Erster Teil I Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn in voller Fahrt Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; man konnte rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Wagen nur auf zehn Schritte mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die aus nicht sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel. In einem Wagen dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Wagen dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt, die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen und sogar boshaften Lächeln, aber seine Stirn war hoch und gut geformt und verschönte den unvornehm geschnittenen unteren Teil des Gesichts. Besonders auffällig war an diesem Gesicht seine Totenblässe, die der ganzen Physiognomie des jungen Mannes trotz seiner ziemlich kräftigen Konstitution den Anschein der Erschöpfung verlieh und zugleich den Anschein einer qualvollen Leidenschaftlichkeit, die mit seinem frechen, unhöflichen Lächeln und seinem scharfen, selbstzufriedenen Blick nicht recht im Einklang stand. Er war warm gekleidet, denn er trug einen weiten, schwarzen, mit Tuch überzogenen Pelz aus Lammfell, und hatte in der Nacht nicht gefroren, während sein Reisegefährte an seinem frostzitternden Rücken die ganze Annehmlichkeit einer feuchten russischen Novembernacht hatte aushalten müssen, auf die er offenbar nicht hinreichend vorbereitet war. Er trug einen ziemlich weiten, dicken Mantel ohne Ärmel und mit einer gewaltigen Kapuze, von der Art, wie man sie oft auf Reisen zur Winterzeit irgendwo im fernen Ausland benutzt, zum Beispiel in der Schweiz oder in Oberitalien, wo man dabei natürlich auch nicht mit so weiten Fahrten rechnet wie der von Eydtkuhnen nach Petersburg. Aber was in Italien taugte und völlig ausreichte, erwies sich in Rußland als ganz untauglich. Der Eigentümer des Mantels mit der Kapuze war ein junger Mensch, der gleichfalls im Alter von etwa sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren stand, etwas über Mittelgröße, mit sehr hellblondem, dichtem Haar, hohlen Wangen und einem kleinen, spitzen, fast ganz weißen Bärtchen. Seine Augen waren groß, blau und ruhig; in ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes, etwas von jenem eigentümlichen Ausdruck, an dem manche auf den ersten Blick den Epileptiker erkennen. Das Gesicht des jungen Mannes war übrigens angenehm, mit feinen Zügen und nicht zu fleischig, aber farblos, nur daß es augenblicklich geradezu blau gefroren war. An seinen Händen baumelte ein schmächtiges Bündelchen, das in einem alten, verblichenen, seidenen Tuch, wie es schien, sein ganzes Reisegepäck enthielt. An den Füßen hatte er dicksohlige Schuhe mit Gamaschen – alles in nicht-russischer Art. Sein schwarzhaariger Reisegenosse in dem tuchüberzogenen Pelz musterte dies alles genau, zum Teil weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch das manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt: »Ist Ihnen kalt?« Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern. »Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit, »und sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.« »Sie kommen wohl aus dem Ausland?« »Ja, aus der Schweiz.« »Füt! Nun sehen Sie einmal an!« Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte. Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes in dem Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male, namentlich lachte er auf, als auf die Frage: »Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte: »Nein, geheilt bin ich nicht.« »Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt, und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch. »Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich ein danebensitzender schlecht gekleideter Herr in das Gespräch, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!« »Oh, wie Sie sich in meinem Fall irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe, aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.« »Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige. »Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.« »Wo gedenken Sie denn zu bleiben?« »Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde?... Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht... es ist noch ungewiß...« »Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?« Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus. »Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige. »Ich möchte wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Obwohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.« Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein. »Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). »Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen, aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Fall, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren... was einem außerordentlich leicht passieren kann... sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.« »Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt sie ist kaum meine Verwandte; ja ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.« »Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegeben. Hm!... Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm!... Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist, und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt, denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch auf der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann, hatte gute Verbindungen und besaß seinerzeit viertausend Seelen...« »Ganz richtig, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.« Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte. Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was für eine Frau er genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist und so weiter und so weiter, und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse haben, und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein ausgesprochenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar ausgesprochen nur hierdurch Karriere machten. Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte. »Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?« wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen. »Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin«, antwortete dieser, ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit. »Fürst Myschkin? Lew Nikolajewitsch? Kenne ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen«, antwortete der Beamte nachdenkend. »Das heißt, ich meine nicht den Namen; der Name ist ja historisch und in Karamsins Geschichte Rußlands zu finden; ich meine Ihre Person, und überhaupt begegnen Fürsten Myschkin einem nirgends mehr; man hört von ihnen nicht einmal reden.« »Wie könnte es auch anders sein!« versetzte der Fürst sogleich. »Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar keine mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist ebenfalls die Letzte in ihrer Art...« Wortspiel. Der russische Ausdruck kann heißen: »Die Letzte ihres Geschlechts« oder »die Geringste von ihrer Sorte«. »Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!« kicherte der Beamte. Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen. »Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt«, erklärte er schließlich einigermaßen befangen. »Sehr begreiflich, sehr begreiflich!« stimmte ihm der Beamte heiter bei. »Haben Sie denn dort auch Wissenschaften betrieben, Fürst, bei Ihrem Professor?« fragte unvermittelt der Schwarzhaarige. »Ja... allerdings...« »Ich für meine Person habe nie etwas studiert.« »Auch ich nur ein klein wenig«, fügte der Fürst in einem Tone hinzu, der beinah wie eine Bitte um Entschuldigung klang. »Mir einen regulären Unterricht zu erteilen, hielt man in Anbetracht meiner Krankheit nicht für möglich.« »Kennen Sie die Familie Rogoshin?« fragte der schwarzhaarige junge Mensch schnell. »Nein, ich kenne sie nicht, gar nicht. Ich kenne in Rußland überhaupt nur wenige Menschen. Ist Ihr Name Rogoshin?« »Ja, ich heiße Rogoshin, Parfen Rogoshin.« »Parfen? Sind Sie da nicht vielleicht ein Mitglied eben jener Familie Rogoshin...«, begann der Beamte mit noch gesteigerter Wichtigtuerei. »Jawohl, eben jener, eben jener«, unterbrach ihn schnell und mit unhöflicher Ungeduld der Schwarzhaarige, der überhaupt dem Beamten mit dem Gesicht voller Pickel nie Beachtung geschenkt, sondern gleich von Anfang an immer nur zu dem Fürsten gesprochen hatte. »Ja ... ist es möglich?« rief der Beamte starr vor Staunen, die Augen traten ihm beinah aus den Höhlen, und sein ganzes Gesicht nahm sogleich einen ehrerbietigen, knechtischen, ja erschrockenen Ausdruck an. »Sind Sie ein Sohn eben jenes erblichen Ehrenbürgers Semjon Parfenowitsch Rogoshin, der vor einem Monat starb und ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterließ?« »Woher haben Sie denn erfahren, daß er ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterlassen hat?« unterbrach ihn der Schwarzhaarige, der sich auch diesmal nicht dazu herabließ, den Beamten anzusehen. »Nun sehe mal einer den Kerl an!« (Er zwinkerte dem Fürsten zu.) »Und was haben die Leute nur davon, daß sie sich sofort mit Schmeicheleien an einen heranmachen? Aber wahr ist, daß mein Vater gestorben ist und ich jetzt einen Monat nachher beinah ohne Stiefel von Pskow nach Hause fahre. Weder mein niederträchtiger Bruder noch meine Mutter haben mir Geld oder eine Benachrichtigung geschickt nichts haben sie mir geschickt! Als ob ich ein Hund wäre! Einen ganzen Monat lang habe ich in Pskow im Fieber gelegen!« »Aber jetzt werden Sie mehr als ein Milliönchen mit einemmal bekommen, mindestens soviel, o mein Herrgott!« rief der Beamte und schlug die Hände zusammen. »Na, was geht ihn das an? Sagen Sie bitte selbst!« sagte Rogoshin, wieder mit dem Kopfe auf ihn hindeutend, in gereiztem und ärgerlichem Ton. »Ich werde Ihnen ja doch nicht eine einzige Kopeke geben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stellen und auf den Händen gehen.« »Das werde ich tun, das werde ich tun!« »Da haben wir's! Aber ich werde Ihnen nichts geben, gar nichts, und wenn Sie eine ganze Woche lang tanzen!« »Sie brauchen mir nichts zu geben! Das verlange ich auch gar nicht! Sie brauchen mir nichts zu geben! Aber ich werde doch tanzen. Meine Frau und meine kleinen Kinder werde ich im Stich lassen und vor Ihnen tanzen. Aus reiner Liebenswürdigkeit!« »Pfui über Sie!« sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. »Vor fünf Wochen befand ich mich in demselben Zustand wie Sie jetzt«, wandte er sich an den Fürsten. »Mit einem einzigen Bündelchen entfloh ich vor meinem Vater nach Pskow zu einer Tante, und dort habe ich am Fieber krank gelegen, und er ist in meiner Abwesenheit gestorben. Ein Schlagfluß hat ihm den Garaus gemacht. Ich wünsche dem Verstorbenen die ewige Ruhe; aber er hat mich damals fast zu Tode geprügelt. Sie können es mir glauben, Fürst, bei Gott! Wäre ich damals nicht davongelaufen, so hätte er mich auf dem Fleck totgeschlagen.« »Hatten Sie ihn durch irgend etwas gereizt?« fragte der Fürst und betrachtete mit einem gewissen besonderen Interesse den Millionär im Schafpelz. Aber obgleich schon in dem Begriff einer zu erbenden Million möglicherweise etwas Merkwürdiges lag, so war da doch noch etwas anderes, was den Fürsten in Verwunderung versetzte und sein Interesse weckte; und auch Rogoshin selbst unterhielt sich aus irgendeinem Grund gern mit dem Fürsten, wiewohl er anscheinend mehr ein mechanisches als seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung hatte, sozusagen mehr aus Zerstreutheit als aus Gutherzigkeit, aus Unruhe und Aufregung, um nur jemanden anzusehen und über irgendeinen Gegenstand die Zunge in Bewegung zu setzen. Es schien, daß er auch jetzt noch Fieber hatte, wenigstens in einem gewissen Grade. Was den Beamten anlangt, so hing dieser ordentlich an Rogoshins Mund, wagte kaum zu atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, als hielte er es für einen Brillanten. »Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund«, antwortete Rogoshin, »aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm, das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka anordnet, das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich lag damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend mit Gottesnarren zusammen. Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl noch liegen. Erst Konew, Wassilij Wassiljewitsch Konew, hat sich meiner angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarge des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten abgeschnitten und gesagt: ›Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.‹ Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will, denn das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!« wandte er sich an den Beamten. »Wie steht es im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?« »Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!« stimmte ihm der Beamte sogleich bei. »Und kommt einer dafür nach Sibirien?« »Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!« »Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei«, fuhr Rogoshin, zu dem Fürsten gewendet, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder Semjon Semjonowitsch! Er hat mich bei meinem verstorbenen Vater verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der Unbedachtsamkeit getan.« »Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?« sagte dir Beamte in kriecherischem Tone, wie wenn er etwas überlegte. »Die Dame kennen Sie nicht!« schrie ihn Rogoshin ungeduldig an. »Und ich kenne sie doch!« erwiderte der Beamte triumphierend. »Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen wird!« fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort. »Aber vielleicht kenne ich sie doch!« versetzte der Beamte beharrlich. »Da müßte ich nicht Lebedew sein, wenn ich sie nicht kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen; aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere? Also es ist dieselbe Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein Verhältnis mit einem gewissen Tozkij, mit Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht...« »Na, nun sieh mal an!« rief Rogoshin, wirklich erstaunt, aus. »Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid.« »Er weiß alles! Lebedew weiß alles! Auch Alexaschka Lidiatschows Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar ebenfalls nach dem Tode seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Coralie und die Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch vieles, vieles zu erfahren, hatte ich Gelegenheit.« »Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow...«, rief Rogoshin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren blaß geworden und zitterten. »N-ein! N-ein! Entschieden nein!« beeilte sich der Beamte, schnell gefaßt, zu erwidern. »Bei der konnte Lichatschow durch kein Geld zum Ziele gelangen! Nein, die ist von anderer Art als Fräulein Armance. Da ist Tozkij der einzige. Abends sitzt sie im Großen Theater oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Die Offiziere reden ja da unter sich allerlei; aber auch die können nichts beweisen. ›Da ist die berühmte Nastasja Filippowna‹, sagen sie, aber das ist auch alles; sonst ist da nichts zu sagen! Weil eben nichts vorliegt.« »Ja, so verhält sich das alles«, bestätigte Rogoshin mit trüber, finsterer Miene. »Auch Saljoshew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newskij Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freunde Saljoshew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns mit fastenmäßiger Kohlsuppe amüsieren. ›Die ist nichts für dich‹, sagte er; ›das ist‹, sagte er, ›eine Fürstin, sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozkij; Tozkij aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig alt) und eine der ersten Schönheiten von Petersburg heiraten will.‹ Dann teilte er mir noch mit, daß ich Nastasja Filippowna an demselben Tage im Großen Theater wiedersehen könne, im Ballett; sie werde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns zu Hause, bei unserm Vater, da hätte es mal einer probieren sollen und sagen, er wolle ins Ballett gehen; der Vater hätte kurzen Prozeß gemacht und ihn halbtot geprügelt! Ich schlich mich indessen still für ein Stündchen weg und sah Nastasja Filippowna wieder. Die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Am andern Morgen gab mir der Vater zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine, jeden zu fünftausend Rubel, und sagte: ›Geh hin und verkaufe sie; dann trage siebentausendfünfhundert Rubel zu Andrejew aufs Kontor und bezahle sie dort; und was du von den zehntausend noch übrig hast, das bring geradeswegs hierher und liefere es mir ab; ich werde auf dich warten.‹ Die Staatsschuldscheine verkaufte ich und empfing das Geld dafür; aber zu Andrejew aufs Kontor begab ich mich nicht, sondern ich ging, ohne mich umzusehen, nach dem Englischen Magazin und suchte dort für das ganze Geld ein Paar Ohrgehänge aus, jedes mit einem Brillanten fast von Nußgröße; vierhundert Rubel blieb ich noch schuldig; ich nannte meinen Namen, und man gab mir Kredit. Mit den Ohrgehängen ging ich gleich zu Saljoshew: ›So und so, Bruder‹, sagte ich, ›wir wollen zu Nastasja Filippowna gehen.‹ Wir gingen hin. Was ich damals unter den Füßen und vor mir und rechts und links hatte, weiß ich nicht; daran habe ich keine Erinnerung. Wir traten bei ihr gleich in den Salon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich ließ übrigens damals nicht bekannt werden, daß ich selbst der Geber sei, sondern Saljoshew sagte: ›Von Parfen Rogoshin, der Sie gestern gesehen hat, ein kleines Andenken; haben Sie die Gewogenheit, es anzunehmen!‹ Sie öffnete das Etui, betrachtete den Schmuck und lächelte. ›Sagen Sie Ihrem Freund Herrn Rogoshin meinen Dank‹, sagte sie, ›für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit!‹ Dann verneigte sie sich und ging hinaus. Na, warum bin ich damals nicht dort auf dem Fleck gestorben! Aber wenn ich fortging, so tat ich es mit dem Gedanken: ›Lebendig komme ich doch nie wieder her!‹ Was ich aber am schwersten als Kränkung empfand, das war, daß diese Kanaille, der Saljoshew, sich angemaßt hatte, alles allein zu reden und zu tun. Ich bin von kleiner Statur und war wie ein Plebejer gekleidet und hatte dagestanden, sie angestarrt und geschwiegen, weil ich mich schämte; er aber in modischem Anzug, mit pomadisiertem und gekräuseltem Haar, mit seinem frischen Teint und seiner karierten Krawatte hatte den Liebenswürdigen gespielt und ein Mal über das andere gedienert, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ihn für mich genommen! ›Na‹ sagte ich, als wir hinausgegangen waren, ›du wage nicht, dich wieder bei mir blicken zu lassen, verstehst du?‹ Er lachte: ›Aber wie wirst du jetzt vor deinem Vater Semjon Parfenytsch Rechenschaft ablegen?‹ Die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals schon vor, ohne erst nach Hause zu gehen, mich ins Wasser zu stürzen; aber ich dachte: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehrte wie ein armer Sünder nach Hause zurück.« »O weh, o weh!« sagte der Beamte und schnitt dabei eine Grimasse; ja er schüttelte sich sogar mit dem ganzen Leibe. »Und der Selige war imstande, nicht nur wegen zehntausend, sondern schon wegen zehn Rubel einen ins Jenseits zu spedieren.« Er nickte dem Fürsten zu. Der Fürst sah Rogoshin mit lebhaftem Interesse an; es schien, als sei der in diesem Augenblick noch blasser. »Dazu war er imstande!« wiederholte Rogoshin. »Aber was wissen Sie davon?« Dann erzählte er dem Fürsten weiter: »Er erfuhr sogleich alles; Saljoshew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. ›Und das ist nur eine Vorbereitung für dich‹, sagte er. ›Heute abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.‹ Sollte man's glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: ›Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonytsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!‹ Na, ich hatte unterdessen mich von meiner Mutter segnen lassen und mir von Sergej Protuschin zwanzig Rubel geborgt; damit setzte ich mich auf die Bahn und fuhr nach Pskow, wo ich fiebernd ankam. Dort langweilten mich die alten Frauen durch das Vorlesen von Gebeten aus dem Kirchenkalender rein zu Tode, und ich saß betrunken dabei; als ich mein letztes Geld in den Kneipen vertrunken hatte, lag ich die ganze Nacht bewußtlos auf der Straße, und am Morgen hatte ich dann das Fieber; und außerdem hatten mich in der Nacht auch noch die Hunde angefressen. Nur mit Mühe habe ich mich erholt.« »Nun, nun, jetzt wird aber Nastasja Filippowna in einer andern Tonart zu uns reden!« kicherte der Beamte und rieb sich dabei die Hände. »Was ist jetzt an jenem Ohrgehänge gelegen, mein Herr! Jetzt werden wir ihr solche Ohrgehänge zum Ersatz schenken, daß ...« »Hören Sie mal, wenn Sie nur noch ein einziges Mal ein Wort über Nastasja Filippowna sagen, dann gnade Ihnen Gott! Ich werde Sie durchprügeln, wenn Sie auch mit Lichatschow verkehrt haben!« schrie Rogoshin und packte ihn kräftig am Kragen. »Aber wenn Sie mich durchprügeln, so bedeutet das, daß Sie mich nicht von sich stoßen! Prügeln Sie mich! Gerade dadurch gewinnen Sie mich zum Freunde! Wenn Sie mich durchgehauen haben, so haben Sie gerade dadurch unsere Freundschaft besiegelt... Aber da sind wir angelangt!« Sie fuhren tatsächlich in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoshin gesagt hatte, daß er ganz in der Stille abgereist sei, erwarteten ihn doch schon mehrere Menschen. Sie riefen und winkten ihm mit den Mützen. »Nun sieh mal, Saljoshew ist auch da!« murmelte Rogoshin, indem er mit einem triumphierenden, sogar etwas boshaften Lächeln nach ihnen hinblickte; dann wandte er sich auf einmal zum Fürsten. »Fürst, ich weiß nicht, weswegen ich dich liebgewonnen habe. Vielleicht, weil ich dich in einem solchen Augenblick getroffen habe; aber den hier habe ich doch auch getroffen« (er wies auf Lebedew), »und den habe ich nicht liebgewonnen. Komm zu mir, Fürst! Wir werden dir diese Gamaschen ausziehen; ich werde dir den besten Marderpelz kaufen, dir den schönsten Frack machen lassen, eine weiße Weste oder was für eine du sonst wünschst; ich werde dir die Taschen voll Geld stopfen, und...dann wollen wir zu Nastasja Filippowna fahren! Wirst du kommen oder nicht?« »Gehen Sie darauf ein, Fürst Lew Nikolajewitsch!« fügte Lebedew in eindringlichem, feierlichem Tone hinzu. »Lassen Sie sich das ja nicht entgehen! Lassen Sie sich das ja nicht entgehen!« Fürst Myschkin stand auf, streckte Rogoshin höflich die Hand hin und sagte freundlich zu ihm: »Ich werde mit dem größten Vergnügen kommen und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Ich werde sogar vielleicht heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn ich sage Ihnen aufrichtig: auch Sie haben mir sehr gefallen, und besonders als Sie von den Brillantohrgehängen erzählten. Aber auch schon vor den Ohrgehängen haben Sie mir gefallen, obwohl Sie eine so düstere Miene haben. Ich danke Ihnen auch für die versprochenen Kleider und den Pelz; denn ich werde wirklich Kleider und einen Pelz bald nötig haben. An Geld besitze ich in diesem Augenblick kaum eine Kopeke.« »Geld wird dasein, zum Abend wird Geld dasein; komm nur!« »Es wird dasein, wird dasein«, echote der Beamte. »Zum Abend, noch vor Sonnenuntergang, wird welches dasein!« »Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!« »Ich? N-n-nein! Ich bin ja ... Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht.« »Nun, wenn's so ist«, rief Rogoshin, »so bist du ja ein richtiger Gottesnarr, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott.« »Und solche Menschen liebt Gott der Herr«, wiederholte der Beamte. »Und Sie können mir folgen, Sie Schmeißfliege!« sagte Rogoshin zu Lebedew, und alle verließen den Bahnwagen. Lebedew hatte also schließlich doch sein Ziel erreicht. Bald entfernte sich der lärmende Haufe in Richtung des Wosnessenskij Prospekts. Der Fürst mußte sich nach der Litejnaja wenden. Es war feucht und naß; der Fürst erkundigte sich bei Vorübergehenden: er hörte, daß es bis zum Ende seines Weges etwa drei Werst seien, und entschied sich dafür, eine Droschke zu nehmen. II Der General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Hause, etwas seitwärts von der Litejnaja, nach der Preobrashenskij-Kathedrale zu. Außer diesem stattlichen Hause, von dem fünf Sechstel vermietet waren, besaß General Jepantschin noch ein gewaltiges Haus in der Sadowaja, das gleichfalls einen sehr hohen Ertrag brachte. Außer diesen beiden Häusern hatte er dicht bei Petersburg ein sehr bedeutendes, einträgliches Gut und ferner im Petersburger Kreise eine Fabrik. In früheren Zeiten hatte General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, sich auch an Branntweinpachtungen beteiligt. Jetzt war er Mitglied mehrerer solider Aktiengesellschaften und hatte dort eine sehr gewichtige Stimme. Er galt als ein Mann mit großem Vermögen, ausgedehnter Tätigkeit und einflußreichen Verbindungen. An manchen Stellen hatte er es verstanden, sich völlig unentbehrlich zu machen, unter anderm auch in seinem Dienst. Aber daneben war auch bekannt, daß Iwan Fjodorowitsch Jepantschin ein Mann ohne Bildung war, der Sohn eines gemeinen Soldaten; dies konnte ihm ohne Zweifel nur zur Ehre gereichen, aber obgleich der General ein verständiger Mensch war, so war er doch nicht frei von kleinen, sehr verzeihlichen Schwächen und liebte es nicht, daß jemand auf gewisse Dinge anspielte. Aber ein verständiger, gewandter Mensch war er unstreitig. So zum Beispiel befolgte er den Grundsatz, sich nicht vorzudrängen, wo es zweckmäßig war, in den Hintergrund zu treten, und viele schätzten ihn gerade wegen seiner Schlichtheit, gerade deswegen, weil er immer seinen Platz kannte. Wenn indessen diese Beurteiler nur gesehen hätten, was manchmal in Iwan Fjodorowitschs Seele vorging, der seinen Platz so gut kannte! Obwohl er wirklich große Geschicklichkeit und Erfahrung in irdischen Dingen und manche beachtenswerte Fähigkeiten besaß, so vermied er es doch, als der geistige Urheber eines Planes zu erscheinen, und tat lieber so, als führe er nur eine fremde Idee aus; er gab sich als ein Mann, der »ohne Kriecherei treu ergeben« ist, und (wozu läßt man sich nicht durch die Zeitverhältnisse bringen?) sogar als echter Russe. In letzterer Hinsicht geschahen mit ihm sogar einige amüsante Geschichten; aber der General ließ nie den Kopf hängen, auch bei den komischsten Vorfällen nicht; außerdem hatte er Glück, sogar im Kartenspiel, und er spielte außerordentlich hoch und verbarg absichtlich nicht diese kleine (wenn man will) Schwäche, die ihm in vielen Fällen so wesentlichen Nutzen brachte, sondern kehrte sie vielmehr heraus. Die gesellschaftlichen Kreise, in denen er verkehrte, waren von sehr verschiedener Art, selbstverständlich jedoch sämtlich »durchaus anständig«. Aber es lag noch eine große Zukunft vor ihm; er konnte abwarten, konnte noch sehr abwarten, und alles mußte zur rechten Zeit und in der richtigen Ordnung kommen. Auch was sein Lebensalter anlangte, befand sich General Jepantschin noch, wie man so zu sagen pflegt, in den besten Jahren, das heißt er war sechsundfünfzig Jahre alt, nicht älter, was jedenfalls ein blühendes Lebensalter darstellt, ein Lebensalter, von dem eigentlich erst das richtige Leben beginnt. Seine Gesundheit, seine frische Gesichtsfarbe, die kräftigen, wenn auch schwarzen Zähne, der stämmige, untersetzte Körperbau, der ernste Ausdruck morgens im Dienste und die heitere Miene abends beim Kartenspiel oder bei seiner Erlaucht: all dies trug zu seinen gegenwärtigen und künftigen Erfolgen bei und bestreute den Lebensweg Seiner Exzellenz mit Rosen. Der General erfreute sich einer blühenden Familie. Allerdings gab es hier für ihn nicht lauter Rosen; aber dafür war so manches da, worauf schon seit längerer Zeit die wichtigsten Hoffnungen und Bestrebungen Seiner Exzellenz in ernster, herzlicher Empfindung gerichtet waren. Und welche Bestrebungen im Leben könnten auch wichtiger und heiliger sein als die elterlichen? Woran soll jemand sein Herz hängen, wenn nicht an die Familie? Die Familie des Generals bestand aus seiner Gattin und drei erwachsenen Töchtern. Der General hatte in sehr jugendlichem Alter geheiratet, als er noch im Range eines Leutnants stand, und zwar ein mit ihm fast gleichaltriges Mädchen, das weder Schönheit noch Bildung besaß und ihm nur fünfzig Seelen mitbrachte, die allerdings als Grundlage für die weitere günstige Entwicklung seiner Vermögensverhältnisse dienten. Aber der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, daß er sie sogar liebte. Die Generalin stammte aus der fürstlichen Familie Myschkin, einer zwar nicht glänzenden, aber sehr alten Familie, und war auf ihre Herkunft sehr stolz. Eine damals einflußreiche Persönlichkeit, einer jener Gönner, welche die Gönnerschaft nichts kostet, hatte die Freundlichkeit, sich für die Ehe der jungen Prinzessin zu interessieren. Er öffnete dem jungen Offizier ein Türchen zur Karriere und gab ihm einen Stoß nach vorwärts; der aber hätte gar nicht einmal eines Stoßes, sondern nur eines einzigen Gnadenblickes bedurft – er wäre nicht zugrunde gegangen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlebten die Gatten die ganze Zeit ihrer langen Ehe in voller Einmütigkeit. Schon in sehr jungen Jahren hatte es die Generalin verstanden, als eine geborene Prinzessin und als die Letzte ihres Geschlechts, vielleicht auch durch ihre persönlichen Eigenschaften, einige sehr hochgestellte Gönnerinnen zu finden. In der Folgezeit begann sie bei dem Reichtum und dem bedeutenden Dienstrang ihres Gatten sich in diesem hohen Kreis sogar einigermaßen einzuleben. In diesen letzten Jahren waren die Generalstöchter alle drei herangewachsen und herangereift: Alexandra, Adelaida und Aglaja. Allerdings trugen sie alle drei nur den Namen Jepantschin; aber mütterlicherseits waren sie doch von fürstlicher Abkunft; sie hatten eine bedeutende Mitgift und einen Vater, der vielleicht Aussicht hatte, später noch eine sehr hohe Stelle zu erhalten, und, was ebenfalls sehr wichtig war, sie waren alle drei recht hübsch, auch die älteste, Alexandra, nicht ausgenommen, die bereits fünfundzwanzig Jahre alt war. Die mittlere war dreiundzwanzig, und die jüngste, Aglaja, eben erst zwanzig geworden. Diese jüngste war sogar eine wirkliche Schönheit und begann schon in der Gesellschaft großes Aufsehen zu erregen. Aber auch das war noch nicht alles: alle drei zeichneten sich durch Bildung, Verstand und Talente aus. Es war bekannt, daß sie einander innig liebten und sich gegenseitig in jeder Hinsicht behilflich waren. Man sprach sogar von gewissen Opfern, die die beiden älteren zugunsten der jüngsten, die der Abgott des ganzen Hauses war, gebracht haben sollten. In Gesellschaft neigten sie nicht dazu, sich vorzudrängen, sondern waren sogar allzu bescheiden. Niemand konnte ihnen den Vorwurf der Hoffart oder des Dünkels machen; aber doch wußte man, daß sie ihren Stolz hatten und ihren eigenen Wert kannten. Die älteste war musikalisch, die mittlere eine begabte Malerin; aber davon wußte viele Jahre lang fast niemand, und es war erst in der letzten Zeit und nur zufällig an die Öffentlichkeit gekommen. Kurz, es wurde über sie außerordentlich viel Lobendes gesprochen. Indessen fehlte es auch nicht an Übelwollenden. Mit Schrecken redeten diese davon, wie viele Bücher die jungen Damen gelesen hätten. Mit dem Heiraten hatten sie es nicht eilig; sie legten zwar Wert auf den Verkehr in einem gewissen Gesellschaftskreise, aber alles nur mit Maßen. Das war um so bemerkenswerter, als jedermann die Richtung, den Charakter, die Ziele und die Wünsche ihres Vaters kannte. Es war schon gegen elf Uhr, als der Fürst an der Wohnung des Generals klingelte. Der General wohnte im zweiten Stockwerk und hatte eine ziemlich bescheidene, wiewohl seinem Range entsprechende Wohnung. Dem Fürsten wurde von einem Diener in Livree geöffnet, und es bedurfte langer Auseinandersetzungen mit diesem Menschen, der ihn und sein Bündelchen gleich von Anfang an mißtrauisch betrachtete. Endlich, nachdem er ihm wiederholt auf das bestimmteste erklärt hatte, daß er wirklich Fürst Myschkin sei und unbedingt den General in einer notwendigen Angelegenheit sprechen müsse, führte ihn der erstaunte Diener in ein kleines Vorzimmer vor dem eigentlichen, beim Arbeitszimmer gelegenen Empfangszimmer und übergab ihn dort einem andern Diener, der vormittags in diesem Vorzimmer den Dienst versah und dem General die Besucher anzumelden hatte. Dieser zweite Diener trug einen Frack, war über vierzig Jahre alt und hatte eine ernste, wichtige Miene; er stand Seiner Exzellenz zur speziellen Verfügung, wenn derselbe sich im Arbeitszimmer befand, und war sich infolgedessen seines Wertes bewußt. »Warten Sie im Empfangszimmer, und lassen Sie Ihr Bündelchen hier!« sagte er, indem er sich langsam und würdevoll in seinen Lehnstuhl setzte und mit einem strengen, erstaunten Blick den Fürsten ansah, der sich ebendort mit seinem Bündelchen in der Hand neben ihm auf einen Stuhl niederließ. »Wenn Sie erlauben«, sagte der Fürst, »möchte ich lieber hier bei Ihnen warten; was soll ich dort so ganz allein?« »Im Vorzimmer können Sie nicht bleiben, da Sie ein Besucher, das heißt ein Gast, sind. Wollen Sie zum General selbst?« Der Diener konnte sich offenbar nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er einen solchen Besucher vorlassen solle, und hielt es daher für gut, ihn noch einmal zu fragen. »Ja, ich habe ein Anliegen ...«, begann der Fürst. »Ich frage Sie nicht, von welcher Art Ihr Anliegen ist; meine Sache ist nur, Sie zu melden. Aber ohne den Sekretär kann ich nicht hingehen und Sie melden.« Das Mißtrauen dieses Mannes schien immer mehr zu wachsen: der Fürst war doch auch dem Typ der täglichen Besucher gar zu unähnlich. Zwar kam es ziemlich oft, fast täglich, zu bestimmter Stunde vor, daß der General, namentlich in Geschäftsangelegenheiten, Gäste empfing, die manchmal sehr verschiedenartig aussahen; aber trotz dieser Gewohnheit und der recht weitherzigen Instruktion war der Kammerdiener in großem Zweifel; die Vermittlung des Sekretärs schien ihm für die Anmeldung doch unumgänglich notwendig. »Sind Sie wirklich ... aus dem Ausland gekommen?« fragte er schließlich fast unwillkürlich und wurde dabei verlegen. Er wollte vielleicht fragen: ›Sind Sie wirklich Fürst Myschkin?‹ »Ja, ich komme direkt von der Bahn. Mir scheint, Sie wollten fragen, ob ich wirklich Fürst Myschkin bin, taten dies aber aus Höflichkeit nicht.« »Hm! ...« brummte der Diener erstaunt. »Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht belogen habe, und daß Sie mit meiner Anmeldung nichts Unverantwortliches begehen. Daß ich aber in solchem Anzug und mit einem Bündelchen herkomme, dabei ist nichts zu verwundern; meine Vermögensverhältnisse sind augenblicklich nicht glänzend.« »Hm! Ich habe in dieser Hinsicht keine Befürchtungen, sehen Sie! Ich bin verpflichtet, Sie zu melden, und dann wird der Sekretär zu Ihnen herkommen, außer wenn Sie ... Aber das ist es eben: außer wenn ... Wenn es gestattet ist, möchte ich mir erlauben zu fragen: Sie beabsichtigen nicht, aus Bedürftigkeit den General um eine Unterstützung zu bitten?« »O nein, seien Sie darüber ganz beruhigt! Ich habe ein anderes Anliegen.« »Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich fragte im Hinblick auf Ihr Äußeres. Warten Sie auf den Sekretär; der General selbst ist jetzt mit einem Oberst beschäftigt, und dann wird auch der Sekretär kommen ... es ist der Sekretär von einer Aktiengesellschaft.« »Wenn ich also lange werde warten müssen, so möchte ich Sie fragen: kann man hier nicht irgendwo rauchen? Eine Pfeife und Tabak habe ich bei mir.« »Rau-chen?« versetzte der Kammerdiener, ihn geringschätzig und erstaunt anstarrend, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Rauchen? Nein, hier können Sie nicht rauchen, und Sie sollten sich schämen, auch nur daran zu denken. Haha ... Sonderbar!« »Oh, ich meinte ja nicht in diesem Zimmer; daß das nicht geht, weiß ich ja; sondern ich würde irgendwohin gehen, wohin Sie mich weisen würden; denn ich bin daran gewöhnt und habe jetzt schon drei Stunden lang nicht geraucht. Übrigens, wie Sie es für gut halten; wissen Sie, es gibt ein Sprichwort: Kommst du in ein fremdes Kloster, so suche da nicht deine eigene Ordnung einzuführen.« »Na, wie soll ich Sie melden, so einen eigentümlichen Besucher?« murmelte der Kammerdiener beinah unwillkürlich. »Erstens gehört es sich nicht, daß Sie sich hier aufhalten; Sie sollten im Empfangszimmer sitzen, weil Sie selbst sich als Besucher, das heißt als Gast bezeichnen; da wird Rechenschaft von mir gefordert werden ... Wie ist es? Beabsichtigen Sie etwa, bei uns zu wohnen?« fügte er hinzu, noch einmal nach dem Bündel des Fürsten hinschielend, das ihm offenbar keine Ruhe ließ. »Nein, das beabsichtige ich nicht. Selbst wenn ich dazu aufgefordert würde, würde ich nicht hierbleiben. Ich bin ganz einfach nur hergekommen, um mich mit den Herrschaften bekannt zu machen, weiter nichts.« »Wie? Um die Bekanntschaft zu machen?« fragte der Kammerdiener erstaunt und mit verdreifachtem Mißtrauen. »Wie konnten Sie dann aber zuerst sagen, Sie kämen mit einem Anliegen?« »Oh, ich kann kaum sagen: mit einem Anliegen! Das heißt, wenn Sie wollen, habe ich auch ein Anliegen, das aber nur darin besteht, daß ich um einen Rat bitten möchte. In der Hauptsache aber bin ich gekommen, um mich vorzustellen, da ich Fürst Myschkin bin und die Generalin Jepantschina gleichfalls die letzte Fürstentochter aus der Familie Myschkin ist und es außer mir und ihr keine Myschkins mehr gibt.« »Also sind Sie gar noch ein Verwandter?« rief der erschrockene Diener, den ordentlich ein Schauder überlief. »Auch das ist kaum richtig. Übrigens, wenn man es genau nimmt, gewiß, wir sind Verwandte, aber so entfernte, daß wir uns eigentlich kaum als solche betrachten können. Ich habe mich einmal vom Ausland aus brieflich an die Generalin gewandt; aber sie hat mir nicht geantwortet. Ich habe es aber doch für notwendig gehalten, bei meiner Rückkehr hier Beziehungen anzuknüpfen. Ihnen aber setze ich das alles jetzt auseinander, um Ihre Zweifel zu zerstreuen; denn ich sehe, Sie beunruhigen sich immer noch. Melden Sie nur, daß Fürst Myschkin da ist, und der Anlaß meines Besuches wird schon aus der Meldung ersichtlich sein. Empfangen sie mich – gut; empfangen sie mich nicht – auch gut, vielleicht sogar sehr gut. Aber ich glaube, sie werden nicht anders können, als mich empfangen; die Generalin wird gewiß wünschen, den einzigen noch lebenden Repräsentanten ihres Geschlechts zu sehen; denn wie ich mit Bestimmtheit gehört habe, legt sie auf ihre Herkunft großen Wert.« Es hätte scheinen können, daß diese Mitteilungen des Fürsten höchst einfach und natürlich waren; aber je einfacher und natürlicher sie an sich waren, um so absonderlicher kamen sie im gegenwärtigen Augenblick heraus, und der erfahrene Kammerdiener konnte nicht umhin, in ihnen etwas zu finden, was, von einem Menschen zu einem andern Menschen gesagt, durchaus angemessen, aber von einem Gast zu einem Diener gesagt, völlig unangemessen war. Aber da die Diener weit verständiger sind, als die Herrschaften gewöhnlich glauben, so ging es auch dem Kammerdiener durch den Kopf, daß hier zwei Fälle möglich seien: entweder war der Fürst ein Herumtreiber und jedenfalls gekommen, um bei der Herrschaft um ein Almosen zu bitten, oder er war einfach ein Narr und ohne Ehrgefühl, da ein vernünftiger Fürst, der Ehrgefühl besitzt, nicht im Vorzimmer sitzen und mit einem Diener über seine Angelegenheiten reden würde. Hatte er sich also nicht in dem einen wie in dem andern Fall für die Anmeldung zu verantworten? »Aber Sie sollten sich doch in das Empfangszimmer begeben«, bemerkte er möglichst energisch. »Wenn ich da gesessen hätte, hätte ich Ihnen das alles ja nicht auseinandersetzen können«, versetzte der Fürst in heiterem Tone, »und somit würden Sie sich immer noch beim Anblick meines Mantels und meines Bündelchens beunruhigen. Aber jetzt halten Sie es vielleicht nicht einmal mehr für nötig, auf den Sekretär zu warten, sondern gehen einfach selbst hin und melden mich an.« »Ich darf einen Besucher wie Sie ohne den Sekretär nicht anmelden, und außerdem hat der General selbst noch vorhin ausdrücklich verboten, daß er von irgend jemand gestört wird, solange der Oberst da ist; nur Gawrila Ardalionytsch geht ohne Anmeldung hinein.« »Ist das ein Beamter?« »Gawrila Ardalionytsch? Nein. Er ist bei einer Aktiengesellschaft angestellt. Legen Sie doch wenigstens Ihr Bündelchen hin!« »Ich habe selbst schon daran gedacht. Wenn Sie also erlauben, tue ich es. Sagen Sie, soll ich auch den Mantel ablegen?« »Gewiß! Sie können doch nicht im Mantel zu ihm hineingehen.« Der Fürst erhob sich, zog sich eilig den Mantel aus und stand nun in einem ziemlich anständigen, gut gearbeiteten, wiewohl schon abgetragenen Jackett da. Über die Weste zog sich eine stählerne Uhrkette hin. An der Kette war eine silberne Genfer Uhr sichtbar. Obgleich der Fürst ein Narr war (zu dieser Ansicht war der Diener bereits gelangt), schien es dem Kammerdiener des Generals schließlich doch unpassend, dieses Privatgespräch mit dem Besucher länger fortzusetzen, obwohl der Fürst ihm aus irgendeinem Grunde gefiel, natürlich nur so in seiner Art. Aber von einem andern Gesichtspunkte aus erweckte er bei ihm ein entschiedenes, starkes Mißfallen. »Und wann empfängt die Generalin?« fragte der Fürst, indem er sich wieder auf seinen früheren Platz setzte. »Das gehört nicht zu meinem Dienst. Sie empfängt zu verschiedenen Zeiten, je nach der Persönlichkeit. Die Schneiderin wird schon um elf Uhr vorgelassen. Gawrila Ardalionytsch wird ebenfalls früher empfangen als andere, sogar zum ersten Frühstück.« »Hier bei Ihnen ist es in den Zimmern im Winter wärmer als im Ausland«, bemerkte der Fürst, »aber dafür ist es dort auf den Straßen wärmer als bei uns. So ist es einem Russen kaum möglich, im Winter dort in den Häusern zu wohnen, weil er da nicht seine gewohnte Wärme hat.« »Wird da nicht geheizt?« »O doch, aber die Häuser sind anders gebaut, das heißt die Öfen und die Fenster.« »Hm! Sind Sie denn lange im Ausland gereist?« »Vier Jahre. Übrigens habe ich fast immer an einem Orte stillgesessen, auf dem Lande.« »Da sind Sie wohl unsere Verhältnisse nicht mehr gewöhnt?« »Das ist richtig. Können Sie es glauben: ich wundere mich über mich selbst, daß ich das Russischsprechen nicht verlernt habe. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich: ›Aber ich spreche ja noch ganz gut.‹ Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich soviel spreche. Wirklich, seit gestern habe ich fortwährend Lust, russisch zu sprechen.« »Hm! Haha! Haben Sie früher in Petersburg gewohnt?« (Trotz seiner Vorsätze brachte der Diener es doch nicht fertig, ein so höflich und bescheiden geführtes Gespräch seinerseits abzubrechen.) »In Petersburg? Fast gar nicht, nur bei Durchreisen. Auch habe ich früher hier eigentlich nichts gekannt; und jetzt gibt es hier, höre ich, so viel Neues, daß, wie man sagt, auch wer vorher alles gekannt hat, jetzt alles von neuem lernen muß. Es wird hier jetzt viel von den Gerichten geredet.« »Hm! ... Die Gerichte. Die Gerichte, ja, ja, die Gerichte. Aber wie ist es dort? Geht es da beim Gericht gerechter zu oder nicht?« »Ich weiß es nicht. Ich habe über die unsrigen viel Gutes gehört. Da ist ja nun bei uns die Todesstrafe wieder abgeschafft.« Die Todesstrafe war in Rußland nur formal abgeschafft. In den sechziger Jahren (der Zeit der Romanhandlung) fanden verschiedene Hinrichtungen statt. Dostojewskij hat hier wohl auf die Zensur Rücksicht genommen. »Aber dort finden Hinrichtungen statt?« »Ja. Ich habe in Frankreich bei einer zugesehen, in Lyon. Schneider hatte mich mitgenommen.« »Hängen sie die Menschen auf?« »Nein, in Frankreich werden immer die Köpfe abgeschlagen.« »Schreit denn der Betreffende dabei?« »Bewahre! Es geht in einem Augenblick vor sich. Sie legen den Menschen hin, und dann fällt mittels einer Maschine (Guillotine heißt sie) so ein breites Messer mit einem schweren, kräftigen Schlag herunter ... Der Kopf fliegt ab, ehe man nur mit den Augen blinken kann. Die Vorbereitungen sind allerdings peinlich. Wenn das Urteil verkündet ist, machen sie den Hinzurichtenden zurecht, binden ihn und führen ihn auf das Schafott; das ist schrecklich! Das Volk läuft zusammen, sogar die Weiber, obwohl man es dort nicht gern hat, daß Weiber dabei zusehen.« »Die haben dabei auch nichts zu suchen.« »Gewiß, gewiß! Solche Qualen mit anzusehen! ... Der Verurteilte war ein gebildeter, unerschrockener, kräftiger Mann, schon bei Jahren. Legros war sein Name. Nun, sehen Sie, ich sage Ihnen, ob Sie es nun glauben oder nicht: als er auf das Schafott heraufkam, da weinte er und sah weiß aus wie ein Blatt Papier. Ist das möglich? Ist das nicht entsetzlich? Wer weint denn vor Angst? Ich hätte nicht gedacht, daß jemand, der kein Kind ist, vor Angst weinen könnte, ein Mann, der nie geweint hat, ein Mann von fünfundvierzig Jahren. Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹, und da tötet man nun, weil jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe fünfmal davon geträumt.« Der Fürst war beim Sprechen aufgelebt, eine leichte Röte war auf sein blasses Gesicht getreten, obgleich er äußerlich so still und ruhig redete wie vorher. Der Kammerdiener hörte ihm mit teilnahmsvollem Interesse zu und wünschte, wie es schien, nicht mehr, sich von dem Gespräch loszumachen; vielleicht war auch er ein Mensch mit Einbildungskraft und einem Hange zum Nachdenken. »Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er. »Wissen Sie was?« erwiderte der Fürst lebhaft. »Da sagen Sie das nun, und alle Leute sagen es ebenso wie Sie, und die Maschine, die Guillotine, ist ja auch zu diesem Zweck erfunden. Aber mir ging gleich damals ein gewisser Gedanke durch den Kopf: wie, wenn das sogar noch schlimmer wäre? Das scheint Ihnen lächerlich und seltsam; aber wenn man etwas Einbildungskraft besitzt, so kann einem wohl auch ein solcher Gedanke in den Kopf kommen. Überlegen Sie nur: nehmen wir zum Beispiel die Folter; dabei gibt es Schmerzen und Verwundungen, das heißt körperliche Qualen, und daher lenkt dies alles den Gefolterten von dem seelischen Leiden ab, so daß er nur von den Wunden Qualen empfindet bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist. Wenn man so den Kopf gerade unter das Messer legt und hört, wie es über dem Kopf herabgleitet, dann muß diese Viertelsekunde das Allerschrecklichste sein. Wissen Sie wohl, daß das nicht eine Phantasie von mir ist, sondern daß das schon viele gesagt haben? Ich glaube das so bestimmt, daß ich Ihnen gegenüber diese meine Ansicht offen ausspreche. Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig schrecklicher als die von einem Räuber begangene. Derjenige, den Räuber töten, wird bei Nacht gemordet, im Walde, oder sonst auf irgendeine Weise; in jedem Falle hofft er noch bis zum letzten Augenblick auf Rettung. Es hat Beispiele gegeben, daß einem schon die Kehle durchgeschnitten war und er doch noch hoffte und entweder davonzulaufen suchte oder um sein Leben bat. Aber hier ist einem diese ganze letzte Hoffnung, mit der das Sterben zehnmal so leicht ist, mit Sicherheit genommen. Hier ist ein Urteilsspruch, und die ganze schreckliche Qual besteht in dem Bewußtsein, daß man mit Sicherheit dem Tode nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: ›Geh hin; du bist begnadigt!‹ Das hatte Dostojewskij selbst am 22. Dezember 1849 erlebt, als er mit anderen Anhängern des Revolutionärs Petraschewskij hingerichtet werden sollte. Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!« Obgleich der Kammerdiener all dies nicht hätte so ausdrücken können wie der Fürst, verstand er doch, wenn auch nicht alles, so doch die Hauptsache, was sogar an seiner gerührten Miene wahrzunehmen war. »Wenn Sie so sehr wünschen zu rauchen«, sagte er, »so würde das vielleicht auch gehen; nur müßten Sie es sehr bald tun. Denn er könnte auf einmal nach Ihnen fragen, und dann wären Sie nicht da. Sehen Sie, dort unter der kleinen Treppe ist eine Tür. Gehen Sie in die Tür hinein, rechts ist ein Kämmerchen; da können Sie rauchen; nur müssen Sie die Luftklappe aufmachen, denn das Rauchen ist hier doch nicht in der Ordnung.« Aber der Fürst kam nicht mehr dazu fortzugehen und zu rauchen. In das Vorzimmer trat ein junger Mann mit Papieren in der Hand. Der Kammerdiener nahm ihm den Pelz ab. Der junge Mann schielte nach dem Fürsten hin. »Der Herr da sagt mir, Gawrila Ardalionytsch«, begann der Kammerdiener in vertraulichem, beinah familiärem Ton, »daß er ein Fürst Myschkin und ein Verwandter der gnädigen Frau sei; er ist mit dem Zuge aus dem Ausland gekommen, mit einem Bündelchen in der Hand, aber ...« Das Weitere konnte der Fürst nicht verstehen, da der Kammerdiener zu flüstern anfing. Gawrila Ardalionowitsch hörte aufmerksam zu und betrachtete den Fürsten mit großem Interesse; schließlich hörte er nicht mehr weiter zu und trat ungeduldig an ihn heran. »Sie sind Fürst Myschkin?« fragte er sehr freundlich und höflich. Es war ein sehr schöner junger Mann, ebenfalls etwa achtundzwanzig Jahre alt, schlank, blond, von Mittelgröße, mit einem kleinen Napoleonsbärtchen und einem verständigen, sehr hübschen Gesicht. Nur war sein Lächeln bei all seiner Liebenswürdigkeit ein wenig zu schlau; die Zähne traten dabei ein wenig zu perlenartig heraus; der Blick war trotz all seiner Heiterkeit und scheinbaren Offenherzigkeit etwas zu scharf und forschend. Der Fürst hatte die Empfindung: ›Wenn er allein ist, sieht er wahrscheinlich ganz anders aus und lacht vielleicht nie.‹ Der Fürst setzte ihm alles, was er in der Geschwindigkeit konnte, auseinander, fast dasselbe, was er schon vorher dem Kammerdiener und noch früher seinem Reisegefährten Rogoshin auseinandergesetzt hatte. Gawrila Ardalionowitsch schien unterdessen in seinem Gedächtnis etwas zu suchen. »Haben Sie nicht«, fragte er, »vor einem Jahre oder vor noch kürzerer Zeit einen Brief, wie mir scheint, aus der Schweiz an Lisaweta Prokofjewna geschickt?« »Ganz richtig.« »Dann kennt man Sie hier und wird sich Ihrer sicherlich erinnern. Sie wollen zu Seiner Exzellenz? Ich werde Sie sofort melden ... Er wird gleich frei sein. Nur sollten Sie ... Sie sollten bis dahin ins Empfangszimmer gehen ... Warum ist der Herr hier?« wandte er sich in strengem Ton an den Kammerdiener. »Ich sagte schon, der Herr wollte selbst nicht ...« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und ein Offizier mit einem Portefeuille unter dem Arm kam laut redend und sich verabschiedend heraus. »Du bist hier, Ganja?« rief eine Stimme aus dem Arbeitszimmer. »So komm doch herein!