Das Streiflicht

(SZ) Gegensätze ziehen sich an, sagen die Leute, aber das bedeutet nicht, dass Frauen im Allgemeinen so scharf darauf sind, das Bett mit einem Frosch zu teilen. Ausnahmen bestätigen die Regel, sagen die Leute auch, aber die Königstochter im Grimm'schen Märchen machte keine Ausnahme und warf den Frosch, der Zugang zu ihrem Lager begehrte, mit all ihrer Kraft an die Wand. Das Glitschetier verwandelte sich daraufhin in einen Königssohn mit schönen und freundlichen Augen, aber darauf sollten Frauen, die sich mit vergleichbaren Offerten konfontiert sehen, lieber nicht vertrauen. Es könnte sein, dass sich so ein Frosch in einen Stiesel verwandelt, der feuchte Augen, aber ein kaltes Herz hat, was sich leider erst nach einiger Zeit herausstellt. Dann ist es zu spät, denn ein ausgewachsener Mann lässt sich nicht an die Wand werfen wie ein Frosch. Gegensätzlicher hätten die gar nicht sein können, meinen die Leute nun auf einmal, und überhaupt sei doch klar gewesen, dass das nie im Leben gutgehen konnte.

Es ist nämlich ein Märchen, dass sich ganz verschieden gestrickte Menschenwesen auf Dauer anziehen. Menschen sind keine Magneten, mit einem Nordpol und einem Südpol ausgestattet, denen sie sich wechselweise zuwenden könnten, und überhaupt ist das Leben kein Märchen. Die Königssöhne sind so rar geworden wie die Königstöchter, die Goldesel scheiden höchstens faule Wertpapiere aus, und Schneewittchen wird im Wettbewerb um Deutschlands Supermodel kübelweise mit Pech übergossen. "Die Schöne und das Biest" - das funktioniert nur, weil das Biest den Keim der Metamorphose in sich trägt. In der Realität aber bleibt das Biest meist ein Biest, auch dann, wenn es andersherum gewendet wird: "Der Schöne und das Biest."

Also ist es kein Märchen, wenn die Leute sagen: "Gleich zu Gleich gesellt sich gern." Der Satz ist nicht immer gut gemeint, muss aber niemanden kümmern, der sich mit seinem Partner einig weiß. Längere Beziehungen, so berichtet das Magazin Psychologie Heute, basieren auf der Übereinstimmung in wichtigen Merkmalen der Persönlichkeit, zum Beispiel der Neigung, sich an bestimmte Regeln zu halten. Niemand hat das besser dargestellt als Loriot in seinen Szenen einer Ehe, gerne überschrieben mit dem Satz: "Männer und Frauen passen eigentlich nicht zusammen." Eigentlich. Uneigentlich ist aber offenkundig, dass diese Dialoge, wiewohl streitbar geführt, nach einem fein austarierten, lange erprobten Regelwerk ablaufen, das keiner der Partner missen will. Mehr Konkordanz ist schwerlich denkbar, es sei denn, man glaubt noch an Märchen und daran, eines schönen Tages einem Frosch zu begegnen, der im tiefen Brunnen nach einer goldenen Kugel taucht. Wer darauf setzt, sollte sich aber nicht wundern, wenn er mit einem Frosch das Lager teilt.

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Bloß keine „Bad Bank"

Eine Müllhalde für Wertpapiere überfordert den Staat

Von Helga Einecke

Die Scheinwelt des internationalen Wertpapierhandels wird nach und nach entlarvt. Langsam offenbart sich ein Müllberg von bislang unvorstellbarer Größe. Es wird Jahre dauern, ihn abzutragen. Ein Entsorgungskonzept ist die sogenannte "Bad Bank". Man gründet - staatlich oder privat - eine neue Bank, die den Müll zeitlich gestreckt verwertet. Das Konzept hat sich bewährt: Die Dresdner Bank hat so vor ein paar Jahren ihre Kreditkrise verarbeitet und die Schweden haben in den 90er Jahren auf diese Art ihre Bankenkrise überwunden.

Aber dieses Mal geht es um ganz andere Dimensionen. Schätzungen zufolge führen alle deutsche Banken zusammen riskante Wertpapiere von einer Billion Euro in ihren Büchern. Nicht alle dürften völlig wertlos sein und reif für eine "Bad Bank". Aber auch ein paar hundert Milliarden Euro würden Staat und Steuerzahler überfordern. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück weigert sich zu Recht, dem Ruf nach einer staatlichen "Bad Bank" zu folgen. Bisher weiß keiner genau, wie viel welche Wertpapiere wert sind. Zu welchen Bedingungen soll denn eine "Bad Bank" dann den Banken die Papiere abkaufen? Wer entscheidet darüber, welche Werte anzusetzen sind?

Eine "Bad Bank" wäre nicht gerecht. Die Steuerzahler müssten für die vergifteten Wertpapiere aufkommen. Die Kreditinstitute aber könnten so wirtschaften, wie sie es für richtig halten, ohne dass der Staat sie von neuerlichen Fehlern abhalten könnte. Es ist wohl kein Zufall, dass die Deutsche Bank, die sich gegen direkten staatlichen Einfluss wehrt, zu den Befürwortern einer "Bad Bank" gehört. Sie würde von diesem Konzept am meisten profitieren, weil sie jede Menge marode Wertpapiere besitzt. (Seite 23)

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Bund lässt sich Zeit bei Hypo Real Estate

München - Beim Einstieg des Bundes bei der angeschlagenen Immobilienbank Hypo Real Estate (HRE) gibt es offenbar noch erheblichen Diskussionsbedarf. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung ist vor allem strittig, inwiefern sich der Staat zum Mehrheitsaktionär des Instituts aufschwingen soll. "Zurzeit wird über weitere Garantien und eine mögliche Kapitalerhöhung verhandelt", heißt es aus Finanzkreisen. Zurzeit hält der Bund einen Garantierahmen für die HRE in Höhe von 30 Milliarden Euro bereit; außerdem hatten Bund und Privatbanken bereits im Herbst ein Rettungspaket im Wert von 50 Milliarden Euro geschnürt. Es gehe nun darum, mit Hilfe von weiteren Milliardengarantien Zeit zu gewinnen und der HRE so Luft zu verschaffen. "Vor allem eine Mehrheitsbeteiligung dürfte aber politisch nur schwer durchsetzbar sein", berichten Finanzkreise. (Seite 23) o.k./thf

Hypo Real Estate: Krise HVB Real Estate Bank: Verstaatlichung Rettungspaket für die Kreditbranche in Deutschland 2008 - SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ministerialrat Dr. Hektik

Teure Schlampereien in der Gesetzgebung nehmen zu

Solch glückliche Umstände gibt es sonst nur bei Monopoly. "Bankirrtum zu deinen Gunsten", heißt es da, oder "Das Finanzamt zahlt dir Geld zurück". Eine Schleswig-Holstein-Version des Kapitalisten-Brettspiels könnte eine besonders originelle Ereigniskarte enthalten: "Der Gesetzgeber hat sich zu deinen Gunsten verrechnet. Schicke dein Kind sofort in den Kindergarten. Zahle dafür nichts." Der Spaß hat einen ernsten Hintergrund: Weil die Landesregierung in Kiel ein Gesetz schlampig formuliert hat, gehen der Staatskasse womöglich 20 Millionen Euro verloren.

Die große Küsten-Koalition aus CDU und SPD hat es bei der Neugestaltung des Kindertagesstättengesetzes mit den Wohltätigkeiten ein bisschen übertrieben. Zwar beschloss sie, dass für das dritte Kindergartenjahr künftig keine Gebühren mehr fällig werden, doch das sollte erst vom 1. August 2009 an gelten. Der wichtige Stichtag wurde im Gesetz aber vergessen - und damit gehen die Kleinen schon jetzt gratis in die Kita. "Das Beispiel passt in das Bild einer immer schlechter werdenden Gesetzgebung", sagt Rainer Kersten vom Bund Deutscher Steuerzahler und erinnert an die vom Bundesverfassungsgericht gekippte Änderung der Pendlerpauschale. Immer häufiger würden aus politischen Formelkompromissen übereilt Gesetze gestrickt, die dann entweder fehlerhaft seien oder einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht standhielten.

Oder sie sind einfach schlampig gemacht. So gelang es der hessischen Opposition aus SPD, Grünen und Linken im Wiesbadener Landtag zwar, 2008 ein Gesetz zur Abschaffung der Studiengebühren zur Abstimmung zu bringen. Leider war irgendwo unterwegs der wichtigste Satz des Gesetzestextes verlorengegangen: der über die Abschaffung der Gebühr. Auch im Berliner Paragraphen-Dschungel läuft nicht alles glatt. 2006 lehnte Bundespräsident Horst Köhler erst die Unterzeichnung des Flugsicherungsgesetzes und dann die des Verbraucherinformationsgesetzes ab. Die bundespräsidialen Juristen hielten beide Gesetze für verfassungswidrig, die Koalition musste nachsitzen. Auch das Gleichbehandlungsgesetz sah am Ende anders aus als gedacht: Ein Passus, der Antidiskriminierungsverbänden erlaubt, stellvertretend für angebliche Diskriminierungsopfer vor dem Arbeitsgericht klagen zu dürfen, sollte wegfallen, blieb aber versehentlich im Gesetz. "In der Hitze des Gefechts", hieß es vor zwei Jahren in Berlin.

Für den Bund der Steuerzahler ist das ein Trend: Es gebe einfach immer mehr "handwerklichen Gesetzesmurks", so Rainer Kersten. In Schleswig-Holstein hoffen die Juristen des Finanzministeriums, das den folgenschweren Fehler ins übergeordnete Haushaltsstrukturgesetz eingebaut hatte, dass es sich in ihrem Fall um eine "offensichtliche Unrichtigkeit" handelt, die geändert werden dürfte und damit folgenlos bliebe. Das hält zwar auch der Bund der Steuerzahler für möglich - was die Sache nach Ansicht Kerstens aber keinesfalls besser macht. Die hastige Gesetzgebung in Deutschland werde "zunehmend zum Problem".

"Irgendwie tragisch-komisch" findet er, selbst Vater eines Kita-Kindes, dabei die jüngste Panne in Kiel. Im Prinzip könne sich das mit 23 Milliarden Euro verschuldete Land nämlich überhaupt keine beitragsfreien Kindertagesstätten leisten. Was soll's, fand der FDP-Abgeordnete Heiner Garg: "Damit bewirkt der kaum noch zu ertragende handwerkliche Murks der großen Koalition zum ersten Mal etwas Gutes." Ralf Wiegand

Bund der Steuerzahler e.V. Gesetzgebung in Deutschland Regierungen Schleswig-Holsteins Kinderbetreuung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Betrug am Bankautomaten nimmt stark zu

Erst die Daten, dann das Geld

Beim Ausspähen von Magnetspur und Geheimzahl wenden Kriminelle ausgefeilte Techniken an

Von Helga Einecke

Frankfurt - Banküberfälle finden immer häufiger vor der Bank statt, nämlich am Geldautomaten. Experten gehen davon aus, dass sich die Fälle von Kartenfälschungen 2008 verdoppelt und Schäden von mehr als 30 Millionen Euro in Deutschland verursacht haben. Banken und Sparkassen setzen auf die Mithilfe der Kunden und der Polizei.

Kriminaldirektor Markus Koths vom Bundeskriminalamt (BKA) bestätigt den starken Anstieg der Manipulationen an Geldautomaten. Diebesbanden aus Osteuropa sind auf das Frisieren der Geräte spezialisiert. Sie räumen an einem Automaten gleich eine ganze Reihe von Konten leer. Im Schnitt kamen sie pro Kunde an 2000 Euro heran. Laut BKA gehen die Täter immer gleich vor. Sie kopieren die Daten von Zahlungskarten, nachdem sie die Daten und die persönliche Geheimnummer (PIN) abgegriffen haben.

Mit den gefälschten Karten wird dann im Ausland Geld abgehoben. Die Geschädigten stellen das erst bei der Kontrolle ihrer Kontoauszüge fest. Das Abgreifen der Daten heißt in der Fachsprache Skimming. Dabei müssen die Betrüger an die Magnetspur und die Geheimzahl kommen. Meist montieren sie Kartenlesegeräte an den Automaten oder am Türöffner und lesen die PIN per Videokamera oder über eine gefälschte Tastatur ab.

Das BKA fordert von den Banken und Sparkassen, auf der Karte die wichtigen Daten statt auf dem Magnetstreifen auf einem Chip zu speichern, um die Risiken zu verringern. Es gebe auch andere technische Möglichkeiten, um den Manipulationen vorzubeugen. Diese würden aus Kostengründen nicht flächendeckend eingesetzt. Dazu gehöre auch die Installation von Überwachungskameras. Nicht zuletzt könnten die Türöffner an der Eingangshalle abgebaut und damit eine Gefahrenquelle beseitigt werden.

Die Deutschen lieben den Geldautomaten. In einer Allensbach-Umfrage erklärten sie den Geldautomaten zur nützlichsten technischen Erfindung. Von den bundesweit 54000 Geldautomaten machen die Bürger regen Gebrauch. Der bequeme Zugang zum Konto stellt die Betreiber der Automaten allerdings vor große technische Herausforderungen.

Die starke Zunahme manipulierter Geräte wird von Ralf-Christoph Arnoldt, Leiter Abteilung Zahlungsverkehr im Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken, bestätigt. Die wichtigste Botschaft für die Kunden ist nach seiner Einschätzung, dass diese für diese Betrugsfälle nicht haften müssen. In der Regel sei das Geld in kurzer Zeit wieder auf dem Konto, wenn der Schaden bei der Hausbank entstanden und angezeigt worden sei. Die Betreiber der Automaten stellten durch internationale Abkommen sicher, dass die gestohlenen Summen wieder zurückfließen.

Beliebte Niederlande

Besonders häufig würden gefälschte Karten in den Niederlanden, Rumänien, Bulgarien und Südafrika eingesetzt. In Deutschland selbst funktionierten die mit den gestohlenen Daten bestückten Doubletten nicht. Die deutsche Kreditwirtschaft investiert laut Arnoldt einiges, um die Schäden gering zu halten. So würden die Karten am Automaten bereits beim Einzug sorgfältiger geprüft. Die Mitarbeiter von Banken sind angehalten, das Funktionieren der Automaten regelmäßig zu prüfen. Nicht zuletzt sollten die Kunden selbst dem Betrug vorbeugen. Für einen Laien seien die Manipulationen an der Tür oder an der Tastatur zwar schwer zu erkennen. Aber ein sorgsamer Umgang mit der Geheimnummer erschwert den Datendieben das Geschäft (Kasten, mehr Informationen unter www.polizei-beratung.de, Stichwort: Zahlungskarten).

Die enge Zusammenarbeit zwischen Banken, Polizei und BKA zeigt auch Erfolge. So meldete das BKA im vergangenen Jahr mehrfach Festnahmen und die Zerschlagung von Fälscherbanden. Die Beamten stellten Werkzeuge und Geräte sicher und konnten sich deshalb ein genaues Bild über das Vorgehen der Banden machen. Neueste Fälschergeräte sind mit Mobilfunk ausgestattet, was die Übertragung der ausgespähten Daten ins Ausland sehr beschleunigt.

Eine Nummer für alle

Mit ein paar einfachen Vorsichtsmaßnahmen können sich Bankkunden vor Betrug schützen. Experten raten:

- Bei der Eingabe der Zahlen die Tastatur mit der freien Hand verdecken. Auf ausreichend Abstand zum nächsten Kunden achten, wenn nötig dessen Diskretion einfordern oder das Bankpersonal verständigen. Im Zweifel lieber kein Geld abheben.

- Klebstoffreste, Risse im Kunststoff oder Abrieb an Schrauben weisen auf eine Manipulation des Geräts hin.

- Auch im Türöffner lauern Fallen. Häufig muss erst die Karte in den Schlitz neben der Tür geschoben werden, um in den Schalterraum zu gelangen. Zum Öffnen der Tür und zum Geldabheben sollten Kunden möglichst verschiedene Karten nutzen.

- Kontoauszüge regelmäßig überprüfen. Unbekannte Abbuchungen umgehend der Bank und notfalls der Polizei melden. Melden sich mehrere Kunden, kann die Polizei Ort und Zeit der Manipulation genau zuordnen und eine Fahndung einleiten.

- Im Zweifel die Karte sperren lassen. Ein Anruf bei der zentralen Telefonnummer 116 116 erspart Scherereien. he

Kreditkartenbetrug in Deutschland Geldautomaten in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Symbol, mehr nicht

Siemens will Millionen fordern. Die Betroffenen macht das nicht arm

Von Klaus Ott

Heinrich von Pierer wird bestimmt nicht verarmen, falls er die sechs Millionen Euro zahlt, die Siemens als Schadenersatz für den Korruptionsskandal von ihm fordert. Der frühere Konzernchef, der mehr als ein Jahrzehnt an der Spitze von Siemens stand und gut verdiente, käme billig weg. Einige seiner Ex-Kollegen sollen sogar noch günstiger davonkommen. Sie müssten nach den Plänen des Konzerns gerade mal das aufbringen, was sie früher in einem Jahr im Vorstand kassiert haben. Der Schadenersatz, den Siemens von Pierer und Co. verlangt, hat also eher symbolischen Charakter.

Offenbar schrecken die Kapitalvertreter im Aufsichtsrat, die vom Stahlmanager Gerhard Cromme und von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann angeführt werden, vor harten Maßnahmen zurück. Justiz und Aktionäre legen bei Vorständen heutzutage strengere Maßstäbe an als noch vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren. Auch bei anderen Unternehmen könnten Topmanager in Bedrängnis kommen. Nähmen Cromme und Ackermann den früheren Siemens-Vorständen einen großen Teil ihres Vermögens weg, dann wäre das der Maßstab für spätere Fälle ähnlicher Art in Industrie und Wirtschaft. Angesichts der Tarife, die jetzt geplant sind, muss auch künftig kein Topmanager um seine Villa oder seine Yacht fürchten.

Vielleicht ist Siemens aber auch überfordert mit der Bewältigung des weltweiten Systems von schwarzen Kassen und Schmiergeldzahlungen. Die neue Konzernspitze muss sich gerade in diesen Zeiten mit allen Kräften um das Geschäft kümmern. Die Arbeitsplätze zu sichern hat absoluten Vorrang. Jahrelange Prozesse gegen Pierer, der jede Schuld von sich weist, oder gegen andere Exvorstände könnten da womöglich stören. Insbesondere jetzt, da das Unternehmen die Verfahren mit den Behörden in Deutschland und den USA hinter sich gebracht und Vertrauen zurückgewonnen hat.

Dass Siemens die frühere Führung generell geschont hätte, davon kann ohnehin keine Rede sein. Der Aufsichtsrat hat intern ermitteln lassen und die weitreichenden Erkenntnisse über Pierer und Co. an die Ermittlungsbehörden weitergereicht. Nun ist es die Aufgabe des Staates, den Korruptionsfall so weit wie möglich aufzuklären, die nötigen Konsequenzen zu ziehen und so das zu vollenden, was unerschrockene Staatsanwältinnen begonnen haben. Es wäre nur gerecht, wenn die tatsächlich Verantwortlichen vor Gericht zur Rechenschaft gezogen würden.

Pierer, Heinrich von: Rechtliches Siemens AG: Rechtliches Bestechungsaffären bei Siemens 2006 - Schadensersatz in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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IG Metall: Entlassungen nicht akzeptieren

Frankfurt - Die IG Metall will sich angesichts der Wirtschaftskrise in diesem Jahr ganz auf den Erhalt von Arbeitsplätzen konzentrieren. "Wir werden 2009 keine Entlassungen akzeptieren", kündigte IG-Metall-Chef Berthold Huber in Frankfurt an. "Alle anderen Aufgaben und politischen Zielsetzungen sind kaum etwas wert, wenn es uns nicht gelingt, die Beschäftigung zu halten." Gestärkt sieht sich die IG Metall dadurch, dass der Mitgliederschwund gestoppt wurde. Derzeit zählt die Gewerkschaft nach eigenen Angaben 2,3 Millionen Beitragszahler, ein marginaler Rückgang um 0,2 Prozent zum Vorjahr. Auch finanziell sieht sich die Gewerkschaft trotz der Finanzkrise gut aufgestellt. Das Gewerkschaftsvermögen, dessen Höhe nicht beziffert wird, sei gut angelegt, betonte Hauptkassierer Bertin Eichler. Auch die zweitgrößte Gewerkschaft Verdi verzeichnet kaum noch Abgänge. Im vergangenen Jahr verlor sie etwa ein Prozent ihrer Mitglieder und zählt nach eigenen Angaben damit 2,18 Millionen Mitglieder. Reuters

Huber, Berthold: Zitate IG Metall: Strategie IG Metall: Vorstand Kündigungen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Führungsspitze

Immer ist der Chef schuld

Aber wer fragt schon nach dem Unwillen der Mitarbeiter, sich führen zu lassen

Dieser Montagmorgen hat es mal wieder in sich. Mindernickel ist schon auf 180, als er sein Büro betritt. Nicht nur, dass der Wagen streikte und in die Werkstatt expediert werden musste, sodass sich Mindernickel schon mal mit einer Stunde Verspätung auf seinen Schreibtischstuhl plumpsen lässt. Hat ihm Müller doch auch noch im Fahrstuhl vorhin den Nachverhandlungstermin mit den Japanern aufs Auge gedrückt. Ausgerechnet heute, ausgerechnet um 19 Uhr, wo er doch mit Toni zum Squash verabredet ist. Lustlos fährt er den Computer hoch. Da, E-Mail von Huber: Wo denn das Protokoll der letzten Abteilungsleitersitzung bleibe, das habe ihm Mindernickel doch schon am letzten Freitag vorlegen wollen. Das kannst du dir sonst wohin schieben, murmelt Mindernickel.

Die nächsten eineinhalb Stunden verbringt er erst einmal mit der Internetsuche nach einer Ferienwohnung an der Algarve. Hat Elfi versprochen, sich rechtzeitig ums Urlaubsdomizil zu kümmern. Ah, der Bote bringt die Post. Das bestellte Büromaterial ist da; Mindernickel zweigt flugs zwei Großpackungen Filzstifte und fünf Schreibblöcke ab und verstaut sie in seiner Aktentasche. Die Kinder brauchen wieder was zum Malen.

Wir könnten Herrn Mindernickel getrost auch Mister 67 Prozent nennen. Gehört er doch offensichtlich zu jener Überzahl der Arbeitnehmer, die das Gallup-Institut nun schon im neunten Jahr in Folge als lustlose Dienst-nach-Vorschrift-Schieber identifiziert. Die Motivationsumfrage des Berliner Marktforschungsinstituts genießt inzwischen eine Art Kultstatus, gehört zumindest zu den wohl meistzitierten Untersuchungen überhaupt. Warum? Weil sie Wasser auf die Mühlen derjenigen ist, die in deutschen Unternehmen einen Abgrund von Führungsschwäche verorten. Natürlich sind immer die Chefs schuld, wenn die Mitarbeiter lustlos und demotiviert zu Werke gehen oder gar bereits die innere Kündigung eingereicht haben. Dass es mit der Führungskunst der Chefs nicht flächendeckend zum Besten bestellt ist, darüber wurde nicht zuletzt auch an dieser Stelle wiederholt und beredt Klage geführt. Aber das ist nur ein Teil der ganzen Wahrheit, deren schwer unterbelichtete Seite lautet: Wie sieht es eigentlich mit der Unfähigkeit und dem Unwillen der zu Führenden aus? Dass mit altväterlicher Sitte auf der Basis von Befehl und Gehorsam kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist, hat sich herumgesprochen.

Andererseits heißt das noch lange nicht, dass Entscheidungen der Firmenspitze nach dem Motto "Der Chef spinnt mal wieder" der langwierigen Diskussion der Mitarbeiter bedürfen, ob sie nun geneigt sind, sich dafür ins Zeug zu legen. Oder vielleicht doch lieber abtauchen und andere rödeln lassen sollen. Längst haben die Heerscharen von Einzelkindern Einzug ins Arbeitsleben gehalten, denen jahrelang die ungeteilte Aufmerksamkeit zweier Erwachsener zuteil wurde. Also soll ihnen auch der Chef ausdauernd Beachtung und Wertschätzung liefern, sonst fühlen sie sich "irgendwie nicht motiviert." Führungskräfte können sich kaum noch retten vor Führungskräfteschulungen. Aber wo finden wir Workshops zum Thema: Wie überwinde ich den inneren Schweinehund, der alles, was von oben kommt, erst mal grundsätzlich anzweifelt? Die Kunst eben, sich führen zu lassen. Ach ja: Mindernickel hat sein Feriendomizil gebucht. Jetzt sitzt er schon über eine Stunde beim Mittagessen. Dagmar Deckstein

Führungskräfte in Deutschland Arbeitnehmer in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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INHALT

PERSONALIEN

Herzen für einen Brummi

Der Arzt Markus Studer kündigte seinen Job und wurde Fernfahrer. Seite 18

POLITIK UND MARKT

Warten auf den Retter

Barack Obama soll die USA aus der tiefen Krise führen. Seiten 20/21

UNTERNEHMEN

Treffpunkt Wohnzimmer

Die Möbelbranche will von einer neuen Lebensart profitieren. Seite 22

GELD

Steuerpuzzle: Auf ein Neues

Welche Elemente sich für die Steuererklärung 2008 geändert haben. Seite 23

Kurszettel Seite 24

Fondsseiten Seiten 30 und 31

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Hölderlin Reparatur

Lyrik-Preis für Gerhard Falkner

Der diesjährige Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik geht an den 1951 geborenen Autor Gerhard Falkner für seinen Gedichtband "Hölderlin Reparatur". Die vom Südwestrundfunk und dem Land Baden-Württemberg gestiftete Auszeichnung ist mit 10 000 Euro dotiert. dpa

Falkner, Gerhard: Auszeichnung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nach der Korruptionsaffäre

Pierer soll sechs Millionen zahlen

Siemens will vom Ex-Vorstandsvorsitzenden und zehn anderen Managern Schadenersatz fordern

München - Der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer soll nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung " wegen des Korruptionsskandals sechs Millionen Euro Schadenersatz an den Konzern zahlen. Von zehn weiteren ehemaligen Vorstandsmitgliedern fordert der Münchner Konzern jeweils zwischen einer Million und fünf Millionen Euro, darunter auch von Pierers Nachfolger Klaus Kleinfeld.

Von Klaus Ott

Der Aufsichtsrat der Siemens AG wirft den ehemaligen Vorständen vor, ihre Dienstpflichten verletzt und durch mangelnde interne Kontrollen das lange Zeit praktizierte Schmiergeldsystem ermöglicht zu haben. Versagt hat nach Ansicht der neuen Konzernspitze auch Pierer, der von 1992 bis 2005 Vorstandschef war und anschließend bis 2007 den Aufsichtsrat leitete. Er galt im Unternehmen als "Mr. Siemens" und genoss hohes Ansehen in der Belegschaft sowie in Wirtschaftskreisen und in der Politik.

Der heute 67-Jährige zählte zu den Beratern der Bundeskanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder wie auch der heutigen Regierungschefin Angela Merkel, die seine Dienste seit dem vergangenen Jahr allerdings nicht mehr in Anspruch nimmt. Pierer und sein Anwalt wollten auf Anfrage keine Stellung zu den Forderungen von Siemens nehmen.

Pierer ist der bislang prominenteste Topmanager in Deutschland, von dem ein Konzern Schadenersatz verlangt. In anderen Unternehmen kam es bereits zu höheren Forderungen gegen Vorstände, aber einen Fall dieser Tragweite hat es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Siemens hat nach Erkenntnissen der Münchner Staatsanwaltschaft und von US-Behörden jahrzehntelang und weltweit Geschäftspartner, Behörden und Regierungen bestochen, um lukrative Aufträge für Kraftwerke, Telefonnetze und andere Projekte zu erhalten.

In Deutschland und den USA musste der Konzern inzwischen Geldstrafen in Höhe von insgesamt 1,2 Milliarden Euro zahlen. Zusammen mit weiteren Kosten beträgt der Schaden inzwischen fast zwei Milliarden Euro. Von den elf ehemaligen Vorständen will Siemens insgesamt weniger als 50 Millionen Euro kassieren. Man wolle die früheren Topmanager "nicht ruinieren", heißt es aus der Konzernspitze. Offiziell äußert sich das Unternehmen nicht zu den Schadenersatzforderungen.

Pierer hat sämtliche Vorwürfe wiederholt zurückgewiesen, zuletzt vor einem Monat. Im Dezember hatte der frühere Vorstandschef erklärt, er sei den von Siemens erhobenen Vorwürfen, soweit sie ihm bekannt geworden seien, stets "ausführlich entgegengetreten". Er habe die Vorwürfe, sofern es überhaupt einen "konkreten, nachvollziehbaren Sachvortrag" durch Siemens gegeben habe, "mit Nachdruck zurückgewiesen". Auch Pierers Nachfolger Kleinfeld hat wiederholt erklärt, ihn treffe keine Schuld am Korruptionsskandal. Kleinfeld war nur zweieinhalb Jahre Vorstandschef und soll nach dem Willen von Siemens offenbar glimpflicher davonkommen als Pierer. Das meiste Geld verlangt Siemens von Pierer.

Der Aufsichtsrat hat bereits vor einem halben Jahr beschlossen, Schadenersatz von den elf Exvorständen zu verlangen. Damals wurden aber noch keine Beträge festgelegt. In den vergangenen Wochen hat der Konzern dann erstmals die Forderungen konkret beziffert und den Exvorständen mitgeteilt, wie viel sie zahlen sollen. Aus Unternehmenskreisen heißt es, man sei zuversichtlich, sich im Verlauf des Jahres mit der Mehrzahl der elf Exvorstände einigen zu können. Siemens wolle Gerichtsverfahren vermeiden, da der Korruptionsskandal den Konzern sonst jahrelang weiter belasten würde.

"Alles hinter sich bringen"

Die neue Konzernspitze um Vorstandschef Peter Löscher und der Aufsichtsrat mit dem Stahlmanager Gerhard Cromme (Thyssen-Krupp) an der Spitze wollen das dunkelste Kapitel in der mehr als 160-jährigen Unternehmensgeschichte rasch abschließen und sich wieder auf das Geschäft konzentrieren. Aus Siemens-Kreisen ist weiter zu hören, es könnte auch im Interesse der elf Exvorstände sein, dieses Kapitel ohne großes Aufsehen "hinter sich zu bringen".

Bislang hat offenbar keiner der elf früheren Vorstände gegenüber Siemens eingeräumt, seine Dienstpflichten vernachlässigt zu haben. Allerdings hat der ehemalige Finanzvorstand Heinz-Joachim Neubürger schon vor zwei Jahren gegenüber der Staatsanwaltschaft zugegeben, Hinweisen auf Korruptionsdelikte in Nigeria nicht nachgegangen zu sein. Der ehemalige Zentralvorstand Thomas Ganswindt hat sogar eingestanden, allgemein von Schmiergeldzahlungen gewusst zu haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Neubürger, Ganswindt und zwei weitere Exvorstände wegen Gesetzesverstößen. Gegen Pierer, Kleinfeld und andere Exvorstände laufen Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verletzung der Aufsichtspflichten im Unternehmen. Diese Verfahren können Geldbußen bis zu einer Million Euro nach sich ziehen. (Kommentare)

Heinrich von Pierer: Er soll nun zur Rechenschaft gezogen werden. Foto: dpa

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Kommentare

Politik am Bruch

Das Krisenpaket ist ein Katastrophenpaket: Es erhält, statt zu gestalten

Von Michael Bauchmüller

Gemessen am Ausmaß ihres Versagens ist die Bundesregierung in dieser Woche ziemlich gut davongekommen. Die Kritik am größten Konjunkturpaket seit der Wiedervereinigung blieb verhalten. Gemessen am gigantischen Volumen von 50 Milliarden Euro, an der Aufgabe und der erforderlichen Eile erscheint die Exegese einzelner Unterpunkte ohnehin fast schon lächerlich. Und wer hat schon etwas gegen "Zukunftsinvestitionen", gegen eine "Umweltprämie" oder einen "Kinderbonus"? Das Konjunkturpaket ist ein Meisterstück politischer Camouflage. Viele sind darauf hereingefallen.

Das Versagen könnte fundamentaler kaum sein. Denn kaum etwas an diesem Paket deutet in die Zukunft, zu vieles in die Vergangenheit. Verbraucher müssen weniger Steuern zahlen und bekommen Extra-Geld für ihre Kinder: Damit sie weiter fleißig konsumieren. Kommunen erhalten Geld für ihre Schulen: Damit sie sich endlich neue Fenster leisten können oder vielleicht sogar ein dichtes Dach. Autofahrern schenkt der Staat Geld fürs Abwracken und die Kfz-Steuer: Damit bloß die Bänder weiterlaufen in den Autowerken. Deutlicher kann Politik Hilflosigkeit nicht demonstrieren. Sie nimmt 50 Milliarden Euro in die Hand, nicht etwa um dieses Land zu gestalten - sondern um seine Strukturen zu erhalten.

Nirgends wird das deutlicher als an der unseligen Abwrackprämie für Autos, der sogenannten Umweltprämie. Inmitten einer Krise werden die Deutschen so dazu angehalten, ihre alten Autos zu verschrotten, um Platz zu machen für viele neue. Mit anderen Worten: Verbrennungsmotoren wandern in die Schrottpresse, damit neue Verbrennungsmotoren gebaut werden können. Nichts anderes wird geschehen. Selbst Pläne, die Begünstigung von strengeren Abgasnormen abhängig zu machen, ließ der Bund fallen. Die Hersteller dürfen bis auf weiteres an dem Konzept festhalten, mit dem sie Schiffbruch erlitten haben, der Steuerzahler subventioniert es mit 1,5 Milliarden Euro. Ein grandioser Fehler.

Lärmschutz statt weniger Lärm

Neue, effizientere Technologie kommt so mit Sicherheit nicht auf die Straße. Letztere aber wird nun immerhin aus Steuermitteln saniert, was leider nötig ist. Denn der Straßenverkehr, Mittelpunkt der deutschen wie auch der desaströsen amerikanischen Mobilität, wird nach dem Willen der großen Koalition durch das deutsche Konjunkturpaket zusätzlich gestärkt. Millionen fließen in Lärmschutzwände, nicht aber in die Bekämpfung von Lärm. Geld für den öffentlichen Nahverkehr, die einzige Alternative zu einem überbordenden Autoverkehr, hat die Koalition aus ihren "Zukunftsinvestitionen" ausdrücklich ausgeschlossen. Wäre es nicht auf Papier fixierte Regierungshaltung, man müsste es für einen üblen Scherz halten.

Nicht viel besser sieht es mit den Milliarden für das Bildungssystem aus. Diese "Zukunftsinvestition" fließt nämlich im Wesentlichen in längst überfällige, mitunter skandalös lang unterlassene Sanierungen. Das ist angenehm für die Schüler, gescheiter werden sie dadurch aber nicht. Eine Investition in mehr Sonderpädagogen, in zusätzliche Lernangebote oder - jenseits ihrer Errichtung - auch in die Betreuung an Ganztagsschulen, all das sieht das Paket nicht vor, weil es nicht schnell genug die Wirtschaft ankurbelt. All das hätte den Namen "Zukunftsinvestition" aber zumindest verdient.

Plan A wird fortgesetzt

Was verschleiert den Blick auf die Zukunft? Ist es Hektik? Mangelnder Mut? Resignation? Nach allem, was wir bisher über diese Krise wissen, stehen wir nicht einfach einem besonders herben Abschwung gegenüber. Der Einbruch kommt so schnell wie nie, er ist so scharf wie nie, erschüttert so viele Länder und Branchen wie nie. Ganze Systeme geraten in gefährliches Ungleichgewicht: Die Systeme von Geld und Kredit, von globalem Güteraustausch, von Bereitstellung und Verbrauch begrenzter Ressourcen. Mit jeder neuen Katastrophe in der Wirtschaft wird klarer: Das hier ist nicht nur eine schwere Krise, es ist ein Bruch.

Ein Bruch ist kein Tal. Ein Tal verbindet zwei Berge. Ein Tal lässt sich gemeinsam durchschreiten: den nächsten Berg, den nächsten Aufstieg im Auge. Wäre die deutsche, die globale Wirtschaft einfach nur auf Talfahrt, dann wäre das Hilfspaket ausreichend, vermutlich überambitioniert. So weit ist die Bundesregierung in ihrer Analyse immerhin gekommen: Der nächste Berg ist diesmal seltsamerweise nicht in Sicht. Deshalb soll die Antwort besonders machtvoll sein, damit die deutsche Wirtschaft den langen Winter möglichst unbeschadet überlebt. Und dann weitermachen kann wie gehabt.

Doch dieser Verzicht auf Gestaltung kann mehr kosten als das größte Konjunkturpaket, denn wenig spricht dafür, dass es wie gehabt weitergehen wird. Um abzusehen, dass die Vorteile der deutschen Wirtschaft dauerhaft weniger in großen Industrien als in Köpfen stecken werden, braucht es keine Prophetie. Nur ein Blinder kann übersehen, dass die nächste große Krise viel mehr noch als die aktuelle von massiv steigenden Rohstoffpreisen ausgelöst werden könnte. Investitionen in die Erschließung neuer Ölreserven bleiben - was kein Schaden ist - derzeit genauso auf der Strecke wie das eine oder andere Stahlwerk. Das heißt: Technologien und Industriezweige, die Deutschland in 60 Jahren wirtschaftlich stark gemacht haben, könnten das Land in den nächsten Jahrzehnten schwächen.

Einen Plan B für eine nachhaltige, rohstoffunabhängigere Ökonomie hat die Bundesregierung offenbar nicht. Plan A wird fortgesetzt. Solange noch Geld für neue Konjunkturpakete da ist, geht das auch. Aber nur so lange.

Ich würde mir nie ein Urteil über Ihren Wagen erlauben - zahlt der Staat für dieses Modell neuerdings nicht sogar eine Prämie? Cartoon: Dirk Meissner

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Offenbar Fortschritt durch Vermittlung Ägyptens

Waffenruhe im Gaza-Streifen rückt näher

Israel will Vorschlägen aus Kairo zustimmen, fordert aber noch Sicherheitsgarantien von den USA

Von Stefan Kornelius

München - Drei Wochen nach dem Kriegsbeginn im Gaza-Streifen verdichten sich die Hinweise, dass ein Waffenstillstand bevorsteht. Er könnte nach Ansicht von Vermittlern bereits am Wochenende in Kraft treten. Über einen Plan Ägyptens für eine Waffenruhe und die Bedingungen der Hamas wurde am Freitag in Kairo und in Washington verhandelt. Ungeachtet dessen gingen die Kämpfe weiter. Hamas-Chef Khaled Meschaal verschärfte dennoch die Widerstands-Rhetorik.

Das israelische Sicherheitskabinett akzeptierte in der Nacht zum Freitag die Grundzüge eines ägyptischen Vermittlungsvorschlags. Allerdings beauftragte Ministerpräsident Ehud Olmert Außenministerin Tzipi Livni, in Washington Garantien für den Plan einzuholen. Der Sonderbeauftragte Amos Gilad wurde erneut nach Kairo entsandt, um Details auszuloten. Nach Auskunft von mit der Vermittlung vertrauten Diplomaten war Israel bereit, nach Klärung letzter Fragen dem ägyptischen Plan am Wochenende zuzustimmen. Livni und Verteidigungsminister Ehud Barak würden wegen der bevorstehenden Parlamentswahl in Israel das Ende der Kämpfe anstreben, Olmert hingegen soll sich zunächst gegen schnelle Zusagen gesträubt haben.

Ägyptens Präsident Hosni Mubarak hatte nach Informationen aus Kreisen der Vermittler zugesagt, dass Israel während der ersten, begrenzten Phase des Waffenstillstands den Gaza-Streifen noch nicht räumen müsse. Außerdem werde Ägypten mit Hilfe ausländischer, vor allem amerikanischer und auch deutscher Fachleute, den Waffenschmuggel durch Tunnel an der Grenze zu Ägypten stoppen. Mit Hilfe spezieller Geräte sollten die verbliebenen Tunnel aufgespürt und gesprengt werden. In Deutschland hat das Innenministerium bereits eine Fachgruppe zusammengestellt. Allerdings ist fraglich, ob sich der Waffenschmuggel tatsächlich stoppen lässt. Dennoch wächst im israelischen Militär die Auffassung, die Infrastruktur und die Waffenlager der Hamas seien derart beschädigt, dass die unmittelbare Gefahr durch Raketenbeschuss nachlasse.

Der ägyptische Plan sieht eine erste Phase des Waffenstillstands vor, in der humanitäre Hilfe geleistet werden kann. In der zweiten Phase würde Kairo mit internationaler Hilfe Garantien für die Sicherheit der Grenze übernehmen. Drittens sollten die Hamas und die rivalisierende Fatah-Bewegung im Westjordanland Versöhnungsgespräche beginnen.

Aus der Hamas kamen uneinheitliche Reaktionen zu der möglichen Waffenruhe. Israels Unterhändler Gilad verließ Kairo in der Nacht zu Freitag unter dem Eindruck, die Hamas werde den ägyptischen Bedingungen zustimmen. Allerdings soll die Hamas den Abzug der israelischen Truppen binnen einer Woche gefordert haben sowie eine Befristung des Waffenstillstands auf ein Jahr, was Israel kategorisch ablehnt.

Am Freitag wies der im Exil lebende Hamas-Führer Khaled Meschaal während eines Auftritts auf einer Konferenz arabischer Staaten in Katar "die Bedingungen Israels" in markigen Worten zurück und stellte eigene Forderungen auf, die allerdings dem ägyptischen Plan sehr ähnlich waren. Sein Auftritt wurde deshalb als Versuch gewertet, den Kriegsausgang zugunsten der Hamas zu deuten und die Bevölkerung im Gaza-Streifen hinter der Hamas zu versammeln. Aus Vermittlerkreisen ist zu hören, dass Ägypten notfalls auch einen einseitigen Waffenstillstand ohne Zustimmung der Hamas befürworten würde.

Die Kämpfe gingen am Freitag vor allem in und um Gaza-Stadt mit unverminderter Härte weiter. (Seiten 4 und 9)

Mischal, Chalid Gilad, Amos Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Beziehungen Israels zu Ägypten Beziehungen Ägyptens zu Palästina SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kultur, Gesellschaft, Politik

WOCHENENDE

Weißmacher: Der Winter bringt mehr als Frost und Schnee. Notizen zu einer unfassbaren Jahreszeit. Von Christian Zaschke

Gipfeltreffen: Wie Stauffenberg auf dem Berghof erstmals Hitler begegnet und zum Attentäter wird. Von Tobias Kniebe

Familienbande: "Mein Vater war Kassenwart bei der RAF" - Regisseur Oskar Roehler im Interview. Von Rebecca Casati

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Tumbe Toren

"Die Sprache Deutsch", ausgestellt im Deutschen Historischen Museum in Berlin

"Tief, rätselhaft, dramatisch vortrefflich behandelt" schreibt Goethe 1806 in seiner Besprechung von "Des Knaben Wunderhorn" über "Großmutter Schlangenköchin": 14 Zweizeiler, abwechselnd sprechen Mutter und Kind. Das Kind ist von der Groß;mutter vergiftet worden und klagt es der verzweifelten Mutter. "Maria, wo soll ich dein Bettlein hin machen? / Maria, mein einziges Kind! // Du sollst mir's auf dem Kirchhof machen./ Ach weh! Frau Mutter, wie weh!" Eduard Mörike hat sich davon eine Abschrift gemacht, auch er war offenbar berührt. Aber was bedeutet dieses Manuskriptblatt nicht literatur-, sondern sprachgeschichtlich? Rätselhaft.

Das Deutsche Historische Museum präsentiert es in seiner Ausstellung "Die Sprache Deutsch". Doch wie so manches hier reicht dieses Stück zwar tief, teilt sich aber nicht mit. Wer wird die Handschrift in der notwendig schwach beleuchteten Vitrine lesen? Und wer sie liest, was erfährt er über das Deutsche im 19. Jahrhundert? Goethe hoffte, die Lieder, "vom Volke . . . gewissermaßen ausgegangen", könnten dahin zurückkehren, in "Leben und Bildung der Nation" übergehen. Haben sie das sprachliche Empfinden im 19. Jahrhundert geprägt? Und wie verhalten sich dazu die Einflüsse von Wissenschaften, Technik, Industrie?

Die Ausstellung ist historisch angelegt und greift weit aus. Sie beginnt mit dem ältesten Buch der deutschen Sprache, dem St. Galler Abrogans, und endet in der Gegenwart mit Jugendsprache, Werbung und Migrantendeutsch, hängt dialektgeographische Karten aus und bietet auch etwas zu den physiologischen Voraussetzungen des Sprechens. Alles aber muss auf 400 Quadratmetern abgemacht sein. Im Zentrum steht die sogenannte Leseinsel, ein kreisförmiges Kabinett, das der Reclam Verlag mit deutscher Literatur ausgestattet hat. In die Außenseite sind Vitrinen zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts eingesetzt.

Hier finden sich die Mörike-Handschrift, ein Tucholsky-Typoskript oder eine Kompositionsskizze Wagners zum "Rheingold", "Woge, du Welle!". Ernst Jünger hat in einem Zettelkasten letzte Worte berühmter Persönlichkeiten gesammelt, Theodor Mommsen bekam zum Nobelpreis eine goldene Medaille. Schöne Dinge, doch wer sie nicht gesehen hat, muss sich als Liebhaber der deutschen Sprache keine Vorwürfe machen. Solange nur von Wagners Eigenwilligkeiten als Autor seiner musikdramatischen Texte die Rede ist, bewegen wir uns auf dem Feld der Kunst. Auf das der Sprache kämen wir durch die Frage, wie er weitergewirkt hat. Davon ist im Deutschen Historischen Museum nicht die Rede.

Viel hält sich die Ausstellung darauf zugute, auch Erika Fuchs zu würdigen, die Übersetzerin der Donald-Duck-Geschichten ("Das beste Werkzeug ist ein Tand / in eines tumben Toren Hand"). Auch hier wird eine persönliche sprachschöpferische Leistung gezeigt. Sprache ist aber das, was allen oder doch vielen gemeinsam ist. Wie ist unser Sprachgebrauch durch Erika Fuchs, Loriot oder Wilhelm Busch geprägt? Das wäre zu zeigen, statt das einfallsreiche Individuum zu verehren. Aber da genau liegt das Problem einer solchen Ausstellung. Leicht lässt sich das Individuelle in seinem Glanz zeigen, das Kollektive, das Sprache ausmacht, sehr viel schwerer.

Das gilt auch für das Nachkriegsdeutsch. Entwickelte die DDR einen eigenen Sprachgebrauch? Die Ausstellung präsentiert die Heiterkeitserfolge, den Broiler auf der Speisekarte, die Formeln der Parteisprache. Aber das war Gekräusel an der Oberfläche. In einem anderen Punkt könnte die DDR einen eigenen Ton entwickelt oder einen älteren bewahrt haben, im Dialektgebrauch. Gründe gab es mehrere, einer wird das Selbstbewusstsein der Arbeiter gewesen sein; die Defa-Filme haben daran mitgearbeitet. Das fehlt in der Ausstellung.

Die Anfänge der wissenschaftlichen Germanistik, die Brüder Grimm und ihre Kollegen, sind dafür mit einer Detailfreude hergerichtet, die ein gut vorsortiertes Publikum verlangt. Was Schule und Theater dagegen für die Sprache der Deutschen bedeuten, bleibt dann wieder blass. Solche Disproportionen sind wohl unausweichlich. Die deutsche Sprache in einer kleinen Ausstellung zu zeigen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Warum man es doch probiert hat? Das Goethe-Institut wird im Herbst aus dieser Ausstellung und der stärker gegenwartsorientierten im Bonner Haus der Geschichte (SZ vom 17.12. 2008) eine dritte zusammenstellen, die dann im Ausland auf Tour gehen soll. STEPHAN SPEICHER

Deutsches Historisches Museum, Berlin, bis 3. Mai 2009. Info: www.dhm.de. Das Begleitbuch kostet 25 Euro.

Kleiner Flirt des Deutschen mit dem Englischen: "Mies Schörmeni", irgendwann zwischen 1950 und 1965. Foto: DHM

Deutsches Historisches Museum Ausstellungen in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Merkel verlangt schnelle Einigung im Gas-Streit

Kanzlerin warnt Russland und Ukraine vor "Verlust an Reputation und Verlässlichkeit" / EU will Beziehungen prüfen

Von Daniel Brössler

Berlin - Im seit Wochen andauernden Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist die Geduld von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erkennbar erschöpft. Bei einem Treffen mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin am Freitag in Berlin verlangte sie, den Konflikt rasch beizulegen. Die Kanzlerin erwarte, dass "Russland und die Ukraine ihren vertraglichen Verpflichtungen uneingeschränkt nachkommen", sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg kurz vor der Begegnung. Der "Verlust an Reputation und Verlässlichkeit" sei für Russland und die Ukraine gravierend. Vor der Begegnung mit Putin ließ sich Merkel durch Vertreter der Energiewirtschaft unterrichten.

Auch die Europäische Union verschärfte ihren Ton. Sollte das russische Gas Anfang der kommenden Woche nicht wieder nach Europa fließen, "so müssten wir Punkt für Punkt unsere Beziehungen zu Russland und der Ukraine überprüfen und in jedem Einzelfall entscheiden, ob wir unter diesen Umständen wie bisher weitermachen können", sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel. Man betrachte dies als Testfall, um zu beurteilen, ob Moskau und Kiew "glaubwürdige Partner sind".

Die russische Darstellung, wonach die Verantwortung für die ausbleibenden Gaslieferungen allein die Ukraine trage, wird in Berlin zurückgewiesen. "Aus Sicht der Bundesregierung ist es so, dass beide Seiten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Im Moment fehlt es auf beiden Seiten am Willen, das Problem zu beseitigen", sagte Steg. Russland und die Ukraine trügen ihren Konflikt um Gaspreise und Durchleitungspreise auf Kosten europäischer Staaten aus, in denen daher Menschen frieren müssten. "Das ist im 21. Jahrhundert und im Kontext des Zusammenlebens der Nationen und Völker eine inakzeptable Situation", fügte er hinzu.

Der vom russischen Staat kontrollierte Gazprom-Konzern verwahrte sich gegen die Kritik aus Deutschland. Den Vorwurf der Mitverantwortung werde man "nie akzeptieren", sagte Gazprom-Vizechef Alexander Medwedjew in einer Telefonkonferenz. "Es ist an der Zeit klarzustellen, wer hier was tut", betonte Medwedjew. Im Gegensatz zu Russland unternehme die Ukraine keinen Lösungsversuch. Gazprom bemühe sich hingegen derzeit um die Bildung eines Konsortiums internationaler Energiekonzerne wie Eon Ruhrgas, GdF Suez und Eni. Das Konsortium soll die Wiederinbetriebnahme der Pipelines finanzieren.

Vertreter der Abnehmerländer und der Transitstaaten für russisches Gas wurden für Samstag in Moskau erwartet. Auch die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko hat ihre Teilnahme an den Gesprächen zugesagt. Auf Einladung von Präsident Viktor Juschtschenko findet in Kiew indes ein Gegentreffen statt, an dem sich Vertreter Polens, Moldawiens, der Slowakei und Litauens beteiligen, nicht aber Russland.

Gas-Importeure und Stadtwerke in Deutschland stellten klar, die Bürger müssten vorläufig keine Engpässe fürchten. Die Situation in den Gasspeichern stelle sich "im Moment noch entspannt" dar, teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit. Europas größter Erdgasspeicher bei Bremen sei gut gefüllt, versicherte das Unternehmen Wingas. Drei Viertel von 4,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas lagerten dort noch. (Seite 8, Wirtschaft)

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Merkel verlangt schnelle Einigung im Gas-Streit

Kanzlerin warnt Russland und Ukraine vor "Verlust an Reputation und Verlässlichkeit" / EU will Beziehungen prüfen

Von Daniel Brössler

Berlin - Im seit Wochen andauernden Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist die Geduld von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erkennbar erschöpft. Bei einem Treffen mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin am Freitag in Berlin verlangte sie, den Konflikt rasch beizulegen. Die Kanzlerin erwarte, dass "Russland und die Ukraine ihren vertraglichen Verpflichtungen uneingeschränkt nachkommen", sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg kurz vor der Begegnung. Der "Verlust an Reputation und Verlässlichkeit" sei für Russland und die Ukraine gravierend. Vor der Begegnung mit Putin ließ sich Merkel durch Vertreter der Energiewirtschaft unterrichten.

Auch die Europäische Union verschärfte ihren Ton. Sollte das russische Gas Anfang der kommenden Woche nicht wieder nach Europa fließen, "so müssten wir Punkt für Punkt unsere Beziehungen zu Russland und der Ukraine überprüfen und in jedem Einzelfall entscheiden, ob wir unter diesen Umständen wie bisher weitermachen können", sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel. Man betrachte dies als Testfall, um zu beurteilen, ob Moskau und Kiew "glaubwürdige Partner sind".

Die russische Darstellung, wonach die Verantwortung für die ausbleibenden Gaslieferungen allein die Ukraine trage, wird in Berlin zurückgewiesen. "Aus Sicht der Bundesregierung ist es so, dass beide Seiten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Im Moment fehlt es auf beiden Seiten am Willen, das Problem zu beseitigen", sagte Steg. Russland und die Ukraine trügen ihren Konflikt um Gaspreise und Durchleitungspreise auf Kosten europäischer Staaten aus, in denen daher Menschen frieren müssten. "Das ist im 21. Jahrhundert und im Kontext des Zusammenlebens der Nationen und Völker eine inakzeptable Situation", fügte er hinzu.

Der vom russischen Staat kontrollierte Gazprom-Konzern verwahrte sich gegen die Kritik aus Deutschland. Den Vorwurf der Mitverantwortung werde man "nie akzeptieren", sagte Gazprom-Vizechef Alexander Medwedjew in einer Telefonkonferenz. "Es ist an der Zeit klarzustellen, wer hier was tut", betonte Medwedjew. Im Gegensatz zu Russland unternehme die Ukraine keinen Lösungsversuch. Gazprom bemühe sich hingegen derzeit um die Bildung eines Konsortiums internationaler Energiekonzerne wie Eon Ruhrgas, GdF Suez und Eni. Das Konsortium soll die Wiederinbetriebnahme der Pipelines finanzieren.

Vertreter der Abnehmerländer und der Transitstaaten für russisches Gas wurden für Samstag in Moskau erwartet. Auch die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko hat ihre Teilnahme an den Gesprächen zugesagt. Auf Einladung von Präsident Viktor Juschtschenko findet in Kiew indes ein Gegentreffen statt, an dem sich Vertreter Polens, Moldawiens, der Slowakei und Litauens beteiligen, nicht aber Russland.

Gas-Importeure und Stadtwerke in Deutschland stellten klar, die Bürger müssten vorläufig keine Engpässe fürchten. Die Situation in den Gasspeichern stelle sich "im Moment noch entspannt" dar, teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit. Europas größter Erdgasspeicher bei Bremen sei gut gefüllt, versicherte das Unternehmen Wingas. Drei Viertel von 4,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas lagerten dort noch. (Seite 8, Wirtschaft)

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NACHRICHTEN AUS MOSKAU

In einer landesweiten Inventur untersucht Russland den Schwund seiner Kulturgüter. Das Ergebnis stellte Kulturminister Alexander Awdejew vor kurzem vor: Seit den zwanziger Jahren haben die Museen 86 000 Objekte verloren - durch den Vandalismus der Bolschewiken, durch Diebstahl, Feuer und Schlamperei. Die aktuellen Zahlen seien allerdings eine Verbesserung: Im vergangenen Jahr ging man noch von 104 000 fehlenden Objekten aus. Die Untersuchung wird fortgesetzt.

Inzwischen geben sich die Kommunisten als Hüter der Kultur, und besonders fleißig ist eine radikale Sankt Petersburger Splittergruppe. Diese empfiehlt beispielsweise dem Regisseur Fedor Bondartschuk für die Verfilmumg des zweiten Teils des Strugatzkij-Romans "Die bewohnte Insel" ein paar "grundlegende Änderungen", wie etwa einen Wechsel der Hauptdarsteller. Der erste Teil ist gerade angelaufen, aber, so die Kommunisten, ein "Schlag für die kommunistische Zukunft der Menschheit und eine Beleidigung all jener, die sich nach dem Sieg des Kommunismus an die Befreiung ferner Welten machen." Dass die Vision der Strugatzkij-Brüder über eine totalitär regierte Insel in der Sowjetunion als Kommentar zum herrschenden System gelesen wurde, erwähnen die Kommunisten nicht.

Stattdessen widmen sie sich - alternativ zum Universum - dem Internet. Nach Angaben des englischsprachigen Fernsehsenders Russia Today planen sie eine eigene Suchmaschine namens "Engels". Sie soll Pornographie und Obszönität ausschalten, aber auch George W. Bush, und richte sich an "Arbeiter, Bauern und die Intelligenzija".

Der russische Verband der Filmschaffenden nähert sich der Logik einer Stan-und-Ollie-Szene. Im Dezember wählten sie Nikita Michalkow als Vorsitzenden ab, weil der Regisseur von Werken wie "Die Sonne, die uns täuscht" oder "Der Barbier von Sibirien" trotz bester Verbindungen zum Kreml für seine Kollegen nicht mal den Verkauf des "Hauses des Kino" verhindert habe. Michalkow nannte die Versammlung ein "Liliput-Theater" und erkennt den neuen Vorsitzenden, den 83-jährigen Regisseur Marlen Chuzijew, nicht an. Da auch zwei Schauspieler die Wahl anfechten, soll Anfang Februar ein Gericht entscheiden.

SONJA ZEKRI

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Das Loch im Boden

Europa, ein Kontinent, der nicht lacht und nicht vergibt / Von Slavenka Drakulic

Vor zehn Jahren veröffentlichte ich "Café Paradies", einen Band mit Essays über das Leben nach dem Kommunismus. Eine dieser Geschichten handelte von meinem Besuch in der Toilette von Nicolae Ceausescus Tochter Zoe und von der Beschaffenheit rumänischer Toiletten im allgemeinen. Selbst in einem guten Restaurant war ein Gang zur Toilette damals eine riskante Angelegenheit. Ich schrieb: "Du schließt die Tür, und schon bringt dich der schneidende Uringestank zum Würgen. Verzweifelt suchst du einen trockenen Flecken auf dem überfluteten Boden. Ich muss nicht erwähnen, dass die Toilette keinen Sitz hat. Du lernst schnell, dass du so etwas nicht erwarten darfst. Um zu spülen, musst du dann an einem schmutzigen Seil ziehen. Seife gibt es natürlich nicht, und auch Toilettenpapier scheint hier eine weitgehend unbekannter Luxus zu sein. Es gibt keine einzige öffentliche Toilette in Bukarest, in der es Papier gibt." Wie soll man diese völlige Abwesenheit normaler Hygienestandards verstehen, fragte ich mich. Armut konnte doch nicht die einzige Antwort sein.

Als diese Geschichte in der italienischen Zeitung La Stampa erschien, schrieb der rumänische Botschafter in Italien sofort einen zornigen Leserbrief. Er griff mich an als ein bösartiges Individuum, das den Stolz seiner Heimat verletzten wollte. Warum, wunderte sich der Botschafter, schrieb ich nicht über die schönen Seiten Rumäniens? Sondern über Toiletten? Im übrigen, schloss er, sähen sie gar nicht so aus, wie ich sie beschrieben hätte.

Der Streit, der sich in diesen Tagen an der Kunstinstallation im Brüsseler EU-Ratsgebäude entzündete, erinnert mich an diese alte Begebenheit. Toiletten scheinen immer noch ein heikles Thema zu sein, zumindest in einigen ehemals kommunistischen Ländern.

Die Idee war interessant, witzig sogar: die Tschechische Republik wollte den Beginn ihrer Ratspräsidentschaft mit einer Ausstellung markieren. Die tschechische Regierung gab deshalb bei Künstlern aus allen 27 EU-Ländern Skulpturen in Auftrag. Die Werke sollten sich mit Klischees und Vorurteilen über das jeweilige Land beschäftigen. Wir haben alle Vorurteile - warum also sollten wir sie nicht zeigen, jetzt, da wir in einer Gemeinschaft leben? Die Organisation des Projekts wurde dem tschechischen Künstler David Cerny übertragen.

Das Ergebnis war, natürlich, kontrovers. Rumänien wird als Dracula-Vergnügungspark dargestellt und Spanien als Zementblock. Holland versinkt im Meer, nur Minarette ragen noch aus dem Wasser. Schweden ist eine Ikea-Schachtel. Doch aus keinem dieser Länder kamen öffentliche Beschwerden. Dann rückte Bulgarien ins Zentrum des Geschehens. Denn den problematischsten Teil der 16 Meter hohen Skulptur, die aussieht wie eine Landkarte und sich "Entropa" nennt (SZ vom 15. Januar), hatte angeblich eine junge bulgarische Künstlerin namens Elena Djelebova gestaltet. Für Bulgarien stand - eine Toilette. Und nicht irgendeine Toilette, sondern eine "türkische": das ist ein Loch im Boden, über dem man in die Hocke geht.

