolvenzverwalter Georg Bernsau hat neue Eigentümer für den traditionsreichen, zuletzt aber zahlungsunfähigen Uhrenhersteller Junghans in Schramberg gefunden. Anfang Februar übernehmen der Schramberger Unternehmer Hans-Jochem Steim und sein Sohn Hannes Steim als private Investoren das Unternehmen. Junghans war bislang Tochter der angeschlagenen Egana-Gruppe in Hongkong.

Der 30 Jahre alte Hannes Steim ist Chef der Carl Haas GmbH, die seit 2007 zum Firmenverbund Kern-Liebers gehört, deren geschäftsführender Gesellschafter sein Vater ist. Kern-Liebers ist ein Zulieferer für die Auto-, Textil- und Konsumgüterindustrie. Mit 5400 Beschäftigten, darunter 1300 am Stammsitz in Schramberg, erzielt diese Gruppe einen Umsatz von 469 Millionen Euro.

Vater und Sohn Steim betonen, ihre Beteiligungen von zwei Dritteln bzw. ein Drittel an Junghans seien privater Natur. Sie übernehmen den Uhrenhersteller schuldenfrei. Über den Kaufpreis machen weder sie noch der Insolvenzverwalter Angaben. Von den zuletzt 115 Junghans-Beschäftigten bleiben 85 übrig. Die restlichen 30 Leute müssen in eine Transfergesellschaft wechseln. Den Steims ist klar, dass sie bei Junghans Mittel zuschießen müssen, damit die Firma eine Zukunft hat. Geld muss offenbar unter anderem in Werbung und die Entwicklung neuer Produkte fließen. Wie viel Mittel sie bereitstellen werden, will Hannes Steim nicht sagen.

Laut Bernsau interessierten sich insgesamt 20 Investoren für die Firma Junghans, deren Umsatz zuletzt bei unter 50 Millionen Euro lag. Ein Sprecher der IG Metall begrüßte das Engagement der Steims "aus regionaler Verbundenheit". Dies sei "nicht die schlechteste Lösung", hieß es. Der Stellenabbau gefalle ihm aber nicht.haz.

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Teurer Gasstreit

Eon Ruhrgas prüft Regressforderungen gegenüber Russland

Von Hans-Willy Bein

Essen - Der größte deutsche Gasimporteur Eon Ruhrgas prüft nach dem tagelangen Lieferausfall von russischem Gas Schadenersatzforderungen gegen den Gazprom-Konzern. "Wir werden mit Sicherheit mit Gazprom reden, wenn wir ermittelt haben, wie groß unser Schaden ist", kündigte Eon-Ruhrgas-Chef Bernhard Reutersberg in Essen an. Es gebe in den Verträgen klare Regelungen für den Fall eines Lieferstopps. Unter anderem seien Vertragsstrafen festgelegt. Reutersberg warf den Russen vor, Gas gegenüber der Ukraine als Druckmittel eingesetzt zu haben, um wirtschaftliche Forderungen durchzusetzen. Gleichzeitig warnte der Gasmanager mit Hinweis auf die Abhängigkeit Europas vom russischen Gas vor einer Überreaktion.

Der Schaden für Gazprom werde in der Branche auf 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro geschätzt, sagte er. Den eigenen Schaden hat Ruhrgas noch nicht ermittelt. Anfang der Woche hatten sich Russland und die Ukraine auf neue Liefer- und Transitbedingungen geeinigt. Gazprom hatte daraufhin die Gaslieferungen wieder aufgenommen. Seit Mittwoch fließe das Gas uneingeschränkt und stünde an den Grenzübergangsstellen in vollem Umfang zur Verfügung, bestätigte Reutersberg. Obwohl Eon Ruhrgas vorübergehend auf 60 Prozent der üblichen Liefermengen aus Russland verzichten musste, seien alle Kunden versorgt worden. Zusätzlich seien verschiedene osteuropäische Länder mit Stützungslieferungen von bis zu 13 Millionen Kubikmetern am Tag unterstützt worden.

"Wir haben die bisher schwerste Krise der Gaswirtschaft gemeistert", bilanzierte Reutersberg. Die deutschen Gaskunden müssten durch den Konflikt keine höheren Preise befürchten. Nach der Preissenkung zum 1. Januar werde Gas für Ruhrgas-Kunden zum 1. April vielmehr noch einmal billiger. Ruhrgas beliefert aber nur Stadtwerke und Weiterverteiler und keine Haushalte. Wie schnell die Stadtwerke die Senkungen weitergeben, unterliegt deren eigener Kalkulation.

Ruhrgas warnte davor, nach der Beilegung des Konflikts sofort wieder zur Tagesordnung überzugehen. Der Zehnjahresvertrag zwischen Russland und der Ukraine gelte nur solange, wie das Land die Lieferungen auch bezahle. Die Ukraine leide aber unter erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. "Wir müssen die Lage im Auge behalten", mahnte Reutersberg. Um die europäische Versorgung sicherzustellen, seien Investitionen in die Infrastruktur nötig. Die EU müsse Mindeststandards für die Versorgungssicherheit der Mitgliedsstaaten entwickeln. Ruhrgas-Vorstand Jochen Weise warf den südosteuropäischen Staaten vor, sich vom billigen russischen Gas abhängig gemacht und jahrzehntelang nichts für die Versorgungssicherheit getan zu haben. Sie hätten etwa versäumt, ein Speichersystem aufzubauen.

Milliarden für Speicher

Ruhrgas selbst will bis zum Jahr 2011 gut vier Milliarden Euro in den Ausbau der Leitungs- und Speicherinfrastruktur stecken sowie Projekte vorantreiben, die die eigene Gasförderung erhöhen. Auch soll das Geschäft mit verflüssigtem Erdgas (LNG) ausgebaut werden. Die Speicherkapazität will der Konzern von heute 5,5 Milliarden Kubikmeter bis 2012 auf acht Milliarden Kubikmeter steigern. Mit 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro dürfte die Beteiligung am Bau der geplanten Pipeline durch die Ostsee zu Buche schlagen. Reutersberg plädierte erneut für einen zügigen Baubeginn. "Nur zwei Korridore für russische Erdgaslieferungen nach Europa wie bisher sind entschieden zu wenig", sagte er. Wie Ruhrgas kündigte auch der Konkurrent Wingas hohe Investitionen in die Erdgasinfrastruktur an. Bis zum Jahr 2015 wollen die Wingas-Gesellschaften etwa drei Milliarden Euro in neue Leitungen und zusätzliche Speicher stecken.

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Ende einer Party

Die Luxuskonzerne hofften lange, die Finanzkrise würde an ihnen vorbeiziehen. Sie haben sich schwer getäuscht

Von Thomas Fromm und Ulrike Sauer

München/Rom - Es ist noch gar nicht so lange her, da tanzten sie noch ausgelassen. Bei der Luxusmesse für Superreiche "Millionaire Fair" im vergangenen Herbst in München war Partystimmung pur angesagt. Maseratis und Lamborghinis fuhren vor, Champagnerkorken knallten, und die Hersteller von Luxusuhren suchten und fanden ihre wohlbetuchte Kundschaft. Weltweite Finanzkrise? Nur etwas für Arme, hieß es damals.

Luxus und Reichtum gehen immer, Krise hin oder her - das war ein vornehmer Traum. Er hatte ja auch jahrelang funktioniert. Anfang der Woche aber war er dann endgültig ausgeträumt. Ausgerechnet der erfolgsverwöhnte Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont war es, der mit seinem Umsatzeinbruch die Branche aus ihren Träumen zurück in die Realität holte. Dabei waren die schlechten Quartalszahlen des Herstellers von Cartier-Schmuck, Jaeger-LeCoultre-Uhren und Montblanc-Schreibfüllern gar nicht mal das Schlimmste. Schlimmer noch war, was der weltweit zweitgrößte Luxusgüterhersteller seiner Zunft mit auf den Weg gab. "Die Nachfrage nach Luxusgütern ist dramatisch gefallen", schrieben die Schweizer. Man erlebe zurzeit die "härtesten Marktbedingungen seit der Gründung vor 20 Jahren". Da sich die Lage in der nächsten Zeit nicht verbessern werde, sehe man "keinen Grund für Optimismus".

Der Schock saß tief, denn er zerstörte ein liebgewonnenes Weltbild. Bislang hatte die Branche alle Wirtschaftsabschwünge gut überstanden. Doch in Zeiten, in denen die Superreichen aus Europa, den USA und Russland an den Kapitalmärkten so viel Geld wie lange nicht mehr verlieren, sind selbst Haute-Couture-Kollektionen, edle Uhren oder Diamanten nicht mehr automatisch krisenresistent. Egal ob in München oder Moskau: Mal eben schnell ein Diamantenkettchen für die Gattin oder Geliebte kaufen, das war gestern. Zu spüren bekommen das alle. Die Granden der Branche, Richemont und die französische LVMH-Gruppe, haben innerhalb weniger Monate 40 Prozent ihres Werts an der Börse eingebüßt. Der römische NobelJuwelier Bulgari stellt sich auf einen schmerzhaften Gewinnrückgang ein, der US-Wettbewerber Tiffany steht offenbar vor einer Entlassungswelle, der französische Parfümier Chanel spart bereits kräftig am Personal.

Auch das britische Traditionslabel Burberry hat ein "massives Restrukturierungsprogramm" angekündigt. Hunderte Stellen sollen abgebaut werden. Der italienische Yachthersteller Ferretti wiederum, ein Nischenproduzent für die oberen Zehntausend, soll Medienberichten zufolge finanziell klamm sein und muss angeblich ein millionenschweres Schuldenpaket mit seinen Banken nachverhandeln. Allein der Umsatz der italienischen Modeindustrie brach im Oktober 2008 um zehn Prozent ein. Viele Unternehmen denken schon mit Grauen an die Zahlen für das vierte Quartal. "Die Konsumeiszeit im letzten Quartal, die durch die Finanzkrise im Oktober ausgelöst wurde, hat uns gezwungen, unsere Prognosen für 2008 zu revidieren", sagt der Chef der Mailänder Modekammer, Mario Boselli. Der Umsatz der italienischen Mode- und Textilbranche sei wohl um vier Prozent auf 66,5 Milliarden Euro gefallen. Für 2009 rechnet man in Mailand mit einem weiteren Rückgang. Es ist die Zeit der Durchhalteparolen. Die italienische Modeindustrie sei "gesund" und verstehe es, "auf die Krise zu reagieren", macht sich Boselli Mut. Alles sei "nicht so schlimm wie befürchtet", war dann in den vergangenen Tagen auch ein oft zu hörender Kommentar auf der Florentiner Pitti-Modemesse und an den Mailänder Laufstegen.