« Gawrila Ardalionowitsch nickte dem Fürsten zu und begab sich eilig in das Arbeitszimmer. Ungefähr zwei Minuten darauf öffnete sich die Tür von neuem, und Gawrila Ardalionowitschs wohlklingende, höfliche Stimme rief: »Bitte treten Sie näher, Fürst.« III Der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin stand mitten in seinem Arbeitszimmer und betrachtete mit größter Neugier den eintretenden Fürsten; er ging ihm sogar zwei Schritte entgegen. Der Fürst trat zu ihm heran und stellte sich vor. »Sehr wohl«, antwortete der General, »womit kann ich dienen?« »Ein dringliches Geschäft habe ich nicht; meine Absicht war einfach, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich möchte nicht stören, da ich weder Ihren Empfangstag noch Ihre Dispositionen kenne ... Aber ich komme eben von der Bahn ... ich bin aus der Schweiz hergereist.« Der General war nahe daran zu lächeln, aber er überlegte und hielt inne; dann überlegte er noch ein wenig, kniff die Augen zusammen, musterte seinen Gast noch einmal vom Kopf bis zu den Füßen, bot ihm dann schnell einen Stuhl an, setzte sich selbst schräg gegenüber und wandte sich in ungeduldiger Erwartung zum Fürsten hin. Ganja stand in einer Ecke des Arbeitszimmers am Schreibtisch und blätterte in Papieren. »Für neue Bekanntschaften habe ich im allgemeinen nur wenig Zeit«, sagte der General, »aber da Sie gewiß dabei Ihre Absicht haben, so ...« »Ich habe es mir vorher gedacht«, unterbrach ihn der Fürst, »daß Sie in meinem Besuch jedenfalls irgendeine besondere Absicht sehen würden. Aber bei Gott, außer dem Vergnügen, mit Ihnen bekannt zu werden, habe ich keinerlei besondere Absicht.« »Das Vergnügen ist sicherlich auch für mich ein sehr großes, aber man kann sich nicht immer dem Vergnügen widmen; es kommen manchmal auch Geschäfte vor, wie Sie wissen werden ... Außerdem vermag ich bis jetzt absolut keine gemeinsame Beziehung zwischen uns zu erkennen ... sozusagen einen triftigen Grund...« »Ein triftiger Grund ist unstreitig nicht vorhanden und gemeinsame Beziehungen gewiß nur wenige. Denn daß ich Fürst Myschkin bin und Ihre Gemahlin aus unserem Geschlecht stammt, ist selbstverständlich kein triftiger Grund. Das sehe ich sehr wohl ein. Aber doch liegt darin der ganze Anlaß meines Besuches. Ich bin ungefähr vier Jahre nicht in Rußland gewesen, mehr als vier Jahre, und als ich wegfuhr, war ich beinah nicht bei Sinnen! Damals kannte ich nichts in der Welt, und jetzt noch weniger. Ich bedarf des Verkehrs mit guten Menschen; und dann habe ich da auch noch eine geschäftliche Angelegenheit, und ich weiß nicht, wohin ich mich hinsichtlich derselben um Rat wenden soll. Schon in Berlin dachte ich: ›Das sind beinah Verwandte von mir; mit denen werde ich den Anfang machen, vielleicht passen wir zueinander, sie zu mir und ich zu ihnen, – wenn sie gute Menschen sind.‹ Und daß Sie gute Menschen sind, hatte ich gehört.« »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, versetzte der General verwundert. »Gestatten Sie mir die Frage: wo sind Sie abgestiegen?« »Ich bin noch nirgends abgestiegen.« »Also sind Sie geradeswegs von der Bahn zu mir gekommen? Und ... das Gepäck?« »Als ganzes Gepäck habe ich ein kleines Bündelchen mit Wäsche bei mir, weiter nichts; das trage ich gewöhnlich in der Hand. Ich werde am Abend noch Zeit haben, mir ein Zimmer zu nehmen.« »Also beabsichtigen Sie auch jetzt noch, in einen Gasthof zu gehen?« »Ja, gewiß.« »Nach Ihren Worten hatte ich beinah geglaubt, daß Sie einfach bei mir Quartier nehmen wollten.« »Das wäre doch nur möglich, wenn Sie mich einlüden. Ich gestehe indessen, daß ich auch im Fall einer Einladung nicht hierbleiben würde, nicht aus irgendeinem besonderen Grunde, sondern nur, weil das so in meinem Charakter liegt.« »Nun, da trifft es sich ja gut, daß ich Sie nicht eingeladen habe und nicht einladen werde. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Fürst, um gleich mit einem Male alles klarzulegen: da wir uns soeben darüber ausgesprochen haben, daß von einer Verwandtschaft zwischen uns nicht die Rede sein kann, obwohl eine solche für mich selbstverständlich sehr schmeichelhaft sein würde, so folgt daraus ...« »So folgt daraus, daß ich aufstehen und weggehen soll?« sagte der Fürst sich erhebend und lachte dabei trotz der schwierigen Lage, in der er sich offenbar befand, ganz heiter. »Und bei Gott, General, obwohl ich absolut keine praktische Kenntnis davon habe, was hier Brauch ist und wie hier überhaupt die Menschen leben, so hatte ich mir doch gedacht, daß zwischen uns die Sache genau den Verlauf nehmen werde, den sie jetzt wirklich genommen hat. Nun, vielleicht ist es so auch ganz in der Ordnung ... Ich habe ja auch damals auf meinen Brief keine Antwort bekommen ... Nun also, leben Sie wohl, und entschuldigen Sie, daß ich gestört habe!« Die Miene des Fürsten war in diesem Augenblick so freundlich und sein Lächeln so frei von jeder Beimischung irgendeines verborgenen, feindseligen Gefühls, daß der General plötzlich stutzte und seinen Gast in anderer Weise ansah; die ganze Veränderung seiner Ansicht vollzog sich in einem Moment. »Wissen Sie, Fürst«, sagte er in ganz anderem Ton, »ich kenne Sie ja noch gar nicht, und auch Lisaweta Prokofjewna wird vielleicht den Wunsch haben, ihren Namensvetter zu sehen ... Warten Sie doch ein Weilchen, wenn Sie wollen und Ihre Zeit es erlaubt.« »Oh, meine Zeit erlaubt es schon; meine Zeit steht ganz zu meiner Verfügung.« (Der Fürst legte sogleich seinen weichen, rundkrempigen Hut auf den Tisch.) »Ich muß bekennen, ich hatte auch darauf gerechnet, daß Lisaweta Prokofjewna sich vielleicht an das, was ich ihr geschrieben habe, erinnern werde. Vorhin, als ich dort bei Ihnen wartete, argwöhnte Ihr Diener, daß ich gekommen sei, um Sie um eine Unterstützung zu bitten; ich merkte das, und Sie werden wohl in dieser Hinsicht strenge Instruktionen erteilt haben; aber ich bin wirklich nicht deswegen hergekommen, sondern wirklich nur, um mit Menschen zusammenzukommen. Ich fürchte nur, Ihnen lästig geworden zu sein, und das beunruhigt mich.« »Hören Sie, Fürst«, sagte der General mit einem heiteren Lächeln, »wenn Sie wirklich ein solcher Mensch sind, wie es den Anschein hat, so wird die Bekanntschaft mit Ihnen vielleicht ganz angenehm sein; nur, sehen Sie, ich bin von Geschäften stark in Anspruch genommen und muß mich gleich wieder hinsetzen und dies und das durchsehen und unterschreiben, und dann begebe ich mich zu Seiner Erlaucht und dann in den Dienst; so kommt es, daß, wenn mir auch der Verkehr mit guten Menschen Freude macht ... das heißt ... aber ... Übrigens bin ich von Ihrer vortrefflichen Erziehung so fest überzeugt, daß ... Aber wie alt sind Sie eigentlich, Fürst?« »Sechsundzwanzig.« »Oh! Ich hatte Sie weit jünger geschätzt.« »Ja, man sagt mir, daß ich ein jugendliches Gesicht habe. Aber Sie nicht zu stören, das werde ich schon lernen und bald begreifen, weil es mir selbst sehr zuwider ist, jemanden zu stören ... Und schließlich sind wir, wie mir scheint, dem Äußern nach in vielerlei Hinsicht so verschiedene Menschen, daß wir wohl nicht viele Berührungspunkte haben können. Aber wissen Sie, an diese letzte Bemerkung glaube ich selbst nicht recht; denn sehr oft scheint es nur so, daß keine Berührungspunkte vorhanden seien, und sie sind doch in Menge da ... Das kommt von der menschlichen Trägheit, indem die Menschen einander nur nach dem äußeren Schein klassifizieren und dabei keine Ähnlichkeiten finden können ... Aber ich langweile Sie wohl schon? Es kommt mir vor, als ob Sie ...« »Nur zwei Worte: besitzen Sie wenigstens etwas Vermögen? Oder beabsichtigen Sie vielleicht, irgendeine Beschäftigung anzunehmen? Verzeihen Sie, daß ich so ...« »Aber ich bitte Sie, ich finde Ihre Frage sehr natürlich und begreiflich. Ich besitze zur Zeit gar kein Vermögen und habe vorläufig auch keine Beschäftigung, möchte aber eine solche haben. Ich habe jetzt von fremdem Geld gelebt; mein Professor Schneider, bei dem ich in der Schweiz eine Kur machte und mich wissenschaftlich weiterbildete, hat mir das Reisegeld gegeben, und zwar nur gerade ausreichend, so daß ich jetzt nur einige Kopeken übrig habe. Allerdings habe ich da eine geschäftliche Angelegenheit, in der ich einen guten Rat gebrauchen könnte, aber ...« »Sagen Sie, wovon beabsichtigen Sie denn zunächst zu leben und welches sind Ihre Pläne für die Zukunft?« unterbrach ihn der General. »Ich wollte irgendwie arbeiten.« »Och, Sie sind offenbar ein Philosoph; indessen ... besitzen Sie nach Ihrem eigenen Urteil irgendwelche Talente oder wenigstens einige Fähigkeiten, das heißt solche, durch die man sich sein tägliches Brot verdienen kann? Verzeihen Sie wieder ...« »Oh, es bedarf keiner Entschuldigung! Nein, ich besitze meiner Meinung nach weder Talente noch besondere Fähigkeiten; im Gegenteil, ich habe sogar, weil ich ein kranker Mensch bin, keinen regulären Unterrichtsgang durchgemacht. Was das tägliche Brot anlangt, so möchte ich meinen ...« Der General unterbrach ihn wieder und begann ihn von neuem zu fragen. Der Fürst erzählte noch einmal alles, was er schon vorher erzählt hatte. Es stellte sich heraus, daß der General von dem verstorbenen Pawlischtschew gehört und ihn sogar persönlich gekannt hatte. Warum Pawlischtschew sich für die Erziehung des Fürsten interessiert hatte, das wußte dieser selbst nicht zu erklären, vielleicht einfach aus alter Freundschaft mit seinem verstorbenen Vater. Der Fürst war noch ein kleines Kind gewesen, als der Tod seiner Eltern ihn zur Waise machte, war auf dem Lande aufgewachsen und hatte dort seine ganze Jugend verlebt, namentlich auch, weil sein Gesundheitszustand Landluft verlangte. Pawlischtschew hatte ihn ein paar alten Gutsbesitzerinnen, die mit ihm verwandt waren, anvertraut; es wurde für ihn zuerst eine Gouvernante, dann ein Hauslehrer angenommen; er erklärte übrigens, daß er sich zwar an alles erinnere, aber nur über weniges in befriedigender Weise zu berichten vermöge, da er sich über vieles seinerzeit nicht habe Rechenschaft geben können. Die häufigen Krankheitsanfälle hätten ihn fast zum Idioten gemacht (der Fürst gebrauchte diesen Ausdruck: zum Idioten). Er erzählte endlich, daß Pawlischtschew eines Tages in Berlin den Schweizer Professor Schneider kennengelernt habe, der sich speziell mit diesen Krankheiten beschäftige, in der Schweiz, im Kanton Wallis, eine Heilanstalt besitze und dort nach seiner eigenen Methode Idiotie und andere Geisteskrankheiten mit kaltem Wasser und gymnastischen Übungen kuriere und dabei seine Patienten auch unterrichte und überhaupt für ihre geistige Entwicklung sorge; zu diesem Professor Schneider habe Pawlischtschew ihn vor etwa vier Jahren nach der Schweiz geschickt, sei aber selbst vor zwei Jahren plötzlich gestorben, ohne weitere Anordnungen getroffen zu haben; Schneider habe ihm noch zwei Jahre Unterhalt gewährt und ihn behandelt; er habe ihn zwar nicht völlig geheilt, aber doch eine erhebliche Besserung seines Zustandes herbeigeführt; schließlich habe er ihn auf eigenen Wunsch und infolge eines besonderen Umstandes jetzt nach Rußland geschickt. Der General war sehr erstaunt. »Und Sie kennen bei uns in Rußland niemand, absolut niemand?« fragte er. »Zur Zeit kenne ich niemand ... aber ich hoffe ... außerdem habe ich einen Brief erhalten ...« »Aber Sie haben doch wenigstens«, unterbrach ihn der General, ohne auf das, was der Fürst von dem Brief sagte, recht hinzuhören, »irgend etwas gelernt, und Ihre Krankheit hindert Sie nicht, eine nicht gerade mühevolle Stelle irgendwo im Staatsdienst anzunehmen?« »Oh, daran wird sie mich gewiß nicht hindern. Und was eine Stelle betrifft, so ist es sogar mein lebhafter Wunsch, eine solche zu erhalten, weil ich selbst gern sehen möchte, wozu ich tauglich bin. An meiner geistigen Bildung habe ich die ganzen vier Jahre lang ständig gearbeitet, freilich nicht in regelrechter Form, sondern nach des Professors eigenem System, und es ergab sich, daß ich dabei sehr viele russische Bücher las.« »Russische Bücher? Also können Sie russisch lesen und ohne orthographische Fehler schreiben?« »Oh, das kann ich sehr wohl.« »Vortrefflich! Und die Handschrift?« »Meine Handschrift ist vorzüglich. Hierin besitze ich vielleicht sogar Talent; ich bin geradezu ein Kalligraph. Gestatten Sie, daß ich Ihnen sofort etwas zur Probe schreibe!« sagte der Fürst eifrig. »Haben Sie die Freundlichkeit! Es ist das sogar erforderlich ... Und diese Ihre Bereitwilligkeit gefällt mir sehr, Fürst; Sie sind wirklich sehr liebenswürdig.« »Sie haben so prächtige Schreibutensilien, was für eine Menge Bleistifte und Federn, und wie kräftiges, prachtvolles Papier! ... Und was Sie für ein wundervolles Arbeitszimmer haben! Diese Landschaft hier kenne ich, es ist eine Ansicht aus der Schweiz. Ich glaube sicher, daß der Maler das Bild nach der Natur gemalt hat, und daß ich diese Örtlichkeit gesehen habe: es ist aus dem Kanton Uri ...« »Das kann leicht sein, obwohl das Bild hier gekauft ist. Ganja, geben Sie dem Fürsten Papier; hier sind Federn und Papier. Bitte, setzen Sie sich an dieses Tischchen! Was ist das?« wandte sich der General zu Ganja, der unterdessen aus seinem Portefeuille eine Photographie in Großformat herausgenommen hatte und ihm nun zeigte. »Ah, Nastasja Filippowna! Hat sie dir das selbst geschickt? Selbst?« fragte er Ganja lebhaft und mit dem größten Interesse. »Sie hat es mir soeben gegeben, als ich da war, um ihr zu gratulieren. Ich hatte sie schon lange darum gebeten. Ich weiß nicht, ob das nicht etwa von ihrer Seite eine Anspielung sein soll, daß ich selbst mit leeren Händen, ohne Geschenk, an einem solchen Tage zu ihr kam«, fügte Ganja mit einem unangenehmen Lächeln hinzu. »Aber nein!« unterbrach ihn der General im Tone fester Überzeugung. »Was ist das bei dir für eine seltsame Gedankenverbindung! Sie sollte eine solche Anspielung machen ... und dabei ist sie überhaupt ganz und gar nicht eigennützig. Außerdem, was könntest du ihr schenken? Dazu gehören ja doch Tausende! Etwa dein Bild? Hat sie dich übrigens noch nicht um dein Bild gebeten?« »Nein, das hat sie noch nicht getan, und sie wird es auch vielleicht nie tun. Sie denken doch gewiß an die heutige Abendgesellschaft, Iwan Fjodorowitsch? Sie haben doch gewiß auch eine ausdrückliche Einladung erhalten?« »Gewiß, ich denke daran, gewiß, und werde hingehen. Selbstverständlich! Ihr Geburtstag, an dem sie fünfundzwanzig Jahre alt wird! Hm ... Aber weißt du, Ganja, ich will es dir in Gottes Namen verraten. Bereite dich vor! Sie hat mir und Afanassij Iwanowitsch versprochen, sie werde heute abend bei sich zu Hause das letzte Wort sagen: Sein oder Nichtsein. Also mache dich darauf gefaßt, weißt du!« Ganja geriet auf einmal in eine solche Bestürzung, daß er sogar ein wenig blaß wurde. »Hat sie das wirklich gesagt?« fragte er, und es war, als zittere ihm die Stimme. »Vorgestern hat sie uns ihr Wort gegeben. Wir haben sie beide so in die Enge getrieben, daß sie nicht anders konnte. Nur bat sie uns, dir vorher nichts davon zu verraten.« Der General blickte Ganja forschend ins Gesicht; Ganjas Bestürzung mißfiel ihm offenbar. »Halten Sie sich gegenwärtig, Iwan Fjodorowitsch«, sagte Ganja in aufgeregtem, unsicherem Ton, »daß sie mir ja für meine Entschließung volle Freiheit gelassen hat bis zu dem Augenblick, wo sie selbst sich entschieden haben wird, und auch dann habe ich immer noch freie Hand, mein Wort ...« »Also willst du vielleicht ... also willst du vielleicht ...«, unterbrach ihn der General erschrocken. »Ich habe nichts gesagt.« »Aber ich bitte dich, was willst du uns antun?« »Ich weigere mich ja nicht. Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt ...« »Das fehlte auch noch, daß du dich weigertest!« rief der General unwillig, ohne seinen Ärger verbergen zu wollen. »Lieber Freund, was du jetzt zu tun hast, ist nicht etwa, dich ›nicht zu weigern‹, sondern bereitwillig, mit Vergnügen, mit Freude ihr Jawort zu empfangen ... Wie steht es denn bei dir zu Hause?« »Bei mir zu Hause? Bei mir zu Hause geht alles nach meinem Willen. Nur mein Vater treibt seine Dummheiten wie sonst, er ist jetzt schon ein ganz verkommener Mensch; ich rede mit ihm gar nicht mehr; aber ich halte ihn im Zaum und würde ihm, wenn nicht die Mutter wäre, weiß Gott die Tür weisen. Die Mutter weint natürlich fortwährend, und die Schwester bost sich, aber ich habe ihnen schließlich klipp und klar gesagt, daß ich mein Schicksal selbst zu bestimmen habe und im Hause meine ... Anordnungen befolgt zu sehen wünsche. Meiner Schwester wenigstens habe ich das in Gegenwart der Mutter mit aller Deutlichkeit gesagt.« »Recht klug werde ich aus der Sache immer noch nicht, lieber Freund«, bemerkte der General nachdenklich, wobei er die Schultern etwas in die Höhe zog und die Arme ein wenig ausbreitete. »Nina Alexandrowna hat mir noch neulich, als sie mich besuchen kam (du erinnerst dich wohl?), etwas vorgestöhnt und vorgejammert: ›Was haben Sie denn eigentlich?‹ fragte ich sie. Schließlich kam es heraus, daß sie darin eine Art Entehrung sehen. Nun möchte ich bloß wissen, was darin für eine Entehrung liegen soll! Wer kann Nastasja Filippowna irgendeinen Vorwurf machen oder ihr irgend etwas Schlechtes nachsagen? Etwa, daß sie mit Tozkij ein Verhältnis gehabt hat? Aber das ist ja doch lauter dummes Zeug, namentlich in Anbetracht gewisser Umstände! ›Sie werden sie doch auch nicht mit Ihren Töchtern verkehren lassen‹, sagte sie. Na, so was! Ei, ei, Nina Alexandrowna! Das ist ja doch eine arge Verkennung ... eine arge Verkennung ...« »Der eigenen Stellung«, ergänzte Ganja den Satz des Generals, der nach einem Ausdruck suchte. »Aber sie versteht ihre Stellung; seien Sie ihr nicht böse! Ich habe ihnen übrigens damals gehörig den Kopf gewaschen, damit sie sich nicht wieder in fremde Angelegenheiten einmischen. Und doch bleibt bisher bei uns zu Hause alles nur deswegen im Geleise, weil das letzte Wort noch nicht gesprochen ist; aber das Gewitter rückt heran. Wenn heute das letzte Wort gesprochen wird, dann ist damit alles entschieden.« Der Fürst, der in einer Ecke bei seiner kalligraphischen Probearbeit saß, hörte dieses ganze Gespräch mit an. Nun war er fertig, trat an den Tisch und überreichte dem General sein Blatt. »Also das ist Nastasja Filippowna?« sagte er, indem er das Porträt aufmerksam und neugierig betrachtete. »Eine wunderbar schöne Frau!« setzte er sogleich lebhaft hinzu. Das Porträt stellte in der Tat eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit dar. Sie hatte sich in einem schwarzen Seidenkleid von außerordentlich einfachem, elegantem Schnitt photographieren lassen; das anscheinend dunkelblonde Haar zeigte eine schlichte, für das Haus bestimmte Frisur; die Augen waren dunkel und tief, die Stirn nachdenklich; das Gesicht trug einen leidenden und dabei, wie es schien, doch hochmütigen Ausdruck. Sie war im Gesicht etwas mager und vielleicht auch blaß ... Ganja und der General sahen den Fürsten erstaunt an ... »Nastasja Filippowna? Kennen Sie Nastasja Filippowna etwa schon?« fragte der General. »Ja, ich bin erst vierundzwanzig Stunden in Rußland und kenne bereits eine solche Schönheit«, antwortete der Fürst. Und nun berichtete er von seiner Begegnung mit Rogoshin und teilte alles mit, was dieser erzählt hatte. »Das ist ja eine hübsche Neuigkeit!« rief der General, der wieder in Unruhe geraten war. Er hatte die Erzählung mit großer Aufmerksamkeit angehört und blickte nun Ganja fragend an. »Wahrscheinlich nur so eine Unschicklichkeit«, murmelte dieser, dem gleichfalls eine gewisse Betroffenheit anzumerken war. »Ein Kaufmannssöhnchen schlägt über die Stränge. Ich hatte schon etwas davon gehört.« »Auch ich hatte davon gehört, lieber Freund«, erwiderte der General. »Nastasja Filippowna hat mir gleich damals nach der Geschichte mit den Ohrringen den ganzen Hergang erzählt. Aber die Sache gewinnt jetzt ein anderes Gesicht. Hier kommt vielleicht wirklich eine Million ins Spiel und ... eine Leidenschaft. Eine verdrehte Leidenschaft allerdings; aber es sieht doch nach Leidenschaft aus, und man weiß ja, wozu diese Herren in solchem Rausche fähig sind! ... Hm! ... Wenn daraus nur nicht ein Skandal entsteht!« schloß der General nachdenklich. »Sie haben Furcht vor der Million?« fragte Ganja lächelnd. »Du wohl nicht?« »Was hatten Sie für einen Eindruck, Fürst?« wandte sich Ganja plötzlich an ihn. »Ist das ein energischer Mensch oder nur so ein windiger Patron? Wie urteilen Sie über ihn?« In Ganja ging, als er diese Frage stellte, etwas Besonderes vor. Ein neuer, eigenartiger Gedanke war, wie es schien, in seinem Gehirn aufgeflammt und leuchtete nun ungeduldig aus seinen Augen hervor. Der General, der in wirkliche, ernste Unruhe geraten war, schielte gleichfalls nach dem Fürsten hin, aber mit einem Gesicht, als wenn er von dessen Antwort nicht viel erwarte. »Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll«, antwortete der Fürst, »aber mir schien, daß er von einer starken Leidenschaft, ja von einer krankhaften Leidenschaft ergriffen sei. Auch körperlich machte er noch durchaus den Eindruck eines Kranken. Sehr möglich, daß er sich gleich in den ersten Tagen seines Aufenthaltes hier in Petersburg wieder ins Bett legen muß, namentlich wenn er zu wild draufloslebt.« »So! Also diesen Eindruck hatten Sie?« fragte der General, dessen Interesse dieser Gedanke erregte. »Ja, den Eindruck hatte ich.« »Und derartige Skandalgeschichten werden sich möglicherweise nicht erst in einigen Tagen ereignen, sondern es kann noch heute, ehe es Abend wird, eine überraschende Wendung eintreten«, sagte Ganja lächelnd zum General. »Hm! ... Gewiß ... Sehr möglich; es hängt ganz davon ab, was sie gerade für einen Einfall hat«, versetzte der General. »Sie wissen ja, wie wunderlich sie manchmal ist.« »Was meinst du damit?« rief der General, der sehr verstimmt war, heftig. »Hör mal, Ganja, tu mir den Gefallen und widersprich ihr heute nicht zuviel, und gib dir Mühe, so recht, weißt du ... mit einem Worte, so recht herzlich zu sein ... Hm! ... Warum ziehst du den Mund schief? Hör mal, Gawrila Ardalionytsch, ich halte für zweckmäßig, für sehr zweckmäßig, dir zu sagen: wozu geben wir uns all die Mühe? Du siehst wohl ein, daß ich mich hinsichtlich meines eigenen Gewinnanteils, den mir die Sache bringen soll, längst gesichert habe; ich werde die Angelegenheit auf die eine oder die andere Art, aber jedenfalls zu meinem Vorteil erledigen. Tozkij hat seinen Entschluß gefaßt und wird daran unerschütterlich festhalten, so daß ich mich völlig darauf verlassen kann. Wenn ich daher jetzt noch einen Wunsch hege, so habe ich dabei einzig und allein deinen Vorteil im Auge. Das kannst du dir doch selbst sagen; oder traust du mir etwa nicht? Dabei bist du doch ein Mensch ... ein Mensch ... mit einem Worte, ein Mensch, der Verstand besitzt, und ich habe in dieser Hinsicht auf dich gerechnet ... und Verstand ist doch im vorliegenden Falle ... im vorliegenden Falle ...« »Die Hauptsache«, beendete Ganja den Satz, indem er wieder dem nach einem Ausdruck suchenden General zu Hilfe kam. Dabei verzog er seine Lippen zu einem boshaften Lächeln, das er nicht mehr zu verbergen suchte. Er sah mit seinem brennenden Blick dem General gerade in die Augen, wie wenn er wünschte, daß jener in diesem Blick all seine Gedanken lesen möchte. Der General wurde dunkelrot und fuhr auf. »Nun ja, Verstand ist die Hauptsache!« stimmte er bei und blickte Ganja scharf an. »Du bist doch ein komischer Mensch, Gawrila Ardalionytsch! Wie ich merke, freust du dich ordentlich über das Auftreten dieses Kaufmannssohnes, als ob du darin für dich einen Weg sähest, um aus der Sache herauszukommen. Aber gerade hier wäre es nötig, gleich von Anfang an Verstand zu beweisen; gerade hier wäre es nötig, zu begreifen und beiderseits offen und ehrlich zu verfahren, gegebenenfalls aber wenigstens vorher Mitteilung zu machen, um nicht andere Leute zu kompromittieren, um so mehr, als dazu Zeit genug vorhanden war und sogar jetzt noch Zeit genug ist« (der General zog bedeutsam die Augenbrauen in die Höhe),» obwohl wir nur noch ein paar Stunden übrig haben ... Hast du verstanden? Ja? Willst du eigentlich, oder willst du nicht? Wenn du nicht willst, so sage es; das soll mir auch recht sein. Niemand wird Sie festhalten, Gawrila Ardalionytsch, niemand Sie mit Gewalt in das Fuchseisen hineinziehen, wenn Sie wirklich hier nur ein Fuchseisen zu sehen glauben.« »Ich will«, erwiderte Ganja halblaut, aber mit fester Stimme; dann schlug er die Augen nieder und verstummte mit finsterer Miene. Der General war zufriedengestellt. Er war hitzig geworden, bereute es aber offenbar schon, daß er soweit gegangen war. Plötzlich wandte er sich zum Fürsten, und über sein Gesicht schien der beunruhigende Gedanke hinzugehen, daß der Fürst das alles mit angehört hatte. Aber er beruhigte sich sofort wieder: dazu genügte ein einziger Blick auf diesen. »Oho!« rief der General, als er das kalligraphische Probestück betrachtete, das ihm der Fürst reichte. »Das ist ja geradezu eine Schönschreibevorschrift! Und noch dazu von seltener Schönheit! Sieh mal, Ganja, was für ein Talent!« Auf ein dickes Blatt Velinpapier hatte der Fürst in mittelalterlicher russischer Schrift den Satz geschrieben: »Der demütige Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet.« »Sehen Sie nur«, erklärte der Fürst mit außerordentlicher Freude und Lebhaftigkeit, »dies ist die eigenhändige Unterschrift des Abtes Pafnutij aus dem vierzehnten Jahrhundert, nach einem Faksimile. Sie bewiesen in ihren Unterschriften eine außerordentliche Kunst, all unsere alten Äbte und Metropoliten, und wie geschmackvoll sehen diese Unterschriften manchmal aus, und welche Sorgfalt lassen sie erkennen! Haben Sie nicht wenigstens die Pogodinsche Ausgabe, General? Dann habe ich Ihnen hier etwas in einer anderen Schrift geschrieben: das ist die runde, derbe französische Schrift des vorigen Jahrhunderts; einige Buchstaben weisen sogar abweichende Formen auf; es ist die Schrift der öffentlichen Schreiber, die auf den Marktplätzen saßen; ich habe sie aus einem ihrer Vorschriftenbücher entnommen (ich besaß eins); Sie werden zugeben müssen, daß sie nicht ohne gewisse Vorzüge ist. Betrachten Sie nur diese runden o und a. Ich habe den französischen Schriftcharakter auf das russische Alphabet übertragen, was eine recht schwere Aufgabe war; aber es ist mir doch gut gelungen. Hier ist noch eine schöne, eigenartige Schrift, hier der Satz: ›Eifer überwindet alles.‹ Das ist eine echt russische Schrift, die Schrift der Schreiber oder, wenn Sie wollen, der Militärschreiber. So schreibt man ein amtliches Schriftstück an eine hochgestellte Persönlichkeit; es ist gleichfalls eine runde Schrift, eine sehr schöne, schlichte Schrift, in schlichter Art, aber mit beachtenswertem Geschmack geschrieben. Ein Kalligraph würde diese Schnörkel oder, richtiger gesagt, diese Versuche zu Schnörkeln, hier diese unvollendeten, halben Schwänzchen – sehen Sie, diese hier! – nicht billigen; aber im ganzen – wollen Sie darauf achten! – tritt doch darin ein bestimmter Charakter zutage, und es guckt ordentlich die ganze Seele des Militärschreibers heraus: sie möchte sich gern frei ergehen, und das Talent bittet um die Möglichkeit, sich zu betätigen; aber der Uniformkragen ist fest zugehakt, die Disziplin kommt auch in der Handschrift zum Ausdruck, es ist zum Entzücken! Erst kürzlich frappierte mich ein solches Muster, welches ich zufällig fand, und wo hatte ich es gefunden? In der Schweiz! Nun weiter! Hier ist die einfache, gewöhnliche, ganz reine englische Schrift, das Äußerste an Eleganz, da ist alles reizend, perlenartig, geradezu vollendet. Aber da ist noch eine Variation, und zwar wieder eine französische; ich habe sie einem französischen Commis voyageur entlehnt: es ist dieselbe englische Schrift, aber die Grundstriche sind um eine Kleinigkeit dicker und kräftiger als bei der englischen, und gleich ist das Verhältnis von Licht und Schatten gestört. Und beachten Sie noch dies: die Gestalt der Ovale ist geändert; sie ist eine Kleinigkeit rundlicher, und außerdem sind Schnörkel zugelassen; der Schnörkel aber, das ist ein höchst gefährliches Ding! Der Schnörkel verlangt ungewöhnlich guten Geschmack; aber wenn er dann gelingt, wenn das richtige Verhältnis getroffen ist, dann ist eine solche Schrift auch mit nichts zu vergleichen; man könnte sich geradezu in sie verlieben.« »Oho! In was für Subtilitäten geraten Sie da hinein!« rief der General lachend. »Sie sind ja gar kein gewöhnlicher Kalligraph, mein Bester; Sie sind ein Künstler! Nicht wahr, Ganja?« »Erstaunlich!« sagte Ganja. »Und Sie sind sich auch bewußt, wozu Sie berufen sind«, fügte er spöttisch lachend hinzu. »Lache du nur, lache du nur!« sagte der General, »aber diese Fähigkeit eröffnet dem Fürsten eine gute Laufbahn. Wissen Sie, Fürst, an was für hohe Persönlichkeiten wir Sie jetzt werden Briefe schreiben lassen? Fünfunddreißig Rubel kann man Ihnen gleich von vornherein monatlich geben. Aber es ist schon halb eins«, unterbrach er sich mit einem Blick auf die Uhr. »Also schnell zur Sache, Fürst, denn ich muß mich beeilen, und wir werden uns heute vielleicht nicht mehr sehen. Nehmen Sie einen Augenblick Platz; ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht in der Lage bin, Sie sehr oft zu empfangen; aber ich wünsche von Herzen, Ihnen ein wenig behilflich zu sein, selbstverständlich nur ein wenig, das heißt, was das Notwendigste anlangt; dann werden Sie sich ja selbst nach eigenem Belieben weiterhelfen. Eine kleine Stelle in einem Büro werde ich Ihnen verschaffen, keine sehr anstrengende, aber sie wird Pünktlichkeit verlangen. Jetzt ein Wort über das Weitere: in dem Hause, das heißt in der Familie Gawrila Ardalionowitsch Iwolgins, eben dieses meines jungen Freundes, mit dem ich mir erlaube, Sie bekannt zu machen, haben seine Mutter und seine Schwester von ihrer Wohnung zwei oder drei möblierte Zimmer abgezweigt und geben sie an gut empfohlene Mieter mit Beköstigung und Bedienung ab. Auf meine Empfehlung hin wird, wie ich nicht zweifle, Nina Alexandrowna Sie aufnehmen. Für Sie, Fürst, wird das von außerordentlich hohem Werte sein, schon weil Sie dann nicht allein sein, sondern sich sozusagen im Schoße einer Familie befinden werden, und meiner Ansicht nach dürfen Sie bei den ersten Schritten in einer solchen Hauptstadt wie Petersburg nicht allein sein, Nina Alexandrowna, Gawrila Ardalionytschs Mutter, und Warwara Ardalionowna, seine Schwester, sind Damen, die ich sehr hochschätze. Nina Alexandrowna ist die Gemahlin Ardalion Alexandrowitschs, eines pensionierten Generals, der zu Beginn meiner Dienstzeit mein Kamerad war, mit dem ich aber wegen gewisser Umstände die Beziehungen abgebrochen habe, was mich übrigens nicht hindert, ihn gebührend hochzuachten. Ich setze Ihnen dies alles auseinander, Fürst, damit Sie sehen, daß ich Sie sozusagen persönlich empfehle und folglich mich für Sie gewissermaßen verbürge. Der Preis ist ein sehr mäßiger, und ich hoffe, daß Ihr Gehalt bald völlig dazu ausreichen wird. Allerdings braucht man auch Taschengeld, wenigstens etwas; aber nehmen Sie es mir nicht übel, Fürst, wenn ich Ihnen bemerke, daß Sie am besten tun, auf Taschengeld zu verzichten, und überhaupt kein Geld in der Tasche bei sich führen. Das ist meine Ansicht über Sie, und darum sage ich es Ihnen. Aber da jetzt Ihr Geldbeutel ganz leer ist, so gestatten Sie mir, Ihnen diese fünfundzwanzig Rubel hier anzubieten. Wir werden schon miteinander abrechnen, und wenn Sie wirklich ein so aufrichtiger, treuherziger Mensch sind, wie es nach Ihren Worten scheint, so können sich auch in dieser Hinsicht zwischen uns keinerlei Schwierigkeiten ergeben. Wenn ich mich so für Sie interessiere, so habe ich in bezug auf Sie sogar eine bestimmte Absicht; Sie werden diese später noch kennenlernen. Sie sehen, ich verkehre mit Ihnen ganz zwanglos; ich hoffe, Ganja, du hast nichts dagegen, daß sich der Fürst in eurer Wohnung mit einquartiert?« »Oh, ganz im Gegenteil! Auch meine Mutter wird sich sehr freuen ...«, versicherte Ganja freundlich und zuvorkommend. »Es ist bei euch, soviel ich weiß, erst ein Zimmer vermietet. An diesen, wie heißt er doch gleich? Ferd ... Fer ...« »Ferdyschtschenko.« »Naja; er gefällt mir nicht, dieser euer Ferdyschtschenko. Ein vulgärer Possenreißer. Ich begreife nicht, warum Nastasja Filippowna sich seiner so annimmt. Ist er denn wirklich mit ihr verwandt?« »O nein, das ist alles nur Scherz! Von Verwandtschaft keine Spur!« »Na, hol ihn der Teufel! Na, sind Sie nun zufrieden, Fürst, oder nicht?« »Ich danke Ihnen, General; Sie haben an mir als ein überaus guter Mensch gehandelt, was um so mehr anzuerkennen ist, als ich Sie gar nicht gebeten hatte. Ich sage das nicht aus Stolz; ich wußte tatsächlich nicht, wohin ich mein Haupt legen sollte. Allerdings hat mich vorhin Rogoshin zu sich eingeladen.« »Rogoshin? Aber nein; da möchte ich Ihnen doch den väterlichen oder, wenn Sie lieber wollen, den freundschaftlichen Rat geben, diesen Herrn Rogoshin ganz zu vergessen. Und überhaupt würde ich Ihnen raten, sich an die Familie zu halten, in die Sie eintreten werden.« »Da Sie mir schon soviel Güte erweisen«, begann der Fürst, »so möchte ich Ihnen noch eine Angelegenheit, die mich beschäftigt, vorlegen. Ich habe die Nachricht erhalten ...« »Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der General, »jetzt habe ich wirklich keine Minute Zeit mehr. Ich werde sofort meiner Frau von Ihnen berichten. Wenn sie Sie jetzt gleich zu empfangen wünscht (meinerseits werde ich mich bemühen, sie durch meine Empfehlung dazu zu bewegen), so rate ich Ihnen, die Gelegenheit auszunutzen und sich ihre Gunst zu erwerben, da Lisaweta Prokofjewna Ihnen von großem Nutzen sein kann. Sie sind ja ihr Namensvetter. Und sollte sie es jetzt nicht wünschen, so nehmen Sie ihr das weiter nicht übel, sondern kommen Sie zu anderer Zeit wieder! Und du, Ganja, sieh doch unterdessen diese Rechnung durch, mit der Fedossejew und ich uns vorhin abgequält haben! Vergiß aber nicht, sie nachher wegzuschließen!« Der General ging hinaus, und so kam der Fürst nicht dazu, seine Angelegenheit vorzubringen, von der er etwa zum viertenmal zu reden angefangen hatte. Ganja begann eine Zigarette zu rauchen und bot auch dem Fürsten eine an; dieser nahm sie, versuchte aber nicht, ein Gespräch in Gang zu bringen, um nicht zu stören, sondern betrachtete das Arbeitszimmer. Ganja aber warf kaum einen Blick auf das mit Zahlen bedeckte Papier, auf das ihn der General hingewiesen hatte. Er war zerstreut; sein Lächeln, sein Blick, sein nachdenkliches Wesen machten nach Ansicht des Fürsten jetzt, wo sie beide allein geblieben waren, einen noch unangenehmeren Eindruck. Plötzlich trat er an den Fürsten heran, der sich gerade über Nastasja Filippownas Porträt gebeugt hatte und es betrachtete. »Also gefällt Ihnen eine solche Frau, Fürst?« fragte er, indem er ihn durchdringend ansah, als hätte er irgendeine besondere Absicht. »Ein wunderbar schönes Gesicht!« antwortete der Fürst. »Und ich bin überzeugt, daß sie ein ungewöhnliches Schicksal gehabt hat. Das Gesicht sieht heiter aus, aber sie hat früher wohl furchtbar gelitten, nicht? Davon reden die Augen, dort die beiden Knöchelchen, die beiden Punkte unter den Augen, wo die Wangen anfangen. Es ist ein stolzes Gesicht, schrecklich stolz, und ich weiß nicht, ob sie ein gutes Herz hat. Ach, wenn sie es doch hätte! Dann wäre alles gerettet!« »Würden Sie denn eine solche Frau heiraten?« fragte Ganja weiter, ohne seinen brennenden Blick abzuwenden. »Ich kann überhaupt nicht heiraten, ich bin krank«, versetzte der Fürst. »Aber Rogoshin würde sie heiraten? Was meinen Sie?« »Gewiß, womöglich gleich morgen, denke ich. Er würde sie heiraten und sie eine Woche darauf vielleicht ermorden.« Kaum hatte der Fürst dies gesagt, als Ganja plötzlich so zusammenfuhr, daß der Fürst beinah aufschrie. »Was ist Ihnen?« fragte er, indem er ihn bei der Hand ergriff. »Durchlaucht, Seine Exzellenz lassen bitten, sich zu Ihrer Exzellenz zu bemühen«, meldete ein Diener, der in der Tür erschien. Der Fürst ging hinter dem Diener her. IV Die Jepantschinschen Töchter waren alle drei gesunde, blühende, wohlgewachsene junge Damen mit gut entwickelter Brust und kräftigen, beinah männlichen Armen, und infolge ihrer Kraft und Gesundheit liebten sie es natürlich auch, manchmal tüchtig zu essen, was sie gar nicht zu verbergen suchten. Ihre Mama, die Generalin Lisaweta Prokofjewna, schnitt über den unverhohlenen Appetit der Töchter mitunter ein Gesicht; aber da viele ihrer Ansichten trotz allen äußeren Respekts, mit dem sie von den Kindern aufgenommen wurden, schon längst ihre ursprüngliche, unbestrittene Autorität bei diesen verloren hatten, und zwar in einem Maße, daß ein sich konstituierendes einmütiges Konklave der drei Töchter jedesmal den Sieg davontrug, so fand auch die Generalin im Interesse ihrer eigenen Würde es zweckmäßiger, nicht erst zu streiten, sondern gleich nachzugeben. Allerdings hatte sie ihrem ganzen Charakter nach oft keine Neigung, sich den Geboten der Vernunft unterzuordnen und sich zu fügen, denn Lisaweta Prokofjewna wurde von Jahr zu Jahr launischer und ungeduldiger, ja sogar ein wenig wunderlich; aber da immer noch der sehr gehorsame und wohldressierte Ehemann unter ihrer Herrschaft blieb, so ergoß sich, was an überschüssigem Mißmut sich bei ihr angesammelt hatte, gewöhnlich über sein Haupt, und damit war dann die Harmonie in der Familie wiederhergestellt, und alles ging den denkbar besten Gang. Übrigens erfreute sich auch die Generalin selbst eines guten Appetits und nahm gewöhnlich um halb eins mit ihren Töchtern zusammen an einem reichlichen Frühstück teil, das bald einer Mittagsmahlzeit gleichkam. Eine Tasse Kaffee tranken die jungen Damen schon vorher, Punkt zehn Uhr, im Bett gleich nach dem Aufwachen. Das war ihnen eine liebe Gewohnheit und ein für allemal so festgesetzt. Um halb eins aber wurde der Tisch in dem kleinen Eßzimmer, neben den Zimmern der Mutter, gedeckt, und zu diesem Frühstück im engsten Familienkreise erschien manchmal auch der General selbst, wenn seine Zeit es erlaubte. Außer Tee, Kaffee, Käse, Honig, Butter, Koteletts und einer besonderen Art von Pfannkuchen, die die Generalin selbst sehr gern aß, wurde starke, heiße Bouillon serviert. An dem Morgen, an dem unsere Erzählung begonnen hat, war die ganze Familie im Eßzimmer versammelt und wartete auf den General, der versprochen hatte, um halb eins zu erscheinen. Hätte er sich auch nur um eine Minute verspätet, so wäre sofort nach ihm geschickt worden; aber er erschien pünktlich. Als er an seine Frau herantrat, um sie zu begrüßen und ihr die Hand zu küssen, bemerkte er diesmal in ihrem Gesicht etwas ganz Besonderes. Und obgleich er schon am vorhergehenden Abend ein Vorgefühl gehabt hatte, daß heute wegen einer gewissen »Geschichte« (so pflegte er selbst sich auszudrücken) etwas kommen werde, und schon gestern beim Einschlafen unruhig gewesen war, so bekam er es doch jetzt wieder mit der Angst zu tun. Die Töchter traten an ihn heran, um ihn zu küssen, und obwohl sie ihn keineswegs böse ansahen, so glaubte er doch auch in ihren Gesichtern einen eigentümlichen Ausdruck wahrzunehmen. Allerdings war der General infolge gewisser früherer Vorfälle allzu argwöhnisch geworden, aber als erfahrener und lebenskluger Vater und Gatte ergriff er sofort seine Maßnahmen. Vielleicht verderben wir das Relief unserer Erzählung nicht allzusehr, wenn wir jetzt haltmachen und durch einige hilfreiche Bemerkungen eine wahrhafte und genaue Erklärung der gegenseitigen Beziehungen und der Verhältnisse geben, in denen wir die Familie des Generals Jepantschin beim Beginn unserer Geschichte vorfinden. Wir haben bereits oben gesagt, daß der General zwar kein sehr gebildeter, sondern, wie er selbst sich ausdrückte, nur ein »selbstunterrichteter« Mann, dabei aber doch ein erfahrener Gatte und lebenskluger Vater war. Unter anderm hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, seine Töchter nicht zum Heiraten zu drängen, also ihnen nicht ständig zuzusetzen und sie mit seiner väterlichen Sorge um ihr Lebensglück zu quälen, wie das unwillkürlich und natürlicherweise fortwährend selbst in den verständigsten Familien geschieht, in denen sich erwachsene Töchter ansammeln. Er hatte es sogar erreicht, daß Lisaweta Prokofjewna sein System akzeptierte, obgleich es ihm schwer genug geworden war, schwer deswegen, weil dieses Verfahren eben ein unnatürliches ist; aber die Argumente des Generals waren doch äußerst gewichtig und stützten sich auf greifbare Tatsachen. Er sagte, Mädchen, die man in dieser Hinsicht völlig unbehelligt lasse, müßten naturgemäß einmal zu ernstem Nachdenken kommen, und dann gehe die Sache schnell vonstatten, weil sie sie mit Eifer betrieben und alle Launen und überflüssigen Mäkeleien beiseite ließen. Die Eltern hätten dann weiter nichts zu tun, als unablässig und möglichst unmerkbar darüber zu wachen, daß es nicht zu einer absonderlichen Wahl oder unnatürlichen Neigung komme, und dann nach Abpassung des richtigen Augenblicks mit einemmal kräftig nachzuhelfen und die Sache unter Aufbietung aller Hilfsmittel in Ordnung zu bringen. Schließlich war auch zu erwägen, daß das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Generalsfamilie von Jahr zu Jahr in geometrischer Progression stieg: je mehr Zeit also verging, um so günstiger gestalteten sich auch die Heiratsaussichten der Töchter. Aber mitten unter all diese unbestreitbaren Tatsachen trat noch eine andere Tatsache: die älteste Tochter Alexandra vollendete plötzlich und fast ganz unerwartet (wie das immer so zu geschehen pflegt) das fünfundzwanzigste Lebensjahr. Fast zu derselben Zeit sprach Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ein Mann aus den höchsten Gesellschaftskreisen, mit vortrefflichen Verbindungen und außerordentlich reich, wieder seinen langgehegten Wunsch aus zu heiraten. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und besaß einen ausgezeichneten Charakter sowie einen ungewöhnlich feinen Geschmack. Er wollte sich gut verheiraten; er war ein vorzüglicher Kenner weiblicher Schönheit. Da er seit einiger Zeit mit dem General Jepantschin eng befreundet war, wozu ihre beiderseitige Teilnahme an gewissen finanziellen Unternehmungen wesentlich beitrug, so richtete er an diesen, gewissermaßen mit der Bitte um freundschaftlichen Rat und Anleitung, die Frage, ob er einer seiner Töchter einen Heiratsantrag machen dürfe. Dies führte in dem bisher so still und schön verlaufenen Familienleben des Generals Jepantschin einen sichtbaren Umschwung herbei. Unbestritten die Schönste in der Familie war, wie schon gesagt, die Jüngste, Aglaja. Aber sogar Tozkij selbst mußte sich trotz seines starken Selbstgefühls sagen, daß er hier nicht anklopfen dürfe und daß Aglaja vom Schicksal nicht für ihn bestimmt sei. Vielleicht ging die blinde Liebe und allzu glühende Freundschaft der Schwestern hier allzu weit, jedenfalls waren sie sich schon im voraus in aufrichtiger Überzeugung darüber einig, daß Aglajas Schicksal nicht von gewöhnlicher Art, sondern das denkbar schönste Ideal eines irdischen Paradieses sein müsse. Aglajas künftiger Mann müsse, vom Reichtum ganz abgesehen, alle erdenklichen Vorzüge und Erfolge in sich vereinigen. Die Schwestern hatten sich sogar, und zwar ohne viel Worte zu machen, dahin geeinigt, wenn es nötig sein sollte, ihrerseits zu Aglajas Gunsten ein Opfer zu bringen: Aglaja sollte eine kolossale Mitgift erhalten, eine erheblich größere als sie beide. Die Eltern wußten von dieser Übereinkunft der beiden älteren Schwestern und hegten daher, als Tozkij jene Bitte um Rat aussprach, fast keinen Zweifel, daß eine der beiden älteren Schwestern die elterlichen Wünsche erfüllen würde, um so mehr, als von Afanassij Iwanowitschs Seite Schwierigkeiten bezüglich der Mitgift unmöglich zu erwarten waren. Tozkijs Antrag hatte der General selbst mit der ihm eigenen Lebensklugheit sofort als außerordentlich wertvoll erkannt. Da aber Tozkij selbst vorläufig aus gewissen besonderen Gründen in seinem Vorgehen die allergrößte Vorsicht beobachtete und zunächst nur den Boden sondierte, so hatten auch die Eltern den Töchtern bisher nur ganz vage Andeutungen gemacht. Als Antwort hatten sie von ihnen die gleichfalls nicht ganz bestimmte, aber doch wenigstens beruhigende Erklärung erhalten, daß die Älteste, Alexandra, wohl nicht nein sagen würde. Sie war ein zwar charakterfestes, aber dabei doch gutherziges, verständiges und sehr verträgliches Mädchen; sie wäre sogar ganz gern Tozkijs Frau geworden, und wenn sie einmal ihr Wort gegeben hätte, so hätte sie es ehrlich gehalten. Glanz und Pracht liebte sie nicht; ihr Mann hatte von ihr keine steten Sorgen, keine schroffe Sinnesänderung zu befürchten; sie konnte ihm sogar ein angenehmes, ruhiges Leben verschaffen. Ihre äußere Erscheinung war sehr hübsch, wenn auch nicht gerade aufsehenerregend. Wo konnte es für Tozkij eine bessere Frau geben? Und doch kam die Sache nur äußerst langsam vom Fleck. Tozkij und der General waren beiderseits in aller Freundschaft zu dem Entschluß gelangt, vorläufig jeden formellen, unwiderruflichen Schritt zu unterlassen. Selbst die Eltern sprachen mit den Töchtern immer noch nicht ganz offen über die Angelegenheit, vielmehr hatte sich eine Art von Dissonanz herausgebildet: die Mutter, die Generalin Jepantschina, war aus einem gewissen Grunde unzufrieden geworden, und das war doch von großer Wichtigkeit. Es lag da ein hinderlicher Umstand vor, eine verwickelte, widerwärtige Sache, durch die das ganze Projekt möglicherweise unwiederbringlich zum Scheitern gebracht wurde. Dieser verwickelte, widerwärtige »Kasus« (wie Tozkij selbst sich ausdrückte) reichte in seinen Anfängen sehr weit, etwa achtzehn Jahre, zurück. In der Nähe des sehr großen, ertragreichen Gutes, das Afanassij Iwanowitsch in einem der mittleren Gouvernements besaß, lebte damals ein kleiner Gutsbesitzer höchst kümmerlich und in großer Armut. Es war merkwürdig, wieviel Unglück der Mann ununterbrochen hatte; man erzählte sich darüber wunderliche Geschichten. Er war ein pensionierter Offizier aus guter Adelsfamilie, wodurch er vor Tozkij sogar etwas voraushatte, ein gewisser Filipp Alexandrowitsch Baraschkow. Obgleich er tief in Schulden gesteckt hatte und seine ganze Habe hatte verpfänden müssen, war es ihm endlich, nachdem er wie ein Bauer, ja fast wie ein Zuchthäusler gearbeitet hatte, gelungen, seine kleine Wirtschaft wieder leidlich in Ordnung zu bringen. Selbst der kleinste Erfolg hatte die Wirkung, ihm neue Spannkraft zu verleihen. Guten Mutes, die Brust von Hoffnung geschwellt, verließ er einmal sein Gut, um auf einige Tage in die Kreisstadt zu fahren, wo er einen seiner Hauptgläubiger besuchen und sich womöglich endgültig mit ihm einigen wollte. Aber am dritten Tag nach seiner Ankunft in der Stadt kam der Schulze aus seinem Dörfchen mit verbrannter Backe und versengtem Bart bei ihm angeritten und meldete, daß am vorhergehenden Tag, gerade um Mittag, das Dorf und die sämtlichen Gutsgebäude abgebrannt seien; dabei sei auch die Gemahlin des Gutsbesitzers ums Leben gekommen, während die Kinderchen unversehrt geblieben seien. Diesen Blitz aus heiterem Himmel konnte selbst Baraschkow, wie sehr er auch an harte Schicksalsschläge gewöhnt war, nicht ertragen; er verlor den Verstand und starb einen Monat darauf im Delirium. Das abgebrannte Gut, dessen Bauern in alle vier Winde auseinandergelaufen waren, kam unter den Hammer; was die beiden kleinen Kinder Baraschkows anlangte, ein sechsjähriges und ein siebenjähriges Mädchen, so übernahm es Afanassij Iwanowitsch Tozkij großmütigerweise, sie auf seine Kosten erziehen zu lassen. Sie wurden mit den Kindern seines Verwalters, eines verabschiedeten Beamten mit zahlreicher Familie, eines Deutschen, zusammen erzogen. Bald darauf blieb nur das eine der beiden Mädchen, Nastasja, übrig, da die Jüngere am Keuchhusten starb; Tozkij, der im Ausland lebte, hatte die beiden bald ganz und gar vergessen. Fünf Jahre darauf gedachte Afanassij Iwanowitsch sich einmal auf der Durchreise sein Gut anzusehen und bemerkte plötzlich in seinem Gutshaus in der Familie seines deutschen Verwalters ein reizendes Kind, ein zwölfjähriges munteres, liebenswürdiges, verständiges Mädchen, das außerordentlich schön zu werden versprach; in dieser Hinsicht war Afanassij Iwanowitsch ein Kenner, der sich nicht leicht irrte. Diesmal blieb er nur einige Tage auf dem Gut, fand aber doch Zeit, allerlei Anordnungen zu treffen. In der Erziehung des jungen Mädchens trat eine wesentliche Veränderung ein: es wurde eine respektable, ältere Gouvernante angenommen, eine gebildete Schweizerin, die im höheren Mädchenunterricht Erfahrung besaß und außer in der französischen Sprache auch noch in mehreren Wissenschaften Unterricht geben konnte. Sie zog in das Gutshaus ein, und die geistige Ausbildung der kleinen Nastasja erhielt nun einen größeren Umfang. Nach vier Jahren war diese Ausbildung beendet, und die Gouvernante reiste wieder ab. Dafür aber kam, um Nastasja abzuholen, eine Dame an, welche ebenfalls eine Gutsbesitzerin und Gutsnachbarin Tozkijs war, aber in einem andern, entfernten Gouvernement; diese nahm, in Afanassij Iwanowitschs Auftrag und von ihm bevollmächtigt, die kleine Nastasja mit sich. Auf diesem kleinen Tozkijschen Gut fand sich gleichfalls ein zwar nur kleines, aber soeben erst erbautes Holzhaus; es war außerordentlich geschmackvoll eingerichtet, und das Dörfchen führte wie absichtlich den Namen »Otradnoje«. Etwa »Freudendorf«. Die Gutsbesitzerin brachte Nastasja direkt in dieses stille Häuschen, und da sie selbst, eine kinderlose Witwe, nur eine Werst davon entfernt wohnte, so siedelte auch sie zu Nastasja über. Auch eine alte Haushälterin und eine junge, wohlerfahrene Zofe stellten sich bei Nastasja ein. In dem Haus fanden sich Musikinstrumente, eine erlesene Mädchenbibliothek, Gemälde, Kupferstiche, Bleistifte, Pinsel, Farben, ein wunderhübsches Windspiel, und nach zwei Wochen traf auch Afanassij Iwanowitsch selbst ein ... Von der Zeit an hatte er dieses ihm gehörige Steppendörfchen ganz besonders in sein Herz geschlossen; er besuchte es jeden Sommer und wohnte dort zwei, selbst drei Monate lang. So verging eine ziemlich lange Zeit, wohl vier Jahre, ruhigen und glücklichen, schönen und genußreichen Lebens. Eines Tages – es war zu Anfang des Winters, ungefähr vier Monate, nachdem Afanassij Iwanowitsch im Sommer wieder in »Otradnoje« zu Besuch gewesen war, wo er sich jedoch diesmal nur vierzehn Tage aufgehalten hatte – ereignete es sich, daß irgendwie zu Nastasja Filippownas Ohren ein Gerücht drang, daß Afanassij Iwanowitsch in Petersburg im Begriff sei, eine schöne, reiche, vornehme Dame zu heiraten, kurz, eine solide, glänzende Partie zu machen. Es stellte sich dann heraus, daß dieses Gerücht nicht in allen Einzelheiten mit der Wirklichkeit übereinstimmte: die Heirat war erst in Aussicht genommen und alles noch sehr unbestimmt, aber in Nastasja Filippownas Wesen ging seitdem doch eine gewaltige Wandlung vor. Sie zeigte auf einmal eine große Entschlossenheit und legte eine ganz unerwartete Energie an den Tag. Ohne sich lange zu besinnen, verließ sie ihr kleines Gutshaus, reiste völlig allein nach Petersburg und begab sich dort geradeswegs zu Tozkij. Dieser war äußerst erstaunt und fing an, mit ihr zu reden; aber fast vom ersten Wort an stellte es sich heraus, daß er die ganze Art, in der er sonst mit ihr geredet hatte, ändern mußte: die Ausdrucksweise, den Stimmklang, die bisher so erfolgreich benutzten Themen netter, angenehmer Gespräche, die Form der logischen Schlußfolgerungen, kurz alles, alles, alles! Vor ihm saß ein ganz anderes weibliches Wesen, das keinerlei Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, das er bisher gekannt und erst im Juli in »Otradnoje« verlassen hatte. Erstens wußte und verstand dieses neue Weib, wie sich herausstellte, außerordentlich viel, so viel, daß man höchst erstaunt sein mußte, wie sie es möglich gemacht hatte, sich ein solches Wissen anzueignen und sich so klare Anschauungen zu erarbeiten. (Hatte ihr wirklich ihre Mädchenbibliothek dazu verholfen?) Und damit nicht genug: sie verstand auch sehr viel von juristischen Dingen und besaß sichere Kenntnisse, wenn auch nicht von der menschlichen Gesellschaft, so doch von dem Gang, den gewisse Dinge in der menschlichen Gesellschaft nehmen. Zweitens aber hatte sich ihr Charakter gegen früher vollständig geändert: es war keine Rede mehr von jenem schüchternen, unsicheren Mädchentyp, der bald durch seine originelle Munterkeit und Naivität bezaubert, bald trüb und melancholisch, erstaunt und mißtrauisch, unruhig und zum Weinen geneigt ist. Nein, diejenige, die ihm da ins Gesicht lachte und ihn mit beißendem Spott verwundete, war ein fremdes, überraschendes Wesen. Nastasja erklärte ihm geradezu, sie habe ihm gegenüber in ihrem Herzen nie etwas anderes empfunden als tiefste Verachtung; dieses bis zum Ekel gesteigerte Gefühl sei bei ihr gleich nach dem ersten Erstaunen eingetreten. Dieses neue Weib erklärte ihm, es sei ihr eigentlich vollständig gleichgültig, ob er sich jetzt verheirate und mit wem; aber doch sei sie hergekommen, um ihm diese Heirat zu verbieten, und zwar einfach aus Bosheit, einzig und allein, weil es ihr so gefalle, und folglich müsse es nun so sein. »Und wär's auch nur, damit ich über dich lachen kann, soviel ich will«, sagte sie, »denn jetzt habe auch ich schließlich Lust bekommen zu lachen.