Alles nur gelogen

Der stellvertretende tschechische Ministerpräsident und ehemalige Dissident Alexandr Vondra - irritiert, aber gefasst, wie es ein Politiker sein sollte - sagte, er unterstütze das Recht auf freie Meinungsäußerung: "Es ist ein Stück Kunst, sonst nichts. Es wäre eine Tragödie, wenn Europa nicht stark genug ist, sich das anzusehen." Bulgarische Journalisten aber stürzten sich auf die Recherche des Lebens der völlig anonymen Elena Djelebova. Sie gruben nach Informationen, doch sie fanden nichts. Die ständige Vertretung Bulgariens bei der EU setzte indes rasch eine Stellungnahme auf: "Djelebovas Werk, das Bulgarien als Toilette darstellt, hat in Bulgarien kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Die Vertretung hat bereits offiziell gegen die Installation protestiert. Das bulgarische Kulturministerium erklärt, es habe mit dem Projekt nichts zu tun und Djelebova nicht als Teilnehmerin ausgewählt."

Schnell wurde die Affäre zum internationalen Skandal. Die bulgarische Online-Zeitung Standart fasst zusammen: "Bei einem Treffen mit dem tschechischen Botschafter in Sofia forderte die bulgarische Regierung die Entfernung der Skulptur aus der Ausstellung. Betina Joteva, die Sprecherin der bulgarischen Vertretung bei der EU, sagte vor ihren Kollegen aus den anderen Mitgliedsländern, das ,lächerliche Kunstwerk verletzt die nationalen Würde Bulgariens und zeugt von wirklich schlechtem Geschmack'. Sie bestand auf seiner sofortige Entfernung."

So zeigen die Bürokraten im bulgarischen Kulturministerium - genau wie einst der rumänische Botschafter -, dass auch zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus nicht zu ihnen durchgedrungen ist, dass Kunst ein Akt der Freiheit sein sollte und kein Propagandainstrument. Ganz egal, wie geschmacklos oder anstößig ein bestimmtes Werk auch sein mag. Der offizielle Protest und die "Demütigung", die staatliche Institutionen beklagten, haben nur eine Bedeutung: Sie erinnern die Bulgaren und den Rest der Welt daran, dass sich ein politisches System über Nacht zu ändern vermag, das alte Denken aber auch nach zwanzig Jahren noch lebendig ist.

Dies ist freilich nicht das Ende der Geschichte. Am Tag nach dem Aufruhr folgte der nächste Skandal. Cerny, der Organisator des Projekts, gab zu, gemeinsam mit zwei Freunden das gesamte, eine halbe Million Dollar teure Kunstwerk selbst produziert zu haben. Inklusive Ausstellungskatalog mit Biografien von 27 erfundenen Künstlern. Während sich manche fragten, ob "Entropa" nun überhaupt noch als Kunst gelten könne, gab Cerny zu Protokoll, er habe herausfinden wollen, ob Europa über sich selbst lachen kann. Er entschuldigte sich bei allen, die sich von seiner Installation gekränkt fühlen, rechtfertigte aber seinen Einfall für Bulgarien mit dem Argument, kein Land in Europa habe solche Toiletten.

Bisher weiß man nicht, was mit dem Honorar geschehen ist. Hat Cerny vielleicht auch das Geld eingesteckt, das für alle 27 Künstler bestimmt war? Der interessanteste Aspekt des Unternehmens ist aber nun - auch wenn keine Intention vorliegen sollte - die Lüge selbst, die Täuschung der Politik. Das erinnert uns daran, dass es für gewöhnlich die Politiker sind, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Belügen der Bürger verdienen. Mit seinem Mediencoup hat David Cerny nur bewiesen, dass Europa, Ost und West, weder lacht noch vergibt.

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Wien und Istrien. Zuletzt erschien von ihr die Monographie "Leben spenden: Was Menschen dazu bewegt, Gutes zu tun" (Wien 2008).

Deutsch von Roman Deininger.

Die Landkarte Bulgariens als Arrangement von Toiletten, angeblich Werk einer jungen Künstlerin, mit der Tschechien die Präsidentschaft im Europäischen Rat feiern wollte. Foto: AFP

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Spanien übertrifft Stabilitätsgrenze

Madrid - Das spanische Staatsdefizit wird wegen der Wirtschaftskrise in diesem Jahr voraussichtlich bei 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Dies teilte die sozialistische Regierung in Madrid mit. Damit würde die im EU-Stabilitätspakt vereinbarte Obergrenze von 3,0 Prozent deutlich überschritten werden. 2010 soll das Staatsdefizit 4,8 Prozent, im darauffolgenden Jahr 3,8 Prozent betragen. Die spanische Wirtschaft wird auch vom abrupten Ende des Baubooms enorm getroffen. Nach Berechnungen der Regierung wird die Wirtschaftsleistung des Landes in diesem Jahr zum ersten Mal seit 1993 um voraussichtlich 1,6 Prozent schrumpfen. Zurzeit sind mehr als drei Millionen Menschen ohne Arbeit, ein Anstieg der Erwerbslosenquote ist unausweichlich. jc

Wirtschaftslage in Spanien Regierung Zapatero 2004 - Folgen der Finanzkrise in der EU Öffentliche Finanzen in Spanien SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die leere Anklagebank

Eine heikle Aufgabe der Regierung Obama: die juristische Aufarbeitung der Bush-Ära / Von Wolfgang Kuleck

Der scheidende amerikanische Präsident hinterlässt seinem Nachfolger nicht nur innen- und außenpolitische Probleme, sondern zugleich ein heikles juristisches Erbe. Bereits im Wahlkampf wurde die Frage debattiert, wie sich eine Regierung Obama zur möglichen Strafverfolgung von Angehörigen der Bush-

Regierung wegen der Folterung von Terrorismusverdächtigen verhalten würde. Barack Obama äußerte im April 2008, er wolle nach einer Untersuchung der Vorgänge durch seinen Justizminister herausfinden, ob es sich nur um dumme Politik handele oder um Politik, die den Grad krimineller Handlungen erreiche. In seinem jüngsten Interview mit dem Fernsehsender ABC stellte er klar, dass er in nationalen Sicherheitsfragen eher nach vorne schauen wolle als in die Vergangenheit. Aber wenn jemand offenkundig das Recht gebrochen habe, stünde niemand über dem Gesetz.

Unabhängig von dem weiteren Vorgehen der Obama-Regierung markieren die breite öffentliche Debatte und Obamas bisherige Kommentare eine Zäsur: Erstmals in der US-Geschichte wird ernsthaft politisch und juristisch diskutiert, ob ein abtretender Präsident und seine Regierung Folterstraftaten begangen haben und Einzelne dafür strafverfolgt werden sollen. Dies ist bemerkenswert. Denn zwar begann die Geschichte des Völkerstrafrechts bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen mit dem großen Versprechen des amerikanischen Chefanklägers Robert Jackson im Eröffnungsplädoyer vom 21. November 1945, dass "wir . . . nur dann in der Lage" sind, "Tyrannei, Gewalt und Aggression durch die jeweiligen Machthaber gegen ihr eigenes Volk zu beseitigen, wenn wir alle Menschen gleichermaßen dem Recht unterwerfbar machen".

Doch blieb das Versprechen uneingelöst: In der gesamten Welt wurden während der Nachkriegszeit jahrzehntelang Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, ohne dass eine Strafverfolgung einzelner Verantwortlicher ernsthaft erwogen, geschweige denn durchgesetzt wurde. Dies gilt auch und gerade für die in Nürnberg zu Gericht sitzenden westlichen Siegermächte, deren massenhafte Verbrechen im Algerienkrieg (Frankreich), im Vietnamkrieg und den schmutzigen Kriegen im Latein- und Mittelamerika der siebziger und achtziger Jahre nur bruchstückhaft juristisch aufgearbeitet wurden.

Die Luft für mordende und folternde Machthaber wurde in den neunziger Jahren dünner - mit der Etablierung der UN-Sondertribunale für Ruanda und Jugoslawien, später den gemischt national-internationalen Tribunalen für Sierra Leone und Kambodscha und schließlich dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (2002) nahm die internationale Verfolgung von Völkerstraftaten Formen an. Von der Unterwerfung aller unter das Gesetz kann aber noch nicht die Rede sein. Die Strafverfolgung blieb bisher selektiv gegen Täter aus schwachen Staaten des Osten und Südens gerichtet. Doch begannen Menschenrechtsorganisationen, der Willkür entgegenzuwirken, indem sie für "Universelle Jurisdiktion" plädierten und - beginnend mit dem spektakulären Pinochet-Prozess - in einzelnen Ländern Europas nationale Strafverfahren initiierten.

Dies führte vor allem in Spanien und Belgien, aber auch in Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland zu über fünfzig Ermittlungsverfahren zu Verbrechen in Lateinamerika (Argentinien, Chile, Guatemala), Israel (Massaker von Sabra und Shatila), China, USA, Russland, Jugoslawien und afrikanischen Ländern. Die ohnehin geringe Zahl von Verurteilungen betraf jedoch keinen Angehörigen mächtiger Staaten. Die Bush-Regierung machte seit ihrem Amtsantritt deutlich, dass sie sich internationalen Strafverfolgungsmechanismen nicht zu unterwerfen gedenke, und zog die von der Regierung Clinton geleistete Unterschrift unter das Rom-Statut zum Internationalen Strafgerichtshof zurück. Mehr noch: Die Anschläge vom 11. September 2001 wurden vor allem von Dick Cheney, seinem Chefjuristen Addington, John Yoo und anderen benutzt, um ihre lang gehegte Theorie von den unbeschränkten Befugnissen des Präsidenten in Kriegszeiten in die Realität umzusetzen.

In der Folge wurden ganze Personengruppen (als Terroristen, feindliche Kämpfer etc.) aus dem Bereich bürgerlicher und menschenrechtlicher Schutzsysteme ausgeschlossen - von Guantanamo bis zu Abu Ghraib und den CIA-Entführungsflügen. Regierungsamtliche Untersuchungen durch Politiker (wie den früheren Verteidigungsminister James Schlesinger), Militärs (Fay/Jones-Report, Taguba-Report) und zuletzt der Kongressbericht von McCain und Levin belegten schon zur Amtszeit der Bush-Regierung das systemische Ausmaß der Folterungen sowie die Beteiligung des Nationalen Sicherheitskabinetts, insbesondere von Dick Cheney, Donald Rumsfeld und ihren Juristen.

Nach der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Folter-Fotos und den ersten Untersuchungsberichten favorisierten einige Gruppen der US-Bürgerrechtsszene die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen im Kongress, andere zogen mit Schadenersatzforderungen gegen verantwortliche Politiker vor Zivilgerichte und scheiterten. Das Center for Constitutional Rights (CCR), das vor allem die Vertretung der Guantanamo-Inhaftierten durch 500 Anwälte koordiniert, zog aus den anhaltenden Misserfolgen vor US-Gerichten die Konsequenz und reichte im November 2004 im Namen von Abu-Ghraib-Opfern in Deutschland nach dem deutschen Völkerstrafrecht eine erste Strafanzeige gegen den damals noch amtierenden Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und andere ein.

Viele Kommentatoren sahen von vornherein keine ernsthaften Erfolgschancen für die Strafanzeige. Dann wurde sie vom Pentagon und Rumsfeld selbst öffentlich wie mit diplomatischen Mitteln attackiert. Rumsfeld kündigte an, er werde nicht mehr nach Deutschland einreisen, solange das Verfahren nicht abgeschlossen sei. Die Tatsachenschilderungen und die rechtlichen Bewertungen der Strafanzeige selbst wurden nicht in Frage gestellt. Es ging ausschließlich um die Frage, ob deutsche Strafverfolger sich mit Vorwürfen gegen Angehörige einer befreundeten westlichen Regierung befassen dürften.

Die zuständige Bundesanwaltschaft zog sich im Februar 2005 mit einer Entscheidung aus der Affäre, wonach "keine Anhaltspunkte" bestünden, dass die Behörden und Gerichte in den Vereinigten Staaten selbst von strafrechtlichen Maßnahmen Abstand nähmen. Als sich dann in den Jahren 2005 und 2006, zeigte, dass die militärischen und politischen Spitzen, nicht zuletzt durch die Selbstamnestie im "Military Commissions Act", für die Verbrechen in Abu Ghraib und anderswo straffrei bleiben würden, wurde, nun mit weltweiter Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, eine weitere Strafanzeige eingereicht. Deren erneute Ablehnung durch die Bundesanwaltschaft liegt derzeit dem Oberlandesgericht Frankfurt zur Entscheidung vor. Die Diskussion über die Durchsetzung des Völkerstrafrechtes gegenüber mächtigen Tatverdächtigen hält an.

Das "Weltrechtsprinzip" erlaubt es Staaten, Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen, unabhängig davon, wo die Straftat begangen wurde. Darauf berief sich das Vorhaben, ein Strafverfahren gegen Rumsfeld in Deutschland zu initiieren, solange Ermittlungen in den USA politisch nicht möglich waren. Zur Zeit diskutieren US-Juristen und Bürgerrechtlern erneut, wie und durch wen die Menschenrechtsverletzungen der Bush-Regierung im Antiterrorkampf umfassend ermittelt und gegebenenfalls strafverfolgt werden. Während die einen lediglich Wahrheitskommissionen und Kongressausschüsse für politisch durchsetzbar halten, fordern zahlreiche Juristen, aber auch der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman strafrechtliche Ermittlungen. Welcher Ansatz sich durchsetzen wird, hängt nicht nur vom neuen Präsidenten Barack Obama ab. Entscheidend wird sein, ob sich in den Vereinigten Staaten eine gesellschaftliche Übereinkunft über das Verhältnis von nationaler Sicherheit und Menschenrechten erzielen lässt. Diese Frage ist nicht darauf zu reduzieren, ob sich Bush und Rumsfeld irgendwann auf einer Anklagebank wiederfinden werden.

Schon jetzt wird - trotz politischer Hindernisse auch in Europa - sowohl die Aufklärung als auch die Sanktionierung von Straftaten im Anti-Terror-Kampf betrieben. Es gibt die detaillierten Berichte des Europarates, in Italien stehen in Abwesenheit CIA-Agenten vor Gericht, die mit Haftbefehlen gesucht und verdächtigt werden, an der Entführung verdächtiger Personen und Verbringung in Drittländer wie Afghanistan und Ägypten mitgewirkt zu haben. In Spanien laufen umfangreiche Ermittlungen zu den CIA-Entführungsflügen, in Polen zu den dort betriebenen CIA-Geheimgefängnissen.

Zu diesen und zu zukünftigen Strafverfahren, die eröffnet werden könnten, wenn ehemalige, der Folter verdächtige Regierungsfunktionäre nach Europa reisen, wird sich die Obama-Regierung verhalten müssen. In und außerhalb der Vereinigten Staaten stellt sich die Frage der Entschädigung für Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Die neue Regierung wird zu den bereits laufenden Schadenersatzprozessen gegen Mitglieder der alten Administration und gegen private Sicherheitsfirmen Position zu beziehen haben. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen werden weiterhin auf allen politischen und juristischen Ebenen dafür arbeiten, dass das absolute Folterverbot garantiert wird.

Der Autor ist Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. Er erstattete 2004 und 2006 in Zusammenarbeit mit dem Center for Constitutional Rights in New York die deutschen Strafanzeigen wegen Kriegsverbrechen und Folter gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, den damaligen CIA-Chef George Tenet und weitere Mitglieder der amerikanischen Regierung und Streitkräfte.

Die Strafverfolgung traf bisher nur Täter aus schwachen Staaten des Osten und Südens

Wie und durch wen lassen sich Menschenrechtsverletzungen im Antiterrorkampf verfolgen?

Gegen Donald Rumsfeld wurde in Deutschland eine Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen gestellt

Kaleck, Wolfgang: Gastbeiträge Misshandlung von Gefangenen im Irak durch US-Besatzungstruppen Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen in den USA Regierung Obama 2009 Menschenrechtsverletzungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kommentare

Paradoxe Agrarpolitik

Europa will Subventionen abschaffen - und führt sie stattdessen ein

Von Daniela Kuhr

Es ist paradox: Am Wochenende diskutierten in Berlin 26 Agrarminister aus aller Welt über die Frage, wie das Hungerproblem zu lösen ist. Eine ihrer Antworten: Die reichen Länder müssen ihre Exportbeihilfen abbauen, um den armen Ländern die Teilnahme am Welthandel zu ermöglichen. Doch nahezu zeitgleich kündigt EU-Landwirtschaftskommissarin Mariann Fischer-Boel an, die umstrittenen Exportbeihilfen für europäische Milchprodukte wieder einzuführen. Wer soll da bei diesem Zick-Zack-Kurs noch durchblicken?

Doch die Sache wird noch verwirrender: Eigentlich lehnt nämlich auch Fischer-Boel Exportsubventionen ab. Sie ist gegen alles, was den Markt verzerrt. Seit Jahren reduziert die EU daher die Ausfuhrbeihilfen für Agrarprodukte und will sie bis 2013 komplett abschaffen. Menschenrechtler, Kleinbauern und Hilfsorganisationen unterstützen das. Es sind also eigentlich alle einer Meinung. Und dennoch wird die EU ab nächster Woche ihren Exporteuren finanziell helfen, damit sie mit ihren Milchprodukten international wieder konkurrenzfähig sind. Zudem wird Brüssel von März bis August 30 000 Tonnen Butter sowie 109 000 Tonnen Magermilchpulver aufkaufen. Ist das der Beginn eines neuen Protektionismus? Nein. Zumindest spricht nichts dafür. Es ist vielmehr die Reaktion auf eine Entwicklung, die kaum dramatischer sein könnte: Ohne die Unterstützung stünden viele Milchbauern vor dem Aus.

Vor einem Jahr zahlten Molkereien den Landwirten noch rund 40 Cent für den Liter Milch. Derzeit sind es häufig nicht einmal mehr 29 Cent. Zu diesem Preis aber können viele kleine Betriebe nicht kostendeckend arbeiten. Schon gar nicht, wenn sie ihre Kühe auf die Weide führen und in schwierigen Hanglagen wirtschaften. Mit ihrer Politik hat die EU die Lage allerdings verschärft: Seit einiger Zeit erhöht sie schrittweise die Milchquote und erlaubt damit, dass immer mehr produziert wird. Je mehr Milch aber auf dem Markt ist, umso stärker gerät der Preis unter Druck. Doch auch wenn viele Milchbauern es anders sehen: Es ist richtig, dass die Quote abgeschafft wird. Dieses rigide Instrument hat in der Vergangenheit zahlreiche effizient organisierte Betriebe am Wachsen gehindert. Und was die EU nicht auf den Weltmarkt liefert, liefern dann eben andere Staaten. Ein Festhalten an der Quote würde die Gefahr bergen, dass die EU langfristig wichtige Absatzm rkte verliert.

Den Bauern muss anders geholfen werden. Der im November in Brüssel beschlossene Milchfonds spielt dabei eine entscheidende Rolle; doch es wird noch eine ganze Zeit vergehen, bis feststeht, wer wie viel Geld daraus bekommt. Zeit, die niemand hat. Die jetzt von Fischer-Boel angekündigten Hilfen entschärfen die Situation dagegen sofort. Es spricht viel, sehr viel gegen Exportbeihilfen. Aber womöglich sind sie tatsächlich der einzige Weg, der schnell aus dieser existenzbedrohlichen Lage führt. Keinesfalls kann die EU es sich leisten, dass massenhaft Milchbauern aufgeben. Gerade die kleinen Betriebe mit Weidehaltung leisten häufig einen wertvollen Beitrag für die Umwelt, den Tierschutz und den Tourismus. Ihr Aufgeben wäre unumkehrbar. Hat ein Betrieb erst einmal dicht gemacht, fängt er nicht wieder an. Langfristig muss die EU jedoch an ihrem Kurs festhalten: Die Subventionen gehören abgeschafft, weil sie es armen Ländern nahezu unmöglich machen, ihre Produkte international konkurrenzfähig anzubieten. Die Milchbranche hierzulande muss dafür sorgen, dass ihre Produkte auch ohne staatliche Hilfe Abnehmer findet. Wieso gibt es beispielsweise an Feinkost-Käsetheken so wenig deutschen Käse, sondern ganz überwiegend italienischen und französischen? Die Branche muss neue, hochwertige Produkte entwickeln und sich endlich von dem Gedanken verabschieden, dass die Herstellung von H-Milch und Milchpulver auf alle Zeit ein sicheres Einkommen bietet.

Jetzt aber gerade ist die Lage der Milchbauern so dramatisch, dass grundsätzliche Überzeugungen in den Hintergrund treten müssen. Nur ausnahmsweise. Und nur für kurze Zeit. (Seite 19)

Milchwirtschaft in Deutschland Agrarpolitik in der EU Subventionen in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schlechter Zeitpunkt

Gewerkschaften sollten sich bei den Lohnforderungen zurückhalten

Von Björn Finke

Es ist schon etwas dran an der Klage von DGB-Chef Michael Sommer. Ginge es nach den Arbeitgebern, sei nie der richtige Zeitpunkt für kräftige Lohnerhöhungen, kritisiert der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Und wirklich: Läuft es gut, erklären die Manager häufig, Gehaltssteigerungen könnten den Aufschwung beenden. Steckt die Wirtschaft wie gerade in der Krise, passt ein Lohnplus den Firmen erst recht nicht. Sommer mag die Abwehr-Rhetorik der Unternehmen durchschauen - das ändert jedoch nichts daran, dass 2009 tatsächlich nicht das beste Jahr für deutliche Gehaltserhöhungen ist.

Deutschlands Wirtschaft steckt in der tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Bei vielen Betrieben gehen kaum noch neue Bestellungen ein, und die Auftragspolster schmelzen rasant. Deshalb schicken immer mehr Firmen ihre Angestellten in die Kurzarbeit, nachdem bereits die Weihnachtsferien oft zwangsweise verlängert worden sind. In diesem Jahr wird in Branchen wie dem Baugewerbe oder der Stahlindustrie über die Tarifentgelte verhandelt. Kräftige Lohnsteigerungen werden sich zahlreiche Betriebe in diesen Sparten einfach nicht leisten können; teure Abschlüsse könnten sogar Jobs gefährden.

Im öffentlichen Dienst müssen die Beschäftigen zwar kaum um ihre Stellen fürchten. Dennoch ist der Zeitpunkt schlecht, um - wie die Gewerkschaften - acht Prozent mehr Lohn zu fordern. Schließlich sind die Kassen leer, der Staat nimmt viele Milliarden an Schulden auf, um die Konjunktur zu stützen. Deswegen sollten sich die Arbeitnehmer 2009 mäßigen: Dafür müssen die Manager beim nächsten Aufschwung umso mehr drauflegen. (Seite 19)

Tarifverhandlungen in Deutschland Konjunkturelle Lage in Deutschland Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Vor der Zellteilung

Nach neuen Milliardenverlusten: Citicorp beschließt die Spaltung in zwei Gesellschaften

Von Moritz Koch

New York - Die Finanzkrise hat Amerikas Großbanken erneut zu verzweifelten Sanierungsschritten gezwungen. Citicorp spaltet sich auf, und Bank of America zapft zum zweiten Mal den staatlichen Rettungsfonds an. In den vergangenen Monaten haben beide Finanzkonzerne schwere Verluste erlitten. Für die gebeutelte Citigroup war es schon der fünfte Quartalsverlust in Folge.

Die einst weltgrößte Bank verbuchte nach Angaben vom Freitag Einbußen von mehr als acht Milliarden Dollar. Damit hat Citigroup im vergangenen Jahr insgesamt 19 Milliarden Dollar verloren. Nun wird der Allfinanzkonzern zweigeteilt. Das klassische Bankgeschäft soll unter dem Namen Citicorp weitergeführt werden. Risikoreiche Vermögenswerte sollen ausgegliedert und künftig von der neugeschaffenen Citi Holdings verwaltet werden.

Mit der Aufspaltung kehrt Citigroup zu der Struktur von 1998 zurück, als Citicorp mit der Travelers Group fusionierte. Frühere Konzernchefs träumten davon, einen Supermarkt zu schaffen, der Finanzdienstleistungen aller Art im Angebot haben sollte. Dieser Traum ist geplatzt. Stück für Stück zerschlägt der heutige Citigroup-Chef Vikram Pandit den globalen Konzern. Erst Anfang der Woche hatte sich Citigroup von ihrer erfolgreichen Vermögensverwaltung Smith Barney getrennt und sie in ein Gemeinschaftsunternehmen mit Morgan Stanley eingebracht. Die ehemalige Investmentbank zahlt Citigroup 2,7 Milliarden Dollar dafür und wird 51 Prozent der Anteile besitzen, Citigroup erhält den Rest. Die neue Brokerfirma soll Morgan Stanley Smith Barney heißen und mehr als 20 000 Anlageberater beschäftigen. Im vergangenen Jahr hatte Citigroup schon ihr deutsches Privatkundengeschäft verkauft.

Auch Bank of America befindet sich in akuter Not. Zwar hat das Institut aus North Carolina im vergangenen Jahr noch einen Gewinn von 2,6 Milliarden Dollar erzielt. Doch im abgelaufenen Quartal beliefen sich die Verluste auf 2,4 Milliarden Dollar. Damit reichen die eigenen Kapitalreserven nicht mehr aus, um die bereits beschlossene Übernahme der Investmentbank Merrill Lynch zu stemmen. Erneut musste Bank of America den Staat um Hilfe bitten. Nach wochenlangen Verhandlungen stellte die US-Regierung am Freitag 20 Milliarden Dollar bereit und garantiert darüber hinaus Verluste aus faulen Kreditgeschäften in Höhe von 118 Milliarden Dollar. Schon im September hatte Bank of America 25 Milliarden Dollar vom Staat erhalten. Am Freitag erklärte sie, die neue Finanzspritze erlaube es ihr, ihre Geschäfte "so normal wie möglich" fortzuführen. Bank of America hatte die einst drittgrößte Investmentbank Merrill Lynch im September für 50 Milliarden Dollar übernommen und sitzt seither auf einem Berg fast unverkäuflicher Kreditderivate. Allein im vergangenen Quartal erwirtschaftete Merrill Lynch ein Minus von 15,3 Milliarden Dollar.

Bisher hat die Regierung in Washington vermieden, Mehrheitsanteile der angeschlagenen US-Banken zu übernehmen. Dabei ist sie längst der einzige Investor, der noch bereit ist, den Finanzkonzernen Geld zu geben. Allein für Citigroup und Bank of America summieren sich Garantien und Kapitalzufuhren inzwischen auf 420 Milliarden Dollar. Als Schatten-Verstaatlichung kritisieren Experten das System, da es das Ausmaß der Risiken verschleiere, das die Regierung eingehe, um die Banken zu retten. Der künftige US-Präsident Barack Obama hat bereits grundlegende Änderungen bei der Verwendung der Hilfen für die Wall Street angekündigt. Unterdessen verstaatlichte Irland die erste Bank: Die Regierung übernimmt die Anglo Irish Bank komplett, teilte Finanzminister Brian Lenihan in Dublin mit. (Seite 29)

Citigroup Inc.: Krise Citigroup Inc.: Umstrukturierung Bank of America: Krise Bank of America: Finanzen Folgen der Finanzkrise in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Eine extrem gute Leistung"

Ein Pilot über die Wasserlandung

Der Lufthansa-Pilot Tim Würfel hat im vergangenen Jahr zwei Vogelschläge auf seinen Flügen erlebt. Die Vorfälle verliefen glimpflich. Würfel, Präsident der Pilotenvereinigung "Cockpit", kennt auch die Schwierigkeiten einer Wasserlandung.

SZ: Wie gefährlich sind Vogelschwärme für den Flugverkehr?

Würfel: Der sogenannte Vogelschlag ist seit Jahrzehnten ein Thema, das man nie völlig in den Griff bekommen hat. Mit allen möglichen Mitteln versuchen die Flughäfen, Vögel von ihrem Gelände zu vertreiben. Das Problem der Zugvögel lösen sie so aber auch nicht. Es gab Versuche mit Ultraschall, zeitweise haben wir unser Wetterradar eingeschaltet, um die Vögel abzuschrecken. Aber auch das hat keine großen Erfolge gebracht.

SZ: Was passiert, wenn Vögel in die Triebwerke der Jets gelangen?

Würfel: Je nach Gewicht der Vögel können die Schaufeln der Triebwerke verbiegen. Dadurch kann bei den hohen Drehzahlen eine Unwucht entstehen, welche die Motoren zerstören kann. Wir trainieren alle drei Monate im Simulator den Ausfall eines Triebwerkes, das ist in der Regel kein Problem. Wenn aber alle beide Triebwerke betroffen sind, wird es schwierig.

SZ: Üben Sie auch Notlandungen auf dem Wasser?

Würfel: Das ist von Airline zu Airline unterschiedlich, aber wir tun das. Bei Notwasserungen ist es besonders wichtig, dass das Zusammenspiel von Cockpit- und Kabinenbesatzung stimmt. Denn die Flugbegleiter spielen bei der Evakuierung eine wichtige Rolle. Auch wenn das dann im Ernstfall bestimmt nicht genauso wie trainiert abläuft, ist es trotzdem gut, so einen Fall gedanklich einmal durchgespielt zu haben.

SZ: Wie schätzen Sie das Landemanöver ihrer Piloten-Kollegen der US-Airways ein?

Würfel: Das war eine extrem gute Leistung. Die Entscheidung, auf dem Hudson runterzugehen, haben die Piloten wohl getroffen, weil sie befürchteten, auch auf dem zweiten Triebwerk die gesamte Leistung zu verlieren und dann womöglich über bewohntem Gebiet abzustürzen. Das alleine ist bemerkenswert. Bei der Landung selbst kam es darauf an, die Tragflächen möglichst waagerecht zu halten, damit man nicht mit einem Flügel zuerst auftrifft und das Flugzeug auseinanderbricht. Wenn das überstanden ist, hat man einige Minuten Zeit zur Evakuierung, denn in der Regel schwimmt ein Flugzeug, bevor es mit Wasser vollläuft und sinkt. Die Leute können auf die Flügel und die schwimmenden Rettungsrutschen hinausklettern. Die Rutschen lassen sich abtrennen und sind dann Rettungsboote.

SZ: Zuletzt war bei Abstürzen oft von menschlichem Versagen die Rede, nun wird ein Pilot als Held gefeiert.

Würfel: Bei diesem Unfall hat sich gezeigt, wie enorm wichtig Erfahrung sein kann. Es wird ja darüber diskutiert, dass Piloten in automatisch gesteuerten Flugzeugen eines Tages überflüssig sein könnten. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie in einer solchen Situation ein Computer diese auch intuitive Entscheidung des Kapitäns hätte treffen können.

Interview: Jens Flottau

Wassertemperatur drei Grad: In Minuten waren die Helfer zur Stelle. Reuters

Würfel, Tim: Interviews Sicherheit im Flugverkehr Flugzeugunglücke in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wer war noch mal Ingmar Bergman?

Die Lehren aus dem Bayerischen Filmpreis: Es wird unbeirrt weitergewurstelt. Und am besten laufen Amphibienfilme

So einfach lassen wir uns nicht aus der Ruhe bringen, das könnte die Botschaft sein, die der deutsche Film an die Welt sendet. Andere Branchen mögen über bedrohliche Einbrüche klagen - die heimischen Kinos aber melden für 2008 ein Umsatzplus von 3,5 Prozent, der Anteil deutscher Produktionen liegt mit 22,5 Prozent ebenfalls deutlich über dem Vorjahr. Der Bayerische Filmpreis hat diese Botschaft am Freitagabend auf seine Weise bekräftigt: Wir halten Kurs, scheint die Jury allen Zweiflern zu bedeuten.

Da mag Bernd Eichinger von Kritikern, Prozessen und Kontroversen um seinen "Baader Meinhof Komplex" durchgeschüttelt sein - hier kriegt er wie zum Trost den Produzentenpreis. Da hat Caroline Link mit "Im Winter ein Jahr" erstmals erfahren, wie sich eine Enttäuschung an der Kinokasse anfühlt - hier wird sie vielleicht gerade deshalb für ihre hervorragende Regie bedacht (Hauptdarstellerin Karoline Herfurth erhält den Nachwuchspreis). Da mögen die Kritiker über die gescheiterte Ausstattungsorgie "Buddenbrooks" stöhnen - hier dreht man das Argument um und zeichnet die Szenen- und Kostümbildnerei aus, die Verantwortlichen für die ganze Opulenz. Und als man sich fragt, ob es jetzt nicht genug ist mit den historischen Amphibienfilmen, die als Kinofilm und Fernsehzweiteiler gleichermaßen funktionieren sollen, hat die Jury noch einen weiteren preiswürdigen entdeckt: "John Rabe", der im April anläuft und vorab einen Produzentenpreis und einen Darstellerpreis für Ulrich Tukur abräumt.

Als Ursula Werner ihren verdienten Darstellerinnenpreis für "Wolke 9" entgegennimmt, enthüllt sie, dass ihr Regisseur Andreas Dresen sich von seinen Freunden "Ändy" nennen lässt. Franz Xaver Kroetz, der mit Bully Herbig einen Sonderpreis für den "Brandner Kaspar" erhält, ist selbst nicht da, lässt seine Tochter aber eine gnadenlose Selbsteinschätzung vorlesen - dass er für diese Rolle nämlich "aus dem Massengrab der vergessenen Schauspieler gekratzt" wurde. Solche Dinge werden dann aber höchst folgenlos weggeklascht - genau wie die Ermahnungen eines Einspielfilms, in dem Christoph Süß erstaunlich überzeugend den Tod aus Bergmans "Siebentem Siegel" parodiert, damit im Publikum aber bloß auf Befremden stößt. Wer war jetzt gleich wieder Bergman?

Horst Seehofer, der dritte Ministerpräsident in drei Jahren, gibt sein Debüt als Ehrenpreis-Laudator für Peter Schamoni und versteht es, die Pannen seines Vorgängers zu vermeiden, der den Namen Scorsese in "Sorkäse" verwandelt hatte. Daher traut man Seehofer jetzt auch zu, länger als ein Jahr im Amt zu bleiben.

Bernd Eichinger schließlich nutzt seinen Bühnenmoment, um nach der gerade abgewehrten Einstweiligen Verfügung der Jürgen-Ponto-Witwe gegen den "Baader Meinhof Komplex" nachträglich gegen den "sogenannten Medien- und Filmanwalt" der Gegenseite, Christian Schertz, zu polemisieren. Er nennt ihn "durchgeknallt" und beschuldigt ihn, nur seinen "Promi-Faktor" erhöhen zu wollen. Das gibt wieder Stoff für aufgeregtes Partygeschnatter, ändert aber nichts an der Botschaft: Mag die Krise draußen schon bald ihre ganze Wucht entfalten - im Biotop des deutschen Films zieht erst einmal jeder unbeirrt sein Ding durch. TOBIAS KNIEBE

Bayerischer Filmpreis SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aktuelles Lexikon

Sächsischer Dankorden

Mit einer Auszeichnung für seine Leistung, gegen den Strom zu schwimmen, mag Russlands Premier, Expräsident und Ex-KGB-Spion in Dresden Wladimir Putin etwas anfangen können; gegen den Strom etwa der westlichen Meinungen ist er zuletzt erfolgreich während der Gaskrise geschwommen. "Adverso Flumine" steht auf dem Sächsischen Dankorden, den der mächtige Mann aus Russland nun auf dem Dresdner Semperopernball erhält. Damit ist er in würdiger Gesellschaft zum Beispiel von Franz Beckenbauer, Henry Maske und Hans-Dietrich Genscher. Der massivgoldene Dankorden ist einer der ältesten Preziosen aus dem Grünen Gewölbe zu Dresden nachempfunden: dem Heiligen Georg zu Pferde. Als passend dürfte der Geehrte diese Figur durchaus empfinden: Georg ist als Drachentöter sowie als Patron der Krieger und Rittersleute bekannt, ein Symbol des Kampfes des Guten gegen das Böse; freilich wurde der Heilige von den frühen Christen noch als Märtyrer der Gewaltlosigkeit verehrt. Die Auszeichnung darf übrigens keinesfalls mit altehrwürdigen Vorgängern wie dem Großherzoglich Sächsischen Hausorden verwechselt werden. Den Dankorden, der während des 2006 wiederbelebten Semperopernballs verliehen wird, erhalten Persönlichkeiten, die sich "unbeirrt und voller Mut für Gegenwart und Zukunft des Landes Sachsen und für Deutschland engagieren". jkä

Putin, Wladimir: Auszeichnung Kultur in Dresden Orden und Medaillen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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10 000 Herzen für einen Brummi

Der Arzt Markus Studer kündigte seinen Job, um sich seinen Traum zu erfüllen: Er wurde Fernfahrer

Von Dagmar Deckstein

Damit muss er jetzt leben. Daran ist er selber schuld. Mal titulieren sie ihn als "Dr. Dieselherz", mal als "Dr. Cargo". Unter den Kapitänen der Landstraßen und Autobahnen ist Lkw-Fernfahrer Markus Studer mit seinem Doktortitel eine absolute Ausnahmeerscheinung. Wiewohl sein Kollege Walo, der für die gleiche Schweizer Transportfirma "Transfood" mit dem Lkw quer durch Europa schippert, nichts auf den Herrn Doktor kommen lässt: "Markus ist Spitze. Er hat das so richtig angenommen von uns, das Proletarische. Absolut solidarisch. Echt. Markus ist einer von uns." So jedenfalls zitiert der Schweizer Journalist Markus Maeder jenen Walo in seinem Buch, das er über Markus Studer geschrieben hat. Maeder hat Studer dafür wochenlang auf dem Beifahrersitz über Europas graue Asphaltbahnen begleitet. Titel: "Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Der Spurwechsel des Dr. med. Markus Studer. Ein Bordbuch."

Damit ist die ganze, nicht gerade alltägliche Geschichte eines ziemlich radikalen beruflichen Umstiegs schon umrissen. Aber was treibt einen Herzchirurgen mit Bilderbuchkarriere nach 25 Jahren aus dem Operationssaal in die Führerkabine eines Trucks, in einen Job, der hinsichtlich Verdienst und Renommee nicht gerade einen Spitzenplatz in der sozialen Rangskala einnimmt?

Einsatz für Osterhasen

An einem trüben Winternachmittag an der Raststätte Wonnegau Ost an der A61 fährt der knallrote Actros vor, 460 PS stark und 40 Tonnen schwer, in weißen Buchstaben leuchtet "Markus Studer Internationale Transporte" auf der Kühlerhaube über dem Mercedes-Stern. Schwungvoll steigt der 62-Jährige mit dem kurzgeschnittenen Grauschopf die Stufen unter der Fahrertür hinunter. Seine Berufsuniform besteht aus einer blauen Jeanshose und einem Jeanshemd, über dessen Brusttasche mit weißem Nähgarn "Markus Studer" eingestickt ist.

Heute ist der Ex-Herzchirurg in Sachen Osterhasen unterwegs. Am Morgen hat er in der Schweiz Kakaomasse in den Tank gefüllt, die am Abend in Aachen sein muss, für einen Produzenten der Schweizer Firma Lindt&Sprüngli. Jetzt aber nimmt er sich erst einmal einen Tee von der Selbstbedienungstheke der Raststätte und erzählt, wie alles anfing, damals, an seinem 45. Geburtstag. "Da habe ich mich entschieden: Diesen Job als Herzchirurg machst du nicht bis 65." Bei aller erworbenen Routine in diesem anspruchsvollen Beruf mit hoher psychischer und physischer Belastung lassen die Kräfte irgendwann nach, dachte er sich. Und überhaupt: "Eine Party sollte man dann verlassen, wenn sie auf dem Höhepunkt angelangt ist. Oder finden Sie das toll, wenn Sie bis morgens um vier ausgeharrt haben und nur noch von Bierleichen umgeben sind?"

Das mit den Leichen will der Ex-Herzchirurg natürlich nicht wörtlich verstanden wissen, er, der im Laufe seines Medizinerlebens etwa 10 000 Operationen am offenen Herzen durchgestanden hat. Er hat Bypässe gelegt, Geburtsfehler korrigiert, neue Klappen eingesetzt. "Klar, ich könnte natürlich auch heute noch operieren. Aber ich wollte einfach nicht mehr." Es war Ende 2002, als ihn sein Nachfolger am Herzzentrum Hirslanden, Louis Egloff, in sein neues Leben verabschiedete: "Er winkt uns, seinen Patienten und dem Spital Adieu, um einer neuen Zukunft mit hellem Horizont entgegenzufahren."

Diese Zukunft liegt nun schon wieder fünf Jahre und 500 000 Kilometer hinter Markus Studer. Am 1. Mai 2003 hat er sein neues Leben begonnen, auf das sich der Mediziner beizeiten vorbereitet hat. Schon anno 2000 erwarb er den Lkw-Führerschein Klasse C, dazu die E-Berechtigung für Anhänger, und anschließend nahm ihn Freund Fritz, selbst langjähriger Fernfahrer, unter seine Fittiche, um Studer in die Kniffe und Finten der eingeschworenen Truckergemeinde einzuweihen. Dann ging es auf eigene Faust los, und Studer kam es vor "wie die späte Fortsetzung einer alten Liebesgeschichte". Schon Klein-Markus hatte den Lastwagen, die an seinem elterlichen Haus in Schaffhausen vorbeibrummten, sehnsüchtig nachgeschaut. Später auf dem Gymnasium hatte er sich eigentlich schon auf der Ingenieurschule in Biel gesehen, aber als es soweit war, entschied er, dass er doch lieber mit Menschen zusammen arbeiten wolle, und studierte Medizin. Nicht ahnend, dass auch Autoingenieure im Team arbeiten.

"Red' nicht, tu es"

Studer spezialisierte sich auf die Herzchirurgie und gründete schließlich 1987 mit einigen Kollegen das Herzzentrum Hirslanden in Zürich. Doch mit den Jahren wuchs die Unruhe, bis Ehefrau Katharina ein Machtwort sprach: "Red' nicht immer davon, tu es!" Gesagt, getan.

Als selbständiger "Camionneur", wie die Trucker in der Schweiz heißen, transportiert er Flüssiglebensmittel für die Spedition Transfood - Kakao etwa oder Milch, Apfelsaft oder Orangensaftkonzentrat. "Für einen älteren Knaben wie mich ist das besser, da muss ich nur die Pumpe ansetzen und nicht selber Waren auf- und abladen." Fünf Tage in der Woche kutschiert Studer heute seinen Actros über Europas Landstraßen und Autobahnen, die Wochenenden hat er, sehr zum Wohlgefallen von Frau Katharina, frei. Und alle 20 Tage gibt es von der Spedition das Fuhrgeld, so hat Studer selbst kein Inkassorisiko.

"Na ja", gibt er zu, "ich habe natürlich von früher etwas zurückgelegt. Allein vom Brummifahren könnte ich nur sehr bescheiden leben." Also ist es die legendäre Fernfahrerromantik, die große Freiheit der Straße, die er suchte? Von der kann im Zeitalter der Tempolimits und Ruhezeitvorschriften, der Zollbürokratie und Mautverordnungen, der Dumping-Konkurrenz aus Osteuropa und allgegenwärtiger Polizeikontrollen doch kaum noch die Rede sein? Einerseits nein, sagt Studer, andererseits aber habe alles seine Sonnen- und Schattenseiten. "Und so lange die sonnigen überwiegen . . ." Das Schlimmste für einen Fernfahrer sei etwas ganz anderes. Nicht von ungefähr hatte Studer noch vor dem Treffen auf der Raststätte angerufen und geraten, einen Stau in Höhe Mannheim zu umfahren. "Ein Fernfahrer im Stau, das ist eine persönliche Niederlage".

MutMacher

In jeder Veränderung steckt eine Chance. Eine SZ-Serie

Streng nach Vorschrift

Den Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge hat der Straßengüterverkehr den größten Anteil am Transportaufkommen. So wurden nach den letzten Zahlen aus dem Jahr 2007 etwa 3430 Millionen Tonnen - 77 Prozent aller Güter - auf Deutschlands Straßen befördert. Das Transportgewerbe ist mit 57 000 Unternehmen überwiegend klein- und mittelständisch geprägt und zersplittert, zum Teil aber auch hoch spezialisiert. Mit etwa 550 000 Beschäftigten in Deutschland ist der gewerbliche Straßengüterverkehr der stärkste Verkehrsträger.

Wenn Markus Studer als selbständiger Fuhrunternehmer und Unterauftragnehmer seiner Spedition "Transfood" in seinen Actros steigt, ist er aber nicht Herr im eigenen Cockpit. Er muss sich an die seit April geltenden, strengen Lenk- und Ruhezeiten halten. Drei mal die Woche darf er höchstens neun Stunden fahren, und auch nur 4,5 Stunden am Stück. Dann sind 45 Minuten Pause vorgeschrieben. An zwei Wochentagen sind zehn Stunden Lenkzeit erlaubt. Die Gesamtlenkzeit von zwei aufeinanderfolgenden Wochen darf insgesamt 90 Stunden nicht überschreiten. dad

Nächsten Montag lesen Sie:

Burkhard Roozinski, erst Einkäufer bei VW, eröffnete einen Blumenladen.

"Irgendwann war mir klar: Diesen Job als Herzchirurg machst Du nicht bis 65." Seit fünf Jahren fährt der Schweizer Mediziner Markus Studer nun mit seinem knallroten, 40 Tonnen schweren Actros über Europas Fernstraßen. Für ihn ist das "die späte Fortsetzung einer alten Liebesgeschichte". Denn Fernfahrer wollte er schon als Kind werden. Foto: Focus

Studer, Markus LKW-Verkehr in Deutschland SZ-Serie MutMacher SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aus der Redaktion

SZ mit stabiler Auflage

Die Süddeutsche Zeitung hat ihre

verkaufte Auflage im vierten Quartal 2008 auf hohem Niveau stabilisiert. Die Informationsgemeinschaft zur Fest-

stellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) ermittelte, dass von Oktober bis Dezember im Schnitt täglich 445 393 Exemplare der SZ verkauft wurden. Das sind zwar 2221 weniger als im selben Zeitraum des Vorjahres. Im Jahresdurchschnitt 2008 verkaufte die Süddeutsche Zeitung aber 3985 Zeitungen mehr als 2007 und erreichte mit 445 885 Exemplaren täglich die höchste Auflage in ihrer Geschichte.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kam im vergangenen Jahr durch-

schnittlich auf 368 847 Exemplare, 4984 mehr als im Jahr 2007. Von Oktober

bis Dezember 2008 steigerte die FAZ

ihre Auflage um 4923 Exemplare auf 373 393.

Die Auflagen der Münchner Zeitungen in den vergangenen drei Monaten: Abendzeitung 142 952 Exemplare (minus 4698 gegenüber viertes Quartal 2007), tz 145 038 (minus 5080), Münchner Merkur 200 540 (minus 121), Bild München 120 421 (minus 4361). SZ

SZ-Entwicklung Pressewesen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Schatzsucher

Aaron Regent leitet Barrick Gold, Kanadas größten Bergbaukonzern

Der Kanadier Aaron Regent hat eine Schwäche für Größe: Vor vier Jahren, als der heute 43-Jährige noch Chef des kanadischen Rohstoffkonzerns Falconbridge war, wollte er sein Unternehmen mit dem Rivalen Inco zum größten Nickelproduzenten der Welt verschmelzen. Das Unterfangen schlug fehl, im Jahr 2006 übernahm die Schweizer Xstrata Falconbridge. Regent war kurz zuvor zurückgetreten. "Der Zusammenschluss hätte eine phänomenale Firma und einen großen kanadischen Champion ergeben", sagte er später über die verpasste Chance. Jetzt muss er sich nicht mehr grämen: Seit Freitag ist er Chef von Barrick Gold, Kanadas größtem Bergbaukonzern - ein echter Champion. Im vergangenen Jahr förderte Barrick mehr als acht Millionen Feinunzen Gold, das sind fast zehn Prozent der Weltproduktion.

Mit dem Rohstoff Gold hatte der in Irland geborene und in der kanadischen Provinz Alberta aufgewachsene Regent bislang wenig zu tun, aber das war für seine Berufung kein Hindernis. Barrick will wie bisher durch Übernahmen und Zukäufe wachsen, und da sind Regents Erfahrungen in der Branche - vor Falconbridge war er Finanzchef des Minenunternehmens Noranda - und im Finanzierungsgeschäft gefragt. Die Barrick-Gruppe, die sich vor sieben Jahren den US-amerikanischen Goldkonzern Homestake Mining und 2006 die kanadische Placer Dome einverleibte, sieht im aktuellen Umfeld viele Kaufmöglichkeiten.

Regent tritt die Nachfolge von Greg Wilkins an, der an einer schweren Krankheit leidet und im vergangenen Jahr als Vorstandschef zurücktrat, aber immer noch tageweise in leitender Stellung bei Barrick arbeitet. Und da ist auch noch die graue Eminenz, der 81-jährige Peter Munk, der Barrick Gold 1983 gründete und heute immer noch Chairman ist. Ratgeber gibt es also durchaus. Doch Regent gilt als ein Manager, der gut im Team arbeiten kann. Das bescheinigen ihm ehemalige Partner des Mischkonzerns Brookfield (ehemals Brascan), wohin er nach seinem Rücktritt bei Falconbridge wechselte, obwohl ihm Xstrata einen Job offeriert haben soll.

Während seiner Zeit bei Brookfield engagierte sich Regent für das Kinder-Krankenhaus in Toronto, früher war er auch im Aufsichtsrat des kanadischen Nationalballetts. Demnächst wird sich der Kanadier als Chef von Barrick mit der Realität in Ländern wie Tansania auseinandersetzen müssen. Dort stürmten im Dezember Tausende aufgebrachte Menschen Barricks Goldmine North Mara, weil sie ihre wirtschaftliche Existenz verloren haben und Barrick dafür die Schuld geben. Regent wird als umgänglich und geschickt im Verhandeln beschrieben. Das wird ihm in diesem Fall von Nutzen sein. Bernadette Calonego

Aaron Regent Foto: Bloomberg

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Deripaska wieder Rusal-Chef

Beim russischen Aluminium-Konzern Rusal hat der Besitzer Oleg Deripaska wieder den Chefposten übernommen. Der Milliardär werde eine "Serie von Krisenmaßnahmen" umsetzen, teilte Rusal am Sonntag mit. Deripaska, der bis zum Ausbruch der Finanzkrise als reichster Russe galt, war von 2000 an bereits drei Jahre lang Rusal-Chef gewesen. dpa

Deripaska, Oleg Wladimirowitsch: Karriere SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Allein unter Glatzen

Hans Hennig Paar schickt "Copy Coppelia" ins Tanzlabor

Hans Henning Paar, Jahrgang 1966, pflegt eine Moderne, wie sie, damals häufig im Trikot getanzt, auf den Bühnen der fünfziger und sechziger Jahre en vogue war. Der Choreograph und Ballettchef des Tanz-Theaters München am Gärtnerplatztheater lag also in Stramplern, als noch halbwegs frisch aussah, was er jetzt, mit fast 43, als zeitgenössische Tanzkunst verkauft. Das Schöne für ihn: Er ist damit erfolgreich. Denn seine Erzähl-Ballette, die er fleißig mit vielen, vielen Schritten versieht, meiden das Korsett des klassischen Handlungsballetts und suggerieren durch die Wahl der Themen literarischen Tiefgang und die gezielte Wahl des jeweils adäquaten Stilmittels.

Paar liebt es, Bücher und Filme in seinen Balletten zu verarbeiten, das tat er bei Jean Genet, bei Saint Exuperys "Kleinem Prinzen" und tut es nun bei seinem neuesten Stück "Copy Coppelia". Das Publikum dankt es ihm offensichtlich, dass er gestisch und mimisch vereinfacht, was sich in Leben und Literatur komplizierter darstellt; und er stört sich nicht daran, das, was im Film als Spezialeffekt fasziniert, als naturgemäß leicht holprige Live-Rekonstruktion für die Bühne zu inszenieren.

Hans Henning Paars Choreographien kommen von der Stange, sind konventionell. Es muss sich niemand verschreckt fühlen oder einen zweiten Blick wagen, um das Bühnengeschehen zu begreifen oder gar dessen Mittel zu reflektieren. Aus einem Paar-Ballett kann man hinausgehen und sagen: Heut hab ich was ganz Modernes gesehen. Ähnlich verfährt Paar mit der Musikauswahl, die bei "Copy Coppelia" von elektronischem Schluckauf über atonales Saitengezupfe von Ake Parmerud bis zum pathetischen Orchesterbombast reicht, als hätte Komponist Reinhard Febel Wagner mit Gorecki durch den Kompositions-Computer gejagt. Die Musik kann man gleichermaßen als Teil der Dekoration betrachten, so illustrativ, wie sie eingesetzt ist.

Die romantischen Motive des Maschinenmenschen, des Doppelgängers geistern durch eine graue SciFi-Szenerie, E.T.A. Hoffmann meets "Matrix". Und weil hier die Maschinenmenschen in der Überzahl sind und nur am Ende eine Frau aus Fleisch und Blut, das Blondchen Coppelia der Lieke Vanbiervliet, unter lauter Androiden mit künstlichen Glatzen barmt, ist die vorherrschende Blutleere wohl Programm.

Dr. Coppelius (Pedro Dias) jedenfalls brütet in einem gekippten Glaskubus Prototypen des perfekten Frauenimitats aus, bis endlich das Spitzenmodell in Gestalt einer gliederpuppigen Asiatin einherstakst (Hsin-I Huang). Eine schwarze Medusa im Reifrock kreiselt an ihrem Zopf aus dem Schnürboden wie ein Relikt aus Schlemmers "Triadischem Ballett", und irgendwie haben sich die Wunderland-Zwillinge Tweedledee und Tweedledum, nunmehr zweieiig einhertorkelnd (Carolina Constantinou und Antonin Comastaz), in dieses sterile Labor verirrt. Die Tänzer machen sich achtzig Minuten lang trefflich als Maschinenmenschen. Man wünschte ihnen, sie dürften Substantielleres tanzen.

EVA-ELISABETH FISCHER

Szene mit Lieke Vanbiervliet als Coppelia und Pedro Dias Foto: Ida Zenna

Paar, Hans-Henning Staatstheater am Gärtnerplatz Tanztheater in München SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Zuhause für Bücher

Das Familienunternehmen Paschen fertigt nicht einzelne Regale, sondern Bibliotheken - und zwar in Maßarbeit. Zu den Kunden zählt auch Papst Benedikt

Von Stefan Weber

Unter Möbelkäufern gibt es vermutlich kaum jemanden, der noch nicht von "Billy" gehört hat. Das Bücherregal ist wohl das bekannteste Produkt des Möbelherstellers Ikea. Seit mehr als 25 Jahren im Programm, zählt das Regalsystem nach wie vor zu den meist verkauften Artikeln des schwedischen Unternehmens. Das freut Jan Paschen, obwohl der Unternehmer aus Wadersloh in Ostwestfalen mit dem Billy-Anbieter um die Gunst von Bücher-Liebhabern konkurriert, die nach einem Aufbewahrungsort für ihre gedruckten Schätze suchen. Auch Paschen verkauft Regal-Systeme, freilich keine von der Stange, nicht zur Selbstmontage. Der 44-Jährige bietet Maßarbeit: Handgefertigte Modelle aus edlen Hölzern, falls gewünscht nach dem Vorbild historischer Bibliotheken. Trotzdem freut er sich über die große Beliebtheit des Ikea-Regals, denn er spekuliert: "Wenn die Leute anspruchsvoller werden und mehr Geld zur Verfügung haben, tauschen sie Billy aus - hoffentlich gegen ein Produkt aus unserem Haus."

Das Familienunternehmen, das Paschen gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Christian in fünfter Generation führt, gilt als einer der führenden Hersteller von Bibliotheken in Deutschland, aber zunehmend auch im Ausland. Eine Bibliothek, wie sie der Firmenchef versteht, muss freilich keine meterlange Ansammlung von Büchern sein, womöglich noch in einem eigenem Raum oder gar Gebäude. "Es geht darum, ein Möbel zu fertigen für Menschen, die Büchern in ihrer Wohnung ein Zuhause geben möchten", sagt Paschen. Das könne auch ein individuell gefertigtes, schmales Regalsystem sein. Ein solches 2,50 Meter breites Modell bietet Paschen, je nach Material, bereits für 500 bis 1000 Euro an. Meist sind die Auftragssummen aber deutlich höher. Wer den Möbelbauer aus Wadersloh beauftragt, gibt im Durchschnitt zwischen 6000 und 10 000 Euro aus. In seltenen Fällen lassen sich Bücherliebhaber ihren Traum aber auch ein Vielfaches dieser Summe kosten. Auftraggeber aus Russland beispielsweise, die Paschen in den vergangenen Jahren immer häufiger gewonnen hat, seit er mit Innenarchitekten in Moskau und St. Petersburg zusammenarbeitet. Da kommt es vor, dass ein vermögender Privatmann in einem französischen Schloss eine Bibliothek entdeckt und beschließt: So etwas möchte ich auch haben. Dann machen sich Mitarbeiter von Paschen auf den Weg, besichtigen das Original, vermessen die Räumlichkeiten des Kunden und machen sich ans Werk. Auch der Vatikan ist Kunde bei dem Mittelständler aus Ostwestfalen. Nach dem Vorbild niederländischer Universitätsbibliotheken im Stil des flämischen Spätbarock hat Paschen im vergangenen Jahr für Papst Benedikt eine Bibliothek gebaut. Der Firmenchef mö;chte jedoch nicht den Eindruck erwecken, "eine Schmiede für Eigenanfertigungen" zu sein: "Wir brauchen auch das Brot- und Butter-Geschäft." Konkurrenten sind weniger Nobelhersteller wie Interlübke oder Hülsta mit ihren Regalsystemen. Denn diese Wohnprogramme seien bei echten Bücherliebhabern weniger gefragt, beobachtet Paschen. Sehr viel häufiger beauftragten Privatpersonen und Geschäftsleute, die nach einer anspruchsvollen Herberge für Gedrucktes suchten, Kunsttischler und Schreiner.

Eine Konsumzurückhaltung, wie sie andere Branchen beklagen, spürt der Möbelbauer bisher nicht. Seine Kunden sind weniger anfällig gegen die Widrigkeiten der Konjunktur. Allerdings, so stellt Paschen fest, habe sich die Nachfrage aus Asien, Großbritannien und Russland in den vergangenen Monaten ein wenig abgeschwächt. Seit 2000 hat das Familienunternehmen den Umsatz auf zuletzt knapp 45 Millionen verdoppelt. Zur Ertragssituation möchte der Firmenchef keine Angaben machen. Er verschweigt aber nicht, dass "wir in den neunziger Jahren harte Zeiten erlebt haben." Da habe es Spitz auf Knopf gestanden, ob das Unternehmen überhaupt eine Zukunft haben würde.

Lange Zeit hatte die von Carl Paschen 1883 in Hamburg gegründete und erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ostwestfalen umgezogene Firma Möbel für Speisezimmer und Büros gefertigt. "Spießermöbel", wie Jan Paschen sagt. Anfang der neunziger Jahre beschloss sein Vater, sich auf etwas zu konzentrieren, was ihm Freude bereitete: das Leben mit Büchern. Schon als Kind habe er davon geträumt, einmal eine Bibliothek zu besitzen, sagt der Sohn. Von da an orientierte sich der Familienbetrieb neu und stellte ausschließlich Bibliotheken her.

Dass Jan und Christian Paschen das Unternehmen führen würden, war lange Zeit ungewiss. Denn beide hatten zunächst andere Pläne. Jan Paschen, der sich heute vornehmlich um die Bereiche Vertrieb, Marketing und Strategie kümmert, verdiente sein Geld früher als Schlagzeuger. Mühsam hat er sich eingearbeitet in die Welt des Möbelmarktes - und sich dabei anfangs auch "viele blaue Augen geholt", wie er einräumt. Bruder Christian, der gelernte Tischler und Bootsbauer, hatte in vielen Ländern gearbeitet und die Welt umsegelt, ehe er zurück in das familieneigene Unternehmen fand. Er ist verantwortlich für Produktion und Gestaltung der Bibliotheken.

Gefertigt wird ausschließlich am Firmensitz in Wadersloh. Eine Produktion im Ausland, wo Handarbeit, wie sie für die Herstellung der Möbelstücke erforderlich ist, viel preiswerter ist, haben die Brüder nie in Betracht gezogen. "Das rechnet sich nicht", sagt Jan Paschen. Nur eine Produktion in Deutschland garantiere eine hohe Qualität, eine termingerechte Logistik und einen schnellen Service.