Und doch rücken die Einschläge in Norditalien spürbar näher. Es ist die Summe der Details, die aufhorchen lässt: Die Leitmesse Pitti Uomo gab den teuren Samstag als Ausstellungstag auf. Die Russen, bislang die große Hoffnung der Anbieter, waren diesmal gleich zu Hause geblieben. Ein Ausfall der kaufkräftigen Neukunden aus dem Osten wird schmerzlich. Er kann sich mit Umsatzeinbußen von bis zu 20 Prozent bemerkbar machen, warnen Brancheninsider. Der Showkalender wurde von fünf auf vier Tage verkürzt. Modekammerchef Boselli lud gar dazu ein, über "alternative und preisgünstigere Darstellungsformen nachzudenken". Und der Edel-Schneider Gildo Zegna wettert gegen das "selbstzerstörerische Verhalten" im Schlussverkauf und gegen die teure Manie immer früherer Vorabkollektionen.

Im Grunde aber geht es vor allem um die eine, die bange Frage, die sich viele stellen. Sie lautet: Wird es jemals wieder so sein wie früher? Oder hat ein Geschäftsmodell nach Jahrzehnten endgültig ausgedient? Luxus ist gerade deswegen Luxus, weil der Preis hoch ist und das Produkt damit automatisch für den Massenmarkt ausscheidet. Wer Luxus kauft, will sich abheben und schließt dabei andere aus. Für viele Käufer offenbar ein gutes Gefühl, das aber seinen Preis hat. Deswegen ist es in der Luxusindustrie normalerweise ein Tabu, beliebig mit Preissenkungen auf Krisen zu reagieren, dies würde ihr Selbstverständnis aushöhlen. Doch lässt sich der Kurs in diesen schweren Zeiten durchhalten?

Marketing-Experten warnen: Wer jetzt die Preise für Luxusartikel in großem Stil senkt, verwässert sein Image - und es dauert Jahre, bis man für den eigenen Namen wieder höhere Preise bekommt. "Wer in der Luxusbranche einmal nach unten geht, kommt so schnell nicht wieder nach oben", sagt ein Insider. Trotzdem sehen viele Anbieter offenbar keine andere Lösung: So räumt man beim Auftragshersteller Lardini ein, die Preise "von der gehobenen Mittel- bis zur Luxusklasse um über 10 Prozent" herabgesetzt zu haben. "Das drückt 2009 leider auf die Margen", geben Andrea und Luigi Lardini offen zu.

Andere Luxusfirmen gehen subtiler vor: Der Herrenausstatter Ermenegildo Zegna oder die Modemacherin Alberta Ferretti ergänzen ihre Edel-Kollektionen mit erschwinglicheren Stücken - und werden dafür von der Konkurrenz scharf angegangen. Miuccia Prada hält nichts davon, in Krisenzeiten Preise und Kollektionen den Geldbeuteln der Kunden anzupassen. "Der Moment ist schwierig, aber die Preise im Luxussegment sind nicht aus der Luft gegriffen. Qualität und Ideen kosten nun mal", sagt Prada. Allerdings verkaufte das Mailänder Kult-Label schon im Dezember Lederstiefel zum halben Preis. Designer wie der Mailänder Giorgio Armani versuchen es derweil mit Aktionismus. Mitte Februar eröffnet der italienische Luxusunternehmer in New York auf der Fifth Avenue ein Kaufhaus mit 3500 Quadratmetern.

Optimistisch gibt sich auch Diesel-Gründer Renzo Rosso: Er glaubt an die Wende (Interview). Der Nonkonformist aus Venetien hat gerade sein weltweit größtes Geschäft über drei Etagen mitten an der Mailänder Shopping-Kreuzung Piazza San Babila eröffnet. Rosso sucht das Besondere, um der Krise zu begegnen. Im neuen "Diesel Planet Store" hängt ein elektronischer Spiegel, mit dem die Kunden die Passform ihres neuen Outfits im 360-Grad-Blickwinkel begutachten können. Die selbst entwickelte Software soll zum Standard in den 300 Diesel-Läden weltweit werden. Zusätzlich soll eine computergesteuerte Beduftungsanlage die Sinne betören und so zum Kaufen einladen. Das Bezahlen geht dann ganz nebenbei - an mobilen Stationen überall im Laden.

So ganz geschlagen gibt sich die Modewelt also nicht. Die Farbe des Winters 2009/2010 soll übrigens Grün sein. Grün wie die Hoffnung.

"Die Nachfrage ist dramatisch

gefallen. Es gibt keinen

Grund für Optimismus."

"Wer einmal billiger wird,

kommt so schnell

nicht wieder nach oben."

Auf der Luxusmesse "Millionaire Fair" in München war im Oktober auch ein Maserati zu bewundern: Die Sale-, also Ausverkaufsschilder wurden in diese Fotomontage nachträglich eingefügt. Doch bleiben tatsächlich viele Edelhersteller gerade auf ihren Produkten sitzen und senken daher die Preise. Foto: dpa

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Deutsche Standorte in Gefahr

Die Metallhütten fürchten wegen der hohen Energiekosten um ihre Existenz

Von Wieland Kramer

Düsseldorf - Der Produktion von Aluminium, Kupfer und Zink droht in Deutschland das Aus. Das Ende der weltweiten Rohstoffrallye sorgt seit Wochen für einen freien Fall der Metallpreise. Die hohen deutschen Strompreise machen die Herstellung hierzulande damit unrentabel. An den großen Metallstandorten Hamburg, Unterweser und im Rheinland sorgen sich mindestens 15 000 Arbeitnehmer um ihre Stellen.

Der Aluminiummarkt befindet sich im Abwärtstrend. Bauxitminen und Hüttenbetriebe drosseln seit Wochen weltweit die Produktion, um den rapiden Preisverfall beim Leichtmetall zu stoppen. Binnen weniger Wochen haben sich an der Londoner Metallbörse LME hohe Aluminiumbestände aufgebaut. Die Preise fielen von 3 500 Dollar je Tonne im Sommer des vergangenen Jahres auf aktuell etwa 1 300 Dollar. "Nur ein schneller Abbau der LME-Bestände kann den Preisverfall stoppen," erklärt Peter-Michael Steffen, Sprecher der zum größten europäischen Aluminiumkonzern Norsk Hydro gehörenden Hydro Aluminium Deutschland. Hydro hat zunächst am Standort Neuss die Produktion um 13 Prozent oder 30 000 Tonnen gekürzt, was Steffen moderat nennt.

Hydro ist in einer Zwickmühle. Der Standort Neuss beliefert vor allem Zeitungshäuser mit Druckplatten und die Verpackungsindustrie. Beide Branchen sind vom Konjunktureinbruch weit weniger betroffen als die Autoindustrie oder der Maschinenbau. Trotzdem zittern nicht nur die 650 Arbeiter in der Neusser Aluhütte, sondern auch 1 200 Kollegen im nahegelegenen Walzwerk sowie weitere bei zahlreichen Abnehmern und Zulieferern in der Region.

Ohne einen drastisch reduzierten Strompreis befürchtet die deutsche Hydro bei anhaltend niedrigen Metallpreisen einen dreistelligen Millionen-Verlust bis zum Jahresende. "Das wäre das Aus", sagt Steffen. Hydro Deutschland benötigt nach SZ-Informationen aus der Branche dringend einen neuen Liefervertrag. Um die Bedingungen wird intensiv gefeilscht. Der Alukonzern fordert einen günstigen Preis. Der Bedarf von Hütte und Walzwerk sei höher als der der gesamten Landeshauptstadt Düsseldorf einschließlich der dortigen Wirtschaft, so ein Argument. Hydro bringt zudem die Möglichkeit einer kurzfristigen Abschaltung der Anlage für eine Dauer von bis zu mehreren Stunden in die Verhandlungen ein. "Damit kann uns RWE behandeln wie ein Ersatzkraftwerk", sagt Hydro-Sprecher Steffen. Vor allem bei schwankender Windstromeinspeisung benötigt der Versorger große Mengen an Regel- und Ersatzenergie.

"Erste konzeptionelle Gespräche" über einen neuen Liefervertrag werden von beiden Seiten bestätigt. Doch die Stimmung ist unterkühlt. Stromversorger und Metallhütten liegen seit Jahren im Clinch. Da RWE derzeit keinen Strom an Hydro liefert, obwohl die großen Braunkohlekraftwerke des Unternehmens auf Sichtweite stehen, fühlt man sich nicht in der Pflicht. Die Versorgung des bundesweit größten Aluminiumstandorts Neuss bei Düsseldorf mit Roh-aluminium bleibe trotz beschlossener Produktionskürzung sichergestellt, erklärte Hydro-Sprecher Steffen.

Auf der anderen Seite übersteigen die Verluste aus der Aluminiumerzeugung die Erlöse aus der Weiterverarbeitung derzeit um rund das Doppelte. Mindestens die Hälfte der Kosten entfällt bei der Aluminiumerzeugung auf den Strom für die Elektrolyse. Der Rest sind Kosten für Bauxit, Kohlenstoff-Elektroden und Personal. Während die Wettbewerber in Italien, Spanien und Frankreich schon seit längerem zu Sondertarifen versorgt werden und die EU-Kommission sich grundsätzlich für Stromlieferungen ohne Klimakosten an die Industrie ausgesprochen hat, halten die deutschen Stromkonzerne an einer Belieferung zu hohen Preisen fest. "Während bei uns Strom bis zu 70 Euro je Megawattstunde kostet, bezahlen unsere Wettbewerber in den Nachbarländern nur 20 Euro", beklagt sich der Chef einer Metallhütte an der Unterweser.

Die Herstellung von Aluminium ist sehr energieintensiv. Deshalb leiden die Produzenten besonders unter den hohen Energiepreisen und fürchten jetzt um ihre Wettbewerbsfähigkeit. Foto: dpa

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"Die Preise sind verrückt"

Renzo Rosso, Chef der Modefirma Diesel, über Fehler der Branche

Luxusrebell Renzo Rosso, 53, sieht sich mal wieder auf der Gewinnerseite. Vor 30 Jahren gründete der Bauernsohn im norditalienischen Molvena seine schräge Jeansfirma Diesel. Unter dem Dach der Holding Only the Brave baute Rosso dann einen Luxusmode-Konzern auf. Nur ein Viertel des Umsatzes von 1,4 Milliarden Euro entfällt heute noch auf die Denim-Sparte. Der Krise kann Rosso nur Gutes abgewinnen.

SZ: Signor Rosso, alle reden in Mailand vom Kürzen. Sie haben dort gerade den größten Diesel-Laden der Welt eröffnet. Ist das nicht gewagt?

Rosso: Überhaupt nicht. Ich finde diese Krise phantastisch. Jetzt wird endlich ein bisschen ausgemistet. Die Luxusbranche ist voll von improvisierten Marken, die uns im Weg stehen. In Zukunft gibt es hoffentlich mehr Raum für Professionalität.

SZ: Was erwarten Sie von der Rezession?

Rosso: Eine Säuberung. Heute tummelt sich auf dem Luxusmarkt alles Mögliche. Die Label sind zu bürgerlich, zu snobistisch und zu teuer. Die Luxusbranche ist zügellos. Da ist vieles übertrieben und abgehoben. Die neuen Luxuskunden interessieren sich heute für so etwas wie den Klimawandel. Außerdem rechne ich damit, dass die überzogenen Immobilienpreise runtergehen. Das käme unserer Vertriebsexpansion entgegen.