« So wenigstens drückte sie sich aus; vielleicht hatte sie damit nicht einmal alles, was sie dachte, ausgesprochen. Aber während die neue Nastasja Filippowna höhnisch lachte und ihm all dies auseinandersetzte, überdachte Afanassij Iwanowitsch diese Angelegenheit für sich und brachte seine ein wenig durcheinandergeworfenen Gedanken nach Möglichkeit wieder in Ordnung. Diese Erwägungen dauerten ziemlich lange; er brauchte zu seinen Überlegungen und zum Fassen eines endgültigen Entschlusses fast zwei Wochen: aber nach zwei Wochen hatte er sich auch entschieden. Afanassij Iwanowitsch war damals schon ungefähr fünfzig Jahre alt und ein höchst solider, gesetzter Mann. Seine Stellung in der Welt und in der Gesellschaft war schon seit langer Zeit auf die festesten Fundamente gegründet. Sich selbst sowie seine Ruhe und Bequemlichkeit liebte und schätzte er über alles in der Welt, wie sich das auch für einen im höchsten Grad anständigen Menschen schickte. Diesen Zustand, der sich durch sein ganzes bisheriges Leben konsolidiert und eine so schöne Form angenommen hatte, war er nicht gewillt, auch nur im geringsten stören oder ins Schwanken bringen zu lassen. Andererseits ließen ihn seine Erfahrung und sein Scharfblick für die Dinge dieser Welt sehr bald und mit völliger Klarheit erkennen, daß er es jetzt mit einem ganz ungewöhnlichen Wesen zu tun habe, daß dies eine Persönlichkeit sei, die nicht nur drohe, sondern auch unfehlbar handle und namentlich vor keinem Hindernisse haltmache, um so weniger, als ihr nichts in der Welt teuer sei, so daß man sie auch durch Geschenke nicht bestechen könne. Hier lag augenscheinlich etwas anderes vor: man spürte eine Art von seelischem Ekel, eine Art von überschwenglicher Entrüstung über Gott weiß wen und was, eine Art von unersättlichem, alles Maß überschreitendem Gefühl der Verachtung, kurz etwas, was in anständiger Gesellschaft als in höchstem Grade lächerlich und unerlaubt gilt und womit zu tun zu haben für jeden anständigen Menschen geradezu eine Strafe Gottes ist. Selbstverständlich hätte Tozkij bei seinem Reichtum und bei seinen Verbindungen ohne weiteres irgendeine kleine, ganz harmlose Schändlichkeit begehen können, um sich diese Unannehmlichkeit vom Hals zu schaffen. Andrerseits war auch Nastasja Filippowna sicherlich kaum imstande, ihm etwas Schlimmes, etwa auf gerichtlichem Wege, zuzufügen; sie konnte nicht einmal einen besonderen Skandal hervorrufen, weil man sie immer mit größter Leichtigkeit in Schranken halten konnte. Aber all das war nur für den Fall richtig, daß Nastasja Filippowna sich dafür entschied, so zu handeln, wie es alle anderen Frauen in ähnlichen Fällen tun, und nicht in ihrer Exzentrizität alles Maß überschritt. Aber hier kam dem klugen Tozkij seine Menschenkenntnis zustatten: er merkte, daß Nastasja Filippowna selbst sehr wohl einsah, wie wenig sie ihm durch die Gerichte schaden konnte, und daß sie ganz andere Gedanken in ihrem Kopf wälzte; das verrieten ihm ihre funkelnden Augen. Da ihr nichts wertvoll war und am wenigsten ihre eigene Person (es bedurfte eines sehr klaren, eindringenden Verstandes, um in diesem Augenblick zu erkennen, daß sie schon längst aufgehört hatte, ihrer eigenen Person irgendwelchen Wert beizulegen, und um als Skeptiker und zynisch denkender Weltmann an die Ernsthaftigkeit dieses Gefühls zu glauben), so war Nastasja Filippowna imstande, sich selbst auf häßliche Weise, etwa durch Sibirien und Zuchthaus, unwiederbringlich zugrunde zu richten, nur um den Menschen zu beschimpfen, gegen den sie einen so unmenschlichen Haß nährte. Afanassij Iwanowitsch hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er ein wenig feige oder, besser ausgedrückt, in höchstem Grade konservativ war. Hätte er zum Beispiel gewußt, daß man ihn auf seiner Hochzeit ermorden würde oder sich dabei sonst etwas sehr Unpassendes, Lächerliches und in der Gesellschaft nicht Übliches ereignen würde, so hätte er gewiß einen großen Schreck bekommen, aber nicht so sehr darüber, daß man ihn ermorden, ihn schwer verwunden oder ihm vor aller Augen ins Gesicht speien würde und so weiter und so weiter, als vielmehr darüber, daß ihm dies unter Verletzung allen Brauches und Anstandes widerfahren würde. Und gerade so etwas war von Nastasja Filippowna zu erwarten, obwohl sie noch darüber schwieg; aber er wußte, daß sie ihn durch und durch kannte und folglich wußte, wie sie ihn am empfindlichsten treffen konnte. Und da die Heirat in der Tat bisher nur in Aussicht genommen war, so gab Afanassij Iwanowitsch nach und fügte sich der Forderung Nastasja Filippownas. Zu seinem Entschluß wirkte auch noch ein anderer Umstand mit: man konnte kaum begreifen, wie wenig das Gesicht dieser neuen Nastasja Filippowna noch dem früheren glich. Früher war sie nur ein recht hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt ... Tozkij konnte es sich lange Zeit nicht verzeihen, daß er sie vier Jahre lang angesehen hatte, ohne ihr Gesicht richtig zu erfassen. Allerdings fällt es in solchen Fällen auch sehr ins Gewicht, wenn auf beiden Seiten eine plötzliche innere Umwandlung vorgeht. Übrigens erinnerte er sich auch an einzelne Momente in der Vergangenheit, wo ihm manchmal sonderbare Gedanken gekommen waren, wenn er zum Beispiel in diese Augen blickte: man konnte in ihnen sozusagen eine tiefe, geheimnisvolle Finsternis ahnen. Diese Augen blickten, als ob sie einem ein Rätsel aufgäben. In den letzten zwei Jahren hatte er sich oft über die Veränderung gewundert, die mit Nastasja Filippownas Gesichtsfarbe vorgegangen war: sie war erschreckend blaß, merkwürdigerweise aber dadurch sogar noch schöner geworden. Tozkij, der wie alle Lebemänner anfangs mit Geringschätzung daran gedacht hatte, wie billig ihm dieses lebensunkundige Wesen zugefallen war, war in der letzten Zeit an der Richtigkeit seiner Ansicht einigermaßen irre geworden. Jedenfalls hatte er noch im letzten Frühjahr beabsichtigt, Nastasja Filippowna in Bälde mit irgendeinem verständigen, ordentlichen, in einem anderen Gouvernement angestellten Beamten gut zu verheiraten und ihr eine hübsche Summe als Mitgift zu geben. (Oh, wie schrecklich und boshaft lachte Nastasja Filippowna jetzt über diesen Plan!) Aber jetzt war Afanassij Iwanowitsch, entzückt über ihren neuen Reiz, sogar auf den Gedanken gekommen, ob er aus diesem Weib nicht von neuem Vorteil ziehen könne. Er beschloß, Nastasja Filippowna in Petersburg wohnen zu lassen und mit allem Komfort und Luxus zu umgeben. Konnte er das eine nicht haben, so wenigstens das andere: mit einer Nastasja Filippowna konnte man sich schon sehen lassen und sich in gewissen Kreisen sogar ein feines Renommee erwerben. In diesem Punkt aber legte Afanassij Iwanowitsch auf sein Renommee großen Wert. Jetzt wohnte nun Nastasja Filippowna schon fünf Jahre in Petersburg, und natürlich hatte in diesem langen Zeitraum vieles sich geklärt und eine bestimmtere Gestalt angenommen. Afanassij Iwanowitschs Lage war wenig tröstlich; das schlimmste war dabei, daß er, nachdem er sich einmal feige gezeigt hatte, sich gar nicht wieder beruhigen konnte. Er fürchtete sich – und wußte selbst nicht einmal wovor; er fürchtete sich einfach vor Nastasja Filippowna. Eine Zeitlang, nämlich während der beiden ersten Jahre, hatte er geargwöhnt, daß Nastasja Filippowna selbst den Wunsch hege, ihn zu heiraten, aber infolge ihres außergewöhnlichen Hochmuts schweige und beharrlich auf seinen Antrag warte. Das wäre ja von ihrer Seite ein sonderbares Ansinnen gewesen, aber Afanassij Iwanowitsch war argwöhnisch geworden: er runzelte die Stirn und überließ sich seinen trüben Gedanken. Zu seiner großen und (so ist das Menschenherz nun einmal!) ihm einigermaßen unangenehmen Überraschung überzeugte er sich jedoch bei einer bestimmten Gelegenheit davon, daß, auch wenn er ihr seine Hand anböte, sie sie nicht annehmen würde. Lange Zeit konnte er das nicht begreifen. Es schien ihm nur eine Erklärung dafür möglich: daß der Stolz »des beleidigten, phantastischen Weibes« so weit gehe, daß es ihr mehr Freude mache, ihre Verachtung einmal durch eine abschlägige Antwort zum Ausdruck zu bringen, als sich für dauernd eine gesicherte Position zu verschaffen und ein unerhörtes Glück zu erlangen. Das schlimmste war, daß Nastasja Filippowna in erschreckendem Maße die Herrschaft über ihn gewann. Auch auf eine Abfindungssumme, selbst auf eine sehr hohe, ging sie nicht ein, und obwohl sie den ihr angebotenen Komfort annahm, lebte sie doch sehr bescheiden und legte in diesen fünf Jahren fast nichts zurück. Afanassij Iwanowitsch hatte ein sehr schlaues Mittel versucht, um seine Ketten zu sprengen: unmerklich und kunstvoll suchte er sie auf geschickte Weise durch ideale Lockungen zu verführen; aber all die verkörperten Ideale: Husaren, Gesandtschaftssekretäre, Dichter, Romanschriftsteller und sogar Sozialisten – nichts machte auf Nastasja Filippowna irgendwelchen Eindruck, gerade als ob sie statt des Herzens einen Stein in der Brust hätte und ihre Gefühle für alle Zeit vertrocknet und erstorben wären. Sie führte ein sehr zurückgezogenes Leben, las viel, beschäftigte sich sogar mit den Wissenschaften und liebte die Musik. Bekannte hatte sie nur wenige: sie verkehrte nur mit ein paar armen, komischen Beamtenfrauen und einigen alten Schauspielerinnen, namentlich aber hegte sie eine warme Zuneigung zu der zahlreichen Familie eines achtenswerten Lehrers und wurde auch ihrerseits in dieser Familie sehr geliebt und, wenn sie zu Besuch kam, mit Freuden empfangen. Ziemlich oft fanden sich abends bei ihr fünf oder sechs Bekannte zusammen, nicht mehr. Tozkij erschien recht häufig und pünktlich. In der letzten Zeit war es nicht ohne große Mühe auch dem General Jepantschin gelungen, Nastasja Filippownas Bekanntschaft zu machen. Gleichzeitig machte sich auf höchst leichte, mühelose Weise auch ein junger Beamter namens Ferdyschtschenko mit ihr bekannt, ein recht ordinärer, vulgärer Hanswurst, der sich als Bruder Lustig gab und gern trank. Des weiteren war ein eigentümlicher junger Mensch namens Ptizyn mit ihr bekannt; er war von bescheidenem Wesen und korrekten, glatten Manieren, stammte aus ärmlicher Familie und hatte sich bis zum Pfandleiher hinaufgearbeitet. Schließlich wurde auch Gawrila Ardalionowitsch mit ihr bekannt ... Das Resultat war, daß Nastasja Filippowna eine eigenartige Berühmtheit erlangte: jedermann wußte von ihrer Schönheit, aber das war auch alles: niemand konnte sich rühmen, etwas bei ihr erreicht zu haben, niemand Nachteiliges über sie erzählen. Durch dieses Renommee und durch ihre Bildung, ihr feines Benehmen und ihren scharfen Verstand, durch alles dies ließ sich Afanassij Iwanowitsch in der Absicht bestärken, einen gewissen Plan durchzuführen. Bis zu diesem Punkt hatten sich die Dinge entwickelt, als General Jepantschin selbst daran tätigen, hervorragenden Anteil zu nehmen begann. Tozkij legte, als er sich in so liebenswürdiger Weise an ihn mit der Bitte um seinen Rat hinsichtlich einer seiner Töchter wandte, ihm durchaus ehrenhaft ein vollständiges und offenherziges Bekenntnis ab. Er eröffnete ihm, daß er entschlossen sei, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um seine Freiheit wiederzuerlangen; er werde sich nicht damit zufriedengeben, wenn sogar Nastasja Filippowna selbst ihm die Versicherung geben sollte, ihn künftig ganz in Ruhe lassen zu wollen; mit Worten werde er sich nicht zufriedengeben; er brauche eine vollständige Garantie. So verbündeten sich denn die beiden und beschlossen, gemeinsam vorzugehen. Sie entschieden sich dafür, es zuerst mit den mildesten Mitteln zu versuchen und sozusagen nur die »edelsten Saiten« in Nastasja Filippownas Herzen anzurühren. Beide fuhren zu ihr, und Tozkij begann geradeheraus mit der Erklärung, seine Lage sei ihm unerträglich geworden; er gestand, daß er selbst an allem schuld sei, sprach es offen aus, daß er nicht umhin könne, sein früheres Verhalten gegen sie zu bereuen; aber er sei eben ein eingefleischter Genußmensch und habe sich selbst nicht in der Gewalt. Jetzt aber wolle er heiraten, und das ganze Schicksal dieser im höchsten Grade wohlanständigen, noblen Ehe liege in ihren Händen; kurz, er erwarte alles von ihrem Edelmut. Dann begann in seiner Eigenschaft als Vater General Jepantschin zu reden; er sprach verstandesmäßig, unter Vermeidung des rührenden Elements, erwähnte nur, daß er seinerseits durchaus ihr Recht anerkenne, über Afanassij Iwanowitschs Schicksal zu entscheiden, und paradierte geschickt mit seiner eigenen Demut, indem er darauf hinwies, daß das Schicksal seiner Tochter, ja vielleicht auch das seiner beiden anderen Töchter, jetzt von ihrer Entscheidung abhänge. Auf Nastasja Filippownas Frage, was man eigentlich von ihr verlange, gestand ihr Tozkij mit der gleichen, ganz unverhüllten Offenheit wie vorher, er habe vor fünf Jahren einen solchen Schreck bekommen, daß er sich auch jetzt nicht eher ganz beruhigen könne, als bis sich Nastasja Filippowna selbst mit irgend jemand verheirate. Er fügte sogleich hinzu, diese Bitte würde von seiner Seite natürlich ungehörig sein, wenn er nicht diesbezüglich eine gewisse Veranlassung hätte. Er habe sehr wohl bemerkt und wisse mit Bestimmtheit, daß ein junger Mann von sehr guter Herkunft, der mit seinen sehr achtenswerten Angehörigen zusammen lebe, nämlich Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, den sie ja ebenfalls kenne und bei sich empfange, sie schon seit langem mit aller Kraft der Leidenschaft liebe und gewiß sein halbes Leben für die bloße Hoffnung, ihre Neigung zu erwerben, hingeben würde. Dieses Geständnis habe ihm Gawrila Ardalionowitsch selbst gemacht, und zwar schon vor längerer Zeit, aus Freundschaft und im Drange seines reinen, jugendlichen Herzens; auch Iwan Fjodorowitsch, der ein Gönner des jungen Mannes sei, wisse schon lange darum. Ja, auch Nastasja Filippowna selbst sei, wenn er, Afanassij Iwanowitsch, nicht irre, die Liebe des jungen Mannes schon längst bekannt, und es scheine ihm sogar, daß sie diese Liebe wohlwollend ansehe. Selbstverständlich sei es ihm ganz besonders peinlich, von alledem zu reden. Aber wenn Nastasja Filippowna seiner, Tozkijs, Versicherung Glauben schenken wolle, daß in seinem Herzen neben dem egoistischen Wunsche, sein eigenes Glück zu zimmern, auch der Wunsch für ihr Wohlergehen lebendig sei, dann werde sie begreifen, daß er schon lange mit Befremden und mit schmerzlicher Empfindung ihre Vereinsamung gesehen habe; sie bewege sich da in einem undefinierbaren Dunkel und wolle nicht an eine mögliche Erneuerung ihres Lebens glauben, das doch in der Liebe und im Familienglück eine Auferstehung erfahren und auf diese Weise ein neues Ziel gewinnen könne. So, wie sie jetzt lebe, werde sie ihre vielleicht glänzenden Fähigkeiten zugrunde richten; sie liebäugle aus freien Stücken mit ihrem Grame und gebe sich einer romantischen Überspannung hin, die weder ihres klaren Verstandes noch ihres edlen Herzens würdig sei. Er wiederholte noch einmal, niemandem könne es peinlicher sein, davon zu reden, als ihm, und schloß, er könne nicht die Hoffnung aufgeben, daß Nastasja Filippowna ihm nicht mit Verachtung antworten werde, wenn er ihr seinen aufrichtigen Wunsch ausspreche, ihr Geschick für die Zukunft sicherzustellen, und ihr eine Summe von fünfundsiebzigtausend Rubel anbiete. Er fügte zur Erklärung hinzu, die Summe sei ihr unter allen Umständen bereits in seinem Testament zugedacht; kurz, es handle sich hier ganz und gar nicht um irgendwelche Entschädigung... Warum wolle sie schließlich nicht glauben, daß er den menschlich verständlichen Wunsch habe, wenigstens irgendwie sein Gewissen zu erleichtern und so weiter und so weiter. Und so brachte er alles vor, was eben in ähnlichen Fällen über dieses Thema gesagt zu werden pflegt. Afanassij Iwanowitsch sprach lange und mit Aufgebot seiner ganzen Redekunst; dabei ließ er noch so beiläufig die interessante Bemerkung einfließen, daß er von diesen fünfundsiebzigtausend Rubel jetzt zum erstenmal habe ein Wort fallenlassen und daß selbst der hier danebensitzende Iwan Fjodorowitsch bisher nichts davon gewußt habe; kurz, daß überhaupt niemand etwas davon wisse. Nastasja Filippownas Antwort setzte die beiden Freunde in Erstaunen. Da war nicht die geringste Spur von ihrer früheren Spottlust, Feindseligkeit und haßerfüllten Gesinnung, keine Spur von jenem früheren Lachen, von dem immer noch bei der bloßen Erinnerung dem armen Tozkij ein kalter Schauder über den Rücken lief. Nein, ganz im Gegenteil: sie schien sich sogar darüber zu freuen, daß sie endlich mit jemand offenherzig und freundschaftlich reden könne. Sie gestand, daß sie selbst schon lange gewünscht habe, um einen freundschaftlichen Rat zu bitten; nur ihr Stolz habe sie davon zurückgehalten, aber jetzt, wo das Eis gebrochen sei, könne ihr nichts erwünschter sein. Anfangs mit einem traurigen Lächeln, dann aber mit heiterem, munterem Lachen gestand sie, daß von ihrem früheren stürmischen Wesen jedenfalls nichts mehr übriggeblieben sei; schon längst habe sie ihre Ansichten über die Dinge teilweise geändert, und obwohl sie im Herzen dieselbe geblieben sei, so müsse sie doch sehr vieles als vollendete Tatsache anerkennen; was geschehen sei, sei geschehen; was vergangen sei, sei vergangen; daher erscheine es ihr sogar seltsam, daß Afanassij Iwanowitsch immer noch ängstlich sei. Dann wandte sie sich an Iwan Fjodorowitsch und erklärte ihm mit einer Miene, die die größte Hochachtung zum Ausdruck brachte, sie habe schon längst sehr viel von seinen Töchtern gehört und sich längst daran gewöhnt, sie aufrichtig hochzuschätzen. Schon der bloße Gedanke, daß sie imstande sei, ihnen irgendwie zu nützen, mache sie glücklich und stolz. Es sei richtig, daß sie sich jetzt sehr bedrückt und einsam fühle, sehr einsam; Afanassij Iwanowitsch habe ihre Empfindungen erraten; sie habe allerdings den Wunsch, wenn auch nicht durch die Liebe, so doch durch den Besitz einer eigenen Familie ein neues Leben zu beginnen und sich eines neuen Zieles bewußt zu werden; aber was Gawrila Ardalionowitsch angehe, so könne sie in dieser Hinsicht fast noch gar nichts sagen. Es habe ja freilich den Anschein, daß er sie liebe, und sie fühle, daß es ihr möglich sein würde, ihn auch ihrerseits liebzugewinnnen, wenn sie auf die Beständigkeit seiner Zuneigung vertrauen dürfe; aber auch wenn sie an seine Aufrichtigkeit glauben wolle, sei er doch noch sehr jung; da sei es für sie schwer, einen Entschluß zu fassen. Was ihr übrigens am meisten an ihm gefalle, sei, daß er eifrig arbeite und allein die ganze Familie unterhalte. Sie habe gehört, daß er ein energischer Mann sei, der seinen eigenen Wert kenne, Karriere machen und vorwärtskommen wolle. Sie habe auch gehört, daß Nina Alexandrowna Iwolgina, Gawrila Ardalionowitschs Mutter, eine ganz vortreffliche, höchst achtenswerte Frau und seine Schwester Warwara Ardalionowna ein sehr interessantes, energisches Mädchen sei; sie habe viel über sie von Herrn Ptizyn gehört. Sie habe gehört, daß die beiden Damen ihr unglückliches Schicksal heldenmütig ertrügen; sie wünsche sehr, ihre Bekanntschaft zu machen; aber es sei noch die Frage, ob diese sie freudig in ihre Familie aufnehmen würden. Alles in allem sage sie nichts gegen die Möglichkeit dieser Ehe; aber das bedürfe noch längerer Überlegung, und sie wünsche nicht, daß man sie dränge. Was die fünfundsiebzigtausend Rubel anlange, so habe sich Afanassij Iwanowitsch unnötigerweise soviel Mühe gegeben, darüber zu reden. Sie kenne selbst den Wert des Geldes und werde die Summe natürlich annehmen. Sie danke Afanassij Iwanowitsch für sein Zartgefühl, daß er nicht nur Gawrila Ardalionowitsch, sondern auch dem General gegenüber nicht davon gesprochen habe, wiewohl eigentlich kein Grund vorhanden sei, weshalb der erstere davon nicht vorher Kenntnis haben solle. Wenn sie in seine Familie eintrete, so habe sie keinen Anlaß, sich dieses Geldes zu schämen. Jedenfalls beabsichtige sie nicht, irgend jemand wegen irgend etwas um Verzeihung zu bitten, und wünsche, daß alle dies wüßten. Sie werde Gawrila Ardalionowitsch nicht eher heiraten, als bis sie die Überzeugung gewonnen habe, daß weder er noch seine Angehörigen irgendwelche heimlichen Ansichten über sie hegten. Jedenfalls meine sie, daß sie an nichts eine Schuld trage; und es wäre sehr gut, wenn Gawrila Ardalionowitsch erführe, in welcher Art sie diese ganzen fünf Jahre hindurch in Petersburg gelebt, in welchen Beziehungen sie während dieser Zeit zu Afanassij Iwanowitsch gestanden und ob sie viel Vermögen angesammelt habe. Wenn sie schließlich das Kapital jetzt annehme, so sehe sie es durchaus nicht als Bezahlung für den Verlust ihrer jungfräulichen Ehre an, an dem sie keine Schuld trage, sondern einfach als eine Entschädigung für das Leben, das ihr dadurch verdorben worden sei. Sie geriet sogar (was übrigens nur natürlich war) bei all diesen Darlegungen so in Hitze und Erregung, daß General Jepantschin sehr zufrieden war und die Sache für erledigt hielt; aber Tozkij, der nun einmal ängstlich geworden war, traute dem Frieden auch jetzt noch nicht ganz und fürchtete immer noch, es könnte unter den Blumen eine Schlange verborgen sein. Dennoch begannen die Unterhandlungen; derjenige Punkt, auf dem das ganze Manöver der beiden Freunde beruhte, nämlich die Möglichkeit, Nastasja für Ganja zu interessieren, gewann allmählich eine klarere, bestimmtere Gestalt, so daß selbst Tozkij manchmal anfing, an die Möglichkeit des Gelingens zu glauben. Unterdessen sprach sich Nastasja Filippowna mit Ganja aus: Worte wurden dabei allerdings nur wenige gewechselt, als litte ihr Schamgefühl gar zu sehr. Sie gestattete ihm, sie weiter zu lieben, erklärte aber auf das bestimmteste, sie wolle sich in keiner Weise binden; sie behalte sich bis zur Hochzeit (wenn es wirklich zur Hochzeit komme) das Recht vor, nein zu sagen, sogar bis zur letzten Stunde; ganz dasselbe Recht gestehe sie auch ihm zu. Bald darauf erfuhr Ganja durch einen günstigen Zufall, daß der Widerwille seiner ganzen Familie gegen diese Ehe und gegen Nastasja Filippownas Person, der sich in wiederholten häuslichen Szenen geäußert hatte, bereits mit vielen Einzelheiten zu Nastasja Filippownas Kenntnis gelangt war; sie selbst redete mit ihm nicht darüber, obgleich er es täglich erwartete. Es ließe sich übrigens noch vieles von all den unangenehmen Geschichten erzählen, die anläßlich dieser Brautwerbung und der Verhandlungen vorkamen; aber wir haben so schon vorgegriffen; auch erschien manches davon erst in Form sehr unbestimmter Gerüchte. So hatte zum Beispiel Tozkij irgendwoher erfahren, daß Nastasja Filippowna in irgendwelche nicht näher bekannten, geheimen Beziehungen zu den Jepantschinschen jungen Damen getreten sei – ein ganz unglaubwürdiges Gerücht. Dagegen schenkte er einem anderen Gerüchte unwillkürlich Glauben und wurde dadurch in große Angst versetzt: er hörte als sicher, Nastasja Filippowna wisse ganz genau, daß Ganja sie nur des Geldes wegen heiraten wolle, daß Ganja ein schwarzes, habgieriges, unverträgliches, neidisches und grenzenlos egoistisches Herz habe, daß Ganja zwar früher wirklich leidenschaftlich danach gestrebt habe, sie zu erobern, daß er aber, seitdem die beiden Freunde beschlossen hätten, diese nunmehr von beiden Seiten beginnende Leidenschaft zu ihrem Vorteil auszubeuten und ihn zu kaufen, indem sie ihm Nastasja Filippowna als rechtmäßige Gattin verkauften, die bisher Geliebte nun grimmig hasse, daß in seinem Herzen Leidenschaft und Haß jetzt in sonderbarer Weise vereinigt seien und er zwar schließlich nach qualvollem Hinundherschwanken endlich eingewilligt habe, »das liederliche Frauenzimmer« zu heiraten, aber sich selbst im stillen geschworen habe, sich später dafür bitter an ihr zu rächen und sie schwer »büßen zu lassen«, wie er sich selbst ausgedrückt habe. Alles dies wisse Nastasja Filippowna und bereite im geheimen irgend etwas vor. Tozkij war dermaßen beängstigt, daß er nicht einmal dem General Jepantschin etwas von seinen Befürchtungen mitteilte; aber es kamen auch Augenblicke vor, in denen er, wie das schwachherzige Menschen zu tun pflegen, den Kopf wieder aufrichtete und schnell neuen Mut faßte; so ermutigte es ihn zum Beispiel außerordentlich, als Nastasja Filippowna endlich den beiden Freunden das Versprechen gab, sie werde am Abend ihres Geburtstages das entscheidende Wort sprechen. Aber dagegen erwies sich ein ganz seltsames und ganz unglaubliches Gerücht, das den achtenswerten Iwan Fjodorowitsch selbst betraf, leider mehr und mehr als richtig. Auf den ersten Blick erschien dabei alles als der barste Unsinn. Es war schwer zu glauben, daß Iwan Fjodorowitsch bei seinem würdigen Alter, bei seinem vortrefflichen Verstand und seiner praktischen Lebenskenntnis und so weiter und so weiter sich in Nastasja Filippowna verliebt haben sollte, und zwar gleich dermaßen, daß diese wunderliche Verirrung fast zu einer Leidenschaft wurde. Worauf er dabei seine Hoffnungen gründete, das war schwer auszudenken; vielleicht sogar auf Ganjas eigenen Beistand. Tozkij vermutete wenigstens etwas Derartiges; er vermutete, daß eine beinahe ohne Worte abgeschlossene, auf gegenseitigem Verständnis beruhende Verabredung zwischen dem General und Ganja bestehe. Übrigens ist bekannt, daß ein Mensch, der in den Bann einer Leidenschaft gerät, namentlich wenn er schon bei Jahren ist, vollständig blind wird und sich Hoffnungen macht, wo für ihn nicht die geringste Aussicht ist, ja alles gesunde Urteil verliert und, obwohl sonst ein Ausbund von Klugheit, nun wie ein törichtes Kind handelt. Man wußte, daß der General vorhatte, Nastasja Filippowna zu ihrem Geburtstage einen wundervollen Perlenschmuck zu schenken, der ein gewaltiges Geld kostete, und sich von diesem Geschenk viel versprach, obgleich er Nastasja Filippownas Uneigennützigkeit kannte. Am Abend vor ihrem Geburtstag war er wie im Fieber, obwohl er sich geschickt beherrschte. Von eben diesem Perlenschmuck hatte auch die Generalin Jepantschina gehört. Allerdings hatte Lisaweta Prokofjewna schon seit längerer Zeit Proben von der Flatterhaftigkeit ihres Gatten gehabt und sich sogar zum Teil daran gewöhnt, aber eine solche Gelegenheit durfte sie nicht unbenutzt vorübergehen lassen: das Gerücht von dem Perlenschmuck regte sie außerordentlich auf. Der General merkte das zum Glück noch rechtzeitig, da die Generalin schon am Abend vor dem Geburtstag ein paar Anspielungen darauf machte; er ahnte, daß die eigentliche Auseinandersetzung ihm noch bevorstand, und fürchtete sich davor. Dies war der Grund, weshalb er an dem Morgen, mit dem wir unsere Erzählung begonnen haben, schlechterdings keine Lust verspürte, im Kreise der Familie sein Frühstück einzunehmen. Noch bis zur Ankunft des Fürsten war er entschlossen gewesen, sich mit dringenden Geschäften zu entschuldigen und der Sache aus dem Wege zu gehen. Aus dem Wege gehen bedeutete bei dem General manchmal nichts anderes als die Flucht ergreifen. Er wollte wenigstens diesen einen Tag und namentlich den heutigen Abend ohne Unannehmlichkeiten genießen. Da stellte sich plötzlich, wie gerufen, der Fürst ein. ›Den hat mir Gott gesandt!‹ dachte der General im stillen, als er zu seiner Gemahlin ins Zimmer trat. V Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechtes, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken und ihre Gedanken irgendwie in eine andere Richtung zu lenken. Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber noch dichtem Haar, etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Effekt mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben. »Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?« Dabei riß die Generalin die Augen auf, soweit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an. »Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Büro eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist...« »Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?« »Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens macht er den Eindruck eines gebildeten Menschen. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.« »Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Tone und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Manne und umgekehrt hin und her rollen. »Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen... übrigens ganz, wie es dir beliebt; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen, denn das ist beinahe ein gutes Werk.« »Bei uns verkehren lassen? Aus der Schweiz kommt er? »Die Schweiz kann dabei nicht hinderlich sein; übrigens noch einmal: ganz, wie du willst. Ich wünschte es deswegen, weil er erstens dein Namensvetter und vielleicht sogar ein Verwandter von dir ist und weil er zweitens nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Ich dachte sogar, du würdest dich für ihn ein wenig interessieren, da er ja doch zu unserer Familie gehört.« »Selbstverständlich, maman, wenn wir mit ihm keine Umstände zu machen brauchen«, sagte Alexandra, die Älteste. »Überdies wird er von seiner Reise hungrig sein; warum sollen wir ihm da nicht etwas zu essen geben, wenn er nicht weiß, wo er bleiben soll?« »Und obendrein ist er das reine Kind; man kann mit ihm noch Blindekuh spielen.« »Blindekuh spielen? Wieso?« »Ach, maman, hören Sie doch bitte auf, sich so anzustellen!« unterbrach Aglaja sie ärgerlich. Die Mittlere, Adelaida, ein lachlustiges Ding, konnte sich nicht länger halten und lachte los. »Rufen Sie ihn her, Papa, maman erlaubt es«, entschied Aglaja. Der General klingelte und gab Befehl, den Fürsten zu rufen. »Aber nur unter der Bedingung, daß ihm jedenfalls eine Serviette um den Hals gebunden wird, wenn er sich an den Tisch setzt«, erklärte die Generalin. »Ruft Fjodor oder Mawra ... es soll einer hinter ihm stehen und auf ihn aufpassen, wenn er ißt. Verhält er sich denn wenigstens ruhig, wenn er seine Anfälle bekommt? Schlägt er nicht mit den Armen um sich?« »Er ist sogar im Gegenteil sehr wohlerzogen und hat sehr gute Manieren. Etwas zu naiv ist er manchmal... Aber da ist er ja selbst! Hier stelle ich euch den Fürsten Myschkin vor, den Letzten dieses Geschlechtes, einen Namensvetter und vielleicht sogar Verwandten; nehmt ihn freundlich auf! Es findet gleich das Frühstück statt, Fürst; erweisen Sie uns also die Ehre... Mich aber entschuldigen Sie bitte; ich habe mich schon verspätet und muß mich beeilen...« »Man weiß schon, wohin Sie es so eilig haben«, sagte die Generalin würdevoll. »Ich muß eilen, ich muß eilen, liebe Frau; ich habe mich schon verspätet. Gebt ihm auch eure Albums, mesdames, damit er euch etwas hineinschreibt; er ist ein Kalligraph, wie man ihn selten findet! Dort bei mir in meinem Arbeitszimmer hat er in altertümlicher Schrift geschrieben: ›Der Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ ... Nun, auf Wiedersehen!« »Pafnutij? Abt? So warten Sie doch, warten Sie doch, wohin wollen Sie denn, und was ist das für ein Pafnutij?« rief die Generalin eigensinnig, ärgerlich und beinah in Aufregung ihrem davoneilenden Gatten nach. »Ja, ja, liebe Frau, das war so ein Abt in alten Zeiten ... Aber ich muß zum Grafen; er wartet auf mich, schon lange, und vor allen Dingen: er hat mir die Zeit selbst bestimmt... Auf Wiedersehen, Fürst!« Der General entfernte sich mit schnellen Schritten. »Ich weiß, zu welchem Grafen er es so eilig hat!« bemerkte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und lenkte gereizt ihre Blicke auf den Fürsten. »Ja, was war doch gleich?« begann sie, indem sie sich mürrisch und ärgerlich zu erinnern suchte. »Wovon redeten wir nur? Ach ja: was war das für ein Abt?« »Maman!« begann Alexandra, und Aglaja stampfte sogar mit dem Füßchen. »Stören Sie mich nicht, Alexandra Iwanowna!« schalt die Generalin. »Ich will das auch wissen. Setzen Sie sich, Fürst, da auf diesen Sessel mir gegenüber; nein, hierher, rücken Sie mehr in die Sonne, ins Licht, damit ich Sie sehen kann! Nun also, was war das für ein Abt?« »Der Abt Pafnutij«, antwortete der Fürst aufmerksam und ernst. »Pafnutij? Das ist interessant; also was war mit ihm?« Die Generalin fragte ungeduldig, schnell, in scharfem Ton, ohne die Augen von dem Fürsten wegzuwenden, und als der Fürst antwortete, nickte sie zu jedem seiner Worte mit dem Kopfe. »Der Abt Pafnutij lebte im vierzehnten Jahrhundert«, begann der Fürst. »Er stand einem Kloster an der Wolga vor, in unserem jetzigen Gouvernement Kostroma. Er war durch sein frommes Leben weit und breit bekannt; er reiste auch zur Goldenen Horde, half die damals schwebenden Angelegenheiten ordnen und unterzeichnete ein Schriftstück; von dieser Unterschrift habe ich ein Faksimile gesehen. Die Schrift gefiel mir, und ich übte mich in ihr. Als der General vorhin sehen wollte, wie ich schreibe, um mir eine passende Stellung anzuweisen, schrieb ich einige Sätze in verschiedenen Schriftgattungen nieder und unter anderm auch den Satz: ›Der Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ in der Schrift des Abtes Pafnutij. Das gefiel dem General sehr, und so hat er es denn jetzt erwähnt.« »Aglaja«, sagte die Generalin, »merk es dir: Pafnutij! Oder notier es dir lieber; ich vergesse dergleichen sonst immer. Übrigens hatte ich gedacht, die Sache würde interessanter sein. Wo ist denn diese Unterschrift?« »Ich glaube, sie ist im Arbeitszimmer des Generals geblieben, auf dem Tisch.« »Schickt doch gleich jemand hin und laßt sie herholen!« »Ich werde sie Ihnen lieber noch einmal schreiben, wenn es Ihnen recht ist.« »Gewiß, maman«, sagte Alexandra, »aber jetzt wäre es das beste, wenn wir frühstückten, wir sind hungrig.« »Auch das«, erwiderte die Generalin. »Kommen Sie, Fürst, haben Sie großen Hunger?« »Ja, ich habe jetzt allerdings großen Hunger und sage Ihnen meinen besten Dank.« »Das ist sehr nett, daß Sie so höflich sind, und ich finde, daß Sie überhaupt nicht so ein ... Sonderling sind, wie man Sie uns geschildert hat. Kommen Sie! Setzen Sie sich hierher, mir gegenüber!« sagte sie, als sie ins Eßzimmer gekommen waren, geschäftig und nötigte den Fürsten zum Sitzen. »Ich möchte Sie gern ansehen können. Alexandra, Adelaida, sorgt ihr beide für den Fürsten! Nicht wahr, er ist gar nicht so ... krank? Vielleicht ist auch die Vorsichtsmaßregel mit der Serviette nicht nötig... Hat man Ihnen beim Essen eine Serviette umgebunden, Fürst?« »Früher, als ich etwa sieben Jahre alt war, hat man das wohl getan, aber jetzt lege ich mir die Serviette gewöhnlich auf die Knie, wenn ich esse.« »So ist das auch in der Ordnung. Und Ihre Anfälle?« »Anfälle?« fragte der Fürst ein wenig verwundert. »Anfälle kommen jetzt bei mir nur sehr selten vor. Übrigens, ich weiß nicht, es wird mir gesagt, das hiesige Klima werde mir schädlich sein.« »Er spricht gut«, bemerkte die Generalin zu ihren Töchtern, sie nickte immer noch zu jedem Worte des Fürsten mit dem Kopf, »ich hatte das gar nicht erwartet. Es war also wie gewöhnlich nur dummes Zeug und Unwahrheit. Essen Sie, Fürst, und erzählen Sie, wo Sie geboren und wo Sie erzogen sind! Ich möchte alles wissen; Sie interessieren mich ganz außerordentlich.« Der Fürst bedankte sich, und während er mit großem Appetit aß, begann er von neuem all das mitzuteilen, wovon er an diesem Morgen schon mehrmals zu reden Anlaß gehabt hatte. Die Generalin zeigte sich immer mehr befriedigt. Auch die jungen Damen hörten recht aufmerksam zu. Man suchte die Verwandtschaft festzustellen, wobei sich herausstellte, daß der Fürst seinen Stammbaum ziemlich gut im Kopf hatte; aber trotz aller Bemühung wollte sich zwischen ihm und der Generalin keinerlei Verwandtschaft ergeben. Nur zwischen den beiderseitigen Großvätern und Großmüttern hätte sich allenfalls eine entfernte Verwandtschaft annehmen lassen. Dieser trockene Gesprächsstoff gefiel der Generalin ganz ausnehmend, da sie fast nie Gelegenheit hatte, von ihrem Stammbaum zu sprechen, obwohl sie das sehr gern tat, und als sie vom Tisch aufstand, befand sie sich in angeregter Stimmung. »Wir wollen jetzt alle in unser Gesellschaftszimmer gehen«, sagte sie, »und auch der Kaffee soll dorthin gebracht werden. Wir haben ein solches gemeinsames Zimmer«, wandte sie sich an den Fürsten, den sie führte. »Es ist ganz einfach mein kleiner Salon, wo wir, wenn kein Besuch da ist, uns zusammenfinden und jede von uns sich in ihrer Weise beschäftigt; Alexandra hier, meine älteste Tochter, spielt Klavier oder liest oder stickt; Adelaida malt Landschaften und Porträts (sie wird nur mit nichts fertig), und Aglaja sitzt da und tut nichts. Mir geht die Arbeit ebenfalls nicht vonstatten: es kommt nichts Ordentliches heraus. Nun, sehen Sie, da sind wir, setzen Sie sich hierher, Fürst, an den Kamin, und erzählen Sie! Ich möchte gern wissen, wie Sie zu erzählen verstehen. Ich möchte ganz genaue Kenntnis von allem erlangen, und wenn ich dann mit der alten Fürstin Bjelokonskaja zusammenkomme, will ich ihr viel von Ihnen erzählen. Ich möchte, daß alle Leute ebenfalls für Sie Interesse gewinnen. Nun also, reden Sie!« »Aber maman, es ist doch sehr sonderbar, so auf Befehl erzählen zu müssen«, bemerkte Adelaida, die unterdessen ihre Staffelei zurechtgerückt, Pinsel und Palette zur Hand genommen hatte und nun anfing, eine schon vor längerer Zeit begonnene Landschaft nach einem Kupferstich zu kopieren. Alexandra und Aglaja setzten sich nebeneinander auf ein kleines Sofa, legten die Hände zusammen und machten sich bereit, das Gespräch mit anzuhören. Der Fürst bemerkte, daß sich von allen Seiten eine gespannte Aufmerksamkeit auf ihn richtete. »Ich würde nichts erzählen, wenn es mir auf solche Weise befohlen würde«, bemerkte Aglaja. »Warum denn? Was ist denn dabei weiter sonderbar? Warum soll er nicht erzählen? Wozu hat er denn seine Zunge? Ich will wissen, wie er zu reden versteht. Sprechen Sie also, worüber Sie wollen! Erzählen Sie, wie Ihnen die Schweiz gefallen hat, welches der erste Eindruck gewesen ist! Ihr werdet sehen, er wird unverzüglich anfangen und sehr hübsch erzählen.« »Der erste Eindruck war sehr stark...«, begann der Fürst. »Seht ihr wohl«, unterbrach ihn die ungeduldige Lisaweta Prokofjewna, zu ihren Töchtern gewendet, »er hat schon angefangen.« »Lassen Sie ihn doch wenigstens sprechen, maman!« schalt Alexandra. »Dieser Fürst ist vielleicht ein arger Schelm und gar kein Idiot«, flüsterte sie ihrer Schwester Aglaja zu. »Höchstwahrscheinlich verhält es sich so, ich merke das schon lange«, versetzte Aglaja. »Es ist häßlich von ihm, uns so eine Rolle vorzuspielen. Hofft er etwa, dadurch in unseren Augen zu gewinnen?« »Der erste Eindruck war sehr stark«, sagte der Fürst noch einmal. »Als man mich aus Rußland wegbrachte und wir durch verschiedene deutsche Städte fuhren, blickte ich alles nur schweigend an und erkundigte mich, soviel ich mich erinnern kann, nach nichts. Das war nach einer Reihe starker, qualvoller Anfälle meiner Krankheit; jedesmal aber, wenn die Krankheit sich in dieser Weise steigerte und die Anfälle mehrmals hintereinander erfolgten, verfiel ich in vollständigen Stumpfsinn, verlor gänzlich das Gedächtnis, und wenn auch der Verstand noch weiterarbeitete, so war doch die logische Aufeinanderfolge der Gedanken anscheinend unterbrochen. Mehr als zwei oder drei Gedanken vermochte ich nicht folgerichtig miteinander zu verknüpfen. So ist mir das in Erinnerung. Als dann aber die Anfälle nachließen, wurde ich wieder gesund und kräftig wie jetzt. Ich weiß noch, daß die Traurigkeit, die mich erfüllte, ganz unerträglich war; ich hätte am liebsten losgeweint, ich befand mich dauernd in größter Erregung und Unruhe. Einen furchtbaren Eindruck machte es auf mich, daß dies alles mir fremd war; denn soviel begriff ich. Das Fremde drückte mich nieder. Aber (daran erinnere ich mich aufs deutlichste) ich erwachte eines Abends in Basel bei der Ankunft in der Schweiz völlig aus dieser geistigen Umnachtung, und was mich erweckte, das war das Geschrei eines Esels auf dem Marktplatz. Dieser Esel war für mich eine großartige Überraschung und gefiel mir aus nicht recht verständlichen Gründen außerordentlich, und gleichzeitig wurde in meinem Kopfe sozusagen alles auf einmal wieder hell.« »Ein Esel? Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin. »Übrigens, eigentlich ist dabei nichts Sonderbares, die eine oder die andere von uns wird sich noch in einen Esel verlieben«, fügte sie hinzu und blickte die lachenden Mädchen zornig an. »Das ist alles schon in der Mythologie vorgekommen. Fahren Sie fort, Fürst!« »Seitdem liebe ich Esel sehr. Ich habe sogar eine gewisse Sympathie für sie. Ich begann, mich nach ihnen zu erkundigen, denn ich hatte früher noch nie welche gesehen, und überzeugte mich auch bald selbst davon, daß sie höchst nützliche, arbeitsame, kräftige, geduldige, billig zu unterhaltende, ausdauernde Tiere sind, und wegen dieses Esels fing mir auf einmal die ganze Schweiz zu gefallen an, so daß meine frühere Traurigkeit vollständig verschwand.« »Das alles ist ja sehr seltsam, aber das von dem Esel konnte auch wegbleiben; gehen wir nun zu einem anderen Thema über! Warum lachst du denn fortwährend, Aglaja? Und du, Adelaida? Der Fürst hat die Geschichte von dem Esel sehr schön erzählt. Er hat selbst einen gesehen; aber du, was hast du gesehen? Du bist doch nicht im Ausland gewesen.« »Ich habe schon einen Esel gesehen, maman«, versetzte Adelaida. »Und ich habe schon einen gehört«, fügte Aglaja hinzu. Alle drei brachen wieder in ein Gelächter aus, in das der Fürst einstimmte. »Das ist sehr häßlich von euch«, schalt die Generalin. »Nehmen Sie es ihnen nicht übel, Fürst, sie sind sonst gute Mädchen. Ich zanke fortwährend mit ihnen, habe sie aber doch sehr lieb. Sie sind nur flatterhaft, leichtsinnig und ein bißchen verdreht.« »Aber was sollte ich denn übelnehmen?« erwiderte der Fürst lachend. »Auch ich hätte die Gelegenheit zu lachen nicht unbenutzt gelassen. Aber ich trete trotzdem für den Esel ein: der Esel ist ein gutherziges, nützliches Geschöpf.« »Sind Sie denn auch gutherzig, Fürst? Ich frage aus wirklichem Interesse«, fragte die Generalin. Alle lachten wieder los. »Da ist ihnen wieder dieser nichtswürdige Esel eingefallen; ich hatte gar nicht an ihn gedacht!« rief die Generalin. »Bitte glauben Sie mir, Fürst, ich beabsichtigte keinerlei...« »Keinerlei Anspielung? Oh, das glaube ich Ihnen gern, ohne Zweifel!« Der Fürst lachte, ohne aufzuhören. »Das ist sehr nett von Ihnen, daß Sie lachen. Ich sehe, daß Sie ein recht gutherziger junger Mann sind«, sagte die Generalin. »Manchmal bin ich nicht gutherzig«, erwiderte der Fürst. »Aber ich habe ein gutes Herz«, bemerkte die Generalin überraschenderweise, »ich kann sogar sagen, daß ich immer gutherzig bin, und das ist mein einziger Fehler; denn man darf nicht immer gutherzig sein. Ich ärgere mich sehr oft, über meine Töchter da, und besonders über Iwan Fjodorowitsch; aber es ist scheußlich, daß ich gerade, wenn ich mich ärgere, am allergutherzigsten bin. Ich war vorhin, vor Ihrer Ankunft, recht böse geworden und stellte mich, als verstünde ich nicht, was man zu mir sagte, und wolle es nicht verstehen. Das kommt bei mir öfter vor, ich bin darin wie ein Kind. Aglaja hat mich deswegen ausgescholten, und ich danke dir, Aglaja. Übrigens ist das alles Unsinn. Ich bin nicht so dumm, wie ich scheine und wie mich meine lieben Töchter gern darstellen möchten. Ich habe einen energischen Charakter und halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. Ich sage das übrigens alles ohne Groll. Komm her, Aglaja, und gib mir einen Kuß... nun, nun, genug der Zärtlichkeit!« bemerkte sie, als Aglaja ihr herzlich den Mund und die Hand küßte. »Fahren Sie nur fort, Fürst. Vielleicht erinnern Sie sich noch an etwas, was interessanter ist als der Esel.« »Ich kann trotz alledem nicht begreifen, wie jemand so geradezu loserzählen kann«, sagte Adelaida noch einmal. »Ich brächte das nicht fertig.« »Aber der Fürst bringt es fertig, weil der Fürst eben überaus verständig, mindestens zehnmal oder vielleicht zwölfmal so verständig ist wie du. Hoffentlich fühlst du das nun selbst. Liefern Sie ihnen den Beweis, Fürst, fahren Sie fort! Den Esel können wir nun aber wirklich endlich beiseite lassen. Nun, was haben Sie außer dem Esel im Ausland gesehen?« »Auch das von dem Esel war verständig«, sagte Alexandra. »Der Fürst hat sehr interessant seinen Krankheitszustand geschildert, und wie ihm infolge eines äußeren Anstoßes alles wieder zu gefallen anfing. Mir ist es immer interessant gewesen, wie Menschen den Verstand verlieren und dann wieder gesund werden. Namentlich wenn das plötzlich erfolgt.« »Nicht wahr, nicht wahr?« sagte die Generalin eifrig. »Ich sehe, daß auch Du manchmal verständig bist. Na, nun hast du aber genug gelacht! Sie blieben ja wohl bei dem landschaftlichen Eindruck der Schweiz stehen. Fürst. Also bitte!« »Wir kamen in Luzern an und fuhren dann über den See. Ich empfand, wie schön er war, fühlte mich aber dabei entsetzlich bedrückt«, sagte der Fürst. »Warum?« fragte Alexandra. »Ich verstehe es nicht. Ich fühle mich beim ersten Anblick solcher Naturschönheiten jedesmal bedrückt und unruhig; es ist eine aus Vergnügen und Unruhe gemischte Empfindung. Übrigens hing das alles noch mit meiner Krankheit zusammen.« »Ach, ich möchte das zu gern einmal sehen«, sagte Adelaida. »Und ich begreife nicht, warum wir nicht endlich einmal ins Ausland reisen. Ich kann schon seit zwei Jahren keinen Vorwurf für ein Bild finden: ›Ost und Süd sind längst geschildert...‹ Aus dem Gedicht »Journalist, Leser und Dichter« von Lermontow. Suchen Sie mir doch einen Vorwurf für ein Bild, Fürst!« »Ich verstehe davon nichts. Aber ich möchte meinen: es ist weiter nichts erforderlich, als zu sehen und dann zu malen.« »Zu sehen verstehe ich eben nicht.« »Aber in was für Rätseln sprecht ihr denn da? Ich verstehe euch ja gar nicht!« unterbrach sie die Generalin. »Was heißt das: ›Zu sehen verstehe ich nicht?‹ Du hast doch Augen, nun, dann sieh doch! Wenn du hier nicht zu sehen verstehst, wirst du es auch im Ausland nicht lernen. Erzählen Sie lieber, was Sie selbst gesehen haben, Fürst!« »Ja, das wird das beste sein«, stimmte ihr Adelaida bei. »Der Fürst hat ja im Ausland sehen gelernt.« »Das weiß ich nicht, ich habe dort nur meine Gesundheit gebessert; ich weiß nicht, ob ich da auch sehen gelernt habe. Ich bin übrigens dort fast die ganze Zeit über sehr glücklich gewesen.« »Glücklich! Sie verstehen es, glücklich zu sein?« rief Aglaja. »Warum sagen Sie dann, daß Sie da nicht sehen gelernt haben? Sie werden in dieser Kunst noch unser Lehrer werden!« »Ach ja, bitte, lehren Sie uns!« rief Adelaida lachend. »Ich kann Sie nichts lehren«, versetzte der Fürst, gleichfalls lachend. »Ich habe fast die ganze Zeit meines Aufenthalts im Auslande in diesem Schweizer Dorf verlebt; nur selten machte ich einen kleinen Ausflug; was kann ich Sie da lehren? Anfangs beschränkte sich die Besserung darauf, daß das Gefühl des Mißmuts aufhörte, aber bald fing ich an zu genesen; dann wurde mir jeder Tag lieber und teurer, so daß ich dies selbst zu bemerken begann. Ich legte mich immer sehr zufrieden schlafen und fühlte mich noch glücklicher beim Aufstehen. Aber woher das kam, das ist allerdings recht schwer zu erklären.« »Sie waren also so zufrieden, daß Sie an keinen anderen Ort wollten, sich sonst nirgendwo hingezogen fühlten?« fragte Alexandra. »Zuerst, ganz am Anfang, sehnte ich mich weg, ja, und ich verfiel in große Unruhe. Ich dachte immer darüber nach, wie ich mir mein Leben einrichten könnte, und suchte mein künftiges Schicksal zu erkennen, besonders zu gewissen Zeiten war ich sehr unruhig. Sie wissen, es gibt solche Augenblicke, namentlich wenn man ganz allein ist. Wir hatten dort einen kleinen Wasserfall; er fiel hoch vom Berge herab wie ein dünner Faden, fast senkrecht, weiß, geräuschvoll, schäumend; er fiel hoch herunter und schien doch ziemlich niedrig zu sein; er war eine halbe Werst entfernt, und es kam einem vor, als ob es bis zu ihm nur fünfzig Schritte wären. Ich horchte bei Nacht gern auf sein Rauschen; das waren die Augenblicke, in denen ich manchmal in sehr große Unruhe geriet. Ebenso ging es mir manchmal um die Mittagszeit; ich stieg irgendwohin in die Berge und stand dort dann allein, ringsum alte, große, harzige Tannen, oben auf einem Felsen die Ruinen einer alten mittelalterlichen Burg, unser Dörfchen unten in der Ferne kaum sichtbar; die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau, es herrschte eine furchtbare Stille. In solchen Augenblicken zog es mich mitunter weg, und ich hatte immer die Vorstellung, wenn ich nur immer geradeaus gehen könnte, immer weiter und weiter, und die Linie überschreiten könnte, wo Himmel und Erde einander berühren, da würde sich jedes Rätsel lösen, und ich würde sofort ein neues Leben erblicken, ein Leben, das tausendmal frischer und lärmender ist als das unsere; ich malte mir eine große Stadt aus wie Neapel und darin lauter Paläste, Lärm, Getöse, Leben... Ja, in was für Phantasien erging ich mich da! Aber dann schien es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein reiches Leben führen könne.