-DYNASTIEN -AUSSENSEITER -NEWCOMER

Einige Tausend Euro kostet eine Bibliothek von Paschen. Von der Krise spürt das Familienunternehmen bisher nichts. Foto: oh

Möbelindustrie in Deutschland Familienunternehmen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ex-Medion-Mann verdächtigt

Gegen einen ehemaligen Bereichsleiter des Essener Elektronikgroßhändlers Medion ermittelt die Frankfurter Staatsanwaltschaft. Die Vorwürfe lauten auf Vorteilsnahme und Untreue. Der Mann soll zwischen 2002 und 2008 als Ein- und Verkäufer für Medion einen Schaden von zwei Millionen Euro angerichtet haben, sagte die Frankfurter Staatsanwältin Doris Möller-Scheu. Medion bestätigte ebenfalls die Ermittlungen. Das Unternehmen habe sich von dem Mitarbeiter getrennt und prüfe zudem zivilrechtliche Schritte. Der Beschuldigte habe gestanden und sei daher gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen worden, sagte Möller-Scheu. Dort hatte er bereits im September eine Woche wegen Verdunklungsgefahr gesessen. dpa

Medion AG: Management Medion AG: Führungskraft SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hochbezahlter Disney-Manager

Geldregen für den Disney-Chef: Robert Iger bekam bei dem US-Medienkonzern im vergangenen Geschäftsjahr insgesamt eine Vergütung von 30,6 Millionen Dollar. Zum Grundgehalt des 57-Jährigen von zwei Millionen Dollar kamen dabei Bonuszahlungen von knapp 14 Millionen Dollar hinzu, wie Disney in einer Mitteilung an die Börsenaufsicht SEC bekanntgab. Der zweite große Posten waren Aktien und Optionen, deren Volumen auf 13,7 Millionen Dollar beziffert wurde. Die Gesamtvergütung des Konzernchefs stieg im Vergleich zum Geschäftsjahr davor um gut zehn Prozent. Der Gewinn von Disney war in dem Ende September abgeschlossenen Geschäftsjahr um knapp sechs Prozent auf 4,4 Milliarden Dollar gesunken. In der Mitteilung gab Disney auch bekannt, dass Apple-Chef Steve Jobs in den Verwaltungsrat des Konzerns wiedergewählt werden soll. Seit dem Verkauf des Trickfilm-Studios Pixar an Disney hält Jobs rund 7,5 Prozent an dem Konzern. dpa

Robert Iger Foto: Reuters

Iger, Robert A.: Einkommen Walt Disney Company: Verlust SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Abschied vom Edelkaufhaus

Mit dem Abschied von Patrice Wagner als Chef des KaDeWe könnte auch Karstadts Suche nach mehr Luxus ins Stocken geraten

Bei der Feier zum 100. Geburtstag des KaDeWe im Februar 2007 war Patrice Wagner in eine Konditorenjacke geschlüpft. Als Geschäftsführer des Berliner Edelkaufhauses hatte er zusammen mit Karstadt-Chef Peter Wolf die Torte angeschnitten und die ersten Stücke an die vielen tausend Gäste verteilt. Bis tief in die Nacht hatten die beiden Männer den runden Geburtstag des Traditionshauses gefeiert. Wagner und Wolf, so hatten Beobachter nicht nur an diesem Tag den Eindruck, verstehen sich.

Doch dann hatte Wolf im Sommer vergangenen Jahres seinen Schreibtisch räumen müssen, weil die Kosten unter seiner Regie aus dem Ruder gelaufen waren, wie Kritiker sagen. Sein Nachfolger Stefan Herzberg, ein ehemaliger Kaufhof-Topmanager, hat in manchen geschäftlichen Fragen eine andere Auffassung als Wolf. Und so geriet der stets auf Unabhängigkeit bedachte Wagner Gerüchten zufolge in den vergangenen Monaten häufiger mit Herzberg aneinander. Auch um finanzielle Dinge soll es Streit gegeben haben. Wagner, so heißt es, habe die Gehaltskürzungen von 20 Prozent nicht hinnehmen wollen. Diesen Abschlag hatte Thomas Middelhoff, der Chef des Karstadt-Mutterkonzerns Arcandor, seiner gesamten Führungsriege verordnet.

Jetzt also ist das Band durchschnitten. Wagner gibt die Führung des KaDeWe nach insgesamt sieben Jahren ab und verlässt das Unternehmen mit unbekanntem Ziel. Die Personalie hat Gewicht, denn der 42-jährige Franzose, der zuvor das Edelkaufhaus Galeries Lafayette an der Berliner Friedrichstraße geleitet und saniert hatte, ist nicht nur Chef des KaDeWe gewesen. Er war auch Geschäftsführer der sogenannten Premium-Gruppe, in der Karstadt seine Vorzeigehäuser gebündelt hat: Neben dem KaDeWe gehören dazu das Alsterhaus in Hamburg und das Oberpollinger in der Münchner Fußgängerzone. Ursprünglich sollte dieser Premium-Verbund in diesem Jahr um zwei weitere Kaufhäuser in Frankfurt und Dresden erweitert werden. Aber angesichts des Sparkurses, den Arcandor fahren muss, sind diese Pläne zurückgestellt worden.

Branchenbeobachter vermuten, dass mit Wagners Rückzug auch ein anderes Vorhaben ins Stocken geraten k nnte: die Suche nach einer verstärkten Zusammenarbeit mit Herstellern von Luxuswaren. Denn der Mann mit dem lichten Haar und der modischen Brille hielt gute Kontakte zu Edelmarken wie Louis Vuitton. Er schaffte es, Firmen an Karstadt zu binden, die bisher nicht mit dem Unternehmen zusammengearbeitet hatten.

Ein solches Netzwerk wird sich Wagners Nachfolgerin erst noch aufbauen müssen: Ursula Vierkötter, die bisher das Karstadt-Haus in Köln sehr erfolgreich führt, soll noch in diesem Monat zum KaDeWe wechseln. Die 43-Jährige hat eine steile Karriere bei Karstadt hinter sich: Vor ihrer Station in Köln hatte sie im Mülheimer Warenhaus erste größere Führungserfahrung gesammelt. Der Wechsel nach Berlin ist für sie ein gewaltiger Karrieresprung: Statt 400 Mitarbeiter wie in Köln wird sie künftig 2000 Beschäftigte dirigieren. Zudem wird sie auch die Führung der Premium-Gruppe übernehmen. Stefan Weber

Sieben Jahre stand Patrice Wagner an der Spitze des Berliner KaDeWe. Nun räumt er seinen Posten. Foto: dpa

Wagner, Patrice Karstadt Warenhaus GmbH: Management Kaufhaus des Westens : Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Amerikas Hoffnung

Was für einen Unterschied zwei Jahre doch ausmachen. Als Barack Obama im Februar 2007 offiziell seine Präsident-schaftskandidatur bekannt gab, schickte sich der Dow-Aktienindex an der Börse gerade an, in ungeahnte Höhen zu steigen. Amerikas Wirtschaft brummte, und allfällige Signale, dass faule Kredite eine Krise hervorrufen könnten, wurden geflissentlich übersehen. Es war der Überdruss am fernen Krieg im Irak, der Amerika beschäftigte - und Obamas Aufstieg ermöglichte.

Nun tritt er sein neues Amt unter diametral entgegengesetzten Vorzeichen an. Der Krieg ist der öffentlichen Aufmerksamkeit fast entrückt. Es besteht praktisch Einigkeit in allen Lagern, dass er so rasch wie möglich beendet werden muss. Es ist die Wirtschaftskrise, die alle Aufmerksamkeit absorbiert - und die Nation niederdrückt wie seit Jahrzehnten nicht mehr: Neun von zehn Amerikanern sehen die Wirtschaft des Landes am Rande des Abgrunds.

Obama hat auf doppelte Weise reagiert. Zum einen lässt er keine Gelegenheit aus, seine Landsleute auf bevorstehende harte Zeiten einzustimmen. Aber zugleich vermittelt er auf ansteckende Art und Weise Zuversicht, dass die Krise am Ende zu bewältigen ist. So hat schon einmal ein Präsident die Nation aus der kollektiven Niedergeschlagenheit geführt: der legendäre Franklin Delano Roosevelt. Und Obama knüpft ganz ungeniert an dessen Vermächtnis an. Tatsächlich sehen vier Fünftel aller Amerikaner den vier Jahren von Obamas kommender Amtszeit trotz der Krise mit Optimismus entgegen. Fast zwei Drittel glauben, dass er innerhalb dieser Frist die Krise in den Griff bekommen wird. Das ist nicht schlecht für den Anfang. rkl

Obama, Barack Regierung Obama 2009 Zweiter US-Irak-Krieg 1.5.2003 - Folgen der Finanzkrise in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neuer Partner bei Permira

Die internationale Beteiligungsgesellschaft Permira baut die Deutschland-Geschäftsführung aus. Christian Neuss, 40, wurde jetzt zum fünften Partner ernannt. Permira ist in Deutschland unter anderem mehrheitlich am Münchner Fernsehkonzern Pro Sieben Sat 1 und beim schwäbischen Modeunternehmen Hugo Boss beteiligt. Im vergangenen Jahr wurden hohe Ausschüttungen bei beiden Unternehmen vorgenommen, was auf erhebliche öffentliche Kritik stieß. Seit dem Ausscheiden von Thomas Krenz per Ende 2008 gab es bei Permira nur vier Partner. Als Sprecher der Geschäftsführung fungiert Jörg Röckenhäuser. Neuss ist seit Sommer 2002 bei Permira und war davor unter anderem für die Hypo-Vereinsbank und die ehemalige BHF Bank tätig. Er ist unter anderem für Finanzdienstleistungen zuständig. cbu

Permira Beteiligungsberatung GmbH: Management SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Auftritt vor dem Abtritt

Ein leiser Michel Piccoli spielt Thomas Bernhards "Minetti"

Eine alte Hotelhalle mit verblassten Tapeten, trüben Lampen und abgewetzten Sesseln in Oostende. In einer Ecke sitzt eine einsame alte Trinkerin im Abendkleid. Die Tür geht auf. Ein Hoteldiener schafft einen schweren, alten Koffer in die Halle. Wenig später erscheint auch dessen Eigentümer: Minetti, der sich den Schnee vom Mantel klopft, die Klingel auf dem Hoteltresen betätigt und zu dem Portier, der sich ihm erst jetzt zuwendet, nur sagt: "Minetti".

So, fast behutsam didaktisch, beginnt am Théâtre national de la Colline in der Regie von André Engel das gleichnamige Stück, das man als wütenden Text in Erinnerung hatte, eine Hommage an den Schauspieler Bernhard Minetti, in die Thomas Bernhard seine eigene Auflehnung gegen die Welt, die Literatur, das Theater und vor allem auch das Publikum gegossen hat. Hier wird daraus die introvertierte Altersmilde eines gebrochenen Mannes, der sich in monologische Erinnerungen flüchtet, sein Leben ausbreitet, immer wieder dessen Brüche und die Aversionen, die diese bei ihm auslösten, zur Sprache bringt. Das Besondere daran ist, dass der große alte Schauspieler Bernhard Minetti vom großen alten Schauspieler Piccoli gemimt wird.

Aus dem stockenden Selbstgespräch erfährt man, was diesen Minetti in der Silvesternacht in die Hotelhalle führt. Ein Jugendfreund, der Direktor des Theaters in Flensburg, habe sich hier mit ihm verabredet, weil er ihn gebeten habe, Shakespeares "Lear" zu spielen. Nur deshalb habe er, Minetti, Dinkelsbühl verlassen, wo er seit 30 Jahren fern des Theatergetriebes in selbstgewählter Einsamkeit lebe. Man habe ihn von der Bühne vertrieben, weil er sich "der klassischen Literatur verweigert" habe.

Der Zuschauer ahnt sofort, dass diese Erklärung nur eine Grille, eine verworrene Ausrede ist. Der "Lear" war angeblich seine große Rolle, das einzige Theaterstück, in dem er sein Talent wirklich entfalten konnte. Der Maler James Ensor habe das erkannt, weshalb er ihm vor Jahrzehnten die Maske für den Lear anfertigte, die er auch jetzt als seinen wertvollsten Besitz in dem Koffer mit sich führe. Und in der Rolle des "Lear" will Minetti noch einmal brillieren. Es ist also eben diese Versuchung eines letzten Auftritts vor dem Abtritt von der Bühne des Lebens, die ihn hierher gelockt hat.

Minetti wartet vergebens. Der Direktor erscheint nicht. Auch wenn Minetti sich wiederholt den Anschein gibt, auf dessen Kommen fest zu rechnen, weiß er darum, dass die Erwartung trügt. Das ist auch gut so, denn wenn er in seinem Monolog verschiedentlich Passagen aus dem "Lear" vorträgt, packt ihn die Angst vor dem Versagen: Der Piccoli, der den Minetti gibt, weiß, dass er der Rolle des "Lear" nicht gewachsen ist, es vielleicht auch nie war. In dieser Einsicht in das Unvermögen blitzt das nahe Ende des eigenen Lebens als Vorschein jäh auf.

Piccoli versagt sich jede lautstarke Auflehnung oder Empörung. Die Bernhardsche Verachtung dem Theater und dem Publikum gegenüber, die der wirkliche Minetti teilte, kommt ihm nur als Seniorengebrabbel über die Lippen. Er agiert als irgendwie verwirrter, aber harmloser, freundlicher alter Herr, der sich bei jedem Anflug von Heftigkeit sofort wieder diszipliniert und zurücknimmt.

Der Regisseur André Engel hat mit diesem Minetti den Monolog eines gescheiterten Lebens inszeniert. In seiner Interpretation, die Bernhards rabiate Intentionen einer von existentieller Sinnlosigkeit umwitterten Auflehnung in wohltemperierte Versöhnlichkeit überführt und damit die Erwartungen, die mit dem Stück verknüpft sind, konterkariert, riskiert der Regisseur eine Enttäuschung. Dass sich der Verdruss in Grenzen hält, ist vor allem der phänomenalen schauspielerischen Leistung Michel Piccolis zu danken, der der harmlos anmutenden Melancholie, die über der Inszenierung liegt, den Glanz seines Könnens mit freundlicher Zurückhaltung aufprägt. Leider kennt aber sein Vortrag des schwierigen Textes in der vorzüglichen Übersetzung von Claude Porcell keine Veränderungen in Lautstärke und Sprechtempo. Das lässt eine Monotonie aufkommen, die durch die häufigen Wiederholungen der Aussagen noch betont wird. Daran ändern auch die Komparsen nichts, die ab und an synkopierend quer über die Bühne lärmen.

Die Hommage von Thomas Bernhard an den Schauspieler Minetti wird in dieser Inszenierung zu einer an den Schauspieler Piccoli. Allerdings machte man es sich zu leicht, wollte man darin eine Schwäche erkennen, denn womöglich ist die Intention des Stücks allzu "teutsch" und verweigert sich einfach deshalb einer adäquaten französischen Umsetzung. Vom 12. bis 14. März wird die Pariser Inszenierung in Berlin gezeigt. Auf die dortigen Reaktionen darf man gespannt sein. JOHANNES WILLMS

Monotones Seniorengebrabbel in Paris: Michel Piccoli als Minetti Foto: Richard Schroeder/Getty Images

Piccoli, Michel Engel, Andre Minetti SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Boss-Vertriebsvorstand geht

Das Stühlerücken beim Modeunternehmen Hugo Boss geht auch in diesem Jahr weiter: Vertriebsvorstand André Maeder verlässt das Unternehmen Ende des Monats und wechselt zur Schweizer Charles Vögele Gruppe. Der gebürtige Schweizer war seit 2004 im Vorstand für den Vertrieb und das Lizenzgeschäft verantwortlich. Maeder habe den Aufsichtsrat gebeten, seinen laufenden Vertrag vorzeitig aufzulösen, teilte Hugo Boss mit. Seine Aufgaben übernimmt der Vorstandsvorsitzende Claus-Dietrich Lahrs. dpa

Das Stühlerücken beim Modeunternehmen Hugo Boss geht auch in diesem Jahr weiter: Vertriebsvorstand André Maeder verlässt das Unternehmen Ende des Monats und wechselt zur Schweizer Charles Vögele Gruppe. Der gebürtige Schweizer war seit 2004 im Vorstand für den Vertrieb und das Lizenzgeschäft verantwortlich. Maeder habe den Aufsichtsrat gebeten, seinen laufenden Vertrag vorzeitig aufzulösen, teilte Hugo Boss mit. Seine Aufgaben übernimmt der Vorstandsvorsitzende Claus-Dietrich Lahrs.

Hugo Boss AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Wunsch

Rettungsgelder auch für die Kultur?

Die Konjunkturprogramme der Bundesregierung sollen auch den Kultureinrichtungen zu Gute kommen. Diesen Wunsch hat der Deutsche Kulturrat zum bevorstehenden Wechsel in der Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz (KMK) geäußert. Mecklenburg-Vorpommerns Kulturminister Henry Tesch (CDU) übernimmt heute dieses Amt (siehe Seite 4). Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, ermahnte Tesch erwartungsgemäß, er solle "seine Gesamtverantwortung für Bildung und Kultur offensiv wahrnehmen". dpa/SZ

Kulturpolitik in Deutschland Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der Fluss des Lebens

New York feiert die Geschichte einer Rettung auf dem Wasser, die ebenso unglaublich wie wahr ist

Von Jörg Häntzschel

Einige der geretteten Passagiere warteten in Decken gehüllt in warmen Bussen; die Polizeitaucher trugen noch ihre Gummianzüge, als sie erzählten, wie sie zwei Frauen aus dem Wasser gezogen hatten; und auch die Angestellten der drei Fähren waren da. Schüchtern lächelnd erzählten sie, sie hätten doch nur ihren Job gemacht, als sie Dutzende von Menschen aus den Rettungsflößen auf ihre Boote brachten. Alles Augenzeugen. Und selbst das Flugzeug ist unzweifelhaft vorhanden; vertäut und größtenteils unter Wasser liegt es an der Uferpromenade in Battery Park City, an Manhattans Südzipfel, nachdem es den Hudson hinabgetrieben war wie eine leere Flasche. Und doch schien die Notlandung von Flug 1549 so unglaubwürdig wie ein Hollywood-Film. "Ich denke, wir hatten ein Wunder auf dem Hudson", sagte New Yorks Gouverneur David Paterson bei der Pressekonferenz im Fährterminal an der 39. Straße, und damit hatte er den Titel für eine große Geschichte gefunden, deren Happy End ausnahmsweise einmal real war. Und das katastrophengeprüfte New York labt sich seitdem an diesem Glück.

Der Held dieses Dramas heißt Chesley Sullenberger, er war der Pilot des Airbus A320 von US-Airways, der am Donnerstag um 15.26 Uhr von La Guardia Airport, dem kleinsten der drei New Yorker Flughäfen, Richtung Charlotte, North Carolina, abhob. Zwei Minuten nach dem Start hörten die Passagiere einen dumpfen Schlag und spürten eine Erschütterung. Aus dem Fenster sahen manche Flammen aus einem der Triebwerke schlagen. Es wird Wochen dauern, bis die offizielle Untersuchung abgeschlossen ist. Der Pilot hat erklärt, er sei in einen Schwarm Vögel geraten, Gänse angeblich; und sie legten nicht nur eine Turbine der Maschine lahm, sondern beide. Die beiden einzigen.

Das Flugzeug befand sich in diesem Moment in etwa 1000 Meter Höhe über der Bronx. Sullenberger sah einen kleinen Flughafen am Horizont und fragte den Tower, wo das sei, ob er dort landen könne. "Das ist Teterboro, New Jersey", kam die Antwort, und ja, er könne dort landen. Doch die Maschine verlor so schnell an Höhe, sackte in Sekunden auf 700, auf 500 Meter, dass Sullenberger sich etwas anderes einfallen lassen musste. Und statt nach rechts, Richtung New Jersey zu schwenken, ging er über dem Hudson in die Tiefe.

Mit der mächtigen George Washington Bridge, die er in 300 Metern Höhe überflog, hatte er in diesem Moment das letzte große Hindernis auf seinem Weg südwärts, entlang der Skyline von Manhattan, überwunden. "Das Flugzeug sank sehr langsam und sanft", meinte einer der vielen Augenzeugen. Doch auch wenn es gelingt, das Flugzeug kontrolliert und mit "nur" 200 Stundenkilometern auf dem Wasser aufzusetzen, wie in diesem Fall, gehört die Notwasserung zu den schwierigsten Herausforderungen für einen Piloten. Das Flugzeug muss so stark abgebremst werden wie möglich, um die Wucht des Aufpralls zu minimieren - doch wird es zu langsam, fehlt der Auftrieb und es fällt vom Himmel wie ein Stein. Ebenso wichtig ist es, die Nase des Flugzeugs oben und die Flügel waagerecht zu halten, um zu verhindern, dass die Maschine ins Wasser taucht oder zerbricht. Schließlich muss der Innenraum mit dem "Ditch Button" nach außen abgedichtet werden, sonst wird das Innere in Minuten geflutet.

Es war das Glück der Passagiere von Flug 1549, dass es Sullenberger war, der bei diesem äußerst raren und äußerst gefährlichen Manöver ihr Flugzeug steuerte. Der Air-Force-Veteran, Ausbilder und Unfall-Experte, den ein Kollege einen "wirklich guten Flieger" nennt, machte alles richtig. Ebenso viel Glück hatten die Passagiere, dass die Sicht gut war, und dass dem Airbus keines der vielen Schiffe - von Segelbooten bis hin zu Kreuzfahrtriesen - in die Quere kam, die ständig auf dem Hudson unterwegs sind.

Dann endlich der Aufprall, ein Schlenker um 90 Grad - und Stille. "Ich sah nur eine gigantische Fontäne", sagte Vincent Lombardi, der als Deckarbeiter auf einem der Fährboote arbeitet, die zwischen Manhattan und Weehawken in New Jersey pendeln. "Wir fuhren dann sofort los."

Im Flugzeug herrschte in den Minuten nach der Landung ein "organisiertes Chaos", wie es einer der Passagiere beschrieb. Einige, die sich gerade erst aus der Brace Position - Arme über dem Kopf, Kopf im Schoß - aufrichteten, hatten noch nicht realisiert, wo sie sich befanden. Doch sie merkten es schnell: Schon strömte Wasser durch geöffnete Notausgänge herein. Die ersten Passagiere sprangen in die Rettungsflöße, die sich beim Öffnen der T ren automatisch aufblasen. Andere standen bald dichtgedrängt auf den beiden Flügeln. "Ich sah 70 oder 80 Leute", meint ein Augenzeuge, der die Szene mit dem Fernglas verfolgte, "sie standen Schulter an Schulter, als warteten sie in einer überfüllten Station auf die U-Bahn".

Doch obwohl die Lage der Passagiere in Wahrheit durchaus gefährlich war - viele von ihnen standen bei Temperaturen von minus acht Grad bald bis zur Hüfte im eiskalten Wasser -, verließ nur wenige der Mut. "Manche schrien: Kommt!, Kommt! Die meisten waren aber schon etwas erleichtert", erzählt Vincent Lombardi, dessen Boot, die Thomas Jefferson, über eine Strickleiter 56 Menschen in Sicherheit brachte. Nur zwei Menschen waren bei der Evakuierung des Flugzeug ins Wasser gefallen und hätten in Minuten das Bewusstsein verloren, wären ihnen nicht rechtzeitig zwei Taucher der Polizei zu Hilfe gekommen, die aus einem Hubschrauber unmittelbar neben der sinkenden Maschine in den Fluss gesprungen waren.

Einige Passagiere wurden später wegen Unterkühlungen behandelt, eine Stewardess hatte sich am Bein verletzt. Doch mit den Handys der Schiffsangestellten und mit ein wenig Hilfe beim Wählen wegen ihrer von der Kälte steifen Finger, konnten alle die Geschichte von dem eigentlich unglaublichen Abenteuer auf dem eisigen Hudson ihren Angehörigen selbst erzählen.

"Ich sah nur eine gigantische Fontäne": Der Airbus von US-Airways setzte mit 200 Stundenkilometern auf dem Hudson River auf und blieb lange genug über Wasser, so dass alle 155 Passagiere und Besatzungsmitglieder gerettet werden konnten. Foto: AP

Airbus-Unglücke Flugzeugunglücke in den USA New York SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Notlandung auf dem Hudson

Es ist eine Sensation in der Luftfahrtgeschichte. Und so ist nach der geglückten Notlandung des Airbus auf dem Hudson auch immer wieder von einem "Wunder" die Rede. Tatsächlich können moderne Passagierjets für kurze Zeit schwimmen. Doch eine große Maschine fast unversehrt auf dem Wasser zu landen, ist bislang nur äußerst selten gelungen. Der Pilot Chesley Sullenberger wird nun als Held gefeiert.

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Eine flüssige Alternative

Hohe Gaspreise und Versorgungsprobleme machen viele LNG-Projekte plötzlich wirtschaftlich. Experten rechnen mit einem deutlichen Wachstum

Von Hans-Willy Bein

Essen - Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zeigt Europa heute schon einmal, welche Probleme den Gasverbrauchern in den nächsten Jahrzehnten bevorstehen. Der Bedarf an Erdgas wächst in den kommenden 20 Jahren sprunghaft von heute annähernd 500 Milliarden Kubikmeter um voraussichtlich 150 Milliarden Kubikmeter, und es droht eine Versorgungslücke von mehr als 30 Prozent. Dazu trägt auch die Beschränkung der Transportkapazitäten durch Pipelines bei.

Einen Ausweg aus der Misere sieht die Energiewirtschaft in LNG. LNG steht für "Liquefied Natural Gas", also verflüssigtes Erdgas. Bei der Kühlung auf minus 161 Grad wird Gas flüssig und schrumpft auf ein stark reduziertes Volumen, so dass ein Transport mit Spezialschiffen möglich ist.

Die Technologie, Gas in der Förderregion zu verflüssigen, ist seit annähernd 100 Jahren bekannt. Bis vor kurzem lohnten jedoch die Anfangsinvestitionen von mehreren Milliarden Euro nicht. Der hohe Gaspreis macht heute aber viele Projekte wirtschaftlich. Die LNG-Spezialtanker können Regionen ansteuern, die bisher nicht an Pipeline-Netze angeschlossen sind. Gleichzeitig können sie alle wichtigen Verbrauchermärkte erreichen und schneller an Orte eines aktuellen Bedarfs dirigiert werden. "LNG-Schiffe verbinden flexibel Angebot und Nachfrage und bringen Gas dorthin, wo es am dringendsten benötigt wird", sagt Stefan Judisch, Geschäftsführer der für den Gaseinkauf zuständigen Tochter RWE Supply & Trading des Essener Energiekonzerns. Inzwischen werden weltweit fast 180 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr verflüssigt transportiert und am Bestimmungsort regasifiziert. Experten schätzen, dass der Markt für LNG jährlich um annähernd sieben Prozent wächst und im Jahr 2020 etwa 15 Prozent des weltweit verbrauchten Erdgases als LNG unterwegs sein werden. Zum Vergleich: Für das Geschäft mit Pipelinegas wird ein Wachstum von allenfalls zwei Prozent im Jahr vorausgesagt. Verflüssigtes Erdgas deckt derzeit zehn Prozent des Aufkommens in der Europäischen Union. Bis zum Jahr 2020 wird eine Verdoppelung dieses Anteils erwartet.

Katar ist momentan mit annähernd 30 Millionen Tonnen pro Jahr der größte Produzent der Welt. In kurzer Zeit bis 2012 soll die Erzeugung mehr als verdoppelt werden. In Europa bauen Großbritannien, die Niederlande, Frankreich, Italien und Spanien Anlagen zur Anlandung der Spezialtanker. Deutschland importiert bisher noch kein LNG. Eon Ruhrgas und der RWE-Konzern sind inzwischen aber ins LNG-Geschäft eingestiegen. Ruhrgas hat sich am niederländischen Verladeterminal Gate beteiligt, der 2011 in Betrieb gehen soll, und dort eine jährliche Kapazität von drei Milliarden Kubikmeter Erdgas gebucht. Mit dieser Menge lassen sich über 1,5 Millionen Einfamilienhäuser ein Jahr lang versorgen. Ruhrgas-Vorstand Jochen Weise nennt den Einstieg einen "wichtigen Meilenstein für die Versorgungssicherheit". Ruhrgas will bis zum Jahr 2015 zehn Milliarden Kubikmeter Gas aus verschiedenen Quellen als LNG beziehen. Das entspreche etwa einem Sechstel des derzeitigen Gesamtabsatzes und sei keine "Alibiveranstaltung", sagt Eon Ruhrgas-Chef Bernhard Reutersberg. Der RWE-Konzern ist mit 50 Prozent bei der US-Gesellschaft Excelerate eingestiegen, die LNG-Schiffe mit spezieller Regasifizierungstechnik betreibt. Diese macht die bis zu einer Milliarde Euro teure Anlande- und Spezialanlagen an Land überflüssig. Jedes Schiff hat genug Gas an Bord, um etwa 40 000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang beheizen zu können. In Wilhelmshaven wird eine Anlandestation für diese Tanker gebaut.

Neben den optimistischen Wachstumserwartungen gibt es auch Branchenvertreter, die die Zukunft von LNG skeptisch sehen. "Europa tritt damit in den Wettbewerb zu den USA und Asien", sagt zum Beispiel Rainer Seele, der Chef des deutsch-russischen Gemeinschaftsunternehmens Wingas.

Ein knappes Gut

LNG ist bereits heute ein knappes Gut. Nach den bisherigen Schätzungen wird sich der Bedarf in den nächsten Jahren mehr als verdoppeln, schätzt Seele. Die Transporte gingen immer häufiger kurzfristig in die Märkte, "die den allerhöchsten Preis zahlen". Mittlerweile sei es sogar so, dass aufgrund der hohen Flexibilität die zusätzlichen LNG-Transporte zunehmend den europäischen Gaspreis mitbestimmten.

Ein riesiger Flüssiggas-Tanker bei der Beladung im Hafen von Doha: Die Technologie, Gas in den Förderregionen für den Transport zu verflüssigen, ist bereits 100 Jahre alt. Jetzt erscheint das Verfahren angesichts der Probleme bei der Gasversorgung wieder attraktiver. Foto: AP

Energieversorgung in Europa Erdgas Handelsschiffahrt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Maler des Volkes

Helgas heile Welt: Andrew Wyeth, Schilderer des amerikanischen Traums, ist tot

Als er, nach einem Vorschlag von John F. Kennedy, die "Medal of Freedom" erhielt, die höchste zivile Auszeichnung, die die USA zu vergeben haben, hieß es in der Laudatio: "Er hat in der großen humanistischen Tradition die Wahrheiten des Lebens erleuchtet und klargemacht." Das war 1963. Ein anderer US-Präsident, Richard Nixon, soll mal einen Toast auf ihn ausgesprochen haben: Er habe "das Herz Amerikas" gewonnen. Ein vergleichbarer Ritterschlag für einen der abstrakten Maler-Heroen jener Zeit ist nicht bekannt. Das hat seine Gründe. In den Bildern von Andrew Wyeth spiegelte sich Amerika so, wie das Land sich selbst gerne sah.

In Pennsylvania, im idyllischen Chadds Ford (140 Einwohner), wurde er 1917 geboren, und Chadds Ford verließ er so gut wie nie - es sei denn, die Familie fuhr zur Sommerfrische nach Maine, ins Dorf Cushing (130 Einwohner). Ländliche Stille war Wyeths Sujet, die Sommerhitze, wenn die Luft flirrt und die Welt stillsteht - oder aber ein schneeloser Winter, eine karge, bräunlich-erdige Anhöhe, über die ein Junge hastet, einsam, unbekannten Zielen entgegenhetzend.

Im Wald von Sherwood Forest

Auch in den Aufnahmen der großen dokumentarischen Fotografen Amerikas, Walker Evans oder Dorothea Lange, die das Land während der Depression bereisten, gibt es diese Stille - doch ist sie kühler, ausgezehrter, schroffer. Aus Wyeths Gemälden der amerikanischen Provinz dagegen ist jedes Anzeichen der Moderne - Strommasten, Autos, Werbeflächen - verbannt. Er ist für die weiten Ebenen Amerikas, für das verlorene Sehnsuchtsland der Pioniere und Puritaner das, was Edward Hopper für die vereinsamten Metropolen der USA war: ein Maler der Melancholie, seltener der unbeschwerten Heiterkeit, öfters schon der Düsternis, eines drohenden Unheils vielleicht.

Graue Dämmerung, verlassene Strände, aufziehender Sturm - nein, reine Idyllen waren Wyeths Bilder nie. Das diffuse Gefühl, bedroht zu werden, gehörte immer zum amerikanischen Selbstverständnis, auch und gerade in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. "America's absolutely it", hat er einmal gesagt. Keine Frage: Er war Patriot.

Schon der schwächliche Schüler, der zu Hause von Privatlehrern unterrichtet wurde, schuf sich eine malerische Traumwelt. Der Tod des Vaters, im Jahr 1945, der zusammen mit einem dreijährigen Neffen mit dem Auto auf einem Bahnübergang vom Zug erfasst wurde, prägte sein Schaffen. Die Landschaft habe, sagte er, mit dem Tod des Vaters "Bedeutung, sein Wesen" angenommen. Newell Convers Wyeth war ein bekannter Illustrator gewesen, hatte Bildwelten für die "Schatzinsel", für "Robin Hood", den "Letzten Mohikaner" oder "Robinson Crusoe" geschaffen. Der junge Andrew muss gleichwohl unter dem familiären Tyrannen gelitten haben. "Pa hat mich fast gefangengehalten", erzählte er, "er behielt mich bei sich, in meiner eigenen Welt. Ich war fast dazu geschaffen, in Sherwood Forest zu leben, mit Marianne und den Rebellen."

Dass Wyeth für die Vertreter der künstlerischen Moderne eine Nemesis war, ist auch klar. "Mein Ziel", sagte er, "ist es, dem Medium, mit dem ich arbeite, zu entfliehen und keine Reste einer technischen Manieriertheit zurückzulassen, die zwischen meinem Ausdruck und dem Betrachter steht". Er wurde zum populärsten Maler des Landes - und war den Abstrakten, die damals daran arbeiteten, just die Eigenschaften des Mediums Malerei, Farbe, Form und Rhythmus, zu betonen, ein Dorn im Auge. Die Menschen, die Wyeth male, schrieb ein wohlwollender Kritiker im Jahr 1963, trügen ihre Nasen wenigstens am üblichen Fleck.

Der Held des jungen Wyeth war Winslow Homer gewesen, ein Maler erhabener Landschaftspanoramen. In der Wahl seiner Bildausschnitte, der kühnen Verdrängung des Horizonts an den oberen Bildrand, im klaustrophobischem Zug vieler seiner Bilder, war Wyeth modern - doch geschult war sein Auge unzweifelhaft an der deutschen Malerei des späten 19. Jahrhunderts, auch an den Romantikern. Einsame Figuren, Statthalter der Betrachter vor dem Bild, blicken in eine unbestimmte Ferne.

Kein Bild hat dies so deutlich zum Ausdruck gebracht wie "Christina's World", vielleicht sein Hauptwerk, geschaffen 1948. Das verkrüppelte Mädchen, "wie eine Krabbe an der Küste New Englands sitzend", hatte ihn schon beim ersten Anblick fasziniert. Damals war sie nicht mehr jung, doch das Gemälde, das sie abgewandt zeigt, auf unerreichbar ferne Häuser auf einer Hügelspitze blickend, verrät ihr Alter nicht. Der Himmel ist leer, das Gras verdorrt. Das Bild wurde zur Rückprojektion in die Zeit der Großen Depression mit ihren verwaschenen Häusern und ebenso verwaschenen Träumen. Das Museum of Modern Art, welches das Bild erwarb, hat den Kaufpreis durch Reproduktionen inzwischen vielfach wieder reingeholt. In den Achtzigern erzielten Gemälde Wyeths dann schon mehr als eine Million Dollar.

1986 machte Wyeth noch einmal auf spektakuläre Weise von sich reden, mit 240 Bildern, auf denen ein einziges Sujet dargestellt ist, eine Frau namens Helga. Angeblich ohne Wissen seiner Gattin hatte Wyeth sie über zehn Jahre lang immer wieder porträtiert; als Betsy Wyeth gefragt wurde, worum es in diesen Bildern ginge, antwortete sie: "Liebe". Die Serie wurde für 45 Millionen Dollar an einen japanischen Sammler verkauft.

Am Freitag ist Wyeth in seinem Geburtsort Chadds Ford gestorben, im Schlaf, wie es heißt. Er wurde 91 Jahre alt. HOLGER LIEBS

Der Künstler Andrew Wyeth (1917-2009), fotografiert 1991 in Pennsylvania Foto: David Alan Harvey/Magnum/Ag. Focus

Unbekannten Zielen entgegenhetzend: Andrew Wyeths Bild "Winter" aus dem Jahre 1946. Foto: Andrew Wyeth/North Carolina Museum of Art

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Falscher Ratgeber

Jean-Marie Messier glaubt, die Wege aus der Krise zu kennen

Es mögen sieben oder acht französische Zeitungen und Zeitschriften gewesen sein, die ein Interview mit Jean-Marie Messier brachten, an einem Tag, am Donnerstag. Auch im Radio tauchte er auf, bei mindestens fünf Sendern. In jedem Interview überbot sich der grandios gescheiterte Ex-Chef von Vivendi Universal mit Tipps zur Bewältigung der Finanzkrise. Sein dringlichster Rat: Leerverkäufe verbieten, also Wetten auf fallende Kurse. Sehr originell. Am Ende dieses langen Donnerstags, man traute sich kaum mehr, den Fernseher einzuschalten, kam das Unvermeidliche: Messier, 52, erklärte nun den Zuschauern der Spätnachrichten von France 3 die Welt.

Warum ausgerechnet er? Nun, Messier hat ein Buch geschrieben, und in Frankreich ist das ein sicheres Rezept, um groß in den Medien herauszukommen. Egal, ob man etwas Kluges zu sagen hat oder nicht. Die Moderatorin von France 3 stellte immerhin vergleichsweise kritische Fragen. Etwa: Was denn sein größter Fehler gewesen sei? Nach kurzem Herumdrucksen antwortete Messier mit einem bemerkenswerten Satz: "Ich war vielleicht zu präsent in den Medien." Er zuckte dabei mit keiner Wimper. Fing da vielleicht der "betrogene Betrüger" von einst wieder an zu schummeln?

Jean-Marie Messiers Aufstieg und sein Fall begannen Mitte der 90er Jahre. Da wurde er Chef des knapp 150 Jahre alten ehrwürdigen französischen Wasserversorgers Compagnie Générale des Eaux. Man muss nur versuchen, den Namen auszusprechen, um zu erahnen, wie unsexy das Geschäft dahinter gewesen sein muss. Doch Messier hatte Glück.

Damals schwoll gerade die Internet-Blase an, und er entschied sich, kräftig mitzupusten. Angefeuert von Analysten, der Börse und, ja, auch der internationalen Presse wandelte er den Wasser-Langeweiler-Betrieb in einen Medienkonzern um. Wie im Rausch kaufte er hinzu, zum Beispiel Hollywood-Studios. Die Générale des Eaux hieß nun Vivendi Universal. Das klang schon besser. Nur hatte der Konzern 34 Milliarden Euro Schulden, und Messiers Geschäftsmodell, wonach alle Welt bald dank des Internets Filme über das Handy schauen würde, ging nicht auf. Alles war auf Pump finanziert und auf Sand gebaut.

Die Blase platzte schließlich. Nach Analogien zur gegenwärtigen Krise muss man nicht lange suchen, auch nicht, was den grassierenden Größenwahn betrifft: Messier bezog für 15 Millionen Dollar eine 500-Quadratmeter-Wohnung in der New Yorker Park Avenue, ließ sich sein Gehalt um 250 Prozent erhöhen und gefiel sich als "J6M": Jean-Marie Messier Moi-Même Maître du Monde. Bald musste der selbsternannte Weltenregent jedoch unschöne Verfahren wegen des Verdachts auf Kursmanipulationen über sich ergehen lassen und 20 Millionen Euro Abfindung zurückzahlen. Hernach verschwand er in der Versenkung.

Jetzt ist er wieder da, unübersehbar. Gibt er gerade keine Interviews, betreibt er eine Investmentfirma in Paris und New York und berät, kein Scherz, den französischen Staatspräsidenten. Auf eine rasche Bewältigung der Krise lässt das nicht eben hoffen. Michael Kläsgen

Jean-Marie Messier F.: AFP

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Nach dem Sonntagsfr hstück ein Spaziergang ins KZ

Claude Lanzmann erzählt in den "Berliner Lektionen" sehr spannend über seine frühen Jahre in Deutschland

Als Claude Lanzmann 1944 am Pariser Lycée Louis Le Grand deutsche Philosophen zu lesen begann, da hatte der 1925 geborene Regisseur von "Shoah" schon am Lycée Blaise Pascal in Clermont-Ferrand den Widerstand organisiert, hatte an diversen Partisanenkämpfen teilgenommen, und dabei, wie er am Sonntag im Berliner Renaissance-Theater sagte, auch "einige" von ihnen "getötet".

Einen Augenblick lang war es still im Zuschauerraum. Sofort war klar, dass man es nicht mit einem widerspenstigen Beispiel der Berliner "Lektionäre" zu tun hatte. Lanzmann zeigte sich nicht als vage Unrecht "Vergebender", auch nicht als klassischer Ankläger. Es ging ihm auch nicht um den Überblick, den der Titel seiner "Lektion" , also "Berlin 1948 bis 2008 - von der Blockade bis zur Wiedervereinigung" zu versprechen schien. Er folgte ganz offensichtlich vor allem seinen Erinnerungen, und die waren, wie die Wirklichkeit, gemischt.

Dazu beigetragen hat, dass der Jude Lanzmann sein Studium der deutschen Philosophie, bei Lanzmann war es vor allem Leibniz, 1947 im französisch besetzten Tübingen fortsetzte. Sein Mitschüler und Freund, der spätere Schriftsteller und Germanistensohn Michel Tournier, war ihm vorausgegangen und hatte Lanzmann überredet, ihm zu folgen. Die französische Besatzungsmacht offerierte unter anderem sechzig Mahlzeiten im Monat und Unterkunft bei einer einheimischen Familie.

Doch vor allem die Bekanntschaft mit Damen unterschiedlicher Herkunft zeigte Lanzmann früh die Relativität der Verhältnisse. So wurde er von einer französischen Sekretärin der Militärregierung, die ihm in seine Studentenbude in der Hegelstraße gefolgt war, brüsk zurück gewiesen. "Ich könnte nie mit einem Juden schlafen", sagte sie, und erzählte, so Lanzmann, eine herzzerreißende Geschichte, die kein Nazi besser hätte erfinden können: ihre Familie sei von Juden ruiniert worden.

Mehr Glück hatte Lanzmann mit deutschen Mädchen. Wendi von Neurath, eine Nichte von Konstantin von Neurath, Außenminister unter von Papen, lud ihn ein auf das Familiengut. Eine seltsame Welt habe sich ihm da eröffnet, meinte Lanzmann: Bauern, die noch vor den Gutsbesitzern knieten, und am Sonntagsfrühstück mindestens fünfzehn Wehrmachtsgeneräle zu Gast. Deutschland habe ihm keinen besiegten Eindruck mehr gemacht. Am Nachmittag führte ihn Wendi durchs Gut, von dem aus beide, makabererweise, ohne jede Grenze, ohne jedes äußere Zeichen, zu den Resten von Stuttgart-Vaihingen gelangt seien, dem ersten KZ, das er gesehen habe.

Lanzmann kam kaum bis in die Gegenwart, erzählte Geschichte um Geschichte aus der Nachkriegszeit, seine "Lektion" hörte sich an, wie eine Vorbereitung auf höchst spannende Memoiren. Nach dem Mauerfall, sagte er nur, habe ihn die leere Mitte Berlins, "dieses Loch der Erinnerung" am meisten beeindruckt. Damals habe er sich soviel Respekt vor Geschichte gewünscht, es frei zu lassen. Lanzmann war 1948 zum erstenmal nach Berlin gekommen, er hatte gehört, dass eine Stelle frei sei, habe sich beworben und sei genommen worden.

Eine Entscheidung, die so mancher in Berlin bereut haben mag, denn Lanzmann zeigte sich, in der damals noch von ehemaligen Nazis durchsetzten Freien Universität, auch hier von seiner widerständigen Seite, ließ sich von Bespitzelungen durch die Universitätsverwaltung nicht beeindrucken, und führte, auf Wunsch von Studenten, ein inoffizielles Seminar zum Antisemitismus durch. Er las mit ihnen Sartres "Überlegungen zur Judenfrage", was ihm der französische Besatzungsgeneral Ganeval verbot.

Lanzmann gab keine Ruhe und veröffentlichte seine Geschichten aus der FU auf zweimal zwei Seiten pikanterweise in der (Ost-)Berliner Zeitung. Diese hatte, zu allem Unglück, Gedichte des damaligen Rektors der FU, Edwin Redslob, entdeckt, die Emmy Sonnemann gewidmet waren, Görings Frau, und druckte sie mit ab. Natürlich war der Skandal perfekt. HANS-PETER KUNISCH

Lanzmann, Claude: Veröffentlichung Literaturszene in Berlin SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Muss Schmid ins Gefängnis?

Nach anderthalb Jahren Prozessdauer wird am Montag das Urteil im Strafverfahren gegen Mobilcom-Gründer Gerhard Schmid vor dem Landgericht Kiel erwartet. Der Staatsanwalt hatte für den 56-Jährigen zweieinhalb Jahre Haft wegen betrügerischen Bankrotts gefordert. Weil die Tat weit zurückliege, seien davon vier Monate als verbüßt anzusehen. Dagegen forderte die Verteidigung einen Freispruch. Es könne keine Rede von einem "Beiseiteschaffen" von Vermögen sein, so ihr Argument. ddp

Nach anderthalb Jahren Prozessdauer wird am Montag das Urteil im Strafverfahren gegen Mobilcom-Gründer Gerhard Schmid vor dem Landgericht Kiel erwartet. Der Staatsanwalt hatte für den 56-Jährigen zweieinhalb Jahre Haft wegen betrügerischen Bankrotts gefordert. Weil die Tat weit zurückliege, seien davon vier Monate als verbüßt anzusehen. Dagegen forderte die Verteidigung einen Freispruch. Es könne keine Rede von einem "Beiseiteschaffen" von Vermögen sein, so ihr Argument.

Schmid, Gerhard: Rechtliches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Das Streiflicht

(SZ) Am Anfang waren nur die Vögel im Luftraum. Also brauchten sie ihn sich mit niemandem zu teilen außer, eventuell, mit dem einen oder anderen Ufo. Dann trat der Mensch auf den Plan beziehungsweise den Planeten, gebückt zunächst, seine Vorderläufe ins Erdreich krallend. Er richtete sich auf und entdeckte - oh, wie schön, Darling, sieh doch, wie das flattert - über sich so ein Vöglein. Er versuchte, es diesem nachzutun, er streckte seine Arme und zog seine Beine hoch, aber außer, dass er dadurch ein paar Muckis kriegte, geschah nichts. Lange noch blieb der Mensch Bodenpersonal. Dann, 1889, erschien Otto Lilienthal auf der Bildfläche. Er war der erste, der sich die Tiere, denen er sich hinzugesellen wollte, zuvor intensiver anschaute. So entstand das Buch "Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst". Er las nun sein Buch noch ein paarmal, um sich ja auch alles einzuprägen, und konstruierte die ersten Flugapparate. Indes, mit dem Hinzugesellen hatte es ein schreckliches Ende: Am 9. August 1896 stürzte Lilienthal ab. Er fand, ohne dass er ihn gesucht hätte, den Tod. Ein wenig, ein wenig noch hatten die lieben Vögel Ruh'.

Jetzt, das wissen seit Freitag selbst die Fische im Hudson, herrscht Mordsverkehr im Luftraum. Der Mensch hat, erstens, Flugapparate sonder Zahl geschaffen und, zweitens, den Umweltschutz. Der ist zwar noch nicht sehr entwickelt, doch reicht er schon, dass wieder mehr Vögel herumflattern als früher, vor Jahrzehnten. In den USA hat sich die Zahl der Kanadagänse seit 1990 vervierfacht. Wo nun aber zwei Populationen rapide wachsen - Vögel und Flugzeuge -, muss es zu mehr Kollisionen zwischen beiden kommen; und siehe, auch die Zahl der Crashs hat sich vervierfacht. Schon ist die Rede von einem Kampf um den Platz da oben, von einem Wettbewerb um die Hoheit, schon sagt Herr Heinrich Weitz vom "Ausschuss zur Verhütung von Vogelschlägen im Luftverkehr", der Mensch müsse sich entscheiden: mehr Naturschutz oder mehr Flugsicherheit.

Herr Weitz, bitte beenden Sie den Kampf, ehe es zu spät ist! Die Fische im Hudson wissen, wer ihn gewinnen wird. Es ist anders als auf dem Boden, wo die Indianer verloren haben. In der Luft werden die Bewohner mit den älteren Rechten siegen. Weil sie die Fähigkeit zur Modernisierung besitzen. Eine Fünf-Kilo-Gans, die in eine Turbine brettert, hat die Zerstörungskraft einer 500-Kilo-Bombe. Herr Weitz, man muss kooperieren, Konzepte entwickeln, es gibt doch technische Möglichkeiten, oder? Was ist mit Flugrouten, die den Gänsen, schmerzfrei, versteht sich, per Laserstrahl vorgezeichnet werden? Mit himmlischen Infrarotleitplanken? Mit hübschen UV-Ampeln? Natürlich müssten sie an so einer Ampel Vorflug haben, die Vögel, denn wir, wir haben die Luft doch nur von ihnen geborgt! Schwerter zu Flugscharen, Herr Weitz!

Vögel Geschichte der Luftfahrt Sicherheit im Flugverkehr SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Zartheit und Gemetzel

Julia Fischers Prokowjew und Mariss Jansons' Strawinsky

Wie mit Metall in Metall meißelnd erzählt Dirigent Mariss Jansons von einer Opferung, wobei er in keinem Moment daran denkt, das blutige Ritual zu überhöhen, ihm einen Sinn jenseits des Gemetzels zu verleihen. Kein Frühlingsopfer, keine ekstatisch lustvollen Tänze hin zu einem wie teuer auch immer erkauften Neubeginn. Jansons versetzt sich vielmehr in die Psyche des Opfers, das die ganze Handlung als sinnlos grausamen Akt empfindet, dem es von einer anonym totalitären und hoch technisierten Macht unterworfen wird. So die Lesart des BR-Symphonieorchesters im Münchner Gasteig: Ein furchterregend und grell in sich tobender, nie über sich hinausweisender "Sacre du printemps", der vergessen lässt, dass Igor Strawinskys Hauptwerk auch ein ironisches Spiel sein könnte, das mit dem sadomasochistischen Behagen einer verfeinerten Hochkultur die wunderlich grausamen Reize unverstellt primitiver Kulturen beschwört.

Die feinen Naturbilder, in denen Strawinsky mit wunderlich lang gesponnenen, melismatisch sich entgrenzenden Linien luzide Geflechte webt, sind bei Jansons kalte Entwürfe feindlicher Welt. Es beeindruckt die Kraft, die klare Zeichnung, die sich fernhält von aller tänzerischen Abfederung. Dass der "Sacre" ein doppeldeutiges Ballett ist, macht Jansons direkte Lesart vergessen. Er will ein eindeutiges Bild böser Machenschaften.

Durchaus mutig ist es von Julia Fischer, diesem Moloch vor der Pause das erste Violinkonzert von Sergej Prokofjew entgegenzusetzen. Das Stück ist nicht zugkräftig, weil trotz immenser technischer Herausforderungen intim. Es fehlt, dankenswerterweise, ein traditionelles Kehraus-Finale. Selbst das kurze Scherzo in der Mitte ist nur vorbeihuschender Gespensterspuk, selten laut, nie sarkastisch und deutet Exzentrisches bloß an. Statt dessen dominieren auch hier Naturbilder, die in den ähnlich gebauten Schlusspassagen der mäßig schnellen Außensätze kulminieren: ruhige, reflektierende Tableaux, in denen sich Harfenarpeggi und Solistenvirtuosität zart verweben.

Julia Fischers konzentrierter Ton, ihr anstrengungslos genaues Spiel, ihre texttreu, fast brave Exegese gehen mit der Partitur gut zusammen. Dass die Geigerin viel weniger objektiv auf das Stück blickt als Jansons, wird in ihren Versuchen erkennbar, durch Leidenschaft die langen, fast etüdenhaft dahineilenden Laufpassagen aufzubrechen - brauchen die vielleicht einen selbstherrlicheren, eigenwilligeren Interpreten? Jedenfalls zeigt sich das Publikum nach dieser mühelosen Aufführung leicht reserviert, bricht erst nach Paganinis zwanzigstem Capriccio in großen Jubel aus.

Vielleicht hatte sich Alexander Tschaikowskys davor gegebene, erst vier Jahre alte 4. Symphonie allzu beruhigend aufs Publikum gelegt. Dieser Tschaikowsky denkt beim Komponieren nach eigener Aussage gern ans Publikum - jedenfalls sehr viel mehr als sein Namensvetter, mit dem er nicht verwandt ist. Vielleicht aber sollte er sich ein paar mehr Gedanken machen zu Fragen wie Kunstwollen, Stil, Form, Originalität, Schlüssigkeit und Kongruenz von Mitteln und Gedanke. Das hier kompositorisch bedachte Thema "Krieg" wird derart harmlos durchdekliniert, dass man allenfalls gewillt ist, an das antike Mini-Epos "Froschmäusekrieg" zu denken - auch wenn Alexander Tschaiwosky durchaus nicht zur Ironie begabt zu sein scheint. REINHARD J. BREMBECK

Jansons, Mariss Fischer, Julia Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BR) Konzerte im Gasteig SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Agrarminister lehnen Exporthilfen ab

Politiker wollen die Produktion in armen Ländern fördern und befürworten den Abbau von Handelsschranken

Von Daniela Kuhr

Berlin - Im Kampf gegen den Hunger haben Landwirtschaftsminister aus aller Welt am Wochenende den Abbau von Exportbeihilfen gefordert. "Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, neue Handelsbarrieren aufzubauen", sagte Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU), die zum ersten Berliner Agrarministergipfel am Rande der Grünen Woche geladen hatte. Das Treffen soll künftig jährlich stattfinden und sich als eine Art "Davos der Landwirtschaft" etablieren. Am Samstag diskutierten Agrarminister aus 26 Ländern, darunter China, Indonesien und Burkina Faso, über das Thema "Sicherung der globalen Welternährung - globale Herausforderung für Politik und Wirtschaft". Nach einer mehrstündigen Sitzung unterzeichneten die Konferenzteilnehmer eine Abschlusserklärung: "Der Marktzugang ist zu verbessern, alle Formen handelsverzerrender Exportfördermaßnahmen müssen abgeschafft und handelsverzerrende Subventionen vermindert werden, um einen fairen landwirtschaftlichen Handel zu gewährleisten", heißt es darin.

Nur zwei Tage zuvor hatte EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer-Boel angekündigt, dass die EU wegen der dramatischen Lage der Milchbauern die vor zwei Jahren abgeschafften Exportsubventionen für europäische Milchprodukte wieder einführen wolle. Dieses Vorhaben stieß nicht nur bei Menschenrechtlern und Hilfsorganisationen wie "Brot für die Welt" auf Kritik. Auch Laurent Sedego, Landwirtschaftsminister im afrikanischen Burkina Faso, reagierte mit scharfen Worten: "Das bringt unsere Landwirtschaft um, damit gehen wir in die Knie", sagte er nach dem Treffen. Seine Kritik richtete sich dabei aber vor allem gegen Exportsubventionen für Baumwolle und Fleisch. "Es sind Millionen und Abermillionen von Produzenten, die in die Armut geraten", sagte er.

Aigner verteidigte die Pläne der EU und betonte, es gehe ausschließlich um das Thema Milch. Außerdem seien die Subventionen lediglich ein Ausgleich dafür, dass Europas Milchbauern wegen der hohen Standards teurer produzieren müssten. Die Exporterstattungen würden nicht dazu führen, dass die europäischen Preise unter das Weltmarktniveau fallen, betonte sie.

Russland strebt in die WTO

Russland forderte einen schnellen Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). "Wir möchten, dass das noch im Jahr 2009 passiert", sagte der russische Agrarminister Alexej Gordejew. Er kritisierte mangelnden politischen Willen vor allem der westlichen Länder und bürokratische Hindernisse. Eine Einigung auf eine Aufnahme Russlands war bisher mehrfach gescheitert. Gordejew schlug eine gemeinsame Landwirtschaftspolitik der EU mit seinem Land vor. "Es wäre sinnvoll, die beiden Systeme zu harmonisieren", sagte er der Nachrichtenagentur dpa. "Wir haben ja gar keinen anderen Ausweg." EU-Kommissarin Fischer-Boel zeigte sich dagegen skeptisch. "Ich sehe nicht, dass wir nächsten Sommer eine gemeinsame Agrarpolitik haben", sagte sie. Es sei aber wichtig, den konstruktiven Dialog fortzusetzen.

Trotz der von ihr angekündigten Wiederbelebung der Exporterstattungen für bestimmte Milchprodukte ist Fischer-Boel optimistisch, dass die seit Jahren geführten Gespräche über eine weltweite Liberalisierung des Handels doch noch erfolgreich beendet werden können. Die Verhandlungen waren im November 2001 in Doha (Qatar) beschlossen worden. "Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, die Verhandlungen der Doha-Runde abzuschließen", sagte sie. Die WTO will den Handel vor allem zugunsten der Entwicklungsländer liberalisieren. Das letzte Ministertreffen im Juli 2008 hätte fast zum Erfolg geführt, war dann aber am Streit zwischen den USA sowie Indien und China über die Bevorzugung kleiner Landwirte ohne Ergebnis abgebrochen worden.

Die Teilnehmer des Agrarministergipfels wollen die Bauern in armen Ländern fördern. "Es ist dringend notwendig, die landwirtschaftliche Produktion in diesen Staaten zu erhöhen", erklärten sie zum Abschluss des Treffens. Dazu könnten Bauern zum Beispiel mit Kleinkrediten unterstützt werden. "Hunger konzentriert sich paradoxerweise in den ländlichen Räumen", sagte Aigner. Das führe zu Landflucht, wodurch wiederum weniger Menschen in der Nahrungsmittelproduktion arbeiteten. Gerade deshalb müsste der ländliche Raum gestärkt und die Agrarproduktion vor Ort erhöht werden, sagte sie. (Kommentare)

Gipfeltreffen in Berlin: Wie sich der Hunger stillen lässt

GRÜNE WOCHE

vom 16. bis 25. Januar 2009

Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner führt den russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin über die Grüne Woche. AP

Aigner, Ilse: Zitate Gordejew, Alexej: Zitate Fischer Boel, Mariann: Zitate Agrarpolitik in der EU Subventionen in der EU Grüne Woche Welternährung SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Münchner Geschichten: die HVB

Die Geschichte der drittgrößten Bank Deutschlands beginnt im Jahre 1998 mit der Fusion der beiden Traditionshäuser Bayerische Hypotheken- und Wechselbank und Bayerische Vereinsbank. Schon kurz darauf expandiert das neue Großinstitut, kauft sich über die österreichische Bank Austria große Marktanteile in Osteuropa dazu und schafft so ein internationales Netzwerk. 2003 wird die Immobilienfinanzierungstochter Hypo Real Estate (HRE) abgestoßen - heute ist die HRE ein Sanierungsfall. Im Jahr 2005 dann die nächste große Weichenstellung: Die HVB wird von der Mailänder Großbank Unicredit übernommen. Die HVB verliert zwar ihre Unabhängigkeit, wird dafür aber Teil einer paneuropäischen Bankengruppe. Für die Mitarbeiter wird das ganz besonders deutlich im April 2008. Die HVB passt ihren Marktauftritt dem der Unicredit an. Zwar bleibt der Name bestehen, dafür wird das bisherige blaue Logo durch einen schwarzen Schriftzug mit dem roten Unicredit-Logo ersetzt. Heute ist auch die HVB von der Finanzkrise betroffen: Allein im dritten Quartal machte das Münchner Institut Verluste in Höhe von 285 Millionen Euro. thf

HVB Group AG: Historisches SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Shakespeare-Slideshow

Stefan Pucher verlegt an den Münchner Kammerspielen die Justizkomödie "Maß für Maß" in die Fetischszene

Ein feines Netzmuster überzieht den Eisernen Vorhang in den Münchner Kammerspielen - es sieht aus wie gesplittertes Glas. Später schneiden geometrische Flächen von den Flanken in die Bühne hinein, spitze Glasscherben, die sich genauso wenig zu einem Ganzen fügen wie Stefan Puchers Inszenierung von Shakespeares "Maß für Maß".

Zweidimensional wie das Bühnenbild bleiben die Figuren, und das nicht nur, weil sie fast immer parallel zum Publikum aufgestellt sind. Jedes Bild wirkt wie geronnen, als seien die Darsteller in einer endgültigen Pose erstarrt. Der entscheidende Moment ihrer Geschichte soll festgehalten werden. Und man meint förmlich das Blitzlicht zu sehen, das ihr Bild in die Ewigkeit einbrennt.

Alle Inszenierungen von Stefan Pucher speisen sich aus der Trauer der Vollendung. Die Augen brennen, der Blick ist müde, denn man hat schon zu viel gesehen, um sich noch wundern zu können. Da ist nur noch das aschige Gefühl, das aufsteigt, wenn sich überall das wiederkehrende Muster zeigt. So kommen die Figuren auf die Bühne. Sie haben ihre Unschuld verloren, denn sie wissen, dass sie durchschaut worden sind. Schuldbewusst kehren sie zurück in ihr Drama wie an den Ort eines Verbrechens und schlüpfen in die Kreidemarkierungen am Tatort.