SZ: Wie begegnet Diesel der Konsumkrise?

Rosso: Auch wir spüren die Weltrezession. Aber sie ist eine Chance für uns. Denn Diesel ist ein solides Unternehmen, und wir sind nicht verschuldet.

SZ: Also ändert sich für Ihr Unternehmen nichts?

Rosso: Doch, wir werden die Kosten schärfer kontrollieren. Wichtig ist jetzt, weiter Profite zu machen. Wenn woanders Äste abgesägt werden, bekommen wir eine Gelegenheit.

SZ: Haben Sie es nur auf die Marktanteile der Konkurrenz abgesehen, oder wollen Sie sogar Firmen kaufen?

Rosso: Durchaus das Letztere. Zum Beispiel in der Produktion oder im Vertrieb. Diesel soll ein noch besser strukturiertes Unternehmen werden. Darum begrüße ich diese Krise.

SZ: Ist auch in der Modebranche eine Blase geplatzt?

Rosso: Oh ja. Die Fashionbranche ist zu flüchtig, die Preise sind verrückt. So respektiert man die Welt der jungen Leute nicht. Die lehnen das Kurzlebige ab.

SZ: Wie ist 2008 für Diesel gelaufen? Was kommt 2009?

Rosso: Wir haben 2008 unsere gewohnten Wachstumssteigerungen nicht erzielt. Mit drei Prozent stieg der Umsatz kaum. 2009 wird es einen Konsumeinbruch geben. Das heißt nicht automatisch, dass wir weniger verkaufen werden. Der Markt will aber frischere Produkte.

SZ: Sie haben vergangene Woche in Berlin einen neuen Männerduft vorgestellt. Der heißt "Only the Brave", kommt in einem zur Faust geballten Flakon daher und verströmt pure Stärke und Selbstsicherheit. Halten Sie das für zeitgemäß?

Rosso: Ja, unbedingt. Es ist ja meine Faust. Und der Name "Only the Brave" reflektiert perfekt meine Denkweise, die ja auch zum Slogan von Diesel wurde. Wir haben immer Mut bewiesen und im Luxusgeschäft viel verändert. Wir sind Pioniere. Und Berlin gehört für mich zu den vier kreativsten Städten der Welt.

Interview: Ulrike Sauer

Diesel-Chef Renzo Rosso. Foto: AFP

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Das Auto und die deutsche Politik: Vom Anschaffen und Abwracken

Zu wenig Geld für die Prämie

Die eingeplanten 1,5 Milliarden Euro reichen nur für jeden zweiten Interessenten. Eschborner Bundesamt berechnet die Kosten

Von Michael Kuntz

München - Schon vor der endgültigen Verabschiedung der Abwrackprämie für alte Autos im Bundeskabinett zeigt sich, dass die dafür vorgesehenen 1,5 Milliarden Euro bei weitem nicht ausreichen werden. Von diesem Geld lassen sich Prämien für maximal 600 000 Fahrzeuge finanzieren. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Puls in Nürnberg zufolge erwägen aber 1,2 Millionen Autobesitzer, ihr mehr als neun Jahre altes Fahrzeug zu verschrotten.

270 000 Anrufe an einem Tag

Die Regierung sieht den Zeitraum vom 14. Januar bis zum 31. Dezember für die Aktion vor, doch dürfte es auch nach Ansicht des Automobilclubs Europa spätestens im Herbst knapp werden. Da die Prämien erst an diejenigen ausbezahlt werden, die sie zuerst beantragen, steigt die Wahrscheinlichkeit im Jahresverlauf, bei der Verschrottung eines Altwagens leer auszugehen. Die Prognose des mit der Umsetzung beauftragten Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Eschborn bei Frankfurt fällt sogar noch um einiges vorsichtiger aus: "Angesichts des großen Programmvolumens besteht für die kommenden Wochen nicht die Gefahr, dass die Mittel bis zur Entscheidung des Bundeskabinetts am 27. Januar 2009 erschöpft sind."

Die 600 000 Autos sind zudem ein rein rechnerischer Wert. Denn von den 1,5 Milliarden Euro gehen noch die Kosten ab, die beim Bundesamt für die Abwicklung der Abwrackprämie entstehen. Da ist schon jetzt einiges los, denn bei der Telefon-Hotline gehen am Tag bis zu 270 000 Anrufe an, von denen naturgemäß nur ein kleiner Teil tatsächlich die Beamten erreicht.

Das Interesse an der Abwrackprämie ist jedenfalls riesig. Zumal sich die beteiligten Ministerien für Finanzen, Umwelt, Verkehr und Wirtschaft darauf verständigen wollen, dass auch das Leasing eines neuen Autos gefördert werden soll. Auf diese Weise würden auch Hersteller wie Audi, BMW und Mercedes etwas von der Abwrackprämie haben. Denn die Besitzer von mehr als neun Jahre alten Autos kommen wohl eher als Käufer von Gebraucht- oder neuen Kleinwagen in Frage. Das wären dann unter Umständen Autos aus italienischer, französischer, rumänischer oder koreanischer Produktion. Der deutsche Staat würde dann zwar für Arbeitsplätze sorgen, aber nicht in Deutschland, kritisieren manche Automanager.

Einzelne Autohändler berichten, ihr Verkauf von Neuwagen habe sich nach dem Kabinettsbeschluss von Mitte Januar verzehnfacht. Die Prämie wirke wie eine Initialzündung, sagt Ansgar Klein vom Bundesverband freier Kfz-Händler.

Die Unternehmensberater von Ernst & Young ermittelten bei einer Umfrage, dass 57 Prozent der Käufer, die sich aufgrund der Abwrackprämie ein neues Auto anschaffen, einen verbrauchsarmen Kleinwagen für maximal 15 000 Euro erwerben wollen. Verbraucherschützer empfehlen Käufern, trotz der Prämie nicht auf die meist weiter möglichen Rabatte zu verzichten.

Ökologische Wirkung gering

Die wirtschaftlichen Folgen bleiben abzuwarten, die ökologischen Verbesserungen durch die Abwrackprämie sind überschaubar. Die 600 000 neuen Autos der Schadstoffklasse 4 ändern am Zustand der gesamten deutschen Fahrzeugflotte wenig. Denn derzeit rollen noch viele Wagen durchs Land, die nur den Abgasnormen Euro 1 bis 3 entsprechen. Das sind etwa 20 Millionen Autos mit veralteten Benzinmotoren und rund neun Millionen Dieselfahrzeuge, die nicht mehr dem neuesten Stand der Technik entsprechen. 16 Millionen Autos kommen dem Kraftfahrtbundesamt in Flensburg zufolge für eine Abwrackprämie in Frage. Sie sind älter als neun Jahre und bei einem Verkauf weniger als 2500 Euro wert.

Alte Autos werden beispielsweise bei der Deutschen Erz- und Metall-Union in Salzgitter verschrottet. Seit der Ankündigung der Abwrackprämie haben manche Autohändler bereits einen außergewöhnlichen Anstieg der Neuwagenverkäufe registriert. Kritiker fürchten aber, dass Besitzer alter Fahrzeuge vor allem kleine Neuwagen ausländischer Konzerne kaufen. Foto: dpa

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Warnung an den Bund

Bonn - Die Monopolkommission hat vor zu viel Einmischung des Staates als Reaktion auf die internationale Finanzkrise gewarnt und den Bund zu mehr Zurückhaltung aufgerufen. Die Maßnahmen mit Konjunkturpaketen für Unternehmen stellten Marktwirtschaft und Wettbewerbsordnung in Frage, erklärte das unabhängige Beratergremium der Bundesregierung am Donnerstag. Die Kommission verfolge "mit großer Sorge" eine aktuelle Tendenz zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen, "die mit den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft unvereinbar erscheinen". Auch in Zeiten ernster wirtschaftlicher Krisen müsse die Politik der Versuchung widerstehen, über eine Rahmensetzung hinaus in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen. dpa

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DGB geht auf die Straße

Berlin - Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) will mit einem zweitägigen "Kapitalismuskongreß" und einer Großdemonstration in Berlin die Diskussion über die Finanz- und Wirtschaftskrise vorantreiben. Ziel müsse eine "Marktwirtschaft für Menschen" sein, sagte DGB-Chef Michael Sommer. Er beobachtet derzeit einen radikalen Bewusstseinswandel. Früher seien Gewerkschafter beschimpft worden, weil sie sich gegen "Deregulierung und Privatisierung, Dividenden-Exzesse und exorbitante Manager-Gehälter" ausgesprochen hätten. Dies sei nun nicht mehr der Fall. "Plötzlich singen viele unser Lied", so Sommer. Der Mitgliederschwund in den acht Einzelgewerkschaften des DGB hatte sich 2008 deutlich verlangsamt. tö

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Biotech-Branche in Sorge

Berlin - Die deutsche Biotech-Industrie sorgt sich wegen der Finanzkrise um ausreichend Kapital zur Erforschung neuer Produkte. Um den gegenwärtigen Stand zu halten, sei für die Firmen in den nächsten drei Jahren rund eine Milliarde Euro an privatem Kapital erforderlich, sagte der Vorsitzende des Branchenverbandes "Bio Deutschland", Peter Heinrich, am Donnerstag in Berlin. Es werde aber immer schwieriger, risikobereite Investoren anzulocken. Nötig seien bessere steuerliche Rahmenbedingungen und mehr Partnerschaften mit Pharmafirmen, forderte Heinrich, der zugleich Vorstandschef der Martinsrieder MediGene AG ist. Einer Umfrage des Verbandes zufolge trüben sich die Erwartungen der Biotech-Firmen deutlich ein. Reuters

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IG BAU fordert sechs Prozent mehr Lohn

München - Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) geht mit einer Lohnforderung von sechs Prozent in die anstehende Tarifrunde. Dies hat die Bundestarifkommission der Gewerkschaft am Donnerstag beschlossen. Die IG BAU verhandelt für etwa 700 000 Bauarbeiter, Angestellte und Auszubildende des Bauhauptgewerbes. Die Tarifverhandlungen sollen am 5. März beginnen. "Das Baugewerbe hat sich von den Krisenjahren erholt. Es wird dank des Konjunkturprogramms der Bundesregierung stabil bleiben", sagte IG-BAU-Vorsitzender Klaus Wiesehügel in Frankfurt. 18 von 50 Milliarden Euro seien für die Bauwirtschaft bestimmt, so Wiesehügel.

Der Vizepräsident des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes (ZDB) und Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite, Frank Dupré, lehnte die Forderung als "völlig überzogen" ab. Angesichts der Tariferhöhungen vergangener Jahre könne nicht von einem Reallohnverlust gesprochen werden.