« »Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja. »Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu belehren.« »Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren... Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.« »Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlage wie Jewlampija Nikolajewnas Philosophie«, warf Aglaja wieder ein. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken, aber wohlgemerkt, sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Geradeso ist es auch mit Ihrem reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorfe, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Gewinn, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.« »Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war sehr traurig gewesen, kann ich Ihnen versichern, aber keineswegs so ein Kopekenleben. Und dabei bestand seine ganze Bekanntschaft aus einer Spinne und einem Bäumchen, das unter seinem Fenster wuchs... Aber ich will Ihnen lieber von einer Begegnung erzählen, die ich im vorigen Jahre mit einem andern Menschen hatte. Bei diesem lag ein sehr merkwürdiger Umstand vor, merkwürdig besonders deshalb, weil ein solcher Fall nur sehr selten vorkommt. Dieser Mensch wurde einmal mit anderen zusammen auf das Schafott geführt, und man las ihm seine Verurteilung zum Tode durch Erschießen wegen eines politischen Verbrechens vor. Zwanzig Minuten darauf wurde ihm seine Begnadigung verlesen und ein anderer Grad der Bestrafung festgesetzt; aber die zwanzig Minuten oder wenigstens die Viertelstunde zwischen den beiden Urteilen hat er in der zweifellosen Überzeugung verlebt, daß er in wenigen Minuten plötzlich tot sein werde. Ich hörte ihm mit dem größten Interesse zu, wenn er manchmal von seinen damaligen Eindrücken erzählte, und richtete mehrmals meinerseits Fragen an ihn. Er erinnerte sich an alles mit außerordentlicher Klarheit und sagte, er werde diese Minuten nie vergessen. Etwa zwanzig Schritte vom Schafott entfernt, um das eine Menge Volk und Soldaten herumstanden, waren drei Pfähle in die Erde gegraben, da es mehrere Verurteilte waren. Man führte die drei ersten zu den Pfählen hin, legte ihnen das Sterbekostüm an (lange weiße Kittel), zog ihnen weiße Kapuzen über die Augen, damit sie die Gewehre nicht sehen konnten, und band sie fest; dann nahm jedem Pfahl gegenüber eine Abteilung Soldaten Aufstellung. Mein Bekannter stand als achter in der Reihe, mußte also in dem dritten Trupp zu den Pfählen gehen. Ein Geistlicher ging mit einem Kruzifix von einem zum andern. Nun war es soweit, daß er nur noch fünf Minuten zu leben hatte, nicht mehr. Er sagte, diese fünf Minuten seien ihm als ein endloser Zeitraum erschienen, als ein gewaltiger Reichtum; er habe die Vorstellung gehabt, als ob diese fünf Minuten so viel Leben für ihn einschlössen, daß er an die letzten Augenblicke noch gar nicht zu denken brauche; er habe daher noch allerlei Dispositionen darüber getroffen, habe die Zeit berechnet, die zum Abschiednehmen von seinen Kameraden erforderlich sei, und hierfür zwei Minuten angesetzt; dann habe er noch zwei Minuten dazu bestimmt, zum letztenmal über sich selbst nachzudenken, und die dann noch verbleibende, um zum letztenmal um sich zu schauen. Er hatte es sehr gut im Gedächtnis, daß er gerade in dieser Weise über seine Zeit verfügt und sie so berechnet hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gesund und kräftig gewesen, als er dem Tode so nahe war. Er erinnerte sich, daß er beim Abschiede von seinen Kameraden an einen derselben eine ziemlich nebensächliche Frage gerichtet und die Antwort mit großem Interesse gehört hatte. Dann, nachdem er von seinen Kameraden Abschied genommen hatte, kamen die beiden Minuten, die er dazu bestimmt hatte, über sich selbst nachzudenken; er wußte von vornherein, worüber er nachdenken würde: er wollte sich möglichst schnell und klar eine Vorstellung davon machen, wie das zugehe, daß er jetzt existiere und lebe und in drei Minuten bereits irgend etwas sein werde, ein jemand oder ein etwas, also wer denn? Und wo? Über all diese Fragen gedachte er in diesen zwei Minuten ins klare zu kommen! Nicht weit entfernt stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt hatte; er hatte sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er hatte die Vorstellung gehabt, als gehörten sie zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen... Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich eintreten würde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte – welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.« Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen würde. »Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja. »Wie? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam. »Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?« »Nur so ... es ist mir eingefallen... zur Unterhaltung...« »Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Gold. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt; was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?« »O nein, er hat mir selbst gesagt (ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.« »Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, über das Leben vollständig ›Rechnung zu führen‹. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.« »Ja, es muß aus irgendeinem Grund unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt... Aber irgendwie kann ich es doch nicht glauben...« »Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja. »Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.« »Und Sie glauben es noch?« »Und... ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder und blickte sie fröhlich an. »Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang. »Wie tapfer Sie doch alle sind! Sie lachen, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten ...« Er ließ seinen Blick noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen. »Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch gerade allen in die Augen. »Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt. »Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele...« Alle lachten. »Wenn Sie mir zürnen, dann seien Sie mir doch bitte wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle anderen vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich...« Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung. »Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, herausforderndem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.« »Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön, nur ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.« »Ach was, maman! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.« »Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst. »Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?« »Fanden denn Hinrichtungen in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida. »Ich habe ihr in Lyon beigewohnt, ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, kamen wir darüber zu.« »Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja. »Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank, aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht abwenden konnte.« »Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja. »Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.« »Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen (und wohl gar rechtfertigen), daß es für Männer schicklich sei. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.« »Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida. »Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene. »Sie wollen es wohl unterlassen, um uns zu schonen?« fragte Aglaja spöttisch. »Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser selben Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.« »Wem haben Sie denn davon erzählt?« »Ihrem Kammerdiener, während ich wartete...« »Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun dem, der im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.« »Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin. »Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz. »Nun, wenn Sie es Alexej erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.« »Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida. »Als Sie mich vorhin nach einem Vorwurf für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und vertrauensvoll wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beils der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.« »Das Gesicht? Nur das Gesicht? fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Vorwurf sein, was soll denn dabei für ein Bild herauskommen?« »Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben... Ich werde es auch ein andermal tun... Es hat auf mich einen starken Eindruck gemacht.« »Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber erklären Sie mir bitte das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?« »Es war genau eine Minute vor dem Tode«, begann der Fürst sehr bereitwillig – er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen, »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichnete! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung in frühestens einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin geschickt werden müßte und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen würde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Gang. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Wache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die Hinrichtung.‹ Verschlafen, wie er war, wollte er es nicht glauben und Einwendungen machen: das Urteil werde doch erst in einer Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist doch schrecklich, so plötzlich...‹ und verstummte wieder und vermochte nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch die bekannten Dinge ausgefüllt werden: den Besuch des Geistlichen, das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich: welche Grausamkeit; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott... Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube, er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange, noch drei Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist... es ist noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen kommen!‹ Ringsum eine Menge Volk, Geschrei, Lärm, zehntausend Gesichter und Augenpaare – all das muß er ertragen, und das ärgste ist der Gedanke: ›Da sind nun zehntausend Menschen, und keiner von ihnen wird hingerichtet; aber ich werde hingerichtet!‹ Nun, das ist alles erst die Vorbereitung. Auf das Schafott führte eine kleine Treppe hinauf; vor dieser Treppe brach er plötzlich in Tränen aus, und dabei war er ein starker, kräftiger Mann, ein Schwerverbrecher, wie man sagte. Die ganze Zeit über war ständig der Geistliche bei ihm; er fuhr auch auf dem Wagen neben ihm und redete fortwährend; der Verurteilte hörte kaum hin, und wenn er anfing zuzuhören, so verstand er vom dritten Wort an nichts mehr. So muß das wohl gewesen sein. Endlich begann er die Treppe hinanzusteigen; da ihm die Füße gefesselt waren, konnte er nur ganz kleine Schritte machen. Der Geistliche, wohl ein kluger Mensch, sprach nicht mehr, sondern hielt ihm immerzu ein Kruzifix zum Küssen hin. Am Fuß der Treppe schon war er sehr blaß; als er aber hinaufgestiegen war und auf dem Schafott stand, wurde er auf einmal weiß wie ein Blatt Papier, ganz wie ein Blatt weißes Schreibpapier. Wahrscheinlich wurden ihm die Beine schwach und steif, und es kam ihn eine Übelkeit an, wie wenn er in der Kehle ein Würgen und davon eine Art Kitzel fühlte – haben Sie diese Empfindung nicht auch schon manchmal bei Schreck oder in besonders furchtbaren Augenblicken gehabt, wenn der ganze Verstand zwar noch da ist, aber keine Kraft mehr hat? Ich meine, wenn einem beispielsweise ein unentrinnbares Verderben droht, indem das Haus über einem zusammenstürzt, dann bekommt man auf einmal ein schreckliches Verlangen, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen und zu warten: komme, was kommen mag!... Da nun, als diese Schwäche begann, hielt der Geistliche ihm auf einmal ganz schnell, mit einer raschen Bewegung und ohne ein Wort zu sagen, das Kruzifix dicht an die Lippen, es war so ein kleines, silbernes Kruzifix, und das tat er zu wiederholten Malen, alle Augenblicke. Und sobald das Kruzifix die Lippen berührte, öffnete er die Augen und schien sich wieder für ein paar Sekunden zu beleben, und die Beine gingen weiter. Das Kruzifix küßte er begierig und hastig, als beeile er sich, auf jeden Fall eine Art Reisevorrat mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war... Es ist merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil, der Kopf ist sehr lebendig und arbeitet wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine im Gange befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche, fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf verrostet ...‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles, und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun bedenkt, daß das so bis zur letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt und wartet und... weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich daläge, ich würde absichtlich darauf achten und danach hinhören! Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines Augenblicks, aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß man noch bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn er es gar fünf Sekunden lang weiß!... Zeichnen Sie das Schafott so, daß nur die oberste Stufe deutlich und nahe zu sehen ist; der Verurteilte hat sie betreten: man sieht seinen Kopf, das Gesicht ist weiß wie ein Blatt Papier, der Geistliche hält ihm das Kruzifix hin, er streckt begierig seine bläulichen Lippen danach aus und sieht, was vor ihm ist, und – weiß alles. Das Kruzifix und der Kopf, die bilden den eigentlichen Gegenstand des Bildes, die Gesichter des Geistlichen, des Scharfrichters und seiner beiden Gehilfen und ein paar Köpfe und Augen weiter unten, das alles braucht nur im Hintergrunde dargestellt zu sein, wie im Nebel, nur als Beiwerk... So denke ich mir das Bild.« Der Fürst schwieg und blickte die Damen alle an. »Das sieht nun freilich nicht wie Quietismus aus«, sagte Alexandra vor sich hin. »Und jetzt, bitte, erzählen Sie uns, wie Sie verliebt waren!« sagte Adelaida. Der Fürst blickte sie erstaunt an. »Hören Sie!« fuhr Adelaida schnell fort. »Sie sind uns auch noch die Beschreibung des Baseler Bildes schuldig, aber jetzt möchte ich hören, wie Sie verliebt waren; leugnen Sie nicht, Sie sind verliebt gewesen! Zudem werden Sie, sobald Sie zu erzählen anfangen, aufhören, Philosoph zu sein.« »Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie sich sofort dessen, was Sie erzählt haben«, bemerkte Aglaja plötzlich. »Woher kommt das?« »Was redest du da für dummes Zeug«, schalt die Generalin und blickte Aglaja mißbilligend an. »Ja, das war sehr unverständig«, stimmte Alexandra ihr bei. »Glauben Sie nicht, daß sie das wirklich meint, Fürst«, wandte sich die Generalin an diesen, »sie redet absichtlich so, aus irgendwelcher Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.« »Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung. »Wieso?« fragte Adelaida neugierig. »Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung. Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort. »Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst. »Sie wollen sich durchaus interessant machen«, rief Aglaja. »Und was Sie dabei für ein feierliches Gesicht machen!« »Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon.« »Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher, »ich... war auf andere Weise glücklich.« »Wie denn? Wodurch denn?« »Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein. VI »Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er, »daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem Lächeln hinzu. »Dort... dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, o nein, dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt, größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. O Gott, wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich die Kinder, weil die Vögelchen das Schönste sind, was es auf der Welt gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorfe namentlich wegen eines bestimmten Falles über mich aufgebracht... Thibaut aber beneidete mich einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf und wunderte sich darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen und bei ihm fast nichts, aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und wie mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst im steten Umgang mit den Kindern lebte! Durch den Umgang mit Kindern aber wird die Seele gesund... Es war da im Schneiderschen Institute ein Patient, ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Unglück war so furchtbar, daß es wohl kaum etwas Ähnliches gab. Er war zur Heilung von Geistesstörung eingeliefert worden; aber nach meiner Meinung war er nicht geistig gestört, sondern litt nur entsetzlich, und das war seine ganze Krankheit. Und wenn Sie nun wüßten, was für ihn zuletzt unsere Kinder wurden ... Aber von diesem Patienten will ich Ihnen lieber ein andermal erzählen; jetzt möchte ich erzählen, wie das alles anfing. Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin... dazu kam endlich noch, daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt... Nein, lachen Sie nicht!« schaltete der Fürst hastig ein, um das Lächeln seiner Zuhörerinnen zu unterbinden, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es tat. Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf demselben Fleck sitzen mußte. Marie war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte bei ihr die Schwindsucht begonnen, aber trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser – sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und nahm sie mit, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd kehrte sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien übernachtet und sich stark erkältet, ihre Füße waren wund, die Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was denn? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich behandelt, aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die sie der Schande preisgab: als man im Dorfe hörte, daß Marie zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ungeduldige, gierige Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es an den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit größter Verachtung an wie eine ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe, zwei Monate darauf starb sie auch wirklich; sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tode nicht mit ihrer Tochter versöhnen, sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und pflegte die Mutter, aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu gönnen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen, das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen, im Dorfe aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben wie früher. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Frau, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich sonntags betrunken hatten, spaßeshalber ein paar Groschen hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorfe blicken zu lassen; barfuß ging sie schon seit ihrer Heimkehr. Da begann die ganze Kinderschar – es waren über vierzig Schulkinder – sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möge ihr erlauben, die Kühe zu hüten, aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit der Herde für den ganzen Tag hinauszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel Nutzen brachte und er dies bemerkte, trieb er sie nun nicht mehr fort und gab ihr manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er hielt das für eine große Gnade seinerseits. Als die Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarge. Es hatte sich eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarge hergehen würde; da wandte sich der Pastor – er war noch ein junger Mann, und sein ganzer Ehrgeiz war, ein großer Prediger zu werden – an alle Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tode dieser achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit zwei Jahren krank gewesen war), ›da steht sie vor euch und wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfade der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es ist die eigene Tochter!‹ und in dieser Art immer weiter. Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen, aber... nun ereignete sich etwas Besonderes: die Kinder traten für Marie ein, denn zu dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab, aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel, die verkaufte ich an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür acht Frank, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Frank und sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte, und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendeine unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für schuldbeladen, sondern nur für unglücklich gehalten hätte. Ich wollte sie gern gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie sich gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche, aber sie schien das gar nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl sie fast die ganze Zeit über schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor mir stand und sich furchtbar schämte. Als ich zu Ende war, küßte sie mir die Hand, und ich griff sofort nach der ihren und wollte sie ihr küssen, aber sie zog sie schnell weg. In diesem Augenblick erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu pfeifen, in die Hände zu klatschen und zu lachen, Marie aber lief eiligst davon. Ich wollte den Kindern etwas sagen, aber sie warfen nach mir mit Steinen. Noch an demselben Tage erfuhren alle, was vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie wieder über Marie her und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß man vorhatte, sie zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank, noch so vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr, sie verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz, sie jagten ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer schwachen Brust ganz außer Atem, und die Kinder schreiend und schimpfend hinter ihr her. Einmal begann ich sogar, mich mit ihnen herumzuschlagen. Dann versuchte ich mit ihnen zu reden und redete zu ihnen jeden Tag, sooft ich nur die Möglichkeit hatte. Manchmal blieben sie stehen und hörten zu, obwohl sie immer noch schimpften. Ich erzählte ihnen, wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie denn auch auf zu schimpfen und gingen schweigend fort. Allmählich kam es dazu, daß wir miteinander Gespräche führten; ich verheimlichte ihnen nichts, sondern erzählte ihnen alles. Sie hörten sehr neugierig zu und begannen bald, Marie zu bemitleiden. Einzelne fingen an, wenn sie ihr begegneten, sie freundlich zu grüßen; es ist dort Sitte, wenn man einander begegnet, ob man sich nun kennt oder nicht, sich zu grüßen und ›Grüß Gott‹ zu sagen. Ich kann mir vorstellen, wie erstaunt Marie darüber war. Eines Tages verschafften sich zwei kleine Mädchen etwas Essen, trugen es ihr hin, gaben es ihr und kamen dann zu mir, um es mir zu sagen. Sie erzählten mir, Marie habe geweint, und sie hätten sie jetzt sehr lieb. Bald fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich. Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen, sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei ... Geküßt hatte ich Marie zwei Wochen vor dem Tode ihrer Mutter, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort, wie sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie empört, einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht war, aber im Dorfe hatte man sofort alles erfahren und beschuldigte mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren auch alle, daß die Kinder Marie liebhatten, und bekamen einen gewaltigen Schreck; Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit, fast eine halbe Werst vom Dorfe entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›Je vous aime, Marie!‹ Ich liebe Sie, Marie! (frz.)] und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glückes fast den Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche. Sie berichteten ihr, daß ich ihnen alles erzählt hätte, und daß sie sie jetzt sehr liebhätten und bemitleideten und ihr immer treu bleiben würden. Dann kamen sie zu mir gelaufen und erzählten mir mit Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten, sie hätten soeben mit Marie gesprochen und sie lasse mich grüßen. Abends ging ich oft nach dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorfe zu ganz verdeckter Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die Kinder abends um mich, manche liefen sogar heimlich aus dem Dorfe weg. Ich glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und dies war während meines ganzen dortigen Aufenthaltes der einzige Punkt, in dem ich sie täuschte. Ich ließ ihnen den Glauben, daß ich Marie liebte, das heißt in sie verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich sie in Wirklichkeit nur sehr bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen besser so gefiel, wie sie sich das selbst ausgedacht und untereinander zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich und tat, als hätten sie es erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese kleinen Herzen: unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr guter Léon Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe und Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie das zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte dabei zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig, und die kleinen Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich. Manchmal ging auch ich heimlich zu Marie. Sie war schon sehr krank und konnte kaum noch gehen; schließlich war es ihr gar nicht mehr möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste zu leisten, aber sie zog doch jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich abseits hin; es war da an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein Vorsprung; dort setzte sie sich ganz in der Ecke, wo niemand sie sehen konnte, auf einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend, halb schlummerte; ihr Gesicht war mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß hervor. In diesem Zustand fand ich sie immer. Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr, weil sie dies als ein Glück empfand; die ganze Zeit über, während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand, und das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem leeren Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tage fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein in ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorfe bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorfe bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und pflegten sie. Es schien, daß man im Dorfe mit Marie Mitleid zu fühlen begann, wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder aber wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Guten Tag, unsere gute Marie! (frz.) Sowie diese sie aber sah oder hörte, kehrte ihre Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr. Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die Kinder bewirkten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden Morgen zu: ›Nous t'aimons, Marie.‹ Wir lieben dich, Marie. (frz.) Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie würde weit länger leben. Am Tage vor ihrem Tode kam ich vor Sonnenuntergang zu ihr, sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Male die Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam unerwartet jemand zu mir und sagte, daß Marie gestorben sei. Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einem Male herbei, um ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, halfen einige von ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarge her, und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in Ordnung gehalten worden; sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben ringsherum Rosensträucher gepflanzt. Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer. Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen und verständigten uns von weitem durch Zeichen, auch schickten sie mir kleine Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese Verfolgung sogar noch nähergerückt. Im letzten Jahr versöhnte ich mich sogar beinah mit Thibaut und dem Pastor. Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt – es war schon kurz vor meiner Abreise – sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich unrecht, denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr, nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen – ich habe das schon längst an mir beobachtet –; ich bin nicht gern mit ihnen zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen, und wie gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen Kameraden gehen kann, und immer waren die Kinder meine Kameraden, aber nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern hinzog. Wenn ich, noch am Anfang meines Aufenthaltes in dem Dorf, allein in die Berge gegangen war, um meinem Kummer nachzuhängen, und wenn ich dann, namentlich mittags, wo sie aus der Schule kamen, diesem lärmenden Schwarm begegnete, der mit seinen Bücherranzen und Schiefertafeln schreiend, lachend und spielend einherrannte – dann strebte auf einmal meine ganze Seele zu diesen Kindern hin. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich empfand bei jeder Begegnung mit ihnen ein außerordentlich starkes Gefühl von Glück. Ich blieb stehen und lachte vor Freude, wenn ich sah, wie ihre kleinen, flinken Beinchen in ständiger Bewegung waren, wie die kleinen Jungen und Mädchen miteinander dahinrannten, wie sie lachten und weinten (denn viele hatten auf dem Wege von der Schule nach Haus schon Zeit gefunden, sich zu prügeln, zu heulen, sich wieder zu versöhnen und weiterzuspielen), und ich vergaß dann meinen ganzen Kummer. Später, während dieser ganzen drei Jahre, konnte ich gar nicht begreifen, weshalb die Menschen sich überhaupt grämen. Mein ganzes Dasein drehte sich um die Kinder. Ich nahm gar nicht in Aussicht, das Dorf jemals wieder zu verlassen, und es kam mir nicht in den Sinn, daß ich einmal wieder hierher nach Rußland fahren würde. Ich meinte, ich würde immer dort bleiben; aber ich sah schließlich ein, daß Schneider doch nicht länger die Unterhaltskosten für mich tragen konnte. Und dann kam eine so wichtige Sache hinzu, daß Schneider mich selbst zum Reisen drängte und mir das Fahrgeld zur Reise nach hier gab. Ich will nun sehen, was eigentlich vorliegt, und jemand um Rat fragen. Vielleicht wird sich mein äußeres Schicksal vollständig ändern, aber das ist nicht so wichtig und nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß sich bereits mein ganzes Leben geändert hat. Ich habe dort viel verlassen, sehr viel. Alles ist entschwunden. Ich saß im Zuge und dachte: ›Jetzt gehe ich zu den Menschen; ich verstehe vielleicht noch nichts davon, aber es hat ein neues Leben für mich begonnen.‹ Ich nahm mir vor, meine Aufgabe redlich und standhaft zu erfüllen. Ich werde mich im Verkehr mit den Menschen vielleicht unbehaglich und bedrückt fühlen. Ich habe mir vorgenommen, von vornherein gegen alle höflich und offen zu sein; mehr wird ja doch niemand von mir verlangen. Vielleicht werden mich die Leute hier auch für ein Kind halten, nun, meinetwegen! Es halten mich auch alle, ich weiß nicht warum, für einen Idioten, und ich war tatsächlich einmal so krank, daß ich damals mit einem Idioten Ähnlichkeit hatte, aber wie kann ich jetzt ein Idiot sein, da ich doch selbst begreife, daß man mich für einen Idioten hält? Wenn ich so in ein Zimmer trete, denke ich: ›Da halten mich nun die Leute für einen Idioten, und ich bin doch verständig, aber sie merken das nicht einmal ...‹ Dieser Gedanke kommt mir oft. Als ich in Berlin aus meinem Dörfchen ein paar kleine Briefe erhielt, die die Kinder sich beeilt hatten sogleich an mich zu schreiben, da empfand ich erst so ganz, wie lieb ich sie hatte. Es ist ein sehr schmerzliches Gefühl, wenn man den ersten Brief bekommt! Wie betrübt sie waren, als sie mir bei meiner Abreise das Geleit gaben! Schon einen Monat vorher sagten sie häufig: ›Léon s'en va, Léon s'en va pour toujours!‹ Léon fährt weg, Léon fährt weg für immer! (frz.) Wir kamen wie früher jeden Abend am Wasserfall zusammen und sprachen immer von unserer bevorstehenden Trennung. Mitunter ging es ebenso heiter zu wie vorher, aber wenn sie dann von mir Abschied nahmen, um schlafen zu gehen, umarmten sie mich fest und herzlich, was sie früher nicht getan hatten. Manche kamen heimlich, ohne daß es die andern merkten, ganz allein zu mir gelaufen, nur um mich allein, nicht vor aller Augen, zu umarmen und zu küssen. Als es so weit war, daß ich mich auf den Weg machen mußte, begleitete mich der ganze Schwarm zum Bahnhof, der von unserem Dorf ungefähr eine Werst entfernt lag. Sie nahmen sich zusammen, um nicht zu weinen, aber viele konnten sich doch nicht beherrschen und weinten laut, namentlich die Mädchen. Wir beeilten uns, um nicht zu spät zu kommen, aber unterwegs kam doch bald dieser, bald jener aus dem Haufen zu mir hingestürzt, umschlang mich mit seinen kleinen Ärmchen und küßte mich, obgleich er dadurch den ganzen Trupp aufhielt; aber obgleich wir es eilig hatten, blieben doch alle stehen und warteten, bis er Abschied genommen hatte. Als ich in den Wagen gestiegen war und sich der Zug in Bewegung setzte, schrien sie alle ›Hurra!‹ und standen noch lange, bis der Zug ganz abgefahren war. Und auch ich blickte nach ihnen zurück ... Wissen Sie, als ich vorhin hier eintrat und Ihre lieben Gesichter sah – ich achte jetzt sehr auf die Gesichter – und Ihre ersten Worte hörte, da wurde mir zum ersten Male seit jener Zeit leicht ums Herz. Ich sagte mir vorhin schon, daß ich vielleicht geradezu ein Glückskind bin; ich weiß ja, daß man nicht erwarten kann, so bald solche Menschen zu treffen, die man sofort liebgewinnt, und nun habe ich Sie, kaum daß ich von der Bahn gekommen bin, sogleich getroffen. Ich weiß sehr wohl, daß sich alle Leute schämen, von ihren Gefühlen zu reden; aber Ihnen gegenüber, sehen Sie, rede ich von meinen Gefühlen und schäme mich vor Ihnen nicht. Ich bin menschenscheu und werde vielleicht lange nicht wieder zu Ihnen kommen. Mißdeuten Sie meine Worte nicht: ich sage das nicht etwa, weil mir der Verkehr mit Ihnen nicht von hohem Wert wäre; glauben Sie auch nicht, daß ich mich durch irgend etwas gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern, und was ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an einen heran, verstehen es aber auch, das Herz schnell zu erkennen. So denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein schönes und sehr liebes Gesicht, aber vielleicht haben Sie einen geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch über Ihr Gesicht; kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder Hinsicht, in allem Guten und allem Schlechten, obwohl Sie bereits in einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich Kinder halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre Gesichter soeben lediglich aus Naivität so freiheraus gesagt habe, o nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht dabei.« VII Als der Fürst nun schwieg, blickten alle, selbst Aglaja, namentlich aber Lisaweta Prokofjewna ihn vergnügt an. »Da habt ihr ihn ja nett examiniert!« rief sie. »Ja, meine verehrten Damen, ihr dachtet, ihr würdet ihn wie einen armen Schlucker protegieren, und nun hat er selbst euch nur gerade noch für eine seiner würdige Gesellschaft erklärt und noch dazu gleich vorher angekündigt, daß er nur selten herkommen werde. Seht ihr wohl, da sind wir nun – worüber ich mich freue – die Blamierten, und am allermeisten Iwan Fjodorowitsch. Bravo, Fürst! Wir hatten vorhin die Weisung erhalten, wir sollten Sie examinieren. Was Sie aber von meinem Gesicht sagten, das ist durchaus richtig: ich bin ein Kind und weiß das. Ich habe es schon früher gewußt als Sie, und Sie haben nur meine eigene Ansicht in knapper Form zum Ausdruck gebracht. Ich meine, daß Ihr Charakter mit dem meinigen völlig übereinstimmt, und freue mich sehr darüber; die beiden sind sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Nur sind Sie ein Mann und ich eine Frau, auch bin ich nicht in der Schweiz gewesen, das ist der ganze Unterschied.« »Sachte, sachte, maman!« rief Aglaja. »Der Fürst sagt ja, daß er bei all seinen freimütigen Auseinandersetzungen eine besondere Absicht hatte und nicht ohne Hintergedanken gesprochen hat.« »Ja, ja!« stimmten ihr die andern lachend bei. »Zieht ihn nicht auf, liebe Kinder, es wird vielleicht noch so herauskommen, daß er schlauer ist als ihr alle drei zusammen. Ihr werdet ja sehen. Aber warum haben Sie nichts von Aglaja gesagt, Fürst? Aglaja wartet darauf, und ich ebenfalls.« »Ich kann im Augenblick nichts über sie sagen. Ich werde es später tun.« »Warum denn? Sie scheint doch eine eigenartige Persönlichkeit zu sein.« »O ja, das ist sie. Sie sind eine hervorragende Schönheit, Aglaja Iwanowna. Sie sind so schön, daß man sich ordentlich fürchtet, Sie anzusehen.« »Ist das alles? Und ihre Eigenschaften?« setzte ihm die Generalin hartnäckig zu. »Über die Schönheit ist schwer zu urteilen; ich bin noch nicht so weit, daß ich meine Ansicht aussprechen könnte. Die Schönheit ist ein Rätsel.« »Damit haben Sie Aglaja ein Rätsel aufgegeben«, sagte Adelaida. »Nun rate einmal, Aglaja! Aber schön ist sie, Fürst, nicht wahr?« »Außerordentlich schön!« antwortete der Fürst lebhaft und blickte Aglaja ganz entzückt an. »Fast so schön wie Nastasja Filippowna, obwohl das Gesicht von ganz anderer Art ist! ...« Alle sahen einander erstaunt an. »Wie we-er?« fragte die Generalin gedehnt. »Wie Nastasja Filippowna? Wo haben Sie Nastasja Filippowna gesehen? Was für eine Nastasja Filippowna?« »Gawrila Ardalionowitsch hat vorhin ihr Bild Iwan Fjodorowitsch gezeigt.« »Wie? Er hat meinem Manne ihr Porträt gebracht?« »Nur, um es ihm zu zeigen. Nastasja Filippowna hatte ihm heute ihr Bild geschenkt, und da brachte er es her, um es zu zeigen.« »Ich will es sehen!« rief die Generalin heftig. »Wo ist dieses Bild? Wenn sie es ihm geschenkt hat, so muß er es haben, und er ist gewiß noch im Arbeitszimmer. Er kommt mittwochs immer her, um hier zu arbeiten, und geht nie vor vier Uhr weg. Laßt Gawrila Ardalionowitsch sogleich herrufen! Oder nein! Ich sehne mich nicht übermäßig danach, ihn zu sehen. Tun Sie mir den Gefallen, bester Fürst, gehen Sie in das Arbeitszimmer, lassen Sie sich von ihm das Bild geben, und bringen Sie es her! Sagen Sie, ich wolle es gern einmal sehen! Seien Sie so freundlich!« »Er ist ein guter Mensch, aber doch gar zu einfältig«, sagte Adelaida, als der Fürst hinausgegangen war. »Ja, gar zu einfältig«, stimmte Alexandra ihr bei, »so daß er sogar ein bißchen komisch erscheint.« Die eine wie die andere schien das, was sie dachte, nicht vollständig auszusprechen. »Mit unseren Gesichtern hat er sich übrigens gut aus der Affäre gezogen«, bemerkte Aglaja. »Er hat uns allen geschmeichelt, sogar maman.« »Bitte, keine Spötteleien!« rief die Generalin. »Er hat nicht geschmeichelt, sondern ich fühle mich geschmeichelt.« »Meinst du, daß er sich nur aus der Affäre ziehen wollte?« fragte Adelaida. »Mir scheint, er ist gar nicht so einfältig«, versetzte Aglaja. »Was redet ihr da!« ereiferte sich die Generalin. »Meiner Ansicht nach seid ihr noch komischer als er. Er ist ein schlichter Mensch und hat seinen Kopf für sich, selbstverständlich im besten Sinne. Ganz wie ich.« ›Es war gewiß eine Dummheit, daß ich mir das von dem Bilde entschlüpfen ließ‹, sagte sich der Fürst, während er nach dem Arbeitszimmer ging, und fühlte dabei einige Gewissensbisse. ›Aber ... vielleicht habe ich gut daran getan, daß ich davon anfing ...‹ Es ging ihm ein sonderbarer, noch nicht ganz klarer Gedanke durch den Kopf. Gawrila Ardalionowitsch saß noch im Arbeitszimmer und war in seine Papiere vertieft. Er schien in der Tat sein Gehalt von der Aktiengesellschaft nicht ohne Gegenleistung zu beziehen. Er wurde furchtbar verlegen, als der Fürst nach dem Bild fragte und erzählte, auf welche Weise die Damen von diesem Bild etwas erfahren hatten. »Donnerwetter! Wozu mußten Sie davon schwatzen?« rief er in grimmigem Ärger. »Sie verstehen ja nichts davon ... Idiot!« murmelte er vor sich hin. »Verzeihung, ich habe es gesagt, ohne mir etwas dabei zu denken. Das Gespräch kam zufällig darauf. Ich sagte, Aglaja sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna.« Ganja bat ihn, ihm über das Gespräch Genaueres mitzuteilen, und der Fürst erzählte. Ganja sah ihn wieder spöttisch an. »Ich möchte wissen, was Sie sich um Nastasja Filippowna ...«, murmelte er, versank aber, ohne den Satz zu beenden, in Gedanken. Er war in sichtlicher Unruhe. Der Fürst erinnerte ihn an das Bild. »Hören Sie, Fürst«, sagte Ganja auf einmal, wie wenn ein plötzlicher Gedanke in seinem Kopf aufleuchtete, »ich habe eine große Bitte an Sie ... Aber ich weiß wirklich nicht ...« Er wurde verwirrt und sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende. Es schien, als ob er einen Entschluß fassen wolle, aber mit sich selbst kämpfe. Der Fürst wartete schweigend. Ganja sah ihn noch einmal mit einem forschenden, durchdringenden Blick an. »Fürst«, begann er von neuem, »man ist dort auf mich augenblicklich ... infolge eines ganz sonderbaren Umstandes ... an dem ich keine Schuld trage ... nun kurz, das gehört nicht hierher ... man ist dort auf mich, wie es scheint, ein wenig böse, so daß ich für einige Zeit nicht ohne besondere Aufforderung hingehen möchte. Ich muß jetzt aber ganz notwendig mit Aglaja Iwanowna sprechen. Ich habe hier für alle Fälle ein paar Worte an sie geschrieben« (er hatte auf einmal einen kleinen, zusammengefalteten Zettel in der Hand) »und weiß nun nicht, wie ich sie ihr zugehen lassen soll. Möchten Sie es nicht übernehmen, Fürst, dieses Blättchen Aglaja Iwanowna abzugeben, jetzt gleich, aber nur Aglaja Iwanowna allein, das heißt so, daß es niemand sieht, verstehen Sie? Es handelt sich nicht um irgendwelche arge Heimlichkeit, es ist nichts Derartiges ... aber ... wollen Sie es tun?« »Die Sache ist mir nicht sehr angenehm«, antwortete der Fürst. »Ach, Fürst, ich bin in der äußersten Notlage!« bat Ganja. »Sie wird vielleicht antworten ... Seien Sie versichert, daß nur die dringende Notwendigkeit, die allerdringendste Notwendigkeit mich veranlaßt, mich an Sie zu wenden! ... Durch wen sollte ich es sonst hinschicken? ... Die Sache ist sehr wichtig ... außerordentlich wichtig für mich ...« Ganja war in größter Angst, der Fürst könnte es ihm abschlagen, und blickte ihm, furchtsam bittend, in die Augen. »Nun, meinetwegen, ich werde es übergeben.« »Aber nur so, daß niemand es bemerkt!« bat der erfreute Ganja. »Und noch eins, Fürst: ich kann mich doch wohl auf Ihr Ehrenwort verlassen, nicht wahr?« »Ich werde es niemandem zeigen«, erwiderte der Fürst. »Das Billett ist nicht versiegelt, aber ...« Ganja merkte, daß er in seiner übergroßen Sorge zuviel sagte, und hielt verlegen inne. »Oh, ich werde es nicht lesen«, versetzte der Fürst ganz schlicht, nahm das Bild und verließ das Arbeitszimmer. Als Ganja allein geblieben war, griff er sich an den Kopf. »Ein Wort von ihr, und ich ... und ich breche vielleicht wirklich diese Beziehung ab! ...« Vor Aufregung und gespannter Erwartung war er nicht imstande, sich wieder an seine Papiere zu setzen, sondern schritt im Arbeitszimmer von einer Ecke in die andere. Der Fürst ging sehr nachdenklich zurück; der Auftrag war ihm unangenehm, unangenehm war ihm auch der Gedanke, daß Ganja mit Aglaja in Korrespondenz stand. Aber als er noch zwei Zimmer zu passieren hatte, um wieder in den Salon zu gelangen, blieb er plötzlich stehen, als ob ihm etwas einfiele, blickte sich um, trat ans Fenster, recht nahe an das Licht, und begann Nastasja Filippownas Bild zu betrachten. Er hätte gern etwas enträtselt, was in diesem Gesicht verborgen lag und ihn vorhin frappiert hatte. Der Eindruck von vorhin war in ihm haftengeblieben, und er beeilte sich jetzt, ihn von neuem nachzuprüfen. Dieses durch seine Schönheit und noch durch etwas anderes auffallende Gesicht übte jetzt auf ihn eine noch stärkere Wirkung aus. Ein grenzenloser Stolz, eine grenzenlose Verachtung, die fast wie Haß aussah, lagen in diesem Gesicht und zu gleicher Zeit etwas Zutrauliches, erstaunlich Offenherziges; dieser Kontrast erweckte bei dem, der diese Züge betrachtete, sogar ein gewisses Mitleid. Diese blendende Schönheit war geradezu unerträglich, die Schönheit des blassen Gesichts, der fast eingefallenen Wangen und glühenden Augen – eine seltsame Schönheit! Der Fürst betrachtete das Bild wohl eine Minute lang; dann zuckte er auf einmal zusammen, blickte rings um sich, führte das Bild eilig an seine Lippen und küßte es. Als er einen Augenblick darauf in den Salon trat, war sein Gesicht wieder vollkommen ruhig. Aber als er in das Eßzimmer gelangte, das noch durch ein Zimmer vom Salon getrennt war, stieß er in der Tür beinahe mit der herauskommenden Aglaja zusammen. Sie war allein. »Gawrila Ardalionowitsch hat mich gebeten, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte der Fürst, indem er ihr das Billett hinreichte. Aglaja blieb stehen, nahm das Billett und blickte den Fürsten seltsam an. In ihrem Blick lag nicht die geringste Verlegenheit, nur ein gewisses Erstaunen mochte daraus hervorschimmern, und auch dieses Erstaunen schien sich nur auf den Fürsten zu beziehen. Aglaja forderte durch ihren Blick von ihm gleichsam Rechenschaft darüber, wie es zugehe, daß er in dieser Angelegenheit mit Ganja im Bunde sei, und sie benahm sich dabei mit aller Ruhe und von oben herab. Zwei oder drei Sekunden lang standen sie einander gegenüber; endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht etwas wie Spott; sie lächelte leise und ging vorüber. Die Generalin betrachtete eine Zeitlang schweigend und mit einem leisen Ausdruck von Geringschätzung Nastasja Filippownas Bild, das sie mit ausgestrecktem Arm sehr weit von den Augen hielt. »Ja, schön ist sie«, sagte sie endlich, »sogar sehr schön. Ich habe sie zweimal gesehen, aber nur von weitem. Also eine solche Schönheit bewundern Sie?« wandte sie sich plötzlich an den Fürsten. »Eine solche ... ja ...«, antwortete der Fürst mit einiger Überwindung. »Gerade eine solche?« Ja.« »Warum denn?« »In diesem Gesicht ... liegt soviel Leid ...«, sagte der Fürst; es schien, als kämen diese Worte unwillkürlich aus seinem Munde und als antwortete er nicht auf die Frage, sondern spräche für sich. »Das ist übrigens vielleicht nur eine Phantasie von Ihnen«, bemerkte die Generalin kurz und warf mit einer hochmütigen Gebärde das Bild von sich weg auf den Tisch. Alexandra nahm es, Adelaida trat zu ihr, und beide begannen es zu betrachten. In diesem Augenblick kehrte Aglaja wieder in den Salon zurück. »Das ist eine gewaltige Macht!« rief auf einmal Adelaida, die über die Schulter ihrer Schwester hinweg das Bild mit größtem Interesse ansah. »Wieso? Inwiefern eine Macht?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton. »Eine solche Schönheit ist eine Macht«, erwiderte Adelaida enthusiastisch. »Mit einer solchen Schönheit kann man die Welt umdrehen!« In Gedanken versunken ging sie zu ihrer Staffelei. Aglaja sah das Bild nur flüchtig an, kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe vor, ging zur Seite und setzte sich da mit zusammengelegten Händen hin. Die Generalin klingelte. »Rufe Gawrila Ardalionowitsch her, er ist im Arbeitszimmer«, befahl sie dem eintretenden Diener. »Aber maman!« rief Alexandra mit bedeutsamer Betonung. »Ich will ihm nur ein paar Worte sagen, und damit basta!« erklärte die Generalin schnell in bestimmtem, scharfem Ton, der jede Widerrede abschnitt. Sie befand sich offenbar in gereizter Stimmung. »Sehen Sie, Fürst, bei uns hier gibt es jetzt lauter Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Die Etikette verlangt das, obwohl es eine Dummheit ist. Und noch dazu bei einer Sache, bei der die größte Offenheit, Klarheit und Ehrlichkeit erforderlich ist. Es sind Eheschließungen im Werke; aber diese Ehen wollen mir gar nicht gefallen ...« »Maman, was reden Sie da?« unterbrach Alexandra sie wieder eilig, um sie von weiteren Äußerungen zurückzuhalten. »Was willst du, liebe Tochter? Gefallen sie denn dir? Daß der Fürst dabei zuhört, tut nichts, wir sind ja Freunde. Ich und er wenigstens. Es heißt: ›Gott sucht sich Menschen‹, aber natürlich gute Menschen; schlechte und launische, die sich heute so entscheiden und morgen wieder anders reden, kann er nicht gebrauchen. Verstehen Sie wohl, Alexandra Iwanowna? Meine Töchter sagen, Fürst, ich sei wunderlich, aber ich habe ein klares, gesundes Urteil. Denn das Herz ist die Hauptsache, und alles übrige ist dummes Zeug. Verstand ist freilich auch nötig, gewiß ... vielleicht ist der Verstand sogar die allergrößte Hauptsache. Lache nicht, Aglaja, ich widerspreche mir nicht: ein Weib mit Herz ohne Verstand ist ebenso unglücklich wie ein Weib mit Verstand ohne Herz. Das ist eine alte Wahrheit. Ich bin ein Weib mit Herz ohne Verstand und du eins mit Verstand ohne Herz; wir sind beide unglücklich und müssen beide viel leiden.« »Inwiefern sind Sie denn so unglücklich, maman?« konnte Adelaida sich nicht enthalten zu fragen; sie war anscheinend von der ganzen Gesellschaft die einzige, die ihre heitere Stimmung nicht verloren hatte. »Erstens, weil ich so gelehrte Töchter habe«, schnitt ihr die Generalin das Wort ab. »Und da dies eine schon ganz hinreichend ist, so brauche ich das übrige nicht erst lange aufzuzählen. Aber nun genug des Geredes! Wir wollen einmal sehen, wie ihr beide (von Aglaja rede ich nicht) mit eurem Verstand und mit eurer Redekunst euch herauswickeln werdet, und ob Sie, verehrte Alexandra Iwanowna, mit Ihrem geschätzten Herrn Gemahl glücklich sein werden... Ah!...