Noch einmal stellen sie ihr Leben nach, aber es ist nur zur Dokumentation. Die Leidenschaften, die sie trieben, können sie nicht wieder entflammen; das Wissen darum, wie ihre Sache ausgeht, hat alle Gefühle erstickt. Pucher nimmt sich Theaterstücke vor wie Prozessakten aus dem Archiv, und was wir sehen, sind kalte Wiederaufnahmeverfahren, die der Regisseur im Kopf durchspielt.

In der vergangenen Spielzeit, als Pucher hier an den Kammerspielen Shakespeares "Sturm" inszeniert hat, ging das wundersam auf. Die Aufführung war ein rauschhafter Fiebertrip und ein bunt getarnter Klagegesang auf die entzauberte Welt. Nun versucht er, mit demselben Team - Barbara Ehnes für die Bühne, Chris Kondek für die Videos - und derselben Pop-Ästhetik daran anzuknüpfen, und man weiß nicht: Ist er nicht weit genug gekommen, oder ist er vielleicht schon zu weit über das Stück hinaus? So oder so lässt einen das Geschehen kalt, als wären wir von ihm durch eine Glasscheibe getrennt.

Vor dieser unsichtbaren Wand, auf unserer Seite, befindet sich nur der Herzog Vincentio. Er kommentiert gewissermaßen einen animierten Diavortrag und knipst uns von Bild zu Bild. Was wir sehen, sind kompromittierende Schnappschüsse aus dem Bordell, Paparazzi-Aufnahmen, wie man sie nur macht, um jemanden damit zu erpressen. Shakespeares Vienna kann man hier getrost mit Gomorrha übersetzen. Vincentio, bei Thomas Schmauser ein ausgebranntes Houellebecqsches Nachtwesen, hat die Stadt verlassen, und im Video sieht man warum: Zu viele Sex-Partys. Lustsklavinnen und honorige Herren in Latex und Leder lassen in einem Fetisch-Club die Korken knallen. Vincentio braucht eine kreative Pause und setzt als Stellvertreter den Tugendterroristen Angelo ein, der mit per Gesetz gegen die allgemeine Zuchtlosigkeit vorgeht und jeden hinrichten lässt, der sich nicht beugt.

Zum Tode verurteilt wird auch Claudio, der seine Verlobte vor der Hochzeit geschwängert hat. Splitternackt wird er an einer langen Kette abgeführt. Die Kette ist an einem Hundehalsband befestigt, und jedes Mal, wenn der bucklige Kerkermeister daran zieht, erschauert Lasse Myhrs Claudio vor Lust. Neben ihm skandiert eine schwarze Domina die Worte "Liberté, Egalité, Fraternité, Justice"; es geht offenkundig nicht in den Kerker, sondern in den SM-Keller.

Dort ist Claudio in einem babyblauen Gummistrampler auf eine Arztliege geschnallt. Seine Schwester Isabella stellt die Folterbank senkrecht oder dreht sie wie ein Karussell im Kreis. Endlich kann sie den Bruder ein bisschen quälen, den sie zuvor lüstern betatschte. Denn Claudio ist das obskure Objekt ihrer Inzestbegierde. Und sie war selbst schon das Opfer auf ebendieser Liege. Angelo ließ sie per Fernsteuerung aus dem Boden hochfahren, als Isabella bei ihm um Gnade flehte für ihren Bruder.

Bummeln auf der Porno-Messe

Brigitte Hobmeier spielt sie, mit ondulierter Hochsteckfrisur und im strengem Kostüm zu Lackleder-Stilettos, als kühle, Porzellan-Teint und Bondage-Mieder gewordene Domina-Phantasie. Wenn sie ihre Hände vor ihren Schoß hält, weiß man nicht, ob es ist, um sich zu schützen oder um das Ziel einzukreisen, und wenn sie zittert und nach Atem ringt, bleibt offen, ob sie damit Empörung zum Ausdruck bringt oder Erregung. Das Leben ihres Bruders kann sie nur retten, indem sie Angelo sexuell zu Willen ist. Er verlangt, dass sie mit ihm schläft, dann will er Claudio verschonen.

Bei Christoph Luser ahnt man vom ersten Moment an, dass dieser falsche Moralapostel mit den Razzien im Rotlichtmilieu nur seine Bestrafungsphantasien auslebt. Ein bisschen erinnert die lange Haarsträhne, die ihm ins Gesicht fällt, an Blixa Bargeld, und mit seinen Schaftstiefeln zum Nadelstreifenanzug, dem engen Fledermaus-Capé und seinem perversen Dauergrinsen lässt Luser keinen Zweifel aufkommen, dass er in Isabelle die ideale Partnerin für seine sadomasochistischen Spiele gefunden hat. Das ist zwar auch bei Shakespeare nicht viel anders, doch im Stück zeigt sich erst nach und nach, dass das Verhalten in dieser ruchlosen Justizkomödie einzig und allein von den sexuellen Vorlieben bestimmt wird; bei Pucher ist das sofort klar, und seine Bilder sind so explizit, dass man bald das Interesse verliert.

Der Herzog zum Beispiel ist ein Spanner. Als Mönch verkleidet, schleicht er sich in die Stadt zurück, statt einer Kutte trägt er einen pailettenbesetzten Kapuzenpullover. Um Angelo zu überführen, fädelt er eine Intrige ein, und läuft als Moderator der großen Schluss-Sause, in der - Maß für Maß - jeder seiner gerechten Strafe zugeführt wird, zu Show-Form auf: "So, Freunde, jetzt wird die Luft dünn", sagt er in Jens Roselts freier Übersetzung, die vor allem frei ist von Kunst. Und gibt sich als Sadist zu erkennen, wenn er Angelo mit einer Hundepfeife ("Mach Platz!") zwingt, seine Marianna von hinten zu bespringen.

Wie dressiert wirken alle im unterforderten Ensemble, von denen die meisten nur Chargenrollen apportieren. Über das vordergründige Konzept kann das perfekte Artwork nicht hinwegtäuschen (die hinreißenden Kostüme sind von Annabella Witt). Der aufgemotzte Abend fördert nicht mehr Erkenntnisse über menschliche Abgründe zutage als jeder Bummel über eine Porno-Messe. Fasching steht ja vor der Tür, und da trägt man die Sexualmoral wieder etwas lockerer unterm Kostüm. CHRISTOPHER SCHMIDT

Er sagt: Quäl mich! Und sie schüttelt den Kopf. Brigitte Hobmeier als Isabella und Christoph Lusers Angelo sind Qualverwandte. Foto: Hilda Lobinger

Pucher, Stefan Kammerspiele München: Inszenierungen Maß für Maß SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neu auf DVD

Let's get lost

Klicks "Bübchen", Georg Tressler, Sophie Marceau im Widerstand

So sah sie aus, die vaterlose Gesellschaft der Sechziger - "Bübchen" , 1967, von Roland Klick . Sein erster Film, produziert von Rob Houwer, konzipiert auf der Bahnfahrt zurück von Rom, wo er Fellini assistiert hatte. Eine Zeitungsmeldung gab den Impuls - ein Junge, der sein Schwesterchen getötet hat. Im Film erlebt man das als ein ungerührtes Sterbenlassen, Plastiktüte überm Kopf. Mit einem Wägelchen fährt der Junge die Leiche zu einem Schrottplatz und versteckt sie im Kofferraum eines Autowracks.

Der Schock der unerhörten Begebenheit wird aufgesogen von der Tristesse der Stadt Hamburg. Die Totalen sind so gnadenlos genau, dass nirgends ein Freiraum bleibt. Die Häuser haben keine Seele, man wechselt ziellos von Zimmer zu Zimmer. Die Männer sind zu laut und die Mädchen reichen nicht an ihr Vorbild Anna Karina heran. An Stelle eines richtigen Vaters gibt es Sieghardt Rupp, der ganz groß ist in diesem Film. Sieht aus, als wär er niemals jung gewesen, müde und zerfurcht das Gesicht, undurchschaubar. Steht in der Diele, sinniert, streicht mit der Hand über den Nacken - und steigt dann eine Treppe hoch, dass es einen gruselt wie bei Anthony Perkins in "Psycho". Der Film sucht nicht nach Motiven und Erklärungen. Rupp ahnt schnell, was passiert ist, hilft dann, die Leiche endgültig verschwinden zu lassen. Bleibt auf der Seite des Jungen. Einmal geht er mit ihm in die Kneipe ums Eck, stellt ganz selbstverständlich auch ein Bier vor ihn hin. Hast du mal einen Clown gesehen, fragt er, als sie wieder nach Hause gehen. Oder einen Seiltänzer? Einen Pinguin? Einen Seelöwen? Er macht das alles lustig nach, und die Straße ist so schwarz, dass sie die zwei fast verschluckt. Mit einem Schraubenzieher bastelt er mal an seiner Trompete rum, er ist ganz gelöst in seiner Konzentration, erinnert an Chet Baker.

Ein Sittenbild vom Anfang der Sechziger: " Geständnis einer Sechzehnjährigen ", 1960. Mit diesem Film endet Georg Tresslers kurze Zeit im deutschen Kino, wo er drei gewaltige Filme schuf, "Die Halbstarken", "Endstation Liebe", "Das Totenschiff". Das "Geständnis" ist inszeniert wie ein Abgesang auf die Widersetzlichkeit der Fünfziger, nun dominiert die Kolportage, der Illustriertenroman. Kinder versuchen die Ehe der Eltern zu retten, sie meinen wirklich, sie wüssten, was sie tun, und das endet mit Mord. Darauf wurde Tressler von Disney geholt, um einen Beethoven-Film zu drehen mit Karlheinz Böhm. Aber Hollywood war ihm zu kalt. "Hollywood ist eine furchtbare Bretterbude, eine Schrebergartenkolonie. Mir ist dort klar geworden, dass ich Europäer bin", sagte Tressler, der 2007 starb, in einem Interview, das in der Filmzeitschrift 24 gedruckt ist.

Kinder im Grenzland, in " Zeit der trunkenen Pferde ". Bahman Ghobadis unvergesslicher Film vom Überleben an der Grenzezwischen Iran und dem Irak. Schnee und Kälte schaffen hier eine Klarheit und ein Licht, in dem keine überflüssige Sentimentalität möglich ist. Die Natur ist hart, aber nicht grausam, grausam sind die gesellschaftlichen Verhältnisse - das Land ist mit Tretminen durchsetzt, die Mutter ist tot, der Vater fort. Ein Leben führen die Kinder, das allein für die Sorge um den täglichen Bedarf an Nahrung, Holz, Wärme, Gefühle drauf geht - ohne Gedanken zum Zustand und zur Zukunft der Welt und ihrer Gerechtigkeit, ohne Utopie. Ein auf den Kopf gestelltes Neverland, das aber voller magischer Momente ist. Die wahre Utopie ist immer nur das Leben heute, der einzelne Tag.

Frauen im Widerstand, im besetzten Frankreich, " Female Agents ", von Jean-Paul Salomé , der gern französische Mythen filmt, von Arsène Lupin bis Belphegor. Als die Nazis einen englischen Geologen schnappen, der sich am Strand der Normandie rumtreibt, werden fünf französische Mädchen aus London losgeschickt, um den Mann zu befreien und das Geheimnis der Invasion zu bewahren. Sie agieren glamourös, aber dilettantisch, es gibt Mord und Totschlag und Folter. Die einzige Professionelle ist Sophie Marceau, eine Scharfschützin. Ein Thriller, der sich danach sehnt, Melodram zu werden, im Terror den amour fou aufleben zu lassen. Moritz Bleibtreu macht bonne figure als SS-Mann.

In memoriam Patrick McGoohan, der vor einigen Tagen starb - sein " Prisoner " ist auf DVD zu haben. Die Episode "Free for All" passt gut zum Super-Wahlzirkus hierzulande und zum Inaugurationsspektakel um Obama. Nummer 6 macht Wahlkampf, kandidiert für den Posten von Nummer 2, very surreal, indeed. Richtig heimelig dagegen dann Ende der Woche Oliver Stones " W. ", im Fernsehen, Pro 7, und auf DVD. FRITZ GÖTTLER

Bübchen, Filmgalerie 451. Geständnis einer Sechzehnjährigen, Kinowelt. Zeit der trunkenen Pferde, Kool/Good movies! Female Agents, Koch Media. The Prisoner/Nummer 6, Koch Media.

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DGB unmäßig

Berlin - DGB-Chef Michael Sommer hat Appellen, die Gewerkschaften mögen sich wegen der Wirtschaftskrise bei ihren Lohnforderungen zurückhalten, eine Absage erteilt. "Geht es nach den Arbeitgebern und ihrem neoliberalen Chor, gäbe es am besten gar keine Lohnerhöhungen", sagte Sommer der Zeitschrift Super Illu. "Wenn es aufwärts geht, sollen wir bescheiden bleiben, weil angeblich sonst der Abschwung droht. Ist der Abschwung da, soll Lohnzurückhaltung die angeblich sonst drohende Katastrophe verhindern", bemängelte der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Die Arbeitnehmer hätten Anspruch auf einen gerechten Anteil am Erwirtschafteten. Sommer appellierte an die Arbeitgeber, nicht zu versuchen, die Krise mit Personalabbau zu bewältigen. "Wer jetzt entlässt, programmiert den Fachkräftemangel der Zukunft", sagte er. (Kommentare) Reuters

Sommer, Michael: Zitate Tarifverhandlungen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Flaute in Europa

Berlin - Die europäische Konjunktur hat nach den Worten von EU-Industriekommissar Günter Verheugen im letzten Quartal katastrophal abgeschnitten. "Die Zahlen, die die Kommission präsentieren wird, werden leider zeigen, dass wir noch tiefer in die Rezession gerutscht sind", sagte Verheugen in einem am Samstag vorab veröffentlichten Interview des Deutschlandfunks. "Das letzte Quartal 2008 war in jeder Hinsicht katastrophal." Es war nicht eindeutig, ob sich Verheugen auf die EU insgesamt oder auf die Euro-Zone bezog. An diesem Montag wird Währungskommissar Joaquin Almunia in Brüssel die Konjunkturprognose der Euro-Zone präsentieren. Verheugen beharrte darauf, "dass unsere langfristige Agenda unverändert bleibt". Die europäische Wirtschaft müsse in puncto Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität und Innovationsfähigkeit fit gemacht werden. Reuters

Wirtschaftslage in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Theodor-Weimer-Show

Ein Mann und seine Rede: Wie der neue Chef der Hypo-Vereinsbank seine Mitarbeiter auf den großen Kulturwandel im Haus einschwört

Von Thomas Fromm

Die Atmosphäre wie vor einem Popkonzert. Erst stehen alle draußen, dann schlendern sie nach und nach in den Saal. Es läuft Musik vom Band. "You get what you give" von den New Radicals, als Endlosschleife. Gefälliger US-Gitarrenpop aus den Neunzigern. Dann endlich kommt er, der neue Radikale. Hüpft aufs Podium, winkt leger in die Menge, und sagt: "Ich bin echt überwältigt, was hier heute los ist."

Eine kurze Pause, ein Blick durch die gläserne Atrium-Halle des Hypo-Vereinsbank-Hochhauses am Münchner Arabellapark. Die Letzten, die gekommen sind, drängeln sich jetzt auf den Treppen. Es gibt mehr Menschen als Stühle. Für die Steher hat er eine Botschaft: "Ich würde Sie gleich eh von den Sesseln reißen." Das sitzt. 2000 HVBler staunen. Entweder hat dieser Theodor Weimer ein gesundes Selbstbewusstsein. Oder er hat Sinn für Humor und eine gepflegte Selbstironie. Oder beides.

"Jammern ist Sozialkit"

"Townhall-Meetings" nennt die HVB die Begegnungen ihres neuen Chefs mit seinen Mitarbeitern. Eine Art Roadshow in höchster Mission. München, Nürnberg, Hamburg, Berlin, Frankfurt. Es ist mehr als ein Stadthallen-Treffen, es ist die Theodor-Weimer-Show. Ein Mann und seine Rede. Fast eine Stunde spricht er. Er allein hat die Rede geschrieben, wie es heißt, ohne Hilfe der Pressestelle, erst recht ohne PR-Berater. Eine Antrittsrede mitten in der Finanzkrise, da kann man sich sicher sein, dass die Leute zuhören. Eine Rede, die in diesen Zeiten besonders nachdenklich sein könnte. Selbstkritisch, reflektierend, die eigene Zunft auseinandernehmend. Es werden Banken verstaatlicht, der Großkonkurrent Deutsche Bank schockiert mit fast fünf Milliarden Euro Quartalsverlust, die Finanzbranche steht am Abgrund, die Stimmung war noch nie so mies. Auch bei der HVB nicht, wo Tausende Stellen abgebaut werden und die Übernahme durch die italienische Großbank Unicredit noch immer am Selbstbewusstsein vieler Mitarbeiter nagt.

Und was tut Weimer? Weimer heizt seinen Mitarbeitern ein. "Jammern ist Sozialkit", sagt er. Deswegen mag er die Jammerer nicht. Und die Anbiederer, die seitenlange E-Mails schreiben und dabei für jede Lappalie ihren Chef in Kopie setzen. Kurz bitte, effizient und vor allem: schnell. Zack, zack. "Ich werde Sie noch alle dazu bringen, so mit mir umzugehen", sagt der Neue. Es klingt wieder selbstironisch. Aber er meint es ernst.

Was Weimer will: Er will die Leute, die morgens im Fahrstuhl grüßen. Die Anpacker und die konstruktiven Kritiker, die Visionäre und die Kreativen. Er will Mitarbeiter, die sich im Restaurant erheben, wenn wieder mal einer über die blöden Banker herzieht. Selbstbewusstsein statt Larmoyanz. Also schleudert er seinen Mitarbeitern Motivation entgegen. Er sagt: "Wir werden es doch verdammt noch mal schaffen, diese Finanzkrise hinter uns zu bringen." Oder: "Wir werden durch ein Minenfeld gehen, aber wir werden den Sturm überleben." Und: "Ich stehe für eine Macherkultur." Das nimmt ihm jeder ab im Saal.

Und dann kommt sie wieder, diese Parabel, die Weimer jedes Mal erzählt. Beim Stehempfang, beim Mittagessen, beim Journalistengespräch, und natürlich auch heute. Es ist die Geschichte von der Gazelle und dem Löwen, die im Morgengrauen anfangen zu laufen. Der eine, weil er Hunger hat, die andere, weil sie überleben will. Und die Moral von der Geschichte: Wenn die Sonne aufgeht, müssen wir alle rennen. Es nützt nichts. Vor vielen Jahren, als Weimer promovieren wollte, schickte er einen Brief an einen Professor in Tübingen. "Sie müssen mich mal kennenlernen, ich bin ein guter Typ." Irgendwie ist das an diesem Abend auch das Motto im Arabellapark. "Lernen Sie mich kennen."

HVB, Arabellapark. Hier arbeiten vor allem die Investmentbanker des Instituts. Für Weimer, den früheren Goldman-Sachs-Mann, also eine Art Heimspiel. Dabei ist der 48-Jährige hier der Neue. Erst 2007 kam er in den Vorstand der Unicredit-Investmentbanking-Sparte. Sein Bereich war das Kundengeschäft, das innerhalb der Sparte als weniger riskant als das Kapitalmarktgeschäft gilt. Der damalige Unicredit-Investmentbanker Sergio Ermotti soll Weimer für die Bank entdeckt, Konzernchef Alessandro Profumo ihn dann an die Spitze in München gesetzt haben. Weimers Vita ist geradlinig. Auch wenn einige meinen, sie führe nicht unbedingt direkt an die Spitze einer Bank wie der HVB. McKinsey, Bain, Goldman Sachs. Investmentbanking pur. Ein ähnlicher Werdegang wie bei Profumo. Weimer berät Top-Manager bei Finanzdienstleistern. Banken, Versicherungen, auch Sparkassenpräsident Heinrich Haasis soll seine Dienste in Anspruch genommen haben. Dass Weimer mit Profumo mehr gemein hat als mit seinem Vorgänger Wolfgang Sprißler, der sich Ende vergangenen Jahres in den Ruhestand verabschiedet hat, ist bei der HVB ein offenes Geheimnis. Als Weimer kam, waren nicht wenige HVBler verdutzt. Ein Ex-Investmentbanker mit guten Drähten nach Mailand an der Spitze - ausgerechnet in diesen Zeiten? Muss das denn sein? Weimer weiß, dass es Skeptiker gibt. Und er geht sie frontal an. "Die Italiener verstehen uns nicht, und das Investmentbanking hat Todesviren" - alles eine "alte Leier". "Die HVB sind wir", sagt er. "Entweder wir gewinnen das zusammen oder nicht." Weimer steht morgens auf, um Löwe zu sein, nicht Gazelle.

"Frauen sind stabiler"

Die alte HVB, es gibt sie ohnehin nicht mehr. Tempi passati. Weimer weiß das. Aber wissen es auch all die anderen? HVB-Mitarbeiter sprechen nach der Veranstaltung mit ihrem neuen Chef von einem "großen Kulturwandel", der gerade stattfinde. Vielleicht ist Weimers Vorgänger Sprißler deswegen gar nicht erst gekommen. Nur HVB-Urgestein Albrecht Schmidt ist da, sitzt nicht weit von der Bühne weg. Ein bisschen Traditionspflege muss eben doch sein in diesen Zeiten.

Weimer weiß, er kann seine Mannschaft nur gewinnen, wenn er auch die Frauen gewinnt. Also widmet er ihnen einen ganzen Passus seiner Rede. Er will sie fördern, besonders die mit Kindern. Weil die wissen, wo es langgeht. Und keine Zeit haben "herumzuschwatzen". "Frauen sind stabiler, haben eine höhere Frustrationsschwelle." An dieser Stelle macht er eine künstlerische Pause. Wartet. Schaut in den Saal. Und bittet schließlich um Applaus. Zuerst klatschen die Mütter. Dann die anderen Frauen. Dann sogar die Männer.

Zum Schluss fordert er seine Mitarbeiter auf, ans Mikrofon zu gehen und Fragen zu stellen. Doch so weit sind sie noch nicht. Noch nicht. "Macht nichts, wir wollen hieraus keine krampfhafte Veranstaltung machen", sagt Weimer. Am Ende stehen viele Mitarbeiter auf und klatschen. Weimer, der Neue, hat sie. Jetzt kann die eigentliche Arbeit losgehen.

Der Neue bei der HVB heißt Theodor Weimer und sagt: "Wir werden durch ein Minenfeld gehen." Foto: imago

Weimer, Theodor HVB Group AG: Strategie HVB Group AG: Vorstand SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lichtinghagen widerspricht

München - Kurz vor Beginn des Prozesses gegen den früheren Postchef Klaus Zumwinkel hat die abgetretene Bochumer Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen Berichte über Absprachen zum Strafmaß zurückgewiesen. "Eine solche Prozessabsprache hat es nie gegeben, dies wäre auch mit diesem Gericht in Bochum nicht zu machen gewesen", sagte die ehemalige Anklägerin dem Magazin Focus. Zumwinkel soll laut Anklage von 2001 bis 2006 mehr als 1,2 Millionen Euro Steuern hinterzogen haben. Er muss mindestens mit einer zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafe und einer Geldbuße in Millionenhöhe rechnen. Den von Lichtinghagen nun dementierten Spekulationen zufolge will die Anklage nicht mehr als zwei Jahre Haft auf Bewährung fordern, wenn Zumwinkel ein Geständnis ablegt. Für den Prozess sind zwei Verhandlungstage angesetzt. Am 26. Januar soll das Urteil gesprochen werden. AP

Lichtinghagen, Margrit: Zitate Zumwinkel, Klaus: Steueraffäre SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Außenansicht

Es war einmal ein guter Mann

Bush ist Geschichte, und die Welt will nach vorne schauen: Ob die Historiker ihn eines Tages rehabilitieren werden?

Von John Hulsman

Für Außenministerin Condoleezza Rice hatte ich nie besonders viel übrig. Anders als viele andere neokonservative Ideologen, die um das Weiße Haus herumschwirren, ließen die Äußerungen von Rice, bevor sie Teil der Bush-Regierung wurde, den Schluss zu: Sie wusste viel zu gut Bescheid, um das neokonservative Programm einfach so zu schlucken - sie wusste es besser und tat nichts. Vor kurzem, bei ihrer Tour durch die Sonntagmorgen-Talkshows, verteidigte sie den Präsidenten: "Ich denke, dass die kommenden Generationen schon recht bald diesem Präsidenten danken werden für das, was er getan hat." Ich hatte erwartet, dass sie so etwas sagen würde.

Aber lassen wir die Außenministerin nicht vom Haken. Was werden künftige Generationen über diese folgenschwere Präsidentschaft denken? Außenministerin Rice nannte eine Reihe von Errungenschaften dieser Regierung, was aber vor allem ihrer eigenen Verteidigung diente: dass George W. Bush das Fundament für einen künftigen palästinensischen Staat gelegt habe; dass die weltweite amerikanische Hilfe zur Bekämpfung von Aids dramatisch zugenommen habe, vor allem in Afrika; dass durch die Politik Bushs auf der ganzen Welt Menschen befreit worden seien. Reichen diese Erfolge aus, um künftige Historiker zu bewegen, die Regierung dieses Präsidenten neu zu bewerten?

Die Regierung spielt gerade ihr letztes Spiel und Bush verliert dabei nicht die Hoffnung, als ein Harry Truman in Erinnerung zu bleiben - als jener Mann, der im Jahr 1953 mit ähnlich schlechten Beliebtheitswerten aus dem Amt schied, seitdem aber stets als ein großer Präsident verteidigt wird, der durch den Marshall-Plan und die Gründung der Nato den Weg für den Sieg im Kalten Krieg bereitet hat. Auch der Vater des jetzigen Präsidenten ist ein solches Beispiel: Zu seiner Amtszeit galt George Herbert Walker Bush als jemand, der die Realitäten der amerikanischen Wirtschaft nicht zu sehen schien - nun wird er als ein Mann betrachtet, der den Kalten Krieg geschickt beendet und den ersten Golfkrieg viel besser gesteuert hat als sein Sohn den zweiten. Die Geschichte ist voll mit solchen Beispielen amerikanischer Präsidenten, die verachtet wurden, als sie aus dem Amt schieden, von der Geschichte aber rehabilitiert wurden.

Lassen Sie uns die Leistungen anschauen, von denen Außenministerin Rice sagt, dass sie eines Tages wohl das heutige Urteil revidieren werden. Die Erfolge bei der Aids-Bekämpfung sind beeindruckend, bis man feststellt, dass sie zu einem guten Teil darauf beruhen, dass Enthaltsamkeit als Mittel zur Bekämpfung der Krankheit angepriesen wurde und die Politik hier die Flucht vor der Natur des Menschen angetreten hat. Was den kommenden palästinensischen Staat betrifft: Das kann man nicht ernst nehmen angesichts des tödlichen Kampfes, den sich Hamas und Israel gerade liefern. Und in Sachen Befreiung des Irak: Dieser "Erfolg" hat nicht dazu geführt, dass spielend ein demokratisches, wohlhabendes und tolerantes Land geschaffen worden wäre, dessen Beispiel die Freiheit in der muslimischen Welt verbreitet hätte (und bedenken Sie: Genau das hatten uns der Präsident und seine Lakaien versprochen). Stattdessen hat der Zusammenbruch des Irak nach dem Krieg dazu geführt, dass heute der Iran die führende Macht am Persischen Golf und Amerikas Ruf überall in der Welt schwer beschädigt ist. Und wenn noch so viel Zeit vergeht: Es dürfte höchst unwahrscheinlich sein, dass diese Urteile noch einmal revidiert werden.

Davon abgesehen hat Außenministerin Rice auch die Sollseite des Kontos weggelassen. Die sieht ungefähr so aus: Präsident Bush und die um ihn herum (vor allem der langjährige stellvertretende Verteidigungsminister Wolfowitz) haben versprochen, dass der Irakkrieg Amerika mittelfristig nichts kosten würde. Nun steht der Zähler auf der astronomischen Höhe von einer Billion US-Dollar - und steigt weiter. Uns wurde erzählt, dass wir im Irak Massenvernichtungswaffen finden würden und dass dies der Hauptgrund für den Einmarsch sein würde. Nichts wurde gefunden und Tausende Amerikaner und Zehntausende Iraker starben durch den Krieg sowie die Gewalt, die darauf folgte. Während des Hurrikans Katrina gratulierte der Präsident munter dem überforderten Chef seines Katastrophen-Hilfsprogramms zur tollen Arbeit, die er leiste, obwohl die USA wie eine Dritte-Welt-Nation auf die Katastrophe in New Orleans reagierten.

Die Regierung lockerte die Regeln, nach denen Folter definiert wird, sie nutzte Guantanamo, um die Gesetze zu umgehen, sie setzte unerlaubte Abhörmethoden ein und gestand dem Präsidenten unendliche Macht zu. Sie beschmutzte den Leuchtturm, als der die Vereinigten Staaten zu ihren besten Zeiten überall in der Welt gegolten hatten. Der Präsident hinterlässt die Wirtschaft als hoffnungslosen Fall. Der Aktienmarkt hat 2008 ein Drittel seines Werts verloren (das schlimmste Jahr seit 1931). Einer von zehn Amerikanern kommt mit den Raten, mit denen er sein Haus abzahlt, nicht mehr nach. Und das Jahr beginnt mit einem unvorstellbaren Defizit von 1,2 Billionen US-Dollar.

Ich habe noch einen anderen Beurteilungsmaßstab für Präsident Bush, und zwar den meiner ein Jahr alten Tochter Matilda. Wie werde ich ihr das alles erklären? In einigen Jahren werde ich ganz einfach sagen, dass Amerika, als Bush an die Macht kam, auf der Welt keine Gegner irgendwelcher Art hatte, dass es florierte und dass es trotz all seiner vielen Fehler - um es in den Worten Lincolns zu sagen - die letzte und beste Hoffnung der Menschheit darstellte. Nach den Bush-Jahren aber war Amerika in einer multipolaren Welt, in der aufsteigende Mächte wie China die Oberhand gewannen, in der sich das Land am Rande einer Depression befand und Amerika als heuchlerisch dastand. Das ist die monumentale Aufgabe, vor der Barack Obama steht. Alle, denen etwas an Amerika liegt, müssen ihm Gottes Hilfe wünschen.

Um Bushs eigenen historischen Beurteilungsmaßstab anzuwenden: Ich glaube, die unwiderlegbare Wahrheit ist, dass man sich an ihn wie an den Präsidenten Ulysses S. Grant erinnern wird, der von 1869 bis 1877 amtierte: ein guter Mann, dessen Zeit im Weißen Haus aber durch kolossale Inkompetenz geprägt war und dessen gediegener Ruf vollständig zerstört wurde; das war damals die allgemeine Meinung. Und manchmal stimmen Historiker dem Urteil der Zeitgenossen zu. Die Verdammung durch die Geschichte wird das Schicksal des George W. Bush sein.

John Hulsman gehört dem Council on Foreign Relations in Washington an. Er ist Inhaber einer Politikberatung, die sich auf Internationale Beziehungen spezialisiert. Übersetzung: F. Brüning. Foto: oh

Bush, George W. Hulsman, John Dr: Gastbeiträge Außenpolitik der USA: Grundsätzliches Regierung Bush: Grundsätzliches Image und Selbstverständnis der Amerikaner SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lichtungen im Wald des Klangs

Das Münchner Rosamunde-Quartett initiiert eine neue Konzertreihe

Sogar ein Krater auf dem Planeten Merkur ist nach ihm benannt. Der 1722 in Tiflis geborene König des Gesangs, auf armenisch "Sayat Nova", ist ein Fixpunkt der beiden Eröffnungsveranstaltungen einer neuen musikalischen Reihe, in der Filmkunst und absolute, reine Musik zu einem neuen Verständnis beider Gattungen führen soll oder doch zu einem neuen Erleben altbekannter Kommunikations- und Kunstformen. Dazu wird jedes Konzert ergänzt durch einen Filmabend, im ersten Fall mit dem Film "Sayat Nova - die Farbe des Granatapfels", einer Art fiktiver Dokumentation über den armenischen Dichterkönig.

Das M nchner Rosamunde-Quartett hat sich für diese Aufgabe quasi mental neu formiert, hat in der vom Krieg verschonten historischen Aula der Kunstakademie eine eigene Konzertreihe aus dem Boden gestampft, wie sie andere Quartette in ihren Heimatstädten längst besitzen, hat sich in Sachen Marketing fachkundig beraten lassen und schaffte es, die Kulturstiftung des Bundes, das Bayerische Kultusministerium, die Stadt München, die Bayerische Akademie der Bildenden Künste, den Klassik-Sender Bayern-4, das Plattenlabel ECM sowie die Marketingfirma Metrum als Sponsoren für dieses Projekt auf seine Seite zu ziehen. Allein dies ist ein beachtlicher Erfolg für ein bis dato zwar bekanntes, aber nicht unbedingt weltberühmtes Streichquartett. Sollte es in den Kulturinstitutionen plötzlich Verständnis und Begeisterung für Kammermusik vom Himmel geregnet haben? Anja Lechner, derzeit federführende Cellistin des Rosamunde-Quartetts und aufgrund ihrer umfassenden musikalischen Aktivitäten in München selbst schon eine kleine Institution, möchte zumindest teilweise daran glauben. Denn dass in jedem der geplanten Konzerte mindestens ein Quartett von Haydn aufgeführt werde, falle eher zufällig mit dem Jubiläumsjahr zusammen.

Die übrigen Komponisten, zum Teil dem Quartett sehr vertraute wie der armenische Komponist Tigran Mansurian oder Boris Yoffe, stehen für einen ganz bestimmten Typus der gemäßigten Moderne, der nach wie vor ein relativ breites Publikum anspricht. Vor allem natürlich, weil allzu schroffe Dissonanzorgien vermieden werden und weil relativ einfach strukturierte, oft auch zeitlich überschaubare Gestaltungsmodelle vorherrschen. Bei Mansurian sind das in letzter Zeit vor allem kaum zehntaktige Kompositionseinheiten, den japanischen Haikus vergleichbar, in denen der Spieler einerseits enorme Freiheit der musikalischen Ausformulierung genießt, andererseits den Noten strengstens unterworfen ist. "So wie ich Mansurian erlebe", sagt Anja Lechner, "schreibt er langsam und sehr sorgfältig. Er nimmt sich die Zeit, zwei bis drei Jahre an einem Stück zu arbeiten. Ich denke, dass jemand, der sich die Töne so abringt, der Gattung des Streichquartetts enormen Respekt entgegenbringt. Mansurian selbst ist da sehr vorsichtig. Wenn er in Bildern spricht, dann oft in ganz einfachen Bildern. Das mag damit zusammenhängen, dass er nicht in seiner eigenen Sprache mit uns sprechen kann. Ich glaube, er überlässt es dem Spieler oder dem Hörer, welche Assoziationen sich einstellen. Aber er würde es selber nicht deuten."

Die ruhige, meditative Gestik der Mansurianschen Quartettkompositionen drängt auch nicht unbedingt nach Deutung und Verbalisierung. Es sind eher inspirierte Zustände, kleine Lichtungen inmitten unseres alltäglichen Klangdschungels, die zur Besinnung einladen und, wenn es hilft, auch zur Besinnlichkeit. Das Ambiente der historischen Aula der Kunstakademie dürfte ein übriges tun, um sich leichten Herzens in diese Musik zu versenken. HELMUT MAURÓ

"Aus dem Quartettbuch I": Freitag, 23. Januar, 19 Uhr in der Historischen Aula der Akademie der Bildenden Künste. "Sayat Nova - die Farbe des Granatapfels": Sonntag, 25. Januar, 11 Uhr im City Kino.

Bayerische Akademie der Schönen Künste Klassische Konzerte in München SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wir entschuldigen uns!

Aus der Vogelschau wirkt das Land freier: Zwei Jahre nach der Ermordung des Journalisten Hrant Dink gibt es in der Türkei Debatten, die damals undenkbar waren

Es gebe Tage, heißt es in der Istanbuler Zeitung Radikal über den heutigen Montag, "da schnürt es einem den Atem ab und das Herz beginnt zu brennen." Heute, am 19. Januar, ist es genau zwei Jahre her, dass Hrant Dink erschossen wurde. Hrant Dink, der Istanbuler Journalist armenischer Abstammung. War er Türke, war er Armenier? "Er war", schreibt sein Freund Cengiz Candar, "der Einzige seiner Art". Einer ohne Scheu, ohne Tabus. Ein Vermittler. Seine Mörder - eine Bande von Ultranationalisten - hatten ihn wohl ausgesucht, gerade weil er einzigartig war: ein Grenzgänger, der alte Gewissheiten ins Schwanken brachte.

Man darf annehmen, dass auch Hrant Dink staunen würde über das, was seither passiert ist. Allerhand ist mittlerweile am Schwanken. Bloß, in welche Richtung er am Ende stürzt, der Turm der alten Gewissheiten, und wo die Brocken überall einschlagen, das ist noch nicht ausgemacht. "Das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern rührt an die Fundamente der Türkei", sagt die Autorin Ece Temelkuran, "jeder, der daran rührt, setzt sich der Gefahr aus." Temelkuran, die die Türken ein "Volk ohne Erinnerung" nennt, hat sich selbst aufgemacht, die Armenier kennenzulernen und darüber ein Buch geschrieben. Ein Buch, zu dem Hrant Dink sie ermuntert hatte. Und dass dieses Buch zum Bestseller wurde, darf man auch als Zeichen nehmen.

Es gab natürlich - dies ist die Türkei -, in den letzten zwei Jahren genug Stoff, sensiblere Naturen einmal mehr in Fassungslosigkeit und Verzweiflung zu treiben: Die Polizisten, die den Mörder nach seiner Festnahme feierten. Die Enthüllungen, wonach hohe Beamte lange vor dem Attentat über die Anschlagspläne Bescheid wussten. Der quälend schleppende Fortgang des Prozesses gegen den Mörder und seine Hintermänner. Die Morddrohungen und rassistischen Emails, die bei Hrant Dinks Zeitung Agos bis heute eingehen. Jene Sendung im Staatssender TRT, bei der ein rechtsradikaler Politiker - selbst verdächtig der Organisation eines Massakers an Alewiten in Maras vor 30 Jahren - Hrant Dink als Drahtzieher ebendieses Massakers "entlarven" durfte.

Es gab aber auch Dinge, von denen vor zwei Jahren noch keiner zu träumen gewagt hätte. Etwa die überraschende Reise von Staatspräsident Abdullah Gül nach Armenien. Vor allem aber jene Kampagne, ins Leben gerufen von vier Freunden Hrant Dinks, unterschrieben von mittlerweile fast 30 000 Türken, die den Titel trägt "Özür diliyoruz" - Wir entschuldigen uns. Türken, die sich öffentlich entschuldigen bei den Armeniern für die Massaker von 1915, für "Ungerechtigkeit" und "Schmerz", das hat es nie zuvor gegeben. "Was ich mein Leben lang zu sehen wünschte", schrieb Dink-Freund Cengiz Candar, "das habe ich nun gesehen."

Natürlich gab es empörte pensionierte Diplomaten, die die Unterzeichner "Verräter" schimpften; und der Staatsanwalt in Ankara lässt ermitteln gegen die Initiatoren wegen "Verunglimpfung der türkischen Nation". So etwas sind vorhersehbare Reflexe. Für Aufsehen sorgte die Oppositionsabgeordnete Canan Aritman, die Staatspräsident Gül dafür an den Pranger stellte, dass er sich zu armenierfreundlich geäußert habe. Sie griff zur schlimmsten Beschimpfung: Gül, behauptete sie, habe eine armenische Mutter. Als Gül daraufhin für seinen "muslimisch-türkischen" Stammbaum garantierte, forderte sie einen DNA-Test. Das ging dann sogar ihrem Parteichef Deniz Baykal zu weit. "Unverschämt" nannte er seine Parteifreundin. Und wenn man auch die Hände ringen kann über ein Land, in dem nicht immer klar ist, ob die Unverschämtheit nun darin besteht, die rassistischen Instinkte zu bedienen oder aber darin, einen Türken Armenier zu heißen, so darf man doch hoffen. Es passiert etwas in der Türkei. Aus der Vogelschau, schrieb die Zeitung Milliyet anlässlich der Armenier-Debatte, sehe das Land heute freier aus denn je: "Selbst die heikelsten Themen können heute diskutiert werden."

Hrant Dink schrieb einst, er fühle sich wie eine Taube, die ihren Kopf ständig nervös in alle Richtungen wende. Aber, endete sein Artikel: "Ich weiß, dass die Menschen in diesem Lande Tauben nichts zuleide tun." Am Wochenende ließen Bürger in der Stadt Eskisehir Tauben in die Luft steigen. Hrant Dink zum Gedenken. KAI STRITTMATTER

"Wir sind alle Hrant Dink, wir sind alle Armenier": Demonstranten 2007 AFP

Dink, Hrant Völkermord an Armeniern Anschläge auf Journalisten Massenmedien in der Türkei SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Mehr Ertrag, weniger Fläche

In zwanzig Jahren werden doppelt so viel Nahrungsmittel benötigt. Landwirtschaft und Ernährungsindustrie sind gefordert

Von Silvia Liebrich

Berlin - Die Ernährung der Weltbevölkerung ist nach Einschätzung der Lebensmittelindustrie die größte Herausforderung für die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten. Branchenvertreter machten am Wochenende beim 1. Internationalen Forum Agrar- und Ernährungswirtschaft in Berlin deutlich, dass nur dann ausreichend Nahrung zur Verfügung gestellt werden kann, wenn alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Zudem müssten Handelsbarrieren abgebaut werden und stabile politische Verhältnisse herrschen. "Das zeigen die Beispiele diktatorisch regierter Länder wie Nordkorea und Zimbabwe, die die größten Versorgungsprobleme haben", sagte Norbert Steiner, Vorstand des Düngemittelherstellers K+S. Das Hungerproblem könne nur gelöst werden, wenn der politische Wille vorhanden sei.

Um genügend Nahrungsmittel zu erzeugen, muss nach Ansicht von Branchenvertretern die landwirtschaftliche Produktivität in den nächsten Jahren deutlich gesteigert werden. "Wir brauchen eine zweite grüne Revolution", sagte BASF-Vorstandsmitglied Stefan Marcinowski in Anspielung auf den Produktionsschub im Agrarsektor Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch Fortschritte in Pflanzenzüchtung und Anbau. Damals stand die Welt schon einmal am Rande einer Ernährungskrise. Derzeit ist knapp eine Milliarde Menschen von Hunger bedroht - nach Angaben der Vereinten Nationen 75 Millionen mehr als vor einem Jahr. Pro Jahr wächst die Weltbevölkerung um etwa 80 Millionen. Schätzungen zufolge werden 2050 etwa neun Milliarden Menschen auf der Erde leben.

Eines der größten Probleme ist laut Marcinowski der Rückgang der verfügbaren Ackerfläche. Grund dafür sind unter anderem klimatische Veränderungen und die Ausbreitung von Siedlungen. "Ackerland können wir nicht beliebig vermehren", warnte er. Für die Ernährung eines Menschen stehe heute nur noch halb so viel Fläche zur Verfügung wie vor 50 Jahren. Um den wachsenden Nahrungsmittelbedarf zu decken, muss sich nach Berechnungen von BASF der Ernteertrag auf den bestehenden Flächen in den nächsten 20 Jahren verdoppeln. Dies könne nur mit Hilfe von Gentechnik, Düngemitteln, Pestiziden sowie moderner Landmaschinentechnik und besserem Wassermanagement geschehen, ergänzte Marcinowski. Er kritisierte in diesem Zusammenhang die starke Ablehnung der Gentechnik in der EU, von der auch BASF betroffen ist. Das Unternehmen ist einer der großen Hersteller von gentechnisch verändertem Saatgut, Düngemitteln und Pestiziden.

In der deutschen Ernährungsindustrie sieht man sich grundsätzlich für die Anforderungen der Zukunft gerüstet. "Wir exportieren für fast 50 Milliarden Euro in alle Welt, aber wir erreichen nicht diejenigen, die Hunger haben", sagte Jürgen Abraham, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Er forderte die Politik auf, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. "Man muss den Menschen keine Fische schicken, sondern Angeln." Abraham sprach sich zugleich für einen Abbau von Handelsbarrieren aus. Nur so könnten sich die Chancen der Bauern in den Entwicklungsländern verbessern.

Nach Einschätzung von Eckart Guth, Botschafter der EU-Kommission, sind es vor allem die Überschüsse in der Europäischen Union, die den Aufbau einer funktionierenden Landwirtschaft in den armen Ländern verhindern. Durch Billigimporte aus der EU sei das Preisniveau für viele Agrarrohstoffe so niedrig, dass der Anreiz für eine eigene Produktion fehle. Guth forderte deshalb, wie andere Industrievertreter, eine rasche Wiederbelebung der Welthandelsrunde Doha.

Eine sudanesische Bäuerin reinigt gedroschene Hirse. Foto: dpa

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Das Tekeli der Phantasie

Glühend im Eis und frisch wie je: Edgar Allan Poes Meisterwerk "Arthur Gordon Pym" in neuer Übersetzung

Es gibt wohl keinen anderen Roman, der sowohl penible Philologen als auch Liebhaber reißerischer Abenteuergeschichten in ähnlichem Maß zu elektrisieren vermag: Diese schätzen an ihm die spannende Handlung und all ihre grausigen Details, jene bewundern die Dreistigkeit, mit welcher der Autor zeitgenössische Berichte und Erzählungen ausschlachtete, und erschauern, wenn sie bedenken, wie vielen Werke der Weltliteratur dieser Wahnwitz von einem Roman als Vorbild diente.

Die Rede ist von Edgar Allan Poes "Arthur Gordon Pym", Poes einzigem und gar nicht besonders umfangreichen Roman. Die vielleicht 260 Seiten aber haben es in sich: mit einem kleinen Schiffbruch geht es los, es folgen eine schaurige Zeit, die der Erzähler, eingeschlossen im Schiffsbauch, als im wahrsten Sinne blinder Passagier erlebt und erleidet, eine Meuterei samt anschließendem Gemetzel, alsbald ein zweiter Schiffbruch, Hunger und Durs, schließlich ein kannibalisches Mahl. Endlich folgt die Rettung der Schiffbrüchigen, ihre Fahrt in arktische Gewässer, die Begegnung mit Indianern auf einer seltsam un-weißen Insel, ein Hinterhalt, noch ein Gemetzel, die Flucht Pyms und seines Intimfreundes Peters, schließlich und plötzlich dann das schnelle, verstörende Ende.

Zuviel auf einmal? Einige zeitgenössische Kritiker winkten ab: das sei doch alles eher unwahrscheinlich. Sie meinten allerdings auch, einen authentischen Bericht in den Händen zu halten und ärgerten sich nun angesichts der anscheinend phantastischen Elemente, die er enthielt. Bei seinem Verfasser, so folgerten sie, müsse es sich um einen Lügner handeln, der den Leser auf den Arm nehmen wolle. Denn "Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket" spielt überdies mit einer Herausgeberfiktion.

Das Ungefügte der Welt

Als Herausgeber fungiert eben jener Poe, der bereits die ersten zwanzig Seiten des Romans im Southern Literary Messenger veröffentlicht hatte, einem in Richmond erscheinenden Magazin, das, bis jener schandmäulige Poe dort das Regiment übernahm, durchaus ehrenwert, wenn auch ohne nennenswerte Leserschaft war. Beides änderte sich für kurze Zeit. Dann musste Poe, angeblich wegen Alkoholproblemen, seine Stelle wieder aufgeben. Im Großen und Ganzen aber gefiel der Roman durchaus, und er verkaufte sich auch einigermaßen, besser immerhin als sein großer Nachfolger, Herman Melvilles "Moby Dick". Vielleicht aber ist es gerade Moby Dicks mächtiger Schatten, in dem Poes "Pym" nach wie vor und gerade in Deutschland ein viel zu wenig beachtetes Dasein fristet. Dabei lassen sich die Bücher, obwohl beide See- und Abenteuerromane, nicht wirklich miteinander vergleichen. Wenn der eine einen geradezu walischen Welterklärungsversuch unternimmt, von der Selbsterfindung des Individuums und der Amerikas erzählt und so ausschweifend wie euphorisch vom Kampf zwischen Natur und Kultur handelt, so zeigt der andere eher die Unmöglichkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, präsentiert das Ungefügte der Welt wie die irrigen Wege der Phantasie.

Tatsächlich hat Poe fast alle Ideen und fast ein Drittel des Romans wörtlich aus jenen zeitgenössischen Berichten und Quellen übernommen, die inzwischen von ganzen Forschergenerationen aufgespürt wurden. Am Ende von "Arthur Gordon Pym" aber steht ein bis dato unerhörtes, apokalyptisches Bild: da treiben Pym und Peters in einem alles umhüllenden weißen Nebel auf einen Katarakt zu, um sie herum kreischen die Vögel das unbegreifliche "Tekeli-li", als vor ihnen aus den Wassern eine riesige weiße Gestalt ersteigt. Mit ihr stößt jede Wahrscheinlichkeit, stößt in der Tat jegliches Verstehen an seine Grenzen. Und genau hier bricht das Buch brutal ab. Nur eines ist danach noch sicher: Großartiger kann man nicht vom Scheitern handeln.

Fragmentarisch-rätselhaft und zuweilen geradezu absurd erscheint Poes Roman, und so hat er eine Vielzahl von Deutern angezogen. Die neue, kommentierte Übersetzung von Hans Schmid legt davon Zeugnis ab. Endlich ist auch auf Deutsch, das Gewebe nachvollziehbar geworden, aus dem "Pym" entstanden ist und das der Roman so fleißig fortgesponnen hat. Spannend sind die literarischen Auseinandersetzungen, die in den nächsten 100 Jahren folgen sollten, angefangen von "Moby Dick" über Vernes lustige "Eissphinx" bis zu H.P. Lovecrafts großartigen "Bergen des Wahnsinns".

Aber auch die im Marebuch Verlag erschienene neue Übersetzung hat ihr Verdienst. Nehmen wir die Szene, in der Poe jenes kannibalische Mahl auf so verstörende Weise beschreibt und zugleich nicht beschreibt: "Solche Dinge mag man sich im Geiste ausmalen, aber Worte haben nicht die Kraft, einen Eindruck von den äußersten Schrecken der Wirklichkeit zu vermitteln. Es genügt wohl, wenn ich sage, dass wir, nachdem wir den brennenden Durst, der uns quälte, mit dem Blut des Opfers einigermaßen gelöscht und Hände, Füße und Kopf, die abzuschneiden wir übereingekommen waren, zusammen mit den Eingeweiden ins Meer geworfen hatten, den Rest des Körpers Stück für Stück verzehrten und zwar im Laufe von vier Tagen - es waren der Siebzehnte, Achtzehnte, Neunzehnte und Zwanzigste des Monats -, die ich auf ewig nicht vergessen werde." Schmid übersetzt hier schnörkellos, aber mit der nötigen Emphase. Indem er etwa die vier Daten ausschreibt, verleiht er ihnen zusätzliches Gewicht. Das niederdrückende Ereignis, vor dem selbst der Erzähler am liebsten die Augen verschließen möchte (und es doch nicht kann), wird hier anschaulich. Leider verliert der Absatz dadurch an Eindringlichkeit, dass das Satzende nachgestellt wurde.

Das Blut des Opfers

Arno Schmidt dagegen, in der soeben bei Suhrkamp wiederveröffentlichten Gesamtübersetzung der Poe'schen Werke, findet eine (schmidt'sche) Lösung für die durchaus knifflige Stelle: "Sei es genug, zu sagen, daß, nachdem wir den rasenden Durst, der uns verzehrte, einigermaßen mit dem Blut des Opfers gestillt hatten; auch dahin übereingekommen waren, Hände, Füße und Kopf abzutrennen, und sie, zusammen mit den Eingeweiden, dem Meer zu übergeben; wir den Rest des Leibes verschlangen; stückweis'; während der 4 unvergeßlich=folgenden Tage des 17.; 18.; 19.; und 20. dieses Monats."

Dies ist allerdings nur eine andere, keine bessere Übersetzung. So kantig-kraftmeierisch wie der Dichter von ";Zettel's Traum" übersetzt, kommt die Prosa Poes nicht daher. Ganz so fest und verbindlich wie Hans Schmids Version aber geht es im Original auch nicht zu. Besser als alle anderen Übersetzungen sind diese beiden allemal. Der lange Zeit bei Diogenes erhältliche Versuch Gisela Etzels etwa verzichtet schändlicherweise sogar ganz auf den Kannibalen-Absatz. Geschweige denn dass es ihr gelänge, wie Schmid und Schmidt auf ihre je eigenen Weisen, den poe'schen Furor dieses von Verzweiflung und Verwirrung durchspülten Textes einzufangen. Dass nicht nur der grüblerische Interpret, sondern auch der schlichte Genießer seine Freude und seinen Schrecken an diesem Roman hat, liegt nämlich eben daran, dass Poes Prosa glüht, als habe der Dichter im arktischen Eis tatsächlich das Unermessliche erblickt. TOBIAS LEHMKUHL

EDGAR ALLAN POE: Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket. Aus dem Englischen von Hans Schmid. Herausgegeben von Hans Schmid und Michael Farin. Marebuch Verlag, Hamburg 2008. 526 Seiten, 39,90 Euro.

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Das andere Weiße Haus

Selbst in Mississippi fallen die letzten Bastionen: Barack Obama mag Washington erobert haben, Ken Kellough aber ist als erster Schwarzer Mitglied im Country Club von Clarksdale geworden. Da sitzt er nun im Ledersessel - und trotzdem noch zwischen allen Stühlen

Von Christian Wernicke

Clarksdale - Vielleicht liegt es daran, dass Ken Kellough einmal Polizist war. Damals, ehe er Medizin studierte und lang bevor es den Herrn Doktor nach Mississippi verschlug. Jedenfalls wirkt dieser Ken Kellough wie ein Kerl, dem sich niemand gern in den Weg stellt. Der bullige Oberkörper und die breiten Schultern, das kräftige Kinn mit dem grau-melierten Bart, dazu der kahlrasierte Schädel - all das kultiviert eine Erscheinung, die Respekt einflößt. Kellough sucht stets Blickkontakt, hinter den Gläsern seiner Designerbrille funkeln zwei braune Augen, die alles abschätzen, die jedermann vermessen. Er redet nicht viel, und wenn er etwas sagt, dann klingt er streng, nüchtern, verbindlich. So wie jetzt, da er zu erklären versucht, warum ausgerechnet er es war, der in Clarksdale, diesem Provinzstädtchen mitten im tiefsten Süden der USA, diese kleine, sehr späte Revolution vollbracht hat: "Einer musste es tun, es war Zeit."

Also hat er getan, was getan werden musste. "Ja, wir haben hier eine letzte Bastion von Amerikas altem Südens erobert", sagt Ken Kellough. Er muss grinsen über den Hauch von Pathos, der ihm da über die Lippen kommt. Er räkelt sich in dem schwarzen Ledersessel, nippt am Eistee und schaut hinaus auf den einsamen Golfplatz, der sich hinterm Haus auftut. Keine Seele spielt auf dem gelblichen Rasen, der Januar ist bitterkalt, auch in Mississippi.

Ein Mann, ein Möbel und viel Langeweile - das ist sie schon, die ganze Revolution. Denn Ken Kellough ist schwarz, und er sitzt, wo vor ihm noch niemals ein Afro-Amerikaner hat hocken dürfen: im Country Club von Clarksdale. Dies ist der Hort der Stadt-Elite. Hier bahnt man seit jeher auf dem siebten oder neunten Green die Geschäfte an, heckt am 18. Loch die Lokalpolitik aus und spielt hernach im verrauchten Hinterzimmer eine Runde Poker. So geht es hier zu seit anno 1921, und bis dato blieb dieser Reigen stets rein - also reinrassig weiß.

Jetzt ist Ken Kellough da. Er hat die hölzerne Flügeltür zum Country Club von Clarksdale just im selben Jahr aufgestoßen, da der schwarze Senator Barack Obama das Weiße Haus eroberte. Aber da enden fast schon die Ähnlichkeiten. Die acht Säulen, die das mondäne Portal an der Friar Point Road stützen, erinnern ein wenig an den Regierungssitz an der Pennsylvania Avenue. Aber das Haus der Weißen von Clarksdale ziert - anders als Washingtons White House - kein Marmor. Roter Klinker muss genügen, zumal in kargen Zeiten wie jetzt. Der Country Club leidet an Schwindsucht, nicht erst seit Ausbruch der neuesten Wirtschaftskrise. Der Ort, vor hundert Jahren mit riesigen Plantagen und Heerscharen schwarzer Ex-Sklaven berühmt geworden als "die goldene Schnalle auf Amerikas Baumwollgürtel", darbt. Die Preise verfallen, überall im platten Mississippi-Delta siecht "King Cotton" dahin. Eine "weiße Flucht" treibt Händler und Handwerker - die alte Mittelschicht - aus der Stadt.

Ein gutes Jahr ist es inzwischen her, dass ein Dutzend liberaler Geister im Country Club beschlossen hat, aus ihrer Not eine Tugend zu machen. "Die ganze Sache war nicht meine Idee", erinnert sich Ken Kellough. Diskret, fast konspirativ fragten die weißen Freunde bei dem Arzt an, ob er bereit sei, als "Agent des Wandels" mit ihnen in die Schlacht zu ziehen - gegen die letzte und peinlichste Rassenschranke im Ort. Einzige Bedingung war, dass er schweigen musste und nicht die Lokalzeitung alarmieren durfte, falls der Vorstoß am Widerstand eines harten Kerns von Rassisten im Club gescheitert wäre. Kellough willigte ein: "Ich verstand das, ich kannte ja die Vorgeschichte."

Die Vorgeschichte ist jenes Drama, das die drei C - den Clarksdale Country Club - bereits vor sieben Jahren in die Schlagzeilen brachte. Schon da schien das rote Herrenhaus reif für das 21. Jahrhundert zu sein, und ein schwarzes Ärztepaar begehrte Einlass. Doch laut Statuten genügt das Veto von nur 25 Altmitgliedern - und die finden sich schnell. Der Streit schwelte an zum Stadtgetuschel, und am clubeigenen Schwimmbecken schwörten sich blonde Mütter, sie würden "unsere Kinder nicht in dasselbe Wasser lassen, in dem eben noch die Brut dreckiger Kraushaare geplanscht hat". Eine Clubversammlung, zelebriert in der schwülen Hitze einer Sommernacht, endete in Brandreden. "Es geht nicht darum, was moralisch richtig ist. Es geht nicht darum, was christlich ist oder ethisch", polterte ein Wortführer lokaler Apartheid im rosa Ballsaal, "nein, es droht die dauerhafte Zerstörung unseres Clubs!" Der Appell fruchtete, zwei von drei Familienvätern votierten gegen die Reform. Gegen Farbige im Club. Bis heute erinnert sich jeder haargenau, wer da auf welcher Seite gestanden hat. Und darüber reden mag nur, wer anonym bleibt.

Ken Kellough hat davon damals nur in der Zeitung gelesen. Und er staunte, wie es so zugeht in Mississippi. Der gebürtige Texaner, aufgewachsen in der Großstadt Houston, war noch neu in Clarksdale: Als Preis für das Stipendium zum ersehnten Medizinstudium hatte er sich verpflichtet, fünf Jahre lang in einem "unversorgten Gebiet" zu arbeiten. Als seine Pflichtzeit ablief, flehten ihn die alten Damen aus der schwarzen Nachbarschaft an, er möge bleiben. Er ist geblieben, "denn ich werde hier wirklich gebraucht".

Vier von fünf seiner Patienten sind schwarz, nur einer weiß. Ungefähr so sind die demographischen Gewichte generell in der Kleinstadt mit 20 000 Einwohnern verteilt. Bei der Präsidentschaftswahl im November votierte der Landkreis mit mehr als 70 Prozent für Obama. Und Wähleranalysen ergaben, dass nur ganze elf Prozent der Weißen von Mississippi für den schwarzen Demokraten stimmten (ein verdächtiger Minusrekord, wo selbst der blasse John Kerry 2004 noch 18 Prozent errang). Politisch ist die Stadt in schwarzer Hand: Seit vielen Jahren sitzt ein afro-amerikanischer Bestattungsunternehmer ehrenamtlich als Bürgermeister im Rathaus, auch der Sheriff und der Chef der Stadtpolizei sind keine Weißen mehr. An das letzte Lebenszeichen des Ku-Klux-Clan kann sich niemand mehr exakt erinnern. Irgendwann Mitte der neunziger Jahre wurde eine Handvoll weißer Herrenmenschen am Courthouse festgenommen. Zwar ohne die albernen Kapuzen, aber doch wegen illegalen Waffenbesitzes und Widerstandes gegen die Staatsgewalt.

Nur, irgendwie war dieser Wandel bislang nie bis in das weiße Clubhaus am Nordrand der Stadt vorgedrungen. Dort gilt die alte Ordnung, wenngleich die junge Generation nur noch selten die Etikette respektiert, im Clubhaus keine Jeans zu tragen und zum Dinner gefälligst in Jackett und Krawatte zu erscheinen. Allein die schwarzen Diener, die Kellnerinnen und die Barkeeper, tragen wie eh und je ihre Uniformen: weiße Bluse oder Oberhemd, rote Weste, schwarze Hose, auf dem Gesicht stets ein Lächeln und allzeit ein freundliches Wort auf den Lippen.