"Für körperliche Arbeit muss entsprechend bezahlt werden", forderte Wiesehügel. In der Rangfolge der Bruttojahresverdienste stehe der Bau an 21. Stelle. Ein Facharbeiter bekomme derzeit 15,48 Euro im Westen und 13,80 Euro im Osten. Der Tarifvertrag für das Bauhauptgewerbe läuft Ende März aus. Zuletzt hatten sich die Tarifparteien 2007 auf eine Tariferhöhung in Stufen um insgesamt 6,2 Prozent geeinigt. Mit ihrer jüngsten Forderung liegt die IG BAU am unteren Ende der bisher erhobenen Lohnerhöhungen von fünf bis zehn Prozent. shs.

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Antrag zum Herunterladen

Wer früh handelt, kann auch sicher mit dem Geld rechnen

Erst abwarten, dann rasch handeln: Wer zuerst den Antrag einreicht, der bekommt die Abwrackprämie von 2500 Euro für sein altes Auto sicher. Den Antrag gibt es von Dienstag, 27. Januar, an auf der Internetseite des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (www.bafa.de) zum Herunterladen. Das ist der Tag, an dem die Regelung im Bundeskabinett abschließend behandelt wird.

Dabei gilt es zu beachten: Eine sogenannte Umweltprämie beantragen können natürliche Personen, die ihr altes Fahrzeug mindestens ein Jahr lang auf ihren Namen in Deutschland zugelassen hatten. Das neue Auto muss wieder auf den Namen des Halters des Gebrauchtwagens zugelassen werden. Den Antrag darf auch der Autohändler im Auftrag einreichen.

Die Prämie gibt es für mindestens neun Jahre alte Personenwagen. Sie müssen vor dem 14. Januar 2000 erstmals zugelassen worden sein. Gefördert werden neue Autos, die zum ersten Mal in Deutschland zugelassen werden und mindestens die EU-Abgasnorm Euro 4 erfüllen. Geld gibt es auch für Leasingautos und Jahreswagen. Das ist ein Pkw, der längstens ein Jahr auf einen in Deutschland niedergelassenen Kfz-Händler oder Kfz-Hersteller zugelassen war.

Kauf und Erstzulassung des Neu- beziehungsweise Jahreswagens müssen zwischen dem 14. Januar 2009 und dem 31. Dezember 2009 liegen. Es empfiehlt sich, alle Dokumente sorgfältig aufzubewahren. Nötig ist das Original des Verschrottungsnachweises eines anerkannten Demontagebetriebes. Außerdem müssen die Zulassung des Alt- und des Neufahrzeuges auf den Antragsteller nachgewiesen werden.

Für die Beantwortung von Fragen betreibt das BAFA eine Telefon-Hotline (06196 908 470). Sie ist überlastet. Es sind Hunderttausende Anrufer am Tag gezählt worden. mik

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Streit um Reform der Kfz-Steuer

SPD beklagt Vorteile für Autos mit besonders hohem CO2-Ausstoß

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Die Pläne der großen Koalition für eine Reform der Kfz-Steuer sind sowohl intern als auch bei Opposition und Umweltverbänden auf teils heftige Kritik gestoßen. Ein Sprecher von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) machte deutlich, dass sein Ressort das Konzept der Koalitionsspitzen nicht mittragen könne. "Für uns ist entscheidend: Das ist noch kein Regierungsentwurf", sagte er. Dagegen sprach der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Michael Meister (CDU) von einem "sorgfältig ausgewogenen Kompromiss". "Der Umweltminister gefährdet mit seinen Nachverhandlungen dessen Tragfähigkeit und den Zeitplan", erklärte er.

Der Koalitionsvereinbarung zufolge soll sich die Höhe der Kfz-Steuer von Juli an vor allem nach dem Schadstoffausstoß des Fahrzeugs richten. Zugleich wird aber die bisherige Bindung an den Hubraum nicht gänzlich aufgegeben, sondern modifiziert und für besonders leistungsstarke Autos sogar gedeckelt. Das führt dazu, dass ausgerechnet Besitzer von Fahrzeugen mit besonders hohem CO2-Ausstoß weniger Steuern zahlen müssen als bisher. Die Idee stammt aus den Reihen der Union, die befürchtet, dass eine rein schadstoffbezogene Kfz-Steuer zu Lasten deutscher Hersteller wie Mercedes, BMW, Audi und Porsche gehen könnte. Sie bauen im Vergleich zu vielen ausländischen Konkurrenten deutlich mehr Modelle in der Oberklasse. Allerdings trugen auch die SPD-geführten Ministerien für Finanzen und Verkehr das Konzept mit Blick auf die vielen gescheiterten Kompromissversuche der Vergangenheit am Ende mit.

Der Umweltexperte der Linksfraktion, Lutz Heilmann, bezeichnete die Regierungspläne als "klimapolitischen Offenbarungseid". Die Reform sei nicht nur ein Förderprogramm für die falsche Produktpolitik der deutschen Autoindustrie, sondern auch für Großverdiener. So werde der Fahrer eines VW Golf um acht Euro entlastet, der eines Audi Q7 aber um 300 Euro. "Mit Winkelzügen werden Spritfresser verschont", sagte Heilmann.

Kritik des BUND

Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sprach von einer "bewussten Bevorzugung der Hersteller von Spritfressern". Ein Mix aus hubraum- und schadstoffbezogenen Komponenten bei der Berechnung der Kfz-Steuer verwirre zudem potentielle Autokäufer. Deshalb müsse die Koalition zum Modell einer rein CO2-bezogenen Kfz-Steuer zurückkehren, wie es auch im zweiten Konjunkturpaket der Regierung angekündigt worden sei. "Das längst überfällige Vorhaben der Bundesregierung, die Steuersätze für Autos an die Höhe des Schadstoffausstoßes zu knüpfen, darf nicht länger Spielball der Autolobby sein", so der BUND.

Er schlug vor, Fahrzeuge mit CO2-Emissionen von 100 Gramm pro Kilometer und mehr mit stufenweise steigenden Steuersätzen zu belasten. Für einen benzingetriebenen Golf 1.4 mit einem Ausstoß von 166 Gramm CO2 würde die Steuer dann nur leicht von 94 auf 120 Euro steigen. Bei einem Mercedes ML-350 mit 305 Gramm CO2 wäre der Anstieg gewaltig: Anstatt 256 Euro würden 1390 Euro fällig. Besitzer eines Smart Fortwo, der 112 Gramm ausstößt, müssten noch sechs statt 54 Euro im Jahr zahlen. "Ein solches klares Steuersystem wird nicht nur das Kaufverhalten beeinflussen, es wird auch entscheidende Innovationen für mehr Umweltschutz bei den Pkw-Herstellern anstoßen", so BUND-Verkehrsexperte Werner Reh. (Seite 4)

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Der Vertreter der

Arbeitnehmer will vermitteln.

Dabei ist der Stellenabbau schon beschlossene Sache.

Stochern im Nebel

Gespannt warten BayernLB-Mitarbeiter auf Neuigkeiten zum Jobabbau. Sie rechnen damit, dass ganze Abteilungen wegfallen

Von Thomas Fromm

München - Diethard Irrgang ist in einer besondern Situation. Seit Ende vergangener Woche sitzt der 53-jährige Personalratschef der BayernLB als erster Mitarbeitervertreter überhaupt im Verwaltungsrat der Bank. Dort soll er die Interessen seiner Kollegen vertreten, auf die ein harter Sparkurs zukommt. Und er wird trotzdem nicht viel ändern können an den Weichenstellungen des Instituts. Das Management der Landesbank, die mit Finanzspritzen und Garantien von rund 30 Milliarden Euro gestützt werden muss, will Tausende von Stellen abbauen - und auch der Arbeitnehmervertreter weiß, dass es dazu im Grunde keine Alternative gibt. So klingt sein Programm für die nächste Zeit auch wenig kämpferisch. "Ich verstehe mich hier als Vermittler und muss für Interessenausgleich sorgen", sagt er der Süddeutschen Zeitung. Das, was nun auf ihn zukomme, sei ein "notwendiger Spagat".

An diesem Donnerstag hatte Irrgang seinen ersten großen Termin. Tausende von BayernLB-Mitarbeitern waren am späten Nachmittag zur Personalversammlung ins Kongresszentrum MOC im Münchner Norden gepilgert, wo Bankchef Michael Kemmer über den neuesten Stand der Sparmaßnahmen unterrichten wollte. Einige gingen mit großen Erwartungen, andere rechneten nur mit Motivationsübungen des Managements. "Zurzeit ist es wie das berühmte Stochern im Nebel", sagt ein Sachbearbeiter am Standort München. "Wir wissen nur, wie viele Arbeitsplätze abgebaut werden sollen. Wo genau, wissen wir nicht."

Tatsächlich hatte BayernLB-Chef Michael Kemmer im Dezember angekündigt, bis 2012 insgesamt 5600 der 19 200 Stellen zu streichen. Klar ist nur: So lange wird das Management nicht warten. "2012 ist eine langfristige Planung; vieles wird schon früher abgearbeitet", heißt es im Unternehmen. Klar ist auch: Die BayernLB der Zukunft wird sich auf den Mittelstand, Großkunden, gewerbliches Immobiliengeschäft und Privatkunden konzentrieren. Die Bank wird dabei zu einem bayerischen Institut geschrumpft; im Ausland werden in den nächsten Jahren Niederlassungen dichtgemacht, so etwa in Asien. Standorte wie New York und London werden auf ein Minimum reduziert.

Nach außen hin scheint alles ruhig. Hinter den Kulissen aber wird die Bank in diesen Tagen und Wochen durchleuchtet wie niemals zuvor. Jetzt geht es um die bitteren Details des Abbaus.

"In vier bis fünf Wochen werden alle genau wissen, wohin die Reise geht", sagt ein Manager. Eine Kernmannschaft von 200 Mitarbeitern kämmt in diesen Tagen Abteilung für Abteilung durch, begleitet von einem Team des US-Beraterhauses Boston Consulting. 18 Teilprojekte gibt es zurzeit, dabei geht es um Themen wie Informationstechnologie (IT), Personal und Unternehmenskultur. Jede Woche kommt mindestens einmal der Vorstand um Michael Kemmer zusammen, um über den Stand der Dinge zu beraten.

Bis Ende Mai müssen die detaillierten Pläne dann zur Prüfung an die EU-Kommission nach Brüssel geschickt werden. Jeder BayernLBler weiß, dass sich die Bank von einigen ihrer zahlreichen Beteiligungen wird trennen müssen. Aber von welchen? Dass die Landesbankentochter SaarLB weitergereicht wird, gilt bereits als ausgemachte Sache. Aber sonst? Auf den Fluren der BayernLB wird seit Wochen darüber gemunkelt, die Kapitalanlagetochter BayernInvest könnte auf dem Verkaufstisch stehen. Andererseits: Hier bündelt die Bank große Teile ihres Anlagegeschäfts, hier arbeitet sie mit den Sparkassen zusammen, hier geht auch der bayerische Mittelstand ein und aus. "Wir haben über die BayernInvest viele gute Kunden", heißt es aus der Bank. Daher wäre es "unlogisch", die Tochter einfach ziehen zu lassen.