«, rief sie, als sie den eintretenden Ganja erblickte, »da kommt noch so ein Ehekandidat. Guten Morgen!« erwiderte sie auf Ganjas Verbeugung, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern. »Sie wollen eine Ehe eingehen?« »Eine Ehe?... Wieso?... Was für eine Ehe?...«, murmelte Gawrila Ardalionowitsch ganz verblüfft. Er war schrecklich verlegen. »Sie wollen heiraten? frage ich, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist.« »N-nein... ich... n-nein«, log Gawrila Ardalionowitsch, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht. Er warf eilig einen Blick auf die abseits sitzende Aglaja und ließ seine Augen schnell wieder weitergleiten. Aglaja sah ihn kalt, gerade und ruhig an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, und beobachtete seine Verwirrung. »Nein? Sie haben nein gesagt?« setzte die unerbittliche Lisaweta Prokofjewna das Verhör beharrlich fort. »Gut, ich werde es mir merken, daß Sie heute, Mittwoch vormittag, auf meine Frage mit Nein geantwortet haben. Was haben wir heute für einen Tag – Mittwoch?« »Ich glaube, Mittwoch, maman«, antwortete Adelaida. »Ihr wißt doch nie die Wochentage. Und was für ein Datum?« »Den Siebenundzwanzigsten«, antwortete Ganja. »Den Siebenundzwanzigsten? Das ist nützlich zu wissen, wegen einer gewissen Berechnung. Leben Sie wohl, Sie haben sicher viel zu tun, und für mich ist es Zeit, daß ich mich anziehe und ausfahre; nehmen Sie Ihr Bild wieder mit! Empfehlen Sie mich der unglücklichen Nina Alexandrowna!... Auf Wiedersehen, mein lieber Fürst! Kommen Sie recht oft wieder her; ich will jetzt eiligst zu der alten Bjelokonskaja fahren, um ihr von Ihnen zu erzählen. Und hören Sie, mein Lieber: ich glaube, daß Gott Sie speziell meinetwegen aus der Schweiz nach Petersburg geführt hat. Vielleicht haben Sie hier auch noch anderes zu tun; aber hauptsächlich sind Sie meinetwegen hergekommen. Gott hat es mit Absicht so eingerichtet ... Auf Wiedersehen, liebe Kinder! Liebe Alexandra, komm du mit mir!« Die Generalin ging hinaus. Ganja, ganz verstört, fassungslos, wütend, nahm das Bild vom Tisch und wandte sich mit einem schiefen Lächeln zum Fürsten: »Fürst, ich gehe jetzt gleich nach Hause. Wenn Sie Ihre Absicht, bei uns zu wohnen, nicht aufgegeben haben, so werde ich Sie hinführen; sonst kennen Sie ja nicht einmal Straße und Haus.« »Warten Sie, Fürst«, sagte Aglaja, die sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob, »Sie sollen mir noch etwas in mein Album schreiben. Papa hat gesagt, Sie seien ein Kalligraph. Ich werde es Ihnen gleich bringen.« Sie verließ das Zimmer. »Auf Wiedersehen, Fürst, ich gehe auch weg«, sagte Adelaida. Sie drückte dem Fürsten fest die Hand, lächelte ihm freundlich und herzlich zu und ging hinaus. Den dabeistehenden Ganja sah sie gar nicht an. »Das ist Ihr Werk!« rief zähneknirschend Ganja, der, sowie alle hinausgegangen waren, auf den Fürsten losstürzte. »Sie haben ihnen ausgeplaudert, daß ich heiraten will!« murmelte er hastig im Flüsterton, mit wütendem Gesicht und zornig funkelnden Augen. »Sie sind ein schamloser Schwätzer!« »Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren«, antwortete der Fürst ruhig und höflich. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie heiraten wollen.« »Sie haben vorhin gehört, wie Iwan Fjodorowitsch sagte, heute abend werde sich alles bei Nastasja Filippowna entscheiden, und das haben Sie weitererzählt! Sie lügen! Woher hätten die Damen es sonst wissen können? Wer, zum Teufel, konnte es ihnen mitteilen außer Ihnen? Hat mir die Alte etwa nicht zu verstehen gegeben, daß sie davon weiß?« »Sie müssen am besten wissen, wer es den Damen mitgeteilt hat, wenn Sie der Ansicht sind, daß man Ihnen dergleichen zu verstehen gegeben hat; ich habe kein Wort davon gesagt.« »Haben Sie mein Billett übergeben? ... Ist eine Antwort da?« unterbrach ihn Ganja, vor Ungeduld glühend. Aber gerade in diesem Augenblick kam Aglaja zurück, und der Fürst hatte nicht mehr Zeit zu antworten. »Hier, Fürst«, sagte Aglaja, indem sie ihr Album auf ein Tischchen legte. »Suchen Sie sich eine Seite aus, und schreiben Sie mir etwas hinein! Hier ist eine Feder, noch dazu eine ganz neue. Es macht doch nichts aus, daß es eine Stahlfeder ist? Ich habe mir sagen lassen, die Kalligraphen schrieben nicht mit Stahlfedern.« Während sie mit dem Fürsten sprach, schien sie gar nicht zu bemerken, daß Ganja ebenfalls da war. Aber während nun der Fürst die Feder in Ordnung brachte, eine Seite aussuchte und sich zum Schreiben fertigmachte, trat Ganja an den Kamin heran, wo Aglaja unmittelbar rechts neben dem Fürsten stand, und sagte zu ihr mit zitternder, stockender Stimme aus nächster Nähe. »Ein einziges Wort, nur ein einziges Wort von Ihnen – und ich bin gerettet.« Der Fürst wandte sich rasch um und sah sie beide an. Auf Ganjas Gesicht lag der Ausdruck echter Verzweiflung; er schien diese Worte ohne jede Überlegung hervorgestoßen zu haben. Aglaja blickte ihn ein paar Sekunden lang mit ganz demselben ruhigen Erstaunen an wie eine Weile vorher den Fürsten, und es schien, daß dieses ruhige Erstaunen, diese Verwunderung, diese offenkundige völlige Verständnislosigkeit für das, was ihr gesagt war, in diesem Augenblick für Ganja schrecklicher war, als es die stärkste Verachtung hätte sein können. »Was soll ich denn schreiben?« fragte der Fürst. »Ich werde es Ihnen gleich diktieren«, erwiderte Aglaja, sich zu ihm wendend. »Sind Sie bereit? Nun, dann schreiben Sie: ›Ich lasse mich nicht auf Handelsgeschäfte ein.‹ Setzen Sie jetzt das Datum darunter! Zeigen Sie her!« Der Fürst reichte ihr das Album hin. »Vorzüglich! Sie haben es erstaunlich schön geschrieben; Ihre Handschrift ist ganz wundervoll! Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Fürst ... Warten Sie«, fügte sie hinzu, als ob ihr plötzlich etwas einfiele, »kommen Sie mit; ich will Ihnen etwas zum Andenken schenken.« Der Fürst folgte ihr; als sie jedoch ins Eßzimmer kamen, blieb Aglaja stehen. »Lesen Sie das da!« sagte sie, ihm Ganjas Billett reichend. Der Fürst nahm das Billett und blickte Aglaja erstaunt an. »Ich weiß ja, daß Sie es nicht gelesen haben und nicht der Vertraute dieses Menschen sein können. Lesen Sie, es ist mein Wunsch, daß Sie es lesen.« Das Billett war augenscheinlich in großer Eile geschrieben: »Heute wird mein Schicksal entschieden, Sie wissen, in welcher Weise. Heute werde ich unwiderruflich mein Wort geben müssen. Ich habe keinerlei Recht auf Ihre Teilnahme und wage nicht, irgendwelche Hoffnungen zu hegen, aber Sie haben früher einmal ein Wort ausgesprochen, nur ein einziges Wort, und dieses Wort hat die ganze dunkle Nacht meines Lebens erhellt und ist für mich ein Leuchtzeichen geworden. Sagen Sie jetzt noch ein solches Wort – und Sie werden mich damit vom Untergang erretten! Sagen Sie nur zu mir: ›Brich alle Beziehungen ab!‹ und ich tue es noch heute. Oh, was kostet es Sie, dieses eine Wort zu sagen! Ich erbitte dieses Wort nur als Zeichen Ihrer Teilnahme und Ihres Mitleids mit mir – nur in diesem Sinne! Weiter soll es nichts sein, nichts! Ich wage nicht, irgendwelche Hoffnung zu hegen, weil ich solcher Hoffnung nicht würdig bin. Aber wenn Sie dieses Wort gesprochen haben, werde ich von neuem meine Armut auf mich nehmen und meine verzweifelte Lage mit Freuden ertragen. Ich werde in den Kampf eintreten; ich werde mich seiner freuen und in ihm neue Kraft gewinnen! Senden Sie mir dieses Wort der Teilnahme ( nur der Teilnahme, das schwöre ich Ihnen!). Zürnen Sie nicht über die Kühnheit eines Verzweifelnden, Ertrinkenden, der eine letzte Anstrengung zu machen gewagt hat, um sich vor dem Untergange zu retten! G. J.« »Dieser Mensch versichert«, sagte Aglaja scharf, als der Fürst zu Ende gelesen hatte, »daß das Wort ›Brechen Sie alle Beziehungen ab!‹ mich nicht kompromittieren und zu nichts verpflichten solle, und er gibt mir, wie Sie sehen, hierin, in diesem Billett, eine schriftliche Garantie dafür. Beachten Sie, wie naiv er einige Worte unterstrichen hat, und in wie plumper Weise seine geheime Absicht hervorschaut! Er weiß übrigens, daß, wenn er alle Beziehungen abbräche, aber von selbst, allein, ohne auf ein Wort von mir zu warten und ohne mit mir auch nur davon zu reden und ohne jede Hoffnung auf meine Hand, daß ich dann meine Gefühle gegen ihn ändern und vielleicht seine Freundin werden würde. Das weiß er genau! Aber er hat eine niedrige Gesinnung: er weiß es und kann sich doch nicht entschließen; er weiß es und verlangt doch Garantien. Er ist nicht imstande, auf Treu und Glauben einen Entschluß zu fassen. Er möchte, daß ich ihm, als Ersatz für die hunderttausend Rubel, die Hoffnung auf meine Hand gebe. Was aber jenes frühere Wort anlangt, von dem er in seinem Billett spricht und das angeblich sein Leben erhellt hat, so lügt er frech. Ich habe ihm einfach einmal meine Teilnahme ausgesprochen. Aber er ist dreist und unverschämt; ihm ist damals sogleich der Gedanke durch den Kopf gegangen, da sei für ihn eine Hoffnung möglich, ich habe das sofort bemerkt. Seitdem hat er angefangen, auf mich Jagd zu machen, und so sucht er mich auch jetzt zu fangen. Aber genug davon; nehmen Sie dieses Billett, und geben Sie es ihm zurück, unmittelbar nachdem Sie unser Haus werden verlassen haben, selbstverständlich nicht früher!« »Und welche Antwort soll ich ihm ausrichten?« »Natürlich gar keine. Das ist die beste Antwort. Sie wollen also in seinem Hause wohnen?« »Iwan Fjodorowitsch hat es mir vorhin selbst empfohlen«, antwortete der Fürst. »Dann nehmen Sie sich vor ihm in acht, ich warne Sie; er wird es Ihnen jetzt nicht verzeihen, daß Sie ihm sein Billett zurückbringen.« Aglaja drückte dem Fürsten leicht die Hand und ging hinaus. Ihr Gesicht war ernst und finster, und sie lächelte nicht einmal, als sie dem Fürsten zum Abschied zunickte. »Ich bin gleich fertig, ich will nur mein Bündel holen«, sagte der Fürst zu Ganja. »Dann können wir gehen.« Ganja stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß. Sein Gesicht wurde ganz dunkel vor Wut. Endlich traten beide auf die Straße, der Fürst mit seinem Bündel in der Hand. »Und die Antwort? Die Antwort?« bestürmte ihn Ganja. »Was hat sie Ihnen gesagt? Haben Sie ihr meinen Brief übergeben?« Der Fürst reichte ihm schweigend sein Billett hin. Ganja erstarrte. »Wie? Mein Billett!« rief er. »Er hat es ihr gar nicht einmal übergeben! Oh, das hätte ich mir im voraus sagen müssen! O dieser ver-r-dammte ... Nun ist es erklärlich, daß sie vorhin nichts verstand! Aber wie kommt denn das, daß Sie es ihr nicht übergeben haben, Sie ver-r-dammter ...« »Entschuldigen Sie, es gelang mir im Gegenteil sogleich, Ihr Billett zu übergeben, unmittelbar nachdem Sie es mir eingehändigt hatten, und genau in der Art, wie Sie es wünschten. Ihr Billett befindet sich jetzt deshalb wieder in meinen Händen, weil Aglaja Iwanowna es mir soeben wieder zurückgegeben hat.« »Wann? Wann?« »Als ich mit der Eintragung in das Album fertig war und sie mich aufforderte, mit ihr hinauszukommen. Sie haben es wohl gehört? Wir gingen in das Eßzimmer; dort gab sie mir das Billett und befahl mir, es durchzulesen und Ihnen zurückzugeben.« »Durch-zu-lesen!« schrie Ganja. »Durchzulesen! Und Sie haben es gelesen?« Er blieb von neuem wie erstarrt mitten auf dem Gehsteig stehen und war dermaßen erstaunt, daß er sogar den Mund aufriß. »Ja, ich habe es gelesen, jetzt eben.« »Und sie selbst, sie selbst hat es Ihnen zum Durchlesen gegeben? Sie selbst?« »Ja, sie selbst; Sie können mir glauben, daß ich es ohne ihre Aufforderung nicht gelesen hätte.« Ganja schwieg eine Minute und überlegte etwas mit qualvoller Anstrengung, aber plötzlich rief er: »Es ist unmöglich! Sie konnte Sie nicht auffordern, den Brief zu lesen. Sie lügen! Sie haben ihn ohne Erlaubnis durchgelesen!« »Ich sage die Wahrheit«, antwortete der Fürst in dem früheren, völlig ruhigen Ton, »und seien Sie überzeugt: es tut mir sehr leid, daß dies auf Sie einen so unangenehmen Eindruck macht.« »Aber, Sie Unseliger, sie hat Ihnen doch wenigstens etwas dabei gesagt, etwas geantwortet?« »Ja, gewiß.« So sprechen Sie doch, sprechen Sie doch, zum Teufel!« Ganja stampfte mit dem in einem Überschuh steckenden rechten Fuß zweimal auf das Pflaster. »Als ich den Brief durchgelesen hatte, sagte sie mir, Sie suchten sie zu fangen; Sie wünschten sie zu kompromittieren, um auf ihre Hand hoffen zu können, damit Sie dann, auf diese Hoffnung gestützt, eine andere Hoffnung auf hunderttausend Rubel ohne Verlust fahren lassen könnten. Wenn Sie das täten, ohne mit ihr eine Art von Handelsgeschäft zu machen, und alle jene Beziehungen auf eigene Faust abbrächen, ohne von ihr vorher eine Garantie zu verlangen, dann würde sie vielleicht Ihre Freundin werden. Das ist alles, glaube ich. Ja, noch eins: als ich den Brief bereits zurückerhalten hatte und fragte, was für eine Antwort ich bestellen solle, da sagte sie, keine Antwort werde die beste Antwort sein. Ich meine, so war es; entschuldigen Sie, wenn ich den genauen Wortlaut vergessen habe; ich habe es Ihnen so mitgeteilt, wie ich es selbst verstanden habe.« Ein grenzenloser Zorn bemächtigte sich Ganjas, und seine Wut kam hemmungslos zum Ausbruch. »Ah! So steht es!« rief er zähneknirschend. »Also meine Briefe werden aus dem Fenster geworfen! Ah! Auf Handelsgeschäfte will sie sich nicht einlassen – nun, so werde ich es tun! Wir wollen einmal sehen! Ich habe noch viele Hilfsmittel... wir wollen einmal sehen!... Ich will sie schon klein kriegen!...« Sein Gesicht verzerrte sich, er wurde ganz blaß, sein Mund schäumte, er drohte mit der Faust. So gingen sie einige Schritte. Vor dem Fürsten legte er sich nicht den geringsten Zwang auf; er benahm sich, als wäre er in seinem Zimmer und ganz allein, weil er den Fürsten geradezu als eine Null betrachtete. Aber auf einmal fiel ihm etwas ein, und er kam zur Besinnung. »Aber wie kommt es«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »wie kommt es, daß Sie« (›Idiot!‹fügte er im stillen hinzu) »auf einmal eine solche Vertrauensstellung einnehmen, zwei Stunden nach der ersten Bekanntschaft? Wie kommt das?« Zu all seinen Qualen hatte nur noch der Neid gefehlt, der nun auf einmal sein Herz schmerzhaft packte. »Das weiß ich Ihnen allerdings nicht zu erklären«, antwortete der Fürst. Ganja warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Da hat sie Sie wohl ins Eßzimmer gerufen, um Ihnen ihr Vertrauen zu schenken? Denn daß sie Ihnen etwas schenken wollte, hatte sie ja vorher gesagt.« »Ich kann es nicht anders auffassen als in dieser Weise.« »Aber, zum Teufel, wodurch haben Sie denn das verdient? Was haben Sie denn so Dankenswertes dort getan? Wodurch haben Sie so gefallen? Hören Sie einmal«, sagte er hastig (in seinem Geiste war in diesem Augenblick alles gleichsam bunt durcheinandergewürfelt und befand sich in ärgster Unordnung, so daß er mit seinen Gedanken nicht zurechtkommen konnte), »hören Sie einmal, können Sie sich nicht wenigstens einigermaßen erinnern und der Reihe nach erzählen, wovon Sie dort eigentlich gesprochen haben, alle Ihre Worte, von Anfang an? Haben Sie irgend etwas Eigenartiges geäußert, besinnen Sie sich nicht?« »O ja, sehr wohl«, antwortete der Fürst. »Gleich zu Anfang, als ich hereingekommen und mit den Damen bekannt geworden war, sprachen wir über die Schweiz.« »Ach, hol die Schweiz der Teufel!« »Dann über die Todesstrafe.« »Über die Todesstrafe?« »Ja, das Gespräch führte uns darauf... Dann erzählte ich ihnen, wie ich dort vier Jahre gelebt habe, und eine Geschichte von einem armen Bauernmädchen....« »Ach, zum Teufel mit dem armen Bauernmädchen! Weiter!« drängte Ganja ungeduldig. »Dann, wie Schneider mir seine Ansicht über meinen Charakter aussprach und mich nötigte....« »Hol Ihren Schneider der Henker, was scheren mich seine Ansichten! Weiter!« »Dann fing ich bei irgendeinem Anlaß an, von Gesichtern zu sprechen, das heißt von dem Ausdruck der Gesichter, und sagte, Aglaja Iwanowna sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna. Und da kam ich denn auch auf das Bild zu sprechen....« »Aber Sie haben nichts mitgeteilt, Sie haben doch nichts von dem mitgeteilt, was Sie vorher im Arbeitszimmer gehört hatten? Nein? Nein?« »Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht getan habe.« »Aber woher dann, zum Teufel.... Ha! Hat Aglaja den Brief etwa der Alten gezeigt?« »Was das betrifft, kann ich Ihnen bestimmt garantieren, daß sie es nicht getan hat. Ich war die ganze Zeit dabei, sie hatte auch gar keine Zeit dazu.« »Aber vielleicht haben Sie selbst etwas nicht bemerkt.... Oh, dieser ver-r-dammte Idiot!« schrie er auf einmal ganz außer sich, »er kann nicht einmal etwas erzählen!« Ganja, der nun einmal ins Schimpfen hineingeraten war und keinen Widerstand fand, verlor allmählich alle Selbstbeherrschung, wie das bei manchen Menschen immer ist. Es fehlte nicht viel, und er hätte vielleicht zu spucken begonnen, so wütend war er. Aber eben infolge dieser Wut war er auch wie blind; sonst hätte er längst bemerken müssen, daß dieser »Idiot«, den er so verächtlich behandelte, manche Dinge sehr schnell und genau durchschaute und außerordentlich klar darzustellen wußte. Doch auf einmal geschah etwas Unerwartetes. »Ich muß Ihnen bemerken, Gawrila Ardalionowitsch«, sagte der Fürst plötzlich, »daß ich zwar früher in der Tat so krank war, daß ich wirklich fast einem Idioten glich, aber jetzt bin ich schon längst wiederhergestellt, und daher ist es mir einigermaßen unangenehm, wenn man mich, mir ins Gesicht, einen Idioten nennt. Allerdings kann man Ihre Mißerfolge als Entschuldigung für Sie geltend machen, aber Sie haben mich in Ihrem Ärger schon zweimal mit Schimpfnamen belegt. Das mißfällt mir sehr, namentlich auch, da Sie es so ohne weiteres gleich beim Beginn unserer Bekanntschaft tun, und da wir uns jetzt gerade an einer Straßenkreuzung befinden, so ist es wohl das beste, wenn wir uns trennen: gehen Sie rechts nach Ihrer Wohnung, und ich werde links gehen. Ich bin im Besitz von fünfundzwanzig Rubel und werde wohl irgendein hôtel garni möbliertes Zimmer (frz.) finden.« Ganja wurde höchst verlegen und errötete sogar vor Scham. »Verzeihen Sie, Fürst!« rief er eifrig, indem er seinen scheltenden Ton schnell mit einem äußerst höflichen vertauschte. »Ich bitte Sie inständig, verzeihen Sie mir! Sie sehen, in welcher entsetzlichen Lage ich mich befinde! Sie wissen noch fast nichts darüber, aber wenn Sie alles wüßten, würden Sie mich gewiß wenigstens einigermaßen entschuldigen, obwohl selbstverständlich mein Verhalten unentschuldbar ist...« »Oh, ich beanspruche gar nicht so lange Entschuldigungen«, beeilte sich der Fürst zu erwidern. »Ich begreife ja, daß Ihre Lage sehr unangenehm ist und Sie deswegen schimpfen. Nun, dann wollen wir nach Ihrer Wohnung gehen. Ich tue es mit Vergnügen ...« ›Nein, so darf ich ihn jetzt nicht davonlassen‹, sagte sich Ganja im stillen, während er unterwegs dem Fürsten grimmige Blicke zuwarf. ›Dieser schlaue Patron hat mir alle meine Geheimnisse entlockt und nun auf einmal die Maske abgeworfen... Das hat etwas zu bedeuten... Nun, wir wollen sehen! Es wird sich alles entscheiden, alles, alles! Noch heute!‹ Sie standen schon gerade vor dem Hause. VIII Ganjas Wohnung befand sich im dritten Stock, zu dem man auf einer sehr sauberen, hellen, breiten Treppe hinaufstieg, und bestand aus sechs oder sieben Zimmern und Zimmerchen, die zwar nur ganz gewöhnlicher Art waren, aber doch jedenfalls nicht recht im Einklang standen mit dem Portemonnaie eines Beamten, der Familie hatte, auch wenn er zweitausend Rubel Gehalt bezog. Bei der Wohnung war jedoch die Aufnahme von Untermietern mit Beköstigung und Bedienung in Aussicht genommen, und sie war von Ganja und seiner Familie erst vor zwei Monaten gemietet worden, und zwar zu Ganjas eigenem größten Mißvergnügen, auf die inständigen Bitten seiner Mutter Nina Alexandrowna und seiner Schwester Warwara Ardalionowna hin, die den Wunsch hatten, sich ihrerseits nützlich zu machen und die Einnahmen der Familie wenigstens um eine Kleinigkeit zu vermehren. Ganja ärgerte sich darüber und nannte das Halten von Untermietern eine Unanständigkeit; er schämte sich dessen gewissermaßen in der Gesellschaft, in der er als junger eleganter Mann mit einer bedeutenden Zukunft sich zu bewegen pflegte. Dieser Druck der Verhältnisse und diese ganze widerwärtige Beengtheit bereiteten ihm tiefe seelische Schmerzen. Seit einiger Zeit regte er sich über jede Kleinigkeit maßlos auf, viel mehr, als sie wert war, und wenn er sich dazu verstand, vorläufig noch nachzugeben und zu dulden, so tat er dies nur deshalb, weil er bereits entschlossen war, dies alles in nächster Zeit umzuändern und umzugestalten. Indessen stellte ihm gerade diese Umgestaltung, gerade der Ausweg, den er vor sich sah, eine nicht leichte Aufgabe, eine Aufgabe, deren bevorstehende Lösung mühsamer und qualvoller zu werden drohte als alles Vorhergegangene. Die Wohnung wurde von einem Korridor durchschnitten, der gleich beim Vorzimmer begann. Auf der einen Seite des Korridors befanden sich die drei Zimmer, die zum Vermieten an »gut empfohlene« Untermieter bestimmt waren; außerdem lag auf derselben Seite des Korridors, ganz am Ende bei der Küche, ein viertes Zimmerchen, enger als alle übrigen, in welchem das Oberhaupt der Familie, der General a. D. Iwolgin, selbst wohnte; er schlief dort auf einem breiten Sofa und war verpflichtet, wenn er die Wohnung verließ und wiederkam, seinen Weg durch die Küche und über die Hintertreppe zu nehmen. In demselben Zimmerchen wohnte auch Gawrila Ardalionowitschs fünfzehnjähriger Bruder, der Gymnasiast Kolja; auch er mußte sich in diesem engen Raum behelfen, mußte hier seine Schulaufgaben erledigen und auf einem andern sehr alten, schmalen, kurzen Sofa und einem zerrissenen Laken schlafen; vor allen Dingen aber mußte er den Vater warten und beaufsichtigen, denn das wurde bei diesem von Tag zu Tag mehr notwendig. Dem Fürsten wurde das mittlere der drei Zimmer angewiesen; in dem ersten Zimmer, rechts davon, wohnte Ferdyschtschenko, und das dritte, links, stand noch leer. Aber Ganja führte den Fürsten zunächst in die von der Familie eingenommene Wohnungshälfte. Diese Hälfte bestand aus einem Wohnzimmer, das ich, sooft es nötig war, in ein Eßzimmer verwandelte, ferner aus einem Salon, der jedoch nur vormittags Salon war und sich am Abend in Ganjas Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer verwandelte, und endlich aus einem dritten, engen und stets geschlossen gehaltenen Zimmer: dies war Nina Alexandrownas und Warwara Ardalionownas Schlafzimmer. Mit einem Wort: alles in dieser Wohnung war beengt und zusammengedrängt; Ganja knirschte im stillen nur so mit den Zähnen; obgleich er gegen seine Mutter respektvoll war und zu sein wünschte, so konnte man doch beim ersten Blick, den man in dieses Familienleben tat, bemerken, daß er hier einen argen Despotismus ausübte. Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich; und etwas vergrämt, aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck, gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen, aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre ganze Haltung zeugten von einer Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte. Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Fähigkeit besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber schon etwas zu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten, ja sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in letzter Zeit sogar angefangen, ihm Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet. Ganja, der seine Mutter sehr trocken und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohne Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen. »Wo ist denn Ihr Gepäck?« fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte. »Ich habe nur ein Bündelchen, das habe ich im Vorzimmer gelassen.« »Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrjona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?« »Ja.« »Ist es in der Schweiz schön?« »Ja, sehr schön.« »Sind da Berge?« »Ja.« »Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.« Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer. »Matrjona wird Ihnen sofort das Bett beziehen. Haben Sie einen Koffer?« »Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen, es ist im Vorzimmer.« »Es ist kein Bündel da, außer diesem kleinen; wo haben Sie es denn hingelegt?« fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte. »Außer diesem habe ich keins«, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm. »So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.« »Schwatz keinen Unsinn!« sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur so eben noch höflichen Redeweise. »Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen, ich bin ja nicht Ptizyn.« »Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrjona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!« »Nun, dann gehen wir, du resoluter Charakter!« Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen. »Ist Vater zu Hause?« fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus. »Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen... Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Ihnen nicht zu große Anstrengung kostet, so reden Sie weder hier von dem, was eben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden, denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel!... Halten Sie wenigstens heute damit zurück!« »Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben«, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe. Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter. »Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Worte, ich bitte Sie darum.« »Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bilde zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.« »Pfui, was für ein häßliches Zimmer!« bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. »So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen... Na, das ist nicht meine Sache; für die Wohnung bin ich nicht zuständig.« Ptizyn blickte herein und rief Ganja; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, obwohl er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, aber er hatte gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit. Kaum hatte der Fürst sich gewaschen und seine Toilette einigermaßen in Ordnung gebracht, als sich die Tür wieder öffnete und eine neue Gestalt hereinschaute. Es war ein Herr von etwa dreißig Jahren, ziemlich groß, breitschultrig, mit großem Kopf und krausem, rötlichem Haar. Sein Gesicht war fleischig und gerötet, die Lippen dick, die Nase breit und platt; die kleinen, verschwommenen, spöttischen Augen blinzelten fortwährend. Im ganzen erweckte er den Eindruck ziemlicher Frechheit. Seine Kleidung war unsauber. Er öffnete die Tür anfangs nur so weit, daß er den Kopf hineinstecken konnte. Dieser hineingesteckte Kopf sah sich etwa fünf Sekunden lang im Zimmer um, dann öffnete sich die Tür langsam weiter, und die ganze Gestalt wurde auf der Schwelle sichtbar, aber der Besucher trat noch nicht herein, sondern fuhr von der Schwelle aus fort, den Fürsten mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Endlich machte er die Tür hinter sich zu, trat näher, setzte sich auf einen Stuhl, ergriff den Fürsten kräftig bei der Hand und setzte ihn schräg gegenüber auf das Sofa. »Mein Name ist Ferdyschtschenko«, sagte er, indem er dem Fürsten unverwandt und forschend ins Gesicht blickte. »Nun, und?« antwortete der Fürst beinahe lachend. »Ich bin hier Untermieter«, fuhr Ferdyschtschenko fort, ihn wie vorher anstarrend. »Wünschen Sie mit mir bekannt zu werden?« »Ach was!« brummte der Gast, wühlte sich in den Haaren, seufzte und blickte in die entgegengesetzte Ecke. »Haben Sie Geld?« fragte er plötzlich, sich zum Fürsten hinwendend. »Nur wenig.« »Also wieviel?« »Fünfundzwanzig Rubel.« »Zeigen Sie mal her!« Der Fürst zog den Fünfundzwanzigrubelschein aus der Westentasche und reichte ihn Ferdyschtschenko. Dieser faltete ihn auseinander, besah ihn, drehte ihn dann auf die andere Seite und hielt ihn gegen das Licht. »Es ist doch recht merkwürdig«, sagte er wie in Nachdenken versunken, »woher werden sie nur so braun? Diese Fünfundzwanzigrubelscheine werden manchmal schrecklich braun, während andere dagegen ganz ausbleichen. Da, nehmen Sie!« Der Fürst nahm seine Banknote zurück. Ferdyschtschenko stand von seinem Stuhle auf. »Ich bin gekommen, um Sie zu warnen: erstens, leihen Sie mir niemals Geld, denn ich werde Sie unfehlbar darum bitten.« »Gut.« »Beabsichtigen Sie, hier zu bezahlen?« »Allerdings.« »Ich beabsichtige es nicht, fällt mir nicht ein. Ich wohne hier rechts von Ihnen, die erste Tür, haben Sie gesehen? Geben Sie sich nicht zu oft die Mühe, mich zu besuchen; ich werde schon zu Ihnen kommen, da können Sie unbesorgt sein. Haben Sie den General schon gesehen?« »Nein.« »Auch noch nicht gehört?« »Natürlich nicht.« »Na, Sie werden ihn ja noch zu sehen und zu hören bekommen; der versucht sogar mich anzupumpen! Avis au lecteur! Wink für den Leser! (frz.) Leben Sie wohl. Kann man etwa leben, wenn man Ferdyschtschenko heißt? Wie?« »Warum denn nicht?« »Leben Sie wohl.« Er ging zur Tür. Der Fürst erfuhr später, daß dieser Herr es sich gewissermaßen zur Pflicht gemacht hatte, alle Leute durch seine Originalität und Spaßhaftigkeit in Erstaunen zu versetzen, daß ihm das aber so gut wie nie gelang. Auf manche machte er sogar einen recht unangenehmen Eindruck, was ihm wirklich schmerzlich war; indes wurde er seiner Aufgabe darum doch nicht untreu. In der Tür gelang es ihm noch, eine besondere Leistung hinzuzufügen: er stieß nämlich dort auf einen eintretenden Herrn, ließ diesen neuen, dem Fürsten noch unbekannten Gast an sich vorbei ins Zimmer gehen und zwinkerte hinter dessen Rücken ein paarmal warnend nach ihm hin. So erreichte er doch noch einen effektvollen Abgang. Der neue Herr war von hohem Wuchs, etwa fünfundfünfzig Jahre alt oder noch etwas darüber, ziemlich wohlbeleibt, mit einem purpurroten, fleischigen, aufgedunsenen Gesicht, das von einem dichten grauen Backenbart umrahmt war, mit einem Schnurrbart und großen, stark hervorstehenden Augen. Seine Erscheinung wäre recht stattlich gewesen, wenn sie nicht etwas Nachlässiges, Verlebtes und sogar Unsauberes gehabt hätte. Er trug einen alten, an den Ellbogen beinah schon durchgestoßenen Rock; auch seine Wäsche war schmutzig; außerhalb des Hauses konnte er sich so nicht sehen lassen. Um ihn herum roch es ein wenig nach Schnaps, aber sein Benehmen war effektvoll, wiewohl etwas studiert und offenbar veranlaßt von dem leidenschaftlichen Wunsch, durch Würde zu imponieren. Der Herr näherte sich dem Fürsten langsam mit einem freundlichen Lächeln, ergriff schweigend seine Hand, die er dann in der seinigen behielt, und blickte ihm eine Weile ins Gesicht, wie wenn er wohlbekannte Züge darin wiederfände. »Er ist es! Er ist es!« sagte er leise, aber in feierlichem Ton. »Als stünde er leibhaftig vor mir! Ich hörte, wie da mehrmals ein mir bekannter, teurer Name genannt wurde, und erinnerte mich an die unwiederbringlich dahingeschwundene Vergangenheit... Sie sind Fürst Myschkin?« »Ganz richtig.« »General a. D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?« »Lew Nikolajewitsch.« »Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!« »Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.« »Lwowitsch«, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff gleichfalls den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. »Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.« »In der Tat?« fragte der Fürst. »Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.« »Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.« »Mein Vater war ebenfalls beim Militär, er war Leutnant im Wassilkowschen Regiment.« »Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tode. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter...« Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt. »Auch sie«, sagte der Fürst, »starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.« »Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! O Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.« Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören. »Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens, es war noch nicht sieben Uhr, kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begriff alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Tuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen in Strömen aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden, gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ›Sie sei dein!‹ Ich rief: ›Sie sei dein!‹ Mit einem Worte... mit einem Worte... Sie wollen bei uns wohnen... bei uns wohnen?« »Ja, vielleicht, für einige Zeit«, antwortete der Fürst etwas stockend. »Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten«, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte. Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen, aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder. »Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen«, sagte der General. »Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten, aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer – ein unerhörter Niedergang der Familie!... So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen!... Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Hause eine schlimme Tragödie ab!« Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an. »Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten!... Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht, ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen werden, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt...« »Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien. »Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!« Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen. »Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon längst nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt... in Twer?« »Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten. »Jawohl, aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zu dem General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört...« »Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tode stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, obwohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.« »Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?« »Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tode Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbette...« »Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, » obwohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.« »Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.« »So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert. »Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst – wohlgemerkt, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals – macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich, aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr nachher, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Divison gehörte wie unser Regiment!« »Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen. »Es verhält sich nicht so, das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn fast bekümmert ansah. »Mon mari se trompe.« Mein Mann irrt sich. (frz.) »Aber liebe Frau, se trompe, das ist leicht gesagt, aber kläre du doch selbst einmal einen solchen Fall auf! Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich würde der erste sein, der da sagte, qu'on se trompe. daß er sich irrt (frz.) Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu, aber...« »Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt«, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat. »Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger... Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite...« »Die Suppe wird wieder kalt werden«, drängte Warwara ungeduldig. »Gleich, gleich!« murmelte der General und verließ das Zimmer. »Und trotz aller Nachforschungen...«, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen. »Sie werden meinem Manne Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben«, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. Er wird Sie übrigens nicht zuviel belästigen, er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine... besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Zimmer wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt berücksichtigt werden, aber ich bitte Sie einzig um der Ordnung willen darum ... Was ist, Warja?« Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja. »Sie hat es ihm heute selbst geschenkt«, sagte Warja, »und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.« »Heute abend!« wiederholte Nina Alexandrowna halblaut, wie in Verzweiflung. »Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt... Hat er es dir denn selbst gezeigt?« fügte sie erstaunt hinzu. »Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden, da habe ich es aufgehoben.« »Fürst«, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, »ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierherbitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?« Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, wobei er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu. »Wenn ich Sie danach frage«, bemerkte Nina Alexandrowna, »so tue ich es nicht etwa in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte eigentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ›Er weiß alles, man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‹ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade ...« Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand. »Also heute, Ganja?« fragte Nina Alexandrowna plötzlich. »Was heute?« rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. »Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier ... Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht ...« »Hier trage ich die Schuld, Ganja, und kein anderer«, unterbrach ihn Ptizyn. Ganja blickte ihn fragend an. »Es ist ja doch so am besten, Ganja, um so mehr, als von der einen Seite die Sache erledigt ist«, murmelte Ptizyn; dann ging er beiseite, setzte sich an einen Tisch, zog ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und blickte unverwandt darauf. Ganja stand mit finsterer Miene da und erwartete mit innerer Unruhe eine Familienszene. Sich dem Fürsten gegenüber zu entschuldigen kam ihm gar nicht in den Sinn. »Wenn alles erledigt ist, hat Iwan Petrowitsch natürlich recht«, sagte Nina Alexandrowna. »Bitte, mach kein so böses Gesicht, Ganja, und ärgere dich nicht; ich werde nie etwas herauszubekommen suchen, was du nicht von selbst sagen magst, und ich versichere dir, daß ich mich vollständig darein gefügt habe, tu mir den Gefallen und beunruhige dich nicht!« Sie sagte das, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und, wie es schien, wirklich ganz ruhig. Ganja war erstaunt, schwieg aber vorsichtigerweise und sah seine Mutter an, in der Erwartung, daß sie sich deutlicher aussprechen werde. Häusliche Szenen hatten ihm schon gar zu viel Verdruß gemacht. Nina Alexandrowna bemerkte diese vorsichtige Zurückhaltung und fügte mit bitterem Lächeln hinzu: »Du zweifelst immer noch und glaubst mir nicht; beunruhige dich nicht: es wird keine Tränen und keine Bitten mehr geben wie früher, wenigstens nicht von meiner Seite. Alles, was ich wünsche, ist, daß du glücklich sein möchtest, das weißt du; ich habe mich in mein Schicksal gefunden, und mein Herz wird immer voll Liebe für dich sein, ob wir nun zusammenbleiben oder uns trennen. Selbstverständlich rede ich nur in meinem eigenen Namen, von deiner Schwester kannst du nicht dasselbe verlangen...« »Ah, immer wieder sie!« rief Ganja, indem er seiner Schwester einen spöttischen, haßerfüllten Blick zuwarf. »Mamachen, ich schwöre Ihnen nochmals, worauf ich Ihnen schon früher mein Wort gegeben habe: nie soll jemand wagen, sich Ihnen gegenüber etwas herauszunehmen, solange ich hier bin, solange ich am Leben bin. Um wen es sich auch handeln mag, ich werde stets darauf bestehen daß jeder, der unsere Schwelle überschreitet, Ihnen mit der größten Ehrerbietung begegnet...« Ganja freute sich so, daß er seine Mutter fast mit versöhnlichen, zärtlichen Blicken ansah. »Ich habe auch nie etwas für meine eigene Person gefürchtet, Ganja, das weißt du. Nicht um meinetwillen habe ich mich diese ganze Zeit beunruhigt und gequält. Es heißt, heute wird zwischen euch alles abgeschlossen werden? Was wird denn abgeschlossen werden?« »Sie hat versprochen, heute abend bei sich zu Hause sich zu erklären, ob sie einwilligt oder nicht«, antwortete Ganja. »Wir haben es fast drei Wochen lang vermieden, davon zu sprechen, und das war auch das beste. Jetzt, da alles beschlossen ist, möchte ich mir nur die eine Frage erlauben: wie konnte sie dir ihre Einwilligung geben und dir sogar ihr Bild schenken, wenn du sie nicht liebst? Hast du sie denn wirklich, eine so... so...« »Na, eine so erfahrene Person, nicht wahr?« »Ich wollte mich nicht so ausdrücken. Hast du sie denn wirklich bis zu dem Grade verblenden können?« Aus dieser Frage klang auf einmal eine große Gereiztheit. Ganja stand eine Weile da und überlegte, dann sagte er mit unverhohlenem Spott: »Sie haben sich hinreißen lassen, Mamachen, und sich wieder einmal nicht beherrschen können. In der Art fangen bei uns immer alle Gespräche an und werden dann hitzig. Sie sagten, es werde keine Fragen und keine Vorwürfe geben, und nun haben Sie doch schon wieder angefangen! Lassen wir dergleichen lieber weg, wirklich, lassen wir es weg; auch Sie haben es ja wenigstens beabsichtigt... Ich werde Sie nie und um keinen Preis verlassen; ein anderer würde vor einer solchen Schwester mindestens davonlaufen – da, sehen Sie nur, wie sie mich eben anblickt! Hören wir auf davon! Ich freute mich schon so... Und woher wissen Sie, daß ich Nastasja Filippowna täusche? Und was Warja anlangt, so kann sie tun, was sie will, basta! Na, nun aber wirklich genug!« Ganja war bei jedem Worte hitziger geworden und ging nun ziellos im Zimmer umher. Solche Gespräche nahmen immer eine Wendung, daß sie bei allen Familienmitgliedern einen wunden Punkt berührten. »Ich habe gesagt, wenn sie hier einzieht, ziehe ich von hier fort, und ich werde ebenfalls Wort halten«, erklärte Warja. »Aus Eigensinn!« rief Ganja. »Aus Eigensinn willst du auch nicht heiraten! Warum fauchst du mich so an? Ich mache mir aus Ihnen nicht das geringste, Warwara Ardalionowna, wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie Ihre Absicht sofort zur Ausführung bringen. Ich bin Ihrer schon recht überdrüssig. Wie! Sie entschließen sich endlich, uns allein zu lassen, Fürst?« schrie er den Fürsten an, als er sah, daß dieser sich von seinem Platz erhob. Aus Ganjas Stimme konnte man schon jenen Grad von Gereiztheit heraushören, bei dem der Mensch beinah Freude über seine eigene Erregung empfindet und sich diesem Gefühl ohne jeden weiteren Versuch der Selbstbeherrschung überläßt, nahezu mit wachsendem Genuß, mag nun daraus entstehen, was will. Der Fürst, schon in der Tür, drehte sich um, um etwas zu erwidern, aber als er an dem krankhaft erregten Gesichtsausdruck seines Beleidigers sah, daß hier nur noch der letzte Tropfen fehlte, der das Gefäß zum Überlaufen bringt, da wandte er sich wieder um und ging schweigend hinaus. Einige Sekunden darauf hörte er an den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraustönten, daß das Gespräch nach seinem Weggange noch lärmender und rücksichtsloser geworden war. Er ging durch das Wohnzimmer ins Vorzimmer, um auf den Korridor und aus diesem in sein Zimmer zu gelangen. Als er dicht bei der nach der Treppe führenden Tür vorbeikam, hörte und sah er, daß auf der andern Seite der Tür sich jemand aus aller Kraft bemühte zu klingeln; die Klingel aber, an der offenbar etwas in Unordnung war, zitterte nur und gab keinen Ton. Der Fürst schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und – prallte erstaunt, am ganzen Leibe zitternd, zurück: vor ihm stand Nastasja Filippowna. Er erkannte sie sofort nach ihrem Bild. Ihre Augen funkelten vor Ärger, als sie ihn erblickte, sie trat, ihn mit der Schulter beiseite stoßend, schnell ins Vorzimmer und sagte zornig, während sie ihren Pelz abwarf: »Wenn du zu faul bist, die Klingel in Ordnung zu bringen, so solltest du wenigstens im Vorzimmer sitzen, um zu hören, wenn jemand klopft. Na, und nun hat er den Pelz hinfallen lassen, der Tölpel!« Der Pelz lag in der Tat auf dem Fußboden; Nastasja Filippowna hatte nicht abgewartet, daß der Fürst ihn ihr abnahm, sondern ihn ihm selbst, ohne sich umzusehen, nach hinten in die Hände werfen wollen, aber der Fürst hatte nicht Zeit gehabt, ihn aufzufangen. »Weggejagt solltest du werden! Geh und melde mich!« Der Fürst wollte etwas sagen, war aber so fassungslos, daß er nichts herausbrachte und mit dem Pelz, den er vom Fußboden aufgehoben hatte, nach dem Salon zu ging. »Na, jetzt zieht er gar mit dem Pelz los! Wozu nimmst du denn den Pelz mit? Hahaha! Bist wohl verrückt, wie?« Der Fürst kehrte um und blickte sie ganz verstört an; als sie auflachte, lächelte er ebenfalls, war aber immer noch nicht imstande, die Zunge zu bewegen. Im ersten Augenblick, als er ihr die Tür geöffnet hatte, war er blaß gewesen; jetzt aber wurde sein Gesicht plötzlich von dunkler Röte übergossen. »Nein, was für ein Idiot!« rief Nastasja Filippowna unwillig und stampfte mit dem Fuß. »Na, wohin gehst du nun? Na, wen meldest du?« »Nastasja Filippowna«, murmelte der Fürst. »Woher kennst du mich?« fragte sie schnell. »Ich habe dich nie gesehen! Geh und melde mich!... Was ist denn da für ein Geschrei?« »Sie zanken sich«, antwortete der Fürst und ging nach dem Salon. Er trat gerade in einem recht kritischen Augenblick ein. Nina Alexandrowna war auf dem Punkt, vollständig zu vergessen, daß sie sich »in alles gefügt« hatte; sie war übrigens dabei, Warjas Verhalten zu verteidigen. Ptizyn, der seinen mit Bleistift beschriebenen Zettel beiseite getan hatte, war ebenfalls auf Warjas Seite getreten. Auch Warja selbst bewies Mut, wie sie überhaupt ganz und gar kein feiges Mädchen war; die Grobheiten ihres Bruders aber wurden mit jedem Worte, das er sprach, ärger und unerträglicher. In solchen Fällen hörte sie gewöhnlich auf zu sprechen und richtete nur schweigend ihre spöttischen, unverwandten Blicke auf den Bruder. Dieses Benehmen hatte, wie sie wußte, die Wirkung, ihn alle Schranken vergessen zu lassen. Gerade in diesem Augenblick trat der Fürst ins Zimmer und rief: »Nastasja Filippowna!« IX Ein allgemeines Stillschweigen folgte; alle blickten den Fürsten an, wie wenn sie ihn nicht recht verstanden hätten und nicht verstehen wollten. Ganja war vor Schreck ganz starr. Die Ankunft Nastasja Filippownas, und dazu noch in diesem Augenblick, war für alle eine sehr seltsame, besorgniserregende Überraschung. Schon allein der Umstand, daß Nastasja Filippowna zum ersten Male hinkam; bisher hatte sie sich so hochmütig benommen, daß sie in den Gesprächen mit Ganja nicht einmal den Wunsch, mit seinen Angehörigen bekannt zu werden, ausgesprochen und in der letzten Zeit ihrer überhaupt nie mehr Erwähnung getan hatte, als ob sie gar nicht auf der Welt wären. Ganja war zwar zum Teil froh darüber, daß ihm dieses für ihn so mißliche Thema erspart blieb, im stillen aber kreidete er ihr diesen Hochmut doch an. Jedenfalls hätte er von ihrer Seite eher Spottreden und Sticheleien über seine Familie als einen Besuch bei derselben erwartet; er wußte zuverlässig, daß ihr alles bekannt war, was bei ihm zu Hause anläßlich seiner Bewerbung um ihre Hand vorging, und daß sie sich keinen Illusionen darüber hingab, wie seine Angehörigen über sie dachten. Ihr Besuch, jetzt, nach der Schenkung des Bildes und an ihrem Geburtstage, an dem sie sein Schicksal zu entscheiden versprochen hatte, schloß eigentlich schon beinahe die Entscheidung selbst in sich. Die Verständnislosigkeit, mit der alle den Fürsten ansahen, dauerte nicht lange: Nastasja Filippowna erschien in eigener Person in der Tür des Salons und schob wieder beim Eintritt ins Zimmer den Fürsten mit einem leichten Stoß beiseite. »Endlich ist es mir gelungen hereinzukommen ... Warum binden Sie denn Ihre Klingel fest?« fragte sie munter und reichte Ganja, der eilig zu ihr hinstürzte, die Hand. »Warum machen Sie denn ein so betrübtes Gesicht? Bitte, machen Sie mich doch bekannt...« Ganja, der ganz die Besinnung verloren hatte, stellte sie zuerst seiner Schwester Warja vor, und die beiden Frauen maßen einander, bevor sie sich die Hände reichten, mit sonderbaren Blicken. Nastasja Filippowna lachte übrigens und spielte die Heitere, Warja dagegen wollte sich nicht verstellen und blickte düster und starr; nicht einmal eine Spur von Lächeln, wie es schon die einfache Höflichkeit verlangt, zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ganja fuhr erschrocken zusammen; seine Schwester zu bitten, dazu war es zu spät, so warf er ihr denn einen so drohenden Blick zu, daß sie begriff, was dieser Augenblick für ihren Bruder bedeutete. Da entschloß sie sich, wie es schien, ihm nachzugeben, und lächelte Nastasja Filippowna ein ganz klein wenig an. (Im Grunde liebten in der Familie alle einander doch noch.) Nina Alexandrowna verbesserte die Situation ein bißchen; sie hatte der völlig verwirrte Ganja erst nach seiner Schwester vorgestellt und dabei sogar seine Mutter zu Nastasja Filippowna hingeführt, statt umgekehrt. Aber kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, von ihrer »ganz besonderen Freude« zu reden, als Nastasja Filippowna, ohne weiter zuzuhören, sich schnell zu Ganja wandte und, während sie unaufgefordert auf einem kleinen Sofa in der Ecke am Fenster Platz nahm, ihm zurief: »Wo ist denn Ihr Arbeitszimmer? Und ... und wo sind Ihre Untermieter? Sie geben ja wohl Zimmer ab?« Ganja wurde dunkelrot und begann eine Antwort zu stottern, aber Nastasja Filippowna fügte sogleich hinzu: »Wo haben Sie denn hier noch Raum, um Untermieter zu halten? Sie haben ja nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ist denn das Weitervermieten einträglich?« wandte sie sich plötzlich an Nina Alexandrowna. »Es macht einige Mühe und Umstände«, antwortete diese. »Natürlich muß es auch etwas einbringen. Wir sind indessen eben erst ...« Aber Nastasja Filippowna hörte sie wieder nicht zu Ende, sie blickte Ganja an, lachte und rief: »Nein, was machen Sie nur für ein Gesicht? O mein Gott, was machen Sie in diesem Augenblick für ein Gesicht!