So arbeitet Sally Porter nun seit 36 Jahren im Club. Die drahtige Kellnerin stand

auch 2001 am Tresen der Bar, schenkte verschwitzten Clubmitgliedern Bier und Cocktails nach, ehe sie das laute "Nay!" mit anhören musste, das dem nicht-weißen Clarksdale für sieben weitere Jahre den Zutritt allein über den Lieferanteneingang gewähren sollte. Ja, sie war wütend in jener Nacht, wie alle Angestellten: "Ich habe den Manager angeschrieen, dieser Club verdiene gar keine schwarzen Mitglieder." Doch geweint habe niemand von ihnen, "diesen Triumph gönnten wir denen nicht."

Sally Porter, die ihren wirklichen Namen lieber nicht in der Zeitung sehen will, nennt den Club "meine Familie." Freitagabends, wenn vor allem die Alten zum Dinner kommen und sich ein halbrohes Steak, ihr rosa Krebsfleisch oder schlicht einen Catfish bestellen, herzt sie jeden zweiten Gast mit einer Umarmung. Zwischendurch spurtet Sally ins Hinterzimmer, wo die junge Garde Bier und Bourbon trinkt und um Dollars zockt: "Das sind meine Kinder, meine Jungs - auf die muss ich aufpassen." Gegen Mitternacht, nach sechs Bier oder vier harten Drinks, zieht sie die Notbremse: "Wer sein Pensum hat, kriegt nichts mehr. Die müssen noch fahren."

In diesen Momenten beobachtet Sally Porter sehr genau, wie ihre weißen Herren reagieren. "Manche schimpfen, und manche verfluchen mich." Sie hat ein drittes Auge für die obszöne Zeichensprache hinter ihrem Rücken, und sie hört es, wenn jemand leise "das N-Wort" ausspricht: "Ich erkennen einen Rassisten, wenn ich ihn sehe", sagt diese kleine, drahtige Frau Ende

fünfzig. Über die zwei reichen Brüder jedenfalls, die ihr bisweilen an den Hintern fassen, hat sie ihr Urteil gefällt: "Bei einer weißen Frau würden die das niemals wagen." Dabei waren die beiden als Kinder doch so niedlich - damals, als sie den Kleinen noch Kakao und Sandwich mit Erdnussbutter oder Marmelade servierte.

Und doch wird sich Sally Porter am nächsten Tag wieder aufraffen zum Dienst. Sie wird lächeln, auch für einen, den sie heimlich einen Rassisten schimpft.

Warum? Sally grübelt kurz: "Weil ich glaube, dass ich ihn mag. Und ja, irgendwie mag der mich auch." Das hat sie neulich gespürt, als sie wegen des offenen Magengeschwürs ins Hospital musste und ihr danach die Rechnung über 3000 Dollar ins schäbige Holzhaus flatterte. Da haben ihre Jungs aus dem Hinterzimmer ihr glatt 1000 Dollar zugesteckt - Noblesse oblige!

- zumal der Country Club sich strikt weigert, seinen schwarzen Angestellten eine Krankenversicherung zu bezahlen. Jahrelang begnügte sich Sally mit fünf Dollar Stundenlohn. Inzwischen bekommt sie acht Dollar, plus Trinkgeld. In einer guten Woche bringt sie 400 Dollar nach Hause. Damit hat sie drei Kindern den Weg zum High-School-Abschluss geebnet.

Im vergangenen Jahr hat Sally Porter dann gleich zwei Triumphe im Club ausgekostet. Das erste Mal war irgendwann im Frühherbst, als sie im Mitgliedsregister zufällig den Namen ihres Hausarztes entdeckte: "Kellough, Kenneth W." Der weiße Manager hatte dem Personal keine Silbe gesagt, und Ken Kellough spürte, "wie ungläubig und verunsichert die Angestellten bei meinen ersten Besuchen waren." Den zweiten Sieg hat Sally dann am 5. November zelebriert, dem Tag nach der Obama-Wahl. Der Manager kam gerade durch die Tür, da hat sie den alten Gassenhauer der Bürgerrechtsbewegung angestimmt, samt kleiner Korrektur im Text: "We have overcome!"

Die Zeiten, da sie solche Lieder in Clarksdale trotzig anstimmten, sind vor-bei. "Mississippi Burning" ("Die Wurzel des Hasses"), der brillant-böse Hollywood-Thriller mit Gene Hackman und Willem Dafoe, beschreibt eine vergangene Welt. Curtis Wilkie, in den heißen sechziger Jahren Lokalreporter in Clarksdale und nun Professor für die Zeitgeschichte der US-Südstaaten an der Universität von Mississippi, riskiert einen Vergleich mit den Lernprozessen in Nach-Nazi-Deutschland: "Die meisten Weißen erkennen heute die Sünden ihrer Eltern an." Clarksdales Country Club hinke der Wirklichkeit nur arg hinterher: "Wir sind eigentlich schon viel weiter. Es ist oft ein verkrampfter Tanz zwischen Schwarz und Weiß. Aber beide Seiten geben sich meist schrecklich Mühe - so wie ihr Deutschen." Das soziale Unrecht, die Kluft zwischen Arm und Reich - all das sei längst "mehr eine Klassen- denn eine Rassenfrage", glaubt der Zeitzeuge.

Mississippi brennt nicht mehr, vielmehr ist das Delta ausgebrannt. Die Züge, die Tausende arbeitsloser Schwarzer nach dem Weltkrieg von Clarksdale direkt nach Chicago brachten, sind alle längst abgefahren. Einst entkamen auf diesen Gleisen legendäre Blues-Größen wie Muddy Waters und John Lee Hooker, zwei von vielen Urvätern der Rockmusik, aus dieser Gegend. Heute parken auf den Schienen leere Waggons, und ins Bahndepot ist das Blues-Museum eingezogen. Inzwischen hegen auch die Weißen die vage

Hoffnung, das Erbe des einst als Negermusik verfluchten Blues könne Touristen aus aller Welt anlocken. Morgan Freeman, der schwarze Hollywood-Star, hat zu diesem Zweck bereits viel Geld in Clarksdale investiert: Noch jedoch werfen der Blues-Club "Ground Zero" und das Edellokal "Madidi" keinerlei Gewinn ab.

Ken Kellough beschleicht derweil das Gefühl, seit seiner Aufnahme in den Country Club zwischen allen Stühlen zu sitzen. "Es ist kein Zufall, dass ich als zugezogener Außenseiter diesen Durchbruch geschafft habe." Die einheimischen Schwarzen glaubten, Kellough halte sich nun für etwas Besseres. "Und die Weißen machen keine Anstalten, weitere Afro-Amerikaner anzuwerben." Das Tabu ist gebrochen, das erleichtere dem Club die Suche nach Sponsoren. Und Clarksdales Schwarze haben eh andere Sorgen: keine Jobs, schlechte Schulen, Drogen, Gewalt. Angesichts solcher Probleme schauen sie nicht lange auf das Clubhaus der Weißen. Sie hoffen auf Obama, den anderen schwarzen Mann. Den im echten White House.

In einer schwülen Sommernacht werden Brandreden gehalten

Sie hört es immer, wenn jemand das N-Wort ausspricht

Nach der Präsidentenwahl stimmten sie ein Lied an: "We have overcome!"

"Einer musste es tun, es war Zeit": In Clarksdale, im tiefen Süden der USA, hat Ken Kellough (mittleres Bild) im örtlichen Country Club (unteres Bild) eine kleine, sehr späte Revolution vollbracht. Fotos: Corbis, cwe (2)

Afro-Amerikaner in den USA Rassismus in den USA Mississippi SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hinab in die Hölle, dem Neuen zu!

Über die Kunst, dem Maßlosen eine Form zu geben: Vor zweihundert Jahren, am 19. Januar 1809, wurde in Boston Edgar Allan Poe geboren

Wer das berühmte Foto-Porträt Edgar Allan Poes betrachtet, das in seinem letzten Lebensjahr entstand, der wird nicht schlau daraus. Es stammt aus einer Zeit, die noch keine Schnappschüsse kannte. Wer abgelichtet sein wollte, musste sich zusammennehmen, fast als würde er gemalt. Unmöglich, dass damals der Zufall knipste. Umso beunruhigender ist, was wir sehen. Dieser Mann blickt uns nicht entgegen, sein Blick rollt ins Unbestimmte nach oben, die Augäpfel zeigen bestürzend viel Weiß. Und es steckt in der Intensität seines Ausdrucks unberechenbar noch etwas Anderes, eine Pein, die sich von der Harlekinade nicht sicher scheiden lässt. Man braucht lang, bis man begriffen hat, wie asymmetrisch dieses Gesicht ist, dass es je nachdem, welche Hälfte man abdeckt, eine völlig andere Persönlichkeit zeigt. Seine linke Hälfte könnte einem Offizier der Südstaaten-Armee gehören (Poe starb gnädigerweise lang genug vor dem Bürgerkrieg, er hätte ihn schwerlich verwunden), bereit, für ein uns unbegreifliches Ideal in den Tod zu gehen; seine rechte Hälfte aber spricht, namentlich kraft ihrer Groucho-Marx-haften Augenbraue, von einem Kummer, der ein Spaß, und einem Spaß, der ein Kummer ist. Es ist ein Gesicht, das mit äußerster Mühe darum ringt, seinen Dämonen standzuhalten.

Deren sind zwei. Einer trägt den Namen "The Imp of the Perverse" . So lautet auch der Titel eines bemerkenswerten essayistischen Texts von Poe. Die deutschen Übersetzer tun sich schwer mit der Wiedergabe. "Der Geist des Bösen" schlagen Hedda Moeller-Bruck und Hedwig Lachmann vor. Arno Schmidt und Hans Wollschläger bieten "Der Alb der Perversheit", was mehr das Eingeständnis eines Problems als seine Lösung bedeutet. Ein "imp" ist ja eigentlich ein Kobold, behender als ein Geist und solider als ein Albtraum. Und "Perverseness" meint keinen wesenhaft unsittlichen Impuls (obwohl sie zuweilen auch zu gänzlich unverständlichen Mordtaten führen kann, so auch im weiteren Fortgang dieses Texts). Vielmehr kehrt sie sich, als wahre Qual, gegen denjenigen, den sie überkommt.

Das schlagende Beispiel, das Poe gibt, ist der Abgrund, von dessen schwindelerregendem Rand man sich nicht loszureißen vermag. "Auf einen Augenblick nur der Versuchung des Gedankens daran nachzugeben, heißt unentrinnbar verloren sein; denn ruhige Überlegung drängt uns, davon abzustehen, und eben darum, sag' ich, können wir es nicht. Wenn dann kein Freundesarm zur Stelle ist, uns zurückzuhalten, uns in jäher Anstrengung aller Kräfte rückwärts vom Schlunde weg niederzuwerfen, so springen wir - und springen ins tiefste Verderben."

Der Abgrund wird zu Poes zentraler Erzählfigur, die innere Unwiderstehlichkeit seines Sogs verlagert sich, um ins Darstellbare einzugehen, in die äußere Nötigung; und so entstehen, immer wachsend, die Grube in "Die Grube und das Pendel", der Mahlstrom und, von Poe zum gigantischsten Abgrund der Literatur gemacht, der Ozean der Südhalbkugel, der Gordon Pym zu unendlichem Schiffbruch down under in Richtung Antarktis reißt. Der andere Dämon heißt "The Angel of the Odd". Moeller-Bruck und Lachmann schlagen "Den Engel des Wunderlichen vor", Schmidt und Wollschläger den "Engel des Sonderbaren" .

Das ist beides zu matt. "Absurd" käme vielleicht am ehesten hin, wenn dieser Begriff nicht in der Zwischenzeit vom Existenzialismus zu einem Ernst verdonnert worden wäre, den Poe nicht meint. Im "Odd" nämlich steckt die Wurzel von Poes Humor, den man, weil er sich so ins Schauerliche verschränkt, zuweilen verkannt hat. The Angel of the Odd präsentiert sich dem Erzähler, der nicht mehr ganz nüchtern ist (so viel oberflächliche Rationalisierung gönnt Poe dem Leser immerhin), als dieser die Wahrheit einer Zeitungsmeldung in Zweifel zieht, ein Mann sei gestorben, als er einen Blasrohrpfeil, statt ihn abzuschießen, eingeatmet habe. Wie er hereingekommen ist, dafür gibt der Engel keine Erklärung ab, er sitzt plötzlich da, als Engel nicht auf Anhieb zu identifizieren, denn der Körper besteht aus einem Wein- oder Rumfass, als Beine hat er zwei Fässchen und anstelle der Arme zwei längliche Flaschen. Den Kopf aber bildet ein Flaschenkorb, dessen Öffnung sich dem Erzähler zukehrt und aus der eine Stimme wie ein Rumpeln oder Dröhnen dringt, ein Geräusch, wie wenn man gegen ein leeres Fass schlägt; bekrönt wird die Figur von einem Trichter als Hut.

Als der Erzähler zur Tür eilen will, um seinen Diener zu schellen, erhält er von dem Flaschenarm einen solchen Stoß versetzt, dass er verblüfft sitzen bleibt. Schließlich geht der Gast doch; aber was sich nun begibt, lässt sich nur als seine Rache begreifen. Der Ich-Erzähler hat am Abend eine Verabredung zur Erneuerung seiner Feuerschutzversicherung, verpasst sie aber, weil ein von ihm ausgespuckter Traubenkern den Minutenzeiger der Standuhr blockiert; prompt brennt, weil eine Ratte die Decke samt Kerze vom Nachttisch reißt und in ihr Loch schleppt, das Haus ab; der Erzähler wird über eine Leiter gerettet, doch es kratzt sich gerade eine Sau daran, er stürzt und bricht den Arm; da er beim Brand einen guten Teil seiner Haare verloren hat, legt er sich eine Perücke zu, die sich im entscheidenden Augenblick, als er einer Dame seinen Antrag macht, löst und ihn der Lächerlichkeit preisgibt; er will ins Wasser gehen, legt seine Kleidung ab, da stiehlt ein Rabe seine Hose, die er vorher noch glaubt retten zu müssen; er ergreift das zufällig herabhängende Tauende eines vorbeifliegenden Luftschiffs, es reißt ihn hoch, in der Gondel sitzt - wer sonst? - der Engel des Absurden und lässt ihn genau in den Kamin seines neu errichteten Hauses plumpsen. Von seinem vorwitzigen Zweifel dürfte dieser Mann kuriert sein, er wird im "Odd" von nun an eine Himmelsmacht ehren, die Anspruch auf bedingungslose Gefolgschaft hat.

Das Perverse von innen, das Absurde von außen, sie stellen die exzentrischen, zentrifugalen Kräfte dar, mit denen Poes Leben und Schreiben zu ringen haben, Inspiration so gut wie Bedrohung. Sich ihnen entgegenzustellen, hat keinen Zweck, sie würden den, der es versucht, einfach zermalmen. Aber es lässt sich ihnen mit List begegnen, indem man ihnen nachzugeben scheint und sein Fahrzeug diesen durchgehenden Pferden anvertraut. Als Farce, als Irrenwitz hat Poe diese Lage in "Das System des Doktors Pech und des Professors Feder" gestaltet. Hier sind es die Insassen einer Heilanstalt, die bei Ankunft des Erzählers längst die Macht an sich gerissen haben, wenn sie vor ihm täuschend als pflegendes und leitendes Personal figurieren. Das Befremden des Erzählers entwickelt sich langsam und erreicht den Grad des Argwohns, als ein Festessen aufgetragen wird.

"Drei sehr kräftige Diener hatten eben eine ungeheure Schüssel ohne weiteren Unfall auf den Tisch gesetzt. Sie war fast so groß wie ein Boot und enthielt, wie mir schien, das ,Monstrum, horrendum, informe, ingens, cui lumen ademptum'. Ein aufmerksamer Blick überzeugte mich jedoch davon, dass es nur ein kleines unzerlegt gebratenes Kalb sei, das auf seinen Knien lag und einen Apfel im Maule trug, wie man in England gewöhnlich einen Hasen serviert." "Nur" ist gut; es ist das eigentlich humoristische Wort in dieser Passage. Das Missverhältnis zwischen der großen kulinarischen Kunst und ihrer mangelnder Passung auf ihren unzerkleinerten Gegenstand erschreckt; hier hat jemand, der sonst äußerst geschickt ist, die grundsätzliche Differenz zwischen einem Hasen und einem Kalb verfehlt. Das Vergil-Zitat, welches bedeutet "das grässliche Monstrum, unförmig, ungeheuer, dem das Augenlicht genommen war", beschreibt das grauenerregend Formlose, hat der Beschreibung aber seinerseits die hochdisziplinierte Form des lateinischen Hexameters erteilt. "Informe" ist, was keine Form, "ingens", was keine Art hat. Poe ruft Vergil auf, um dem Maßlosen eine Fasson zu geben. (Man fragt sich, was aus ihm geworden wäre, hätte seine wild romantische Neigung nicht diesen Halt an seiner soliden klassischen Ausbildung gehabt.) An diesem Punkt hält Poes Erzählen vorübergehend inne, ehe sich der rasende Durchbruch vollzieht und die Patienten sich als all die verzweifelten tobenden Narren erweisen, die sie sind.

Von der Art dieses im Ganzen gerösteten Kalbes sind noch andere Details bei Poe. Die Mauern des Schlosses Usher sind unversehrt, aber wirken in der Beschaffenheit ihrer Oberfläche merkwürdigerweise wie Holz, das lang unter Wasser gelegen hat. Die Stämme, die vom Grund des Mahlstroms emportauchen, tragen ein feines Borstenkleid aus aufgerauten Fasern, dezente Spur der absoluten Zerschmetterung. Immer scheint das förmlich Intakte von einem Unerhörten überschauert, das Unbelebte von einer struktural gewordenen Gänsehaut bedeckt, wie sie nur jene Erfahrung, die alle Erfahrung sprengt, zu induzieren vermag. Dem einen menschlichen Überlebenden, der dem Strudel entrinnt, hat sich das Haar in einer Nacht von Schwarz zu Weiß umgefärbt.

Dass es dem Maßlosen eine Form gab, hat den Reiz am Werk Poes für seinen eigentlichen Entdecker, Charles Baudelaire, ausgemacht. Baudelaire war süchtig nach dem Neuen, aber da er alles, was das Leben betraf, von den Mächten des Banalen okkupiert sah, gab es für das Neue nur eine Richtung, hinab; den Tod, der das Erlebnis des Sturzes einschloss. Baudelaires Don Juan macht sich auf in die Hölle, "um das Neue zu suchen". Und diese Richtung des unausdenklichen Hinab sah er bei Poe vorgegeben. Poe hat eine große, diebische, aber ganz und gar unfreie Freude an solcher Neuerung. Bei ihm lässt es sich nur schwer angeben, ob die Vernunft die Unvernunft bemeistert oder bedient. Man lausche der Stimme im "Verräterischen Herz": "Es ist wahr! Nervös, schrecklich nervös war ich und bin ich noch; aber weshalb soll ich wahnsinnig sein? Mein Übel hatte meine Sinne nur geschärft, nicht zerstört oder abgestumpft. Vor allem war mein Gehörsinn außerordentlich empfindlich geworden. Ich hörte alle Dinge, die im Himmel und auf der Erde vor sich gingen, und auch vieles, was in der Hölle geschah. Wie könnte ich also wahnsinnig sein? Hören Sie nur zu, wie vernünftig und ruhig ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen werde."

Dieses Ich wird einen alten Mann umbringen, aus keinem anderen Grund, als dass sein eines Auge eine Verschleierung aufweist, die den Erzähler tief beängstigt; er wird sich in dessen Schlafzimmer stehlen und, wenn der alte Mann schläft, den winzigen Lichtstrich einer abgedunkelten Laterne auf dieses Auge richten; ihn schließlich erwürgen, unter dem Bretterfußboden begraben und eine Polizeistreife, die auf den Schrei herbeikam, mit ihren Stühlen genau über dem Toten Platz nehmen lassen; und währenddessen wird der Herzschlag des Ermordeten im Ohr seines Mörders zu solcher Lautstärke anwachsen, dass dieser sich schließlich, schreiend, der Gerechtigkeit stellt.

Diesen Text vorzulesen, bereitet ein ganz wunderbares Vergnügen. Unschuldig möchte man es nicht nennen. Man sollte ein bisschen Alkohol zu sich genommen haben, um in die kongeniale Stimmung zu geraten: Das berauschte Spiel mit der Nüchternheit liefert das Pendant zu jener listigen Vernunft des Wahnsinnigen. Poe spannt die Vernunft, indem er sie gewissermaßen chemisch rein herstellt, zu ungeheuren Leistungen an, die ihr dort im normal gemischtem Zustand ihrer Alltagszwecke nicht gelingen. Mit diesem Vorsatz erfindet er seinen genialen Detektiv Dupin, der deduzierend den entwendeten Brief auftreibt und den Doppelmord in der Rue de la Morgue aufklärt.

Wie der Trick mit dem Brief genau funktioniert, ist heute, wo die Briefe anders aussehen, schwierig nachzuvollziehen; und auch den Orang-Utan, der sich als der Urheber jenes beispiellos grässlichen Doppelmords erweist, kennt Poe offenbar mehr vom Hörensagen als aus persönlicher Begegnung. Umso schärfer tritt der Gegensatz hervor zwischen der Bestie, die mit bloßen Händen einen Skalp herunterreißen kann, und dem Intellekt, der ihr nachspürt und sie bezwingt. Mit den Dupin-Geschichten hat Poe eine neue und ungeheuer erfolgreiche Gattung gestiftet, die Kriminalstory. Doch mit drei Geschichten ließ er es genug sein, danach, so darf man spekulieren, hätte ihm das Drama des Scharfsinns nur noch ein unriskantes, uninteressantes Spiel bedeutet.

Poe mag dem Wahnsinn entronnen sein (die zeitgenössischen Berichte klingen hier nicht ganz eindeutig), dem Alkohol entging er nicht. Sein Ende war schrecklich. Er geriet in einen "Hühnerkäfig", eine Art Obdachlosenasyl, wo während des Wahlkampfs mittellose Wähler unentgeltlich mit Schnaps versorgt wurden, damit sie für einen bestimmten Kandidaten stimmten, und brach dort zusammen. Ein befreundeter Arzt findet ihn und schildert seinen Zustand: "Das Gesicht war verstört, aufgedunsen und ungewaschen, die Haare ungekämmt, das ganze Aussehen abstoßend. Die hohe Stirn, die weiten und beseelten Augen, die für ihn so charakteristisch waren, als er noch er selbst war - jetzt waren sie ohne Glanz, überschattet von einem zerfetzten Hut, der fast keine Krempe mehr hatte. Er trug einen Rock aus dünnem, glänzenden Stoff, an mehreren Stellen aufgerissen und schmutzig, und eine ganz abgewetzte und bös zugerichtete Hose, soweit sich das überhaupt sagen lässt. Das Hemd war zerknittert und schmutzig." Der Arzt sorgt dafür, dass Poe in ein Krankenhaus geschafft wird. Dort leistet er den Pflegern Widerstand, schreit, es sei das Beste, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen, und findet erst nach Tagen zu einer friedlicheren Verfassung. "Gegen fünf Uhr wandte er den Kopf zur Seite, sagte ,Gott helfe meiner armen Seele' und verschied."

Nun ist es immer eine fragwürdige Sache, vom Ende eines Menschen aus rückblickend sein ganzes Leben zu deuten. Aber dass es in dieser erniedrigenden Katastrophe schloss, gibt doch eine Ahnung davon, wie ungeheuer die ordnenden Mühen gewesen sein müssen, mit denen dieser Mann, so lang es ging, seinen bedrohten Geist beisammenhielt. Von diesem Leben lässt sich sagen, was er selbst dem alten Mann in den Mund legt, der immer am Rand des Mahlstroms gefischt hatte, weil dort die Ausbeute am lockendsten war, in ihn hineingeriet und gegen alle Wahrscheinlichkeit wieder zum Vorschein kam: "Um die Wahrheit zu sagen -: es war stets eine furchtbare Gefahr." BURKHARD MÜLLER

Der Abgrund ist Poes zentrale Erzählfigur: er stellt die innere Unwiderstehlichkeit des Sogs dar

Poe zeigt ein Gesicht, das mit äußerster Mühe darum ringt, seinen Dämonen standzuhalten

Poe mag dem Wahnsinn entronnen sein, dem Alkohol entging er nicht

Edgar Allan Poe in seinem letzten Lebensjahr. Das berühmte Porträt entstand in Lowell, Massachusetts. Poe starb im Oktober 1849 in Baltimore. Foto: Hulton-Deutsch Collection/CORBIS

Poe, Edgar Allan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Acker im Ausland

Chinas Regierung sorgt sich um die langfristige Lebensmittelversorgung ihrer Bevölkerung

Von Janis Vougioukas

Shanghai - Eines Tages könnten in China die Lebensmittel knapp werden. Die Bevölkerung wächst schnell, und ihre Ernährungsgewohnheiten haben sich stark verändert. Chinas Regierung muss etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung ernähren, verfügt aber nur über sieben Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Gleichzeitig ist Chinas Ackerfläche in den vergangenen Jahren immer weiter geschrumpft: Die Städte wachsen zu schnell, die Wüsten breiten sich aus, und die Umweltverschmutzung hat ganze Landesteile vergiftet.

China muss inzwischen einen Großteil seiner Lebensmittel aus dem Ausland importieren - sehr zum Unbehagen der Pekinger Wirtschaftsplaner. Immer mehr private und staatliche Agrarbetriebe suchen deshalb nach Möglichkeiten, im Ausland zu expandieren. Im vergangenen Jahr hat der Plan an Dringlichkeit gewonnen, denn die Versorgungsprobleme haben sich weiter versch rft. In der ersten Jahreshälfte stiegen die Lebensmittelpreise so schnell, dass die Regierung Preiskontrollen für Getreideprodukte, Eier, Schweine- und Rindfleisch einführte, um die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.

Seitdem ist die Sicherung der langfristigen Lebensmittelversorgung für die Pekinger Regierung fast so wichtig geworden wie der Zugang zu Erzminen und Ölfeldern. Mit großem Druck bemüht sich Peking, die Produktivität der rückständigen Landwirtschaft zu verbessern. Denn die meisten Felder werden heute noch wie vor 2000 Jahren mit Ochsenkarren beackert, neu ist nur der Einsatz von Pestiziden. Doch etliche Experten gehen davon aus, dass Produktivitätssteigerungen alleine nicht ausreichen.

Die Xintian International Economic and Technical Cooperation Group gründete vor zwölf Jahren eine Großfarm auf Kuba, später auch in Mexiko. Inzwischen bereitet der Konzern auch die Ausdehnung nach Kasachstan vor. Die Provinzregierung von Hubei hat nach Berichten chinesischer Medien fast zehn Millionen Dollar in Großfarmen in Mosambik investiert. Das Ressourcenbüro der Provinz Shaanxi hat sich Anbauflächen von etwa 5000 Hektar in Kamerun gesichert.

Auch immer mehr private Unternehmer investieren im Ausland. Einer der ersten war der ehemalige Bauer Zhang Fenghua. Der 34-Jährige stammt ursprünglich aus dem zentralchinesischen Hubei. Vor neun Jahren hörte Zhang Geschichten über die Lebensbedingungen chinesischer Gastarbeiter im Sudan. Dort gebe es fast jeden Tag nur Kartoffeln und Zwiebeln zu essen. Doch Zhang wusste: Der Nil fließt durch den Sudan, das Land ist fruchtbar. Er betrieb damals ein kleines Geschäft für Baumaterialien in der Jangtse-Metropole Wuhan. Er suchte nach neuen Ideen, und was er hörte, inspirierte ihn. Im März 2001 kam Zhang in Khartum an und mietete für 300 Dollar ein Stück Land vom sudanesischen Landwirtschaftsministerium. Zhangs Firma ist inzwischen zum größten ausländisch-investierten Agrarbetrieb des Landes geworden.

Im Ausland wird Chinas Expansion mit Skepsis beobachtet. Und die Regierung in Peking versucht, die Befürchtungen zu zerstreuen. "Es gibt keinen Masterplan für chinesische Bauern oder Firmen, Land im Ausland zu kaufen oder zu pachten", sagte Zhang Xiaoqiang, Vizechef der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission, bei einer Pressekonferenz im November. Doch vor allem im Landwirtschaftsministerium werden große Hoffnungen auf die Auslandsexpansion gesetzt. Und gleich mehrere Regierungsbehörden arbeiten derzeit an Studien zu dem Thema.

Auch andere Länder gehen den chinesischen Weg. Im November verkündete der südkoreanische Konzern Daewoo Logistics, für 99 Jahre 1,3 Millionen Hektar Land in Madagaskar zu pachten - etwa die Hälfte der gesamten Inselfläche.

Chinesische Investitionen im Ausland Agrarwirtschaft in China SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Israel und Hamas verkünden Waffenstillstand

Olmert: Wir haben Extremisten entscheidend geschwächt / Bisher 1300 Tote bei Kämpfen im Gaza-Streifen

Von Thorsten Schmitz

Berlin - Drei Wochen nach Beginn der israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen haben Israel und die radikal-islamische Hamas am Wochenende in einseitigen Schritten eine Waffenruhe ausgerufen. Israels Regierungschef Ehud Olmert hatte am Samstag trotz andauernden Raketenbeschusses aus dem Gaza-Streifen erklärt, die Ziele der Offensive seien erreicht worden und Hamas wesentlich geschwächt. In einer Ansprache hatte er in der Nacht zu Sonntag erklärt, die Führer der Hamas versteckten sich und viele ihrer Kämpfer seien getötet worden. Israel werde seine Truppen aus dem Gaza-Streifen abziehen zu einem Zeitpunkt, "der uns passt". Falls Hamas erneut Raketen abfeuere, werde Israel zurückschlagen. Am Sonntag erklärte Hamas, die Gruppe werde den Beschuss Israels mit Raketen für eine Woche einstellen. Israels Armee müsse in diesen sieben Tagen seine Truppen aus dem Gaza-Streifen abziehen, die Grenzübergänge öffnen und die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung mit Hilfslieferungen in vollem Umfang gewähren.

Hamas-Sprecher im Gaza-Streifen erklärten nach Angaben israelischer Medien, die Gruppe habe Israels Armee besiegt. Dem Feind sei es nicht gelungen, Hamas zu zerstören, führten sie weiter aus. Nach Angaben der Extremisten sind etwa 400 Hamas-Mitglieder bei der Offensive getötet worden. Der israelische Generalstabschef Gabi Aschkensai sagte am Sonntag, Hamas habe zwar einen schweren Schaden erlitten durch die israelische Militäraktion im Gaza-Streifen, doch die Gruppe sei "nicht verschwunden". Der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Juval Diskin sagte, es sei wichtig, dass die internationale Staatengemeinschaft und Ägypten die Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen effektiv kontrollierten. Zwar seien bei der Offensive Hunderte Tunnel zerstört worden, doch "wenn wir nicht aufpassen, haben wir in ein paar Monaten wieder genauso viele Tunnel".

Die Feuerpause wurde umgehend vom künftigen US-Präsidenten Barack Obama begrüßt. Auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerten sich positiv über die Waffenruhe. Merkel war am Sonntag überraschend zu einem eilig einberufenen Krisen-Gipfel nach Ägypten gereist, auf dem die Konditionen einer Waffenruhe und auch der Wiederaufbau des Gaza-Streifens diskutiert wurden. Merkel sagte im ägyptischen Badeort Scharm el-Scheich, es gebe keine Alternative zu einer Zwei-Staaten-Lösung, Großbritanniens Premierminister Gordon Brown, der ebenfalls nach Ägypten gereist war, erklärte, es müsse jetzt "schnell an der Verwirklichung" eines palästinensischen Staates gearbeitet werden. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte von Israel ein "Maximum an Zurückhaltung" im Gaza-Streifen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte sich am Sonntag erleichtert über die Waffenruhe, wies aber daraufhin, dass "der Weg zum Frieden noch weit" sei. Bei der israelischen Offensive wurden nach palästinensischen Angaben mehr als 1300 Palästinenser getötet und 5300 Palästinenser verletzt. Auf israelischer Seite kamen 13 Menschen ums Leben, darunter zehn Soldaten. Am Wochenende protestierten Zehntausende Menschen in mehreren Großstädten gegen den Krieg im Gaza-Streifen. (Seiten 4 und 7)

Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Flaute in der Kneipe

Wiesbaden - Wirtschaftskrise und Konsumflaute haben Deutschlands Gastwirten auch im November das Geschäft verdorben. Die Umsätze lagen sowohl nominal (minus 1,1 Prozent) als auch real (minus 3,6 Prozent) unter dem Vorjahreswert, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Im Vergleich zum Oktober 2008 gab es allerdings ein leichtes Plus: Nach Kalender- und Saisonbereinigung erhöhten sich die Erlöse nominal um 0,1 Prozent und preisbereinigt um 0,6 Prozent. Mit Ausnahme von Februar und Mai gab es in der Branche 2008 in jedem Monat reale Umsatzrückgänge, auch nominal gab es in vielen Monaten ein Minus. Von der Flaute im November waren sowohl Kneipen und Restaurants als auch Caterer sowie das Beherbergungsgewerbe betroffen. dpa

Gaststättengewerbe in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schmidtchen Schnauze

Finanzminister Peer Steinbrück sieht sich selbst gern in einer Liga mit dem bewunderten Altkanzler. Seine auffälligste Leistung aber ist bisher die Schuldenflut

Von Claus Hulverscheidt

Berlin - Es muss einem ja schwindlig werden bei all den Elogen. Vom "brillanten Hanseaten", der "die Stunde der größten Verantwortung mit spielerischer Leichtigkeit und Eleganz" meistere, schwärmt die sonst so nüchterne Neue Zürcher Zeitung. Vom Mann "gegen alle Wetter" berichtet der Berliner Tagesspiegel, von seinem "täglichen Heldenkampf" die Frankfurter Allgemeine. So groß ist mittlerweile der Club seiner Verehrer, dass selbst Kanzlerin Angela Merkel nicht länger außen vor bleiben mochte. "Ich kann Herrn Steinbrück nur beglückwünschen", jubelte sie jüngst nach einem der Coups ihres Ministers und Krisenmanagers.

Keine Frage: Peer Steinbrück steht im Zenit seines politischen Schaffens. Seit am 15. September letzten Jahres die US-Investmentbank Lehman Brothers pleite ging, ist beinahe kein Abend vergangen, an dem der 62-Jährige nicht in der Tagesschau zu sehen gewesen wäre, mal mit Kanzlerin, mal ohne, mal mit guten Nachrichten, meist aber mit schlechten. Für viele Menschen hat die Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch etwas Unwirkliches, ja Gespenstisches. Da ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass da mit Steinbrück scheinbar ein Mann auf der Brücke steht, der den Durchblick behält, der die Dinge beim Namen nennt, der keine Angst hat vor arroganten Managern und irrlichternden Präsidenten.

Steinbrück wird dieser Tage gern mit Helmut Schmidt verglichen, der einst in einer dunklen Februarnacht des Jahres 1962 alle Zuständigkeiten einfach ignorierte und Hunderttausende Hamburger durch beherztes Handeln vor der großen Sturmflut rettete. Der Vergleich mit dem damaligen Innensenator gefällt dem heutigen Bundesfinanzminister - nicht nur, weil er den Altvorderen, seinerzeit auch "Schmidt Schnauze" genannt, verehrt, sondern auch, weil dieser als späterer Bundeskanzler in einer Liga spielte, die Steinbrück auch als die seine betrachtet. Er sieht sich als Macher, der nachts, wenn Deutschland schläft, Banken vor dem Zusammenbruch und Bürger vor der Armut rettet.

So groß ist sein Ansehen mittlerweile, dass er auch mal nichts sagen muss. Am vergangenen Mittwoch sitzt Steinbrück auf der Regierungsbank im Bundestag und lauscht den Worten der Kanzlerin. Ab und zu blättert er in Akten, dann wieder schaut er gelangweilt ins Plenum. Natürlich hätte auch er selbst zur Wirtschaftskrise reden können, aber er hat Frank-Walter Steinmeier den Vortritt gelassen. Der Kanzlerkandidat braucht ein bisschen Fernsehzeit. Vielleicht aber ist der Finanzminister gar nicht so traurig, dass er nicht reden muss, denn die Mäkler von der Opposition stellen seit Tagen nervende Fragen: War es nicht Steinbrück, der noch vor Wochen Steuersenkungen gegen die Krise ablehnte, am Ende mit seinen Vorschlägen aber selbst die CSU überholte? War nicht er es, der einen "Rettungsschirm" für Banken Unsinn nannte, dann aber sagenhafte 500 Milliarden Euro bereitstellte? Und war es nicht Steinbrück, der auf die Frage, ob es ein Konjunkturprogramm geben müsse, noch jüngst zurückblaffte: "Wie viel hätte der Herr denn gerne? 25 Milliarden? 50 Milliarden?" Am Ende beschloss die Koalition gleich zwei Konjunkturpakete - eins im Volumen von 25 Milliarden Euro, eins im Umfang von 50 Milliarden.

"Politik bedeutet, auf der Basis unzureichender Informationen entscheiden zu müssen", sagt Steinbrück gern. Kaum jemand wird bestreiten, dass dieses Diktum auf die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise voll und ganz zutrifft. Und doch befördert das Genörgel von FDP, Grünen und Linkspartei einen Widerspruch zutage, der den vermeintlich so gradlinigen Peer Steinbrück besser charakterisiert, als ihm lieb ist. Da ist der Mann, der ehrlich zugibt, auch nicht zu wissen, welche Schreckensmeldungen die Krise noch produzieren wird. Und da ist der Mann, der Sätze sagt wie in Stein gemeißelt: Kein Rettungsschirm! Kein Konjunkturprogramm! Die Amerikaner haben ihren Status als Supermacht des Weltfinanzsystems verloren! Letzteres brachte ihm sogar eine Erwähnung im jüngsten Video Osama bin Ladens ein.

Noch deutlicher wird dieser Widerspruch, wenn man auch Steinbrücks Wirken vor der Krise betrachtet. Auch damals, als er noch als Haushaltssanierer Geschichte schreiben wollte, gab er sich gern kompromisslos - und machte Kompromisse. Tatsächlich wird Steinbrück in diesem Jahr so viele Schulden aufnehmen müssen wie keiner seiner Vorgänger je zuvor. Dafür kann er nichts, sagen viele, schließlich war die Finanzkrise nicht vorhersehbar. Das stimmt, und es stimmt auch wieder nicht: "Die Krise hätten wir nicht verhindern können", sagt einer seiner Adlaten. "Wir hätten aber den Haushalt energischer in Ordnung bringen müssen, statt wieder einmal mit einem Defizit in den Abschwung zu starten."

Wie groß die Chance war, die Steinbrück vertan hat, zeigt ein Blick auf die Zahlen: In seinen ersten drei Jahren im Amt ging es mit der Wirtschaft nur steil bergauf. Allein die Steuereinnahmen fielen um 100 Milliarden Euro höher aus als prognostiziert. Die Neuverschuldung aber sank gleichzeitig um gerade einmal 20 Milliarden Euro, weil Steinbrück ohne nennenswerte Gegenwehr Erhöhungen der Rente, des Kindergelds, des Krankenkassenzuschusses, der Entwicklungshilfe, des Wohngelds, des Kinderzuschlags, des Elterngelds, der Kita-Fördermittel zustimmte. Die Liste ließe sich fortsetzen. Mitgestalten will Steinbrück - und "nicht der Typ mit den Ärmelschonern und dem Ratzefummel sein, der nur die Hand auf die Kasse hält". Genau das, sagt Otto Fricke, Chef des Bundestagshaushaltsausschusses und damit für Steinbrück eine Art Aufsichtsratsvorsitzender, sei das Problem: "Noch nie hatte ein Finanzminister so viel Konjunkturglück - und hat so wenig daraus gemacht."

Selbst das enge Verhältnis zu Merkel, dessen Steinbrück sich rühmt, ist so eng nicht, wie ein langjähriger Weggefährte beobachtet hat: "So lange es um kleinere Dinge geht, stützt sie ihn. Als aber Steinbrück die 14 Milliarden Euro für die Krankenkassen gegenfinanzieren wollte, hat sie ihn alleingelassen." Letztlich hält der Minister nicht mal in der Finanzkrise das Heft des Handelns in der Hand: Die Banken kauft er nicht, weil er dies strategisch für richtig hält, sondern weil er, um Schaden von Volk und Vaterland abzuhalten, nicht anders kann. Wäre er bei der Tour de France, säße er nicht im Führungsfahrzeug, das die Richtung vorgibt, sondern im Besenwagen, der am Ende des Feldes fährt und die Gestrauchelten einsammelt.

Wer Steinbrück dieser Tag begegnet, erlebt einen Mann, der mal aufgekratzt, mal lethargisch wirkt. Man sieht ihm die Nachtsitzungen an, und man spürt, dass die große Verantwortung, die er trägt, sein Selbstbewusstsein noch weiter aufgeplustert hat, dass sie aber auch auf ihm lastet. Vielleicht ist da ja im Hinterkopf der Gedanke an Helmut Schmidt, dessen 90. Geburtstag gerade eine wahre Hysterie auslöste. Wie werden die Geschichtsschreiber ihn, Steinbrück, einmal beurteilen? Wird ihn Deutschland zum 90. Geburtstag als Retter feiern, oder werden in den Onlinediensten kurze Meldungen über einen Ex-Finanzminister erscheinen, der Deutschland die höchste Verschuldung aller Zeiten eingebrockt hat? "Wenn man mit sich im Reinen ist, lassen sich auch solche Urteile der Kommentatoren leichter wegstecken", sagt einer seiner Amtsvorgänger. Im Reinen mit sich, immerhin, ist Peer Steinbrück.

Er gibt sich gerne kompromisslos - und macht Kompromisse

"Nicht der Typ mit den Ärmelschonern und dem Ratzefummel": Peer Steinbrück im Bundestag. Foto: Georg Moritz

Steinbrück, Peer Folgen der Finanzkrise in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Verspätete Reise

Der türkische Premier besucht erstmals nach vier Jahren Brüssel

Es soll ja in der Europäischen Union wie in der Türkei Menschen geben, die einen Beitritt der Türkei zur EU für ein Unglück halten. Für diese Leute waren die vergangenen Jahre ein fortwährendes Fest. Der letzte Tag nämlich, an dem Europas Türkeifreunde etwas zu feiern hatten, war der 3. Oktober 2005: Damals wurden die Beitrittsverhandlungen eingeläutet; getan hat sich seither aber kaum etwas. Stattdessen regieren Frust und Enttäuschung. Das liegt zum Teil an der EU, wo die Türkei-Skeptiker zahlreicher geworden sind. Mehr noch aber ist Ankara für die Entwicklung verantwortlich; das Land fiel 2005 schlagartig in einen großen Reformschlaf, aus dem es bis heute nicht erwacht ist.

Wer das wachsende Desinteresse an Europa in der Türkei illustrieren wollte, der bräuchte bloß darauf hinzuweisen, dass Premier Tayyip Erdogan geschlagene vier Jahre lang seinen Fuß nicht mehr nach Brüssel gesetzt hatte. Bis jetzt. An diesem Montag führt der türkische Premier in Brüssel Gespräche. Und nicht nur das: Er führt auch den neuen türkischen EU-Unterhändler, Egeman Bagis, ein; sein Vertrauter hat überraschend den blassen Außenminister Ali Babacan als Vermittler abgelöst. Dass Erdogan damit neuen Schwung in die Sache bringen will, ist klar. Unklar ist, ob es bei einer reinen Geste bleibt.

Sollte Erdogan es ernst meinen, käme sein Tatendrang keinen Tag zu früh. Das Forschungs- und Beratungsinstitut "International Crisis Group" nennt das Jahr 2009 das "Jahr der Entscheidung": Tatsächlich dürfte sich der Zypernkonflikt erneut zwischen die EU und die Türkei schieben, weil in diesem Jahr ein Ultimatum aus Brüssel abläuft: Sollte die Türkei weiter die Öffnung ihrer Häfen für griechisch-zyprische Schiffe verweigern, dann wäre das Einfrieren der Verhandlungen nicht ausgeschlossen.

Zwar hat Erdogan recht, wenn er sich beim Thema Zypern von der EU ungerecht behandelt fühlt. Gleichzeitig meint er, mit dem Pfund seiner neuen diplomatischen Aktivitäten wuchern zu können: Die Türkei vermittelt im Nahen Osten wie im Kaukasus, und sie hat vorsichtig den Kontakt zu alten Feinden wie Armenien oder den irakischen Kurden aufgenommen. Dennoch werden seine Brüsseler Gesprächspartner ihm erklären, dass die Europäer - Regierungen wie Bürger - von ihm nun Vorleistungen erwarten. Und dass das Argument von der geostrategischen Bedeutung der Türkei allein dem Land nicht die Tür öffnen wird: Die Europäer wollen zuallererst Demokratie und Rechtsstaat etabliert sehen. Sie erwarten einen Reformschub, der so fulminant ist wie jener von 2004. Unverständnis hat Erdogan in Brüssel vor allem damit ausgelöst, dass er den Plan für die so dringend benötigte zivile Verfassung still beerdigt zu haben scheint.

Einfach wird es die Türkei ohnehin nicht haben; umso mehr müsste sich Erdogan also ins Zeug legen: Die Bundestagswahlen in Deutschland und Wahlen zum Europa-Parlament dürften viel antitürkische Stimmungsmache mit sich bringen. Gleichzeitig macht die Wirtschaftskrise der Türkei deutlich, wie sehr das Land den Anker EU braucht: Den Boom der letzten Jahre verdankte es zu einem guten Teil der EU-Perspektive. Und nicht nur das: Wie eine Klammer hielt die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft auch die verfeindeten Lager im Land zusammen: die Kurden und die Türken, die Religiösen und die Säkularen. Vielen Türken ist angst und bange bei der Aussicht, diese Klammer könnte nun wegfallen. Kai Strittmatter

Erdogan, Recep Tayyip: Dienstreisen Beziehungen der EU zur Türkei SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Navigationshilfe für Microsoft

EU droht mit Bußgeld. Konzern soll Browser von Windows lösen

Brüssel - Die EU-Wettbewerbshüter lassen bei Microsoft nicht locker: Sie drohen dem weltgrößten Softwarekonzern erneut mit einem hohen Bußgeld. Diesmal geht es um den Webbrowser Internet Explorer. Die EU-Kommission kritisiert, dass Microsoft die Software an das Betriebssystem Windows koppelt. Damit werde der Wettbewerb erschwert und die Auswahlmöglichkeiten der Kunden verringert. Microsoft hat acht Wochen Zeit, um auf die Vorwürfe zu reagieren.

Brüssel hatte Microsoft in anderen Fällen bereits mit hohen Strafen belegt, die sich bisher auf knapp 1,7 Milliarden Euro summieren. Der norwegische Konkurrent Opera hatte sich wegen des Internet Explorers in Brüssel beschwert. Weltweit laufen etwa neun von zehn Computern mit Microsofts Betriebssystem Windows. Der Internet Explorer kommt nach verschiedenen Schätzungen auf Marktanteile zwischen knapp 50 und 75 Prozent. Opera hat schätzungsweise weniger als ein Prozent Marktanteil.

Der Internet Explorer wurde Mitte der 90er Jahre bei Windows integriert. Das half Microsoft damals, den Pionier Netscape Navigator aus dem Feld zu schlagen. Browser sind notwendig, um im Internet zu navigieren. Mit der zunehmenden Bedeutung des Datennetzes gibt es in dem Bereich auch immer mehr Wettbewerber. Stark verbreitet ist vor allem der Firefox, dessen Quelltext frei verfügbar ist und dessen Marktanteil auf knapp 20 bis 45 Prozent geschätzt wird.

Wie die EU-Kommission am Wochenende in Brüssel mitteilte, wurde Microsoft die Beschwerde zugestellt. "Wir wollen unser Geschäft so führen, dass es europäisches Recht einhält", teilte der Konzern dazu mit. Die Vorwürfe der Kommission würden nun genau geprüft. Microsoft habe das Recht auf eine mündliche Anhörung in Brüssel, teilte die Behörde mit. Falls die Kommission ihre Vorwürfe beweisen kann, droht in dem neuen Missbrauchsverfahren ein Bußgeld von bis zu zehn Prozent eines Jahresumsatzes. "Die Stellungnahme der Kommission zeigt, dass sie ernst damit machen will, Microsoft zur Öffnung von Windows für echte Konkurrenz bei Internet-Browsern zu bringen", sagte Opera-Chef Jon von Tezchner in Oslo.

Kontakte zu Yahoo

Derweil gibt es fast ein Jahr nach dem ersten Versuch von Microsoft, den Internet-Konzerns Yahoo zu übernehmen, neue Annäherungsversuche. "Microsoft-Chef Steve Ballmer habe sich mit dem Vorsitzenden des Yahoo-Verwaltungsrates, Roy Bostock, getroffen, berichtete die New York Times. Auch die neue Yahoo- Chefin Carol Bartz habe ein Treffen mit Ballmer gehabt. Konkrete Bewegung in Richtung eines möglichen Deals kündige sich jedoch nicht an: An den Gesprächen seien keine Investmentbanker beteiligt gewesen, hieß es unter Berufung auf informierte Personen. Microsoft hatte 2008 mehr als 40 Milliarden Dollar für Yahoo geboten. Yahoo-Mitgründer Jerry Yang hatte die Offerte abgewiesen. dpa

Wieder muss Microsoft bei den europäischen Wettbewerbsbehörden Rechenschaft ablegen. Foto: dpa

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Karikatur

Putins Verstrickungen SZ-Zeichnung: Horsch

Putin, Wladimir: Karikaturen Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Taiwan gibt Gutscheine aus

Taipeh - Mit der Ausgabe von Einkaufsgutscheinen an seine Bürger will Taiwan die ins Stocken geratene Wirtschaft wieder ankurbeln. Regierungsangestellte begannen am Sonntag an mehr als 14 000 Ausgabestellen landesweit mit der Verteilung von Gutscheinen im Wert von je 3600 Taiwan Dollar (gut 80 Euro). Jeder der 22,7 Millionen Taiwaner, unabhängig vom Alter, hat Anrecht auf die Unterstützung. Die Konjukturmaßnahme beläuft sich damit auf ein Volumen von 1,9 Milliarden Euro. Der Schein kann für Lebensmittel, Kleidung oder auch Elektronikartikel eingetauscht werden. Die im November als Reaktion auf die wirtschafliche Flaute in Taiwan getroffene Entscheidung hat eine ähnliche Aktion in Japan im Jahre 1999 zum Vorbild. In den vergangenen drei Monaten hat Taiwans Notenbank in Hoffnung auf einen ökonomischen Impuls bereits sechsmal die Leitzinsen gesenkt. AFP

Folgen der Finanzkrise in Asien Wirtschaftsraum Taiwan SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Schuld der Selbstverwaltung

Man muss schon tief in die Feinheitendes medizinischen Abrechnungswesens eintauchen, um das Problem auch nur annähernd zu verstehen. Da steigen die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung, um den niedergelassenen Ärzten pro Jahr knapp drei Milliarden Euro an zusätzlichem Honorar zukommen zu lassen - und alles, was der spendable Kassenpatient erntet, sind Klagen und die Drohung, ihn nur noch auf Rechnung zu behandeln.

Trotzdem ist es verständlich,dass viele Ärzte um ihre Existenz fürchten und diese Sorge lautstark äußern. Ein erster Blick auf die Vorausberechnungen der Honorare durch die lokale Kassenärztlichen Vereinigung (KV) zeigt, dass einzelnen Fachärztegruppen Einkommenseinbußen von bis zu 50 Prozent befürchten müssen. Erste Beschwerden bei den Standesvertretungen bewirkten nur Achselzucken und den Hinweis, dass die Widrigkeiten der Reform eben den Vorgaben der Bundespolitik geschuldet seien.

Tatsächlich ist bei weitem nicht alles glorreich, was die Gesundheitspolitiker in Berlin erdacht und erlassen haben. Doch in diesem Fall liegt die Schuld eindeutig bei der Selbstverwaltung und insbesondere bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie hatten es in der Hand, die Verteilung des Honorartopfs so auszugestalten, dass die gröbsten Ungerechtigkeiten erst gar nicht entstehen. Vor allem aber wäre es notwendig gewesen, den einzelnen Medizinern die Auswirkungen der Reform immer wieder zu erklären. Wenn die Selbstverwaltung so versagt wie in dem Fall der Honorarreform, darf sie sich nicht wundern, dass die Bundespolitik ihr immer detailliertere Vorgaben macht und damit ihren Gestaltungsspielraum einschränkt. gwb

Ärztehonorare in Deutschland Fachärzte in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Landwirtschaftsmesse eröffnet: Gepanschte Lebensmittel und billige Produkte

Gefälschte Lebensmittel

Billige Imitate machen der Ernährungsindustrie immer mehr zu schaffen - öffentlich bekannt wird jedoch nur ein Bruchteil dieser Fälle

Von Silvia Liebrich

Berlin - Fälscher machen den Herstellern von Lebensmittel zunehmend zu schaffen. Jüngstes Opfer ist der italienische Süßwarenhersteller Ferrero Rocher. In Frankreich entdeckte der Zoll kurz vor Weihnachten einen Kühlcontainer, randvoll mit nachgemachten Schoko-Pralinen. Die Ware hatte einen Wert von 220 000 Euro und wurde offenbar in der Türkei hergestellt. Laboruntersuchungen zeigten, dass Imitate zwar keine Gefahr für Leib und Leben waren, dafür aber von sehr schlechter Qualität.

Nach Angaben aus der Industrie nimmt die Zahl der Fälschungen im Nahrungsmittelbereich deutlich zu. "Das klingt zunächst einmal absurd, ist aber ein großes Problem, das ernst genommen werden muss, weil es massiv die Gesundheit der Verbraucher betrifft", sagt Ilka Halter, die sich beim deutschen Markenverband mit dem Thema befasst. Dies zeigte im vergangenen Jahr auf besonders dramatische Weise auch der Tod von mehr als zehn Kleinkindern in China, die mit gepanschter Babynahrung vergiftet worden waren. Das darin enthaltene Milchpulver war mit der Chemikalie Melamin versetzt.

Dass viele Hersteller von Konsumartikeln und Industriegütern unter Produktpiraterie leiden, ist nicht neu. "In der Lebensmittelbranche ist dies aber ein relativ neues Phänomen", ergänzt Halder. Viele der betroffenen Unternehmen tun sich schwer damit, dies offiziell einzugestehen. "Die meisten Fälle werden stillschweigend beseitigt", sagt Peter Schommer, Partner der Unternehmensberatung Ernst & Young und Initiator einer Studie zu Produktfälschungen. "Lebensmittel sind Vertrauenssache. Wenn ein Hersteller offen zugibt, dass seine Produkte gefälscht wurden, schürt das Misstrauen bei den Verbrauchern." Viele Hersteller befürchteten herbe Umsatzeinbrüche und einen Imageschaden.

Auch bei Ferrero Rocher gibt man sich zugeknöpft im Umgang mit Produktnachahmern. Bei der deutschen Tochtergesellschaft des Unternehmens hieß es, dass man dazu keine Auskunft geben könne. Beim weltweit größten Nahrungshersteller Nestlé fällt die Antwort ebenfalls knapp aus. In Europa seien keine Fälschungen bekannt, heißt es in einer Stellungnahme. Außerhalb seien jedoch immer wieder Fälschungen der Nestlé-Marken Nescafé und Maggi festzustellen, räumt der Konzern ein. Diese stammten häufig aus China.

Zum wirtschaftlichen Schaden, der dadurch entsteht, wollte sich der Schweizer Konzern nicht äußern. "Viele Unternehmen erfassen den Verlust nicht systematisch. Deshalb lässt sich der Schaden, den Fälscher anrichten, kaum abschätzen", meint Schommer. Europaweit gehen der gesamten Konsumgüterbranche nach Berechnungen von Ernst & Young durch Fälschungen jährlich etwa 35 Milliarden Euro an Umsatz verloren. Allein 2007 zogen Zollbeamte in Europa mehr als fünf Millionen gefälschte Lebensmittel aus dem Verkehr.

Die Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher sein, weil nur fünf Prozent der in Umlauf befindlichen Waren kontrolliert werden.

Die Bandbreite der nachgemachten Lebensmittel ist groß, sie reicht von geräuchertem Schinken über Süßwaren bis zu Babynahrung und Getränken. Als eine Hochburg für Lebensmittelfälscher gilt China. Betroffen ist davon auch der Gummibärchenhersteller Haribo. "Es kommt immer wieder vor, dass in China Imitationen unserer Goldbären auftauchen", so ein Firmensprecher. Meist seien diese aber auf den ersten Blick also solche erkennbar, weil entweder das Logo oder andere Details auf der Verpackung nicht stimmten. Dagegen vorzugehen sei schwierig. In Europa seien diese Fälschungen bislang nicht aufgetaucht.

Auf den europäischen Markt gelangt dagegen nach Angaben von Ernst & Young gefälschte Ware aus Osteuropa. Vertrieben werden die Produkte überwiegend über die gleichen Kanäle wie die Originale. 37 Prozent der Imitate wurden demzufolge im Einzelhandel entdeckt, 33 Prozent im Großhandel. Auch das Internet gewinne als Umschlagplatz an Bedeutung, ergänzte Schommer.

Ein Anreiz für Fälscher in Europa sind vor allem hochwertige Lebensmittel wie Champagner oder Kaviar. Immer wieder wird im Einzelhandel auch italienischer Parmaschinken entdeckt, der diesen Titel zu Unrecht trägt. Nur Schinken, der wirklich in der Region Parma hergestellt wurde, darf mit dieser Bezeichnung verkauft werden. "Hinter diesen Betrugsfällen stecken häufig mafiöse Strukturen", ergänzt Halder vom Markenverband, "die kriminelle Energie der Fälscher ist hoch", sagt sie. Im Gegensatz etwa zu Drogenhändlern müssten Lebensmittelfälscher kaum mit gravierenden Strafen rechnen. "Die Chance, Gewinne zu machen, ist nahezu ohne Risiko, weil in vielen Ländern die entsprechenden Gesetze fehlen", ergänzt Halder.

GRÜNE WOCHE

vom 16. bis 25. Januar 2009

Echt und unverfälscht: Küken unter einer Wärmelampe auf der Messe. Es präsentieren sich in diesem Jahr 1600 Aussteller aus 56 Ländern. Foto: AP

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Eva Beuys Künstler-Witwe und Hüterin des Nachlasses

Witwen berühmter Männer genießen nicht gerade den besten Ruf. Sie gelten als streitbar, klagefreudig und als allzu eifrige Gralswächterinnen des Lebenswerks ihrer verstorbenen Gatten. Als beispielhaft für das zweifelhafte Image der Künstler-Witwen können ein paar böse Zeilen des französischen Dramatikers André Roussin gelten: "Das allerschlimmste Weib, das Gott im Zorn erschuf, . . . die Witwe von Beruf." Doch die 75-jährige Eva Beuys, deren Mann, der Künstler Joseph Beuys, im Jahr 1986 starb, hat sich ihr Schicksal - und ihren Ruf - nicht aussuchen können. Schon kurz nach Beuys' Tod sah sie sich, noch am Boden zerstört, mit jeder Menge offener Sammler-Rechnungen konfrontiert, mit Fälschungen - und, als Alleinerbin, mit einem immensen Nachlass, den es zu erfassen galt. Der Schamane mit dem Filzanzug, der den "Erweiterten Kunstbegriff" erfand und derzeit in einer großartigen Retrospektive in Berlin gefeiert wird, hatte ein schier unüberschaubares Ouvre erschaffen, von Großskulpturen über Performances bis zum winzigsten Multiple-Objekt.

Seit 23 Jahren zieht die extrem öffentlichkeitsscheue Eva Beuys, von der es keine neuen Fotos gibt, und die mit ihren Kindern Jessyka und Wenzel den Nachlass betreut, nun schon für die Urheberrechte der Kunst ihres Mannes zu Felde - und musste auch schon mehrmals wegen des Vorwurfs, Beuys sei Antisemit gewesen, prozessieren. "Mein Mann war von der Katastrophe von Auschwitz geprägt", sagt sie dazu. Als die Beuys-Sammler Franz Joseph van der Grinten und sein inzwischen verstorbener Bruder Hans im Jahr 1997 das von Nordrhein-Westfalen geförderte Museum Schloss Moyland in Bedburg-Hau bei Kleve mit ihrer Kollektion eröffneten, zogen sie Eva Beuys weder im Vorfeld zu Rate, noch luden sie zur Eröffnung ein.

Mehr noch: "Frau Beuys hat Rechtstitel, aber die haben nichts mit ihrer Sachkenntnis zu tun", kanzelte Hans van der Grinten die Witwe ab. Die Museums-Stifter erwiesen sich selbst nicht als kompetenter. Einen Beuys-Entwurf für eine Klinik benannte man einfach in "Gräberfeld" um und stellte ihn dem Bundestag zur Verfügung. Auch wurden Materialien in Beuys-Werken durch andere ersetzt. Von Schloss Moyland initiierte Ausstellungen scheiterten, so der Familienanwalt Gerhard Pfennig, unter anderem an der Frage, ob alle Werke Originale seien; der Katalog einer weiteren Schau kam nicht zustande. Das Zehn-Jahres-Jubiläum des Museums wurde nicht begangen - Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, CDU, war ausgeladen worden und sagte die Veranstaltung daraufhin ab.