Was Kemmer auf jeden Fall behalten möchte, sind seine beiden wichtigsten und auch größten Töchter: die Kärntner Osteuropa-Bank Hypo Group Alpe Adria und die Direktbank DKB. Ob er sie tatsächlich behalten kann, wird sich erst im Frühjahr oder Sommer entscheiden - und zwar in Brüssel.

Und dann ist da noch die Frage, ob die Gespräche der BayernLB mit der Landesbank Baden Württemberg (LBBW) jemals in einer Fusion münden werden. Auch dies würde Jobs in München kosten. "Wir sind in konkreten Gesprächen", sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) jetzt. Das aber hat nicht viel zu bedeuten. Schon häufig wurde von Gesprächen zwischen den beiden Banken berichtet. Und mindestens genauso oft wurden sie wieder vertagt. Auch in Stuttgart weiß man: Solange die Regierung im Freistaat nicht bereit ist, für ihre Landesbank eine Juniorrolle an der Seite der Stuttgarter zu akzeptieren, wird es nicht zu einem Zusammenschluss kommen.

Ein Arbeiter reinigt eine Fensterscheibe der BayernLB- Zentrale in München: Die Mitarbeiter wollen Klarheit über die Zukunft der angeschlagenen Bank. Fest steht nur, dass tausende Jobs gestrichen werden. Foto: ddp

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Lehman-Kunden bald entschädigt

Soffin springt ein, aber die meisten Privatleute gehen trotzdem leer aus

Berlin/Brüssel - Die Entschädigung von Kunden der deutschen Tochter der Pleite gegangenen US-Investmentbank Lehman Brothers rückt näher. Die EU-Kommission billigte am Donnerstag eine Garantie des Banken-Rettungsfonds Soffin von 6,7 Milliarden Euro für die Sicherungseinrichtungsgesellschaft deutscher Banken (SdB). Im Dezember hatte der Bankenverband angekündigt, dass deutsche Lehman-Kunden Ende Januar mit einer Entschädigung rechnen könnten.

Die neu gegründete SdB unterstützt die Einlagensicherung bei Entschädigungen von Einlegern. Die dank der Staatsgarantie möglich gewordene Ausgabe von Anleihen der SdB soll unter anderem dazu dienen, die Rückflüsse aus der Insolvenz der "Lehman Brothers Bankhaus Aktiengesellschaft" vorzufinanzieren, teilte der Bankenverband mit.

Damit erhalten auch Krankenversicherer wie die Barmer oder Träger der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung Geld zurück; sie hatten mehrere Millionen Euro bei Lehman angelegt. Die deutsche Tochter des US-Instituts hatte nach früheren Angaben von Anlegerschützern nur wenige direkte Privatkunden. Nicht abgesichert sind Privatkunden, die beispielsweise bei Sparkassen Lehman-Zertifikate gekauft haben.

Lehman hatte Mitte September Insolvenz angemeldet. Die deutsche Finanzaufsicht Bafin hatte daraufhin die Geschäfte der deutschen Lehman-Tochter gestoppt und Ende Oktober bei der Lehman Brothers Bankhaus AG (Frankfurt/Main) den Entschädigungsfall festgestellt. Damit wurde die rechtliche Voraussetzung für die Entschädigung betroffener Anleger geschaffen. Dazu gehören vor allem große institutionelle Kunden wie Banken oder Versicherungen.

Die Kundeneinlagen einschließlich auf den Namen lautender Sparbriefe sind laut Bankenverband von der Entschädigungseinrichtung deutscher Banken und darüber hinaus vom Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken bis zur Sicherungsgrenze von rund 285,105 Millionen Euro je Einleger geschützt. dpa

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Kein gutes Ende

Enttäuschende Geschäftszahlen hat der finnische Handy-Hersteller Nokia am Donnerstag vorgelegt. Nokia-Papiere verloren in Helsinki 8,2 Prozent. Im abgelaufenen Quartal hat der Branchenprimus deutlich unter der gesunkenen Nachfrage gelitten und 15 Prozent weniger Handys verkauft. Der Umsatz fiel um 19 Prozent auf 12,7 Milliarden Euro. Das entspricht einem Marktanteil von 37 Prozent, ein Prozent weniger als im dritten Quartal. Damit verlor Nokia stärker als der Gesamtmarkt, wo im Durchschnitt neun Prozent weniger Umsatz erzielt worden waren.

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Boni für die Banker fließen schon wieder

London/New York - Die Mitarbeiter der 2008 verstaatlichten britischen Bank Northern Rock können wieder einen Bonus einstreichen. Die meisten der 4500 Beschäftigen bekommen eine Sonderzahlung in Höhe von zehn Prozent ihres Gehalts. Nach Berechnungen britischer Zeitungen summieren sich die Bonus-Zahlungen für die Mitarbeiter der staatseigenen Bank auf neun Millionen Pfund (9,5 Millionen Euro), also 2000 Pfund pro Mitarbeiter. Das Finanzministerium hatte die Boni in Aussicht gestellt, diese aber mit bestimmten Zielen verknüpft, die die Bankmitarbeiter nun erreicht hatten.

Unterdessen wurde bekannt, dass die amerikanische Geschäftsbank Merrill Lynch kurz vor ihrer Übernahme durch die Bank of America (BoA) hohe Bonuszahlungen an ihre Mitarbeiter getätigt haben soll. Wie die Financial Times berichtete, gab die fast pleite gegangene Merrill Lynch für die Zahlungen im Dezember vergangenen Jahres mehrere Milliarden Dollar aus. Der Vorgang sei "bemerkenswert", da die Bank die Boni gezahlt habe, als ihre Verluste "unaufhaltsam gestiegen" seien, hieß es in dem Bericht weiter. Außerdem habe BoA in dieser Zeit um zusätzliche staatliche Hilfen gebeten, um das Übernahmeprojekt abschließen zu können. dpa/AFP

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Devisen und Rohstoffe: Pfund setzt Talfahrt fort

Der Euro hat am Donnerstag zum Dollar leicht nachgegeben. Gegen 16 Uhr notierte die europäische Devise bei 1,2965 (Mittwoch: 1,3017) Dollar. Das Pfund Sterling setzte seine Talfahrt fort. Angesichts wachsender Befürchtungen vor einer ausgeprägten Rezession in Großbritannien und zunehmender Spekulationen auf eine weitere Leitzinssenkung fiel die britische Währung zum Dollar wieder unter 1,38 Dollar. Auch der Euro zog zum Pfund weiter an. Im Blickpunkt stand jedoch der japanische Yen, der vor allem zum Dollar deutlich zulegte. Händler machten unter anderem die höher als erwartet ausgefallene Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe in den USA für die Dollarschwäche verantwortlich.

Gold wurde teurer. In London kostete zum Nachmittagsfixing die Feinunze des Edelmetalls 860 (Mittwoch: 849,25) Dollar. SZ/Reuters/dpa

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Postbank prüft Staatshilfen

Konzern könnte riskante Papiere in Milliardenhöhe auslagern

Von Caspar Dohmen

Düsseldorf - Noch gehört die Postbank zu den wenigen großen Banken in Deutschland, die während der derzeitigen Weltwirtschaftskrise keine Hilfen des Staates beansprucht haben. Doch dies könnte sich schon bald ändern: Der Bonner Konzern prüft, ob er strukturierte Kreditpapiere in staatliche Hände geben soll. "Wenn die Bedingungen stimmen, wollen wir das Portfolio auslagern", sagte ein Banksprecher am Donnerstag auf Anfrage. Noch stört sich die Bank laut Finanzkreisen daran, dass sie ihre Kreditpapiere nur für drei Jahre bei dem staatlichen Rettungsfonds Soffin parken kann, dann aber in die eigenen Bücher zurücknehmen muss. Liebend gerne sähe es Postbank-Chef Wolfgang Klein deswegen, wenn die Bundesregierung eine "Bad Bank" schaffen würde, eine vom Staat finanzierte Spezialbank also, die dauerhaft die faulen Wertpapiere übernehmen würde. Dort würde Klein dann gerne ein Kreditpaket in Höhe von sechs Milliarden Euro loswerden.

Unverkäufliches in der Bilanz

Die Bundesregierung ist angesichts erwarteter Milliardenkosten bisher strikt gegen eine solche Institution. In der Regierung werde weder im Finanzministerium noch an anderer Stelle an Plänen für eine Bad Bank gearbeitet, sagte ein Sprecher. In der Bankenbranche mehren sich wegen hoher Verluste dagegen die Forderungen nach einem solchen Institut.

Wie die meisten ihrer Konkurrenten hatte die Postbank in den vergangenen Jahren verbriefte Kredite in großem Ausmaß eingekauft. Seit dem Platzen der Kreditblase sind die Preise für diese Papiere drastisch gesunken, viele sind unverkäuflich. Besonders hart traf die Postbank die Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008: 317 Millionen Euro hat die Postbank bislang schon auf ihre Lehman-Risiken wertberichtigt. In Island, das vom Staatsbankrott bedroht ist, hatte die Postbank 31 Millionen Euro abgeschrieben. Nach hohen Verlusten im dritten Quartal dürfte Deutschlands größte Privatkundenbank das abgelaufene Jahr mit Verlusten beendet haben. Jahrelang hatte die Postbank hohe Gewinne erzielt, indem sie die Einlagen ihrer Kunden an den Kapitalmärkten anlegte. In der Krise rächte sich dieses Geschäftsmodell.

Zuletzt hatte das Institut schon sein geschrumpftes Eigenkapital um eine Milliarde Euro aufgestockt. Da kein anderer Anleger zu den Konditionen mitmachen wollte, zeichnete der Mehrheitseigentümer Deutsche Post alleine die Aktien der blau-gelben Postbank. Anders als viele Konkurrenten hat die Postbank jedoch keine Liquiditätsprobleme, da sie über hohe Einlagen ihrer Kunden beispielsweise auf Sparbüchern verfügt. Dies ist ein Grund dafür, dass die Deutsche Bank die Postbank übernehmen will.

Logos von Postbank und Deutscher Bank: Die beiden Institute sollen bald fusionieren. Vorher könnte der Staat dem Institut beispringen. Foto: AP

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Deutsche Börse: Aktiengewinne schmelzen

Negativ aufgenommene US-amerikanische Konjunkturdaten haben am Donnerstag den deutschen Aktienmarkt ins Minus gedrückt. Der Leitindex Dax fiel zuletzt um 0,7 Prozent auf 4230 Punkte. Der MDax verlor 0,9 Prozent auf 4891 Punkte, der TecDax sank um einen halben Prozentpunkt auf 458 Punkte.

Zu den Gewinnern im Dax gehörten vor allem die Aktien der Banken. Als Grund dafür sahen Wertpapierhändler vor allem die kräftige Erholung der Finanztitel in den USA. Zudem wird in der politischen Debatte um eine Milliarden-Entlastung der Kreditinstitute auch das Modell einer "Bad Bank light" diskutiert. Danach sollen die Bankbilanzen mit Hilfe von Ausgleichsforderungen entschlackt und so die Finanzinstitute vor weiteren Abschreibungen bewahrt werden, ohne dem Bund die Verluste aufzubürden.