« Dieses Lachen dauerte einige Sekunden. Ganjas Gesicht sah allerdings arg entstellt aus: die Starrheit und die komische, ängstliche Fassungslosigkeit waren zwar von ihm gewichen, aber er war schrecklich blaß geworden, seine Lippen hatten sich krampfhaft verzogen, und er blickte schweigend, forschend und mit einem bösen Ausdruck unverwandt seiner Besucherin ins Gesicht, die immer noch fortfuhr zu lachen. Es war noch ein Beobachter da, der sich ebenfalls noch nicht hatte von der Betäubung frei machen können, die ihn bei Nastasja Filippownas Anblick überkommen hatte; aber obgleich er immer noch wie eine Bildsäule an seinem früheren Platz in der Tür des Salons stand, hatte er doch bemerkt, wie Ganja blaß wurde und sein Gesicht einen bösartigen Ausdruck annahm. Beinahe erschrocken darüber, trat er plötzlich unwillkürlich vor. »Trinken Sie Wasser«, flüsterte er Ganja zu, »und blicken Sie nicht so...« Es war klar, daß er das ohne allen Vorbedacht, ohne jede besondere Absicht, nur so im ersten Impuls gesagt hatte, aber seine Worte brachten eine ganz merkwürdige Wirkung hervor. Ganjas ganze Wut schien sich auf einmal gegen den Fürsten zu richten, er faßte ihn an der Schulter und blickte ihn schweigend, rachsüchtig und haßerfüllt an, wie wenn er nicht imstande wäre, ein Wort herauszubringen. Es entstand eine allgemeine Bewegung: Nina Alexandrowna stieß sogar einen leisen Schrei aus. Ptizyn trat beunruhigt einige Schritte vor; Kolja und Ferdyschtschenko, die in der Tür erschienen waren, blieben erstaunt stehen; nur Warja behielt ihren finsteren Blick unverändert bei, beobachtete aber aufmerksam, was vorging. Sie hatte sich nicht hingesetzt, sondern stand seitwärts neben der Mutter, die Arme über der Brust verschränkt. Ganja gewann jedoch schnell die Herrschaft über sich zurück, unmittelbar nachdem er sich so hatte hinreißen lassen, und lachte nervös auf. Er war nun vollständig wieder zu sich gekommen. »Ja, Fürst, sind Sie denn ein Arzt?« rief er in möglichst heiterem, treuherzigem Tone. »Sie haben mich geradezu erschreckt! Nastasja Filippowna, ich möchte Ihnen da diesen ganz köstlichen Menschen empfehlen, obwohl ich selbst ihn erst seit heute morgen kenne.« Nastasja Filippowna blickte den Fürsten verwundert an. »Ein Fürst? Er ist Fürst? Denken Sie nur, ich habe ihn vorhin im Vorzimmer für einen Bedienten gehalten und ihn hergeschickt, um mich anzumelden! Hahaha!« »Das tut ja nichts, das tut ja nichts!« fiel Ferdyschtschenko ein, der eilig näher trat und sich freute, daß man zu lachen anfing. »Das tut ja nichts, se non è vero ...« wenn es auch nicht wahr ist (ital.) »Und ich hätte Sie beinahe noch ausgeschimpft, Fürst! Bitte, verzeihen Sie mir! ... Aber, Ferdyschtschenko, wie kommt es denn, daß Sie zu dieser Tageszeit hier sind? Ich dachte, Sie würde ich hier gewiß nicht treffen ... Wer ist der Herr nun? Was für ein Fürst? Myschkin?« fragte sie Ganja, der ihr inzwischen den Fürsten, den er noch immer an der Schulter gefaßt hielt, vorgestellt hatte. »Unser Untermieter«, wiederholte Ganja. Sie waren offenbar bemüht, den Fürsten als eine Art von seltener Kuriosität hinzustellen (alle sahen darin einen Ausweg aus der unerquicklichen Situation), und schoben ihn förmlich zu Nastasja Filippowna hin; der Fürst hörte sogar deutlich das Wort »Idiot«, das jemand, wahrscheinlich Ferdyschtschenko, hinter seinem Rücken zur Erklärung für Nastasja Filippowna flüsterte. »Sagen Sie, warum haben Sie mich denn vorhin nicht aufgeklärt, als ich mich in Ihnen so schrecklich ... irrte?« fragte Nastasja Filippowna weiter und musterte den Fürsten vom Kopf bis zu den Füßen in der ungeniertesten Weise. Sie wartete ungeduldig auf seine Antwort, als wäre sie im voraus völlig überzeugt, daß die Antwort unfehlbar so dumm sein werde, daß sie darüber werde lachen müssen. »Ich war erstaunt, Sie so plötzlich vor mir zu sehen ...«, murmelte der Fürst. »Aber woher wußten Sie denn, daß ich es war? Wo haben Sie mich früher gesehen? Wie geht es nur zu: mir ist tatsächlich, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen! Und gestatten Sie die Frage: warum blieben Sie vorhin so starr auf Ihrem Fleck stehen? Was habe ich denn an mir, das eine solche Wirkung hervorbringen könnte?« »Nun los! Los!« trieb Ferdyschtschenko, der fortfuhr, Gesichter zu schneiden, den Fürsten an. »Los doch! O mein Gott, was für schöne Dinge würde ich auf eine solche Frage antworten! Nun los doch!... Wenn Sie da nicht reden, sind Sie ja der reine Tölpel, Fürst!« »Auch ich würde eine Menge reden, wenn ich Sie wäre«, antwortete der Fürst lachend. »Ihr Bild, das ich vor kurzem sah, hat auf mich einen starken Eindruck gemacht«, fuhr er, zu Nastasja Filippowna gewendet, fort. »Dann habe ich mit Jepantschins von Ihnen gesprochen... und schon heute früh, noch ehe ich in Petersburg ankam, hat mir Parfen Rogoshin viel von Ihnen erzählt... Gerade in dem Augenblick, als ich Ihnen die Tür öffnete, hatte ich an Sie gedacht, und da standen Sie plötzlich vor mir.« »Aber woher wußten Sie denn, wer ich war?« »Nach dem Bilde und ...« »Und woher noch?« »Außerdem deswegen, weil ich Sie mir gerade so vorgestellt habe... Auch mir ist, als hätte ich Sie schon irgendwo gesehen.« »Wo denn? Wo denn?« »Ich habe die Empfindung, als hätte ich Ihre Augen schon einmal irgendwo gesehen... aber es ist unmöglich! Ich bilde es mir nur ein ... Ich bin nie hier gewesen. Vielleicht daß ich im Traume...« »Bravo, Fürst!« rief Ferdyschtschenko. »Nein, ich nehme mein se non é vero zurück. Übrigens... übrigens sagt er das ja alles in reiner Unschuld!« fügte er bedauernd hinzu. Der Fürst hatte jene wenigen Sätze mit unruhiger Stimme gesprochen, mehrfach stockend und häufig dazwischen Atem holend. Sein ganzes Wesen bekundete eine hochgradige Erregung. Nastasja Filippowna blickte ihn neugierig an, lachte aber nicht mehr. In diesem Augenblick ertönte plötzlich hinter der Gruppe, die dicht geschart um den Fürsten und Nastasja Filippowna herumstand, eine neue kräftige Stimme, schob sozusagen die Gruppe in zwei Hälften auseinander und schuf in ihr eine Gasse. Vor Nastasja Filippowna stand das Oberhaupt der Familie selbst, General Iwolgin. Er hatte den Frack und ein reines Vorhemd angelegt und sich den Schnurrbart frisch gefärbt. Das war mehr, als Ganja ertragen konnte. Selbstsüchtig und eitel bis zur Nervosität, bis zur Hysterie, hatte er diese ganzen zwei Monate nach Mitteln gesucht, sich ein anständigeres, vornehmeres Renommee zu geben. Er fühlte, daß er auf dem gewählten Wege noch ein Neuling war und vielleicht nicht imstande sein werde, ihn dauernd einzuhalten. In seiner Verzweiflung war er schließlich dazu gelangt, bei sich zu Hause, wo er der reine Despot war, sich ganz brutal zu benehmen, wagte dies aber nicht in Gegenwart Nastasja Filippownas zu tun, die ihn bis zu diesem Augenblick immer in Verwirrung gesetzt und erbarmungslos tyrannisiert hatte. Einen »ungeduldigen Bettler« hatte sie selbst ihn genannt, eine Bezeichnung, die ihm hinterbracht worden war, und er hatte sich hoch und heilig geschworen, ihr das alles später einmal heimzuzahlen, obwohl er gleichzeitig manchmal kindlich davon geträumt hatte, alles in Ordnung zu bringen und alle Gegensätze zu versöhnen. So stand die Sache, und nun mußte er jetzt noch diesen schrecklichen Becher leeren, und noch dazu gerade in einem solchen Augenblick! Eine unvorhergesehene, aber für einen eitlen Menschen ganz besonders furchtbare Folter sollte er erdulden: die Qual, für seine Angehörigen im eigenen Hause erröten zu müssen! In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Ist denn überhaupt der in Aussicht stehende Preis all diese Mühe und diese Schmerzen wert?‹ Jetzt vollzog sich das, was ihm während dieser zwei Monate nur nachts in beängstigenden Träumen vor das geistige Auge getreten war und ihn mit eisigem Schreck, mit glühender Scham erfüllt hatte: es fand endlich im Familienkreis ein Zusammentreffen zwischen seinem Vater und Nastasja Filippowna statt. Er hatte manchmal in spöttischer Selbstverhöhnung versucht, es sich auszumalen, was für eine Figur der General bei dem Trauakt machen würde, hatte aber nie vermocht, sich das qualvolle Bild vollständig zu vergegenwärtigen, sondern es immer rasch wieder beiseite geschoben. Vielleicht machte er sich von dem ihm erwachsenden Schaden maßlos übertriebene Vorstellungen, aber so geht es eitlen Menschen stets. In diesen zwei Monaten hatte er sich die Sache überlegt, seinen Entschluß gefaßt und sich fest vorgenommen, seinen Vater um jeden Preis irgendwie wegzuschaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche überhaupt nicht gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade in dem Augenblick, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. (Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt.) Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, die beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen wie entehrt abseits, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden ... Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht! Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran. »Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß ...« Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen Gebärde ihre feinen Finger langsam und effektvoll an seine Lippen. Überhaupt war es recht schwer, den General in Verlegenheit zu bringen. Sein Äußeres war, von einer gewissen Nachlässigkeit abgesehen, immer noch ziemlich anständig, was er selbst recht wohl wußte. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, in sehr guter Gesellschaft zu verkehren, aus der er erst vor zwei, drei Jahren endgültig ausgeschlossen worden war. Seitdem hatte er sich allerdings widerstandslos seinen Schwächen hingegeben, aber seine gewandten, angenehmen Manieren hatte er sich immer noch bewahrt. Nastasja Filippowna schien über das Erscheinen Ardalion Alexandrowitschs, über den sie natürlich schon manches gehört hatte, außerordentlich erfreut zu sein. »Ich habe gehört, daß mein Sohn ...«, begann der General. »Ja, Ihr Sohn! Aber Sie sind mir auch nett, Papachen! Warum lassen Sie sich nie bei mir sehen? Verstecken Sie sich selbst, oder versteckt Sie Ihr Sohn? Sie wenigstens können doch zu mir kommen, ohne jemand zu kompromittieren.« »Die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Väter ...«, fing der General wieder an. »Nastasja Filippowna«, sagte Nina Alexandrowna laut, »lassen Sie doch bitte meinen Mann für einen Augenblick fortgehen, es fragt jemand nach ihm.« »Fortgehen lassen? Aber ich bitte Sie, ich habe so viel von ihm gehört und schon so lange gewünscht, ihn persönlich kennenzulernen! Und was kann er denn zu tun haben? Er befindet sich doch im Ruhestande? Sie werden mich doch nicht verlassen, General, werden doch nicht fortgehen?« »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß er Ihnen bald einen Besuch machen wird, aber jetzt bedarf er dringend der Ruhe.« »Ardalion Alexandrowitsch, es wird behauptet, Sie bedürften dringend der Ruhe!« rief Nastasja Filippowna mit unzufriedener, schmollender Miene, wie ein launisches kleines Mädchen, dem man sein Spielzeug wegnimmt. Der General benutzte die Gelegenheit, sich noch närrischer zu gebärden. »Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte. »Wollen Sie nicht hinausgehen, Mamachen«, fragte Warja laut. »Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.« Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben, aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden. Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß. »Führen doch Sie ihn weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganjka!« fügte er für sich hinzu. »Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach zwanzigjähriger Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie Athos, Portos und Aramis. Die drei Musketiere in dem bekannten Roman von Dumas. Aber leider liegt der eine von uns im Grabe, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen ...« »Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus. »Sie sitzen hier in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.« »Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn! ...« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen. »Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja, aber ... es lohnt nicht die Mühe, es zu erzählen.« »Aber unbedingt müssen Sie es erzählen!« rief Nastasja Filippowna lustig. »Auch ich habe diese Geschichte noch nicht gehört«, bemerkte Ferdyschtschenko. »C'est du nouveau.« Das ist eine Neuigkeit, (frz.) »Ardalion Alexandrowitsch!« rief Nina Alexandrowna wieder in flehendem Tone. »Papachen, es fragt jemand nach Ihnen«, sagte Kolja. »Es ist eine dumme Geschichte, und sie läßt sich in wenigen Worten erzählen«, begann der General sehr selbstzufrieden. »Vor zwei Jahren, ja, vor noch nicht ganz zwei Jahren, die Eröffnung der neuen ***skischen Eisenbahn hatte soeben stattgefunden, mußte ich in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit – es handelte sich um den Austritt aus meiner dienstlichen Stellung – eine Reise machen; ich war schon in Zivil und nahm mir ein Billett erster Klasse. Ich steige ein, setze mich hin und rauche. Das heißt, ich fahre fort zu rauchen, angesteckt hatte ich mir die Zigarre schon vorher. Ich war in dem Abteil ganz allein. Das Rauchen ist nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, es ist so halb erlaubt und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, steigen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzen sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören, aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoße der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie meine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es trug ein silbernes Halsband, mit einer Inschrift darauf. Ich kümmere mich um nichts, merke aber, daß die Damen sich ärgern, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern, denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können, wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schweigen ... Auf einmal – und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug saust dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das muß ein tolles Frauenzimmer gewesen sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster. Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.« »Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände. »Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!« »Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.« »Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!« »Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig. »Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!« »Und Sie?« Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann: »Ich ließ mich hinreißen!« »Haben Sie ihr weh getan? Ja?« »Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben, aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst seine Hand im Spiel: es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja, und die im schwarzen Kleide, das war die älteste Prinzessin Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskij sehen Hause steht. Alle Prinzessinnen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Prinzessinnen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf!« »Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich, »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ – ich lese die Indépendance ständig – genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Abteil zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!« Der General wurde sehr rot, auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen, Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte unsagbare, unerträgliche Qualen durch. »Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der General, »daß auch mir ganz dasselbe begegnet ist ...« »Papa hat wirklich Unannehmlichkeiten mit Mrs. Smith, der Gouvernante bei Bjelokonskijs gehabt«, rief Kolja. »Daran erinnere ich mich.« »Wie! Genau ebenso? Ein und dieselbe Geschichte sollte sich an zwei weit auseinanderliegenden Stellen Europas zugetragen haben, genau übereinstimmend in allen Einzelheiten einschließlich des hellblauen Kleides?« sagte Nastasja Filippowna, unbarmherzig bei diesem Gegenstand beharrend. »Ich werde Ihnen die ›Indépendance Belge‹ zuschicken. »Aber beachten Sie wohl«, erwiderte der General, der sich immer noch standhaft verteidigte, »daß es mir zwei Jahre früher passiert ist.« »Ja, das ist entscheidend!« Nastasja Filippowna brach in ein geradezu hysterisches Lachen aus. »Papachen, ich bitte Sie, auf ein paar Worte mit mir hinauszukommen«, sagte Ganja mit zitternder Stimme, der man seine Seelenqual anhörte, und faßte den Vater mechanisch an der Schulter. Ein grenzenloser Haß loderte in seinem Blicke. In diesem Augenblick ertönte außerordentlich laut die Klingel im Vorzimmer. Bei so gewaltsamem Läuten konnte die Klingel abreißen. Man konnte sich auf einen ungewöhnlichen Besuch gefaßt machen, Kolja lief hin, um zu öffnen. X Im Vorzimmer wurde es plötzlich sehr geräuschvoll und lebendig. Vom Salon aus schien es, daß von draußen mehrere Menschen hereingekommen waren und ihnen immer noch andere folgten. Mehrere Stimmen redeten und schrien zugleich; auch auf der Treppe wurde geredet und geschrien, denn die Tür, die vom Vorzimmer dorthin führte, war, wie man hören konnte, nicht wieder geschlossen worden. Es war offenbar ein höchst sonderbarer Besuch. Alle sahen einander an; Ganja eilte nach dem Wohnzimmer, aber auch in das Wohnzimmer drangen schon mehrere Menschen ein. »Ah, da ist er ja, der Judas!« rief eine Stimme, die dem Fürsten bekannt vorkam. »Guten Tag, Ganja, du Schuft!« »Ja, das ist er in eigener Person!« bestätigte eine andere Stimme. Der Fürst konnte nicht daran zweifeln: die eine Stimme war die Rogoshins, die andere die Lebedews. Ganja stand wie vor den Kopf geschlagen auf der Schwelle des Salons und sah schweigend und ohne es zu hindern zu, wie hinter Parfen Rogoshin zehn oder zwölf Menschen einer nach dem andern in das Wohnzimmer eintraten. Die Gesellschaft war sehr buntscheckig und zeichnete sich nicht nur durch ihre Buntscheckigkeit, sondern auch durch ihr seltsames Benehmen aus. Einige traten so ein, wie sie von der Straße kamen, im Überzieher und Pelz. Ganz betrunken waren diese Leute übrigens nicht; jedoch machten sie sämtlich den Eindruck, daß sie stark angeheitert waren. Sie schienen alle einer des andern zu bedürfen, um den Mut zum Eintreten zu finden; einzeln hätten sie nicht Kühnheit genug besessen, aber alle schoben sich sozusagen wechselseitig vorwärts. Selbst Rogoshin schritt nur mit großer Vorsicht an der Spitze dieses Trupps einher, aber er hatte augenscheinlich irgendeine Absicht und schien traurig, gereizt und sorgenvoll. Die übrigen bildeten nur den Chor oder, besser gesagt, die Hilfstruppe. Außer Lebedew war da auch der schön frisierte Saljoshew, der seinen Pelz im Vorzimmer abgelegt hatte und nun in gewandter, stutzerhafter Art eintrat, und zwei oder drei Herren von ähnlicher Art wie er, offenbar aus dem Kaufmannsstand, ferner einer in einem halbmilitärischen Paletot, dann ein kleiner, sehr dicker Mensch, der beständig lachte, weiter ein Herr von gewaltiger Körpergröße, der gleichfalls ungewöhnlich dick war, sehr finster aussah, sich schweigsam verhielt und offenbar große Hoffnungen auf seine Fäuste setzte. Auch ein Student der Medizin war da und ein scharwenzelnder Pole. Von der Treppe her blickten noch zwei undefinierbare Damen ins Vorzimmer herein, wagten aber nicht einzutreten; Kolja schlug ihnen die Tür vor der Nase zu und sicherte sie durch Vorlegung des Hakens. »Guten Tag, Ganja, du Schuft! Na? Parfen Rogoshins Besuch hast du wohl nicht erwartet?« wiederholte Rogoshin, indem er zum Salon ging und in der Tür vor Ganja stehen blieb. Aber in diesem Augenblick erblickte er plötzlich im Salon, sich gerade gegenüber, Nastasja Filippowna. Es schien, daß er es sich nicht hatte träumen lassen, sie hier zu treffen, denn ihr Anblick übte auf ihn eine außerordentliche Wirkung aus: er wurde so blaß, daß sogar seine Lippen eine bläuliche Färbung annahmen. »Also ist es wahr!« sagte er mit ganz verstörtem Gesicht leise vor sich hin. »Nun ist alles zu Ende!... Aber... Das sollst du mir jetzt büßen!« fügte er zähneknirschend hinzu und blickte Ganja mit maßloser Wut an. »Oh... ach!...« Er konnte kaum Luft holen, sogar das Reden fiel ihm schwer. Mechanisch trat er in den Salon, aber als er die Schwelle überschritt, erblickte er plötzlich Nina Alexandrowna und Warja und blieb trotz all seiner Aufregung einigermaßen verlegen stehen. Hinter ihm kam Lebedew, der ihn wie sein Schatten begleitete und schon stark betrunken war, dann der Student, der Herr mit den Fäusten, Saljoshew, der sich nach rechts und nach links verbeugte, und endlich drängte sich noch der kleine Dicke durch. Die Anwesenheit der Damen hielt sie alle noch ein wenig im Zaum und war ihnen offenbar recht störend, natürlich nur bis es losging, bis sich der erste Anlaß bot, ein Geschrei zu erheben und loszulegen... Dann würden auch irgendwelche Damen nicht mehr stören. »Was? Du auch hier, Fürst?« sagte Rogoshin zerstreut, er war etwas verwundert, den Fürsten hier zu treffen. »Immer noch in Gamaschen!... Ach!« seufzte er, er hatte den Fürsten bereits vergessen, richtete seine Blicke wieder auf Nastasja Filippowna und rückte ihr, wie von einem Magnet angezogen, immer näher. Nastasja Filippowna betrachtete die Ankömmlinge ebenfalls mit unruhiger Neugierde. Endlich faßte sich Ganja. »Aber erlauben Sie, was soll denn das eigentlich bedeuten?« sagte er mit starker Stimme, indem er die Eingetretenen mit strengem Blick ansah und sich vor allem an Rogoshin wandte. »Sie sind hier nicht in einen Pferdestall hereingekommen, meine Herren, hier befinden sich meine Mutter und meine Schwester.« »Das sehen wir, daß deine Mutter und deine Schwester da sind«, preßte Rogoshin zwischen den Zähnen hervor. »Daß die Mutter und die Schwester da sind, das sieht man«, pflichtete ihm Lebedew bei, um sich ein Ansehen zu geben. Der Herr mit den Fäusten, der wohl annahm, daß jetzt der richtige Augenblick gekommen sei, fing an, etwas zu brummen. »Aber das ist doch unerhört!« rief Ganja erregt und überlaut. »Erstens ersuche ich Sie alle, dieses Zimmer zu verlassen und in das Wohnzimmer zu gehen, und dann seien Sie so freundlich, sich vorzustellen ...« »Nun sieh einer an! Er kennt mich nicht!« erwiderte Rogoshin mit boshaftem Lächeln, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Kennst du Rogoshin nicht mehr?« »Ich bin allerdings schon irgendwo mit Ihnen zusammengetroffen, aber ...« »Sieh mal an! Irgendwo zusammengetroffen! Ich habe ja erst vor drei Monaten zweihundert Rubel, die meinem Vater gehörten, an dich verspielt, und der Alte ist gestorben, ehe er es erfahren hat; du hast mich hingeschleppt, und Knif hat mich gerupft. Und da kennst du mich nicht? Ptizyn kann es bezeugen! Aber wenn ich jetzt drei Rubel aus der Tasche ziehe und dir zeige, dann kriechst du hinter ihnen her auf allen vieren bis zur Wassilij-Insel. So ein Subjekt bist du! So einen Charakter hast du! Ich bin auch jetzt hierhergekommen, um dich für Geld zu kaufen. Kümmere dich nicht darum, daß ich in solchen Stiefeln hereingekommen bin; ich habe Geld, lieber Freund, viel Geld, und werde dich und alles, was drum und dran ist, kaufen ... Wenn ich will, kaufe ich euch alle! Alles kaufe ich!« Er war immer hitziger geworden und schien sich immer mehr in seinen Rausch hineinzusteigern. »Ach!« schrie er. »Nastasja Filippowna! Jagen Sie mich nicht fort! Sagen Sie nur ein einziges Wörtchen: werden Sie ihn heiraten oder nicht?« Rogoshin hatte diese Frage gestellt, als wäre er ganz wirr im Kopf und als wendete er sich an eine Gottheit, aber mit der Kühnheit eines zum Tode Verurteilten, der nichts mehr zu verlieren hat. In Todesangst wartete er auf die Antwort. Nastasja Filippowna maß ihn mit einem spöttischen, hochmütigen Blick, aber dann sah sie nach Warja und nach Nina Alexandrowna hin, betrachtete prüfend Ganja und veränderte plötzlich ihren Ton. »Nein, keineswegs; was haben Sie bloß? Und mit welchem Recht stellen Sie mir diese Frage?« antwortete sie leise und ernst und, wie es schien, etwas erstaunt. »Nein? Nein?« schrie Rogoshin, vor Freude ganz außer sich. »Also nicht? Und die Leute hatten es mir gesagt! ... Ach! Oh! ... Nastasja Filippowna! Die Leute sagen, Sie hätten sich mit Ganja verlobt! Mit diesem Menschen? Ist das denn überhaupt möglich? Ich habe zu allen Leuten gesagt, daß das nicht möglich ist. Ich kaufe ja den ganzen Patron für hundert Rubel, und wenn ich ihm tausend Rubel, na, oder auch dreitausend Rubel dafür gebe, daß er zurücktritt, so wird er am Tage vor der Hochzeit davonlaufen und mir seine Braut überlassen. Ja, ja, so ist es, Ganja, du Schuft! Du würdest gewiß die Dreitausend nehmen! Da sind sie, da! Eben deswegen bin ich ja hergekommen, um mir von dir einen solchen schriftlichen Verzicht ausstellen zu lassen; ich habe gesagt: ›Ich will ihn kaufen!‹ und das werde ich tun!« »Scher dich weg von hier, du bist ja betrunken!« schrie Ganja, der abwechselnd rot und blaß wurde. Nach dieser Aufforderung ließen sich plötzlich mehrere heftige Stimmen vernehmen; Rogoshins ganzer Trupp hatte schon lange auf die erste Herausforderung gewartet. Lebedew flüsterte Rogoshin etwas mit besonderem Eifer ins Ohr. »Da hast du recht, du Büromensch!« antwortete Rogoshin. »Da hast du recht, du Trunkenbold! Ach, wir wollen's wagen! Nastasja Filippowna!« rief er, blickte wie ein Halbirrer rings um sich, wurde ängstlich und ging dann auf einmal wieder zu kühner Dreistigkeit über. »Da sind achtzehntausend Rubel!« Und er warf ein in weißes Papier eingewickeltes, kreuzweise zugebundenes Päckchen vor ihr auf das Tischchen. »Da! Und ... es kommt noch mehr!« Er wagte nicht zu Ende zu sprechen und zu sagen, was er wollte ... »Nein, nein, nein!« flüsterte ihm von neuem Lebedew mit ganz erschrockenem Gesicht zu. Man konnte merken, daß er über die Höhe der Summe erschrocken war und vorgeschlagen hatte, es mit einer beträchtlich geringeren zu versuchen. »Nein, nein, darin bist du nun schon ein Dummkopf, lieber Freund; du weißt nicht, wen wir vor uns haben... und offenbar bin ich ebenso ein Dummkopf wie du!« Dies letztere fügte Rogoshin hinzu, da er unter Nastasja Filippownas funkelndem Blick zur Besinnung kam und zusammenfuhr. »Ach, ach! Ich habe Unsinn geredet, weil ich auf dich hörte«, fuhr er in tiefer Reue fort. Als Nastasja sein bestürztes Gesicht sah, lachte sie laut auf. »Achtzehntausend Rubel bietet er mir? Da sieht man doch gleich den Bauern!« fügte sie ungeniert und dreist hinzu und stand vom Sofa auf, als ob sie aufzubrechen beabsichtigte. Ganja beobachtete diese ganze Szene mit fast versagendem Herzschlag. »Also vierzigtausend, vierzig, nicht achtzehn!« schrie Rogoshin. »Wanjka Ptizyn und Biskup haben versprochen, bis sieben Uhr die Vierzigtausend heranzuschaffen. Vierzigtausend! Bar auf den Tisch!« Die Szene wurde sehr widerwärtig, aber Nastasja Filippowna, statt wegzugehen, lachte immer weiter, als ob sie sie absichtlich verlängern wollte. Nina Alexandrowna und Warja erhoben sich gleichfalls von ihren Plätzen und warteten erschrocken und schweigend, was das für einen Ausgang nehmen würde; Warjas Augen funkelten, aber auf Nina Alexandrowna übte all dies physisch eine sehr üble Wirkung aus: sie zitterte und drohte im nächsten Augenblick in Ohnmacht zu fallen. »Nun, wenn's nicht anders ist, dann hundert! Noch heute übergebe ich Ihnen hunderttausend Rubel! Ptizyn, sei mir behilflich, du machst dabei einen guten Profit!« »Du bist verrückt geworden!« flüsterte ihm Ptizyn zu, der rasch zu ihm herantrat und ihn am Arm faßte. »Du bist betrunken, es wird nach der Polizei geschickt werden müssen. Wo glaubst du denn zu sein?« »Er ist betrunken und renommiert«, sagte Nastasja Filippowna, wie um ihn zu reizen. »Ich renommiere nicht; das Geld wird dasein, zum Abend wird es dasein ... Ptizyn, sei mir behilflich, du alter Wucherer, nimm dafür, soviel du willst, aber beschaff mir zum Abend hunderttausend Rubel, ich will beweisen, daß ich nicht kneife!« rief Rogoshin verzückt und enthusiastisch. »Aber was soll denn das eigentlich bedeuten?« rief Ardalion Alexandrowitsch auf einmal in zornigem, drohendem Ton und ging auf Rogoshin zu. Die Plötzlichkeit, mit der sich der bisher so schweigsame Alte einmischte, hatte etwas sehr Komisches, und man hörte auch wirklich Lachen. »Wo kommt denn der her?« fragte Rogoshin lachend. »Komm mit, Alter, da sollst du dich mal toll und voll saufen!« »Aber das ist ja eine Gemeinheit!« rief Kolja, der vor Scham und Ärger geradezu weinte. »Ist denn kein einziger unter euch, der es fertigbringt, dieses schamlose Weib hinauszuschaffen?« rief plötzlich, zitternd vor Zorn, Warja. »Also mich nennt man ein schamloses Weib!« entgegnete Nastasja Filippowna mit verächtlicher Heiterkeit. »Und ich, dumm wie ich bin, komme hierher, um die beiden Damen auf den Abend zu mir einzuladen! Sehen Sie, Gawrila Ardalionowitsch, wie mich Ihr Schwesterchen behandelt!« Ein Weilchen stand Ganja infolge der heftigen Worte seiner Schwester da wie vom Blitz getroffen, aber als er sah, daß Nastasja Filippowna sich diesmal wirklich zum Fortgehen anschickte, stürzte er wie ein Rasender auf War ja zu und packte sie wütend bei der Hand. »Was hast du getan?« schrie er und sah sie an, als ob er sie auf dem Fleck zu Asche verbrennen wollte. Er hatte vollständig die Fassung verloren und war fast von Sinnen. »Was ich getan habe? Wohin zerrst du mich? Du verlangst doch nicht etwa, daß ich sie um Verzeihung dafür bitten soll, daß sie deine Mutter beleidigt hat und hergekommen ist, um dein Haus zu beschimpfen, du gemeiner Mensch?« rief Warja wieder und blickte ihren Bruder triumphierend und herausfordernd an. Ein paar Sekunden lang standen sie einander so Auge in Auge gegenüber. Ganja hielt immer noch ihre Hand in der seinen. Warja suchte sich einmal und noch einmal mit aller Gewalt loszureißen, vermochte es aber nicht und spie plötzlich, ganz außer sich, dem Bruder ins Gesicht. »Ist das ein Mädchen!« rief Nastasja Filippowna. »Bravo, Ptizyn, ich gratuliere Ihnen!« Dem so beleidigten Ganja wurde es schwarz vor Augen, er verlor völlig die Herrschaft über sich und holte mit aller Kraft gegen seine Schwester aus. Der Schlag hätte sie sicherlich gerade ins Gesicht getroffen. Aber plötzlich wurde Ganjas Hand durch eine andere festgehalten. Zwischen ihm und seiner Schwester stand der Fürst. »Hören Sie auf, es ist genug!« sagte er nachdrücklich, aber am ganzen Leibe wie von einer sehr heftigen Erschütterung zitternd. »Wirst du mir etwa immer im Wege sein?« brüllte Ganja, ließ Warjas Hand los und versetzte in sinnloser Wut mit der freigewordenen Hand dem Fürsten mit aller Kraft eine Ohrfeige. »Ach!« schrie Kolja und schlug die Hände zusammen. »Ach, mein Gott!« Von allen Seiten erschollen Ausrufe. Der Fürst war ganz blaß geworden. Mit einem eigenartigen, vorwurfsvollen Blick sah er Ganja gerade in die Augen; seine Lippen zitterten und strengten sich an, etwas zu sagen; ein seltsames und ganz unmotiviertes Lächeln verzerrte sie. »Nun, wenn mir das auch widerfährt ... aber sie ... sie lasse ich nicht schlagen!« sagte er endlich leise. Aber seine Empfindungen wurden doch zu mächtig; er wandte sich von Ganja weg, verbarg das Gesicht in den Händen, ging in eine Ecke, stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand und sagte mit fast versagender Stimme: »Oh, wie werden Sie sich Ihres Benehmens schämen!« Ganja stand in der Tat wie vernichtet da. Kolja stürzte auf den Fürsten zu, um ihn zu umarmen und zu küssen. Nach ihm drängten sich Rogoshin, Warja, Ptizyn, Nina Alexandrowna und alle andern heran, selbst der alte Ardalion Alexandrowitsch. »Es hat nichts auf sich, es hat nichts auf sich!« murmelte der Fürst nach allen Seiten hin, immer noch mit demselben unmotivierten Lächeln. »Und er wird es auch bereuen!« schrie Rogoshin. »Du wirst dich schämen, Ganja, daß du ein solches ... Schaf« (er konnte kein anderes Wort finden) »beleidigt hast! Fürst, mein liebes Kerlchen, scher dich nicht um diese Bande, laß sie und komm mit mir! Da wirst du sehen, wie Rogoshin die Leute behandelt, die er gern hat.« Auf Nastasja Filippowna hatten Ganjas Tat und die Antwort des Fürsten ebenfalls einen tiefen Eindruck gemacht. Ihr meist blasses, nachdenkliches Gesicht, das die ganze Zeit über mit dem bisherigen gekünstelten Lachen nicht hatte harmonieren wollen, war jetzt augenscheinlich von einem neuen Gefühl erregt, jedoch wollte sie's nicht zeigen, und der spöttische Ausdruck bemühte sich gleichsam, auf ihrem Gesicht zu verbleiben. »Wirklich, ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen!« sagte sie dann ernst, indem sie sich an ihre frühere Frage wieder erinnerte. »Und Sie schämen sich auch nicht! Ist denn das Ihr wahres Wesen, wie Sie sich jetzt geben? Wie wäre denn das möglich!« rief auf einmal der Fürst im Tone ernsten, starken Vorwurfs. Nastasja Filippowna war erstaunt; sie lächelte, aber nur, als ob sie etwas dahinter zu verbergen suchte; dann richtete sie einen etwas verlegenen Blick auf Ganja und verließ den Salon. Aber sie war noch nicht ins Vorzimmer gelangt, als sie plötzlich umkehrte, schnell an Nina Alexandrowna herantrat, ihre Hand ergriff und an ihre Lippen führte. »Ich bin ja wirklich nicht so; er hat es erraten«, flüsterte sie rasch und leidenschaftlich, und eine dunkle Röte übergoß auf einmal ihr ganzes Gesicht. Darauf kehrte sie um und ging diesmal so eilig hinaus, daß sich niemand in der Geschwindigkeit darüber klarwerden konnte, weshalb sie eigentlich zurückgekehrt war. Sie hatten nur gesehen, daß sie Nina Alexandrowna etwas zugeflüstert und ihr, wie es schien, die Hand geküßt hatte. Aber Warja hatte alles genau gesehen und gehört und verfolgte sie erstaunt mit den Augen. Ganja kam zur Besinnung und stürzte zu Nastasja Filippowna hin, um sie hinauszubegleiten, aber sie war schon aus dem Zimmer. Er holte sie auf der Treppe ein. »Begleiten Sie mich nicht weiter!« rief sie ihm zu. »Auf Wiedersehen heute abend! Ich erwarte Sie bestimmt, hören Sie?« Verwirrt und nachdenklich ging er zurück; ein schweres Rätsel lastete auf seiner Seele mit noch schwererem Druck als bisher. Auch an den Fürsten mußte er denken ... Er war so in seine Gedanken vertieft, daß er kaum bemerkte, wie Rogoshins ganze Rotte, die hinter ihrem Anführer her eilig die Wohnung verließ, sich an ihm vorbeiwälzte und ihm in der Tür sogar ein paar Stöße versetzte. Alle redeten laut miteinander. Rogoshin selbst ging mit Ptizyn und besprach mit ihm eifrig eine wichtige und anscheinend unaufschiebbare Sache. »Du hast das Spiel verloren, Ganja!« rief er ihm im Vorbeigehen zu. Ganja sah ihnen beunruhigt nach. XI Der Fürst hatte den Salon verlassen und sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Unmittelbar darauf kam Kolja zu ihm gelaufen, um ihn zu trösten. Der arme Junge schien sich jetzt gar nicht mehr von ihm losreißen zu können. »Sie haben gut daran getan, daß Sie weggegangen sind«, sagte er. »Da wird jetzt der Wirrwarr noch ärger werden als bisher; jeden Tag geht es bei uns so zu, und all das hat uns diese Nastasja Filippowna eingebrockt.« »Da bei euch hat sich viel Krankheitsstoff angesammelt, lieber Kolja«, bemerkte der Fürst. »Jawohl, viel Krankheitsstoff. Aber wir dürfen uns nicht einmal darüber beklagen, wir sind selbst an allem schuld. Ich habe jedoch einen sehr guten Freund, der ist noch unglücklicher. Ist es Ihnen recht, daß ich Sie mit ihm bekannt mache?« »Sehr recht. Ist er Ihr Schulkamerad?« »Ja, beinah mein Schulkamerad. Ich werde Ihnen das alles später erklären... Aber schön ist Nastaja Filippowna, meinen Sie nicht auch? Ich hatte sie noch nie gesehen, obwohl ich mich sehr darum bemüht hatte. Sie hat mich geradezu geblendet. Ich würde meinem Bruder alles verzeihen, wenn er sie aus Liebe nähme, aber daß er es um des Geldes willen tut, das ist häßlich!« »Ja, Ihr Bruder gefällt mir nicht sonderlich.« »Na, wie wäre das auch möglich! Wie sollte er Ihnen gefallen, nachdem... Wissen Sie, ich bin empört, daß die Leute über diese Dinge so verschiedener Meinung sind. Irgendein Irrsinniger oder ein Dummkopf oder ein Bösewicht gibt jemandem eine Ohrfeige, und da ist nun der Betreffende für sein ganzes Leben entehrt und kann die Schmach nur durch Blut abwaschen oder dadurch, daß der andre ihn auf den Knien um Verzeihung bittet. Nach meiner Ansicht ist das abgeschmackt, ein despotischer Zwang. Auf dieser Anschauung beruht Lermontows Drama ›Der Maskenball‹, meiner Ansicht nach ein dummes Stück. Das heißt, ich will sagen, ein unnatürliches Stück. Aber er war ja beinah noch ein Kind, als er es schrieb.« »Sehr gut gefällt mir Ihre Schwester.« »Wie sie Ganja ins Gesicht gespuckt hat! Ja, Warja ist tapfer! Aber Sie haben ihm nicht ins Gesicht gespuckt, und ich bin doch überzeugt, daß Sie es nicht aus Mangel an Mut unterlassen haben. Aber da ist sie selbst, der Wolf in der Fabel! Ich wußte, daß sie kommen würde; sie hat einen anständigen Charakter, wenn sie auch ihre Fehler besitzt.« »Du hast hier nichts zu suchen«, fiel Warja zuerst über Kolja her. »Geh zum Vater! Belästigt er Sie, Fürst?« »Durchaus nicht, im Gegenteil.« »Na also, was redest du, verehrte ältere Schwester! Das ist so eine häßliche Eigenschaft an ihr. Übrigens dachte ich, der Vater würde bestimmt mit Rogoshin weggehen. Wahrscheinlich bereut er jetzt schon, es nicht getan zu haben. Ich will mal zusehen, wie es mit ihm steht«, fügte Kolja hinzu und ging hinaus. »Gott sei Dank, ich habe Mama fortgebracht und veranlaßt, sich ins Bett zu legen, und es ist nichts weiter vorgekommen. Ganja ist verlegen und sehr nachdenklich. Und er hat auch allen Grund dazu. Was hat er da für eine Lehre erhalten!... Ich bin hergekommen, um Ihnen noch einmal zu danken, Fürst, und Sie zu fragen: hatten Sie Nastasja Filippowna vorher noch gar nicht gekannt?« »Nein, noch gar nicht.« »Wie kommen Sie dann dazu, ihr gerade ins Gesicht zu sagen, daß das nicht ihr wahres Wesen sei? Und Sie haben, wie es scheint, damit das Richtige getroffen. Sie ist vielleicht wirklich anders, als sie scheinen wollte. Übrigens werde ich nicht aus ihr klug. Sie beabsichtigte sicherlich, uns zu beleidigen, das ist klar. Ich habe auch früher schon manches Seltsame über sie gehört. Aber wenn sie hergekommen war, um uns einzuladen, wie konnte sie sich dann zuerst gegen Mama so benehmen? Ptizyn kennt sie ganz genau, aber er sagt, er habe ihr Verhalten vorhin auch nicht verstehen können. Und wie benahm sie sich gegen Rogoshin? So darf man doch nicht reden, wenn man Selbstachtung besitzt, noch dazu im Hause des eigenen... Mama ist ebenfalls um Sie sehr beunruhigt.« »Es hat nichts auf sich«, erwiderte der Fürst mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Und wie sie Ihnen gehorchte...« »Inwiefern gehorchte?« »Sie sagten ihr, sie solle sich schämen, und darauf änderte sie sofort ihr ganzes Benehmen. Sie üben auf sie einen gewaltigen Einfluß aus, Fürst«, fügte Warja mit einem leisen Lächeln hinzu. Die Tür öffnete sich, und ganz unerwartet trat Ganja ein. Er wurde in seinem Entschluß nicht einmal wankend, als er Warja erblickte; nachdem er eine kleine Weile auf der Schwelle gestanden hatte, ging er entschlossen auf den Fürsten los. »Fürst, ich habe mich unwürdig benommen, verzeihen Sie mir, liebster Freund!« sagte er mit wahrer Empfindung. Seine Gesichtszüge drückten starken Schmerz aus. Der Fürst sah ihn erstaunt an und antwortete nicht sogleich. »Nun, verzeihen Sie mir doch, verzeihen Sie mir doch!« drängte Ganja ungeduldig. »Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen sofort die Hand!« Der Fürst war außerordentlich überrascht und umarmte Ganja schweigend. Beide küßten einander herzlich. »Ich hätte nie, nie gedacht, daß Sie ein solcher Mensch sind«, sagte der Fürst endlich, mühsam Atem holend. »Ich meinte, Sie seien... dessen nicht fähig.« »Um Verzeihung zu bitten? ... Wie bin ich nur heute darauf gekommen, Sie für einen Idioten zu halten! Sie bemerken vieles, was andere Menschen niemals beachten. Ich könnte mit Ihnen etwas besprechen, aber ... es ist doch wohl besser, wenn ich es nicht tue!« »Da ist noch jemand, bei dem Sie sich entschuldigen sollten«, sagte der Fürst, auf Warja weisend. »Nein, die sind nun einmal meine Feinde. Glauben Sie mir, Fürst, ich habe oft versucht, unser Verhältnis zu bessern; aber aufrichtige Verzeihung sucht man da vergebens!« rief Ganja heftig. Er wandte sich von Warja zur Seite ab. »Nicht doch, ich verzeihe dir«, sagte Warja plötzlich. »Und wirst du heute abend zu Nastasja Filippowna kommen?« »Wenn du es verlangst, werde ich hinkommen; aber überlege selbst, ob ich nach dem Vorgefallenen überhaupt eine Möglichkeit habe, dort zu erscheinen.« »Sie ist ja doch nicht so, wie sie tat. Du siehst ja, sie will einem immer Rätsel aufgeben! Spiegelfechterei!« Ganja lächelte boshaft. »Ich weiß selbst, daß sie nicht so ist und daß sie Spiegelfechterei treibt, aber was für welche! Und dann bedenke noch eines, Ganja: wofür hält sie dich selbst? Mag auch vieles an ihrem Benehmen nur Spiegelfechterei sein, und mag sie auch Mama die Hand geküßt haben; aber sie hat sich doch über dich lustig gemacht! Das wird durch die fünfundsiebzigtausend Rubel nicht aufgewogen, Bruder, bei Gott nicht! Du bist noch anständiger Empfindungen fähig, darum sage ich dir das. Fahre du doch auch selbst nicht hin! Hüte dich vor ihr! Das kann nicht gut ausgehen!« Nach diesen Worten verließ Warja schnell und in großer Aufregung das Zimmer. »So sind meine Mutter und meine Schwester immer!« sagte Ganja lächelnd. »Ob sie wirklich denken, daß ich das nicht auch selbst weiß? Ich weiß sogar noch viel mehr als sie.« Als Ganja das gesagt hatte, setzte er sich auf das Sofa, in dem offensichtlichen Wunsch, seinen Besuch noch länger auszudehnen. »Wenn Sie das selbst wissen«, fragte der Fürst recht schüchtern, »warum haben Sie sich dann zu einer solchen Marter entschlossen, von der Sie selbst glauben, daß sie durch fünfundsiebzigtausend Rubel tatsächlich nicht aufgewogen wird?« »Davon möchte ich nicht reden«, murmelte Ganja. »Übrigens, sagen Sie mir doch, wie Sie selbst darüber denken; ich möchte gern Ihre Meinung darüber kennenlernen: wird diese ›Marter‹ durch fünfundsiebzigtausend Rubel aufgewogen oder nicht?« »Meiner Ansicht nach nicht.« »Nun, das ließ sich denken. Und unter solchen Umständen zu heiraten, muß man sich schämen?« »Allerdings, sehr.« »Nun, dann mögen Sie wissen, daß ich sie heiraten werde, jetzt ganz sicher. Vorhin war ich noch schwankend, aber jetzt nicht mehr. Sagen Sie kein Wort! Ich weiß, was Sie sagen wollen...« »Ich will nicht über denjenigen Punkt reden, von dem Sie annehmen, daß ich mich über ihn äußern will; ich wundere mich nur über Ihre außerordentliche Zuversicht...« »Zuversicht worauf? Was für eine Zuversicht?« »Daß Nastasja Filippowna Sie bestimmt heiraten wird und die ganze Sache bereits feststeht, und zweitens, auch wenn sie Ihre Frau werden sollte, daß die fünfundsiebzigtausend Rubel dann so ohne weiteres geradeswegs in Ihre Tasche gelangen werden. Übrigens ist mir natürlich hier vieles nicht bekannt.« Ganja machte eine heftige Bewegung nach dem Fürsten hin. »Natürlich ist Ihnen nicht alles bekannt«, sagte er. »Warum würde ich denn sonst diese ganze Bürde auf mich nehmen?« »Ich meine, es ist ein sehr häufiger Vorgang, daß jemand um des Geldes willen heiratet und das Geld in den Händen der Frau bleibt.« »N-nein, bei uns wird es anders sein... Hier ... hier liegen Umstände vor...«, murmelte Ganja, in unruhigem Nachdenken befangen. »Und was ihre Antwort anlangt, so ist daran kein Zweifel mehr möglich«, fügte er schnell hinzu. »Woraus schließen Sie, daß sie mir einen Korb geben wird?« »Ich weiß nichts als das, was ich gesehen habe. Aber auch Warwara Ardalionowna hat soeben gesagt...« »Bah, das reden die Weiber so hin, ohne zu wissen, was sie sagen. Aber über Rogoshin hat sie sich lustig gemacht, das können Sie glauben, das ist mir klargeworden. Das war deutlich zu merken. Ich hatte vorhin meine Besorgnisse, aber jetzt ist mir die Sache klargeworden. Oder meinen Sie vielleicht, wie sie sich gegen die Mutter, den Vater und Warja benommen hat?« »Und gegen Sie.« »Es mag sein, aber das war nur gewöhnliche weibliche Rachsucht, weiter nichts. Sie ist ein schrecklich reizbares, argwöhnisches, eitles Weib. Wie ein bei der Beförderung übergangener Beamter! Sie wollte sich zeigen und ihnen ihre ganze Geringschätzung beweisen ... na, und mir auch, das ist ja richtig, das bestreite ich nicht... Aber trotzdem wird sie mich heiraten. Sie ahnen gar nicht, welchen Täuschungen die menschliche Eitelkeit unterworfen ist: da hält sie mich nun für einen Schuft, weil ich sie, die Geliebte eines andern, so offen ihres Geldes wegen nehme, und weiß nicht, daß ein anderer sie in noch gemeinerer Weise betrügen würde: er würde sich an sie heranmachen und sie mit liberalen, fortschrittlichen Redereien überschütten und allerlei Frauenfragen erörtern, so daß sie ihm schließlich wie ein Faden durchs Nadelöhr geht. Er würde der eitlen Närrin einreden (und das ist so leicht!), daß er sie nur ›wegen ihres edlen Herzens und wegen ihres Unglücks‹ nehme, würde sie aber dabei doch um des Geldes willen heiraten. Ich gefalle ihr nicht, weil ich zum Schwanzwedeln keine Lust habe, was doch nützlich wäre. Aber was tut sie denn selbst? Tut sie nicht ganz dasselbe? Also, wenn dem so ist, warum verachtet sie mich dann und treibt ein solches Spiel mit mir? Deswegen, weil ich selbst mich nicht unterwerfe, sondern meinen Stolz herauskehre. Nun, wir werden ja sehen!« »Haben Sie sie denn früher wirklich geliebt?« »Anfangs habe ich sie geliebt. Aber genug davon... Es gibt eben Frauen, die nur zu Geliebten taugen und zu weiter nichts. Ich sage nicht, daß sie meine Geliebte gewesen wäre. Wenn sie friedfertig leben will, werde ich auch friedfertig leben, aber wenn sie sich auflehnt, werde ich mich sofort von ihr lossagen und das Geld für mich behalten. Lächerlich will ich mich nicht machen, das am allerwenigsten.« »Es will mir doch scheinen«, bemerkte der Fürst vorsichtig, »daß Nastasja Filippowna ein ganz kluges Weib ist. Wozu sollte sie, wenn sie solche Marter voraussieht, in die Falle gehen? Sie könnte ja doch auch einen andern heiraten. Ich wundere mich, daß Sie diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen.« »Das hat schon seine Gründe! Sie wissen in dieser Angelegenheit nicht alles, Fürst... und außerdem glaubt sie fest, daß ich sie wahnsinnig liebe, das schwöre ich Ihnen. Und wissen Sie, ich vermute stark, daß auch sie mich liebt, das heißt auf ihre Art; Sie kennen die Redensart: ›Wen ich liebe, den prügle ich.‹ Sie wird mich ihr ganzes Leben lang für einen Gauner halten (und darin hat sie ja auch vielleicht recht) und mich doch auf ihre Art lieben, sie trifft dazu schon ihre Anstalten; das liegt einmal so in ihrem Wesen. Sie ist eine echte Russin, kann ich Ihnen sagen, na, und ich bereite eine Überraschung für sie vor. Die Szene von vorhin mit Warja ereignete sich ja ganz zufällig, aber sie wird mir von Vorteil sein: sie hat jetzt gesehen und sich überzeugt, daß ich ihr treuer Anhänger bin und um ihretwillen alle Bande zerreiße. Ich bin nämlich auch gerade kein Dummkopf, das können Sie mir glauben. Übrigens, Sie denken doch hoffentlich nicht, daß ich ein arger Schwätzer bin? Ich habe vielleicht tatsächlich übel daran getan, liebster Fürst, daß ich mich Ihnen so ganz anvertraue. Aber das kommt daher, daß Sie der erste anständige Mensch sind, auf den ich seit langem gestoßen bin, und da habe ich mich denn auf Sie gestürzt, das heißt, nehmen Sie dieses ›ich habe mich auf Sie gestürzt‹ nicht im physischen Sinne. Sie zürnen mir doch nicht mehr wegen meines Benehmens von vorhin? Ich spreche vielleicht zum ersten Male seit vollen zwei Jahren frei von der Leber weg. Hier gibt es sehr wenige ehrenhafte Leute, Ptizyn ist noch der ehrenhafteste. Sie lachen wohl gar, wie mir scheint? Die Schufte haben eine besondere Zuneigung zu ehrenhaften Leuten, haben Sie das noch nicht gewußt? Ich aber bin ja... Sagen Sie mir übrigens auf Ihr Gewissen: inwiefern bin ich denn ein Schuft? Weil alle, nachdem sie mich einmal einen Schuft genannt hat, es ihr nachsprechen? Und wissen Sie: weil die Leute und sie mich so genannt haben, nenne ich mich auch selbst einen Schuft! Das ist gemein, sehr gemein!« »Ich werde Sie jetzt nie mehr für einen Schuft halten«, versetzte der Fürst. »Vorhin hielt ich Sie geradezu für einen Bösewicht, und nun haben Sie mir plötzlich eine so große Freude gemacht! Das soll mir eine Lehre sein, nicht abzuurteilen, wo es einem an Erfahrung fehlt. Jetzt sehe ich, daß man Sie nicht für einen Bösewicht halten darf, sondern überhaupt nicht nur für keinen besonders verdorbenen Menschen. Sie sind meiner Ansicht nach einfach der gewöhnlichste Mensch, den es überhaupt geben kann, nur vielleicht sehr schwach, aber von Originalität kann keine Rede sein.« Ganja lächelte im stillen spöttisch, schwieg aber. Der Fürst merkte, daß seine Antwort ihm nicht gefallen hatte, wurde verlegen und verstummte gleichfalls. »Hat mein Vater Sie um Geld gebeten?« fragte Ganja auf einmal. »Nein.« »Er wird es tun, aber geben Sie ihm nichts! Und doch kann ich mich noch an die Zeit erinnern, wo er ein ganz anständiger Mann war. Er hatte Zutritt zu den besten Kreisen. Und wie schnell es mit ihnen zu Ende geht, mit diesen alten, anständigen Leuten! Kaum haben sich die Umstände geändert, so ist auch von dem frühern nichts mehr vorhanden; es ist, wie wenn Schießpulver abbrennt. Ich versichere Ihnen, er hat früher nicht so gelogen, früher war er nur ein etwas exaltierter Mensch, und nun sehen Sie, wohin sich das schließlich entwickelt hat! Natürlich ist das Trinken daran schuld. Wissen Sie, daß er eine Geliebte aushält? Er ist jetzt nicht mehr ein bloßer unschuldiger Aufschneider. Ich kann die Langmut der Mutter nicht begreifen. Hat er Ihnen von der Belagerung von Kars erzählt? Oder davon, wie bei seiner Troika das graue Seitenpferd zu sprechen anfing? So weit versteigt er sich.« Und Ganja schüttelte sich auf einmal nur so vor Lachen. »Warum sehen Sie mich so an?« fragte er dann den Fürsten. »Ich wundere mich darüber, daß Sie so herzlich lachen. Ihr Lachen ist wirklich noch ganz kindlich. Als Sie vorhin hereinkamen, um sich mit mir zu versöhnen, und sagten: ›Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen die Hand!‹, das war ganz in der Art, wie Kinder sich aussöhnen. Also sind Sie solcher Worte und Empfindungen doch noch fähig. Und dann fingen Sie auf einmal an, mir einen ganzen Vortrag über diese dunkle Heiratsangelegenheit und über diese fünfundsiebzigtausend Rubel zu halten. Wahrhaftig, das erscheint alles so ungereimt und wunderlich.« »Und was schließen Sie daraus?« »Daß Sie vielleicht doch leichtsinnig handeln und gut täten, die Sache vorher gründlich zu überlegen. Möglicherweise hat Warwara Ardalionowna doch recht.