Schon länger gewinnt man den Eindruck, das Land NRW wolle den Problemfall Moyland aussitzen. Nun zog Eva Beuys endgültig die Reißleine: Sie fordert die Herausgabe zahlreicher Werke, die Beuys den Brüdern van der Grinten zu Lebzeiten zwar anvertraut, aber nie verkauft habe - sowie Teile des "Joseph-Beuys-Archivs", die nie ins Eigentum der Stiftung übergegangen seien. Die Konvolute sollen in eine neu zu gründende Einrichtung in Düsseldorf eingebracht werden. Es ist fraglich, ob van der Grinten Ehre und Profil seines Museums noch retten kann. Holger Liebs

Foto: Imagno

Beuys, Eva SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Sozialistische Staaten von Amerika"

Die Rezession wird die Präsidentschaft Barack Obamas auf Jahre hinaus überschatten

Von Nikolaus Piper

New York - Barack Obama hat die Wahl am 4. November mit der Forderung nach "Wechsel", gewonnen. Die Mehrheit vor allem der jungen Amerikaner haben das Gefühl, ihr Land habe sich acht Jahre lang in die falsche Richtung bewegt. Die Sehnsucht nach Umkehr verwandelte der junge Senator aus Illinois in Wählerstimmen. Doch im Laufe des Wahlkampfs hat sich die Bedeutung des Wortes "Change" gewandelt. Zwar geht es immer noch um die Gesundheitsreform, mehr Geld für die Schulen oder erneuerbare Energie. Das zentrale Thema aber ist die Wirtschaftskrise. Obama muss ein Land regieren, das sich gewandelt hat, aber zum Schlechteren. Die Vereinigten Staaten stecken in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression. Der gesamte Finanzsektor und die Autoindustrie stehen faktisch unter Staatskontrolle. "Wir leben in den Vereinigten Sozialistischen Staaten von Amerika," spottet der Ökonom Nouriel Roubini.

Die Erwartungen an Obama sind übermenschlich. Von dem 47-Jährigen hängt ab, ob der Absturz ins Bodenlose gestoppt wird. Die Risiken zeigen sich vor allem im Staatshaushalt: Der Präsident muss die Konjunktur mit Ausgaben in beispielloser Höhe stabilisieren und zugleich verhindern, dass Zweifel an der Solidität der Finanzen aufkommen.

Eines der Wahlkampfthemen Obamas war die unsolide Haushaltspolitik seines Vorgängers George Bush. Doch die Zahlen, um die es im vergangenen Frühjahr ging, wirken lächerlich im Vergleich zur heutigen Realität. Nach der jüngsten Schätzung des Haushaltsbüros des amerikanischen Kongresses wird das Defizit dieses Jahres auch ohne neues Konjunkturprogramm auf 1,2 Billionen Dollar steigen; die Ursache sind Steuerausfälle wegen der Wirtschaftskrise, Mehrausgaben für Arbeitslose und vor allem das Rettungsprogramm für die Banken (bisher 350 Millionen Dollar). Das Defizit entspricht 8,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Solche Werte hat Amerika zuletzt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Nach dem Europäischen Stabilitätspakt dürfen sich Regierungen für höchstens drei Prozent des BIP neu verschulden.

Nun haben aber Obama und die Demokraten ein Konjunkturpaket von 825 Milliarden Dollar über zwei Jahre beschlossen. Dadurch wird sich das Defizit nach einer Studie der Deutschen Bank auf 11,1 Prozent des BIP erhöhen, ein Wert, der in einem Entwicklungsland als Indiz für den drohenden Staatsbankrott gelten würde. In Amerika gibt es derartige Sorgen nicht. Die Renditen amerikanischer Staatspapiere bewegen sich in der Nähe historischer Tiefststände - ein Zeichen fast grenzenlosen Vertrauens in die Sicherheit dieser Papiere. Amerika gilt weiter als sicherer Hafen. Obama kann mit seiner Politik nur Erfolg haben, wenn es ihm gelingt, dieses Vertrauen trotz der schockierenden Zahlen zu bewahren.

Die Gefahren sind groß. Sobald ausreichend viele Anleger glauben, wegen der hohen Staatsschulden könne die Inflation steigen, dann gehen auch die Zinsen in die Höhe, die Belastung des Haushalts wird größer und private Kreditnehmer werden von den Märkten verdrängt. Diese Wirkung mit Namen "Crowding-Out-Effekt" ist in anderen Ländern nach einem exorbitanten Anstieg der Staatsverschuldung aufgetreten, zum Beispiel in Schweden 1992. Der neue Präsident steht vor einem Balanceakt: Er muss die Staatsschulden zurückführen, aber er darf es nicht zu früh tun, um den Aufschwung nicht zu gefährden, aber auch nicht zu spät, um private Investitionen nicht abzuschrecken.

Der Prozess der Umsetzung eines Konjunkturpakets birgt dabei eigene Gefahren. Wenn der Staat plötzlich Hunderte Milliarden Dollar ausgibt, strömen Heerscharen Lobbyisten und Interessengruppen nach Washington, um sich ihren Anteil zu sichern. Es ist fast unvermeidlich, dass ein Teil des Geldes in Gefälligkeitsprojekte gehen wird. Viele Kongressabgeordnete werden versuchen, mit dem Geld Industriepolitik zu betreiben. Einige der möglichen Projekte passen zu den Zielen Obamas, etwa Investitionen in erneuerbare Energien und in die Infrastruktur, andere vermutlich nicht. Es wird schwer für Obama, unter diesen Bedingungen einen neuen, ehrlichen Stil einzuführen. Als bemerkenswerte Vorsichtsmaßnahme schuf Obama ein neues Amt im Weißen Haus: den Chief Performance Officer. Die erste Inhaberin, die frühere McKinsey-Beraterin Nancy Killefer, soll jede Verschwendung im Budget bekämpfen.

Schließlich sind die mittelfristigen Haushaltsrisiken nicht abzusehen. Weil die Bevölkerung altert, drohen die Ausgaben für die Sozialversicherung und die Krankenversicherung der Rentner nach 2018 das Budget zu sprengen, und zwar unabhängig von den jetzt beschlossenen Schulden. Vom neuen Präsidenten wird viel mittelfristiges Denken verlangt.

Das Haushaltsdefizit ist so groß wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

Warten auf den Retter

Den großen Wechsel, auf englisch: Change, hat Barack Obama den Amerikanern versprochen. Sie haben ihn gewählt, am Dienstag tritt er sein Amt an. Jetzt muss er sich der Realität dieser schwierigen Aufgabe stellen. Er wird weniger Gelegenheit haben zu gestalten, als er am Anfang des Wahlkampfes noch hoffte. Die maroden Schulen oder die schlechte Infrastruktur des Landes, die sich etwa in einem mangelhaften Straßennetz zeigt, werden auf eine Erneuerung warten müssen. Zunächst geht es darum, das Land mit riesigen Milliardenbeträgen aus der Wirtschaftskrise zu führen und ganze Branchen wie die Banken oder die Autoindustrie zu retten.

Der neue Präsident Barack Obama verbreitet die Hoffnung auf Wandel. Die 300 Millionen Amerikaner erwarten von ihm nicht weniger als die Lösung der Wirtschafts- und Finanzprobleme. Möglicherweise muss er im Laufe seiner Präsidentschaft viele enttäuschen. Foto: AP

Regierung Obama 2009 Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 Wirtschaftslage in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Gerangel um Merckles Erbe

Finanzinvestoren prüfen bereits die Übernahme des Baustoffkonzerns Heidelberg-Cement. Doch der Verkauf wird noch dauern

Von Martin Hesse

Frankfurt - Um das unternehmerische Erbe des verstorbenen Milliardärs Adolf Merckle formieren sich erste Interessenten. In Finanzkreisen hieß es am Freitag, eine Reihe von Finanzinvestoren prüfe gemeinsam eine Übernahme des Baustoffkonzerns Heidelberg-Cement. Der Kurs des im Nebenwerteindex MDax notierten Unternehmens sprang zeitweise um mehr als zehn Prozent. Der Verkaufsprozess steht jedoch erst ganz am Anfang. Auch das Herz von Merckles Firmengruppe, der Generikahersteller Ratiopharm, soll veräußert werden, möglicherweise kommt der Pharmagroßhändler Phoenix ebenfalls zum Verkauf.

Adolf Merckle hatte sich am 5. Januar das Leben genommen. Zuvor hatte er noch ein Abkommen unterzeichnet, das den Gläubigerbanken weitgehenden Zugriff auf seine Firmen gewährte. Merckles Holding VEM Vermögensverwaltung war in Probleme gekommen, weil einige ihrer Firmenbeteiligungen stark an Wert verloren und die Banken mehr Sicherheiten verlangten. Über VEM und andere Vehikel hielt die Familie Merckle an Heidelberg-Cement etwa 80 Prozent.

VEM hatte erst vor einigen Tagen die Investmentbank Morgan Stanley beauftragt, den Baustoffkonzern zu sanieren. Zwar ist Heidelberg-Cement profitabel, hat sich aber mit der Übernahme des britischen Konkurrenten Hanson 2007 übernommen. Gut zwölf Milliarden Euro Schulden steht ein Eigenkapital von 9,5 Milliarden Euro gegenüber. Zweimal hatte Merckle den Kauf von Hanson unterstützt, indem er Kapitalerhöhungen trug. Jetzt fehlt diese Unterstützung. Allein nächstes Jahr müssen mehr als fünf Milliarden Euro umgeschuldet werden. Heidelberg-Cement will in Verhandlungen mit den Banken nun zum einen eine Streckung der Schulden erreichen und die Auflagen lockern. Zum anderen stehen Teilbereiche zur Disposition. Letztlich gilt jedoch ein Komplettverkauf als wahrscheinlich.

Nach Angaben aus Finanzkreisen prüfen die Investmentbank Goldman Sachs und die Beteiligungsgesellschaften Bain Capital und TPG gemeinsam, ob sie sich an Heidelberg-Cement beteiligen wollen. Goldman Sachs hatte Heidelberg-Cement noch beim Hanson-Kauf beraten und kennt den Konzern daher gut. Über ihre Beteiligungssparte ist die Bank in Deutschland bereits an dem Gabelstapler-Konzern Kion beteiligt sowie an Xella - wie Heidelberg-Cement ein Baustoffkonzern. Es heißt, für Goldman und die möglichen Partner TPG und Bain komme nur ein Komplettkauf in Frage.

Neben der Gruppe um Goldman wird dem französischen Finanzinvestor PAI Interesse nachgesagt. Auch Wettbewerber wie KKR oder CVC könnten sich den Konzern ansehen. Zwar hat die Finanzkrise Beteiligungsgesellschaften hart getroffen, weil sie ihre Übernahmen nicht wie gewohnt mit hohen Schulden finanzieren können. Diese Vorgehensweise schließt sich bei Heidelberg-Cement wegen der hohen Verschuldung ohnehin aus. Doch verfügen Finanzinvestoren über reichlich Kapital. Allein CVC meldete am Freitag, für einen neuen Fonds elf Milliarden Euro eingesammelt zu haben.

Um Heidelberg-Cement dürften neben den Finanzinvestoren auch Unternehmen aus der Branche buhlen. Genannt wurde bereits der Schweizer Konzern Holcim, der allerdings selbst unter dem Wirtschaftsabschwung leidet und angekündigt hat, seine Investitionen reduzieren zu wollen. Weitere große Wettbewerber sind die französische Lafarge sowie Cemex aus Mexiko.

Da noch kein Verkaufsprozess oder eine Prüfung der Bücher begonnen hat, rechnen Beobachter damit, dass sich der Verkauf von Heidelberg-Cement noch einige Monate hinzieht. Das gilt erst recht für Ratiopharm. VEM sucht derzeit einen Treuhänder, der den Verkauf des Generikaherstellers organisiert, zunächst wird ein Bewertungsgutachten für die nicht börsennotierte Firma erstellt.

Ein Arbeiter im Heidelberger Zementwerk: Es kursieren Verkaufsgerüchte um den Baustoff-Konzern. Foto: dpa

Merckle, Adolf HeidelbergCement AG: Firmenübernahme Ratiopharm GmbH: Verkauf VEM Vermögensverwaltung GmbH SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Großer Streit ums kleine Fach

Es geht um ein kleines Schulfach in Berlin: Religion. Eine Initiative hat fast 200 000 Unterschriften gesammelt, damit setzt sie nun gegen den rot-roten Senat eine Abstimmung durch, in der die Bürger entscheiden sollen, ob Religion gleichberechtigt mit Ethik unterrichtet werden soll. Der Erfolg kommt überraschend: Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als würde "Pro Reli" scheitern. Dass es nun anders kommt, macht das Schulfach zum bundesweiten Politikum.

Es geht um das Staat-Kirche-Verhältnis: Selten in der deutschen Nachkriegsgeschichte standen Staat und Kirche in derartiger Gegnerschaft wie jetzt in Berlin. Der Senat hat mit einiger Anmaßung sein Modell der säkularen Lebens- und Religionskunde vorangetrieben, als müsse der Staat als Sinnstifter auftreten. Die Kirchen haben sich mit einer Kampagne gewehrt, die auch vielen Christen in ihrer Vereinfachung unangenehm wurde. Aber sie war erfolgreich, vorerst jedenfalls. Der große Streit ums kleine Fach wird die Kirchen ermutigen, ihre Anliegen offensiver, auch aggressiver zu vertreten; das wird jene reizen, die eine stärkere Trennung von Staat und Kirche wünschen. Es wird schwieriger zwischen Partnern, die gewohnt waren, Streitigkeiten geräuscharm zu klären.

Und dann zeigt der Streit um Reli, wie viel Religion selbst dort noch lebt, wo Christen eine Minderheit sind. In Berlin sind sie das, und doch wünschen überraschend viele Menschen einen konfessionellen Religionsunterricht. Sie können vielleicht nicht mehr sagen, ob es sieben oder zehn Gebote gibt. Aber sie wollen, dass ihre Kinder etwas über den Glauben erfahren. Davon gibt es mehr, als der Berliner Senat denkt. Wenn auch anders, als die Kirchen sich erhoffen. mad

Unterrichtsfach: Religion Schulwesen in Berlin Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neue Achsen braucht die Bahn

Wie viel Glück der Mensch hat, wie viel Pech ihm erspart bleibt, das erfährt er glücklicherweise fast nie. Bei der Bahn ist das ähnlich. In langsamer Fahrt entgleiste im vorigen Sommer in Köln ein ICE, die Achse war gebrochen. Das hätte auch kurz vorher oder kurz nachher passieren können, die Folgen wären katastrophal gewesen. Die Bahnmechaniker, durch den Achsbruch besonders aufmerksam, fanden kurz danach winzige Risse bei anderen ICE. Was noch alles hätte passieren können - keiner weiß es.

Sicher ist, dass die Achsen der betroffenen ICE-Baureihen seitdem zu den meistgeprüften Bauteilen Deutschlands gehören. Wenig wird seit dem Achsbruch so akribisch, so häufig untersucht wie der Zustand ihres Stahls. Was Bahnkunden beruhigen kann, ist für die Bahn ein ziemliches Ärgernis. Prüfen kostet viel Geld, Züge fehlen, Fahrpläne geraten durcheinander. Bahnchef Mehdorn möchte die Mehrkosten bei der Industrie eintreiben. Schließlich hat man die Achsen gekauft, damit sie rollen, möglichst viel und möglichst lange. Und deshalb hätte Mehdorn auch gern eine Zusicherung, wie lang eine solche Achse garantiert ohne Bruch fahren kann. Die Hersteller schweigen.

Aus gutem Grund. Gäbe es dann doch früher einen Achsbruch, einen verheerenden Unfall, müssten sie womöglich haften. Kein Hersteller wird dieses Risiko auf sich nehmen. Auch ist noch nicht erwiesen, dass Materialfehler allein schuld waren am Beinahe-Unglück in Köln. Nein, sie werden noch eine Weile streiten über das wichtigste Bauteil eines Hochgeschwindigkeitszugs. Irgendwann werden die Achsen vielleicht gegen solche aus besserem Stahl ausgetauscht. Dann wären alle Beteiligten aus dem Schaden sogar noch klug geworden. miba

Intercity Express (ICE) Pannen und Verspätungen im Bahnverkehr Sicherheit bei der Bahn Produkthaftung in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Nur solange das Geld reicht

Bundesamt für Wirtschaft richtet Hotline für Abwrackprämie ein

Berlin - Die Bundesregierung hat die praktischen Details für die Auszahlung der neuen Verschrottungsprämie für Altautos geregelt. Die 2500 Euro werden vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) ausgezahlt. Die Behörde hat für interessierte Bürger unter der Nummer 06196/908470 eine Telefon-Hotline freigeschaltet.

Die Prämie kann seit dieser Woche jede Privatperson erhalten, die ihr mindestens neun Jahre altes Auto verschrottet und gleichzeitig einen Neu- oder Jahreswagen ab Schadstoffklasse 4 kauft und zulässt. Der bisherige Wagen muss mindestens ein Jahr auf den Halter zugelassen gewesen sein. Die Regelung gilt nur für Zulassungen bis zum 31. Dezember. Mit der eingeplanten Summe von 1,5 Milliarden Euro können maximal 600 000 Prämien bezahlt werden. Wenn das Geld verteilt ist, ist Schluss.

Als Neufahrzeuge gelten Autos, die zum ersten Mal und in Deutschland zugelassen werden und mindestens die Euro-4-Abgasnorm erfüllen. Als Jahreswagen gelten Pkw, die längstens ein Jahr auf einen in Deutschland niedergelassenen Kfz-Händler oder Kfz-Hersteller zugelassen waren. Für die Verschrottung erhält der Autobesitzer von anerkannten Demontagebetrieben einen Verwertungsnachweis, den er zusammen mit dem Stillegungsnachweis von der Kfz-Zulassungsstelle für den Antrag bei der Bafa (www.bafa.de) braucht. Der Antragsteller muss bei der Behörde nachweisen, dass das Altfahrzeug ihm gehörte und auch das Neufahrzeug auf ihn zugelassen ist. Mit der Beantragung kann der Neuwagenkäufer auch den Händler beauftragen.

Fachleute rechnen damit, dass die Prämie 2009 den Kauf von etwa 300 000 Neuwagen zusätzlich auslöst. Wer bald ein neues Auto kauft, sollte zudem beachten, dass die Kraftfahrzeugsteuer zum 1. Juli hauptsächlich nach dem Kohlendioxidausstoß berechnet werden soll. Umweltverbände kritisierten die Abwrackprämie als "ökologisch fragwürdig". AP

Konjunkturpaket II der Bundesregierung 2009 Autorecycling in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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100 Milliarden Dollar für Schulen und Studenten

"Klug zu sein war noch nie so cool wie heute" verkündete der neue US-Bildungsminister Arne Duncan

in der vergangenen Woche, und versprühte dabei einen Optimismus, den der bisherige Schulintendent aus Chicago für seinen neuen Posten brauchen wird. Das US-Schulsystem muss dringend saniert werden, in manchen Großstädten des Landes liegt die Schulabbrecherquote bei über

50 Prozent, überall fehlen Lehrer.

Die College-Gebühren sind in den letzten fünf Jahren drastisch gestiegen, im Durchschnitt verlässt jeder College-Absolvent die Hochschule mit 19 000 Dollar Schulden im

Gepäck.

Fast 100 Milliarden Dollar aus dem Konjunktur-

paket hat der US-Bewilligungsausschuss nun für

eine umfangreiche Bildungsoffensive in Aussicht

gestellt. Rund 80 Milliarden sind für Neugründungen von Schulen und verschiedene Bildungsprogramme vorgesehen, weitere 16 Milliarden für die finanzielle Unterstützung von College-Studenten, zum Beispiel

in Form von höheren Bildungskrediten. Öffentliche

Schulen sollen besonders gefördert und zunehmend als Ganztagsschulen und "Gemeinschaftszentren" konzipiert werden, die abseits des Lehrplans auch praktische Lebenshilfe bieten - etwa medizinische und soziale Dienstleistungen für bedürftige Schüler. Als Herzstück der Bildungsoffensive gilt die Reform des "No child left behind", eines Bildungsgesetzes

der Bush-Regierung. Das Gesetz, das seit 2002 in Kraft ist, wird scharf kritisiert, die Lehrergewerkschaft NEA bezeichnete es kürzlich als "gescheitert". Unter dem "No child"-Gesetz wurden flächendeckende Leistungstests eingeführt, bei denen Schulen, deren

Schüler bei diesen Prüfungen schlecht abschneiden, weniger Fördergelder vom Staat bekommen.

Es gibt viel zu tun für den 44 Jahre alten Schulexperten aus Chicago, der wie Obama die Elite-Universität Harvard besuchte. Nach seinem Abschluss in

Soziologie verdiente Duncan zwischenzeitlich

sein Geld als Basketballprofi in Australien. Die Leidenschaft für diesen Sport verbindet den neuen Präsidenten und seinen Bildungsminister: Kennengelernt

hatten sich beide in den achtziger Jahren auf den Basketballplätzen Chicagos. Simone Lankhorst

Duncan, Arne: Karriere Maßnahmen zur Konjunkturbelebung in den USA 2009 Bildungswesen in den USA Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Aktuelles Lexikon

BAFA

"Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle" (BAFA) - das klingt nicht gerade nach einer besonders aufregenden Behörde. Doch das Amt, das zum Wirtschaftsministerium gehört, hat durchaus brisante Aufgaben: Es kontrolliert nicht nur die deutsche Rüstungsausfuhr, sondern prüft etwa auch, ob deutsche Werkzeugmaschinen im Ausland zum Bau von Massenvernichtungswaffen missbraucht werden. Das Amt mit Sitz in Eschborn bei Frankfurt ist also verantwortlich für die nationale Sicherheit und den internationalen Frieden. Neben der Außenkontrolle kümmert sich das BAFA auch um den Bereich Energie. 600 Mitarbeiter betreuen die Förderprogramme, die das Wirtschaftsministerium für diese Branche entwickelt hat. Jetzt hat das BAFA eine neue Aufgabe übernommen: Es soll die Vergabe der Abwrackprämien regeln. Die Prämie in Höhe von 2500 Euro wird an Personen gezahlt, die bis 31. Dezember ihr mindestens neun Jahre altes Auto der Schadstoffklasse 4 verschrotten lassen, und sich dafür einen Neuwagen zulegen. Insgesamt 1,5 Milliarden Euro wurden für das Programm bereitgestellt, das reicht für 600 000 Prämienzahlungen. Das BAFA soll nicht nur das Geld verteilen, sondern auch prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind. Der Ansturm der Bürger dürfte nicht auf sich warten lassen: Die Telefon-Hotline, die das Amt am Freitag eingerichtet hat, lief bereits am ersten Tag heiß.lawe

"Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle" (BAFA) - das klingt nicht gerade nach einer besonders aufregenden Behörde. Doch das Amt, das zum Wirtschaftsministerium gehört, hat durchaus brisante Aufgaben: Es kontrolliert nicht nur die deutsche Rüstungsausfuhr, sondern prüft etwa auch, ob deutsche Werkzeugmaschinen im Ausland zum Bau von Massenvernichtungswaffen missbraucht werden. Das Amt mit Sitz in Eschborn bei Frankfurt ist also verantwortlich für die nationale Sicherheit und den internationalen Frieden. Neben der Außenkontrolle kümmert sich das BAFA auch um den Bereich Energie. 600 Mitarbeiter betreuen die Förderprogramme, die das Wirtschaftsministerium für diese Branche entwickelt hat. Jetzt hat das BAFA eine neue Aufgabe übernommen: Es soll die Vergabe der Abwrackprämien regeln. Die Prämie in Höhe von 2500 Euro wird an Personen gezahlt, die bis 31. Dezember ihr mindestens neun Jahre altes Auto der Schadstoffklasse 4 verschrotten lassen, und sich dafür einen Neuwagen zulegen. Insgesamt 1,5 Milliarden Euro wurden für das Programm bereitgestellt, das reicht für 600 000 Prämienzahlungen. Das BAFA soll nicht nur das Geld verteilen, sondern auch prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind. Der Ansturm der Bürger dürfte nicht auf sich warten lassen: Die Telefon-Hotline, die das Amt am Freitag eingerichtet hat, lief bereits am ersten Tag heiß.

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Olmerts angeblicher Sieg ist eine Niederlage

Verwüstung in Gaza, mehr Unsicherheit in Israel - nach der Offensive steht es schlechter als zuvor

Von Thorsten Schmitz

Seit Wochen ist die halbe Welt damit beschäftigt, den Gaza-Krieg durch eine anhaltende Waffenruhe zu ersetzen. Keine Mühen, keine Reisen werden gescheut, um Israel und die radikal-islamische Hamas davon zu überzeugen, dass Raketen weder Frieden noch Freiheit bringen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat sein Büro in New York verlassen, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy den Elysee-Palast, sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel am Wahlsonntag Berlin, um die brüchige Waffenruhe abzusichern und den Wiederaufbau des Gaza-Streifens zu koordinieren. Doch Herrscherin über Krieg und Ruhe bleibt die Hamas. Eine Woche lang will auch sie nun die Waffen schweigen lassen, aber wenn sich Israel bis dahin nicht aus dem Gaza-Staub gemacht hat, wieder Kassams abfeuern.

Was eigentlich hat Israels Vergeltungsoffensive, was hat der Gaza-Krieg gebracht - außer mehr als 1300 Tote, mehr als 5300 Verletzte und eine relativ unergiebige Krisendiplomatie? Israels Regierungschef Ehud Olmert verkündet, das Ziel der Offensive sei erreicht worden. Doch bislang ist er eine Erklärung schuldig geblieben, was das Ziel des Kriegs gegen Hamas überhaupt gewesen ist. Nur vage hat er davon gesprochen, man wolle die Sicherheitssituation im Süden Israels ändern. Aber allein in den vergangenen drei Wochen haben Hamas-Terroristen mehr als 700 Raketen auf Israel abgefeuert. So redet sich Olmert kurz vor Ende seiner Amtszeit seinen zweiten Krieg schön - wie er es bereits beim Libanonkrieg getan hat.

Hamas mag zerstritten sein und mehrere hundert Kämpfer verloren haben, doch die Mehrheit der 1,5 Millionen Menschen im Gaza-Streifen sieht Israel als den Schuldigen an Verwüstung und Zerstörung. Der angebliche Sieg Israels, von dem Olmert spricht, ist in Wahrheit eine Niederlage. Die Offensive hat Hass und Wut gesät und Israel Unsicherheit gebracht. Anstatt sich darauf zu beschränken, die Tunnel zwischen Ägypten und Gaza zu bombardieren und dadurch die Versorgung der Hamas mit Waffen und Munition zu stoppen, hat Israel den Gaza-Streifen flächendeckend mit einem Krieg überzogen, der auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung war.

Israels Offensive führt auch die Machtlosigkeit der internationalen Staatengemeinschaft vor Augen. Sie besitzt keine einheitliche Strategie im Nahost-Konflikt, reagiert immer nur dann, wenn es längst brennt, und verfügt noch nicht einmal über den Einfluss, Ägypten zur wirksamen Kontrolle seiner Grenze zu zwingen. Wenn das Ergebnis des Gaza-Kriegs nur die vage formulierte Vereinbarung zwischen Israel und den USA über die Grenzkontrolle im Süden des Gaza-Streifens und eine internationale Konferenz ist, welche die Tunnelwirtschaft beenden und zum Wiederaufbau beitragen soll, zeigte das zweierlei: Um die Beziehungen zwischen Jerusalem und Kairo ist es trotz Friedensvertrags nicht gut bestellt. Und der Gaza-Krieg war überflüssig.

Olmert, Ehud: Zitate Zivile und militärische Opfer im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Modell FDR

Franklin D. Roosevelt schaffte in seinen ersten 100 Tagen im Amt die Wende in der Weltwirtschaftskrise

Von Nikolaus Piper

New York - Kaum einer der Vorgänger Barack Obamas wird in diesen Tagen so oft zitiert wie Franklin Delano Roosevelt, der am 4. März 1933, dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise, sein Amt antrat. Roosevelts als "New Deal" bekannt gewordenes Wirtschaftsprogramm ist bis heute hoch umstritten. Konservative Republikaner glauben, dass er die Krise nur unnötig verlängert hat. Für linke Demokraten ist er der Retter des Landes, manche bezeichnen sich heute noch als "New-Deal-Demokraten". Unbestritten ist dagegen, dass der 32. Präsident in seinen ersten 100 Tagen die USA in einer verzweifelten Lage stabilisiert hat.

Am Vorabend des Amtsantritts von "FDR" war mehr als ein Viertel aller arbeitsfähigen Amerikaner arbeitslos. In Industriestädten wie Toledo (Ohio) lag die Quote bei 80 Prozent. Die New Yorker Börse hatte für unbestimmte Zeit geschlossen, in den meisten Bundesstaaten war keine einzige Bank mehr geöffnet. An diesem Abend soll ein Besucher zu Roosevelt gesagt haben: "Wenn Sie Erfolg haben, werden Sie der größte Präsident in der Geschichte der USA sein." Worauf Roosevelt antwortete: "Und wenn ich scheitere der letzte."

Roosevelts Erfolg begann mit seiner Antrittsrede: Dort verlangte er Vollmachten wie im Krieg und sagte den legendären Satz: "Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst". Tags drauf verkündete er einen "Bankfeiertag". Alle Kreditinstitute wurden für vier Tage geschlossen; anschließend durften die meisten wieder öffnen, allerdings erst nachdem sie vom Finanzministerium überprüft wurden. Sie hatten nun das staatliche Siegel der Unbedenklichkeit und bekamen frisches Geld, die anderen verschwanden vom Markt. Der Kreditverkehr normalisierte sich. Der Bankfeiertag war zwar willkürlich, er führte zur Enteignung vieler Sparer, aber er war letztlich ein Geniestreich, der die Bankenkrise auf einen Schlag beendete.

Mit dem Bankgesetz begannen die berühmten ersten 100 Tage Roosevelts. In schwindelerregendem Tempo beschloss die Regierung ein Gesetz nach dem anderen. Rooseveelt führte eine staatliche Versicherung von Bankeinlagen ein, die Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC). Sie hat das Zeitalter des klassischen Bankenkrachs beendet und spielt derzeit eine wichtige Rolle bei der Beruhigung der Stimmung in den USA. Roosevelt hob die Bindung des Dollar an das Gold auf und löste so eine dramatische Abwertung des Dollar aus. Das erleichterte amerikanische Exporte, löste aber auch einen internationalen Abwertungswettlauf aus. Vor allem gab der Schritt der Notenbank Federal Reserve den Spielraum, die Zinsen zu senken.

Viele Maßnahmen waren widersprüchlich. Roosevelt beschäftigte Hunderttausende junger Amerikaner bei öffentlichen Arbeiten, gleichzeitig kürzte er die Gehälter von Regierungsangestellten und die Renten von Kriegsveteranen, um den Staatshaushalt auszugleichen. Er ließ Lebensmittel vernichten und versuchte, die landwirtschaftliche Produktion einzuschränken, um den Verfall der Agrarpreise zu stoppen. Die Lehren der Ökonomen John Maynard Keynes, wonach es in der Depression auf die Nachfrage ankommt, akzeptierte Roosevelt nie.

Vermutlich kannte er den Namen Keynes 1933 noch gar nicht. Unbestritten richtig allerdings war ein fundamentaler Schritt der Deregulierung: Am 13.März fiel die Prohibition; Bier, Wein und Whiskey waren wieder legal.

Am Ende hat Roosevelt die Abwärtsspirale der amerikanischen Wirtschaft gestoppt, es gelang ihm jedoch bis zum Zweiten Weltkrieg nicht, die Arbeitslosigkeit substantiell zu senken. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt lag die Quote noch bei 21 Prozent.

Mit seinem "New-Deal-Programm" holte Präsident Franklin Delano Roosevelt Amerika 1933 aus einer schweren Krise. Foto: Scherl

Roosevelt, Franklin D. Geschichte der USA Regierungen der USA Wirtschaftspolitik in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Russland weitet Einfuhrzölle aus

Von Silvia Liebrich

Berlin - Der Streit um Beihilfen für die Landwirtschaft zwischen Russland und Europa spitzt sich zu. Mit einer Ausweitung von Einfuhrzöllen erhöht die Putin-Regierung den Druck auf ausländische Landmaschinenhersteller. Die deutschen Produzenten Fendt und Claas befürchten dadurch deutliche Umsatzeinbrüche auf dem russischen Markt. Nachdem bereits Traktoren mit einem Zoll von 15 Prozent belegt sind, sollen künftig auch Mähdrescher und weitere Maschinen davon betroffen sein. Damit verteuern sich die Geräte für russische Käufer um mindestens 20 Prozent.

„Die Ausfuhr nach Russland wird dadurch zum Erliegen kommen", sagte Fendt-Geschäftsführer Hermann Merschroth am Freitag am Rande der Grünen Woche der SZ. Besorgt äußerte sich auch Claas-Geschäftsführer Lothar Kriszun: "Wir befürchten eine erhebliche Reduzierung des Geschäftsvolumens." Die vor wenigen Tagen angekündigten Einfuhrzölle waren den Angaben zufolge auch Gesprächsthema des Treffens von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Freitag in Berlin. "Die Bundeskanzlerin hat uns ihre Unterstützung zugesagt", ergänzte Merschroth.

Der russische Agrarminister Alexej Gordejew kritisierte seinerseits bei der Ernährungsmesse die Beihilfen der Europäischen Union für ihre Landwirtschaft. In der Debatte um eine gemeinsame Agrarpolitik von EU und Russland sehe er viele "Mythen" und "Unehrlichkeit". "Wir sprechen immer von Liberalisierung, aber es gibt immer noch Förderung." Für Betriebe auf beiden Seiten müssten gleiche Ausgangsbedingungen gelten, forderte Gordejew. Für die neuen Einfuhrzölle soll sich nach Branchenangaben vor allem der russische Hersteller Rostelmash stark gemacht haben.

Russland gilt als Wachstumsmarkt für Landmaschinentechnik. Der Zusammenbruch der früheren Sowjetunion hatte auch den Agrarsektor beinahe zum Erliegen gebracht. Seit einigen Jahren pumpt die Regierung wieder Millionen-Subventionen in die Landwirtschaft, um die Produktion anzukurbeln. Hohen Investitionsbedarf gibt es bei Landmaschinentechnik. Davon profitieren ausländische Hersteller wie Claas, Fendt und der US-Produzent John Deere. Die Finanzierung neuer Agrartechnik ist für russische Landwirtschaftsbetriebe ohnehin kaum zu bewältigen, weil die Zinssätze für Kredite bei mehr als 20 Prozent liegen und der Rubel deutlich an Wert einbüßte.

Claas ist seit den siebziger Jahren stark in den Staaten der früheren Sowjetunion engagiert. Russland sei für die Firma ein wichtiger Absatzmarkt, ergänzte Geschäftsführer Kriszun. Mit einem Marktanteil von 40 Prozent gilt Claas als der größte Hersteller von Mähdreschern in Europa und weist einen Gesamtumsatz von 3,2 Milliarden Euro aus. Bei Fendt hat man bereits auf die neuen Einfuhrzölle reagiert. Die für 2009 geplante Lieferung von 1700 Landmaschinen nach Russland sei um 200 reduziert worden, sagte Fendt-Geschäftsführer Merschroth. Nach seinen Eingaben beläuft sich der Einfuhrzoll für einen Fendt-Mähdrescher auf knapp 40 000 Euro.

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Jahr der Entscheidungen

Von Kurt Kister

Es spricht manches dafür, dass man das Wort "Superwahljahr" spätestens im Frühling nicht mehr hören mag. Mehr als ein Dutzend Wahlen stehen bevor, in Kommunen und Ländern, in Europa und im Bund. An diesem Sonntag geht es in Hessen los, am 27. September wird der neue Bundestag gewählt werden. In den kommenden Monaten wird die Politik in Deutschland weitgehend stillstehen, weil die Politiker anderes, nicht unbedingt Besseres zu tun haben werden.

Sie werden tatsächliche und vorgetäuschte Konflikte austragen, sie werden sich ritualisierte Wortgefechte liefern, und sie werden wieder einmal behaupten, in der nächsten Legislaturperiode nun endlich den Wechsel, das Neue, den Politikwandel herbeizuführen. Die Medien vom Fernsehen über die Presse bis zum Internet werden den inszenierten Antagonismus der Wahlkämpfer dankbar aufgreifen und verstärken.

Wie sollte ohne eine solche Verstärkung etwa ein TV-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier interessant sein? Die beiden strahlen nicht nur eine ähnlich gediegene Langeweile aus. Nein, sie sind in ihrem ideologiefreien Pragmatismus und, wenn man garstig sein möchte, in manchen Fällen auch in einer effizienten Prinzipienlosigkeit Stiefgeschwister im Geiste. Wahlkampfmanager, Kommentatoren und Parteienforscher müssen schon mächtig viel Luft in diese Konkurrenz blasen. Superwahljahr eben.

Der YSPD, also den Ypsilanti-Sozialdemokraten, ist es zu verdanken, dass das politische Jahr wie schon 2008 mit Wahlen in Hessen beginnt. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Wiesbaden demnächst eine schwarz-gelbe Mehrheit regieren wird, ist ziemlich groß. Der YSPD nebst den von ihr geschaffenen Abweichlern scheint es gelungen zu sein, Roland Koch zu stabilisieren, was er selbst nicht geschafft hätte. Das ist besonders bemerkenswert, weil es vor Jahresfrist in Hessen tatsächlich eine Wechselstimmung gegeben hat - die CDU stürzte ab, auch weil Koch wieder einmal als kalter Law-and-Order-Rabauke aufgetreten war.

Roland Koch kann ein Zyniker der Macht sein. Wenn er es für nötig oder gar für vorteilhaft hält, benutzt er auch die Vorurteile der Stammtische als Wahlkampf-Argumente. Unter den CDU-Kurfürsten, jenen braven Schwiegersöhnen, die nun allmählich junge Großväter werden, ist Koch der einzige Polarisierer. Das lässt ihn herausragen, aber es macht ihn auch unvermittelbar für höchste Aufgaben in der Bundespolitik. In den letzten Jahren war er Deutschlands umstrittenster Ministerpräsident. Er wird das wohl, so wie es heute aussieht, auch in den nächsten Jahren bleiben.

Glaubensfrage Linkspartei

Über Wortbruch, Intrige, Dilettantismus und Verrat in der hessischen SPD ist wahrlich genug gesagt und geschrieben worden. Was als Lehre aus dieser Opera buffa bleibt, ist die Tatsache, dass die Linkspartei weder für die Sozialdemokraten selbst noch für weite Teile der Bevölkerung, zumindest im Westen, eine Partei wie jede andere ist. Und das liegt nicht an der Gegenwart, sondern an der Vergangenheit.

Trotz neuer Mitglieder und trotz WASG geht der stärkste Wurzelstrang der Linkspartei nun einmal zurück auf die SED. Man mag dies, 20 Jahre nach dem Mauerfall, für irrelevant halten. Das tun viele Jüngere im Westen und wohl die Mehrheit im Osten. Aber es gibt auch viele in West und Ost, die keine SED-Nachfolgepartei wählen und auch nicht dazu beitragen wollen, dass es Koalitionen mit dieser Partei gibt. Wer die Ex-PDS aus moralisch-historischen Gründen prinzipiell ablehnt, muss kein dumpfer Anti-Kommunist sein. Genauso wenig sind die Sympathisanten dieser Partei alle DDR-Nostalgiker. Die Einschätzung der Linkspartei ist bis zu einem gewissen Grad eine Glaubensfrage - eine der wenigen verbliebenen politischen Glaubensfragen in einer Zeit, in der eine CDU-Kanzlerin Banken teilverstaatlicht und ein SPD-Vorsitzender niedrige Hartz-IV-Sätze verteidigt.

In keiner anderen Partei wirken sich die grundsätzlich unterschiedlichen Sichtweisen auf die Linke so stark aus wie in der SPD. Die Versuche, mit diesem Dilemma umzugehen, reichen von "keine Koalition, keine Kooperation" (Ypsilanti 1) über "Tolerierung" (Ypsilanti 2) bis hin zu "Koalition, na und?" (Wowereit). Ypsilanti übrigens ist nicht für den "Tabubruch" gegenüber der Linken bestraft worden, wie sie das glaubt, sondern dafür, dass sie zwei sich widersprechende Positionen nacheinander mit derselben Leidenschaft vertreten hat. Sie hat fast idealtypisch jene Vorurteile bestätigt, deretwegen immer mehr Menschen nicht mehr zur Wahl gehen: Politiker sagen das eine und machen das andere; Politiker ordnen alles der Machtgier unter; Politiker agieren in einer selbstgeschaffenen Welt, aus der heraus sie das wirkliche Leben falsch beurteilen.

Auf dem absteigenden Ast

Vermutlich wird auch Hessen wieder zeigen, was sich in Bayern und anderswo schon erwiesen hat und was auch für die Bundestagswahl gelten könnte: Die SPD ist auf dem absteigenden Ast, sie etabliert sich unterhalb der 30-Prozent-Marke mit einer Tendenz in Richtung zwanzig. Die Union dagegen liegt einigermaßen stabil mit einem Trend nach oben. Zwar ist die Zeit der absoluten Mehrheiten vorüber: Die im Saarland wird fallen, die in Bayern ist schon gefallen, und nichts außer den Sprüchen des Ministerpräsidenten Seehofer deutet darauf hin, dass sie wieder kommen könnte. Dennoch aber erleidet die Union nicht jenen Erosionsprozess, dem die SPD ausgesetzt ist.

Die Sozialdemokraten haben sich an der Macht in Berlin erschöpft, sie waren politisch an vielem beteiligt, was Teile der SPD gleichzeitig bekämpft haben. Das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der SPD ist stark gesunken, die Personalquerelen der letzten Jahre haben das ihre dazu beigetragen. Ypsilanti, Maget, Maas und, ja auch, Steinmeier stehen auf sehr unterschiedliche Weise eher für das, was einmal war, die Vergangenheit, oder, schlimmer noch, was nicht sein soll, als dass sie Zukunft verkörpern. Gewiss, Merkel personifiziert auch nicht die Zukunft, aber wenigstens doch die Gegenwart.

Von den Kleinen profitiert gegenwärtig am stärksten die FDP. Sie ist dabei, wieder in ihre alte Rolle als Koalitionspartner der Union hineinzuwachsen, getragen von einer Klientel, der sichere Geldanlage wichtiger ist als ein bundesweiter Mindestlohn, die aber auch den Überwachungsstaat ablehnt. In Bayern hat diese Schicht den Liberalen ein bemerkenswertes Comeback beschert. Rezession und Wirtschaftskrise verringern außerdem die Neigung bei vielen Wählern, sich auf unerprobte Dreier-Koalitionen, Minderheitsregierungen oder wechselnde Mehrheiten einzulassen. Auch deswegen stagnieren gegenwärtig Linke und Grüne. Letztere übrigens riechen mittlerweile, zwar nicht so stark wie die SPD, nach gestern, Westdeutschland und politischer Korrektheit. Rot-Grün war 1998 erwünscht und richtig. Heute ist es das offenbar nicht mehr.

Ypsilanti, Andrea Koch, Roland Wahljahr 2009 in Deutschland Landtagswahl 2009 in Hessen Verhältnis der SPD zur Partei DIE LINKE SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Putin Spielführer, die Ukraine Spielball

Russlands Ministerpr sident wahrt im Gasstreit seine Interessen noch besser als die seines Landes

Von Frank Nienhuysen

Der Gasstreit ist beendet, aber damit ist längst noch nicht alles in Ordnung. Gern würde man der Ukraine einen Dauerauftrag empfehlen oder Gazprom zu einer Einzugsermächtigung raten, denn formal begann die Krise mit einem Streit über die Schulden der Ukraine. Niemand kann sagen, ob Kiew und Moskau zu Beginn des nächsten Winters nicht wieder genauso streiten werden. Dass sich der Konflikt zu einer solchen Groteske über Leitungsdruck und Pumpstationen auswachsen konnte, ist bitter nicht nur für die frierenden Menschen in Südosteuropa. Dem Westen hat das demonstriert, welch begrenzten Spielraum in der Energiepolitik die Europäer trotz ihrer geballten Konsumentenkraft haben.

Die EU hat zwar mit dem Hinweis auf die erkalteten Heizkörper enormen und am Ende auch erfolgreichen Druck aufgebaut. Andererseits hat Moskau den Druck effektiver an die Ukrainer weitergeleitet als die Gasströme. Russlands Vorwurf, die Ukraine habe sich wie ein Dieb verhalten und sei deshalb allein schuld an den Kalamitäten gewesen, ist die auftrumpfende Geste eines Landes, das sich seiner Macht sicher ist. Dass Kiew von 2010 an westeuropäische Preise zahlen muss, zeigt, wie richtig Moskau mit dieser Einschätzung lag.

Für Europa sind das schlechte, aber keineswegs neue Nachrichten. Den Beschluss, nun nach Alternativen zu suchen zum mächtigen Gasexporteur Russland, hat Brüssel im Prinzip bereits nach dem ersten russisch-ukrainischen Gasstreit getroffen. Aber so leicht und schnell lassen sich die Energieströme nun einmal nicht umlenken. Mit rohstoffreichen Ländern wie Kasachstan, Turkmenistan oder Aserbaidschan direkt zu verhandeln, ist einerseits sinnvoll, und die EU hat damit längst begonnen. Aber auch Russland versucht hartnäckig, diese postsowjetischen Staaten energiepolitisch auf seine Seite zu ziehen. Die Abhängigkeit von der Ukraine als Transitland zu verringern, wäre eine andere Überlegung für die Europäer.

Zwar hat sich die Ukraine nicht selber in diesem Gasstreit diskreditiert, wie die Russen dies gern behaupten. Aber die Ukraine ist nun einmal Spielball russischer Machtpolitik, und im Winter ist davon auch stets halb Europa betroffen. Wenn weniger Gas durch die Ukraine flösse, stünde Russland als Sieger da, das sich nach dem Ende des Scharmützels um die geplante Ostsee-Pipeline von Russland direkt nach Deutschland nun wohl keine Sorgen mehr machen muss.

Vielleicht war dies ein Teil des Moskauer Kalküls. Auffällig war jedenfalls, wie früh sich Ministerpräsident Wladimir Putin zum Wortführer in einem Konflikt machte, der eigentlich zwischen zwei Unternehmen ausgefochten wurde. Nebenbei zementierte er seinen Ruf, noch immer der Oberstratege der russischen Politik zu sein, ganz unabhängig von Präsident Dmitrij Medwedjew. Putin in Moskau, Präsident Viktor Juschtschenko in Kiew: Dies war das Fernduell, und im Kern war der Zwist von Anfang an politisch. Doch während Putin dem russischen Volk nun erklären kann, er habe der Ukraine den Übergang zu Weltmarktpreisen abgerungen, ist der ukrainische Präsident in rhetorischer Not.

Zuerst hatte Juschtschenko die Moskauer Konferenz abgelehnt und im eigenen Land einen unbedeutenden Gegengipfel angesetzt. Nun aber kommt seine Gegnerin Julia Timoschenko aus Moskau mit einer Einigung in einem Streit zurück, welcher der Ukraine im Westen mehr geschadet als genutzt hat. Große Chancen auf eine Wiederwahl als Präsident im nächsten Jahr hat Juschtschenko nicht. Durch den Gasstreit hat er sie gewiss nicht mehren können.

Sicher, in Brüssel ist auch die ohnehin große Skepsis gegenüber Russland weiter gewachsen. Pragmatismus statt strategischer Partnerschaft dürfte künftig das Verhältnis der EU zum Kreml bestimmen. Aber anders als die Ukraine will Russland ja auch nicht der EU beitreten.

Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- Energieversorgung in Europa Nord-Ostsee Gaspipeline SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Brutal schlechte Aussichten"

EU-Kommissar Verheugen will Hilfen für Autobauer koordinieren

Von Martin Kotynek

Brüssel - "Brutal schlecht" seien die Aussichten für die europäische Autoindustrie, sagte EU-Industriekommissar Günter Verheugen am Freitag nach einem Krisentreffen der EU-Wirtschaftsminister in Brüssel. Die Hauptverantwortung für die Überwindung der Absatzkrise sieht Verheugen zwar bei der Industrie. Doch einigten sich die Wirtschaftsminister der EU-Mitgliedsländer auch darauf, ihre staatlichen Hilfspakete künftig miteinander zu koordinieren. So wollen die Länder vermeiden, dass die unterschiedlichen Hilfsmaßnahmen den Wettbewerb innerhalb von Europa verzerren.

Die Europäische Kommission werde darauf achten, dass "das eine Land seine Autoindustrie nicht auf Kosten eines anderen Landes saniert", sagte Verheugen. Über konkrete Maßnahmen werden die EU-Wirtschaftsminister erst im März sprechen. Dennoch sei bereits jetzt klar, dass auch die Abwrackprämie, wie sie für alte Autos in Deutschland geplant ist, mit der EU-Kommission abgestimmt werden müsse, sagte Verheugen der Süddeutschen Zeitung: "Deutschland muss mir diesen Plan vor der Einführung vorlegen, und ich werde rasch prüfen, ob er den Wettbewerb verzerrt." Der Kommissar äußerte sich grundsätzlich positiv über die geplante Prämie, da sie den Autoabsatz ankurbele und gleichzeitig die Luftverschmutzung durch umweltfreundlichere Neufahrzeuge verringere.

Die europäische Autoindustrie, an der zwölf Millionen Arbeitsplätze hängen, befindet sich in ihrer größten Krise seit 15 Jahren. Im vergangenen Jahr ist der Autoabsatz um acht Prozent eingebrochen, für 2009 erwartet die EU-Kommission einen weiteren Rückgang um zehn bis 20 Prozent. Die Kommission rief die Hersteller dazu auf, strukturelle Probleme, wie etwa Überkapazitäten, zu bereinigen und in umweltfreundliche Technik zu investieren. Wegen der Finanzkrise haben aber sogar Hersteller von Premium-Marken Schwierigkeiten, an Kredite heranzukommen. Da "die kommerziellen Banken nicht dazu in der Lage sind, ordentlich zu funktionieren", werde die Europäische Investitionsbank daran arbeiten, Kredite an die Autoindustrie schneller zu gewähren, kündigte Verheugen an.

Bosch streicht Stellen

Auch die Autozulieferer leiden unter der Absatzkrise der Pkw-Hersteller. Der weltweit größte Zulieferer, Bosch, kündigte am Freitag an, in seinem Werk im ostungarischen Hatvan 250 Arbeiter zu entlassen. Der Grund dafür sei ein Rückgang bei den Bestellungen, sagte eine Sprecherin der Stadt. Damit reduziere sich die Zahl der Mitarbeiter in der Fabrik auf 2800. In Tschechien, Amerika und Brasilien sprach Bosch bereits eine dreistellige Zahl von Kündigungen aus.

Verheugen, Günter: Zitate Autoindustrie in der EU Wirtschaftspolitik in der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Karikatur

Wegtreten SZ-Zeichnung: Murschetz

Bush, George W.: Rücktritt SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Verlierer und Sieger

Ein Waffenstillstand in Gaza ist nah, weil der Preis für den Krieg zu hoch geworden ist

Von Christiane Schlötzer

Ägyptens Präsident Hosni Mubarak träumt bereits von einem glanzvollen Friedensgipfel in Scharm el-Scheich. Israels Premierminister Ehud Olmert aber will auf keinen Fall seine Unterschrift direkt neben die Paraphe eines Abgesandten der Hamas setzen, ob in Scharm el-Scheich oder sonst wo. Der Gaza-Krieg ist noch nicht zu Ende, aber darüber, wer sich zum Sieger erklären darf, und wem die Rolle des Verlierers zugedacht ist, darüber entscheiden schon nicht mehr die Generäle, sondern die zwischen Kairo, Jerusalem, Berlin und Washington hin und her eilenden Diplomaten.

Vieles spricht dafür, dass ein Waffenstillstand nahe ist, weil Israel nach drei Wochen Bombenhagel auf Gaza nur um einen sehr hohen Preis noch mehr erreichen könnte. Und weil die Kämpfer der Hamas in ihren Bunkern den Menschen in Gaza immer weniger erklären können, warum sie dieses Inferno noch länger ertragen sollen - wenn sie am Ende für all das Leid doch kaum etwas bekommen. Jedenfalls nicht mehr als das, was ein nun in den Grundzügen bekanntgewordenes, von Ägypten ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen anbietet: Eine Aufhebung der israelischen Blockade für Lebensmittel an der Gaza-Grenze, und dafür ein Ende der Hamas-Schmuggel-Tunnelwirtschaft zwischen Gaza und Ägypten, damit die Islamisten ihre Raketen-Silos nicht wieder auffüllen können. Dazu einen Waffenstillstand mit Israel, der bis zu einem Jahr dauern und eine Verlängerungsoption haben soll.

Hat sich dafür ein Krieg gelohnt? Israel wird sagen: Ja. Weil es seine große militärische Überlegenheit und damit "Abschreckungsfähigkeit" unter Beweis gestellt hat; und weil die Hamas zumindest vorübergehend weniger Raketen aus dem Gaza-Streifen abfeuern kann. Mehr als 1100 Tote, mehr als 5000 Verletzte, Tausende Traumatisierte, dazu zerstörte Schulen und UN-Gebäude aber sind ein hoher Preis für einen wenig spektakulären Sieg. Die Hamas in Gaza ganz zu vernichten, konnte sich Israel gar nicht leisten. Auch nach dem Krieg muss jemand für Ordnung im Chaos sorgen, Israel aber will die Verantwortung für die 1,5 Millionen Menschen in dem Küstenstreifen keinesfalls übernehmen. Deshalb dürften die Truppen nach Beginn des Waffenstillstands bald abziehen, schließlich werden die Israelis kaum mit der Hamas gemeinsam patrouillieren wollen.

Was hat der Krieg noch gebracht? Israels Waffengang hat die arabische Welt noch tiefer gespalten, und Israels Feinde in der Region werden entschlossener aufrüsten als bisher schon. Europa und Amerika haben spät, aber doch ihre Hilfe angeboten, einen Waffenstillstand abzusichern. Frieden aber sieht anders aus. Der wird nicht in Schlachten errungen, sondern nur an Konferenztischen. Ägypten, das sich nun als geschickter Vermittler erwies, sollte damit gleich weitermachen. An diesem Tisch aber müssen dann viele sitzen: Israel, der Palästinenserpräsident, Syrien dazu, und wie jetzt, im Nebenzimmer, wieder auch die Hamas.

Friedensbemühungen im Militärischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza 2008 / 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Hessische Verhältnisse

Es hat schon einige turbulente Jahre in der hessischen Landespolitik gegeben, doch die vergangenen zwölf Monate waren ein ganz besonderes Jahr. Sicher, die Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl 2008 waren schwierig - doch es gehört schon einiges dazu, ein gutes Wahlergebnis in eine allumfassende Niederlage umzuwandeln. Das ist den Sozialdemokraten gelungen. Sogar ihr Bundesvorsitzender Kurt Beck stürzte über die Frage, wie Hessens SPD mit der Linken halten sollte. Und Roland Koch musste nur abwarten.

Landtagswahl 2009 in Hessen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die neue Nummer zwei

Seit einem Jahr ist Jeff Bewkes der Chef von Time Warner, dem weltgrößten Medienkonzern - nun zerlegt er ihn

Im Frühjahr 2002 kam es in New York zu einer Zusammenkunft der führenden Manager von Time Warner, die seitdem Legende ist bei dem Unternehmen. Heute, da Time Warner vor einer Zäsur steht und bald nicht mehr der führende Medienkonzern der Welt sein wird. Das Treffen geriet zum ersten Spatenstich für das Begräbnis des damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Steve Case, markiert aber auch die Geburt von Jeff Bewkes als heutigem Chef des Unternehmens. Damals hieß es noch AOL Time Warner, und der ehemalige AOL-Chef Steve Case stand an der Spitze. In jener Sitzung, die in der alten Konzernzentrale am Rockefeller Plaza stattfand, schwärmte Case von der Zukunft des weltweit führenden Medienunternehmens. Mit der 2001 geschlossenen, 112 Milliarden Dollar teuren Fusion, der größten der Mediengeschichte, bei der sich America Online (AOL) und Time Warner verbündeten, sei man der Konkurrenz von News Corporation, Disney, Viacom und Bertelsmann weit enteilt.

Die damals kaum 20 Jahre alte Internetfirma AOL würde dem 79 Jahre alten Inhalte-Koloss Time Warner neues Leben einhauchen, versprach Case. Er redete von Konvergenz und Synergie, den Zauberworten der Fusion. America Online würde helfen, die Hollywoodfilme und Musikstars von Warner zu verkaufen, und die Zeitschriften von Time würden Abonnements für AOL generieren. Case wollte gar nicht mehr aufhören, die Früchte der Fusion zu feiern. Dabei gab es ein Problem: Es schien, als wollte er ernten, ehe die Früchte gewachsen waren. In Wirklichkeit waren die Aktien im Wert stark gefallen, die Aussichten düster. Mitarbeiter von Time Warner fürchteten um ihre Pensionen, und der größte Aktienbesitzer, Ted Turner, fürchtete um sein Vermögen. Steve Case tat bei dem Treffen so, als hätte er von alledem nichts mitbekommen.

Irgendwann unterbrach ihn Jeff Bewkes, der seit zwei Jahrzehnten bei Time Warner arbeitete und damals den Bezahlsender Home Box Office (HBO) leitete. Bewkes hatte Erfolge mit Fernsehserien wie Sex and The City und Die Sopranos gefeiert und sprach nun deutlich aus, was er von Case' Versprechungen hielt: "Ich bin es leid", sagte er. "Das ist Bullshit. Die einzige Abteilung, die nicht funktioniert, ist deine. Jeder von uns wächst und erreicht seine Vorgaben. Das einzige Problem in diesem Konstrukt ist AOL." So berichtet es Alec Klein 2003 in seinem Buch "Stealing Time", der Geschichte des Zusammenbruchs von AOL Time Warner. Bewkes hat damals ausgesprochen, was alle dachten. Sein Ausbruch sei mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Richard Parsonsabgestimmt gewesen, glaubt Klein.

Ted Turners größter Fehler

Steve Case musste im folgenden Jahr gehen. Wie ein Betrüger wurde er vom Hof gejagt. Es gab Ermittlungen, wonach AOL seinen Aktienkurs mit Scheingeschäften hochgetrieben habe. Die Börsenkennung AOL wurde aus dem Firmennamen gestrichen, als wollte man diesen Teil der Geschichte schnellstmöglich vergessen. Vorstandschef Parsons musste 100 Milliarden Dollar abschreiben. Allein Ted Turner hat mit seinem Anteil von unter fünf Prozent nach eigenen Angaben bis heute rund acht Milliarden Dollar verloren. Kurz vor Weihnachten sagte er, die Fusion mit AOL sei der größte Fehler seiner Laufbahn gewesen.

Richard Parsons hielt den Konzern bis zu seinem vollständigen Ausscheiden aus allen Ämtern Ende 2008 (das Tagesgeschäft hatte er Bewkes bereits Ende 2007 übergeben) an der Weltspitze und betonte stets, dessen Summe sei wertvoller als die Einzelteile. Vermutlich war er sich stets bewusst, dass er ein Mann des Übergangs war. Als er im Sommer 2007 den Mitarbeitern den damaligen US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama vorstellte und Bewkes in seiner Einführung erwähnte, Parsons überlege auch, in die Politik zu wechseln, kommentierte dieser, Bewkes wolle ihn offenbar loswerden. Tatsächlich war Parsons lange im Gespräch als Nachfolger von Michael Bloomberg im Amt des Bürgermeisters von New York, doch mittlerweile will Bloomberg sich selbst nachfolgen.

Parsons und Bewkes verbindet die Liebe zum Weinanbau. Parsons besitzt ein Gut in Italien; Bewkes führte eines in Kalifornien, ehe er zur Citibank und dann, vor fast 30 Jahren, zu Time Warner wechselte. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Es sei klar, daß Bewkes einen ganz anderen Kurs einschlage, sagte Parsons vor dem Wechsel, und Bewkes hat diese Worte bestätigt. Er zerlegt nun, was Case aufgebaut hat. Die Einzelteile seien mehr wert als die Summe, sagt Bewkes. Er schneidet Time Warner zu wie einen Weinstock und hofft, dass die Triebe so besser wachsen. Eine Zäsur.

Time Warner ist das Produkt mehrerer Zusammenschlüsse. Mehr als 60 Jahre nach der Gründung von Time (1922) und Warner (1923) fusionierte 1989 der Verlag Time, zu dem Zeitschriften wie Time, Fortune, Sport Illustrated und People gehören, mit dem Unterhaltungskonzern Warner, der Fernsehen, Filme und Musik produziert. 1995 fusionierte Time Warner mit CNN und den Fernsehsendern von Ted Turner, 2001 mit AOL. Am 4. Februar dieses Jahres wird Bewkes bekannt geben, wie viel Gewinn die 90 000 Mitarbeiter erwirtschaftet haben.