Aktien der Commerzbank gewannen am meisten, sie legten um 5,2 Prozent auf 3,01 Euro zu. Dahinter belegten Deutsche Bank mit plus 1,4 Prozent auf 17,90 Euro und Postbank mit Kursgewinnen von 1,5 Prozent auf 8,07 Euro die vorderen Plätze. Im MDax gewannen Anteilsscheine des Bauunternehmens Hochtief 1,9 Prozent auf 25,26 Euro. Die amerikanische Tochter Turner hat in den USA weitere Aufträge im Gesundheitssektor für etwa 373 Millionen Euro erhalten. Aktien von Heidelberger Druck fielen indes nach vorherigen Gewinnen zuletzt um vier Prozent auf 3,60 Euro. Der Maschinenbauer sucht laut einem Pressebericht einen Großinvestor.

Am Rentenmarkt notierte der Bund-Future bei 125,05 (Vortag: 125,16) Prozent.

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Marktdaten 22.1.09Vortag Änd.
MDax(16 Uhr)4890,964935,45 - 0,90 %
TecDax(16 Uhr)457,74460,18 - 0,53 %
Euro Stoxx 50(16 Uhr)2165,422188,43 - 1,05 %
Dow Jones(16 Uhr)8067,778228,10 - 1,95 %
Euro Interbanken(16 Uhr)1,29501,3017 -0,0067 $
Gold je Feinunze * 860,00849,25 - 10,75 $
Brent-Öl je Barrel(16 Uhr)44,7545,02 - 0,27 $
10j. Bundesanl.(16 Uhr)3,023,00 + 0,02**
10j. US-Staatsanl.(16 Uhr)2,562,53 + 0,03**
* Londoner Nachmittagsfixing ** Prozentpunkte
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"Vollkommen willkürlich"

US-Politiker streiten darüber, welche Bank wieviel Geld bekommt

Von Moritz Koch

New York - Die Wirtschaftskrise geriet zur Nebensache. Als Timothy Geithner, Barack Obamas Kandidat für das Amt des Finanzministers, am Mittwoch den Senatoren im Finanzausschuss Rede und Antwort stehen musste, brachten ihn vor allem die Fragen nach seinen Steuersünden in Verlegenheit. Geithner hat zugegeben, dem Staat jahrelang zu wenig gezahlt zu haben. Und so ging fast unter, was der Notenbanker eigentlich sagen wollte: dass der Rettungsschirm für den Finanzsektor dringend reformiert werden müsse. "Es gibt ernste Bedenken über die Transparenz und Verantwortlichkeiten, Unklarheiten hinsichtlich der Ziele des Programms", sagte Geithner.

Die Defizite des Tarp, wie das 700 Milliarden Dollar schwere Rettungspaket heißt, sind längst offenkundig. Der Prozess der Geldvergabe ist derart geheimnisvoll, dass außerhalb des Finanzministeriums niemand weiß, welche Kriterien darüber entscheiden, ob eine Bank Staatshilfen bekommt oder nicht. Einflussreiche Kongressabgeordnete nutzen die nebulöse Situation, um Geld für Banken in ihren Wahlkreisen locker zu machen. Der Verdacht liegt nahe, dass politische Verbindungen, nicht ökonomische Notwendigkeit, den Ausschlag geben.

"Vollkommen willkürlich", nennt South Carolinas Gouverneur Mark Sanford das Rettungsprogramm. "Mit dem richtigen Lobbyisten und dem richtigen Kongressabgeordneten in Washington bekommt man einen goldenen Klaps auf die Schulter", sagte er dem Wall Street Journal. Für die Kritiker steht fest: Der Rettungsschirm ist auf die Zwecke der Klientelpolitik zugeschnitten, nicht für die Bedürfnisse des Kapitalmarkts. So soll Barney Frank, der Vorsitzende des Bankenausschusses des Abgeordnetenhauses, Geld aus Washington in seinen Heimatstaat Massachusetts gelotst haben, um der ebenso maroden wie schlecht geführten Regionalbank One United zu helfen. Frank gibt zu, mit Beamten aus dem Finanzministerium über One United gesprochen zu haben. Zwar ist es so gut wie unmöglich, eine direkte Verbindung zwischen politischer Einflussnahme und Freigabe der Tarp-Mittel zu beweisen. One United ist aber nicht die einzige Auffälligkeit. Mehrere Banken aus Ohio bekamen Geld, nachdem sich Kongressabgeordnete bitterlich beschwert hatten, dass das Finanzministerium der National City Corporation in Cleveland Hilfen verweigerte.

Ursprünglich sollten nur "gesunde Banken" Staatshilfen erhalten. Da aber allein der Sanierungsfall Citigroup schon 45 Milliarden Dollar aus dem Fonds verschlungen hat, hat dieser Maßstab seine Gültigkeit verloren. Aus dem Finanzministerium heißt es nur: Die Entscheidungen werden von einem Komitee auf Basis von Empfehlungen und Daten der Regulierungsbehörden getroffen.

Insgesamt hat die US-Regierung 125 Milliarden Dollar für Regionalbanken reserviert. Nach derzeitigem Stand sollen 8500 Kreditinstitute Hilfen erhalten. Die neue Regierung will den chaotischen Vergabeprozess ordnen und plant, eine staatliche Deponie zu schaffen, auf der Banken ihre faulen Wertpapiere entsorgen könnten. Ein solches Vorhaben ist nach Einschätzung des designierten Finanzministers Geithner zwar schwer umsetzbar. Es könnte aber Teil einer Lösung der Kreditkrise sein, sagte er. Außerdem wäre es eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Idee: Tarp steht für "Troubled Asset Relief Fonds", zu deutsch: Fonds zur Befreiung von problembelasteten Anlagen.

B. Frank, Vorsitzender des Bankenausschusses im Abgeordnetenhaus. F.: AP

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Aufsicht greift bei Gehältern ein

Düsseldorf - Als zentrale Ursache für die Finanzkrise gilt die Entlohnung der Manager. Häufig sind für die erfolgsabhängige Gehaltsbestandteile kurzfristige Ziele entscheidend, wie die Steigerung des Aktienkurses. So trafen Manager viele Entscheidungen, die sich als langfristig schlecht für die Unternehmen entpuppten. Eine Änderung der gängigen Praxis schreibt nun die deutsche Finanzaufsicht vor, zumindest für Versicherungsunternehmen. Sie müssen künftig die variablen Bezüge der Manager an langfristigen Kriterien festmachen.

"Die Vergütungssysteme müssen sicherstellen, dass sich der variable Teil der Vergütung an dem langfristigen Erfolg des Unternehmens orientiert", heißt es in einem Rundschreiben der Finanzaufsicht Bafin vom Donnerstag, in dem die Mindestanforderungen an das Risikomanagement der Versicherer festgelegt werden. Bei der Ausgestaltung der Vergütungssysteme einzelner Organisationseinheiten sei auch der gesamte Erfolg des Unternehmens angemessen zu berücksichtigen. Über die neuen Vorgaben hatte die Aufsicht seit Frühjahr 2008 beraten. Wie die Versicherer die Vorgaben umsetzen, ist ihnen selbst überlassen. Allerdings überprüft die Finanzaufsicht die Praxis. dom

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Weltbörsen: Microsoft enttäuscht

Schlechte Konjunkturdaten haben die US-Aktienmärkte am Donnerstag zum Handelsauftakt ins Minus gedrückt. Die vor Börsenbeginn vorgelegten US-Wohnungsbaudaten waren schwächer ausgefallen als erwartet. Nach Angaben des Handelsministeriums fiel die Zahl der begonnenen Wohnbauprojekte im Dezember aufs Jahr hochgerechnet um 15,5 Prozent auf ein Rekordtief von 550 000. Zudem drückten Zahlen vom US-Arbeitsmarkt auf die Stimmung. Der Dow Jones gab in den ersten 30 Handelsminuten 1,2 Prozent auf 8126 Punkte ab. Der S&P 500 notierte 1,5 Prozent im Minus bei 828 Zählern. Der Nasdaq Composite verlor 2,2 Prozent auf 1474 Punkte.

Mut machten allerdings die Zahlen von Apple. Der Konzern verzeichnete einen unerwartet starken Gewinnanstieg und gab einen optimistischen Ausblick. Die Apple-Aktien kletterten um sieben Prozent nach oben. Dagegen verfehlte Microsoft im zweiten Quartal die Erwartungen und kündigte Stellenstreichungen an. Die Aktien stürzten um 7,5 Prozent ab. Ebay-Titel brachen nach einem Gewinneinbruch im Weihnachtsquartal knapp 12 Prozent ein.

In Europa drehte der Euro Stoxx 50 am Nachmittag ins Minus und notierte 0,6 Prozent tiefer bei 2175 Punkten.

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Jobverluste wegen Einweg-Flaschen

München - Der Rückzug der Mehrwegflasche im Getränkehandel gefährdet nach Ansicht der Gewerkschaft Nahrung Genuss und Gaststätten (NGG) viele Arbeitsplätze. "Bis zu 10 000 Stellen könnten in den nächsten Jahren wegfallen", sagte der NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg am Donnerstag. Stark unter Druck gerieten vor allem kleinere und regionale Produzenten, die sich die Anschaffung einer zusätzlichen Abfüllanlage für Einwegflaschen nicht leisten könnten. In der deutschen Getränkeindustrie sind über 55 000 Menschen beschäftigt.

Mit der wachsenden Verwendung von Einwegflaschen habe der Bund sein Ziel, die Mehrwegquote auf 80 Prozent zu steigern, eindeutig verfehlt, ergänzte Möllenberg. Er kritisierte zudem, dass für Käufer häufig nicht erkennbar sei, ob es sich nun um Einweg- oder Mehrwegflaschen handelt, weil in beiden Fällen ein Pfand anfällt, das bei Rückgabe der Flaschen rückerstattet wird. Er plädierte für eine Abgabe für Einwegflaschen, die den finanziellen Nachteil des Mehrwegsystems ausgleichen soll.