« »Ah so! Eine Empfehlung der Moralität! Daß ich noch ein kleiner Junge bin, weiß ich selbst«, unterbrach ihn Ganja eifrig. »Das geht ja schon daraus hervor, daß ich mit Ihnen ein solches Gespräch geführt habe. Aber ich gehe nicht aus Berechnung diese Ehe ein, Fürst«, fuhr er, sich verteidigend, fort wie ein in seinem Ehrgefühl verletzter junger Mann. »Wenn ich aus Berechnung handelte, so würde ich wahrscheinlich Fehler dabei begehen, da weder mein Verstand noch mein Charakter bereits genügend erstarkt sind. Ich tue diesen Schritt aus Leidenschaft, aus innerem Trieb, weil ich schnell zu einem ordentlichen Kapital gelangen möchte. Sie denken wohl, sowie ich die fünfundsiebzigtausend Rubel bekomme, werde ich mir sofort einen Wagen kaufen. Nein, ich werde dann meinen vorvorjährigen Rock ruhig weitertragen und alle meine Klubbekanntschaften aufgeben. Bei uns gibt es auch unter den Leuten, die Geldgeschäfte machen, nur wenige, die auszuhalten verstehen; ich aber will aushalten. Die Hauptsache ist da: durchhalten bis zu Ende, darin besteht die ganze Aufgabe! Ptizyn hat als junger Mensch von siebzehn Jahren auf der Straße geschlafen, mit Federmessern gehandelt und mit einer Kopeke angefangen; jetzt besitzt er sechzigtausend Rubel, aber was hat er dazu für Mühseligkeiten durchmachen müssen! Sehen Sie, all diese Mühseligkeiten möchte ich überspringen und gleich mit einem Kapital anfangen. Nach fünfzehn Jahren werden die Leute sagen: ›Das ist Iwolgin, der größte Geldjude!‹ Vorhin sagten Sie zu mir, ich sei kein origineller Mensch. Merken Sie sich, lieber Fürst, daß es für einen Angehörigen unseres Zeitalters und unseres Volkes keine größere Beleidigung gibt, als wenn man zu ihm sagt, er sei nicht originell, habe einen schwachen Charakter, besitze keine besonderen Talente und sei ein ganz gewöhnlicher Mensch. Sie haben mir nicht einmal die Ehre erwiesen, mich für einen richtigen Schuft zu halten, und ich hätte Sie vorhin dafür totschlagen mögen, wissen Sie! Sie haben mich ärger beleidigt als Jepantschin, der mich für fähig hält, ihm (und zwar ohne weitere Verhandlungen, ohne Verlockungen, aus bloßer Einfalt) meine Frau zu verkaufen! Das Verlangen nach einem Kapital macht mich schon lange rasend, und ich will, will Geld haben! Wissen Sie, wenn ich erst zu Geld gelangt bin, dann werde ich auch ein höchst origineller Mensch sein. Das ist ja gerade das Gemeinste und Hassenswerteste am Geld, daß es sogar Talente verleiht. Und die wird es verleihen bis ans Ende der Welt. Sie werden sagen, das alles sei eine kindliche oder vielleicht phantastische Auffassung, nun gut, um so mehr Spaß werde ich davon haben, und die Sache wird trotzdem ins Werk gesetzt werden. Ich werde sie durchführen und werde aushalten. Rira bien, qui rira le dernier! Wer zuletzt lacht, lacht am besten! (frz.) Wie kommt Jepantschin dazu, mich in dieser Weise zu beleidigen? Tut er das etwa aus Bosheit? Keineswegs, sondern einfach deshalb, weil ich kein Geld habe. Na, aber dann ... Aber nun genug, es ist Zeit, daß wir aufhören. Kolja hat schon zweimal seine Nase hereingesteckt, er will Sie zum Mittagessen rufen. Und ich muß ausgehen. Ich werde Sie manchmal besuchen. Sie werden es bei uns ganz gut haben, Sie werden jetzt geradezu in die Familie aufgenommen werden. Hüten Sie sich nur, etwas weiterzuplaudern! Mir scheint, daß Sie und ich entweder gute Freunde oder erbitterte Feinde sein werden. Was meinen Sie, Fürst: wenn ich Ihnen vorhin die Hand geküßt hätte (wozu ich mich von Herzen erbot), wäre ich dann deswegen Ihr Feind geworden?« »Unbedingt wären Sie das geworden, aber nicht für immer; später würden Sie Ihren Sinn geändert und mir verziehen haben«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lachend. »Aha! Mit Ihnen muß man sehr vorsichtig sein. Weiß der Teufel, Sie haben auch in diese Antwort gleich wieder einen Tropfen Gift geträufelt. Und wer weiß, vielleicht sind Sie gar mein Feind? Übrigens, hahaha! Ich vergaß, Sie zu fragen: ich hatte den Eindruck, daß Nastasja Filippowna Ihnen außerordentlich gut gefiel, habe ich recht?« »Ja... Sie hat mir gefallen.« »Haben Sie sich in sie verliebt?« »N-nein.« »Aber dabei ist er ganz rot geworden und macht ein Armesündergesicht. Nun, es tut nichts, es tut nichts, ich werde mich nicht über Sie lustig machen. Auf Wiedersehen! Und wissen Sie: sie ist ein tugendhaftes Weib, können Sie das glauben? Sie meinen wohl, sie lebt mit dem Menschen, dem Tozkij, zusammen? Keine Spur! Schon lange nicht mehr! Aber haben Sie wohl bemerkt, daß sie selbst sehr linkisch ist und vorhin manchmal ganz verlegen wurde? Wirklich! Aber gerade solche Weiber sind besonders herrschsüchtig. Nun leben Sie wohl!« Ganja verließ das Zimmer weit ungezwungener, als er hereingekommen war, und in guter Laune. Der Fürst saß etwa zehn Minuten lang da, ohne sich zu rühren, und dachte nach. Kolja steckte wieder den Kopf durch die Tür. »Ich möchte nicht zu Mittag essen, Kolja, ich habe vorhin bei Jepantschins gut gefrühstückt.« Kolja trat ganz durch die Tür herein und überreichte dem Fürsten ein Billett. Es kam vom General und war zusammengefaltet und versiegelt. Es war dem Knaben am Gesicht anzusehen, daß es ihm peinlich war, das Billett zu übergeben. Der Fürst las es durch, stand auf und griff nach seinem Hute. »Es sind nur ein paar Schritte«, sagte Kolja verlegen. »Er sitzt dort jetzt bei der Flasche. Es ist mir unbegreiflich, wodurch er sich da Kredit verschafft hat. Bitte, lieber Fürst, sagen Sie nachher meinen Angehörigen nichts davon, daß ich Ihnen das Billett zugestellt habe! Tausendmal habe ich schon geschworen, solche Billette nicht mehr zu überbringen, aber er tut mir dann doch immer wieder leid. Ich möchte Ihnen jedoch sagen: machen Sie bitte mit ihm keine Umstände; geben Sie ihm eine Kleinigkeit, dann ist die Sache erledigt.« »Das war auch mein Gedanke, Kolja. Ich muß Ihren Papa sprechen... aus einem besonderen Anlaß ... Kommen Sie...« XII Kolja führte den Fürsten nach der nahe gelegenen Litejnaja-Straße, zu einem Kaffeehaus, das im Erdgeschoß lag und seinen Eingang von der Straße hatte. Hier hatte Ardalion Alexandrowitsch es sich als alter Stammgast rechts in der Ecke in einem besonderen Zimmerchen bequem gemacht: vor ihm auf einem Tischchen stand eine Flasche, in der Hand hielt er wirklich die ›Indépendance Belge‹. Er hatte auf den Fürsten gewartet; kaum hatte er ihn erblickt, legte er sofort die Zeitung beiseite und begann eine eifrige, wortreiche Auseinandersetzung, von der der Fürst übrigens fast nichts verstand, weil der General schon beinahe »fertig« war. »Zehn Rubel habe ich nicht«, unterbrach ihn der Fürst. »Aber hier ist ein Fünfundzwanzigrubelschein, lassen Sie ihn wechseln, und geben Sie mir fünfzehn Rubel zurück, da ich sonst selbst keinen Groschen in der Tasche habe.« »O gewiß, und seien Sie überzeugt, daß ich schleunigst ...« »Ich habe außerdem noch eine Bitte an Sie, General. Sind Sie niemals bei Nastasja Filippowna gewesen?« »Ich? Ich sollte nicht dagewesen sein? Das sagen Sie zu mir? Mehrmals, mein Lieber, mehrmals!« rief der General in einem Anfall von selbstgefälliger, triumphierender Ironie. »Aber ich habe schließlich diese Beziehungen selbst abgebrochen, weil ich diese ungehörige Verbindung nicht befördern mag. Sie haben es selbst gesehen und waren heute morgen Zeuge: ich habe alles getan, was ein Vater tun konnte, aber das war ein milder, nachgiebiger Vater; jetzt wird ein Vater von anderer Art auf die Bühne treten, und dann ... dann wollen wir einmal sehen, ob ein alter, verdienstvoller Krieger über die Intrige obsiegen oder die schamlose Kameliendame in eine hochanständige Familie eindringen wird.« »Und ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie, als Bekannter Nastasja Filippownas, mich nicht heute abend bei ihr einführen könnten. Ich muß heute unter allen Umständen hingehen, ich habe da etwas zu tun; aber ich weiß schlechterdings nicht, wie ich Einlaß finden kann. Ich bin ihr zwar vorhin vorgestellt, aber sie hat mich nicht eingeladen, und es ist dort heute eine Abendgesellschaft nur für geladene Gäste. Ich bin übrigens bereit, mich über mancherlei Vorschriften des gesellschaftlichen Verkehrs hinwegzusetzen und mich sogar auslachen zu lassen, wenn ich nur irgendwie hineinkomme.« »Sie haben da vollständig, aber auch vollständig meinen eigenen Gedanken getroffen, mein junger Freund«, rief der General ganz begeistert. »Ich habe Sie nicht wegen dieser Kleinigkeit herrufen lassen«, fuhr er fort, indem er die fünfundzwanzig Rubel nahm und in die Tasche steckte, »sondern gerade, um Sie zu einem gemeinsamen Besuch bei Nastasja Filippowna oder, besser gesagt, zu einem gemeinsamen Feldzug gegen Nastasja Filippowna aufzufordern! General Iwolgin und Fürst Myschkin! Was für ein Gesicht sie machen wird! Mit Rücksicht auf ihren Geburtstag werde ich in liebenswürdigster Form schließlich doch meinen Willen zum Ausdruck bringen, indirekt, nicht so geradeheraus, aber die Wirkung wird dieselbe sein, wie wenn ich geradeheraus spräche. Dann mag Ganja sich selbst entscheiden, wie er sich verhalten will: auf der einen Seite sein Vater, ein hochverdienter und... sozusagen... und so weiter, auf der andern Seite... Aber was kommen muß, das komme! Ihr Gedanke ist außerordentlich vielversprechend. Und um neun Uhr wollen wir uns hinbegeben, wir haben noch Zeit.« »Wo wohnt sie denn?« »Weit von hier: beim Großen Theater, im Hause der Frau Mytowzowa, fast auf dem Platze selbst, in der Beletage. Es wird keine große Gesellschaft da sein, obwohl es ihr Geburtstag ist, und die Gäste werden frühzeitig aufbrechen...« Es war schon längst Abend; der Fürst saß noch immer da und wartete darauf, daß der General aufstehen würde, aber dieser begann eine endlose Menge von Anekdoten zu erzählen, ohne eine einzige zu Ende zu bringen. Bei der Ankunft des Fürsten hatte er sich eine neue Flasche geben lassen, die er erst nach einer Stunde geleert hatte; dann verlangte er noch eine dritte und trank auch diese aus. Man kann sich leicht denken, daß der General dabei Zeit fand, fast seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Endlich stand der Fürst auf und erklärte, er könne nicht länger warten. Der General trank den letzten Rest aus seiner Flasche aus, erhob sich und verließ mit sehr unsicheren Schritten das Zimmer. Der Fürst war verzweifelt. Es war ihm jetzt unbegreiflich, wie er hatte so dumm sein können, auf diesen Menschen sein Vertrauen zu setzen. In Wirklichkeit hatte er ja auch nie sein Vertrauen auf ihn gesetzt; er hatte nur insofern auf den General gerechnet, als er gehofft hatte, durch dessen Beihilfe Einlaß bei Nastasja Filippowna zu finden, wenn auch mit etwas unangenehmem Aufsehen; aber er hatte nicht erwartet, daß der General sich in einem derartig skandalösen Zustande befinden werde: er war völlig betrunken, entwickelte eine große Redseligkeit und sprach ohne Unterbrechung sehr gefühlvoll, ja weinerlich. Sein Thema war dabei fortwährend dieses: durch das schlechte Benehmen all seiner Familienmitglieder sei alles zugrunde gegangen, und es sei endlich Zeit, dem ein Ende zu machen. Endlich traten sie auf die Litejnaja-Straße hinaus. Das Tauwetter dauerte noch an; ein bedrückender, warmer, feucht riechender Wind pfiff durch die Straßen, die Kutschen platschten im Schmutz, die Hufschläge der Traber und Karrengäule ertönten mit hellem Klang auf dem Pflaster. Die Fußgänger wanderten trübselig und durchnäßt die Gehsteige entlang. Man begegnete einzelnen Betrunkenen. »Sehen Sie wohl diese erleuchteten Beletagen?« sagte der General. »Hier wohnen überall meine Kameraden, und ich, der ich am längsten von ihnen gedient und am meisten durchgemacht habe, ich schleppe mich zu Fuß nach dem Großen Theater, in die Wohnung eines zweideutigen Frauenzimmers! Ein Mann, der dreizehn Kugeln in der Brust hat.... Sie glauben es nicht? Und doch hat einzig um meinetwillen Pirogow Bedeutender russischer Chirurg und Anatom, 1810-1881. nach Paris telegrafiert und seine Aufmerksamkeit dem belagerten Sewastopol eine Zeitlang entzogen, und Nélaton, der Pariser Hofarzt, hat sich im Namen der Wissenschaft freies Geleit verschafft und ist in das belagerte Sewastopol gekommen, um mich zu untersuchen. ›Ach, das ist jener Iwolgin, der dreizehn Kugeln im Leibe hat!‹ so reden die Leute von mir. Sehen Sie wohl dieses Haus hier, Fürst? Hier wohnt in der Beletage ein alter Kamerad von mir, General Sokolowitsch, mit seiner zahlreichen, prächtigen Familie. Dieses Haus und noch drei Häuser auf dem Newskij Prospekt und zwei in der Morskaja-Straße, die bilden jetzt meinen ganzen Bekanntenkreis. Wenn ich sage ›meinen‹, so bezieht sich das nur auf meine eigene Person; Nina Alexandrowna hat sich schon längst den Verhältnissen gefügt. Aber ich gebe mich immer noch in der gebildeten Gesellschaft meiner ehemaligen Kameraden und Untergebenen, die mich bis auf den heutigen Tag vergöttern, meinen Erinnerungen hin und finde da sozusagen meine Erholung. Dieser General Sokolowitsch... ich bin übrigens schon lange nicht mehr bei ihm gewesen und habe Anna Fjodorowna geraume Zeit nicht gesehen... wissen Sie, lieber Fürst, wenn man selbst nicht mehr empfängt, dann hört man auch unwillkürlich auf, bei anderen Besuche zu machen. Indessen... hm!... Sie scheinen mir nicht zu glauben... Übrigens warum sollte ich den Sohn meines besten Freundes und Jugendgespielen nicht in diese entzückende Familie einführen? General Iwolgin und Fürst Myschkin! Sie werden ein reizendes junges Mädchen kennenlernen, oder vielmehr nicht eines, sondern zwei, ja drei, die Zierden der Residenz und der vornehmen Gesellschaft: Schönheit, Bildung, moderne Richtung... Frauenfrage, Poesie, all das hat sich bei ihnen zu einer glücklichen, bunten Mischung vereinigt, ganz abgesehen von den achtzigtausend Rubeln Mitgift in barem Geld für jede von ihnen, was trotz aller Frauenfragen und sozialen Probleme niemals schaden kann... mit einem Wort, ich fühle mich unbedingt verpflichtet und verbunden, Sie einzuführen. General Iwolgin und Fürst Myschkin!« »Jetzt? Jetzt gleich? Aber Sie haben vergessen ...«, begann der Fürst. »Nichts, nichts habe ich vergessen! Wir wollen hingehen! Hier diese prachtvolle Treppe hinauf! Ich wundere mich, daß kein Portier da ist, aber freilich... es ist ein Feiertag, und da hat sich der Portier davongemacht. Sie haben diesen Trunkenbold immer noch nicht weggejagt. Dieser Sokolowitsch verdankt das ganze Glück seines Lebens und seiner Karriere mir, mir allein und sonst niemand. Aber... da sind wir schon!« Der Fürst erhob keine Einwendungen mehr gegen den Besuch und folgte dem General gehorsam, um ihn nicht zu reizen, in der festen Hoffnung, daß General Sokolowitsch und seine ganze Familie allmählich wie eine Luftspiegelung verschwinden und sich als nicht existierend erweisen würden, so daß sie dann ruhig die Treppe wieder hinuntersteigen könnten. Aber zu seinem Schrecken mußte er diese Hoffnung aufgeben: der General führte ihn die Treppe hinauf wie jemand, der da wirklich Bekannte hatte, und schaltete alle Augenblicke detaillierte Bemerkungen biographischen und topographischen Inhalts ein, die den Eindruck mathematischer Genauigkeit machten. Als sie endlich in der Beletage angelangt waren und rechts vor der Eingangstür einer prächtigen Wohnung haltmachten und der General nach dem Griff der Klingel faßte, da beschloß der Fürst davonzulaufen, aber ein sonderbarer Umstand hielt ihn noch einen Augenblick zurück. »Sie haben sich geirrt, General«, sagte er, »hier an der Tür steht der Name Kulakow, und Sie wollten doch bei Sokolowitsch klingeln.« »Kulakow... Kulakow beweist nichts. Das ist Sokolowitschs Wohnung, und ich klingle bei Sokolowitsch. Ich schere mich den Teufel um Kulakow... Da wird schon geöffnet.« Die Tür öffnete sich wirklich. Ein Diener schaute heraus und meldete, die Herrschaften seien nicht zu Hause. »Wie schade, wie schade! Daß wir es so schlecht getroffen haben!« wiederholte Ardalion Alexandrowitsch mehrere Male hintereinander mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns. »Bestellen Sie, lieber Freund, daß General Iwolgin und Fürst Myschkin gewünscht hätten, den Herrschaften ihre besondere Hochachtung zu bezeigen, und außerordentlich, außerordentlich bedauert hätten ...« In diesem Augenblick schaute aus einem der Zimmer durch die geöffnete Eingangstür noch ein anderes Gesicht heraus, anscheinend das Gesicht einer Wirtschafterin oder vielleicht auch Gouvernante, einer etwa vierzigjährigen Dame in dunklem Kleid. Als sie die Namen des Generals Iwolgin und des Fürsten Myschkin hörte, näherte sie sich neugierig und mißtrauisch. »Marja Alexandrowna ist nicht zu Hause«, sagte sie, indem sie besonders den General scharf ansah, »sie ist mit dem gnädigen Fräulein Alexandra Michailowna zur Großmutter gefahren.« »Auch Alexandra Michailowna ist mit ihr aus! O Gott, wie bedauerlich! Und denken Sie sich nur, Madame, solch Mißgeschick habe ich immer! Ich bitte Sie ganz ergebenst, meine Empfehlung auszurichten und Alexandra Michailowna zu bestellen, sie möchte sich erinnern ... mit einem Wort, sagen Sie ihr, ich wünschte ihr von Herzen das, was sie selbst sich am Donnerstag abend bei den Klängen des Chopinschen Liedes gewünscht habe, sie wird sich schon erinnern... Das sei mein Herzenswunsch! General Iwolgin und Fürst Myschkin!« »Ich werde es nicht vergessen«, versetzte, den Abschiedsgruß erwidernd, die Dame, die etwas mehr Vertrauen zu den Besuchern gewonnen hatte. Während sie die Treppe hinunterstiegen, bedauerte der General immer noch in derselben affektvollen Weise, daß sie die Herrschaften nicht angetroffen hätten und daß dem Fürsten eine so entzückende Bekanntschaft entgangen sei. »Wissen Sie, mein Lieber, es liegt eine gewisse gefühlvolle Schwärmerei in meinem Wesen, haben Sie das wohl schon bemerkt? Übrigens... übrigens scheint mir, daß wir an die falsche Adresse gekommen sind«, schloß er auf einmal ganz unerwartet. »Jetzt erinnere ich mich: Sokolowitschs wohnen in einem andern Hause, und mir scheint, jetzt sogar in Moskau. Ja, ich habe mich ein bißchen geirrt, aber... das tut nichts.« »Ich möchte nur eines wissen«, bemerkte der Fürst niedergeschlagen. »Ist es nicht das beste, wenn ich auf Ihre Hilfe ganz verzichte und lieber allein hingehe?« »Verzichten? Allein hingehen? Aber wieso denn, da das doch für mich ein äußerst wichtiger Schritt ist, von dem so viel in dem Schicksal meiner ganzen Familie abhängt? Aber da kennen Sie Iwolgin schlecht, mein junger Freund! Wer ›Iwolgin‹ sagt, der sagt ›Mauer‹. ›Auf Iwolgin kann man sich wie auf eine Mauer verlassen‹, so hieß es schon in der Schwadron, in der ich meine Laufbahn begann. Ich muß nur noch unterwegs in einem Hause vorsprechen, in dem meine Seele schon seit mehreren Jahren ihre Erholung findet von all der Unruhe und den schweren Prüfungen, die...« »Sie wollen erst noch nach Hause gehen?« »Nein, ich will... zu der Frau Hauptmann Terentjewa, der Witwe des Hauptmanns Terentjew, meines früheren Untergebenen, ja Freundes... Hier, bei der Frau Hauptmann, lebe ich seelisch wieder auf, hierher trage ich all das Leid, das das Leben und meine Familie mir bereiten ... Und da gerade heute ein schwerer Druck auf meiner Seele lastet, so möchte ich...« »Ich glaube«, murmelte der Fürst, »ich habe so schon eine große Torheit begangen, als ich Sie vorhin mit meiner Bitte belästigte. Und außerdem wollen Sie ja jetzt... Leben Sie wohl!« »Aber ich darf Sie jetzt nicht weggehen lassen, mein junger Freund, das darf ich nicht!« rief der General. »Sie ist eine Witwe, eine Familienmutter und vermag in ihrem Herzen Saiten erklingen zu lassen, die in meinem ganzen Wesen ihren Widerhall finden. Der Besuch bei ihr wird nur fünf Minuten dauern, in diesem Hause verkehre ich ganz ungeniert, ich wohne da fast. Ich will mich da waschen und die nötigste Toilette machen, und dann fahren wir in einer Droschke nach dem Großen Theater. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihrer den ganzen Abend bedarf ... Hier in diesem Hause ist es, wir sind schon da... Ah, Kolja, du bist schon hier? Nun, ist Marfa Borissowna zu Hause, oder bist du selbst eben erst gekommen?« »O nein«, antwortete Kolja, der unerwartet in der Haustür mit ihnen zusammengestoßen war, »ich bin schon eine ganze Weile hier bei Ippolit; es geht ihm schlechter, er hat sich heute vormittag hinlegen müssen. Ich habe jetzt eben ein Spiel Karten vom Kaufmann geholt. Marfa Borissowna erwartet Sie. Aber, Papa, in welchem Zustande sind Sie!« schloß Kolja, indem er den Gang und die Haltung des Generals scharf musterte. »Nun, dann wollen wir hinaufgehen!« Die Begegnung mit Kolja bewog den Fürsten, den General auch noch zu Marfa Borissowna zu begleiten, aber nur auf eine Minute. Der Fürst brauchte Kolja; von dem General wollte er sich unter allen Umständen losmachen, und er konnte es sich nicht verzeihen, daß er vorhin den Einfall gehabt hatte, auf diesen Menschen irgendwelche Hoffnungen zu setzen. Auf der Hintertreppe stiegen sie zum vierten Stock hinauf, was ziemlich lange dauerte. »Wollen Sie den Fürsten dort einführen?« fragte Kolja unterwegs. »Ja, mein Sohn, das will ich: General Iwolgin und Fürst Myschkin. Aber wie ist Marfa Borissownas Befinden ... und Stimmung?...« »Wissen Sie, Papa, es wäre am besten, wenn Sie nicht zu ihr gingen! Sie ist wütend auf Sie! Sie haben sich seit drei Tagen nicht blicken lassen, und sie wartet auf Geld. Warum haben Sie ihr Geld versprochen? So machen Sie es immer! Nun müssen Sie sehen, wie Sie mit ihr fertig werden.« Im vierten Stock blieben sie vor einer niedrigen Tür stehen. Der General war augenscheinlich ängstlich geworden und schob den Fürsten vor. »Ich werde hier stehenbleiben«, murmelte er. »Ich möchte sie überraschen...« Kolja ging zuerst hinein. Eine stark geschminkte, etwa vierzigjährige Dame in Pantoffeln und Hausjacke, die Haare in kleine Zöpfe geflochten, sah aus der Tür, und die vom General geplante Überraschung fiel sofort ins Wasser. Kaum hatte ihn die Dame erblickt, als sie schrie: »Da ist er ja, der gemeine, schändliche Mensch! Das hatte ich doch geahnt!« »Kommen Sie nur mit herein, sie macht nur Scherz!« flüsterte der General, immer noch harmlos lächelnd, dem Fürsten zu. Aber es war kein Scherz gewesen. Kaum waren sie durch ein dunkles, niedriges Vorzimmer in den engen, mit sechs Rohrstühlen und zwei Spieltischen möblierten Salon getreten, als die Dame sofort mit gekünstelter, weinerlich klingender, ordinärer Stimme fortfuhr: »Schämst du dich denn gar nicht, du Barbar, du Tyrann meiner Familie, du Barbar und Unmensch? Ganz ausgeplündert hat er mich, alles hat er mir abgepreßt, und damit ist er noch nicht zufrieden! Wie lange soll ich das noch von dir ertragen, du schamloser, ehrloser Mensch?« »Marfa Borissowna, Marfa Borissowna! Das ist hier Fürst Myschkin. General Iwolgin und Fürst Myschkin«, murmelte der General zitternd und fassungslos. »Können Sie es glauben«, wandte sich die Frau Hauptmann plötzlich an den Fürsten, »können Sie es glauben, daß dieser schamlose Mensch nicht einmal mit meinen vaterlosen Kindern Mitleid gehabt hat? Alles hat er uns geraubt, alles weggeschleppt, alles verkauft und versetzt, nichts hat er uns gelassen! Was soll ich mit deinen Schuldscheinen anfangen, du listiger, gewissenloser Mensch? Antworte, du Betrüger, antworte mir, du unersättlicher Räuber: womit soll ich meine vaterlosen Kinder satt machen? Da kommt er nun betrunken her und kann nicht auf den Beinen stehen!... Womit habe ich Gott den Herrn erzürnt, du schändlicher, abscheulicher Gauner? Antworte!« Aber der General war nicht dazu aufgelegt, diese Frage zu beantworten. »Marfa Borissowna, da sind fünfundzwanzig Rubel... das ist alles, was ich durch die Beihilfe meines edelmütigen Freundes geben kann. Fürst! Ich habe mich schrecklich geirrt! Ja, so ist... das Leben... Aber jetzt... verzeihen Sie, ich fühle mich schwach«, fuhr der General, mitten im Zimmer stehend und sich nach allen Seiten verbeugend, fort. »Ich fühle mich schwach, verzeihen Sie! Lenotschka! Ein Kissen... liebes Kind!« Lenotschka, ein Mädchen von acht Jahren, lief sofort ein Kissen holen und legte es auf das mit Wachstuch überzogene, harte, abgenutzte Sofa. Der General setzte sich darauf, in der Absicht, noch vieles zu sagen, aber kaum hatte er das Sofa berührt, als er sich sofort zur Seite neigte, sich nach der Wand zu wandte und in den Schlaf des Gerechten versank. Marfa Borissowna bot dem Fürsten zeremoniös und mit kummervoller Miene einen Stuhl an einem der Spieltische an, setzte sich selbst ihm gegenüber, stützte die rechte Wange in die Hand, sah den Fürsten schweigend an und seufzte. Drei kleine Kinder, zwei Mädchen und ein Knabe, von denen Lenotschka das älteste war, traten ebenfalls an den Tisch heran, legten alle drei die Arme darauf und sahen unverwandt auf den Fürsten. Aus dem anstoßenden Zimmer kam Kolja herein. »Ich freue mich sehr, daß ich Sie hier getroffen habe, Kolja«, wandte sich der Fürst an ihn. »Können Sie mir nicht helfen? Ich muß unter allen Umständen zu Nastasja Filippowna. Ich habe vorhin Ardalion Alexandrowitsch darum gebeten, mich hinzubringen, aber der ist ja nun eingeschlafen. Führen Sie mich hin, denn ich weiß hier mit den Straßen nicht Bescheid. Die Adresse habe ich übrigens: beim Großen Theater, im Hause der Frau Mytowzowa.« »Nastasja Filippowna? Die hat überhaupt nie beim Großen Theater gewohnt, und der Vater ist nie bei ihr gewesen, wenn Sie das wissen wollen; ich wundere mich, daß Sie von ihm eine Hilfe erwartet haben. Sie wohnt nicht weit von der Wladimirskaja-Straße, bei den Fünf Ecken; das ist von hier viel näher. Wollen Sie jetzt gleich hin? Es ist jetzt halb zehn. Wenn es Ihnen recht ist, will ich Sie hinführen.« Der Fürst und Kolja gingen sogleich weg. Aber leider hatte der Fürst kein Geld, um eine Droschke zu nehmen, und so mußten sie den Weg zu Fuß machen. »Ich hätte Sie gern mit Ippolit bekannt gemacht«, sagte Kolja, »er ist der älteste Sohn dieser Hauptmannsfrau in der Jacke und war im andern Zimmer, er ist krank und hat heute den ganzen Tag im Bett gelegen. Aber er ist so sonderbar, er hat ein sehr feines Gefühl, und ich glaube, er hätte sich vor Ihnen geschämt, weil Sie gerade zu einer solchen Szene gekommen waren... Aber ich, ich schäme mich nicht so wie er, weil es sich bei mir um den Vater handelt und bei ihm um die Mutter, und das ist doch ein Unterschied, weil für das männliche Geschlecht in solchen Dingen nichts Entehrendes liegt. Übrigens hat diese Ansicht von einem Vorrang des männlichen Geschlechts auf diesem Gebiete vielleicht keine innere Begründung. Ippolit ist ein prächtiger Mensch, aber ein Sklave mancher vorgefaßten Meinungen.« »Sie sagen, er ist schwindsüchtig?« »Ja, ich glaube, daß es für ihn das beste wäre, wenn er bald stürbe. Ich würde mir an seiner Stelle jedenfalls den Tod wünschen. Ihm tun aber sein Bruder und seine Schwestern leid, die Kleinen, die Sie gesehen haben. Wenn es möglich wäre, wenn wir nur das nötige Geld hätten, dann würden wir beide, er und ich, uns eine besondere Wohnung mieten und uns von unseren Familien trennen. Das ist unser Ideal. Aber wissen Sie was? Als ich ihm vorhin von Ihrer Affäre mit Ganja erzählte, da wurde er ganz ärgerlich und sagte, wer eine Ohrfeige hinnehme und den Beleidiger nicht zum Duell herausfordere, der sei ein Lump. Er ist übrigens schrecklich reizbar; ich lasse mich nie mehr darauf ein, mit ihm zu disputieren. Also da hat Nastasja Filippowna Sie gleich zu sich eingeladen?« »Das ist es ja eben, daß sie das nicht getan hat.« »Aber wie können Sie dann zu ihr hingehen?« rief Kolja erstaunt und blieb sogar mitten auf dem Gehsteig stehen. »Und... und in diesem Anzug? Es ist doch da heute eine Abendgesellschaft nur für geladene Gäste!« »Ich weiß auch tatsächlich nicht, wie ich Einlaß finden werde. Empfängt sie mich, gut; wenn nicht, nun, so ist die Sache eben mißglückt. Und was den Anzug angeht, was ist da zu machen?« »Führt Sie denn eine besondere Angelegenheit dorthin? Oder gehen Sie nur hin, pour passer le temps um die Zeit zu verbringen (frz.) in ›feiner Gesellschaft‹?« »Nein, ich habe eigentlich... das heißt, ich habe allerdings eine besondere Angelegenheit... es ist schwer, das auszudrücken, aber...« »Nun, welcher Art Ihre Angelegenheit genauer ist, das ist ja Ihre Sache; mir geht es vor allem darum, daß Sie sich da heute abend nicht einfach in die entzückende Gesellschaft von Kameliendamen, Generälen und Halsabschneidern eindrängen wollen. Wenn das Ihre Absicht wäre, dann würde ich – verzeihen Sie, Fürst – Sie auslachen und verachten. Hier gibt es sehr wenig ehrenhafte Leute, und man kann eigentlich niemanden so recht von Herzen hochachten. Unwillkürlich gewöhnt man sich da, von oben auf sie herabzublicken, und dabei wollen sie doch alle respektiert sein, Warja in erster Linie. Und haben Sie wohl bemerkt, Fürst: in unserm Zeitalter sind alle Menschen Abenteurer! Ganz besonders bei uns in Rußland, in unserm lieben Vaterland. Und wie sich das alles so herausgebildet hat, das ist mir unbegreiflich. Alles schien so fest und solide zu sein; und jetzt? Da reden und schreiben nun die Leute überall. Sie decken Mißstände auf. Alle Leute sind bei uns damit beschäftigt, Übelstände aufzudecken. Die Eltern sind die ersten, die den Rückzug antreten und sich ihrer früheren moralischen Grundsätze schämen. In Moskau hat ein Vater seinem Sohn als Lebensregel aufgestellt, vor nichts zurückzuschrecken, wo es sich darum handelt, Geld zu verdienen; die Sache ist bekanntlich in der Presse besprochen worden. Sehen Sie meinen Vater, den General, an! Was ist aus ihm geworden? Übrigens, wissen Sie was? Mir scheint, daß er ein ehrenhafter Mann ist, wahrhaftig, das glaube ich! Es liegt bei ihm nur an einer gewissen Lässigkeit und am Trinken. Wahrhaftig, so ist es. Er tut mir sogar leid, nur fürchte ich mich, das auszusprechen, weil mich sonst alle auslachen, aber wahrhaftig, er tut mir leid. Und was ist an ihnen, den Klugen, dran? Sie sind sämtlich Wucherer, alle ohne Ausnahme! Ippolit verteidigt den Wucher; er sagt, der sei eine Notwendigkeit, eine wirtschaftliche Erschütterung, eine Art Ebbe und Flut, hol's der Teufel! Mir mißfällt das sehr an ihm, aber er bleibt erbittert bei seiner Meinung. Denken Sie nur, seine Mutter, die Frau Hauptmann, bekommt Geld von meinem Vater und leiht es ihm dann wieder zu hohen Prozenten, ein ganz schändliches Benehmen! Und wissen Sie, daß die Mama, das heißt meine Mama, Nina Alexandrowna, Ippolit mit Geld, Kleidungsstücken, Wäsche und allem möglichen unterstützt und durch ihn zum Teil sogar auch die andern Kinder, weil die von ihrer Mutter vollständig vernachlässigt werden? Und Warja tut dasselbe.« »Nun, sehen Sie wohl, Sie sagten, es gebe keine ehrenhaften, sittlich starken Menschen und alle seien Wucherer; da haben Sie ja nun gleich ein paar sittlich starke Menschen: Ihre Mutter und Warja. Hier zu helfen, unter solchen Umständen zu helfen, ist das etwa kein Zeichen sittlicher Kraft?« »Warja tut es aus Ehrgeiz, aus Prahlsucht, um nicht hinter der Mutter zurückzubleiben; na, aber Mama, die tut es wirklich... ich empfinde gegen sie Hochachtung. Ja, ich billige und achte eine solche Handlungsweise. Sogar Ippolit hat ein Gefühl dafür, aber er ist fast ganz verbittert. Zuerst wollte er sich darüber lustig machen und nannte es von Mamas Seite eine Gemeinheit, aber jetzt urteilt er manchmal doch anders darüber. Hm! Also Sie nennen das sittliche Kraft? Das will ich mir merken. Ganja weiß nichts davon, sonst würde er es Nachgiebigkeit nennen.« »Ganja weiß nichts davon? Es scheint, daß Ganja auch sonst sehr vieles nicht weiß«, entfuhr es unwillkürlich dem Fürsten, der sehr nachdenklich geworden war. »Und wissen Sie, Fürst: Sie gefallen mir sehr. Ihr Verhalten vorhin Ganja gegenüber kommt mir gar nicht aus dem Sinn.« »Auch Sie gefallen mir sehr, Kolja.« »Hören Sie mal, wie beabsichtigen Sie Ihr Leben hier einzurichten? Ich werde mir bald eine Beschäftigung verschaffen und etwas verdienen, dann könnten ja wir drei, ich, Sie und Ippolit, uns eine gemeinsame Wohnung mieten und zusammen leben, und meinen Vater würden wir dann zu uns nehmen.« »Mit dem größten Vergnügen. Aber darüber können wir erst später reden. Ich bin jetzt sehr... sehr zerstreut. Wie? Sind wir schon da? In diesem Haus? ... Das ist ja ein großartiges Portal! Und ein Portier! Nun, Kolja, ich weiß nicht, was daraus werden soll.« Der Fürst stand ganz fassungslos da. »Morgen werden Sie mir alles erzählen! Seien Sie nur nicht zu schüchtern! Ich wünsche Ihnen von Herzen guten Erfolg, denn ich bin in allen Dingen derselben Ansicht wie Sie. Leben Sie wohl! Ich gehe wieder dahin zurück und werde es Ippolit erzählen. Daß sie Sie empfangen wird, daran ist gar nicht zu zweifeln, da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Sie ist eine höchst eigenartige Frau. Diese Treppe hier hinauf, in der ersten Etage, der Portier wird Ihnen Bescheid sagen.« XIII Der Fürst befand sich, als er die Treppe hinaufstieg, in großer Unruhe und suchte sich mit aller Kraft Mut zu machen.›Das Schlimmste‹, dachte er, ›kann doch nur sein, daß sie mich nicht empfängt und irgend etwas Schlechtes von mir denkt, oder auch vielleicht, daß sie mich empfängt und mir ins Gesicht lacht... Ach was! Daraus will ich mir nichts machen!‹ Und in der Tat ängstigte ihn dies nicht so besonders, aber die Frage, warum er eigentlich dorthin ging und was er dort wollte, auf diese Frage fand er schlechterdings keine befriedigende Antwort. Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, eine günstige Gelegenheit abzupassen und zu Nastasja Filippowna zu sagen: ›Heiraten Sie diesen Menschen nicht, und richten Sie sich nicht zugrunde; er liebt Sie nicht, er liebt nur Ihr Geld, das hat er mir selbst gesagt, und auch Aglaja Jepantschina hat es mir gesagt, und ich bin hergekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen‹, so würde, sagte er sich, auch das nicht in jeder Beziehung korrekt sein. Und noch eine andere ungelöste Frage trat ihm vor die Seele, eine so wichtige Frage, daß der Fürst sich sogar fürchtete, an sie auch nur zu denken, daß er gar nicht wagte, sie als zulässig zu betrachten und zu formulieren, sondern bei dem bloßen Gedanken an sie errötete und zu zittern begann. Aber das Ende war doch, daß er trotz all dieser Befürchtungen und Zweifel eintrat und nach Nastasja Filippowna fragte. Nastasja Filippowna hatte eine nicht sehr große, aber wirklich prachtvoll ausgestattete Wohnung. In den fünf Jahren ihres Petersburger Aufenthalts hatte es zuerst eine Zeit gegeben, wo Afanassij Iwanowitsch ganz besonders viel Geld für sie aufwandte; er rechnete damals noch auf ihre Liebe und hoffte, sie namentlich durch Komfort und Luxus zu betören, denn er wußte, wie leicht man sich an den Luxus gewöhnt und wie schwer es einem nachher fällt, auf ihn zu verzichten, wenn er allmählich zum Bedürfnis geworden ist. In dieser Hinsicht blieb Tozkij den alten, guten Traditionen treu und änderte nichts an ihnen, da er die unüberwindliche Macht der sinnlichen Eindrücke außerordentlich hoch anschlug. Nastasja Filippowna verhielt sich gegen den Luxus nicht ablehnend, sie liebte ihn sogar, aber – und dies erschien sehr merkwürdig – sie ließ sich von ihm nicht unterjochen, sondern machte den Eindruck, als könne sie ihn auch jederzeit entbehren; sie sprach das sogar mehrmals absichtlich aus, wodurch Tozkij sich unangenehm berührt fühlte. Übrigens hatte Nastasja Filippowna gar manches an sich, wovon Afanassij Iwanowitsch nicht sonderlich erbaut war, ein Gefühl, das sich in der Folgezeit sogar bis zur Verachtung steigerte. Ganz abgesehen davon, daß sie manchmal, und offenbar aus persönlicher Neigung, Leute an sich heranzog, die das Gegenteil von elegant waren, traten bei ihr auch noch einige andere ganz seltsame Neigungen hervor: es zeigte sich eine barbarische Vermischung zweier verschiedener Geschmacksrichtungen, ferner eine Fähigkeit, auf gewisse Genüsse zu verzichten und sich statt dessen mit andern zu begnügen, die ein anständiger, feingebildeter Mensch als gar nicht vorhanden betrachtet. In der Tat, hätte – um ein Beispiel anzuführen – Nastasja Filippowna irgendeine liebenswürdige, vornehme Unwissenheit bekundet, etwa eine Unkenntnis der Tatsache, daß Bäuerinnen nicht weißen Batist tragen können, wie sie ihn trug, so wäre Afanassij Iwanowitsch damit wohl ganz zufrieden gewesen. Auf solche Resultate zielte ursprünglich nach Tozkijs Programm, der auf diesem Gebiet ein großer Sachverständiger war, Nastasja Filippownas ganze Erziehung ab, aber leider kamen statt dessen ganz sonderbare Resultate zutage. Trotzdem jedoch lagen in Nastasja Filippownas Wesen noch manche Eigenschaften, die mitunter sogar Afanassij Iwanowitsch selbst durch ihre ungewöhnliche, reizvolle Originalität und ihre urwüchsige Kraft anzogen und ihn bisweilen auch jetzt noch entzückten, wo schon all seine früheren Spekulationen auf Nastasja Filippowna zusammengestürzt waren. Dem Fürsten öffnete ein Mädchen (Nastasja Filippowna hielt sich stets nur weibliche Dienerschaft) und hörte zu seiner Verwunderung seine Bitte, ihn zu melden, ohne jedes Erstaunen an. Weder seine schmutzigen Stiefel noch sein breitkrempiger Hut, noch sein ärmelloser Mantel, noch seine verlegene Miene machten sie auch nur im geringsten stutzig. Sie nahm ihm den Mantel ab, forderte ihn auf, im Empfangszimmer zu warten, und ging sogleich, um ihn zu melden. Die Gesellschaft, die sich bei Nastasja Filippowna versammelt hatte, bestand aus ihren ständigen Bekannten, die immer bei ihr verkehrten. Es waren sogar nur ziemlich wenige Gäste anwesend im Vergleich mit den Veranstaltungen, die in früheren Jahren an demselben Tage stattgefunden hatten. Erschienen waren erstens und als Hauptpersonen Afanassij Iwanowitsch Tozkij und Iwan Fjodorowitsch Jepantschin; beide benahmen sich sehr liebenswürdig, aber beide befanden sich in einer gewissen geheimen Unruhe durch die nur schlecht verhehlte Spannung auf die versprochene Entscheidung über Ganja. Außer ihnen war selbstverständlich auch Ganja da – sehr düster, nachdenklich und höchst »unliebenswürdig«; er stand meist in einiger Entfernung abseits und schwieg. Was Warja anlangt, so hatte er sich dafür entschieden, sie lieber nicht mitzubringen, aber Nastasja Filippowna tat ihrer gar nicht Erwähnung; dagegen fing sie unmittelbar nach Ganjas Begrüßung an, von der Szene zu sprechen, die er vorher mit dem Fürsten gehabt hatte. Der General, der noch nichts davon gehört hatte, interessierte sich sehr dafür. Ganja erzählte in trockenem, ruhigem Ton, aber vollkommen wahrheitsgemäß alles, was sich vor kurzem begeben hatte, und daß er bereits zum Fürsten hingegangen sei, um ihn um Verzeihung zu bitten. Dabei sprach er mit großer Lebhaftigkeit seine Meinung dahin aus, wenn man den Fürsten einen Idioten nenne, so sei das sehr sonderbar und ein Grund dafür unerfindlich; er sei vollständig entgegengesetzter Ansicht und halte ihn für einen sehr selbständig denkenden Menschen. Nastasja Filippowna hörte diese Äußerung mit großer Aufmerksamkeit an und verfolgte neugierig Ganjas Mienenspiel, aber das Gespräch ging sogleich auf Rogoshin über, der bei den Vorgängen des Vormittags so stark beteiligt gewesen war und für den Afanassij Iwanowitsch und Iwan Fjodorowitsch sich gleichfalls äußerst lebhaft zu interessieren begannen. Besondere Mitteilungen über Rogoshin zu machen, war, wie sich herausstellte, Ptizyn in der Lage, der sich in dessen geschäftlichen Angelegenheiten mit ihm fast bis neun Uhr abends abgemüht hatte. Rogoshin hatte mit aller Energie darauf bestanden, noch heute hunderttausend Rubel zu bekommen. »Er war allerdings betrunken«, bemerkte Ptizyn dabei, »aber trotz aller Schwierigkeiten werden die hunderttausend Rubel wohl für ihn beschafft werden, nur weiß ich nicht, ob heute noch ganz, aber es arbeiten viele daran, Trepalow, Kinder, Biskup; Prozente gibt er, soviel einer verlangt, natürlich alles in seiner Trunkenheit und in der ersten Freude...«, schloß Ptizyn. Alle diese Mitteilungen wurden mit Interesse entgegengenommen, zum Teil allerdings mit düsterem Interesse; Nastasja Filippowna schwieg und wünschte offenbar nicht, sich zu äußern; auch Ganja redete nicht. General Jepantschin beunruhigte sich im stillen nicht weniger als die andern; der Perlenschmuck, den er schon am Vormittag überreicht hatte, war mit sehr kühler Freundlichkeit und sogar mit einem eigentümlichen Lächeln in Empfang genommen worden. Ferdyschtschenko war von allen Gästen der einzige, der sich in heiterer, festtäglicher Stimmung befand; er lachte manchmal laut ohne sichtbaren Grund, lediglich weil er die Rolle des Spaßmachers übernommen hatte. Afanassij Iwanowitsch selbst, der für einen geistreichen, eleganten Plauderer galt und in früherer Zeit bei diesen Abendgesellschaften gewöhnlich das Gespräch geleitet hatte, befand sich offenbar nicht in der rechten Stimmung und sogar in einer ihm sonst fremden Verwirrung. Die andern Gäste, die übrigens wenig zahlreich waren (ein jämmerlicher, alter Lehrer, der Gott weiß weshalb eingeladen war, ein unbekannter, sehr jugendlicher Mensch, der furchtbar schüchtern war und die ganze Zeit über schwieg, eine gewandte, etwa vierzigjährige Dame, Schauspielerin, und eine außerordentlich hübsche, sehr schön und luxuriös gekleidete und überaus stille junge Frau), vermochten das Gespräch nicht sonderlich zu beleben, ja, sie wußten manchmal gar nicht, wovon sie sprechen sollten. Unter diesen Umständen kam das Erscheinen des Fürsten sogar sehr gelegen. Die Meldung von seiner Ankunft rief einige Verwunderung und ein eigentümliches Lächeln hervor, namentlich als die Gäste an Nastasja Filippownas erstauntem Gesicht merkten, daß es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, ihn einzuladen. Aber nach diesem ersten Erstaunen bekundete Nastasja Filippowna auf einmal eine solche Freude, daß die Mehrzahl der Anwesenden sich sogleich anschickte, den unerwarteten Gast mit Lachen und Heiterkeit zu empfangen. »Er tut das allerdings aus Naivität«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, »und es ist jedenfalls nicht ungefährlich, solche Neigungen zu ermutigen; aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wirklich nicht übel, daß er auf den Einfall gekommen ist, hier zu erscheinen, wenn auch in so origineller Manier. Er wird vielleicht zu unserer Erheiterung beitragen, soweit ich wenigstens über ihn urteilen kann.« »Das muß er um so mehr, als er sich eingedrängt hat!« fügte Ferdyschtschenko rasch hinzu. »Was soll das heißen?« fragte trocken der General, der Ferdyschtschenko nicht leiden konnte. »Er muß eben Eintrittsgeld bezahlen«, erwiderte dieser erläuternd. »Nun, Fürst Myschkin ist denn doch: kein Ferdyschtschenko«, konnte sich der General nicht enthalten zu entgegnen. Er konnte sich immer noch nicht darein finden, daß er sich mit Ferdyschtschenko in ein und derselben Gesellschaft befinden und mit ihm auf gleichem Fuße verkehren sollte. »Ei, ei, General, vergreifen Sie sich nicht an Ferdyschtschenko«, antwortete dieser schmunzelnd. »Ich habe hier meine besonderen Privilegien.« »Was für Privilegien?« »Ich hatte das vorige Mal die Ehre, es der Gesellschaft ausführlich auseinanderzusetzen, und will es jetzt für Euer Exzellenz noch einmal wiederholen. Wollen Euer Exzellenz folgendes erwägen: alle Menschen sind geistreich, nur ich besitze diese Eigenschaft nicht. Zum Ausgleich habe ich mir die Erlaubnis erwirkt, die Wahrheit sagen zu dürfen, da allen bekannt ist, daß die Wahrheit nur Leute sagen, denen es an Geist mangelt. Außerdem bin ich ein sehr rachsüchtiger Mensch, und zwar wieder eben deswegen, weil ich nicht geistreich bin. Ich ertrage demütig jede Beleidigung, aber nur so lange, bis es meinem Beleidiger einmal schiefgeht; sowie das eintritt, erinnere ich mich sofort an die Beleidigung und räche mich irgendwie, ich schlage aus, wie Iwan Petrowitsch Ptizyn einmal von mir sagte, der natürlich für seine Person nie gegen jemand ausschlägt. Kennen Euer Exzellenz die Krylowsche Fabel ›Der Löwe und der Esel‹? Na, die paßt auf uns beide, auf Sie und mich, die ist auf uns zugeschnitten.« »Sie sind wohl wieder einmal ins Faseln gekommen, Ferdyschtschenko!« brauste der General auf. »Aber was haben Sie denn, Exzellenz?« erwiderte Ferdyschtschenko, der darauf gerechnet hatte, ein Wortgefecht herbeizuführen und weiterzusalbadern. »Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz, ich kenne meinen Platz: wenn ich sagte, daß Sie und ich der Löwe und der Esel aus der Krylowschen Fabel seien, so übernehme ich natürlich die Rolle des Esels und Euer Exzellenz die des Löwen, wie es ja auch in der Krylowschen Fabel heißt: ›Der mächt'ge Leu, der einst die Wälder Erschreckte, war nun altersschwach.‹ Ich aber, Exzellenz, bin der Esel.« »Mit letzterem bin ich einverstanden«, platzte der General heraus. Alles, was Ferdyschtschenko da sagte, war ja plump, absichtlich plump, aber es war nun einmal üblich geworden, daß man Ferdyschtschenko die Rolle eines Clowns spielen ließ. »Nur deshalb verstattet man mir ja hier den Zutritt und duldet mich«, hatte Ferdyschtschenko einmal erklärt, »damit ich in diesem Ton rede. In der Tat, könnte man sonst einen Menschen meiner Art empfangen? Ich begreife ja das alles. Na, kann man etwa mich, den armseligen Ferdyschtschenko, neben einen so feinen Gentleman wie Afanassij Iwanowitsch setzen? Wenn man es doch tut, so gibt es dafür nur eine Erklärung: man tut es eben deshalb, weil es undenkbar ist.« Aber wenn er auch gewöhnlich plump war, so war er doch auch oft bissig, und manchmal sogar in hohem Grade, und das war es, woran Nastasja Filippowna Gefallen zu finden schien. Wer bei ihr zu verkehren wünschte, dem blieb nichts anderes übrig, als diesen Ferdyschtschenko zu ertragen. Er hatte vielleicht wirklich die volle Wahrheit erraten, als er die Vermutung aussprach, daß sie ihn deswegen empfange, weil er gleich bei seiner ersten Anwesenheit auf Tozkij einen unerträglichen Eindruck gemacht hatte. Ganja seinerseits mußte sich von ihm ein endlose Reihe von Martern gefallen lassen, und in dieser Hinsicht wußte sich Ferdyschtschenko seiner Gönnerin sehr nützlich zu machen. »Zuerst werde ich vom Fürsten verlangen, daß er uns ein modernes Lied vorsingt«, bemerkte Ferdyschtschenko und paßte auf, was Nastasja Filippowna dazu sagen würde. »Ich glaube nicht, daß er das tun wird, Ferdyschtschenko, und möchte Sie bitten, sich nicht zu sehr ins Zeug zu legen.« »Ah, ah! Nun, wenn er unter Ihrem besonderen Schutz steht, dann werde auch ich mich erweichen lassen...« Aber Nastasja Filippowna stand, ohne hinzuhören, auf und ging selbst dem Fürsten entgegen. »Ich habe bedauert«, sagte sie, plötzlich vor ihn hintretend, »daß ich vorhin in der Eile vergessen habe, Sie einzuladen, und ich freue mich sehr, daß Sie mir jetzt selbst die Gelegenheit geben, Ihr entschlossenes Verhalten zu loben und Ihnen zu danken.« Während sie das sagte, blickte sie den Fürsten forschend an, bemüht, über den Grund seines Kommens Klarheit zu erlangen. Der Fürst hätte auf ihre freundlichen Worte vielleicht etwas erwidert, aber er war dermaßen von ihrer Erscheinung überrascht und geblendet, daß er kein Wort herausbringen konnte. Nastasja Filippowna bemerkte dies mit Vergnügen. Sie war an diesem Abend in großer Toilette und machte einen außerordentlich starken Eindruck. Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu den Gästen. Unmittelbar vor dem Eingang in den Salon blieb der Fürst plötzlich stehen und flüsterte ihr in großer Erregung hastig zu: »An Ihnen ist alles vollkommen... sogar Ihre Abgezehrtheit und Blässe... man möchte Sie sich gar nicht anders vorstellen... Ich hatte ein so starkes Verlangen, zu Ihnen zu gehen... ich ... verzeihen Sie mir...« »Bitten Sie nicht um Verzeihung«, erwiderte lachend Nastasja Filippowna, »dadurch wird Ihre ganze Sonderbarkeit und Originalität zerstört. Und es wird doch mit Recht über Sie gesagt, daß Sie ein sonderbarer Mensch seien. Also Sie halten mich für vollkommen, ja?« »Ja.« »Sie sind zwar sonst ein Meister im Erraten, aber hier haben Sie sich geirrt. Ich werde Sie noch heute daran erinnern.« Sie stellte den Fürsten den Gästen vor, von denen er der größeren Hälfte bereits bekannt war. Tozkij sagte ihm sogleich eine Liebenswürdigkeit. Alle schienen etwas lebendiger zu werden, alle begannen auf einmal zu reden und zu lachen. Nastasja Filippowna wies dem Fürsten einen Platz an ihrer Seite zu. »Aber was ist denn eigentlich an dem Erscheinen des Fürsten so Verwunderliches?« überschrie Ferdyschtschenko alle. »Die Sache ist doch klar, die Sache spricht für sich selbst!« »Die Sache ist nur zu klar und spricht nur zu sehr für sich selbst!« sagte auf einmal Ganja, der bisher geschwiegen hatte. »Ich habe den Fürsten bis heute fast ununterbrochen beobachtet, von dem Augenblick an, als er in Iwan Fjodorowitschs Wohnung zum erstenmal Nastasja Filippownas Bild auf dem Tische liegen sah. Ich erinnere mich sehr genau, daß mir gleich damals ein Gedanke an das kam, was mir jetzt zur vollen Überzeugung geworden ist, und was mir, beiläufig gesagt, der Fürst selbst gestanden hat!« Ganja hatte das alles sehr ernst, ohne die geringste Spur von Scherzhaftigkeit, ja mit finsterer Miene gesagt, was einen ziemlich seltsamen Eindruck machte. »Ich habe Ihnen keine Geständnisse gemacht«, antwortete der Fürst errötend, »ich habe nur eine Frage beantwortet, die Sie an mich richteten.« »Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. »Das ist wenigstens aufrichtig gesprochen, aufrichtig und zugleich schlau!« Alle lachten laut. »Schreien Sie doch nicht so, Ferdyschtschenko«, sagte Ptizyn mit gedämpfter Stimme unwillig zu ihm. »Solche Bravourstücke hätte ich wahrhaftig nicht von Ihnen erwartet, Fürst«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch. »Zu welcher Menschenklasse muß man Sie danach rechnen? Und ich hatte Sie für einen Philosophen gehalten! Ja, ja, die stillen Wässerchen!« »Und daraus, daß der Fürst bei einem harmlosen Scherz rot wird wie ein unschuldiges junges Mädchen, schließe ich, daß er als ein ehrenwerter Jüngling in seinem Herzen die löblichsten Absichten hegt«, sagte, oder richtiger lispelte auf einmal ganz unerwartet der zahnlose siebzigjährige Lehrer, der bis dahin vollständig stumm gewesen war und von dem niemand hatte erwarten können, daß er im Laufe des Abends überhaupt ein Wort reden würde. Alle lachten nur noch mehr. Der Alte, der wahrscheinlich glaubte, man lache über seine geistreiche Bemerkung, begann, alle ansehend, noch stärker als sie zu lachen, wobei er in ein heftiges Husten hineingeriet, so daß Nastasja Filippowna, die wunderlicherweise für all solche originellen Greise, Greisinnen und selbst Narren eine besondere Schwäche hatte, sogleich anfing, ihn zu liebkosen und zu küssen, und ihm noch Tee reichen ließ. Von der eintretenden Dienerin ließ sie sich eine Mantille bringen, in die sie sich einhüllte; auch gab sie Befehl, noch Holz im Kamin nachzulegen. Auf die Frage, wie spät es sei, antwortete die Dienerin, es sei schon halb elf. »Meine Herren, wollen Sie nicht Champagner trinken?