Jeff Bewkes ist seit Januar 2008 Vorstandsvorsitzender; seit Januar 2009 leitet er auch den Verwaltungsrat. Schon heute lässt sich sagen, dass er sich mit 56 Jahren zwar auf dem Höhepunkt seiner Macht bei Time Warner befindet, aber sein Unternehmen vor einem Machtverlust steht, den er eingeleitet hat. Er will die Kabelsparte abtrennen und verhandelt angeblich mit Yahoo und Microsoft über den Verkauf von AOL. Sogar über einen Verkauf der Zeitschriften wird spekuliert, obgleich das fraglich ist. Übrig blieben Musik, Film und TV. Die Trennung von der Kabelsparte Time Warner Cable hat Bewkes eingeleitet, wie er es im Mai 2008 ankündigte. Die Abspaltung soll noch im ersten Quartal abgeschlossen werden, bestätigte ein Firmensprecher. Der Konzern wird damit rund ein Drittel an Umsatz verlieren. Von April an wird Time Warner also nicht mehr die Nummer eins sein - nicht weltweit, nicht in den USA. Erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt wird es eine neue Hackordnung geben. Soeben musste Bewkes weitere 25 Milliarden Dollar abschreiben. Falls er auch AOL verkauft, könnte es nicht einmal mehr zur Nummer zwei reichen, fürchtet die New York Times.

Weltmarktführer aus Mississippi

Vermutlich wird das Kabelfernsehunternehmen Comcast - die Nummer eins im Kabel-TV noch vor Time Warner Cable - künftig Weltmarktführer sein. Comcast, das die Zentrale in Philadelphia hat, ist ein von einer Familie geführtes, an der Böse notiertes Unternehmen, das vor allem in den USA, international aber kaum engagiert ist. In Deutschland ist der Konzern lediglich Anbieter von Spartenkanälen für Golf und Nachrichten aus Hollywood. Comcast wurde von der Familie Roberts vor 45 Jahren in Tupelo, Mississippi, gegründet. Gewachsen ist der Konzern vor allem durch Zukäufe, etwa durch das Kabelgeschäft von AT&T.

Kurz vor dem Führungswechsel im Januar 2008 versammelte Time-Warner-Chef Jeff Bewkes seine Mitarbeiter noch einmal in Miami und erinnerte sie an die große Tradition des Unternehmens. Er sprach von Henry Luce, dem Gründer von Time, und von Ted Turner, dem Gründer von CNN. Ob er auch von Steve Ross sprach, ist nicht überliefert. Ross war einst Chef von Warner, und hat als Bestatter angefangen. Dabei, sagte Ross später, habe er Wesentliches für das Mediengeschäft gelernt: Bestattungen seien eine Dienstleistung wie die Medien. Bewkes steht nun weniger in der Tradition von Luce und Turner, den Erbauern, als von Steve Ross, dem einstigem Bestattungsunternehmer. Es spricht nur keiner aus.

THOMAS SCHULER

Jeff Bewkes kann mild aus dem Fenster schauen, aber auch harte Kritik üben. Dem Aufsichtsratschef von Time Warner warf er einst vor, "Bullshit" zu reden, da war er selbst noch nicht Vorstandsvorsitzender. Für seine Vorgänger war die Summe des Medienriesen stets wichtiger als die Teile. Bewkes glaubt an das Gegenteil. Nun werden die ersten Teile verkauft. Foto: New York Times

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Wirre Drohungen

Zwei Nachrichten von diesem Wochenende scheinen sich zu fügen wie Teile eines Puzzles. In Kabul hat sich ein Selbstmordattentäter vor der deutschen Botschaft in die Luft gesprengt und fünf Menschen in den Tod gerissen. Im Internet wiederum tauchte ein angebliches Video des Terrorbundes al-Qaida auf, in dem wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr Drohungen gegen Deutschland ausgestoßen werden. Es drängt sich die Sorge auf, dass Deutschland stärker als zuvor ins Visier des islamistischen Terrors gerät. Schon allein diese Sorge können die Islamisten als Erfolg verbuchen, denn ihre effizienteste Waffe im Kampf gegen den Westen ist nicht Sprengstoff, sondern Angst.

Stumpf wird diese Waffe dort, wo sie auf Besonnenheit trifft. Zwar ist offensichtlich, dass die Deutschen in Zeiten weltweiter Terrorgefahr nicht auf einer Insel der Seligen leben. Allzu eilfertig aber wäre es, den Anschlag vor dem Botschaftsgelände und das Video zum Beleg eines gestiegenen Risikos zu nehmen. Es bestehen erhebliche Zweifel daran, ob die deutsche Botschaft in Kabul tatsächlich das Ziel des Anschlages vom Samstag gewesen ist. Auch die Echtheit des recht wirren Drohvideos ist nicht erwiesen. In jedem Fall aber wurde es lange vor dem jüngsten Anschlag aufgenommen. Die scheinbaren Puzzleteile passen nicht zusammen.

Ohnehin kann sich Deutschland in seiner Afghanistan-Politik weder von Videos noch davon leiten lassen, wen sich zynische Mörder in Kabul zum Opfer wählen. Die Deutschen stehen in Afghanistan in der Verantwortung. Wer sich aus ihr stehlen will, sorgt nicht für mehr Sicherheit. Weder in Afghanistan noch in Deutschland. dbr

Bundeswehreinsatz bei NATO-Mission in Afghanistan Anschläge in Afghanistan Islamistischer Terrorismus im Internet SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ausgeträumt

Die Finanzkonzerne haben nur noch einen einzigen Investor - die Regierung in Washington

Von Moritz Koch

New York - Die Finanzkrise hat Amerikas Großbanken erneut zu verzweifelten Sanierungsschritten gezwungen. Die Citibank spaltet sich auf, und die Bank of America zapft zum zweiten Mal den staatlichen Rettungsfonds an. In den vergangenen Monaten haben beide Finanzkonzerne schwere Verluste erlitten.

Für die gebeutelte Citigroup war es schon der fünfte Quartalsverlust in Folge. Die einst weltweit größte Bank verbuchte Einbußen von mehr als acht Milliarden Dollar. Damit hat die Citigroup im vergangenen Jahr insgesamt 19 Milliarden Dollar verloren. Nun wird der Allfinanzkonzern zweigeteilt. Das klassische Bankgeschäft soll unter dem Namen Citicorp weitergeführt werden. Risikoreiche Vermögenswerte sollen ausgegliedert und künftig von der neugeschaffenen Citi Holdings verwaltet werden.

Mit der Aufspaltung kehrt die Citigroup zu der Struktur von 1998 zurück, als Citicorp mit der Travelers Group fusionierte. Frühere Konzernchefs träumten davon, einen Supermarkt zu schaffen, der Finanzdienstleistungen aller Art im Angebot haben sollte. Dieser Traum ist geplatzt. Stück für Stück zerschlägt der heutige Citigroup-Chef Vikram Pandit den globalen Konzern. Erst Anfang der Woche hatte sich die Citigroup von ihrer erfolgreichen Vermögensverwaltung Smith Barney getrennt und sie in ein Gemeinschaftsunternehmen mit Morgan Stanley eingebracht. Die ehemalige Investmentbank zahlt der Citigroup 2,7 Milliarden Dollar dafür und wird 51 Prozent der Anteile besitzen, die Citigroup erhält den Rest. Die neue Brokerfirma soll Morgan Stanley Smith Barney heißen und mehr als 20 000 Anlageberater beschäftigen. Im vergangenen Jahr hatte die Citigroup schon ihr deutsches Privatkundengeschäft verkauft.

Auch die Bank of America befindet sich in akuter Not. Zwar hat das Institut aus North Carolina im vergangenen Jahr noch einen Gewinn von 2,6 Milliarden Dollar erzielt, doch im abgelaufenen Quartal beliefen sich die Verluste auf 2,4 Milliarden Dollar. Damit reichen die eigenen Kapitalreserven nicht mehr aus, um die bereits beschlossene Übernahme der Investmentbank Merrill Lynch zu stemmen.

Erneut musste die Bank of America den Staat um Hilfe bitten. Nach wochenlangen Verhandlungen stellte die US-Regierung am Freitag 20 Milliarden Dollar bereit und garantiert darüber hinaus Verluste aus faulen Kreditgeschäften in Höhe von 118 Milliarden Dollar. Schon im September hatte die Bank of America 25 Milliarden Dollar vom Staat erhalten. Am Freitag erklärte sie, die neue Finanzspritze erlaube es ihr, die Geschäfte "so normal wie möglich" fortzuführen. Die Bank of America hatte die einst drittgrößte Investmentbank Merrill Lynch im September für 50 Milliarden Dollar übernommen und sitzt seither auf einem Berg fast unverkäuflicher Kreditderivate. Allein im vergangenen Quartal erwirtschaftete Merrill Lynch ein Minus von 15,3 Milliarden Dollar.

Bisher hat die Regierung in Washington vermieden, Mehrheitsanteile der angeschlagenen US-Banken zu übernehmen. Dabei ist sie längst der einzige Investor, der noch bereit ist, den Finanzkonzernen Geld zu geben. Allein für die Citigroup und die Bank of America summieren sich Garantien und Kapitalzufuhren inzwischen auf 420 Milliarden Dollar.

Als Schatten-Verstaatlichung kritisieren Experten das System, da es das Ausmaß der Risiken verschleiere, das die Regierung eingehe, um die Banken zu retten. Der künftige US-Präsident Barack Obama, der in dieser Woche vereidigt wird, hat bereits grundlegende Änderungen bei der Verwendung der Hilfen für die Wall Street angekündigt. Sollten sich die Verluste der Branche weiter häufen, könnte er gezwungen sein, das gesamte Finanzsystem unter staatliche Kontrolle zu stellen.

Die Amerikaner werden sich einschränken müssen. Sie haben mehr importiert, als sie sich leisten konnten. Der Lebensstandard wird sinken. Foto: Bloomberg

Citigroup Inc.: Krise Citigroup Inc.: Verlust Bank of America: Krise Bank of America: Verlust Merrill Lynch Investmentbank New York: Krise Merrill Lynch Investmentbank New York: Verlust Folgen der Finanzkrise in den USA Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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General Motors muss noch mal neu rechnen

Der Autoabsatz in den USA bricht immer stärker ein. Daher überarbeitet der Hersteller seinen Sanierungsplan. Auch Japans Produzenten verschärfen den Sparkurs

Tokio/Detroit - Auf dem größten Automarkt der Welt, den Vereinigten Staaten, wird die Talfahrt nach Einschätzung des Herstellers General Motors (GM) im laufenden Jahr ungebremst weitergehen. Der Absatz werde mit 10,5 Millionen Fahrzeugen so niedrig liegen wie seit 1982 nicht mehr, berichtete die angeschlagene Opel-Mutter. Noch vor einem Monat war der weltweit zweitgrößte Hersteller von zwölf Millionen Fahrzeugen ausgegangen. Diese Zahl hatte GM Ende 2008 auch der US-Regierung als Basis für das Sanierungskonzept des Unternehmens unter staatlicher Aufsicht genannt.

Auf Grundlage der korrigierten Zahlen soll dem von der Regierung eingesetzten Auto-Beauftragten am 17. Februar ein detaillierter Restrukturierungsplan vorgelegt werden. Auch Japans Autobauer spüren die Krise immer stärker und reagieren mit zusätzlichen Kürzungen der Produktion. Der weltweit größte Hersteller Toyota und Konkurrent Honda kündigten am Freitag weitere deutliche Einschnitte an. Auch Motorradhersteller Yamaha fährt seine Produktion zurück, während Nissan die Herstellung neuer Fahrzeuge Medienberichten zufolge nach Thailand verlegen will.

Nach Branchenprimus Toyota kündigte am Freitag auch der Subaru-Hersteller Fuji Heavy an, das Geschäftsjahr mit einem operativen Verlust abzuschließen - erstmals seit 15 Jahren. Der Toyota-Konzern, der sogar den ersten Verlust seiner Firmengeschichte erwartet, will die Produktion in Nordamerika weiter kürzen, weil die Bestände auf ein neues Rekordniveau gestiegen sind. Derzeit stehen so viele unverkaufte Fahrzeuge auf den Höfen von Händlern und Fabriken, wie der japanische Autobauer in Nordamerika in 80 bis 90 Tagen verkauft. "Die Verkäufe fallen jeden Monat um 30 bis 40 Prozent. Das haben Toyota und die ganze Branche noch nie erlebt", sagte Analyst Yasuaki Iwamoto. "Darauf müssen die Autobauer schnell mit starken Produktionskürzungen reagieren."

Erster Verlust seit 15 Jahren

Honda fährt seine Produktion in Japan um weitere 56000 Fahrzeuge zurück. Nissan kündigte am Donnerstag eine weitere Reduzierung an und erklärte, im Geschäftsjahr einen operativen Verlust zu erwarten. Laut der Wirtschaftszeitung Nikkei will Nissan die Produktionskosten um 30 Prozent zurückfahren, indem es seinen Kleinwagen March in Thailand statt in Japan baut. Auch der Subaru-Hersteller Fuji Heavy, an dem Toyota 16,5 Prozent der Anteile hält, prüft nach eigenen Angaben eine Verlegung der Produktion ins Ausland.

Neben der allgemeinen Branchenkrise leiden japanische Hersteller sehr unter der starken Heimatwährung Yen, die Exporte verteuert und Gewinnmargen schrumpfen lässt. Die japanische Börse in Tokio reagierte positiv auf die angekündigten Sparmaßnahmen. Die Papiere von Toyota legten sechs Prozent zu, Honda-Aktien acht Prozent. Reuters

Toyota Motor Corp General Motors Corp Autoindustrie in Japan Folgen der Finanzkrise für die amerikanische Autoindustrie SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Verwelkte Blütenträume

Wo die EU nicht halten konnte, was sie versprach, wächst in der Krise nun die Wut

Von Cathrin Kahlweit

Die Zahlen sind schlecht, die Stimmung ist schlechter. Weil das Gas aus Russland ausbleibt, weil immer mehr Fabriken die Produktion einstellen müssen, weil sich Kälte, Arbeitslosigkeit, Inflation und sinkende Einkommen summieren, führt der Unmut der Mitteleuropäer zunehmend zu Unruhen und Regierungskrisen. Dienstag dieser Woche: Mehr als 10000 Menschen protestieren vor dem lettischen Parlament, kurzzeitig wird der Ausnahmezustand verhängt. Der Präsident stellt der Regierung ein Ultimatum für Reformen; er droht mit der Auflösung des Parlaments. Mittwoch und Donnerstag: Massenproteste und Straßenschlachten in Sofia; für diesen Samstag sind in Bulgarien weitere Demonstrationen angekündigt. Freitag: 7000 protestieren im litauischen Wilna gegen ihre Regierung. In der chronisch instabilen Ukraine fordert die Opposition die Amtsenthebung des Präsidenten; die Wut über den Gas-Krieg mit Moskau, der Produktionseinbrüche und Entlassungen mit sich bringt, wächst im ganzen Land. Die serbische Regierung verspricht Rabatte auf die Gasrechnungen, um Protesten vorzubeugen.

Zukunfts- und Existenzängste sind ein gefährliches Gebräu, das hat sich bereits im vorweihnachtlichen Aufruhr in Griechenland sowie in Protestmärschen in Russland gezeigt. Insbesondere in den neuen EU-Staaten kämpft die Bevölkerung mit enttäuschten Erwartungen; die Wut auf die Eliten wächst mit dem Gefühl, dass diese den schnellen Wohlstand verspielt haben, den die EU-Mitgliedschaft doch mit sich hätte bringen sollen.

Tatsächlich blühten und boomten große Teile Mitteleuropas jahrelang: Wachstumsraten von zehn Prozent, jede Menge Fördermittel aus Brüssel, Milliarden geliehenes Geld und ein gieriger westeuropäischer Arbeitsmarkt haben im Osten Blütenträume von einer rasanten Angleichung der Lebensstandards genährt. Jahrzehnte der Plan- und Misswirtschaft, so glaubten viele, würden sich durch den EU-Beitritt in Luft auflösen. Und es schien ja auch zu funktionieren: Die baltischen Länder galten als "Tigerstaaten", weil die Gehälter ebenso explodierten wie die Immobilienpreise und die West-Importe. Polen gingen die heimischen Arbeitskräfte aus, die Slowakei machte Furore als Steuerparadies. Brüssel hat mit seinen Vorgaben parallel versucht, Reformen zu erzwingen und die jungen Demokratien zu stabilisieren.

Und nun? Derzeit werden die mitteleuropäischen Gesellschaften einem echten Härtetest unterzogen. In den westlichen Hauptstädten wie auch in Brüssel wächst die Sorge, dass sich die neuen Europäer vom alten Europa abwenden. Die Organisatoren der Massendemonstrationen in Bulgarien brachten die Stimmung auf den Punkt: "Der Protest eint die Menschen in ihrem Wunsch, in einem normalen europäischen Land zu leben." Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

Bulgarien ist korrupt und gilt als reformunfähig; die Rezession würgt das Land schon jetzt. Lettland stand im Herbst vor dem Staatsbankrott. Der Internationale Währungsfonds musste helfen, die größte Bank wurde verstaatlicht, Experten rechnen mit einem Rückgang des Wachstums um mindestens zehn Prozent. In Litauen fürchten 30 Prozent der Arbeitnehmer um ihren Job. Der Aufschwung war mit fremdem Geld finanziert und nicht mit einem nachhaltigen Umbau der Wirtschaft verbunden, der Niedergang im neuen Europa wird wohl länger anhalten als im alten.

Neben vielen Opfern gibt es aber auch Nutznießer der Krise: Wenn am Wochenende Vertreter der EU und der Ukraine zum Gas-Gipfel nach Moskau eilen, werden sie versuchen, die Russen zum Ende ihres Katz-und-Maus-Spiels zu bewegen. Das wird nicht leicht sein - unter anderem deshalb, weil es Moskau gefallen dürfte, wie in seinem einstigen Einflussbereich die Zweifel an den Segnungen der westlichen Welt wachsen. Denn damit wächst auch die Sehnsucht nach der scheinbaren Sicherheit alter Zeiten.

Energieversorgung in Europa Konflikte um Erdgaslieferungen Russlands an die Ukraine 2005- Mitgliedstaaten der EU SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Cadillac One

Der neue Staatschef fühlt sich der Autoindustrie verbunden - nicht bloß, weil seine Dienstwagen von General Motors stammen

Von Michael Kuntz

Detroit - Der neue Präsident wird die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Autoindustrie unmittelbar und persönlich erfahren. Rechtzeitig zur Amtseinführung hat General Motors den "Cadillac One" an das Weiße Haus geliefert. Von der sechs Meter langen Präsidentenlimousine wird es mindestens fünf Exemplare geben, denn der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika fährt stets im eigenen Wagen vor - überall auf der Welt. Die gepanzerte Sonderanfertigung mit Konferenztisch und Nebelwerfer hat mit einem normalen Cadillac wenig zu tun. Es handelt sich um einen Panzer, der einer "Limo" ähnelt, allenfalls 160 Kilometer pro Stunde schafft und für hundert Kilometer deutlich über 20 Liter Benzin verbraucht.

Die Ingenieure von General Motors waren beim "Cadillac One" besonders gefordert. Nicht nur, weil es sich um eine Kleinserie von Einzelanfertigungen handelte. Vor allem darf GM seinen wichtigsten Kunden nicht verprellen. Ohne Barack Obama läuft nichts mehr in der Schlüsselindustrie, von der etwa 15 Millionen Arbeitsplätze abhängen.

Automanager hoffen auf einen konjunkturellen Obama-Schub. Der erste farbige Präsident werde alles in seiner Macht stehende tun, um den Zusammenbruch der "Big Three" von Detroit zu v erhindern. Zu viel hängt für Obama davon ab, dass dies gelingt. Denn angesichts einer ganz überwiegend nichtweißen Bevölkerung im Bundesstaat Michigan und 16,2 Prozent Arbeitslosen dort bereits heute, kann er sich Konkurse von GM, Chrysler und Ford nicht leisten. Sie kämen einem politischen Selbstmord des neuen Präsidenten gleich. Außerdem: Die Gewerkschaft der Automobilarbeiter UAW zählte zu Obamas bedeutenden Helfern im Wahlkampf.

Deshalb sind auf der Automesse in Detroit alle davon überzeugt, dass Obama die amerikanischen Autohersteller am Leben erhalten wird - koste es, was es wolle. Allein für GM gab es bisher 13 Milliarden Dollar. Dabei wird es nicht bleiben. Bis Ende März muss die einstige Industrie-Ikone ihr Konzept für eine umfassende Sanierung vorlegen.

Die Aussichten sind finster. GM teilte mit, man rechne für 2009 nur noch mit 10,5 Millionen verkauften Fahrzeugen in den USA. Bisher war der Konzern von zwölf Millionen Autos ausgegangen.

Zwar setzen asiatische Konkurrenten die "Big Three" seit den achtziger Jahren unter Druck, doch begonnen hat die akute Krise der US-Hersteller acht Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Da startete GM seine patriotische Rabatt-Aktion "Keep America rolling" - es muss weitergehen in Amerika. GM eröffnete eine Preisschlacht, die heute noch tobt und letztlich jene selbst traf, die damals das Land retten wollten. Sie müssen nun selbst gerettet werden.

Die Aktion war zunächst erfolgreich, die Autos in den USA sind im Schnitt 3,5 Jahre und damit weniger als halb so alt wie in Deutschland. Doch bei den bis zum Herbst sehr hohen Benzinpreisen konnten sich die Amerikaner ihre Lieblingsautos nicht mehr leisten, die großen Geländewagen und Pick Ups. Genau mit denen hatten GM, Ford und Chrysler klotzig verdient. Der Absatz brach ein, inzwischen sind auch sparsame Kleinwagen nur noch schwer verkäuflich.

Besser als unter George W. Bush dürfte es GM, Ford und Chrysler beim Präsidenten Obama in jedem Fall ergehen. Erst nach langem Zögern rückte der Texaner kurz vor Weihnachten Staatsgeld heraus und hielt die Konzerne am Leben.

Die Rolle von General Motors als Hoflieferant des Weißen Hauses hat sehr lange Tradition: Präsident Woodrow Wilson nahm mit einem Cadillac nach dem Ersten Weltkrieg die Siegesparade ab. Das war 1919 in Boston.

Die asiatischen Anbieter setzen Detroit seit den achtziger Jahren zu.

Der neue Präsident wird die US-Autoindustrie voraussichtlich retten. Wie zum Dank stellt ihm General Motors ein gepanzertes Auto zur Verfügung. Foto: GM

General Motors Corp: Produkt General Motors Corp.: Verlust General Motors Corp.: Krise Folgen der Finanzkrise für die amerikanische Autoindustrie Regierung Obama 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kundenkarten als Mitbringsel

Mit dem Ausstieg aus dem Bonusprogramm Happy Digits wirbelt die Telekom den Markt durcheinander und verhilft dem früheren Partner Karstadt zu einer Geldspritze

Von Stefan Weber

Düsseldorf - Die knappe Mitteilung der Deutschen Telekom und des Warenhauskonzerns Karstadt vom Freitag klang unspektakulär. Das Telekommunikationsunternehmen, so hieß es da, wolle sich auf sein Kerngeschäft konzentrieren und gebe aus diesem Grund seinen 51 Prozent-Anteil an dem gemeinsam mit Karstadt betriebenen Bonusprogramm Happy Digits ab. Der Warenhauskonzern sei somit künftig alleiniger Eigentümer der Betreibergesellschaft von Happy Digits.

Der Vorgang hat Gewicht für die beteiligten Unternehmen. Sie stehen durch den im März stattfindenden Wechsel von Telekom-Finanzchef Karl-Gerhard Eick an die Spitze des Karstadt-Mutterkonzerns Arcandor in einem besonderen Verhältnis zueinander. Aber auch für alle Anbieter von Kundenkarten, die seit langem mit großem Einsatz um einen Platz in den Geldbörsen der Verbraucher ringen. Happy Digits ist neben Payback das führende Bonusprogramm in Deutschland. Dessen Karten stecken in Millionen Portemonnaies.

Eine dritte starke Kraft in diesem Markt ist seit März vergangenen Jahres die von der Bertelsmann-Tochter Arvato ausgegebene Deutschland-Card. Diese drei Kartenanbieter arbeiten mit Unternehmen meist aus dem Einzelhandel, aber auch aus dem Finanz- oder Touristikbereich zusammen. Bei diesen Firmen können Karteninhaber mit ihren Einkäufen Punkte sammeln und die später gegen Prämien einlösen.

Nach Schätzung von Marktforschern sind bundesweit etwa 100 Millionen Kunden Karten im Umlauf und es werden ständig mehr. Happy Digits gibt in jedem Monat etwa 100 000 neue Plastikrechtecke aus. Viele Verbraucher schätzen die Karten, weil sie die versprochenen Rabatte nutzen wollen und Spaß daran haben, Prämien zu ergattern. Der Reiz für die beteiligten Unternehmen besteht darin, Kunden an sich zu binden: Wer eine Payback-Karte besitzt, wird möglicherweise lieber eine Aral- als eine Shell-Tankstelle anfahren, weil er bei Aral Punkte sammeln kann. Zwar warnen Verbraucherschützer seit langem, Kartenbesitzer machten sich zum gläsernen Konsumenten. Aber das hat die Beliebtheit der Bonusprogramme nicht deutlich gebremst.

Mit dem Eigentümerwechsel bei Happy Digits kommt Bewegung in den Kartenmarkt. Branchenkenner sind überzeugt, dass Karstadt als nunmehr alleiniger Eigentümer das Geschäftsmodell ändern wird und aus Happy Digits eine reine Karstadt-Karte macht. Bereits heute gehören knapp fünf Millionen der insgesamt etwa 22 Millionen Teilnehmer am Happy-Digits-Programm zur Klientel von Karstadt. Wird aus dem heute branchenübergreifenden Bonussystem künftig eine Kundenkarte für Warenhaus-Kunden, so werden sich die übrigen Partner von Happy Digits, darunter der Lebensmittelhändler Tengelmann, der Autovermieter Sixt, aber auch viele hundert lokale und regionale Partner, um Anschluss an ein anderes Bonusprogramm bemühen müssen. Davon wird vor allem die Bertelsmann-Tochter Arvato profitieren. Mehrfach musste das Unternehmen den Start seiner Deutschland-Card verschieben, weil es an zugkräftigen Partnern mangelte. Aus dem Kreis der Happy-Digits-Unternehmen könnte es manchen geben, der bei der Deutschland-Card mitmacht, zumal der Weg zum Konkurrenten Payback in vielen Fällen versperrt ist. Denn deren Partner haben sich für ihre Branche meist Exklusivität zusichern lassen.

Nicht eingelöste Prämien

Bleibt die Frage, warum die Telekom bei dem Bonusprogramm aussteigt und der finanzschwache Karstadt-Konzern einen, wie Marktkreise behaupten, einstelligen Millionen-Betrag einsetzt, um die Anteile zu erwerben. Dass sich die Telekom auf das Kerngeschäft zurückziehen will, ist eine Sache. Für Karstadt kann diese Transaktion sehr lohnend sein. Denn die Betreiber der Bonusprogramme haben in ihrer Bilanz üblicherweise hohe Rückstellungen für den Fall gebildet, dass die Kartenkunden ihre Prämien abrufen.

Wenn Karstadt das Geschäftsmodell ändert, werden nicht alle Teilnehmer des Programms ihre Boni fordern. Schätzungen zufolge könnte ein mittelgroßer zweistelliger Millionenbetrag in der Kasse verbleiben - eine willkommene Finanzspritze für den klammen Arcandor-Konzern und eine hübsche Mitgift von Telekom-Finanzchef Eick für seinen künftigen Arbeitgeber. Dort will man sich zu solchen Überlegungen nicht äußern. In aller Ruhe, so sagte ein Sprecher, werde man überlegen, was aus Happy Digits wird. Im Umfeld des Unternehmens heißt es jedoch: Die Karstadt-Karte kommt. Die Frage ist nur, wie und zu welchen Bedingungen die Verträge mit den übrigen Teilnehmern des Bonusprogramms gelöst werden können.

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Henry Tesch Kanufahrer und neuer Chef der Konferenz der Kultusminister

Manchmal, sagt Henry Tesch, fehlen ihm seine Schüler. Nein, amtsmüde sei er sicher nicht, aber er sehe sich weiterhin als Pädagogen. Früher war Tesch Lehrer und Direktor eines Gymnasiums in Neustrelitz. Nun steht er nicht mehr einer Klasse und einem Kollegium vor, sondern kann seine pädagogischen Künste in der Runde der Kultusminister anwenden. An diesem Montag übernimmt Tesch die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz (KMK), der 46-Jährige wird dadurch bundesweit etwas bekannter werden.

Als Mann aus der Praxis wurde Tesch Ende 2006 Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern. Dort regiert eine große Koalition, weshalb Tesch, der erst nach Übernahme des Ministeramts in die CDU eintrat, es gewohnt ist, mit Sozialdemokraten Kompromisse zu suchen. In der KMK kommt ihm das zugute, denn wichtige Beschlüsse können die Minister nur einstimmig treffen.

Tesch ist ohnehin davon überzeugt: "Die Zeit der Ideologien in der Bildungspolitik ist vorbei."' Wie viele ostdeutsche Politiker betrachtet er die Frage der Schulstruktur pragmatisch. Im weitflächigen Mecklenburg-Vorpommern muss der Vater von zwei Kindern vor allem darum kämpfen, dass es überhaupt genügend wohnortnahe Schulen gibt. Seit der Vereinigung hat sich die Zahl der Erstklässler etwa halbiert, ein neues Schulgesetz soll nun helfen, flexibler auf den demographischen Wandel zu reagieren. Schulen sollen die Größen ihrer Klassen selbst bestimmen dürfen; Privatschulen beklagen allerdings, sie könnten durch die neue Art der Mittelberechnung schlechter gestellt werden.

Nicht nur der Schülerschwund, auch das Abwandern von Pädagogen bereitet Tesch Sorgen. Die Bundesländer konkurrieren heftig um den Lehrernachwuchs, Länder wie Hessen und Baden-Württemberg versuchen, Lehrer abzuwerben und sie mit einer besseren Bezahlung zu locken. In einem "konstruktiven Föderalismus'' müssten die Länder bei der Rekrutierung von Lehrern zusammenarbeiten, sagt Tesch. Der gebürtige Schweriner will außerdem eine bessere Ausbildung der Erzieherinnen und den Status der Sonderschulen zum Thema in der KMK machen. Den Sonderschulabschluss, regt er an, könnte man zu einem regulären Schulabschluss aufwerten. Das dürfte Tesch den ersten größeren Konflikt in der KMK bescheren: Kritiker werfen ihm vor, nur die Statistik der Schulabbrecher schönen zu wollen.

Ein bisschen politisches Gerüttel müsste Tesch aushalten können. Als Lehrer nahm er zweimal an einem Raumfahrt-Seminar in Houston und Kap Canaveral teil. Der Philologe, der Hesse und Heine verehrt, ist der Technik und den Naturwissenschaften gegenüber sehr aufgeschlossen. Die Simulation eines Weltraumflugs hat ihn fasziniert, zu einem echten Flug würde er nicht Nein sagen. Vielleicht wünscht er manchmal auch einen Minister-Kollegen auf den Mond, aber das sagt der umgängliche Schweriner natürlich nicht. Tesch wirkt, bei aller Freude am Fliegen, bodenständiger, er begann als Kommunalpolitiker in Roggentin. Wenn er Erholung sucht, befährt Henry Tesch mit einem Kanu die mecklenburgischen Seen. Tanjev Schultz

Foto: dpa

Tesch, Henry Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) Schulpolitik in Deutschland Bildungswesen in Mecklenburg-Vorpommern SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Illustration: Stefan Dimitrov/SZ, Fotos: ddp, dpa (2)

Lernen von Hillary

46 Millionen Amerikaner sollen endlich eine Krankenversicherung bekommen

Von Moritz Koch

New York - Im dritten Anlauf soll es klappen. Zwei Mal schon haben die Demokraten im US-Kongress ein Gesetz verabschiedet, das vier Millionen Kindern aus armen amerikanischen Familien eine Krankenversicherung gewähren soll. Jedes Mal hat George W. Bush ein Veto eingelegt. Nun brachten die Abgeordneten die Reform erneut auf den Weg, schließlich wird von Dienstag an ein neuer Mann das Land regieren. Barack Obama will den Gesundheitsschutz für sozial schwache Kinder in Kraft treten lassen. Damit will er sich aber nicht begnügen.

Kongressabgeordnete nannten das wiederentdeckte Gesetz eine Anzahlung auf Obamas Versprechen, allen Amerikanern eine bezahlbare Gesundheitsversicherung anzubieten, ein Versprechen, das schon viele demokratische Politiker gegeben haben, aber nicht halten konnten. Die Erinnerung an das grandiose Scheitern von Hillary Clinton ist noch frisch: Gleich nach der Vereidigung ihres Mannes Bill hatte sich die Präsidentengattin 1993 daran gemacht, eine Radi-kalreform des Gesundheitswesens durch den Kongress zu peitschen. Doch sie scheiterte am Widerstand der Republikaner und der Versicherungskonzerne, die mit teuren Privatversicherungen viel Geld verdienen.

So blieb es beim Status quo. 46 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung, und täglich werden es mehr. Betriebe, die der Rezession zum Opfer fallen, hinterlassen Arbeiter, die nicht nur ihren Job, sondern auch ihren Gesundheitsschutz verloren haben. Krankheit ist für sie ein sicherer Weg in die Privatinsolvenz. Die in den 1960er Jahren von Präsident Lyndon B. Johnson geschaffenen Staatsprogramme Medicare und Medicaid bieten nur rudimentären Schutz. Sie gelten für Rentner, Behinderte und die Ärmsten der Armen. Die Masse schützen sie nicht. Obama will die Mängel von Johnsons Sozialgesetzgebung beheben und zugleich aus Clintons Fehlern lernen. Hillary wollte eine Pflichtversicherung, er setzt auf Freiwilligkeit. Wo sie polarisierte, will er Allianzen schmieden. Obama schlägt einen Mittelweg zwischen einem rein staatlichen und einem völlig privaten Gesundheitssystem vor. Die öffentlichen Programme will er ausbauen und mit privaten Anbietern konkurrieren lassen. Gleichzeitig sollen auch Kleinunternehmer verpflichtet werden, Angestellten eine Versicherung anzubieten. Das unabhängige Tax Policy Center schätzt, dass Obamas Plan innerhalb von zehn Jahren die Zahl der unversicherten Amerikaner um 30 Millionen senken und etwa 1,6 Billionen Dollar kosten würde. Experten sind skeptisch, ob das Vorhaben mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten durchsetzbar ist.

In jedem Fall bedarf das Projekt sorg-fältiger Planung und detaillierter Ab-sprachen mit dem Kongress. Deshalb will Obama Tom Daschle, einen der Veteranen des Washingtoner Politikbetriebs, zum Gesundheitsminister machen. Fest steht, dass konservative Republikaner erbitterten Widerstand leisten werden. Auch in den Reihen der Demokraten gibt es Politiker, die meinen, das Land befände sich auf einer Rutschbahn in den Sozialismus, wenn es die staatliche Versicherung ausweite. Solche Vorbehalte bekam schon Präsident Johnson zu hören.

Private und öffentliche Programme müssen konkurrieren.

Regierung Obama 2009 Krankenversicherungen in den USA SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Der rätselhafte Aufstieg der FDP

Die Liberalen in Hessen können laut Umfragen mit deutlich mehr als zehn Prozent rechnen und so die Koch-Regierung retten

Von Christoph Hickmann

Wiesbaden - Man kann dieser Tage im politischen Teil Wiesbadens noch so lang suchen - einen mit sich, der Welt und überhaupt zufriedeneren Menschen als Jörg-Uwe Hahn, 52, wird man kaum finden. Der FDP-Landeschef sitzt in seinem Landtagsbüro, vor sich auf dem Tisch das Handy (der Bundesgeschäftsführer will noch anrufen!) und sagt: "Die hessische FDP hat im letzten Jahr wenig bis gar nichts falsch gemacht." Das lässt er dann erst einmal so stehen, Widerspruch zwecklos, so wirkt dieser Satz, genau wie seine Körperhaltung. Weil Hahn weiß, dass es in Wahlkampfzeiten keine härtere Währung gibt als Umfragewerte.

Mit 9,4 Prozent fuhr die FDP bereits vor einem Jahr ein hervorragendes Ergebnis ein und zog an den Grünen vorbei. Nun liegt Hahns Partei seit Wochen bei 13 und kam in der jüngsten Forsa-Umfrage sogar auf 15 Prozent. Es ist vor allem ihre Stärke, die Schwarz-Gelb vor der Landtagswahl am Sonntag derart souverän auf die Regierung zusteuern lässt.

Striktes Nein zur "Ampel"

Bei den Grünen verzweifeln sie fast daran, schließlich, so wird es dort gesehen, waren sie es doch, die dieses Jahr genutzt haben, um inhaltliche Akzente zu setzen - während Hahn hauptsächlich durch seine Aussagen zu politischen Farbenspielen wahrnehmbar war: Zunächst, indem er nach der Wahl bei seiner Weigerung blieb, über eine Ampelkoalition auch nur nachzudenken; dann, nach dem Scheitern des ersten Anlaufs Richtung Rot-Grün-Rot, durch sein ausdauerndes Werben für ein Bündnis mit der CDU und den zuvor hart attackierten Grünen.

Etwas rätselhaft wirken die Umfragewerte tatsächlich, doch Hahn hat Erklärungen parat: Erstens honorierten die Wähler, dass die FDP in Sachen Ampelkoalition ihr Wort gehalten habe, zweitens traue man ihr auf dem in Krisenzeiten so bedeutsamen Feld der Wirtschaftspolitik einiges an Kompetenz zu. Und drittens sei der Mittelstand mit der Rolle der Union in der großen Koalition unzufrieden. Kernpunkt aber bleibt für ihn wie auch sämtliche seiner Parteifreunde, die man fragt, die Standfestigkeit bei der Ampel-Frage: "Die Primärtugenden in der Politik sind bei den Wählern offenbar wieder mehr gefragt", sagt Hahn.

Deutlich weniger flüssig kommen die Antworten, wenn es um Unterschiede geht zur Hessen-CDU seines Duzfreundes Roland Koch. Mit ihr will Hahn von Februar an regieren und damit nach fünf Jahren absoluter Mehrheit plus einem Jahr der vielzitierten hessischen Verhältnisse jenes Bündnis neu auflegen, das schon von 1999 bis 2003 in Wiesbaden regiert hat. Um "Fragen des Stils" gehe es da vor allem, um weniger Regulierung, mehr Eigenverantwortung. Es sind

liberale Standardantworten, und auch bei den Beispielen (Schulpolitik, Finanzen, Wirtschaftsförderung, Integration) kommt wenig Konkretes. Das passt zum gesamten Wahlkampf, in dem die FDP es vermeidet, harte Kontraste zur CDU zu setzen. Stattdessen wird Schwarz-Gelb als natürliche Partnerschaft inszeniert, und angesichts jener Unzufriedenheit, die manch bürgerlichen Wähler offenbar wieder davon abhalten könnte, Kochs Partei zu wählen, ist das aus Liberalen-Sicht sogar logisch - auch wenn man beim Blick auf die Zahlen ins Zweifeln gerät, ob es nur potentielle CDU-Wähler sind, die hinter den starken FDP-Werten stehen. Zwar sieht eine echte Alternative anders aus, doch die ist offenbar auch gar nicht gewünscht. Hahn muss derzeit nicht viel mehr tun, als die Arme in Richtung Wähler auszubreiten; ein Ministeramt nebst dem Posten des Vize-Regierungschefs scheint ihm so gut wie sicher zu sein. Selbst im öffentlichen Auftritt wirkt er souveräner. Wenn sonst im Landtag die Fraktionschefs redeten, fiel er stets ab im Vergleich etwa zu den Kollegen von CDU und Grünen, doch in diesen Tagen ist das vergessen - auch wenn der Klassenunterschied allzu deutlich wird, wenn Hahn etwa mit dem Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle auftritt.

Und so dürfte diese Landtagswahl auch die Wahl der sogenannten kleinen Parteien werden. Die Grünen fürchten zwar, wie vor einem Jahr auf Platz vier zu landen, stehen aber mit konstant 13 Prozent ebenfalls hervorragend da. Anders als diese Partei dürfte die hessische FDP allerdings demnächst noch auf ganz anderer Ebene mitreden: im Bundesrat.

Hahn, Jörg-Uwe FDP-Landesverband Hessen: Zusammenarbeit CDU-Landesverband Hessen: Zusammenarbeit Landtagswahl 2009 in Hessen Wahlumfragen in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Meutereiversuch bei Mecom

Medieninvestor David Montgomery hat vergangene Woche seinen Sturz verhindert. Sechs Direktoren seiner Beteiligungsgesellschaft Mecom hätten die Anteilseigner gedrängt, ihn abzulösen, berichtete der Guardian am Samstag. Der Verkauf von Zeitungen zur Tilgung der Schuldenlast von mehr als 600 Millionen Euro sei ihnen nicht schnell genug gegangen, heißt es. Montgomerys Investoren stellten sich jedoch am Freitag hinter ihn, woraufhin die sechs kündigten. Drei Tage zuvor hatte die Gruppe verkündet, ihre deutschen Blätter (Berliner Zeitung u. a.) für 152 Millionen Euro an M. DuMont Schauberg zu verkaufen. SZ

Montgomery, David Verlagsgruppe M. DuMont Schauberg: Unternehmensbeteiligungen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Raab kopiert Raab

Stefan Raab bekommt eine neue Show auf Pro Sieben. Schlag den Star, eine Abwandlung seines erfolgreichen Formats Schlag den Raab, werde vom 13. März an vier Mal freitags um 20.15 Uhr ausgestrahlt, teilte der Sender am Sonntag mit. Statt Raab sollen Prominente in mehreren Disziplinen gegen Herausforderer aus dem Publikum antreten, er selbst nur moderieren. Schlag den Raab sei als Konzept inzwischen in 13 Länder verkauft worden. Am Samstag kam das deutsche Original bei den werberelevanten 14- bis 49-jährigen Zuschauern auf einen Marktanteil von 25,2 Prozent, mehr als das Doppelte des Senderdurchschnitts. SZ

Raab, Stefan Unterhaltungsshows im Fernsehen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schwachstelle Wasser

Das Problem ist 72 Kilometer lang und liegt bis zu 400 Meter tief unter der Erde. Dennoch offenbart der Rondout-West-Aquädukt im Bundesstaat New York eine der Schwachstellen Amerikas. Der Kanal, der Wasser nach New York City transportiert, hat ein riesiges Leck. 70 Millionen Liter, so viel wie der Oktoberfest-Bierkonsum von zehn Jahren, sickern täglich in den Boden und zeigen, wie kaputt Amerikas Infrastruktur ist.

Deichbrüche nach Hurrikan Katrina 2005 und der Einsturz einer Brücke in Minnesota 2007 waren die auffälligsten Hinweise auf den Kollaps der US-Grundeinrichtung. Doch die American Society of Civil Engineers, der Berufsverband der Bauingenieure, gab bei seiner Generalprüfung keinem Infrastruktur-Sektor so schlechte Noten wie der Wasserversorgung. Da für Trinkwasser-Anlagen jährlich elf Milliarden Dollar fehlten und jede Menge Abwasser in Seen fließe, wurde die Ausstattung beider Kategorien auf die Mindestnote "D Minus" herabgestuft.

Viele Wasserleitungen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts verlegt, als die Städte kleiner und die Landwirtschaft bedeutender war. Heute investieren die USA nur 2,4 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts in die Infrastruktur, während es in der EU fünf und in China neun Prozent sind. Da es für die Vergabe der Regierungsmittel keine zentrale Stelle gibt, hängt die Zuteilung vom Kuhhandel im Kongress ab. Abgeordnete versuchen, Geld für ihre Heimatstaaten zu sichern und fördern auch nutzlose Projekte wie Alaskas "Bridge to Nowhere", die eine Kleinstadt mit einer entlegenen Insel verbindet. Um Verschwendung zu stoppen, plant Obama eine Infrastruktur-Bank, die privates Kapital in profitable Projekte investiert. So hofft er, dass das Geld nicht mehr versickert wie das New Yorker Wasser. Janek Schmidt

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Klamotten statt Ambiente

Weil Italiener mehr Wert auf Mode und gutes Essen als auf Möbel legen, suchen die Designschmieden das Weite

Mailand. Irgendwie ist hier alles Design. Schon in der Bar am Bahnhof fängt es an. Mit den Espressotässchen von Illy. Kleine, illustrierte Meisterwerke. Der Besuch im Restaurant. Lampen von Artemide, die Parmesandose von Alessi, die Salzstreuer sowieso. Die Auslagen der kleinen Möbelgeschäfte im Stadtteil Brera - ein Traum. Orange Brionvega-Radios, die so sehr nach den 70ern aussehen, dass man nicht so genau weiß: Ist das nun noch Secondhand oder schon die neue Vintage-Linie? Dazwischen Danese Milano, Flos, Edel-Sofas von Poltrona Frau, bunte Plastiksessel von Kartell, Glastische von Zanotta. Die Verkäufer tragen Armani, Prada, Dolce & Gabbana. Was sonst. Und die Kunden sind - auffällig oft - ausländische Touristen. Italienisches Design landet überall, nur nicht in Italien: in Asien, den USA, in Russland. Es schmückt edle Lofts in Hamburg, Berlin und Schwabinger Altbaufluchten. Und die Italiener? Ein Gang durch die Wohnwelten zwischen Mailand und Palermo ist ernüchternd. Dafür, dass wir in einem Land sind, das als das globale Design-Zentrum gilt, gibt es nur wenige, die sich zu Hause auf Kartell-Stühle setzen und sich von Flos-Installationen beleuchten lassen.

Schränke von Oma

Stattdessen: Da steht die alte Kommode von der Tante im Schlafzimmer. Der Bauernschrank von der Oma im Wohnzimmer. Oder man hat sich gleich eine komplette Wohnungseinrichtung vom Schreiner machen lassen. Richtig schön schwer natürlich, am besten gleich als massive norditalienische Alpen-Adaption im Stil von Ludwig XIV. Besonders ältere Generationen mögen es gerne barock. Leichtigkeit? Wenig. Fragt man Italiener, warum das so ist, gibt es kaum Antworten. Vielleicht liegt es daran, dass man Design am eigenen Leib trägt. Designer-Klamotten sind ein Muss in einem Land, in dem es wichtig ist, bella figura zu machen. Designer-Möbel im eigenen Schlafzimmer? Für die bella figura vielleicht nur bedingt relevant. "Dafür sind halt Restaurants sieben Tage in der Woche voll", erzählt ein Mailänder. In den Designschmieden in der nördlich von Mailand gelegenen Möbelhochburg Brianza weiß man, dass man vor allem produziert, um zu exportieren. Zuletzt brummte das Geschäft noch. 2007 etwa haben die Italiener ihren Umsatz mit Möbeln und Holzprodukten um 4,5 Prozent auf fast 40 Milliarden Euro ausgebaut. Doch die Finanzkrise hat auch die Designer in Mailand und Florenz erwischt. Daher ziehen Italiens Möbelmacher jetzt gleich zum Verkaufen ins Ausland. Erste Möbelmessen haben die Mailänder bereits in Moskau und New York organisiert; zuletzt waren 500 Designschmieden in der russischen Hauptstadt angerückt, um ihre edlen Stücke anzubieten. Geplant sind jetzt auch große Design-Schauen in China und Indien. Thomas Fromm

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Hui und Pfui in Hessen

Von Heribert Prantl

In der Bibel gibt es einen Hirten namens David, in Hessen einen Politiker namens Schäfer-Gümbel. Beide sind Helden des Zufalls. David der Biblische war zunächst, wie Schäfer-Gümbel, nur ein Helferlein: Er wollte seinen Brüdern Brot und Käse bringen, um sie im Kampf gegen die Philister und den Riesen Goliath zu stärken. Das war auch die subalterne Rolle Schäfer-Gümbels vor einem guten Jahr, im Wahlkampf vor einem guten Jahr in der Ypsilanti-SPD. Dann verspielte diese ihren Beinahe-Sieg auf entsetzliche Weise. Und auf einmal stand er, der Zwerg, ganz vorne vor dem schwarzen Riesen - und musste sich die Lästereien des Roland Koch anhören.

Hier endet nun der Vergleich: Thorsten-David Schäfer-Gümbel konnte seinen Gegner natürlich nicht besiegen. Die Verhältnisse in Hessen sind zu komplex, die SPD ist zu zerstritten. Das mindert nicht die Leistung des vor kurzem noch unbekannten Sozialdemokraten: Er hat die SPD vor noch größerer Schmach bewahrt. Seine Partei ist in Hessen nicht komplett aufgerieben worden. Die Hessen-SPD stürzt zwar furchtbar ab, ist aber nicht völlig demoralisiert. Sie stürzt ab wie die Koch-CDU vor einem Jahr; sie steht nun so schwach da wie die SPD im Bund - und das in einem Land, das einst als das "rote Hessen" galt. Die SPD hat schon lang kein Stammland mehr.

Hessen ist ein neuerliches Beispiel dafür, wie immer mehr frühere Stammwähler zu kritischen Wechselwählern werden. Hessen ist zweitens ein Beispiel für den Aufstieg der ehedem kleinen Parteien zu Mittelparteien. Es ist drittens ein Exempel für die Verkurzfristigung der Politik: Hui und Pfui wechseln in immer schnellerem Tempo. In Hessen zeigt sich viertens, dass auch unter der schüttersten Personaldecke ein respektabler Kandidat herauskrabbeln kann: Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Gümbel her.

Bundespolitisch am bedeutsamsten ist der schier unaufhaltsame Aufstieg der Liberalen. Freidemokraten und Grüne sind Liberale verschiedener Ausprägung, sie wurzeln im gleichen Milieu. Die Krise der alten Volksparteien befördert die eher rechtsliberale FDP und die eher linksliberale grüne Partei in einem Maß, das mit den eigenen Verdiensten dieser Parteien nicht zu erklären ist. Es gibt eine großliberale Kraft als gesellschaftspolitische Strömung, die nur wegen der gegenseitigen Animositäten der sie verkörpernden Parteien koalitionspolitisch nicht zum Tragen kommt.

Geradezu wundersam ist die neue Stärke der FDP. Die Finanzkrise schadet ihr nichts, die Wähler nehmen es ihr nicht krumm, dass sie den Neoliberalismus zu ihrer Glaubenslehre gemacht hatte. In immer mehr großen Bundesländern regiert die FDP mit, sie macht der großen Koalition im Bund via Bundesrat das Regieren schwer. Bundesgesetze erreichen nach dem Wahlsonntag in Hessen ohne die FDP nicht mehr das Bundesgesetzblatt. Der Frust der Wähler über SPD und CDU nobilitiert die FDP.

Deutschland war jahrzehntelang Zweistromland: Da gab es den schwarzen und den roten Strom, die bei ihrem Mäandrieren einen kleinen Zufluss fanden. Aus diesem Zweistromland ist ein Dreistromland geworden: Nun gibt es den roten, den schwarzen und den gelb-grünen Strom. Das könnten gute Voraussetzungen für die Bewässerung des Landes, also für ein stabiles Regieren sein. Aber das bleibt Theorie, weil und solange diejenigen zwei Parteien, die vom roten Wählerstrom, und diejenigen zwei Parteien, die vom liberalen Wählerstrom gespeist werden, sich jeweils nicht vertragen.

Landtagswahlen zeitigen neuerdings wunderliche Ergebnisse: Zuletzt hat Bayern einen Ministerpräsidenten gekriegt, den keiner gewählt hat. Nun kriegt Hessen wieder einen Ministerpräsidenten, den die Mehrheit der Hessen (obwohl diese CDU und FDP gewählt hat) eigentlich nicht will. Koch ist unpopulär. Er ist eine Mischung aus einem Neoliberalen und einem Nationalkonservativen mit einem Schuss kalkulierter Unberechenbarkeit, die er als Liberalität verkauft. Kein anderer Unionspolitiker hat einen so maliziösen Ruf wie Koch. Er kann Staub aufwirbeln und später den Nachdenklichen mimen, der darüber klagt, dass es so staubt. In den Monaten des Ypsilanti-Durcheinanders hatte er Kreide genommen, weil Demut angesagt war. Nun ist das Ende der hessischen Kreidezeit da.

Diese Auferstehung Kochs könnte zu dem Fehlschluss verleiten, dass sich seine Kaltschnäuzigkeit im Wahlkampf 2007/2008 letztlich doch rentiert hat. Koch hatte damals das Thema Jugendkriminalität so infam intoniert, dass selbst Ypsilanti-skeptische Wähler nicht mehr so skeptisch waren. Die Hessen-Wahl 2009 ist nun nicht die Rehabilitierung der damaligen Unverfrorenheit, sondern die Quittung für die Dummheit Ypsilantis. Die Wahl von 2008 wird noch lang als Beleg dafür gelten, dass Wahlkampf-Primitivität Grenzen hat. Vom Typ Landesvater bleibt Koch so weit weg wie die Erde vom Mond. Als Wirtschaftsminister in Berlin wäre er besser aufgehoben.

Und was wird aus Schäfer-Gümbel? Es wäre gescheit, wenn er jedenfalls den Fraktionsvorsitz der SPD übernähme. Der Wahlkampf in Hessen war erst der Beginn des Kampfs der Sozialdemokratie um Läuterung und Besserung.

Schäfer-Gümbel, Thorsten Koch, Roland SPD-Landesverband Hessen Landtagswahl 2009 in Hessen Wahlanalysen in Deutschland Parteien in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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KION

Kurzarbeit geplant

Frankfurt - Der Gabelstaplerhersteller Kion will die Beschäftigten in seinen deutschen Werken in Kurzarbeit schicken. Der Wiesbadener Konzern reagiere damit auf einen Einbruch bei den Bestellungen, berichtete die Tageszeitung Die Welt. Demnach sollen 1200 Kion-Mitarbeiter am Standort Hamburg ab Februar in Kurzarbeit gehen. Im Werk in Aschaffenburg seien 1000 Beschäftigte betroffen, am Standort Reutlingen mehrere Hundert Mitarbeiter. Die Kurzarbeit sei zunächst bis Ende März geplant. Kion war 2006 aus Gabelstapler-Sparte von Linde hervorgegangen und gehört den US-Finanzinvestoren KKR und Goldman Sachs Capital Partners. Reuters

Bis Ende März wird bei Kion weniger gearbeitet. Foto: dpa

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Manager sollen Bus fahren

Siemens will seine Top-Manager dazu bringen, mehr U-Bahn oder Bus zu fahren, wie ein Sprecher des Münchner Technologiekonzerns am Wochenende erklärte. Demnach sollen Führungskräfte ab 1. Februar eine monatliche "Mobilitätszulage" von 650 Euro brutto bekommen, wenn sie ganz auf ihren Dienstwagen verzichten und stattdessen den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Wer trotzdem einen Firmenwagen haben möchte, der soll sich nach dem Willen von Konzernchef Peter Löscher für ein sparsames Auto entscheiden: Je höher der Schadstoffausstoß sei, desto geringer werde der Zuschuss des Unternehmens für das Fahrzeug ausfallen und umgekehrt, erläuterte der Sprecher, der von einer positiven Resonanz der Belegschaft ausgeht. Die Manager seien in einer Hausmitteilung über die Neuregelung informiert worden. Reuters

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Es geht nicht nur um Hessen

Der Ausgang der Abstimmung beeinflusst auch die Mehrheiten im Bundesrat und die Wahl des Bundespräsidenten

Von Susanne Höll

Berlin - Die hessische Landtagswahl hat vielfältige Konsequenzen für die Bundespolitik. Sollte in Wiesbaden wieder eine schwarz-gelbe Landesregierung zustande kommen, worauf vieles hindeutet, wird das bereits am Sonntagabend Spekulationen über die Koalitionsmöglichkeiten in Berlin nach der Bundestagswahl am 27. September auslösen. Aber das Hessen-Votum hat auch unmittelbare, konkrete Folgen für den Bund.

So werden sich aller Voraussicht nach die Mehrheiten im Bundesrat ändern, zuungunsten der großen Koalition aus SPD und Union. Das Ergebnis bringt zudem Klarheit über die Zusammensetzung der Bundesversammlung, die am 23. Mai den Bundespräsidenten wählen wird. Wenn Christdemokraten und Liberale in Hessen hinzugewinnen und die SPD Stimmen verliert, steigen die Chancen für eine Wiederwahl von Bundespräsident Horst Köhler. Seine von der SPD aufgestellte Gegenkandidatin Gesine Schwan kann sich dann kaum noch Hoffnungen auf einen Erfolg machen.

Im Bundesrat verfügen Union und SPD dank Alleinregierungen oder großen Koalitionen in den Ländern über 35 der insgesamt 69 Stimmen. Über die fünf Stimmen, die Hessen zustehen, konnte der geschäftsführende Ministerpräsident Roland Koch bislang allein entscheiden. Sollte er künftig mit der FDP ein Bündnis eingehen, kann die große Koalition fest nur noch auf 30 Stimmen zählen. Die FDP würde dagegen ihren Einfluss im Bundesrat ausbauen. Sie wäre dann in fünf großen Flächenstaaten - Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen und eben Hessen - an einer Regierung beteiligt und in der Lage, durch ihre Teilhabe an den Koalitionsregierungen Vorhaben des Bundes zu stoppen oder zumindest zu verändern. Sie hat bereits Widerstand gegen Teile des 50-Milliarden-Konjunkturpakets angekündigt, das nach den Planungen der großen Koalition möglichst schon am 13. Februar von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll. Ob bis dahin schon eine neue hessische Regierung im Amt ist, ist denkbar, wenngleich ungewiss.

In der Bundesversammlung dürfte sich die nach der Bayernwahl reduzierte Anhängerschaft Köhlers wieder erhöhen. Der Versammlung gehören die derzeit 612 Bundestagsabgeordneten an; ebenfalls 612 Wahlleute entsenden die Länder. Köhler konnte bislang darauf hoffen, die im ersten und zweiten Wahlgang notwendige Stimmenzahl von 613 zu erreichen. Nach der Hessen-Wahl könnte das Köhler-Lager um etwa ein halbes Dutzend Wahlmänner und -frauen noch wachsen.

Die von den Parteien entsandten Wahlleute sind gehalten, den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten zu wählen, können sich in der geheimen Abstimmung aber auch anders entscheiden. Die Professorin Gesine Schwan wird von der SPD und den Grünen unterstützt und könnte in späteren Wahlgängen auch auf Voten der Linkspartei hoffen, die zunächst den Schauspieler Peter Sodann ins Rennen schickt. Rechnerisch konnte Schwan bislang maximal gut 600 Stimmen erwarten. Im dritten Wahlgang ist keine absolute Mehrheit mehr nötig: Gewählt wird, wer die meisten Stimmen erhält.

Bundesrat Wahl des Bundespräsidenten 2009 Landtagswahl 2009 in Hessen Bundestagswahl 2009 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Neues Lebensgefühl für 300 Euro

Jürgen Grabowski verrückt Tische, Schränke und Stühle bei Menschen, die mit ihrer Einrichtung unzufrieden sind

Von Stefan Weber

Würselen - Möbelhersteller und Einrichtungshäuser können von Glück sagen, dass es nicht mehr Menschen gibt wie Jürgen Grabowski. Denn dann liefen ihre Geschäfte womöglich noch schleppender. Der 52-jährige gelernte Werbekaufmann war lange Zeit in der Modebranche tätig, bis er eine ausgefallene Geschäftsidee hatte: Er verspricht Menschen, die mit der Einrichtung ihrer eigenen vier Wände unzufrieden sind, ein "neues Wohngefühl", in dem er die Möblierung der Zimmer ändert. Und das nicht etwa mit Hilfe umfangreicher Neuanschaffungen aus dem nächsten Möbelhaus, sondern allein unter Nutzung des vorhandenen Hab und Gut.

Ob Keller, Garage oder Speicher: "Ich sichte zunächst das gesamte Mobiliar, höre mir an, was die Kunden für ein Problem haben und entwickle dann Ideen, wie die Räume anders eingerichtet werden können", sagt Grabowski. Knapp sechs Jahre ist der Mann, der sich "Möbelflüsterer" nennt, bereits in seinem Job quer durch Deutschland unterwegs. Mehr als 1000 Wohnungen hat er in dieser Zeit umgestaltet.