Ursache für die starke Zunahme bei Einwegflaschen ist vor allem der wachsende Marktanteil von Discountern wie Aldi und Lidl, die inzwischen gut die Hälfte des in Deutschland hergestellten Mineralwassers verkaufen - ausschließlich in Einwegflaschen. Ein 1,5-Liter-Behälter kostet in der Regel 19 Cent plus 25 Cent Pfand. Möllenberg befürchtet, dass der Discounter-Marktanteil in den nächsten Jahren weiter wächst und vor allem kleine und mittelgroße Hersteller die Verlierer sein werden. slb

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RAG-Stiftung hält an Börsenplan fest

Düsseldorf - Trotz der Finanzkrise hält die RAG-Stiftung als Großaktionärin des Essener Evonik-Konzerns an dem geplanten Börsengang fest. "Die Stiftung hat Zeit", sagte Wilhelm Bonse-Geuking, der Chef der Organisation und Vorsitzende des Evonik-Aufsichtsrats vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung in Düsseldorf. Durch den Verkauf von gut 25 Prozent der Anteile des aus der früheren Ruhrkohle hervorgegangenen Chemie- und Energiekonzerns an den Finanzinvestor CVC verfüge die Stiftung neben Rückstellungen von zwei Milliarden Euro über Liquidität von einer Milliarde. Dazu kämen die regelmäßigen Dividenden von Evonik. Die Stiftung fühle sich aber der Perspektive von Evonik verpflichtet und müsse deswegen in der gegenwärtigen Krise nicht auf Ausschüttungen um jeden Preis bestehen. "Wir sind nicht die berühmte Heuschrecke", sagte Bonse-Geuking. Die für 2008 zu erwartende Dividende werde aber nicht aus der Substanz gezahlt werden. hwb

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Hiobsbotschaften aus Turin

Fiat kämpft gegen Kapitalnot und 21 Prozent Absatzrückgang

Von Ulrike Sauer

Rom - Als Fiat vor drei Tagen den Einstieg beim krisengebeutelten US-Hersteller Chrysler ankündigte, überschlugen sich in Rom die Minister mit Komplimenten. "Das ist ein Zeichen außerordentlicher Vitalität", frohlockte Finanzminister Giulio Tremonti. Die Unternehmer im Lande wüssten sich selbst zu helfen, lobte er. Ihrerseits hat die römische Regierung bisher keinen Finger gerührt, um den Konjunktureinbruch abzufedern. Doch dann kam am Donnerstag die Vorlage des Jahresergebnisses des Turiner Autokonzerns. Nach dem Abschmieren der Fiat-Aktie sprang Silvio Berlusconi in die Bresche: "Hilfen für die Autoindustrie sind notwendig geworden", erklärte der Premier auf einmal. Am Dienstag will er darüber beraten lassen.

Die Turiner Hiobsbotschaften hatten den Aktienkurs kurz nach ihrer Verkündung um 14 Prozent nach unten getrieben: Italiens größter Industriekonzern zahlt trotz 1,7 Milliarden Euro Nettogewinn in 2008 keine Dividende. Das Aktienrückkaufprogramm ist gestrichen. Und im vierten Quartal fiel der Umsatz der Autosparte um 21 Prozent. Für 2009 rechnet Fiat-Lenker Sergio Marchionne für die gesamte Produktpalette mit einem Absatzrückgang um 20 Prozent. Zum ersten Mal seit seinem Antritt bei Fiat 2004 rückte der Sanierer von Zielvorgaben ab und kürzte die Gewinnprognose für 2009 von drei Milliarden Euro auf mehr als 300 Millionen Euro. Die Schulden stiegen unerwartet auf knapp sechs Milliarden Euro. Kürzlich hatte die Ratingagentur Moody's Fiat auf die Beobachtungsliste gesetzt, mit dem Ausblick, die Kreditwürdigkeit herabzustufen.

Spekulationen über mögliche Schritte zur Überwindung der Kapitalnot hielten am Donnerstag die Börse in Atem. Ein Konzernsprecher dementierte Gerüchte, nach denen die Aktionärsfamilie Agnelli eine Kapitalerhöhung bei Fiat um zwei Milliarden Euro erwäge. Die Finanzspritze solle in dem Fall gesetzt werden, dass sich der Konzern mit dem französischen Partner Peugeot zusammenschließe, schrieb die Zeitung La Repubblica. Das Wirtschaftsblatt Il Sole 24 Ore berichtete, Fiat bemühe sich in Gesprächen mit Banken seit einem Monat um eine Kreditlinie von bis zu fünf Milliarden Euro.

Trotz der sich rapide verschlechternden Lage werde Fiat "die Strategie gezielter Allianzen fortsetzen, um den Kapitaleinsatz zu verbessern und die Risiken zu senken", teilte der Konzern mit. Bereits Anfang der Woche hatte sich Marchionne beim Einstieg bei Chrysler offen für weitere Partnerschaften gezeigt. In Washington regt sich aber Widerstand gegen die strategische Allianz zwischen Fiat und dem am staatlichen Tropf hängenden US-Hersteller. Der bisher mit vier Milliarden Dollar gestützte Detroiter Konzern besteht auf zusätzliche Hilfen in Höhe von drei Milliarden Dollar. Kongresspolitiker kritisieren die mögliche Vergabe weiterer Kredite an Chrysler wegen des künftigen Großaktionärs Fiat. Sie fürchten, das Geld werde nicht der US-Wirtschaft zugute kommen.

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Kräftig verspekuliert

Viele Fluggesellschaften haben verfehlte Sicherungsgeschäfte für hohe Kerosinpreise abgeschlossen, nur die Lufthansa lag richtig

Von Jens Flottau

Frankfurt - Fluggesellschaften haben sich weltweit bei ihren Treibstoffkosten in großem Stil verspekuliert. Allein für die zweite Jahreshälfte 2008 bleiben sie laut Analystenberechnungen auf zusätzlichen Kosten in Höhe von mehreren Milliarden Dollar gegenüber Marktpreisen sitzen, weil sie bei ihren Sicherungsgeschäften von steigenden Ölpreisen ausgegangen waren. In Europa sind Air France-KLM und Easyjet am stärksten betroffen, während Lufthansa, British Airways und Ryanair glimpflicher davon kommen.

Bis zum 11. Juli 2008 war der Ölpreis auf die Rekordhöhe von 147 Dollar pro Barrel gestiegen, seither ist er aber um fast 70 Prozent gefallen. Angesichts von Prognosen seriöser Analysten, der Preis könne auf bis zu 200 Dollar steigen, haben viele Airlines zum Teil panikartig die so genannten Hedging-Verträge unterschrieben, zu aus heutiger Sicht astronomisch hohen Preisen. Weil die Verträge über einen längeren Zeitraum gelten, müssen die Fluggesellschaften nun deutlich mehr für Treibstoff ausgeben, als die Marktpreise erwarten lassen. Der International Air Transport Association (IATA) zufolge gibt es noch keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viel Geld die Branche durch die ungünstigen Verträge verlieren wird. Die Fehlspekulationen haben aber verheerende Auswirkungen.

Die Investmentbank Merrill Lynch rechnet für die neun größten asiatischen Fluggesellschaften mit einer Belastung von 3,8 Milliarden Dollar für 2008. United Airlines hat das Hedging alleine im vierten Quartal des vergangenen Jahres fast eine Milliarde gekostet. Air France-KLM machte im abgelaufenen Quartal einen Verlust von 200 Millionen Euro und zahlte mehr als doppelt so viel für den Sprit. Easyjet konnte zwar den Umsatz um 32 Prozent steigern, weil vor allem Geschäftsreisende auf die meist günstigeren Verbindungen umgestiegen sind. Doch angesichts einer ähnlich ungünstigen Ausgangslage beim Hedging dürfte der Zuwachs beim (noch nicht veröffentlichten) Gewinn deutlich darunter liegen. Konkurrent Ryanair hatten die Rekordpreise nahezu voll getroffen, weil sich die Airline fast gar nicht abgesichert hatte, davon profitiert der Billig-Anbieter nun umso mehr.

Beim Hedging gibt es zwei unterschiedliche Instrumente. Die meisten Airlines decken sich mit sogenannten Swaps ein: Steigt dabei der Kerosinpreis über einen bestimmten Wert, übernimmt die finanzierende Bank einen Teil der Zusatzkosten. Im umgekehrten Fall profitiert die Airline nicht so stark von fallenden Preisen. Wesentlich komplexer sind Put- und Call-Optionen. Die Optionsgeschäfte erlauben aber mehr Flexibilität.

Als eine der wenigen Airlines setzt die Lufthansa auf diese Form des Hedging und macht damit gerade wieder einmal gute Erfahrungen. Obwohl sich die größte deutsche Fluggesellschaft für 2009 bereits vor dem Preissturz sehr weitgehend abgesichert hatte, sinken ihre Treibstoffausgaben im laufenden Jahr von 5,4 auf 3,7 Milliarden Euro. Laut UBS entspricht die Differenz ungefähr dem Betrag, den das Unternehmen auf der Umsatzseite durch den erwarteten Rückgang bei den Durchschnittserlösen (Yields) im laufenden Jahr verlieren wird.

Zu den Verlierern im Hedging-Poker gehört auch Austrian Airlines, die gerade von der Lufthansa übernommen wird. Sie hatte ihren Bedarf nach Angaben aus Branchenkreisen bei einem Ölpreis um die 120 Dollar teilweise abgedeckt. Nun sinken rezessionsbedingt auch die Passagierzahlen - im Dezember um sieben Prozent. Austrian wird voraussichtlich auch 2009 einen hohen Verlust einfliegen, hingegen rechnet die Konzerntochter Swiss trotz allem mit einem Gewinn.

United-Passagiere beim Einchecken: Die Ticketpreise steigen. Foto: AP

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ROSSIGNOL

Schlechter Ski-Absatz

Lyon - Der Skiausrüster Rossignol macht seine Werke für zwei Monate dicht. Die Produktion werde "wegen der schwierigen Konjunkturlage" vom 3. Februar bis zum 31. März ruhen, teilte das Unternehmen mit. Die 1600 Beschäftigten würden in Kurzarbeit geschickt. Betroffen sind vier Standorte in Frankreich, Spanien und Italien. Zu der Gruppe gehören neben Rossignol auch die Marken Dynastar und Look (Bindungen) sowie Lange (Schuhe). Rossignol gehört dem Investor Macquarie und verbuchte 2007/2008 bis Ende Oktober bei einem Umsatz von 270 Millionen Euro einen Verlust von 50 Millionen Euro. AFP

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NOKIA

Düstere Prognose

Helsinki - Der weltgrößte Handy-Hersteller Nokia will sich mit Kostensenkungen von 700 Millionen Euro jährlich gegen die Folgen der weltweiten wirtschaftlichen Krise wappnen. Die Konsumzurückhaltung brachte Nokia im Weihnachtsquartal einen stärkeren Gewinnrückgang ein als von Experten erwartet. Für die Branche zeichneten die Finnen ein noch pessimistischeres Bild als zuletzt, was die Aktie mehr als sechs Prozent ins Minus drückte. Nokia teilte mit, für 2009 mit einem Rückgang des weltweiten Handy-Absatzes um zehn Prozent zu rechnen. Der Abschwung werde im 1. Halbjahr kräftiger sein. Reuters

Nokia verbreitete am Donnerstag schlechte Stimmung. Foto: AFP

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AUDI

Produktion gedrosselt

München - Die VW-Tochter Audi reagiert auch auf die Absatzkrise in der Automobilindustrie und plant einen fünftägigen Produktionsstopp in ihrem Werk Ingolstadt. Noch sei nicht entschieden, ob die Schließtage über Arbeitszeitkonten oder Kurzarbeit umgesetzt werden, sagte eine Unternehmenssprecherin. Geplant sei der Produktionsstopp für die Zeit zwischen 23. und 27. Februar. Die Zahl der betroffenen Beschäftigten sei noch unklar, auch lasse sich noch nicht beziffern, wieviele Autos dadurch nicht gebaut werden. In Ingolstadt hat Audi fast 33 000 Beschäftigte, davon rund 15 000 in der Produktion. dpa