Darunter auch das Haus von Barbara Freiwald-Kuckartz und ihrem Mann in Würselen, nahe Aachen. Zwei Jahre wohnte das Paar in dem schmucken Altbau, ohne sich dort jemals richtig wohl zu fühlen. "Aufteilung und Einrichtung der Räume gefielen uns nicht. Aber wir hatten keine Idee, wie wir es besser machen könnten", erzählt die selbständige Kosmetikerin, die im Wohnhaus auch ein Studio zur Schönheitspflege betreibt. Schon gab es Pläne umzuziehen, aber Barbara Freiwald-Kuckartz konnte sich vom alten Zuhause doch nicht trennen. Über private Kontakte lernte das Paar im Herbst vergangenen Jahres den "Möbelflüsterer" kennen und ließ ihm bei der Umgestaltung von Wohnung und Studio freie Hand. So viel Vertrauen ist wichtig, denn Grabowski entwickelt kein Konzept, das er mit den Auftraggebern bespricht, sondern legt gleich los. Verrückt Schränke, stellt Sitzecken um, hängt Bilder ab, und so manches Möbelstück, das zuvor im Keller oder auf dem Speicher schlummerte, findet plötzlich in der Wohnung einen neuen Platz. So wie ein alter Esstisch mit mehreren Stühlen, der im Haushalt von Freiwald-Kuckartz im Keller stand und nun ein Blickfang im Wohnzimmer ist. Und wenn der vorhandene Fundus bescheiden ist? "Irgendetwas geht immer. Da ist Phantasie gefragt", sagt Grabowski. Seinen Kunden aus Würselen bastelte er aus zwei Blumenkübeln und einer Glasplatte, die zuvor einen Tisch im Garten geziert hatten, eine Abstellfläche im Wohnzimmer. Handwerkliche Aufgaben wie Anstreichen, Kabel verlegen oder gar Wände mauern lässt er - falls notwendig - von anderen erledigen. "Bei solchen Dingen habe ich zwei linke Hände." Grabowski ist Einzelkämpfer. Wenn schwere Dinge zu verrücken sind, wird meist der Hausherr gebeten, Hand anzulegen. Gut sechs Stunden benötigt der Möbelflüsterer in den meisten Fällen, um eine Wohnung neu zu gestalten. Für die ersten drei Stunden stellt er jeweils 60 Euro in Rechnung; ab der vierten Stunde verlangt er jeweils 40 Euro. "Für 300 Euro gibt es ein neues Wohngefühl", verspricht der 52-Jährige.

Sorge, dass ihm die Kunden ausgehen, hat Grabowski nicht. Die Krise könne sein Geschäft sogar beflügeln, hofft er. Denn statt neue Möbel zu kaufen könnten künftig mehr Verbraucher auf die Idee kommen, ihre Wohnung mit professioneller Hilfe umzugestalten. Ähnlich wie die Möbelwirtschaft setzt er darauf, dass die Trendforscher Recht behalten. Sie sagen voraus, dass sich die Menschen in Krisenzeiten gerne in die eigenen vier Wände zurückziehen - und mehr Wert auf die Verschönerung ihres Zuhauses legen.

Privatsphäre

Bis sie aber Grabowski beauftragen, müssen manche Wohnungsinhaber freilich über ihren Schatten springen. Denn ihre Wohnung empfinden viele Menschen als ihre Privatsphäre. Da lassen sie ungern einen Fremden in jeden Winkel gucken und Schränke verrücken. Grabowski dagegen vermutet, dass sich weit mehr Menschen in ihren vier Wänden unwohl fühlen als sie zugeben. "Eine Sitzgarnitur wirkt im Möbelhaus immer anders als im heimischen Wohnzimmer. Aber wer gesteht schon gerne einen Fehlgriff ein."

Erst Werbekaufmann, dann Einrichtungsberater: Jürgen Grabowski gestaltet Wohnungen um. Neue Möbel müssen sich seine Kunden nicht anschaffen, Grabowski verwendet die alten. Foto: Vennenbernd

Möbel Lebensqualität Wirtschaftszweige in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Lufthansa beharrt auf Nachtflügen

Wiesbaden - Kurz vor der Hessenwahl hat sich die Debatte um den Ausbau des Frankfurter Flughafens nochmals verschärft. Trotz der am Donnerstag veröffentlichten Einschätzung des hessischen Verwaltungsgerichtshofs, dass die im Planfeststellungsbeschluss erlaubten 17 Nachtflüge einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten dürften, kündigte die Lufthansa an, auf ihrer Forderung von 41 Nachtflügen nach einem Ausbau zu beharren und an einer Klage gegen den Beschluss von Ende 2007 festzuhalten. Anders als zuvor von der CDU-Landesregierung um Ministerpräsident Roland Koch in Aussicht gestellt, enthält er kein Nachtflugverbot. Die Grünen bekräftigten daraufhin ihre Kritik. "Ministerpräsident Kochs Agieren war eindeutig rechtswidrig. CDU und FDP wollten kein Nachtflugverbot und damit allein die Interessen der Luftverkehrswirtschaft erfüllen", sagte Landeschef Tarek Al-Wazir. SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel sagte, das Gericht habe "die Aussagen von Roland Koch Lügen gestraft". Die Landesregierung hatte die Einschätzung der Richter begrüßt, sich aber verwundert gezeigt. hick

Wiesbaden

- Kurz vor der Hessenwahl hat sich die Debatte um den Ausbau des Frankfurter Flughafens nochmals verschärft. Trotz der am Donnerstag veröffentlichten Einschätzung des hessischen Verwaltungsgerichtshofs, dass die im Planfeststellungsbeschluss erlaubten 17 Nachtflüge einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten dürften, kündigte die Lufthansa an, auf ihrer Forderung von 41 Nachtflügen nach einem Ausbau zu beharren und an einer Klage gegen den Beschluss von Ende 2007 festzuhalten. Anders als zuvor von der CDU-Landesregierung um Ministerpräsident Roland Koch in Aussicht gestellt, enthält er kein Nachtflugverbot. Die Grünen bekräftigten daraufhin ihre Kritik. "Ministerpräsident Kochs Agieren war eindeutig rechtswidrig. CDU und FDP wollten kein Nachtflugverbot und damit allein die Interessen der Luftverkehrswirtschaft erfüllen", sagte Landeschef Tarek Al-Wazir. SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel sagte, das Gericht habe "die Aussagen von Roland Koch Lügen gestraft". Die Landesregierung hatte die Einschätzung der Richter begrüßt, sich aber verwundert gezeigt.

Deutsche Lufthansa AG Fluglärm Flughafenausbau in Frankfurt/Main SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Opel, Banken und der Flughafen

Die Wirtschaftskrise trifft das Land Hessen besonders stark - die neue Regierung steht trotz der Vorarbeit des alten Kabinetts vor gewaltigen Aufgaben

Von Christoph Hickmann

Über Bildung haben sie wieder gesprochen, über die anderen klassischen Themen und natürlich über den Wortbruch mitsamt Folgen - die einen so, die anderen so. Doch über allen Themen des hessischen Wahlkampfs schwebte die Wirtschaftskrise. Jede Partei versuchte, sie für ihre Zwecke zu nutzen und mit den vermeintlich richtigen Rezepten Stimmen zu gewinnen. Nun, da der Wahlkampf vorbei ist, muss die neue Landesregierung beweisen, dass sie mit der Krise und ihren Folgen umgehen kann.

Es ist eine Krise, deren Epizentrum - der Finanzplatz Frankfurt - in Hessen liegt. Was die dortigen Banken angeht, liegen die Handlungsoptionen jedoch vor allem beim Bund. Doch im Fall der zweiten schon jetzt schwer angeschlagenen Branche, der Automobil-Industrie, ist Hessen selbst gefordert. Es geht um die Sicherung des Opel-Standorts Rüsselsheim. Angesichts der Lage des Unternehmens hat der Landtag in seiner letzten Sitzung einstimmig das sogenannte Unternehmensstabilisierungsgesetz verabschiedet. Es erhöhte den Bürgschaftsrahmen des Landes, das nun mit bis zu 500 Millionen Euro für in Bedrängnis geratene Firmen einstehen kann. Immer wieder wurde betont, dass es sich dabei keinesfalls um eine Lex Opel handele - vielmehr gehe es ebenso um die ebenfalls gefährdete Zulieferindustrie.

Bereits Mitte Dezember kündigte der geschäftsführende Ministerpräsident Roland Koch (CDU) zudem ein sogenanntes Sonderinvestitionsprogramm an. Für 1,7 Milliarden Euro sollen Schulen und Hochschulen saniert werden, um Bauindustrie und Handwerk in der Krise zu stärken. Während für 1,2 Milliarden Euro Schulen saniert, modernisiert und neu gebaut werden sollen, sind für die Hochschulen des Landes 500 Millionen Euro vorgesehen. Dabei werden ohnehin geplante Investitionen einfach vorgezogen; die öffentlichen Aufträge müssen so schnell wie möglich ihre Wirkung entfalten. Bis Ende März sollen die Schulträger ihren Bedarf und ihre Wünsche angemeldet haben. Bereits in der ersten Sitzung des Landtags am 5. Februar soll ein sogenanntes Vorschaltgesetz zum Haushalt verabschiedet werden, damit von April an Geld fließen kann. Zwar setzten die einzelnen Parteien unterschiedliche Akzente und präsentierten eigene Vorschläge, doch im Grundsatz werden die vorgezogenen öffentlichen Investitionen von allen als sinnvoll angesehen.

Um noch deutlich mehr Geld und Arbeitsplätze geht es bei der zentralen Großbaustelle des Bundeslandes. Etwa vier Milliarden Euro will der Betreiber Fraport in den Ausbau des Frankfurter Flughafens investieren - wobei schon die Verlegung des Chemiewerks Ticona mehr als eine halbe Milliarde kosten wird. Die Fabrik liegt derzeit noch in der Einflugschneise der geplanten Nordwest-Landebahn. Auch hier hat die Landesregierung mit dem Planfeststellungsbeschluss von Ende 2007 bereits Fakten geschaffen. In der vergangenen Woche wies der hessische Verwaltungsgerichtshof sämtliche noch ausstehenden Eilanträge gegen den Ausbau ab und machte damit zunächst einmal den Weg frei.

Allerdings erklärten die Richter unter anderem, dass die im Beschluss erlaubten 17 Nachtflüge zwischen 23 und 5 Uhr einer rechtlichen Überprüfung kaum standhalten dürften. Jahrelang hatte die Regierung ein Nachtflugverbot für diese Zeit in Aussicht gestellt, dann aber argumentiert, ein Verbot würde den Beschluss wegen der Interessen der Fluglinien rechtlich angreifbar machen. Entschieden wird über diese Regelung erst im Hauptsacheverfahren, das im Sommer beginnt. Die neue Landesregierung wird bei diesem zentralen Konfliktthema der Rhein-Main-Region vor allem als besonnener Moderator auftreten müssen. Hinzu kommen weitere Infrastrukturprojekte vor allem in Nordhessen.

Schließlich bleibt der öffentliche Dienst. Kurz vor der Wahl hatten die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die SPD den Vorwurf erhoben, die CDU plane dort einen massiven Stellenabbau. Die geschäftsführende Koch-Regierung dementierte umgehend. In Zeiten knapper Haushalte bleibt gleichwohl abzuwarten, wie eine neue Landesregierung in Aussicht gestellte zusätzliche Stellen etwa an den Schulen finanziert.

Ein Sorgenfall der Landesregierung: Das Opel-Werk in Rüsselsheim. AP

Fraport AG Regierungen Hessens Innenpolitik Hessens Flughafenausbau in Frankfurt/Main Wirtschaftsregion Rhein-Main SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Skisprung-Olympiasieger

Bystøl positiv getestet

Oslo (dpa) - Der norwegische Skisprung-Olympiasieger Lars Bystøl hat mit einer positiven Dopingprobe für eine weitere negative Schlagzeile in seiner Karriere gesorgt. Bystøl selbst bestätigte der Zeitschrift Se og Hør in Oslo, dass bei einem Test im heimischen Vikersund Ende November Spuren des verbotenen Stoffes THC (Tetrahydrocannabinol) in seinem Urin gefunden wurden. Der Stoff wird zur Herstellung von Haschisch verwandt. Bystøl erklärte, die verbotenen Substanzen seien "nicht leistungsförderlich gewesen" und von ihm nicht bei Wettbewerben eingenommen worden.

Bystøl hatte bei den Winterspielen 2006 in Turin den Wettbewerb von der Normalschanze gewonnen. Zudem sicherte er sich im Team-Wettbewerb und von der Großschanze jeweils die Bronze-Medaille. Seit der Saison 2007/08 gehört Bystøl nicht mehr zum norwegischen A-Kader. In der Vergangenheit war Bystøl wegen übermäßigen Alkoholkonsums aufgefallen. 2003 wurde er zeitweise aus Norwegens Weltcup-Team ausgeschlossen, nachdem er im Vollrausch ins Osloer Hafenbecken gestürzt war.

Doping im Skispringen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Wie ein Land die Republik verändert hat

Kurt Beck musste gehen, Roland Koch ist zurück - und die FDP regiert im Bund jetzt praktisch mit

Von Nico Fried

Der Moment, in dem die letzte hessische Landtagswahl historisch wurde, war der Moment, als Kurt Beck vor fast genau einem Jahr in Berlin vor die Presse trat. Allerdings war es nicht das, was der damalige SPD-Vorsitzende zu sagen hatte, was diesen Augenblick so bedeutsam machte, sondern dass im selben Moment die Agenturen den sicheren Einzug der Linkspartei in den Landtag vermeldeten. Das war für sich genommen schon eine Sensation. Aber die Folgen, die sich daraus entwickelten, waren in Hessen wie in der Bundespolitik dramatisch.

Ein Jahr später, im Rückblick, liest sich die Bilanz in etwa so: Die Ereignisse in Hessen haben mit Kurt Beck einen SPD-Chef im Bund das Amt gekostet, mit Andrea Ypsilanti dürfte eine Landesvorsitzende in Hessen früher oder später folgen. Mit Wolfgang Clement hat ein ehemaliger Bundeswirtschaftsminister die SPD verlassen, gegen drei Sozialdemokraten laufen Ausschlussverfahren der eigenen Partei, weil sie in letzter Minute ihre Zustimmung zur Regierungsbildung verweigerten. Und ein Ministerpräsident, der sein Amt praktisch verloren hatte, bekommt es wieder.

Steinmeier wehrte sich nie

Das erstaunliche Comeback des Roland Koch ist auch für die Bundes-CDU von einiger Bedeutung. Weil Koch ein Jahr lang politisch auf dem Abstellgleis war, stand die CDU ausgerechnet in der Finanz- und Wirtschaftskrise personell ziemlich blank da. Die Kompetenz Kochs - oder doch zumindest sein unverwüstliches Image, in Wirtschaftsfragen kompetent zu sein - hätte der CDU-Kanzlerin Angela Merkel die Verlegenheit ersparen können, in der Krise in den Sozialdemokraten Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier die kundigsten Mitstreiter zu haben.

Den größten Sturm aber entfachte das hessische Wahlergebnis von 2008 in der SPD. Kurt Beck, zu jener Zeit eigentlich fest im Sattel, beteiligte sich mit Andrea Ypsilanti an dem Versuch, einen gefühlten Sieg in Hessen in einen wirklichen Erfolg, sprich: in eine Regierungsbildung umzufummeln. Entgegen allen Versprechen wollten Beck und Ypsilanti nun doch eine Kooperation mit der Linken, die eine rot-grüne Minderheitsregierung tolerieren sollte. Das einzige allerdings, was von da an regierte, war der Dilettantismus. Kurt Beck bescherte dieser Sinneswandel und die Art und Weise, wie er ihn beiläufig verkündete, einen Verlust an Glaubwürdigkeit und Reputation, den er nicht mehr gutmachen konnte und der seinen vielen innerparteilichen Kritikern letztlich den Hebel in die Hand gab, um Parteichef Beck aus dem Amt zu hieven.

Freilich gehen in der SPD auch die Gegner einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei nicht als wirkliche Sieger vom Platz. Vorneweg erwiesen sich Steinbrück und Steinmeier als wenig souverän. Die beiden waren zwar angeblich immer gegen die Kooperation mit der Linken, hatten aber nicht den Mut, in der Öffentlichkeit klar Position zu beziehen. In der Partei hatten Steinmeier und Steinbrück nicht die Kraft, erfolgreich gegen das Projekt anzuarbeiten; in den entscheidenden Abstimmungen segneten sie alle Beschlüsse wie von Beck gewünscht ab, inklusive der Nominierung von Gesine Schwan als Präsidentschaftskandidatin, was die SPD immer tiefer in die Debatte um den Umgang mit der Linkspartei trieb. Auch die dritte stellvertretende Vorsitzende Andrea Nahles schwieg vor allem, dürfte nun aber froh sein, dass ihr mit einer SPD-Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti nicht eine Konkurrentin um den Führungsanspruch auf dem linken Parteiflügel erwachsen ist.

Es war der Polit-Rentner Wolfgang Clement, der - wenn auch aus persönlicher Eitelkeit - die Richtungsfrage offen stellte, und es waren die vier "Abweichler" in Hessen, die der Bundes-SPD nach dem Wechsel von Beck zu Franz Müntefering weitere Wochen und Monate des Rumeierns ersparten. Ein Jahr nach der ersten Wahl, viele Wählerstimmen weniger und mutmaßlich nach einem Umbau auch an der hessischen Parteispitze sind freilich all diese Fragen noch immer nicht geklärt. Der Umgang mit der Linkspartei kommt spätestens bei der Bundespräsidentenwahl oder bei den nächsten Landtagswahlen wieder auf die Tagesordnung, was in der SPD fast immer gleichbedeutend ist mit Streit.

Der blieb den kleinen Parteien nach dem ersten Wahlgang in Hessen erspart - in der Linkspartei aus verständlichen Gründen, schließlich bedeutete der damalige Einzug in das Wiesbadener Parlament die endgültige Ankunft der Partei in Westdeutschland. Die Debatte, wie mit der Linken verfahren werden sollte, konnte sich die Linke selbst in aller Ruhe anschauen. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass der zweite Wahlgang in Hessen erstmals auch zu einer Krise der Linken führt. Selbst wenn die Partei noch einmal ins Parlament kommen sollte, haben die vergangenen Wochen doch offenbart, dass auch die Linke, die nur für das Gute und Friedliche einzustehen scheint, eine Partei wie jede andere ist: Intrigen, Vorwürfe, Krawall und Zerfall prägten das Bild. Welche Auswirkungen das auf Bundesebene haben wird, ist noch nicht absehbar.

Die Grünen konnten 2008 hinter den Debatten um die Regierungsbildung ihr schlechtes Ergebnis verstecken. Deshalb hatte das schwache Abschneiden auch keine Konsequenzen. Im zweiten Wahlgang am Sonntag war ihnen absehbar ein deutlicher Zuwachs beschieden - allerdings keine Chance auf eine Regierungsbildung. Und so tragen die hessischen Grünen auch ihren Teil zur Diskussion in der Bundespartei bei, welche Optionen man für sich eigentlich anstreben möchte: Von einer schwarz-grünen, über eine Ampelkonstellation mit SPD und FDP bis zu einer rot-rot-grünen Kooperation steht die Partei derzeit mehr oder weniger für alles bereit.

Wirklicher Gewinner nach einem Jahr und zwei Wahlen ist die FDP. Eine kurzzeitig zu erwartende Debatte, ob die Liberalen mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf die CDU richtig lägen, kam 2008 nicht wirklich in Gang. Die FDP in Hessen verweigerte sich den Annäherungsversuchen der SPD - und beschert nun als Koalitionspartner der CDU in Wiesbaden der Bundes-FDP eine Position im Bundesrat, mit der die Liberalen zum vierten Rad am Wagen der großen Koalition aus CDU, CSU und SPD werden.

Abgehängt: Die hessische SPD-Chefin Andrea Ypsilanti hat mit aller Macht die Macht gesucht, und sie dabei verloren. Foto: dpa

Landtagswahl 2009 in Hessen Verhältnis der Parteien in Deutschland SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Die Leere hinterm Felsentor

Die Lauberhorn-Abfahrt im Berner Oberland ist ein Mythos des Skisports - und ultimative Herausforderung für Matadore der Neuzeit

Diese Abfahrt", sagt Walter Hlebayna, Speedtrainer der deutschen Skifahrer, "wird alle Athleten fordern und einige an die physische Grenze bringen." Hoffentlich am Samstag nicht seine. Diese Abfahrt ist das Lauberhornrennen von Wengen im Berner Oberland, der Klassiker - ach was: der Mythos. Die längste Abfahrt (4,45 Kilometer und 2:30 Minuten Fahrzeit) und eine der ältesten (ausgetragen seit 1930). Das größte Sportereignis der Schweiz und das einzige Skirennen, über das es ein eigenes, voluminöses Buch gibt (die Zitate daraus sind kursiv gestellt).

"Die Faszination am Lauberhornrennen ist, dass es nicht nur das längste ist im ganzen Weltcup, sondern noch eine wirkliche, reine Abfahrt mit vielen Schusspassagen - aber auch mit technischen Stücken wie dem Brüggli, weshalb auch ein Leichter wie ich dieses Rennen gewinnen konnte", sagt Markus Wasmeier, der hier 1987 Erster war. Die Faszination kommt auch vom Ambiente. "Du stehst am Start und schaust direkt in die Eiger-Nordwand hinein", sagt der Österreicher Peter Wirnsberger, der 1985 gewann. Der Abfahrer rast auf ein Panorama zu, das direkt aus dem Fremdenverkehrsprospekt kommt: Eiger - Mönch - Jungfrau, dann wird die Gipfelschau unübersichtlich, weil das Gleitstück zu Ende ist und der Athlet von einer der anspruchsvollsten Passagen des Skisports gefangen wird namens Hundschopf: Sprung ins Leere, durch ein Felsentor.

"Am Hundschopf trennen sich Mut und Respekt, Risikobereitschaft und Taktik, Sprungtechnik und Linienwahl", erklärt der Schweizer Olympiasieger Bernhard Russi, Lauberhornsieger 1973. In dieser Abfahrt, sagt Markus Wasmeier, sei alles drin, "was man sonst auf vier verschiedenen Strecken findet. Das macht Wengen aus." Hermann Maier, 1998 als Debütant der Gewinner am Lauberhorn, gesteht, er habe fast drei Tage lang besichtigen müssen, "bis ich mir sämtliche Passagen eingeprägt hatte." Diese Passagen tragen Namen wie: Minschkante, Brüggli-S, Wasserscheide, Canadian Corner, Österreicherloch, Langentreien, Haneggschuss. Wasmeier: "Die Minschkante ist wie der Hundschopf eine der Stellen in Wengen, wo man sich extra überwinden muss". Hier, mitten am Berg, ist das Skistadion Girmschbiel eingerichtet, an dem die Zuschauer mehr mitbekommen als irgendwo anders. Canadian Corner wurde die der Minschkante folgende Kurve getauft, weil 1975 Ken Read und David Irvin hier den Abflug machten, beide Mitglieder der Truppe, die auf den sinnigen Namen Crazy Canucks hörte.

"Es mag sein, dass diese Abfahrt altmodisch ist", sagt Wasmeier, "aber das macht sie auch wieder interessant - weil sie nicht in ein Konzept reinpasst, in den aktuellen Standard." Wengen sei für ihn der erste der Klassiker neben Kitzbühel, Garmisch, Gröden. "Da weißt du: Hier ist vor dir schon der Toni Sailer gefahren". Ebendieser gesteht, es laufe ihm auch 50 Jahre später noch kalt den Rücken runter, wenn er an seine Jungfernfahrt auf dem Lauberhorn von 1954 denke. "Ich war absolut überfordert von diesem gewaltigen Tempo. Ich hatte dermaßen Angst, dass ich den Herrgott um Hilfe ersuchte." Es half nichts: Er landete in derselben Senke wie die Favoriten Anderl Molterer und Werner Schuster, beide seine Landsleute. Und wieder war ein neuer Flurname entstanden: Österreicherloch. Sailer aber hatte seine Wengener Lektion gelernt und siegte in den folgenden vier Jahren.

Das gewaltige Tempo, von dem er sprach, wird am Ende des Haneggschusses erreicht mit fast 160 km/h. Noch ein Superlativ: "Nirgendwo anders ist man auch nur annähernd so schnell", sagt Markus Wasmeier. "Und nirgendwo sonst fährt man durch einen Tunnel unter einer Eisenbahn durch". In Wengen schon - an der Wasserstation. Die Tradition lebt, einigen allerdings zu wenig. Franz Klammer, der bei seinem ersten Lauberhornsieg 1975 legendäre dreieinhalb Sekunden Vorsprung auf Herbert Plank herausfuhr, beklagt bitter, "dass man das Brüggli derart entschärft hat", zu seiner Zeit bloß drei Meter breit, heute zehn "und sicher harmlos". Alles hat seine Zeit, und die Wengener haben nach dem tödlichen Unfall von Gernot Reinstadler 1991 ihr Rennen immer weiter überdacht und neu definiert und bei aller Liebe zur Tradition den modernsten und höchsten Sicherheitstandards angepasst.

"Es wäre schade, wenn so was wie das Lauberhornrennen verlorengehen würde", sagt Markus Wasmeier. Das Fossil ist die ultimative Herausforderung auch für die Matadore der Neuzeit wie Bode Miller, der bei seinem ersten Sieg vor zwei Jahren derart entkräftet war, dass er in den Zielhang stürzte. Das Lauberhorn bringt alle Athleten an ihre physische Grenze, nicht nur die von Deutschlands Abfahrtscoach Hlebayna. Stephan Keppler und Tobias Stechert haben am vergangenen Wochenende auf dem Lauberhorn zwei Europacupabfahrten bestritten und wurden einmal Erster und Zweiter, einmal Zweiter und Dritter. Man muss sich keine übertriebenen Sorgen machen. Wolfgang Gärner

Das Buch zum Rennen: "Lauberhorn. Die Geschichte eines Mythos." Von Martin Born, erschienen im AS Verlag.

Mutprobe vor Bilderbuchkulisse: der Schweizer Didier Cuche, aufgenommen bei der Lauberhorn-Abfahrt im vergangenen Jahr. Foto: Reuters

Skisport Abfahrt Männer im Alpinen Ski-Weltcup SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Kredit für die Wunderwelt

Von Josef Kelnberger

Warum die Menschen in Deutschland jetzt nicht in schiere Panik ausbrechen angesichts des Unheils, das heranrollt, warum sie nicht Lebensmittelgeschäfte plündern, Parlamente und Banken stürmen, ihre Ersparnisse in Gold anlegen und im Garten vergraben - es hat mit dieser Winterwunderwelt im Fernsehen zu tun. Die Siege von Maria Riesch, die Flüge von Martin Schmitt, die blauen Augen von Magdalena Neuner, dunkler Tann und Alpengipfel vor stahlblauem Himmel, tagelang live. Damit erfüllen die Öffentlich-Rechtlichen ihren Auftrag, dem Staat zu dienen. Es gibt kein besseres Beruhigungsmittel. Denn die Weltwirtschaftskrise ist weit weg und hat nichts, nichts, nichts mit der Winterwunderwelt zu tun. Gar nichts. Es sei denn, man wagt einen Blick auf Vancouver, die Olympiastadt 2010.

In Vancouver steht das Olympische Athletendorf im Rohbau, und wenn nicht binnen weniger Tage frische Dollar-Millionen anrollen, wird das Dorf nächstes Jahr noch so stehen. Es lässt sich schön ausmalen, wie die Olympia-Athleten 2010 im Zeltdorf frieren werden, vom Roten Kreuz mit Decken versorgt, gespeist aus Gulaschkanonen. Aber so wird es nicht kommen, denn es gibt ja in Zeiten wie diesen: den Staat. Für Samstag wurde das Parlament der Provinz British Columbia aus dem Winterurlaub zu einer Sondersitzung gerufen. Die Abgeordneten sollen eine Olympia-Anleihe in Höhe von umgerechnet 275 Millionen Euro gewähren, um den sofortigen Baustopp zu verhindern. Bestimmt werden sie das tun, als Patrioten.

Weltwirtschaftskrise und Winterwunderwelt. Sie kollidierten, als im September die New Yorker Investmentgesellschaft namens Fortress Investment Group an den Rand der Pleite geriet und sich weigerte, ihren Beitrag für Vancouvers Olympiadorf zu erhöhen, das mittlerweile eine halbe Milliarde Euro kosten soll. Die Stadt Vancouver hat sich mit Olympia bereits übernommen, erstmals in ihrer Geschichte wird ihre Kreditwürdigkeit von Finanzexperten angezweifelt. Beunruhigende Nachrichten - wir schalten lieber schnell zurück ins deutsche Wintermärchen.

In diesem Jahr wird sich München um die Olympischen Winterspiele 2018 bewerben, und keine Sorge wegen der Finanzierung, alles wird gut. Dafür garantieren die blauen Augen der Magdalena Neuner.

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Alles eine Frage des Karmas

Kaum eine Stadt ist so chaotisch und voller Widersprüche wie Mumbai. Und kaum jemand verleiht ihr eine kräftigere Stimme als Shobhaa Dé. Die Bestsellerautorin, die als Souffleuse der Massen gilt, sieht Indiens Metropole vom Terror zwar getroffen, aber nicht erschüttert

Von Oliver Meiler

Mumbai - Ihre Tochter hätte im Hotel Taj Mahal Palace heiraten sollen, natürlich im Taj. Das war der Plan gewesen, vor den Anschlägen von Mumbai. Shobhaa Dé sagt: "Im Taj wurde schon mir der Hof gemacht, dort habe ich geheiratet, das Taj ist mein zweites Zuhause." Es kam anders, alles kam anders, vielleicht ist für immer alles anders.

Ihr Name hört sich wie eine schöne Erfindung an, wie eine verträumte Kreation. Shobhaa Dé. Aber der Name ist echt, wie alles echt ist an dieser Frau aus der verwöhnten Oberschicht Bombays, dem heutigen Mumbai. Sie ist geradeaus, selbstironisch, tabulos. In your face, würden die Engländer sagen. Und so ist auch ihr Schreibstil. "Ich schreibe manisch und manisch schnell." Sie trommelt mit den Fingern auf den Laptop, der vor ihr liegt. "2000 bis 3000 Wörter am Tag, immer, egal wo, es geht ganz einfach." Sie schreibt Kolumnen in mehreren Zeitungen und Zeitschriften, darunter die Times of India, die Bombay Times und The Week. Sie schreibt einen Blog. Und fünfzehn Bücher hat sie auch geschrieben, neun davon sind Romane, viele sind auch auf Deutsch erschienen. Sie handeln von den dekadenten Nächten Bollywoods, von der korrupten Politik und von Sex. Von Indien. Alles muss raus, wie es gerade kommt, einfach nur raus.

Niemand in Indien schreibt wohl mehr als Shobhaa Dé. Sie ist eine Souffleuse der Massen, eine Tabubrecherin. Niemand wird von mehr Indern gelesen als sie, über die Klassen und Kasten hinweg. In Delhi, in Ahmedabad, in Kalkutta, in Bangalore, in Chennai. Shobhaa Dé schreibt in Englisch. Übersetzt wird sie in Hindi, Marathi, Gujarati, in alle möglichen Sprachen des großen Landes. Sie hat "Hinglish", den bis dahin nur gesprochenen Slang aus Englisch und Hindi, der als Sprache der Filmindustrie und der kitschigen Fernsehserien dient, zur geschriebenen Sprache erhoben. Heute reden sie auch in Delhis Politik so, und im Parlament sind Abstimmungsvorlagen mit "Hinglish" durchsetzt. Die Zeitungsmacher benutzen den Slang für möglichst verständliche Überschriften.

Shobhaa Dé ist die Stimme des neuen Indien, mögen die Literaturkritiker das auch anders sehen. Mögen sie die Bestsellerautorin auch als Indiens Antwort auf Jackie Collins verschreien. "Das ist mir egal", sagt sie, und der Erfolg gibt ihr Recht. Ihre Bücher werden massenweise illegal kopiert und am Straßenrand des Colaba Causeway verkauft. Sie nennt dieses neue Indien "Superstar Indien" und meint damit den jungen Mix aus Boom und Bollywood, dieses neue und aggressive Selbstwertgefühl der größten Demokratie der Welt, die kein Terror und keine Krise zu zerstören vermögen. Höchstens etwas bremsen, trüben. Indien kommt von so weit her, hat schon so viel Weg hinter sich gebracht.

Shobhaa Dé, 61 Jahre alt, genau so alt wie das Land, einst Mannequin und Schönheitskönigin und studierte Psychologin, Mutter von sechs Kindern, in zweiter Ehe mit dem reichen Geschäftsmann Dilip Dé verheiratet, ist ein Teil von diesem neuen Indien. Ein Teil der Habenden, da oben, günstiges Karma. Sie ist selber ein Star. Sie lebt den Jetset, den sie beschreibt, sie glänzt mit der Glitzerwelt, geht auf ihre Partys, gibt selber welche. Sie frequentiert privat alle diese superreichen Inder, die sich in den Listen der obszön wohlhabenden Menschen der Welt etabliert haben. "Hier bist du niemand, wenn du nicht mit einer Armee schwerbewaffneter Bodyguards auf eine Party kommst", sagt sie, "oder wenn dir nicht mindestens zehn Leute am Flughafen das Zeug hinterhertragen, wenn du verreist." In den siebziger und achtziger Jahren hat sie als Journalistin drei Hefte verlegt, alle setzten diese Welt in Szene: Stardust, Society, Celebrity.

"Ich bin privilegiert", sagt sie und streicht eine ihrer langen Haarsträhnen aus dem Gesicht, "natürlich bin ich privilegiert mitten in der schockierenden Armut, die uns in dieser Stadt umgibt. Die Chinesen hätten die Armen längst aus dem Stadtbild entfernt, aufs Land hätten sie sie gebracht, damit sie niemand sieht, vor allem die Investoren nicht. In Indien ist alles da und sichtbar, alle Widersprüche." Überall und überall gleichzeitig. Mumbai ist eine Stadt ohne Übergä;nge, ohne jede Scheinheiligkeit.

Das Treffen mit Shobhaa Dé war eigentlich im Taj-Mahal-Hotel vorgesehen, natürlich im Taj. Wahrscheinlich hätte das Gespräch im Innenhof stattgefunden, neben dem Pool. Sie wäre wohl auf einem dieser schweren, weißen, metallenen Stühle gesessen, die auch in einem Schlosspark in Yorkshire stehen könnten. Livrierte junge Herren wären in der Nähe gestanden. Hätten mit vornehmer Zurückhaltung auf jede Geste geachtet, hätten sicher ungefragt Tee gebracht. Oder Shobhaa Dé wäre unter Kronleuchtern drinnen gesessen, in einem der Cafés, gewogen in dieser kolonialen Atmosphäre des Taj - fünf Sterne, Mumbais erste Adresse, 105 Jahre alt.

Das Taj - das war der Salon des Jetsets, eine Enklave, eine Raststätte des neuen Indien inmitten des alten und rasenden Indien, eine stolze Bühne für die Stars und Politiker, für die Intellektuellen und Neureichen, eine Art Café de Flore Mumbais ohne dessen intellektuellen Anspruch. Bis Granaten in den Hof fielen. Die schweren, weißen, metallenen Stühle flogen durch die Luft, als wären sie aus Plastik oder Holz. Mit Kalaschnikows zogen die Terroristen durch die Flure, auf einer Selbstmordmission, töteten Gäste und Angestellte, steckten die Suiten in den oberen Stockwerken in Brand, hüllten die Kuppel über dem Haupttrakt in Rauch und Flammen. Am 26. November 2008 war das 26/11, sagen die Inder. Das soll an 9/11 erinnern.

Shobhaa Dé hat dann zu sich nach Hause eingeladen, in ein Hochhaus unten an der Cuffe Parade, South Bombay. Mumbais Süden ist das chaotische Herz der Stadt, die Spitze der Halbinsel, höchste Bodenpreise. Danach kommt nur noch Meer, das Arabische Meer. Um vom Norden her, vom Flughafen etwa, hier runter nach Colaba zu kommen, wo Mumbai immer schmaler wird, braucht man meist viele Stunden, müht sich durch viel zu enge Straßen mit viel zu vielen Autos, Bussen, Taxis, Schubkarren, Motorrädern und auch Kühen.

Auf dieser Strecke, auf einigen Kilometern Straße nur in Mumbai, sieht man Dinge, verstörende und bizarre, wie man sie im Westen in einem ganzen Jahr nicht zu sehen bekommt. Junge Menschen ständig nahe am Tod, im Tanz zwischen den Autos, manchmal auch darunter. Alte Menschen mit erschütterter Würde und unerschütterlicher Fröhlichkeit. Menschen, die auf dem Sattel eines Motorrads schlafen, unter alten Bäumen leben, in Slums so groß wie Millionenstädte. Menschen, die aus offenen Bustüren hängen, als vollbrächten sie Figuren aus dem Zirkus. "Ist diese Stadt nicht der reine Wahnsinn?", fragt Shobhaa Dé und will keine Antwort. Sie würde nie anderswo leben wollen als hier drin, mitten drin, in einer Stadt, die in mehreren Jahrhunderten gleichzeitig lebt, unter Menschen im lauten Freudentaumel, in Trance um eine Gottheit, in Chören verloren. Menschen, Menschen, überall Menschen, so viele Menschen, 20 Millionen wohl, dass am Abend der Kopf dröhnt und pocht. Nach einigen Tagen hat man dann so viel gesehen, dass einen nichts mehr erstaunt. Da könnte ein Mann mit vier Beinen die Straße überqueren, man würde ihm nachschauen und nur mit den Schultern zucken.

Erst am Tor des Hochhauses, in dem Shobhaa Dé wohnt, hört dieses verstörende Mumbai auf. Nur der Geruch, der kriecht hinein in die Turmschluchten von Cuffe Parade. Auszumachen ist feuchte Modrigkeit und salzige Meeresluft, der Geruch aus frei getätigter Notdurft und aus Abfall, Räucherstäbchenduft und Moschus, Schwaden von Masala und Curry.

Shobhaa Dé sitzt an einem runden Tisch im Wohnzimmer vor dem Computer, zwei abgewetzte Handys darauf, die später ständig klingeln werden, die jüngste Tochter sitzt im Nebenzimmer und schaut fern. Die Fensterfront öffnet den Blick aufs offene Meer, auf gro e und lange Schiffe, die da im Dunst zwischen Ost und West kreuzen, scheinbar träge, als lägen sie nur im Wasser. So muss es hier immer schon ausgesehen haben, damals schon, als die Portugiesen die Stadt "Gute Bucht", Bombay, nannten. Wahrscheinlich hatte es damals noch mehr von diesen schönen Karavellen gegeben mit den großen Segeln, die sich festgesetzt haben in der Vorstellung über die alte Seefahrt. Die Stellung als Handelshafen hat aus Mumbai eine kosmopolitische Stadt gemacht, die weltoffenste Stadt Indiens. Ein Pool für alles, ein Sündenpfuhl auch.

Die Lebensgeschichte von Shobhaa Dé war nur hier möglich. "Ich wurde in eine progressive, gebildete, wohlhabende Familie geboren", sagt sie. Shobhaa Dé versucht nicht, ihre Saga zu schönen. Es ist nicht die Geschichte eines trotzigen sozialen Aufstiegs. Sie war immer schon oben. "Ich musste mich nicht befreien, von nichts, ich habe nur irgendwann entschieden, mich zu exponieren." Und sie tat das, indem sie Tabus brach. Vor allem waren es Tabus rund um die Intimität. In ihren Büchern beschrieb sie den Sex so explizit, wie das zuvor niemand gemacht hatte, keine Frau jedenfalls. Für eine traditionelle Gesellschaft wie die indische, in der schon ein flüchtiger Kuss in der Öffentlichkeit ein Sakrileg sein kann, war das eine Revolution, von oben. "Ich provoziere meine Leser mit meinen Texten. Auf viele wirkt das befreiend." Wahrscheinlich hat Shobhaa Dé mehr erreicht für das Selbstwertgefühl der indischen Frauen als viele Regierungsprogramme. Sie hat die Frauen wohl auch auf Ideen gebracht, die sie davor nicht gehabt hatten oder nicht gewagt hatten zu haben. Sie brachte ihnen zum Beispiel bei, wie der Flirtfaktor wirkt, wie körperliche Attribute in Szene zu setzen sind. "Als Aktivistin oder gar als Feministin will ich aber nicht bezeichnet werden, ich habe keine politische Agenda, bin keine Lobbyistin. Ich würde mich für einen Mann genauso einsetzen, wenn er es denn verdienen würde. Nur ist es meistens so, dass die Frau die Rolle des Underdogs einnimmt, überall auf der Welt, bei uns ganz besonders."

Eine berühmte Ausnahme gab es da schon, Shobhaa Dé schrieb mit aller Macht gegen sie an: Sonia Gandhi. Die Witwe des ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi, stieg nach dessen Tod zur mächtigsten Frau Indiens auf. "Es ist doch absurd", sagt Shobhaa Dé, "dass es dieses Milliardenvolk nötig hat, eine Italienerin ohne jeden politischen Leistungsausweis, ohne intellektuelle Brillanz zur Anführerin zu machen, nur weil sie zufällig die Witwe aus der führenden Dynastie ist. Ich war schockiert. Diese Frau hatte eine Helikoptersicht auf das Land." Eine Perspektive ohne Bodenhaftung, ohne Berührung mit der indischen Wirklichkeit.

Diese Distanz haben mittlerweile viele Inder aus der neuen Oberschicht. Sie entfremden sich vom alten Indien, sie stehen nie Schlange, entgehen dem Chaos, lassen den Verkehr für sich sperren, kennen die richtigen Polizisten dafür. Auch Shobhaa Dé lebt so. "Ich will nicht heucheln, auch ich profitiere von vielen Annehmlichkeiten." Doch sie glaubt, dass sie die richtigen Reflexe behalten hat. Sie würde sich als impulsiv beschreiben. Shobhaa Dé erzählt, wie sie einmal aus dem Auto stieg, als ein Mob von 40 Leuten einen Mann und eine Frau schlug und an den Haaren über die Straße zerrte. "Wir waren auf dem Weg zum Flughafen, ich überlegte nicht viel, wusste auch nicht, worum es ging, stieg einfach aus und stellte mich dazwischen." Die Kinder im Fond hatten Angst. "Ja, die Kinder der neuen Mittel- und Oberschicht sind schon weit weg vom alten Indien", sagt Shobhaa Dé, "sie wissen nicht, wie Indien einmal war, sie wollen es gar nicht wissen, sie verdrängen auch die sozialen Gräben. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass die meisten Inder Hunger litten." Dass das nationale Schicksal in der Schwebe lag.

Nach der Unabhängigkeit dachten viele, die Inder würden scheitern ohne die ordnende Hand von außen. Hungersnöte würden das Land in die Knie zwingen, alles würde auseinanderfallen. Schließlich war Indien, bevor die Briten es einten, keine Einheit, sondern ein halber Kontinent mit vielen Fürstentümern und Königshäusern, vielen Kulturen und Sprachen.

"Indien ist noch immer nur ein Gefühl, eine Emotion", sagt Shobhaa Dé. Ihr Mann ist Bengale, aus der Gegend von Kalkutta. "Er kommt von einem Ort, der liegt 2000 Meilen weg von hier, uns vereinte fast nichts, unsere Leben folgten einem völlig unterschiedlichen Script, bis wir uns kennenlernten, 1981. Anderes Essen, andere Sitten, andere Sprache. Nur die Religion verband uns. Und natürlich Bollywood, die zweitgrößte Religion dieses Landes." Jeder in Indien versteht Bollywood. Nichts hat Sinn: die Musik nicht, die Geschichten nicht, die Dialoge triefen vor Belanglosigkeit. "Der Inhalt ist immer derselbe: ,Küss mich, küss mich, berühr mich, berühr mich'." Doch Bollywood ist ein sozialer Katalysator. Mumbais Filmwelt dient der nationalen Identitätsstiftung. "Wir sind besessen von Bollywood, alle. Auch die Armen in den Slums träumen den Traum der Stars, sie gönnen ihnen den Erfolg."

Da sei fast kein Neid, sagt sie, fast nur Verehrung. Und die innere Gewissheit, dass es das nächste Leben besser mit einem meinen könnte, dass das Karma ja nicht ewig währt. "Auch das ist einmalig an Indien, ist es nicht so?", fragt Shobhaa Dé und will wieder keine Antwort.

Eine schöne Verklärung ist das. Die Habenden hoffen, dass sich die Habenichtse dem Fatalismus genügsam ergeben, dass sie überzeugt sind, ihr Schicksal werde von höheren Mächten gelenkt und dass die Zeit der Revanche bald kommt - im nächsten Leben.

Am 26. November 2008, 19.30 Uhr, saß Shobhaa Dé in ihrer Welt, im Taj Mahal Palace, natürlich im Taj. Als die Terroristen Granaten in den Hotelhof warfen, um 21.30 Uhr, war sie schon weg. In ihrem Blog schreibt sie: "Das Bild des brennenden Taj wird mich nie mehr loslassen. Doch meine Tochter wird bald heiraten, und ja, das Fest wird im Taj stattfinden, irgendwann. Es mag getroffen sein, gebrochen ist es nicht."

Das ist eine schöne Metapher auf das neue Indien, auf Superstar Indien und seine Wehen, seine Leiden und Mühen. Nie war Mumbais Oberschicht direkter getroffen worden. Der Glamour, der Stardust verzog sich. Sogar Bollywood verstummte. Für einige Tage.

"Die Chinesen hätten die Armen längst aus dem Stadtbild entfernt"

Sie musste nicht kämpfen, sie war schon immer oben

Vielleicht meint es ja das nächste Leben besser mit einem

"Hier bist du niemand, wenn du nicht mit einer Armee schwerbewaffneter Bodyguards auf eine Party kommst": Die 61-jährige Shobhaa Dé in ihrer Wohnung in Mumbai. Foto: Times of India/AFP

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KHL verhängt nach Todesfall Strafen

Lebenslange Sperren

Moskau (sid) - Nach dem Befund des vor drei Monaten gestorbenen Eishockey-Talents Alexej Tscherepanow hat die russische Profiliga KHL vier Klubverantwortliche auf Lebenszeit gesperrt. Als Begründung gab die Liga nach Einsicht der Untersuchungsergebnisse, die Spuren von leistungssteigernden Mitteln im Blut des 19-Jährigen nachgewiesen hatten, "Verwicklungen in die Tragödie Tscherepanow" an. So wurden von Tscherepanows Klub Awangard Omsk Präsident Konstantin Potapow, Generalmanager Anatoli Bardin und Teamarzt Sergej Belkin ihrer Ämter enthoben und für immer für die KHL gesperrt. Die gleiche Strafe gab es für Michail Denissow, Direktor von Ligakonkurrent Witjas Tschechow.

Tscherepanow war am 13. Oktober in der Partie gegen Witjas im letzten Drittel zusammengebrochen. Der Stürmer wurde ins Krankenhaus eingeliefert, doch jede Hilfe kam zu spät. Tscherepanow - "Sibirien-Express" genannt - hätte laut Befund wegen einer chronischen Herzmuskelentzündung gar nicht als Profisportler aktiv sein dürfen. Das medizinische Zentrum der KHL gab derweil bekannt, dass drei Liga-Spieler aus gesundheitlichen Gründen ihre Karrieren beenden müssten. Bei den Profis im Alter zwischen 19 und 21 Jahren wurden Herzprobleme festgestellt, die im Leistungssport mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Herzversagen führen würden.

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Abflug ins Abenteuer

Der EADS-Ableger Premium Aerotec startet neu. Um Aufträge zu erhalten, muss das Unternehmen kräftig investieren

Von Jens Flottau

Augsburg - Der neue Luftfahrt-Zulieferkonzern Premium Aerotec will trotz Rezession und Branchenkrise 2009 stark in neue Technologien investieren. Im Laufe eines Jahres werde das Unternehmen die technischen Voraussetzungen für den Bau von Rumpfteilen des neuen Langstrecken-Airbus A350 schaffen, erklärte Premium-Aerotec-Chef Hans Lonsinger der Süddeutschen Zeitung. Dafür will das Unternehmen 35 Millionen Euro in die Infrastruktur der Werke Augsburg und Nordenham stecken. Bis 2011 sollen die Investitionen rund 500 Millionen Euro betragen, sagte Lonsinger weiter.

Premium Aerotec besteht aus den beiden ehemaligen Airbus-Werken Nordenham und Varel sowie dem ehemaligen EADS-Standort Augsburg. Die neue Firma, die erst Anfang Januar gegründet wurde, feierte am Montag ihren Start mit Veranstaltungen in den drei Werken. Sie ist mit einem geplanten Umsatz von rund einer Milliarde Euro nach dem amerikanischen Anbieter Spirit Aerosystems der zweitgrößte Lieferant von Flugzeugstrukturteilen wie Flügeln, Teilen des Flugzeugrumpfs oder Leitwerken. In Frankreich hat EADS die beiden ehemaligen Airbus-Werke Saint Nazaire und Méaulte in den Ableger Aerolia ausgelagert. Sowohl Premium Aerotec als auch Aerolia sollen verkauft werden.

Strategisches Ziel des neuen Augsburger Unternehmens ist es, nicht mehr ausschließlich von EADS- und Airbus-Aufträgen abhängig zu sein. So plant Lonsinger, sich um Arbeitspakete an einem Nachfolger der Boeing 737 zu bewerben, der um das Jahr 2020 erstmals ausgeliefert werden soll. Bei einem Zuschlag geht Lonsinger von einer deutlichen Expansion aus. "Wenn wir beim 737-Nachfolger einsteigen wollen, dann brauchen wir voraussichtlich auch einen Standort in den Vereinigten Staaten."

Bei dem Projekt würde Premium Aerotec wohl mit dem größeren Rivalen Spirit, also dem ehemaligen Boeing-Werk in Wichita/Kansas, um Aufträge ringen. Spirit war einst selbst daran interessiert, die drei Werke aus dem EADS-Konzern zu kaufen. Doch neben der Kreditkrise und dem schwachen Dollar haben strukturelle Schwächen das Geschäft verhindert: "Es gab keine Firma zu kaufen, sondern nur drei Produktionsstandorte", sagt Lonsinger rückblickend.

Hätte Spirit den Zuschlag bekommen, dann wäre zudem ein Monopolist auf dem Weltmarkt entstanden, von dem Boeing und Airbus abhängig gewesen wären. Vor allem Fragen der internen Machtbalance haben offenbar verhindert, dass die deutschen und französischen Werke in ein gemeinsames Unternehmen ausgelagert wurden, das annähernd die Größe Spirits erreicht hätte.

Für Premium Aerotec, Aerolia und Sprint ist der neue Airbus A350XWB das wichtigste Projekt. Dass Premium Aerotec bei diesem Flieger die Rumpfsektionen direkt vor und hinter dem Flügel bauen wird, steht so gut wie fest. Doch Lonsinger hofft darauf, mit dem Fußboden und dem hinteren Druckschott weitere Aufträge zu bekommen. Damit würde das neue Unternehmen den Fertigungsanteil gegenüber dem A350-Vorläufer A330/340 erweitern. Das Druckschott wird für Airbus-Langstreckenflugzeuge bisher in Stade gebaut. Beim größten Airbus, dem A380, baut Premium Aerotec bereits den Fußboden der Passagierkabine.

Lonsinger geht davon aus, dass sein Unternehmen keine Mitarbeiter entlassen muss, auch wenn Airbus wegen der Branchenkrise die monatlichen Stückzahlen reduziert. Mit Kündigung von Leiharbeitskräften, Gleitzeit und Überstundenabbau könne man flexibel reagieren. Premium Aerotec beschäftigt zum Start rund 6000 Mitarbeiter. Airbus hat in dieser Woche erstmals angedeutet, die Produktion der Kurz- und Mittelstreckenbaureihe A320 zu drosseln.

In den kommenden drei Jahren will sich Premium Aerotec organisatorisch mehr und mehr von EADS lösen, um sich auf einen möglichen Verkauf vorzubereiten. Man hat sich dazu verpflichtet, bis Ende 2010 die Produktivität um acht Prozent zu steigern und erfüllt damit die Vorgaben des Airbus-Sanierungsprogrammes. Bis 2011 besteht für das Unternehmen kein Risiko durch Währungsschwankungen. Alles, was Premium Aerotec in Dollar einkauft oder produziert, wird mit Airbus und EADS in Dollar abgerechnet, gleiches gilt für Kosten, die in Euro anfallen. Danach wird der Zulieferkonzern sich eigenständig gegen Währungsschwankungen absichern, auch wenn EADS weiter die Mehrheit hält.

"Wir brauchen wohl auch

einen Standort in den

Vereinigten Staaten."

Plakat am Werkseingang in Nordenham, dahinter ein Modell des Airbus A340-300: Frühere Airbus-Werke bilden nun die Firma Premium Aerotec. ddp

Premium Aerotec GmbH Airbus A350 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Schüsse, die den Geschmack treffen

Phänomen Biathlon: Die Sportler bedienen die Sehnsucht nach Ruhe und Kraft - und der Fan schreit: Tor

Ruhpolding - Am Donnerstag wurde in Ruhpolding mal wieder etwas Neues eingeweiht, und trotzdem fühlte man sich dabei in die alten Zeiten versetzt. Die neuen Zeiten erkennt man am großen, weißen, luftgeheizten Zelt des Hauptsponsors, das Jahr für Jahr wächst und aussieht, als würde es vom Biathlonboom direkt aufgepumpt. Man sieht es durch die Fenster des neuen Athletenhauses. Hier hat sich eine Festgemeinschaft versammelt, der Sportminister Schneider ist da, der Landrat Steinmaßl, der Bürgermeister Pichler, der Bauleiter, der Architekt und einige mehr. Sie begrüßen sich, danken einander und erinnern an die Siebziger, als dieses Haus eine Holzhütte war und der Plenk Toni bei der Siegerehrung Applaus fordern musste. Und obwohl immerzu von der großen Zukunft des Biathlons die Rede ist, von Medaillen und moderner Technik, spürt man bei der Eröffnung des schicken Gebäudes, dass Ruhpolding ein Dorf ist.

Der Anfang hört so schnell nicht auf im Biathlon. Das spüren die Athleten im Januar, denn die Biathlon-Rummeltage ziehen nicht nur immer neue, sehr wichtige Personen an, sondern auch neue Reporter. Und wenn die mehrfache Olympiasiegerin Andrea Henkel also vor der Presse ihr Rennen erklärt, dann wird ihr am Ende doch wieder die Frage gestellt, die sie schon vor zehn Jahren beantworten musste: "Dieses Yeeah bei einem Treffer, dieses unglaublich laute Schreien des Publikums, und dann andererseits dieses Oouhh bei einem Fehler - also, wie schaffen Sie das, da ruhig zu bleiben?" Und Henkel, die ja nie unruhig wirkt, sagt knapp, dass sie da nicht so viel mitkriegt. Ähnlich mechanisch antworten die Athleten auch diese Woche, wenn sie nach zehn erfolgreichen Jahren nach den "Gründen des Booms" gefragt werden. Im Wesentlichen erklären sie, Biathlon-Rennen seien halt bis zum letzten Schießen offen. Man darf ihnen diese Knappheit nicht übel nehmen. Wer im Herbst seiner Karriere noch erklären muss, was er da tut, dem dämmert, dass er wohl immer ein Neuling bleibt in der Welt der Berühmten. Bis sich alle Reporter, Zuschauer und Ehrengäste wie im Fußball an die Anziehungskraft des Biathlons gewöhnt haben, wird es lange dauern. Das liegt auch daran, dass Biathlon mehr ist als nur geschickt inszenierte Show, fürs Fernsehen geplanter Wettkampf. Vielleicht ist Biathlon ein Phänomen, und wenn das so wäre, kommt man mit gängigen Erklärungen nicht weit. Viele Sportarten vereinen mehrere Bewegungsformen und sind uninteressant. Und bis zum Schluss offen bleiben fast alle Wettkämpfe.

Das neue Athletenhaus heißt jetzt Ricco-Groß-Haus, und am Eingang hängen noch die Bilder der alten Zeit. Auf einem aus dem Jahr 1977 stehen Männer lässig um Holzstämme herum und schultern Äxte wie Langlaufbretter. Ricco Groß, der frühere Weltmeister, stemmt auf einem anderen Foto als junger Kerl mit der Linken sein Gewehr wie in einem Cowboyfilm. Bilder mit Gewehren findet man viele an dieser Tafel, die irgendwie nicht nur ein Schaufenster für den SC Ruhpolding ist. Die deutsche Schützenszene ist größer als die der meisten Sportarten, sie ist nur weniger organisiert, in Dörfern und Stadtteilen verästelt, und geschossen wird meistens in Kellern. Man könnte darin eine Metapher sehen für das kollektive Unterbewusste, für etwas, das die Menschen schon immer anzog. Die Sportwaffe ist kein Kriegsgerät mehr und trotzdem mehr als ein Sportgerät. Wer mit der Technik aus Abzug, Schlagbolzen, Patronenhülse und Projektil umgehen konnte, mit ruhiger Hand ins Zentrum traf, der war ein echter Kerl und verdiente Anerkennung. Schießen war vor zigtausenden auf deutsche Vereinskeller verteilten Zuschauern immer erfolgreich, es fand nur nie in großen Stadien statt. Die Stadien im Biathlon wachsen. In Ruhpolding entsteht 2010 ein neues, weil hier 2012 die WM stattfindet, und da kommen weit mehr Zuschauer als die 18 000, die beim Weltcup täglich gezählt werden. Wie viele es potentiell wären, lässt sich nicht ermessen, der Ruhpoldinger Sprecher Martin Haßlberger erklärt, die Kartenkontingente seien nach 24 Stunden erschöpft. "Höher als 30 000 wollen wir aber nicht gehen", sagt er. Man könnte wohl noch mehr an den Strecken unterbringen, aber dann würde sich auf der Landstraße zwischen Siegsdorf und Ruhpolding, der einzigen Zufahrtstraße, mit Sicherheit ein Stau ergeben. Und das will man nicht, aus Profitgier die Menschen, die aus Berlin kommen, aus dem Sauerland, Niedersachsen oder dem Saarland, in eine Staufalle locken.

Zur WM wird auch die Strecke verbessert, ein erster Abschnitt sieht schon jetzt anders aus. Zu den Szenen am Schießstand erwarten die Menschen aus dem Flachland ja weitere sportliche Brutalitäten, schon deshalb, weil nicht alle Platz vor dem Schießstand finden. In Oberhof gibt es dafür den Birxsteig, in Ruhpolding die so genannte Wand. Die Wand ist so steil, dass viele Menschen aus dem Flachland wohl nur rückwärts heruntersteigen könnten, und jetzt ist sie noch etwas steiler und höher. Die Läufer springen wie Steinböcke hinauf, mit riesigen Augen und offenen Mündern. Das sieht bei Männern manchmal unappetitlich aus, bei Frauen weniger, nie bei Magdalena Neuner. Die 21-Jährige vereint vieles, was im Biathlon reizvoll ist. Sie verausgabt sich in der Loipe, weshalb sie offensichtlich aus legalen Gründen schneller ist als die anderen, sie kann neuerdings passabel schießen, und etwas an ihrem herzigen Aussehen scheint Flachländer anzusprechen. Niemand hat so viele Fans, niemand ist so präsent wie Neuner. Sie macht für vieles Werbung, und einer der Spots mit Neuner sagt mehr über die Gründe des Biathlonerfolgs aus, als alle deutschen Biathleten jemals in Worte fassen könnten. Neuner steht vor der Kamera, strahlt wie immer unschuldig, erzählt etwas, und dann hebt sie blitzartig das Gewehr in den Anschlag und schießt auf die Kamera, deren Glas sogleich einen virtuellen Sprung bekommt. Weil die Kamera das Auge des Zuschauers ist, schießt sie also auf den Zuschauer. Öffentlich hinterfragt hat das noch niemand, im Gegenteil, der Spot trifft offenbar den Geschmack.

Jedem großen Sport wohnt ein Traum inne. Der Traum vom Fliegen; der Traum von einer funktionierenden Gemeinschaft; vom Überschreiten vermeintlicher Grenzen. Biathlon ist erfolgreich, weil es zwei Sehnsüchte bedient. Die nach physischer Stärke und die nach Kaltschnäuzigkeit. Treffsichere Biathleten sind besonders durchsetzungsfähig, so jemand wird besonders bewundert. Daraus musste zwangsläufig dieses Yeeaahh und dieses Oouuuh in den Stadien entstehen, und Henkel wird noch lange erklären müssen, wie sie das macht, da ruhig zu bleiben. Aber Andrea Henkel und Kathrin Hitzer sind jetzt gut drauf, denn sie haben ein erfolgreiches Rennen hinter sich, und so plaudern sie noch ein bisschen über das Schreien. Hitzer erzählt, wie sie in Russland von den Zuschauern irritiert wurde: "Die haben nach dem Treffer nicht ,Yeeah' gerufen, sondern mehr so ,Ööööhh'." - Und Henkel berichtet, in den USA sei es wieder ganz anders, "die schreien alle ,Yeeaahh', egal wer trifft." Die Schreitradition ist eben überall anders, und wenn man ganz genau hinhört, dann schreien sie in Deutschland auch nicht "Yeeeaah", oder "Heeeyyy" oder "Jaaaah", wenn einer trifft, sondern etwas ganz anderes. Man muss die Ohren spitzen in dem Höllenlärm, dann hat man die banale Erklärung für den Erfolg: Biathlon ist der einzige Wintersport, bei dem die Fans "Tor" schreien dürfen. Volker Kreisl

Keine schießt schöner: Magdalena Neuner, Protagonistin des Biathlon-Booms und am Freitag in Ruhpolding Siegerin im Sprintrennen Foto: ddp

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