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DEUTSCHE TELEKOM

Neue Stellen

Düsseldorf - Die Deutsche Telekom will im laufenden Jahr bis zu 3500 neue Mitarbeiter einstellen. Dies gab Personalvorstand Thomas Sattelberger am Donnerstag bekannt. Im Vorjahr hatte die Telekom ähnlich viele Stellen neu besetzt. Außerdem verspricht das Unternehmen 3600 neue Ausbildungsplätze. Fast 12 000 junge Menschen bildet die Telekom aus; sie ist damit nach eigenen Angaben größter Ausbilder in Deutschland. Weitere Jobs würden entstehen, wenn die Glasfasernetze zügig ausgebaut würden, sagte Sattelberger. Die Branche hofft auf eine Förderung des Netzausbaus durch die Regierung. dom

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Apple widersetzt sich dem Branchentrend

Der kalifornische Computerhersteller verdient zur Verblüffung aller so viel wie nie zuvor - auch wenn der Chef krank ist

Von Thorsten Riedl

München - Die Frage musste kommen. Tim Cook, Übergangschef beim Computerhersteller Apple, so lange Mitgründer Steve Jobs krank ist, hatte gerade das beste Quartalsergebnis in der Geschichte des Konzerns vorgelegt - in einer Zeit, in der fast alle Rivalen enttäuschen. Doch das war erstmal Nebensache. Wenn Jobs nicht mehr zurückkomme, wollte ein Analyst wissen, in diesem "schlimmsten aller Fälle": "Trauen Sie sich zu, das Steuer zu übernehmen?"

Tim Cook ließ sich etwas Zeit. Die Apple-Top-Manager seien "außerordentlich", sagte er dann, "und sie führen 35 000 Angestellte, die ich unheimlich clever nennen würde". Und weiter: "Wir glauben, wir sind auf diese Erde geschickt worden, um großartige Produkte zu machen - und das wird sich nicht ändern." Business as usual also, alles wie immer, auch ohne den Chef, so die Botschaft. Dem Ergebnis hat die Krankheit zumindest nicht geschadet. Vergangene Woche erst hat Steve Jobs in einem kurzen Schreiben an seine Beschäftigten mitgeteilt, sein Leiden sei schlimmer als befürchtet, und er ziehe sich bis Sommer zurück. Zwar will er weiter bei wichtigen Entscheidungen im Unternehmen mitwirken, doch zunächst übernimmt Cook, wie schon 2004, als sich Jobs wegen Bauchspeicheldrüsenkrebs hat behandeln lassen müssen. Der jüngsten E-Mail vom Apple-Mitgründer war eine schrittweise Verschlechterung der Lage vorangegangen: Im Sommer hieß es, Jobs habe einen "Bazillus", als sich Beobachter über seinen abgemagerten Zustand sorgten. Im Herbst erklärte der 53-Jährige, nach einer Operation könne er schlecht verdauen. Anfang 2009 teilte er mit, er habe eine hormonelle Störung, die leicht zu behandeln sei.

Wegen der schrittweisen Kommunikation war in den Staaten eine Debatte entbrannt, wie viel ein Unternehmen über den Gesundheitszustand des Chefs mitteilen muss, wenn solche Nachrichten wie bei Jobs den Aktienkurs bewegen. Die spärlichen Mitteilungen von Apple interessieren deshalb nun auch die US-Börsenaufsicht SEC, wie mehrere US-Medien mit Berufung auf nicht genannte Kreise berichten. Offiziell bezogen weder Apple noch die SEC zu dem Verfahren Stellung.

Die Börse störten die Ermittlungen und Spekulationen um Jobs am Donnerstag ausnahmsweise einmal nicht. Die Investoren belohnten das Rekordquartal von Apple mit einem Kurssprung von mehr als zehn Prozent. Die Anleger waren verblüfft, dass Apple trotz des für viele andere Firmen der IT-Branche schwierigen Konsumklimas im vierten Quartal so hohe Umsätze erzielt hat.

Cook konnte mit Finanzchef Peter Oppenheimer einen Umsatzsprung von sechs Prozent auf 10,2 Milliarden Dollar vorlegen - und damit zum ersten Mal in der 33-jährigen Geschichte des Konzerns über die Zehn-Milliarden-Dollar-Marke. Beim Gewinn verbuchten die beiden einen Zuwachs von knapp zwei Prozent auf 1,61 Milliarden Dollar.

Es lief in allen Bereichen von Apple gut. Von Oktober bis Dezember verkaufte das Unternehmen 2,5 Millionen Mac-Computer, ein Plus von 14 Prozent. Gefragt waren vor allem die tragbaren Macbook-Rechner. Der Trend zu Notebooks sei ungebrochen, hieß es dazu. Erstaunlich gut auch das Geschäft mit den iPod-Musikspielern. Viele Analysten hatten damit gerechnet, dass angesichts der Krise die Verbraucher lieber ihr altes Gerät behalten. Es kam anders: Drei Prozent mehr Geräte hat Apple verkauft, mit 22,7 Millionen iPod-Spielern insgesamt so viele wie nie zuvor. Verantwortlich seien vor allem die im September vorgestellten neuen Produkte gewesen, sagte Oppenheimer. Das Mobiltelefon iPhone verkaufte Apple 4,4-millionenmal. Das lag zwar unter den Erwartungen der Analysten - ist aber immer noch fast doppelt so viel wie im Jahr zuvor.

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Computer-Firmen streichen Tausende Jobs

Auch Microsoft muss erstmals kündigen: Wegen des Abschwungs häufen sich die Verluste in der erfolgsverwöhnten Industrie

Von Thorsten Riedl

München - Donnerstag war ein Tag der schwarzen Nachrichten für Angestellte in der Informationstechnik (IT) und Unterhaltungselektronik. Die Wirtschaftsflaute erwischt beide Branchen mit voller Wucht: Der Softwarekonzern Microsoft entlässt 5000 Mitarbeiter - die ersten Kündigungen in der 34-jährigen Firmengeschichte. Der Chiphersteller Intel schließt Fabriken in den USA und Asien: Bis zu 6000 Beschäftigte sind betroffen, viele verlieren ihren Job. Der Unterhaltungskonzern Sony erwartet das erste verlustreiche Geschäftsjahr seit 14 Jahren; der weltweit größte Festplattenhersteller Seagate erwirtschaftete einen hohen Verlust und gab zugleich eine Umsatzwarnung; das Online-Auktionshaus Ebay verfehlt den Umschwung, dem Unternehmen laufen die Verkäufer davon. Einen Lichtblick gab es allein vom Computerhersteller Apple (Artikel unten).

Einen Tag nur hat die gute Stimmung angehalten, die IBM am Mittwoch verbreitet hatte. Der weltweit zweitgrößte Computerkonzern hatte Quartalszahlen vorgelegt, die so gut waren, dass sie die Wirtschaftskrise für einen Moment vergessen machten. Am Donnerstag trübte sich das Klima schnell wieder ein. Softwarehersteller, Chipproduzent, Hardwarefirma, Unterhaltungskonzern, Onlineportal: Quer durch die Industrie summierten sich die schlechten Nachrichten.

Schwer traf es Microsoft. Seit Wochen gab es Gerüchte, das Unternehmen plane Entlassungen. Von bis zu 15 000 Stellen war zeitweise die Rede. Am Donnerstag nun zog Konzernchef Steve Ballmer unerwartet die Veröffentlichung der Quartalsbilanz vor: Statt abends nach Börsenschluss gab er sie morgens bekannt. Der Umsatz für das zweite Geschäftsquartal des Unternehmens stieg zwar leicht um zwei Prozent auf 16,7 Milliarden Dollar. Der Gewinn brach allerdings ein: um elf Prozent auf 4,2 Milliarden Dollar. Schuld trägt der Abschwung, den Microsoft-Deutschland-Chef Achim Berg als "sturzflugartige Konjunkturentwicklung" bezeichnete, sein Chef Ballmer als "schlimmste Rezession in zwei Generationen". Ballmer sagte weiter: "Unsere Antwort auf das wirtschaftliche Umfeld muss beides umfassen, das Festhalten an langfristigen Investitionen in Innovationen und die schnelle Reaktion, unsere Kosten zu reduzieren."

5000 Mitarbeiter müssen nun gehen. Das sind rund fünf Prozent der weltweit 91 000 Beschäftigten. Deutschland sei "nur in geringem Umfang betroffen", hieß es in einer Mitteilung des Unternehmens. Eine "kleine zweistellige Zahl an Stellen" werde beim Kundendienst wegfallen, die nicht für den deutschen Markt arbeiteten.

Auch Intel wird vor allem in anderen Teilen der Welt streichen. Das Unternehmen hatte in der vergangenen Woche einen Gewinneinbruch von 90 Prozent vermeldet. Intel schließt jetzt die letzte Chipfabrik im Silicon Valley, eine in der Nähe der Zentrale im kalifornischen Santa Clara, eine in Oregon, und zwei Fabriken in Malaysia und auf den Philippinen. Betroffen sind 6000 Mitarbeiter, einigen werden andere Positionen bei Intel angeboten. Weltweit beschäftigt Intel 83 000 Angestellte, 530 davon in Deutschland. In den vergangenen drei Jahren hat das Unternehmen 20 000 Stellen abgebaut. Das solle eigentlich genügen, um die Krise zu überstehen, hatte es noch vergangene Woche von Seiten Intels geheißen.

Sony, Ebay und Seagate gaben keine neuen Entlassungen bekannt. Die drei haben in den vergangenen Wochen und Monaten annähernd 20 000 Stellen gestrichen. Ebay und Seagate zogen Bilanz für das vierte Quartal. Ebay, weltweit größtes Online-Auktionshaus, schafft nicht den Umschwung. Zum zweiten Mal in der Firmengeschichte ging die Zahl der auf der Plattform gehandelten Güter zurück, dieses Mal um zwölf Prozent auf 11,5 Milliarden Dollar. Der Quartalsumsatz fiel um sieben Prozent auf zwei Milliarden Dollar, der Gewinn um 31 Prozent auf 367 Millionen Dollar. Der Ausblick war schlecht. Festplattenhersteller Seagate gab für das laufende Quartal sogar eine Umsatzwarnung bei Präsentation der aktuellen Bilanz. Sony erwartet für das aktuelle Geschäftsjahr, das noch bis Ende März geht, einen Verlust von 1,7 Milliarden Dollar - zuvor war mit einem Gewinn in dieser Höhe gerechnet worden. Die miesen Zahlen erhöhen den Druck auf Sony-Chef Howard Stringer.

Als Microsoft-Chef Steve Ballmer kürzlich auf der Messe CES eine Rede hielt, gab es schon Gerüchte über einen Stellenabbau. Am Donnerstag kündigte er nun die ersten Entlassungen der 34-jährigen Firmengeschichte an. Foto: Bloomberg

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