« schlug Nastasja Filippowna plötzlich vor. »Ich habe alles vorbereiten lassen. Vielleicht wird Sie das lustiger machen. Bitte, ohne sich zu genieren!« Die Einladung zu trinken, und namentlich in so naiven Ausdrücken, machte sich von Nastasja Filippownas Seite recht sonderbar. Alle kannten die strenge Etikette, die auf ihren früheren Abendgesellschaften geherrscht hatte. Überhaupt gestaltete sich dieser Abend lustiger, aber in ungewöhnlicher Weise. Die Aufforderung zum Champagnertrinken lehnten die Gäste nicht ab; zuerst nahm sie der General an, dann die gewandte Dame, der alte Lehrer, Ferdyschtschenko, danach alle andern. Auch Tozkij griff nach einem Glase, in der Hoffnung, dem neuen Ton, der jetzt angeschlagen war, eine gewisse harmonische Färbung zu verleihen, indem er ihm nach Möglichkeit den Charakter eines liebenswürdigen Scherzes gab. Ganja war der einzige, der nichts trank. Aus den sonderbaren, mitunter sehr scharfen und hastigen Ausfällen Nastasja Filippownas, die sich ebenfalls Wein geben ließ und erklärte, sie werde an diesem Abend drei große Gläser voll trinken, und aus ihrem hysterischen, grundlosen Lachen, das dann plötzlich mit Schweigsamkeit und sogar mit düsterer Nachdenklichkeit wechselte, aus alledem war schwer klug zu werden. Manche vermuteten, sie hätte Fieber; schließlich merkte man, daß sie anscheinend auf etwas wartete, oft nach der Uhr sah und ungeduldig und zerstreut wurde. »Sie scheinen ein bißchen zu fiebern?« fragte die gewandte Dame. »Nicht ein bißchen, sondern recht stark; darum habe ich mich auch in die Mantille gewickelt«, antwortete Nastasja Filippowna, die tatsächlich blasser geworden war und ab und zu ein heftiges Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken schien. Alle Gäste gerieten in Unruhe und Bewegung. »Sollten wir nicht unserer Wirtin Ruhe gönnen?« sagte Tozkij, indem er Iwan Fjodorowitsch ansah. »Durchaus nicht, meine Herrschaften! Ich bitte Sie dringend, sitzenzubleiben. Ihre Anwesenheit ist besonders heute für mich notwendig«, erklärte Nastasja Filippowna nachdrücklich und bedeutsam. Und da fast alle Gäste schon wußten, daß an diesem Abend eine sehr bedeutsame Entscheidung fallen sollte, so erschienen diese Worte besonders schwerwiegend. Der General und Tozkij wechselten wieder einen Blick miteinander. Ganja machte krampfhafte Bewegungen. »Es wäre ganz nett, wenn wir ein Gesellschaftsspiel spielten«, sagte die gewandte Dame. »Ich kenne ein prachtvolles, neues Gesellschaftsspiel«, erklärte Ferdyschtschenko. »Ich weiß nur von einem Fall, wo es auf der Welt gespielt wurde, und auch da gelang es nicht.« »Was ist das für ein Spiel?« fragte die gewandte Dame. »Wir waren einmal in einer Gesellschaft zusammen, nun, und wir hatten ein bißchen getrunken, das ist richtig, und da machte einer den Vorschlag, es sollte jeder von uns, ohne vom Tisch aufzustehen, laut etwas von sich erzählen, aber etwas, was er selbst nach bestem Wissen und Gewissen für die schlechteste Handlung von allen schlechten Handlungen halte, die er im Laufe seines ganzen Lebens begangen habe; aber Vorschrift solle dabei sein, daß wahrheitsgemäß erzählt werden müsse, das war die Hauptsache, jeder sollte wahrheitsgemäß erzählen und nicht lügen.« »Eine sonderbare Idee«, sagte der General. »Sehr sonderbar allerdings, Exzellenz, aber eben darum gut.« »Ein komischer Gedanke«, meinte Tozkij, »der übrigens begreiflich ist: es steckt eine eigenartige Prahlsucht dahinter.« »Vielleicht war gerade das die Absicht, Afanassij Iwanowitsch.« »Aber bei einem solchen Gesellschaftsspiel muß man ja weinen und nicht lachen«, bemerkte die gewandte Dame. »Eine ganz unmögliche, absurde Sache!« rief Ptizyn. »Und ist es gelungen?« fragte Nastasja Filippowna. »Das ist es ja eben, daß es nicht gelang; die Geschichte wurde schließlich widerwärtig. Jeder erzählte wirklich etwas, viele die Wahrheit, und denken Sie sich: manche erzählten sogar mit Vergnügen. Aber dann fing ein jeder an, sich zu schämen, und das Spiel konnte nicht weiter durchgeführt werden! Im ganzen war es übrigens recht vergnüglich, das heißt in seiner Art.« »Nein, wirklich, das wäre schön!« bemerkte Nastasja Filippowna, die auf einmal ganz lebendig wurde. »Das sollten wir wirklich probieren, meine Herrschaften! Wir scheinen in der Tat nicht in besonders heiterer Stimmung zu sein. Wenn jeder von uns damit einverstanden wäre, etwas zu erzählen ... etwas in dieser Art ... selbstverständlich nur, wenn er einverstanden ist... jeder muß freie Hand haben, nicht wahr? Vielleicht können wir es durchführen. Wenigstens ist es sehr originell.« »Ja, es ist ein genialer Gedanke!« fügte Ferdyschtschenko bekräftigend hinzu. »Die Damen sind übrigens dispensiert, die Herren machen den Anfang; die Ordnung wird durch das Los bestimmt, wie wir es auch damals machten! Wir wollen es unbedingt tun, unbedingt! Wer absolut nicht will, braucht natürlich nicht zu erzählen, aber dazu müßte schon einer besonders unliebenswürdig sein! Geben Sie Ihre Lose her, meine Herren, hierher, mir; legen Sie sie in meinen Hut, der Fürst wird sie ziehen. Es ist eine ganz leichte Aufgabe, die schlechteste Handlung aus seinem ganzen Leben zu erzählen – das ist sehr leicht, meine Herren! Nun, Sie werden selbst sehen! Wenn aber jemand etwas vergessen sollte, so werde ich sogleich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen.« Die Idee war höchst sonderbar und gefiel fast niemandem. Die einen machten finstere Gesichter, die anderen lächelten schlau. Manche erhoben Einwendungen, wenn auch nicht sehr energisch, so zum Beispiel Iwan Fjodorowitsch, der Nastasja Filippowna nicht hinderlich sein mochte und bemerkte, wie sehr dieser sonderbare Einfall, vielleicht eben deswegen, weil er sonderbar und beinah undurchführbar war, sie reizte. Wenn Nastasja Filippowna sich einmal entschlossen hatte, ihre Wünsche auszusprechen, so ließ sie sich auch nicht mehr zurückhalten und kannte keine Rücksichten, mochten auch diese Wünsche noch so kapriziös und für sie selbst ganz nutzlos sein. Und jetzt befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand, sie entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit und lachte krampfhaft und in einzelnen Anfällen, namentlich bei den Einwendungen des beunruhigten Tozkij. Ihre dunklen Augen blitzten, auf ihren blassen Wangen traten zwei rote Flecken hervor. Der bedrückte, mürrische Gesichtsausdruck mancher ihrer Gäste steigerte ihren spottlustigen Wunsch vielleicht noch mehr; vielleicht gefiel ihr gerade der Zynismus und die Grausamkeit, die in dieser Idee lagen. Manche waren sogar überzeugt, daß sie da einen besonderen Zweck verfolge. Indessen begannen die Gäste sich einverstanden zu erklären: jedenfalls war die Sache interessant und für viele sogar sehr verlockend. Am eifrigsten von allen zeigte sich Ferdyschtschenko. »Aber wenn nun etwas von der Art ist, daß man es in Damengesellschaft unmöglich erzählen kann?« bemerkte der schweigsame Jüngling schüchtern. »Dann erzählen Sie es nicht! Als ob es nicht auch ohne das genug schlechte Handlungen gäbe!« erwiderte Ferdyschtschenko. »Ei, ei, Sie junger Mann!« »Aber ich weiß gar nicht, welche meiner Handlungen ich für die schlechteste halten soll«, warf die gewandte Dame ein. »Die Damen sind von der Pflicht zu erzählen dispensiert«, wiederholte Ferdyschtschenko, »aber eben nur dispensiert: wenn sie sich aus freien Stücken dazu bereit finden, so wird das mit dankbarer Anerkennung aufgenommen. Die Herren aber werden nur dispensiert, wenn sie durchaus nicht wollen.« »Aber wie soll ich da beweisen, daß ich nicht lüge?« fragte Ganja. »Wenn ich aber lüge, so verliert das ganze Spiel seinen Sinn. Und wer wird denn nicht lügen? Jeder wird es unfehlbar tun.« »Aber auch das ist schon reizvoll, zu sehen, wie jemand dann lügt. Und was dich betrifft, Ganja, so brauchst du dich vor dem Lügen nicht besonders zu fürchten, da deine schlechteste Handlung sowieso schon allen bekannt ist. Und denken Sie nur, meine Herrschaften«, rief Ferdyschtschenko ganz enthusiastisch, »denken Sie nur, mit was für Augen wir nachher einander ansehen werden, zum Beispiel morgen, nach diesen Erzählungen!« »Aber ist's möglich? Soll denn das wirklich Ernst sein, Nastasja Filippowna?« fragte Tozkij würdevoll. »Wer sich vor dem Wolf fürchtet, soll nicht in den Wald gehen!« versetzte Nastasja Filippowna lächelnd. »Aber erlauben Sie, Herr Ferdyschtschenko, wie kann man denn daraus ein Gesellschaftsspiel machen?« fuhr Tozkij, der immer unruhiger wurde, fort. »Ich versichere Ihnen, daß solche Dinge nie gelingen; Sie sagen ja selbst, daß es schon einmal mißglückt ist.« »Wieso mißglückt? Ich habe das vorige Mal erzählt, wie ich drei Rubel gestohlen habe, das habe ich ganz einfach und ohne weiteres erzählt!« »Wenn auch. Aber Sie konnten es doch unmöglich so erzählen, daß es wahrscheinlich klang und man es Ihnen glaubte. Und Gawrila Ardalionowitsch hat ganz richtig bemerkt, daß das Spiel jeden Sinn verliert, sobald man der Erzählung anzumerken glaubt, daß sie nicht wahr ist. Die Wahrheit wird dabei nur dann gesagt werden, wenn sich jemand zufällig in einer eigenartigen, unfeinen, prahlerischen Stimmung befindet, einer Stimmung, die hier undenkbar ist und durchaus unpassend sein würde.« »Aber was sind Sie für ein feinfühliger Mensch, Afanassij Iwanowitsch! Sie setzen mich geradezu in Erstaunen!« rief Ferdyschtschenko. »Denken Sie nur, meine Herrschaften, durch seine Bemerkung, ich hätte von meinem Diebstahl nicht so erzählen können, daß es glaubhaft geklungen habe, deutet Afanassij Iwanowitsch auf die feinste Weise an, daß ich auch tatsächlich nicht imstande gewesen sei, den Diebstahl auszuführen (denn das so geradeheraus zu sagen, wäre unpassend), obwohl er vielleicht im stillen ganz davon überzeugt ist, daß Ferdyschtschenko es sehr wohl habe fertigbringen können zu stehlen! Aber zur Sache, meine Herren, zur Sache, die Lose sind eingesammelt, und auch Sie, Afanassij Iwanowitsch, haben das Ihrige hineingelegt, also schließt sich niemand aus. Nun nehmen Sie die Ziehung vor, Fürst!« Der Fürst fuhr schweigend mit der Hand in den Hut und zog die Lose heraus, als erstes das Ferdyschtschenkos, als zweites das Ptizyns, als drittes das des Generals, als viertes das Afanassij Iwanowitschs, als fünftes das seinige, als sechstes das Ganjas und so weiter. Die Damen hatten keine Lose hineingelegt. »O Gott, welches Unglück!« rief Ferdyschtschenko. »Und ich hatte gedacht, zuerst würde der Fürst drankommen und dann der General! Aber Gott sei Dank, wenigstens kommt Iwan Petrowitsch nach mir, da werde ich für meine Offenherzigkeit entschädigt werden. Nun, meine Herren, ich bin natürlich verpflichtet, ein gutes Beispiel zu geben, aber am meisten bedaure ich in diesem Augenblick, daß ich ein so unbedeutender Mensch bin und nichts Bemerkenswertes an mir habe; selbst meine dienstliche Rangstellung ist eine ganz niedrige; was für ein Interesse kann es denn erwecken, daß Ferdyschtschenko eine häßliche Handlung begangen hat? Und welches ist denn meine schlechteste Handlung? Da liegt ein embarras de richesse Hindernis infolge großer Auswahl (frz.) vor. Soll ich etwa wieder von demselben Diebstahl erzählen, um Afanassij Iwanowitsch davon zu überzeugen, daß man stehlen kann, ohne eigentlich ein Dieb zu sein?...« »Sie überzeugen mich auch davon, Herr Ferdyschtschenko, daß man tatsächlich ein bis zur Berauschtheit gehendes Vergnügen empfinden kann, wenn man von seinen unsauberen Handlungen erzählt, obwohl man nicht danach gefragt ist... Übrigens aber... Verzeihen Sie, Herr Ferdyschtschenko!« »Fangen Sie an, Ferdyschtschenko! Sie schwatzen schrecklich viel unnützes Zeug und werden nie zu Ende kommen!« befahl Nastasja Filippowna gereizt und ungeduldig. Alle bemerkten, daß sie nach ihrem anfallartigen Lachen von vorhin plötzlich geradezu düster, mürrisch und reizbar geworden war, aber nichtsdestoweniger bestand sie hartnäckig und despotisch darauf, daß ihrer absurden Laune gehorcht werde. Afanassij Iwanowitsch litt furchtbare Qualen. Er war auch auf Iwan Fjodorowitsch wütend, der, als wäre nichts geschehen, beim Champagner saß und vielleicht sogar etwas zu erzählen beabsichtigte, wenn er an die Reihe kam. XIV »Ich bin eben nicht geistreich, Nastasja Filippowna, daher schwatze ich unnützes Zeug!« rief Ferdyschtschenko und schickte sich an zu erzählen. »Wäre ich so geistreich wie Afanassij Iwanowitsch oder Iwan Petrowitsch, so würde ich heute wie diese beiden Herren schweigend dasitzen. Gestatten Sie eine Frage, Fürst: wie denken Sie darüber? Ich bin der Meinung, daß es auf der Welt weit mehr Diebe gibt als Leute, die keine Diebe sind, und daß es keinen so ehrenhaften Menschen gibt, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben etwas gestohlen hätte. Das ist meine Anschauung, aus der ich übrigens keineswegs den Schluß ziehe, daß alle ohne Ausnahme Diebe sind, obwohl ich wirklich manchmal die größte Lust hätte, das daraus zu folgern. Wie denken Sie darüber?« »Pfui, wie dumm Sie reden«, rief Darja Alexejewna, »und was ist das für Unsinn! Es ist undenkbar, daß alle Menschen etwas gestohlen haben sollten; ich habe nie etwas gestohlen.« »Sie haben nie etwas gestohlen, Darja Alexejewna, aber was wird der Fürst sagen, der auf einmal ganz rot geworden ist?« »Es scheint mir, daß Sie recht haben, aber stark übertreiben«, versetzte der Fürst, der tatsächlich aus nicht recht ersichtlichem Grunde errötet war. »Und Sie selbst, Fürst, haben nichts gestohlen?« »Pfui, wie lächerlich das alles ist! Bedenken Sie, Herr Ferdyschtschenko, was Sie da reden!« mischte sich der General ein. »Die Sache ist einfach die: nun es soweit ist, schämen Sie sich zu erzählen, und darum wollen Sie den Fürsten mit sich zusammenkuppeln, um so mehr, als er so dienstfertig ist«, schalt Darja Alexejewna. »Ferdyschtschenko, entweder erzählen Sie, oder schweigen Sie, und beschränken Sie Ihre Menschenkenntnis auf Ihre eigene Person! Sie erschöpfen die größte Geduld«, sagte Nastasja Filippowna in scharfem, ärgerlichem Ton. »Sofort, Nastasja Filippowna! Wenn sogar der Fürst es eingestanden hat (denn ich bleibe dabei: der Fürst hat es so gut wie eingestanden), was würde dann erst ein anderer (ich nenne keinen Namen) sagen, vorausgesetzt, daß er die Wahrheit reden will? Was nun mich betrifft, so habe ich eigentlich nichts weiter zu erzählen, die Sache ist sehr einfach, sehr dumm und sehr häßlich. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich kein Dieb bin; ich habe gestohlen, ohne zu wissen, wie ich dazu gekommen bin. Es war vor zwei Jahren, in der Sommerfrische bei Semjon Iwanowitsch Ischtschenko, an einem Sonntag. Es waren bei ihm Gäste zum Mittagessen. Nach Tisch blieben die Herren beim Wein zusammen sitzen. Da kam mir der Gedanke, sein Töchterchen, Fräulein Marja Semjonowna, zu bitten, ob sie uns nicht etwas auf dem Klavier vorspielen wolle. Ich gehe durch ein Eckzimmer, und da liegt auf Marja Iwanownas Nähtisch ein grüner Dreirubelschein; sie hatte ihn herausgelegt, um ihn zu irgendeinem Zweck in der Wirtschaft auszugeben. Im Zimmer war kein Mensch. Ich nahm den Schein und steckte ihn in die Tasche; warum ich das tat, weiß ich nicht. Es ist mir unverständlich, was über mich gekommen war. Aber ich kehrte so schnell wie möglich zurück und setzte mich wieder an den Tisch. Ich saß nun in ziemlich starker Aufregung da und wartete, schwatzte ohne Unterlaß, erzählte Anekdoten und lachte; dann setzte ich mich zu den Damen. Nach etwa einer halben Stunde wurde die Banknote vermißt, und man begann die Dienstmädchen danach zu fragen. Der Verdacht fiel auf eine von ihnen, Darja. Ich bekundete ein lebhaftes Interesse und starke Teilnahme, und ich weiß noch, als Darja ganz fassungslos war, da redete ich ihr sogar zu, sie möchte ihre Schuld eingestehen, indem ich mich ihr gegenüber mit meinem Kopf für Marja Iwanownas gütige Nachsicht verbürgte, und das alles sagte ich laut vor aller Ohren. Alle wohnten dieser Szene bei, und ich empfand ein besonderes Vergnügen bei dem Gedanken, daß ich da Moral predigte und die Banknote in meiner Tasche steckte. Diese drei Rubel vertrank ich gleich am selben Abend in einem Restaurant. Ich ging hinein und ließ mir eine Flasche Lafitte geben; ich hatte vorher nie so bloß eine Flasche Wein getrunken, ohne etwas dazu zu essen; es lag mir daran, das Geld möglichst schnell auszugeben. Besondere Gewissensbisse habe ich weder damals noch später verspürt. Ein zweites Mal würde ich das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wieder tun; Sie können mir das glauben oder nicht, ganz wie Sie wollen, ich habe kein Interesse daran. Na, das ist die ganze Geschichte.« »Aber das ist gewiß noch nicht Ihre schlechteste Handlung«, sagte Darja Alexejewna voll Abscheu. »Das ist eine seelische Verirrung, keine Handlung«, bemerkte Afanassij Iwanowitsch. »Und was geschah mit dem Dienstmädchen?« fragte Nastasja Filippowna, ohne ihren hochgradigen Ekel zu verbergen. »Das Dienstmädchen wurde natürlich gleich am andern Tag weggejagt. In jenem Hause wurde streng auf Ordnung gehalten.« »Und Sie haben das zugelassen?« »Na, das ist nett! Ich hätte wohl hingehen und mich angeben sollen?« kicherte Ferdyschtschenko, der übrigens durch den sehr unangenehmen Eindruck, den seine Erzählung bei allen hervorgerufen hatte, einigermaßen überrascht war. »Wie schmutzig das ist!« rief Nastasja Filippowna. »Pah, Sie wollen von jemand seine häßlichste Handlung hören und verlangen dabei, daß sie rein und sauber sein soll! Die häßlichen Handlungen sind immer sehr schmutzig, Nastasja Filippowna, das werden wir sofort von Iwan Petrowitsch hören. Viele solcher Handlungen glänzen ja freilich nach außen und möchten als Tugend erscheinen, weil der Betreffende eine eigene Equipage hat. Gar mancher hat eine eigene Equipage, aber mit welchen Mitteln ...« Kurz gesagt, Ferdyschtschenko vermochte sich nicht zu beherrschen und wurde plötzlich boshaft, so daß er sich vergaß und das Maß überschritt; sogar sein Gesicht verzerrte sich ganz. Wie seltsam es auch scheinen mag, so mochte er doch eine ganz andere Wirkung von seiner Erzählung erwartet haben. Solche »Verstöße« gegen den guten Ton und solche »eigenartige Prahlsucht«, wie Tozkij das genannt hatte, kamen bei ihm recht oft vor und lagen durchaus in seinem Charakter. Nastasja Filippowna bebte ordentlich vor Zorn und blickte Ferdyschtschenko unverwandt an; dieser wurde sofort ängstlich und verstummte, ja es überlief ihn geradezu ein kalter Schauer; er merkte, daß er zu weit gegangen war. »Wollen wir nicht lieber ganz damit aufhören?« fragte Afanassij Iwanowitsch schlau. »Ich bin an der Reihe, aber ich mache von dem Recht auf Dispensation Gebrauch und werde nicht erzählen«, erklärte Ptizyn in entschiedenem Ton. »Sie wollen nicht?« »Ich kann nicht, Nastasja Filippowna, und ich halte überhaupt ein solches Gesellschaftsspiel für ein Ding der Unmöglichkeit.« »Dann kommen ja wohl Sie dran, General«, wandte sich Nastasja Filippowna an diesen. »Sollten auch Sie sich weigern, dann wird auch aus unserem ganzen weiteren Spiel nichts werden, und das würde mir leid tun, da ich beabsichtige, zum Schluß etwas aus meinem eigenen Leben mitzuteilen, es aber erst nach Ihnen und Afanassij Iwanowitsch tun will, weil sie beide mir Mut machen müssen«, schloß sie lachend. »Oh, wenn Sie versprechen, sich ebenfalls zu beteiligen«, rief der General eifrig, »dann bin ich bereit, Ihnen meinetwegen meine ganze Lebensgeschichte vorzutragen, aber ich muß bekennen, ich habe in der Erwartung, daß ich an die Reihe kommen würde, mir bereits ein Geschichtchen zurechtgelegt...« »Schon allein aus der Miene Seiner Exzellenz kann man entnehmen, mit welcher Autorenfreude er sein Geschichtchen ausgearbeitet hat«, erlaubte sich der immer noch etwas verlegene Ferdyschtschenko mit boshaftem Lächeln zu bemerken. Nastasja Filippowna warf dem General einen flüchtigen Blick zu und lächelte ebenfalls vor sich hin. Aber es war deutlich, daß ihre Verstimmung und Gereiztheit immer mehr wuchs. Afanassij Iwanowitsch bekam einen gewaltigen Schreck, als er sie eine Erzählung in Aussicht stellen hörte. »Meine Herrschaften, wie jedem Menschen, ist es auch mir in meinem Leben vorgekommen, daß ich nicht sehr löbliche Handlungen begangen habe«, begann der General, »seltsamerweise aber halte ich selbst das kurze Geschichtchen, das ich Ihnen jetzt erzählen werde, für die häßlichste Handlung meines ganzen Lebens. Dabei sind seitdem fast fünfunddreißig Jahre vergangen, aber ich habe mich, sooft ich daran denke, nie von einer gewissen, sozusagen beißenden Empfindung im Herzen freimachen können. Die Sache war übrigens im höchsten Grade dumm: ich war damals eben erst Fähnrich geworden und hatte einen schweren Dienst. Na, nun weiß man ja: so ein Fähnrich hat heißes Blut und wenig Moneten. Ich hatte damals einen Burschen, Nikifor hieß er, der sehr eifrig für meine Wirtschaft sorgte: er hielt die Groschen zusammen, nähte, striegelte, putzte und stahl sogar von überallher zusammen, was er kriegen konnte, um meinen Haushalt über Wasser zu halten; er war der treueste, redlichste Mensch, den man sich nur denken kann. Ich war gegen ihn natürlich streng, aber gerecht. Es traf sich, daß wir eine Zeitlang in einem kleinen Städtchen in Garnison lagen und ich mein Quartier in einer Vorstadt bei der Witwe eines verabschiedeten Leutnants hatte, einer alten Frau von achtzig Jahren, oder wenigstens war sie nahe daran. Sie hatte ein elendes, baufälliges Holzhäuschen und konnte sich bei ihrer Armut nicht einmal Bedienung halten. Besonders merkwürdig war an ihr, daß sie früher einmal eine große Familie und zahlreiche Verwandte gehabt hatte, aber die einen waren im Laufe ihres langen Lebens gestorben, andere weggezogen, wieder andere hatten die alte Frau vergessen, und ihren Mann hatte sie vor etwa fünfundvierzig Jahren begraben. Einige Jahre vorher, ehe ich dort in Quartier lag, hatte noch eine Nichte bei ihr gewohnt, eine buckelige Person, wie ich hörte, und böse wie eine Hexe, so daß sie sogar einmal die alte Frau in den Finger gebissen hatte; aber auch die war gestorben, und nun stand die Alte schon drei Jahre lang mutterseelenallein in der Welt. Ich langweilte mich bei ihr schrecklich, denn sie war so einfältig, daß nie ein Wort aus ihr herauszubekommen war. Schließlich stahl sie mir einen Hahn. Die Sache ist noch bis auf den heutigen Tag dunkel, aber es konnte niemand als sie gewesen sein. Um des Hahnes willen verzankten wir uns, und zwar gründlich, und da kam es mir sehr erwünscht, daß man mich gleich auf mein erstes Gesuch hin in ein anderes Quartier verlegte, in die entgegengesetzte Vorstadt, zu einem Kaufmann, der eine sehr zahlreiche Familie und einen gewaltigen Bart hatte, wie ich mich jetzt noch erinnere. Ich und Nikifor zogen mit Freuden um, die Alte blieb in mißvergnügter Stimmung zurück. Es vergingen etwa drei Tage, da komme ich einmal vom Exerzieren zurück, und Nikifor sagt zu mir: ›Wir hätten unsere Terrine nicht bei der früheren Wirtin zurücklassen sollen, Euer Wohlgeboren, ich weiß jetzt nicht, worin ich die Suppe auftragen soll.‹ Ich war natürlich höchst verwundert: ›Wie geht das zu? Wie ist das gekommen, daß unsere Terrine bei der Wirtin geblieben ist?‹ Erstaunt berichtete mir Nikifor weiter, die Wirtin habe ihm bei unserem Auszug unsere Terrine nicht herausgegeben, mit der Begründung, sie wolle, da ich ihr ihren eigenen Topf zerbrochen hätte, nun für ihren Topf unsere Terrine behalten, und ich hätte ihr das selbst vorgeschlagen. Über eine solche Gemeinheit von ihrer Seite geriet ich natürlich außer mir, das Fähnrichsblut kam in Wallung; ich sprang auf und lief zu ihr hin. Als ich zu der Alten hinkam, kochte ich sozusagen vor Wut; ich sehe mich um, und da sitzt sie ganz allein auf dem Flur in einer Ecke, als ob sie sich vor der Sonne versteckt hätte, die eine Wange auf die Hand gestützt. Nun, wissen Sie, da ließ ich denn gleich einen ganzen Hagel von Scheltworten auf sie niederprasseln: ›Du bist ja‹, sagte ich, ›eine...‹ und so weiter und so weiter, wissen Sie, so in echt russischer Art. Wie ich sie aber so anblicke, kommt es mir sonderbar vor: sie sitzt da, das Gesicht mir zugewendet, die Augen weit geöffnet, und antwortet kein Wort und sieht so sonderbar, ganz sonderbar aus und nickt, wie es scheint, mit dem Kopfe. Ich schweige schließlich still, sehe sie an, frage sie, bekomme aber keine Antwort. Ich stand noch ein Weilchen unschlüssig da, die Fliegen summten, die Sonne war im Untergehen, es herrschte tiefe Stille; ganz verwirrt ging ich endlich fort. Ich war noch nicht nach Hause gelangt, da wurde ich zum Major befohlen; dann mußte ich zur Kompanie gehen, so daß ich erst spät am Abend nach Hause zurückkehrte. Das erste, was Nikifor zu mir sagte, war: ›Wissen Sie schon, Euer Wohlgeboren, unsere frühere Wirtin ist gestorben.‹ – ›Wann denn?‹ – ›Heute abend, so vor anderthalb Stunden.‹ Also war sie gerade zu der Zeit verschieden, als ich sie ausschimpfte. Das machte einen solchen Eindruck auf mich, kann ich Ihnen sagen, daß ich kaum meiner Sinne mächtig war. Wissen Sie, ich mußte fortwährend daran denken, selbst in der Nacht träumte ich davon. Ich bin ja wahrhaftig nicht abergläubisch, aber ich ging doch am dritten Tag in die Kirche zu ihrer Beerdigung. Kurz, je weiter dieses Ereignis in die Vergangenheit zurückrückt, um so mehr muß ich daran denken. Und manchmal, wenn ich es mir so vergegenwärtige, wird mir ganz unwohl. Der Hauptpunkt ist: was lag da vor, nach der Art, wie ich mir die Sache schließlich zurechtlegte? Erstens, es war eine Frau, sozusagen ein menschliches Wesen, und man redet ja in unserer Zeit soviel von Humanität; sie hatte lange, sehr lange gelebt, schließlich war sie müde und matt geworden. Sie hatte früher einmal Kinder, einen Mann, eine Familie, Verwandte gehabt, alles hatte sozusagen um sie gewimmelt, alle hatten sie sozusagen angelächelt – und auf einmal eine völlige Leere, alles in die vier Winde zerstoben, und sie war allein geblieben wie ... wie eine von Ewigkeit her verfluchte Fliege. Und nun endlich setzt Gott ihrem Leben ein Ende. Mit dem Untergang der Sonne an einem stillen Sommerabend geht auch meine Alte dahin, gewiß nicht ohne erbauliche Gedanken, und gerade in diesem Augenblick stellt ein junger, hitziger Fähnrich, statt ihr sozusagen mit einer Träne das Geleit zu geben, sich schräg vor sie hin, stemmt die Arme in die Seiten und überschüttet sie bei ihrem Dahinscheiden wegen einer ihm genommenen Terrine mit einer Flut der derbsten russischen Schimpfworte! Ohne Zweifel habe ich mich da schuldig gemacht, und obwohl ich jetzt so lange nachher infolge der vielen seitdem vergangenen Jahre und der in meinem Charakter vorgegangenen Veränderungen jene Handlung wie die eines Fremden betrachte, so tut es mir doch immer noch leid. Das kommt mir – ich wiederhole es – sogar seltsam vor, denn wenn ich auch schuldig bin, so ist doch meine Schuld nicht übergroß: warum mußte es ihr auch gerade in dem Augenblick in den Sinn kommen zu sterben? Selbstverständlich gibt es nur eine Entschuldigung: meine Handlung war vom psychologischen Standpunkt aus erklärlich, aber doch konnte ich mich nicht eher beruhigen, als bis ich vor etwa fünfzehn Jahren die Einrichtung traf, daß ständig zwei kranke alte Frauen auf meine Kosten im Armenhaus unterhalten und ihnen so durch anständige Verpflegung ihre letzten Tage auf dieser Erde freundlicher gestaltet werden sollten. Und ich gedenke diese Einrichtung durch Stiftung eines Kapitals zu einer dauernden zu machen. Nun also, das ist alles. Ich wiederhole, daß ich vielleicht sonst noch viel Übles in meinem Leben begangen habe, aber diese Handlung halte ich, wie ich auf mein Gewissen versichere, für die häßlichste meines ganzen Lebens.« »Und statt der häßlichsten haben Euer Exzellenz eine der besten Handlungen Ihres Lebens erzählt; Sie haben Ferdyschtschenko geprellt!« bemerkte Ferdyschtschenko. »Wirklich, General, ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein so gutes Herz hätten, es ist ordentlich schade!« sagte Nastasja Filippowna in lässigem Ton. »Schade? Wieso?« fragte der General mit freundlichem Lachen und trank nicht ohne Selbstgefälligkeit von seinem Champagner. Aber nun war die Reihe an Afanassij Iwanowitsch, der sich ebenfalls vorbereitet hatte. Alle sahen voraus, daß er sich nicht wie Iwan Petrowitsch weigern würde, erwarteten aus gewissen Gründen seine Erzählung mit besonderer Neugier und blickten zugleich Nastasja Filippowna forschend an. In einer sehr würdevollen Weise, die durchaus zu seinem stattlichen Äußern paßte, begann Afanassij Iwanowitsch mit leiser, freundlicher Stimme eines seiner »netten Geschichtchen«. (Beiläufig sei folgendes bemerkt: er war eine ansehnliche Erscheinung, stattlich, hochgewachsen, etwas kahlköpfig, mit leicht angegrautem Haar, ziemlich wohlbeleibt, mit weichen, roten, etwas herabhängenden Backen und falschen Zähnen. Er trug bequeme, elegante Kleider und wundervolle Wäsche. Seine fleischigen, weißen Hände anzusehen, war ein Genuß. Am Zeigefinger der rechten Hand steckte ein kostbarer Brillantring.) Nastasja Filippowna betrachtete während seiner ganzen Erzählung unverwandt den Spitzenbesatz an ihrem Ärmel und zupfte daran mit zwei Fingern der linken Hand, so daß sie den Erzähler auch nicht einen Augenblick anblickte. »Was mir meine Aufgabe am meisten erleichtert«, begann Afanassij Iwanowitsch, »das ist die unbedingte Verpflichtung, nichts anderes zu erzählen als die schlechteste Handlung meines ganzen Lebens. In einem solchen Falle ist selbstverständlich kein Schwanken möglich: das Gewissen und das Gedächtnis geben einem ohne weiteres ein, was man zu erzählen hat. Ich bekenne mit tiefem Schmerz, daß unter all den vielleicht zahllosen leichtfertigen und unbedachten Handlungen meines Lebens eine ist, die in meinem Gedächtnis einen außerordentlich peinlichen Eindruck hinterlassen hat. Die Sache begab sich vor ungefähr zwanzig Jahren; ich befand mich damals auf dem Lande zu Besuch bei Platon Ordynzew. Er war soeben zum Adelsmarschall gewählt worden und mit seiner jungen Frau auf sein Gut gefahren, um dort die Winterfeiertage zu verleben. In dieselbe Zeit fiel auch gerade Anfissa Alexejewnas Geburtstag, und so sollten denn zwei Bälle gegeben werden. Damals war der entzückende Roman des jüngeren Dumas ›La dame aux camélias‹ Die Kameliendame (frz.) außerordentlich Mode und hatte eben angefangen, in der vornehmen Welt Aufsehen zu erregen, ein Geisteswerk, das meines Erachtens weder dazu bestimmt ist, jemals zu vergehen noch zu altern. In der Provinz waren alle Damen davon begeistert, wenigstens diejenigen, die das Buch gelesen hatten. Der Reiz der Erzählung, die eigenartige Stellung der Hauptperson, diese verlockende Welt, die aufs feinste analysiert wird, und endlich all diese bezaubernden Details, die durch das ganze Buch verstreut sind (zum Beispiel die Bemerkung darüber, unter welchen Umständen man Sträuße aus weißen und roten Kamelien abwechselnd verwendet), mit einem Wort all diese entzückenden Einzelheiten und das alles zusammen machten eine ganz gewaltige Sensation. Kamelien wurden außerordentlich Mode. Jedermann wollte Kamelien haben, jedermann suchte welche zu bekommen. Nun frage ich Sie: war es wohl möglich, viele Kamelien in einer Kreisstadt aufzutreiben, wenn alle Leute welche für die Bälle beschaffen wollten, auch wenn die Bälle nicht sehr zahlreich waren? Petja Worchowskoi, der arme Kerl, war damals in heißer Liebe zu Anfissa Alexejewna entbrannt. Ich weiß wirklich nicht, ob zwischen den beiden irgendein Verhältnis bestand, ich meine, ob er irgendwelche ernstlichen Hoffnungen hegen durfte. Der arme Mensch verlor fast den Verstand, um zum Ballabend für Anfissa Alexejewna Kamelien zu beschaffen. Die Gräfin Sozkaja aus Petersburg, die bei der Frau des Gouverneurs zu Besuch war, und Sofja Bespalowa wollten, wie bekannt geworden war, mit Sträußen aus weißen Kamelien kommen. Anfissa Alexejewna wünschte sich, um einen besonderen Effekt hervorzubringen, rote. Der arme Platon wurde beinah zu Tode gehetzt, wie das den Ehemännern bekanntlich so geht; er hatte ihr hoch und heilig geschworen, ihr einen Strauß zu verschaffen; aber was geschah? Am Tage vor dem Ball schnappte die Mytischtschewa, Katerina Alexandrowna, die in allen Dingen Anfissa Alexejewnas furchtbare Rivalin war und mit ihr auf höchst gespanntem Fuß lebte, ihr die Blumen weg. Natürlich folgten Weinkrämpfe, Ohnmacht. Platon war ganz zu Boden geschmettert. Man begreift: wenn Petja es auf irgendeine Weise fertigbekommen hätte, in diesem kritischen Augenblick einen Strauß zu beschaffen, so wären seine Belange dadurch natürlich sehr wesentlich gefördert worden; die Dankbarkeit einer Frau kennt in solchen Fällen keine Grenzen. Er läuft umher wie ein Besessener, aber es war eben ein Ding der Unmöglichkeit, absolut nichts zu machen! Auf einmal treffe ich ihn am Tage vor dem Geburtstag und Ball um elf Uhr abends bei Marja Petrowna Subkowa, einer Gutsnachbarin Ordynzews. Er strahlt. ›Was ist mit dir?‹ – ›Ich habe welche gefunden! Heureka!‹ – ›Na, Bruder, das setzt mich in Erstaunen! Wo denn? Wie denn?‹ – ›In Jekschaisk‹ (das war ein kleines Städtchen, zwanzig Werst entfernt, es lag nicht in unserm Kreis), ›da ist so ein bärtiger, reicher Kaufmann, namens Trepalow, der wohnt da mit seiner alten Frau, und statt der Kinder haben sie lauter Kanarienvögel. Die beiden sind große Blumenfreunde; der hat Kamelien.‹– ›Aber ich bitte dich, das ist doch eine sehr unsichere Sache; wenn er sie nun nicht hergibt?‹ – ›Ich werde auf die Knie fallen und mich vor seinen Füßen so lange umherwälzen, bis er sie mir gibt, ohne die Blumen weiche ich nicht vom Platze!‹ – ›Wann fährst du denn?‹ – ›Morgen ganz früh, um fünf 212 Uhr.‹ – ›Na, viel Glück!‹ Ich freute mich sehr für ihn, wissen Sie; ich kehrte zu Ordynzew zurück; es war schon zwei Uhr, aber die Geschichte ging mir gar nicht aus dem Kopf, wissen Sie. Ich wollte mich schon schlafen legen, da kommt mir plötzlich ein ganz origineller Gedanke! Ich schleiche mich unverzüglich in die Küche und wecke den Kutscher Sawelij: ›Fünfzehn Rubel, wenn du in einer halben Stunde angespannt hast!‹ In einer halben Stunde steht natürlich der Schlitten vor der Tür; Anfissa Alexejewna hatte, wie mir gesagt wurde, Migräne, sie fieberte und phantasierte. Ich steige ein und fahre los. Um fünf Uhr war ich in Jekschaisk in der Herberge; ich wartete, bis es hell wurde, und begab mich dann sofort um sieben Uhr zu Trepalow. ›Soundso, hast du Kamelien? Väterchen, teuerster Wohltäter, hilf mir, rette mich, ich verbeuge mich vor dir bis zum Erdboden!‹ Er war, wie ich sah, ein hochgewachsener, grauhaariger, finsterer alter Mann; ein furchtbar strenges Gesicht machte er. ›Nein, nein, unter keinen Umständen, das tu ich nicht!‹ Ich warf mich ihm batz! zu Füßen! Lang auf dem Boden streckte ich mich aus! ›Was tun Sie, mein Verehrtester, was tun Sie da?‹ rief er erschrocken. – ›Es handelt sich hier um ein Menschenleben!‹ schrie ich. – ›Wenn's so ist, dann nehmen Sie sie in Gottes Namen!‹ Da schnitt ich mir also rote Kamelien ab! Wundervolle, zauberhafte Blumen, er hatte ein ganzes kleines Treibhaus voll. Der Alte seufzte schwer dabei. Ich nehme hundert Rubel heraus. ›Nein, bester Herr, Sie werden mich doch nicht so kränken wollen.‹ – ›Nun, wenn's so steht, Verehrtester, so nehmen Sie diese hundert Rubel für das hiesige Krankenhaus zur Verbesserung der Unterkunft und Verpflegung!‹ – ›Das ist etwas anderes, lieber Herr!‹ sagte er. ›Das ist ein gutes, edles, gottgefälliges Werk; ich werde das Geld in Ihrem Namen abliefern.‹ Wissen Sie, er gefiel mir wirklich, dieser alte Russe, sozusagen ein Stockrusse, de la vraie souche. von echter Herkunft (frz.) Ganz entzückt, daß es mir so gut gelungen war, machte ich mich sogleich auf den Heimweg; wir fuhren in einem Bogen zurück, um Petja nicht zu begegnen. Als ich ankam, gab ich die Blumen ab, damit sie der Hausfrau gleich bei ihrem Erwachen überreicht würden. Sie können sich ihr Entzücken, ihre Dankbarkeit, ihre Tränen der Dankbarkeit vorstellen! Platon, der tags zuvor noch tiefunglücklich und halbtot gewesen war, Platon schluchzte nun an meiner Brust. So geht es ja leider allen Ehemännern seit der Erschaffung... der legitimen Ehe! Ich habe nichts weiter hinzuzufügen, als daß die Aussichten des armen Petja durch diesen Vorfall völlig zerstört waren. Ich dachte anfangs, er würde mich umbringen, sowie er den Hergang erführe, und traf für die Begegnung mit ihm schon alle Vorkehrungen, aber die Sache entwickelte sich in einer Weise, die ich nicht erwartet hatte: er fällt in Ohnmacht, am Abend phantasiert er, am nächsten Morgen hohes Fieber, er heult wie ein kleines Kind, bekommt Krämpfe. Als er einen Monat darauf wiederhergestellt war, ließ er sich nach dem Kaukasus versetzen; es wurde ein richtiger Roman! Schließlich fiel er auf der Krim. Damals war noch sein Bruder Stepan Worchowskoi Kommandeur des Regiments und zeichnete sich als solcher aus. Ich muß gestehen, ich habe noch viele Jahre nachher Gewissensbisse verspürt: warum, zu welchem Zweck habe ich so schlecht an ihm gehandelt? Wenn ich damals selbst verliebt gewesen wäre! Aber so; war es einfach ein dummer Streich, um einer Dame ein bißchen den Hof zu machen, weiter nichts. Und hätte ich ihm diesen Strauß nicht weggefischt, wer weiß, der Mensch lebte vielleicht heute noch und wäre glücklich und hätte es zu etwas gebracht und wäre nie auf den Gedanken gekommen, gegen die Türken zu ziehen.« Afanassij Iwanowitsch hörte jetzt mit derselben ruhigen Würde auf zu sprechen, mit der er seine Erzählung begonnen hatte. Man bemerkte, daß, als Afanassij Iwanowitsch schwieg, Nastasja Filippownas Augen in einer ganz besonderen Weise zu funkeln und sogar ihre Lippen zu zittern anfingen. Alle blickten die beiden gespannt an. »Sie haben Ferdyschtschenko geprellt! Nein, wie haben Sie mich geprellt! Das ist zu arg!« rief Ferdyschtschenko weinerlich, da er sich sagte, daß er jetzt eine Bemerkung machen könne und müsse. »Warum verstehen Sie Ihre Sache nicht besser? Lernen Sie jetzt von klugen Leuten!« versetzte ihm Darja Alexejewna in triumphierendem Ton. Sie war eine alte, treue Freundin Tozkijs und stand immer auf seiner Seite. »Sie haben recht, Afanassij Iwanowitsch, dieses Gesellschaftsspiel ist sehr langweilig, und wir müssen es so schnell wie möglich abbrechen«, sagte Nastasja Filippowna wegwerfend. »Ich werde nun noch selbst erzählen, was ich versprochen habe, und dann wollen wir Karten spielen.« »Aber vorher noch vor allen Dingen die versprochene Geschichte!« stimmte ihr der General eifrig bei. »Fürst«, wandte Nastasja Filippowna sich plötzlich in scharfem Ton an Myschkin, »meine alten Freunde hier, der General und Afanassij Iwanowitsch, wollen mich immer verheiraten. Sagen Sie mir, wie Sie darüber denken: soll ich heiraten oder nicht? Was Sie sagen, werde ich tun.« Afanassij Iwanowitsch wurde blaß, der General erstarrte, alle rissen die Augen auf und streckten die Köpfe vor. Ganja stand wie angewurzelt auf seinem Platz. »Mit ... mit wem?« fragte der Fürst mit fast versagender Stimme. »Mit Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin«, fuhr Nastasja Filippowna scharf, bestimmt und deutlich wie vorher fort. Es vergingen einige Sekunden des Schweigens; es schien, daß der Fürst mit aller Anstrengung zu reden versuchte, aber kein Wort herausbekam, als lastete ein furchtbarer Druck auf seiner Brust. »N-nein ... heiraten Sie ihn nicht!« flüsterte er endlich, er konnte nur mühsam atmen. »So soll es auch sein! Gawrila Ardalionowitsch!« wandte sie sich herrisch und gleichsam triumphierend an diesen, »haben Sie gehört, welche Entscheidung der Fürst gefällt hat? Nun, darin liegt zugleich auch meine Antwort; so soll denn diese Sache ein für allemal erledigt sein!« »Nastasja Filippowna!« sagte Afanassij Iwanowitsch mit zitternder Stimme. »Nastasja Filippowna!« rief auch der General in bittendem, aber erregtem Ton. Alle waren in Bewegung und Unruhe geraten. »Aber meine Herrschaften«, fuhr sie fort, indem sie ihre Gäste anscheinend sehr erstaunt ansah, »warum regen Sie sich denn so auf? Und was machen Sie alle für Gesichter?« »Aber ... erinnern Sie sich doch, Nastasja Filippowna«, murmelte Tozkij stotternd, »Sie haben uns doch das Versprechen gegeben ... ganz freiwillig ... und hätten doch auch etwas rücksichtsvoller verfahren können ... Es fällt mir schwer und ... gewiß, ich bin verwirrt, aber ... Mit einem Worte, jetzt in diesem Augenblick und in Gegenwart ... in Gegenwart so vieler Leute, und alles das so ... eine so ernste Sache durch ein Gesellschaftsspiel zu entscheiden, eine Sache, bei der es um die Ehre und das Herz geht ... von der so viel abhängt ...« »Ich verstehe Sie nicht, Afanassij Iwanowitsch, Sie sind wirklich ganz verwirrt. Erstens, was soll das heißen: ›in Gegenwart so vieler Leute‹? Befinden wir uns etwa nicht in einem schönen, vertrauten Kreise? Und warum sagen Sie: ›durch ein Gesellschaftsspiel‹? Ich beabsichtigte allerdings, auch meinerseits einen Beitrag zu liefern; das habe ich getan, war er etwa nicht hübsch? Und warum meinen Sie, daß es mir nicht ernst sei? Ist denn das nicht ernst? Sie haben gehört, daß ich zum Fürsten sagte: ›Was Sie sagen werden, das werde ich tun.‹ Hätte er nun ja gesagt, so hätte ich sofort meine Einwilligung gegeben, aber er hat nein gesagt, und daher habe ich mich geweigert; ist denn das etwa nicht ernst? Mein ganzes Leben hing hier an einem Haar; was kann es Ernsteres geben?« »Aber der Fürst! Was hat der Fürst damit zu tun? Was ist denn schließlich überhaupt dieser Fürst?« murmelte der General, der kaum mehr imstande war, seinen Unwillen darüber zu verbergen, daß dem Fürsten in einer sogar kränkenden Weise eine solche Autorität zuerkannt wurde. »Der Fürst ist für mich insofern von Wert, als er in meinem ganzen Leben der erste Mensch ist, dem ich wegen seiner aufrichtigen Ergebenheit habe Vertrauen schenken können. Er hat auf den ersten Blick an mich geglaubt, und ich glaube ihm.« »Es bleibt mir nur übrig, Nastasja Filippowna für das außerordentliche Zartgefühl zu danken, mit dem sie mich behandelt hat«, sagte Ganja endlich; er war ganz blaß, seine Stimme zitterte, seine Lippen verzogen sich krampfhaft. »Sie hat natürlich durchaus richtig gehandelt ... Aber ... der Fürst ... der Fürst wird dabei wohl ...« »Er wird dabei wohl nach den fünfundsiebzigtausend Rubeln trachten, nicht wahr?« unterbrach ihn Nastasja Filippowna. »Das wollten Sie doch sagen? Bestreiten Sie es nicht, das wollten Sie sicherlich sagen! Afanassij Iwanowitsch, ich vergaß hinzuzufügen: behalten Sie die fünfundsiebzigtausend Rubel, und erfahren Sie, daß ich Sie umsonst freilasse! Lassen wir es jetzt genug sein! Sie müssen doch auch endlich wieder frei atmen! Neun Jahre und drei Monate! Morgen beginnt für mich ein neues Leben, aber heute bin ich Geburtstagskind und meine eigene Herrin, zum erstenmal in meinem ganzen Leben! General, nehmen auch Sie Ihren Perlenschmuck zurück; schenken Sie ihn Ihrer Gemahlin, da ist er. Und morgen verlasse ich diese Wohnung für immer. Ich werde hier keine Abendgesellschaften mehr geben, meine Herren!« Nach diesen Worten erhob sie sich plötzlich, wie wenn sie weggehen wollte. »Nastasja Filippowna! Nastasja Filippowna!« ertönte es von allen Seiten. Alle waren in größter Aufregung und sprangen von ihren Plätzen auf, alle umringten sie, alle horchten mit Unruhe auf die abgerissenen, fieberhaften, leidenschaftlichen Sätze, die sie hervorstieß, alle hatten das Gefühl, daß da etwas nicht in Ordnung war, niemand vermochte daraus klug zu werden, niemand konnte die Sache begreifen. In diesem Augenblick ertönte plötzlich ein starkes, lautes Klingeln, genau wie einige Stunden vorher in Ganjas Wohnung. »A-a-ah! Da kommt die Entscheidung! Endlich! Um halb zwölf!« rief Nastasja Filippowna. »Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, meine Herren, das ist die Entscheidung!« Nachdem sie das gesagt hatte, setzte sie sich selbst hin. Ein seltsames Lächeln zitterte auf ihren Lippen. Sie saß schweigend da, in fieberhafter Erwartung, und blickte nach der Tür. »Es ist Rogoshin mit den hunderttausend Rubeln, kein Zweifel!« murmelte Ptizyn vor sich hin. XV Das Stubenmädchen Katja kam ganz erschrocken herein. »Da geht etwas ganz Tolles vor, Nastasja Filippowna, es sind etwa zehn Menschen eingedrungen, ganz betrunken, sie wollen vorgelassen werden, sie sagen, es sei Rogoshin, und Sie wüßten schon Bescheid.« »Es ist richtig, Katja, laß sie alle sogleich herein!« »Wirklich ... alle, Nastasja Filippowna? Die Leute sehen gar zu schlimm aus. Es ist schauderhaft!« »Laß sie nur alle herein, Katja, alle, fürchte dich nicht, alle ohne Ausnahme; sonst kommen sie ohne deine Erlaubnis herein. Da, was sie für einen Lärm machen, gerade wie schon einmal heute! Meine Herrschaften«, wandte sie sich an die Gäste, »Sie verübeln es mir vielleicht, daß ich in Ihrer Gegenwart eine solche Gesellschaft empfange? Ich bedaure es sehr und bitte um Verzeihung, aber es muß sein, und es wäre mir auch sehr erwünscht, wenn Sie alle einwilligten, bei dieser bevorstehenden Entscheidung meine Zeugen zu sein. Indessen, ganz wie es Ihnen beliebt ...« Die Gäste kamen aus dem Staunen nicht heraus, sie flüsterten und wechselten Blicke miteinander, aber es war ganz klar, daß dies alles vorher überlegt und vorher arrangiert war und daß Nastasja Filippowna, obgleich sie wirklich den Verstand verloren haben mochte, sich jetzt von ihrem Vorhaben nicht würde abbringen lassen. Alle waren außerordentlich gespannt. Überdies hatte niemand etwas Besonderes zu fürchten. Damen waren nur zwei anwesend: Darja Alexejewna, die gewandte Dame, die schon mancherlei in der Welt gesehen hatte und nicht leicht in Verlegenheit zu bringen war, und die schöne, aber schweigsame Unbekannte. Aber die schweigsame Unbekannte konnte fast nichts verstehen: sie war eine zugereiste Deutsche und konnte nicht Russisch; außerdem war sie, wie es schien, ebenso dumm, wie sie schön war. Sie war erst vor kurzem angekommen, aber es war schon üblich geworden, sie zu gewissen Abendgesellschaften einzuladen, bei denen sie dann in reichster Toilette und wie zu einer Ausstellung frisiert erschien und wie ein entzückendes Bild zur Verschönerung des Abends ihren Platz erhielt, gerade wie manche Leute sich für ihre Gesellschaften für einen Abend von Bekannten ein Gemälde, eine Vase, eine Statue oder einen Ofenschirm leihen. Was jedoch die Männer anlangte, so war Ptizyn mit Rogoshin befreundet; Ferdyschtschenko fühlte sich wie ein Fisch im Wasser; Ganjetschka konnte immer noch nicht recht zu sich kommen, indes empfand er dunkel ein unüberwindliches, glühendes Verlangen, bis zum Ende an seinem Schandpfahl auszuhalten; der alte Lehrer, der von den Vorgängen nur wenig verstand, weinte beinah und zitterte buchstäblich vor Furcht, da er bei den andern und Nastasja Filippowna, die er wie seine Enkelin vergötterte, eine so ungewöhnliche Aufregung wahrnahm; aber er wäre eher gestorben, als daß er sie in einem solchen Augenblick verlassen hätte. Was Afanassij Iwanowitsch betrifft, so durfte er sich allerdings bei solchen Affären nicht kompromittieren, aber er war an der Angelegenheit zu sehr interessiert, obwohl sie eine so sinnlose Wendung genommen hatte; auch hatte Nastasja Filippowna ein paar derartige, ihn betreffende Bemerkungen fallenlassen, daß er unmöglich gehen konnte, bevor die Sache vollständig aufgeklärt war. Er entschied sich dafür, bis zu Ende sitzen zu bleiben, nunmehr gänzlich zu schweigen und nur den Beobachter zu spielen, ein Verhalten, das auch seine Würde sicherlich verlangte. Nur für General Jepantschin, der schon soeben durch die so ungenierte, lächerliche Rückgabe seines Geschenkes gekränkt worden war, bestand die Möglichkeit, daß er durch alle diese seltsamen Exzentrizitäten oder auch durch Rogoshins Erscheinen noch weiter beleidigt wurde; auch hatte ein Mann wie er ohnehin schon eine zu weit gehende Herablassung gezeigt, indem er sich entschlossen hatte, sich neben einen Ptizyn und einen Ferdyschtschenko zu setzen, aber die Wirkung der Leidenschaft mußte doch endlich aufgehoben und überwogen werden durch das Gefühl der Pflicht, durch das Bewußtsein seines Ranges und seiner gesellschaftlichen Stellung sowie überhaupt durch die Selbstachtung, so daß ein Rogoshin mit seiner Gesellschaft jedenfalls in Gegenwart Seiner Exzellenz ein Ding der Unmöglichkeit war. »Ach, General«, unterbrach ihn Nastasja Filippowna sogleich, als er sich mit einer Erklärung dieser Art an sie wandte, »das hatte ich im Augenblick vergessen! Aber seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bedenken vorhergesehen habe. Wenn es Ihnen so peinlich ist, bestehe ich nicht darauf, daß Sie hierbleiben, und will Sie nicht zurückhalten, obwohl es mir höchst erwünscht sein würde, gerade Sie jetzt bei mir zu sehen. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Bekanntschaft und für die schmeichelhafte Aufmerksamkeit, die Sie mir erwiesen haben, aber wenn Sie fürchten ...« »Erlauben Sie, Nastasja Filippowna«, rief der General in einem Anfall von ritterlichem Edelmut, »zu wem reden Sie so? Schon allein aus Ergebenheit werde ich jetzt bei Ihnen bleiben, und wenn irgendwelche Gefahr bestehen sollte ... Außerdem muß ich bekennen, daß ich außerordentlich neugierig bin. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, daß diese Menschen möglicherweise die Teppiche verderben und etwas zerbrechen werden ... Meiner Ansicht nach sollten Sie sie überhaupt nicht hereinlassen, Nastasja Filippowna!« »Da ist Rogoshin selbst!« rief Ferdyschtschenko. »Wie denken Sie darüber, Afanassij Iwanowitsch?« flüsterte diesem der General schnell zu. »Ob sie nicht den Verstand verloren hat? Das heißt, nicht figürlich gesagt, sondern im eigentlichen medizinischen Sinne, wie?« »Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß sie von jeher dazu neigte«, flüsterte Afanassij Iwanowitsch schlau zurück. »Und dazu nun noch das Fieber ...« Rogoshins Gefolge wies fast denselben Bestand auf wie am Tage, hinzugekommen waren nur ein heruntergekommener alter Mann, der seinerzeit Redakteur eines bissigen Skandalblättchens gewesen war und von dem man sich das Geschichtchen erzählte, er habe seine in Gold gefaßten falschen Zähne versetzt und vertrunken, sowie ein verabschiedeter Leutnant, nach seinem Handwerk und seiner Bestimmung ein entschiedener Rivale und Konkurrent des schon am Tage anwesenden Herrn mit den Fäusten; niemand von Rogoshins übrigen Leuten kannte ihn, er war auf der Sonnenseite des Newskij Prospekts aufgelesen worden, wo er die Passanten anhielt und im Marlinskijschen Stil Marlinskij – Pseudonym von A. A. Bestushew, 1797–1837. Zunächst revolutionärer Schriftsteller, schrieb später in manieriertem und übertrieben pathetischem Stil. um eine Unterstützung bat, mit der schlauen Bemerkung, er selbst habe seinerzeit jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben. Die beiden Konkurrenten nahmen von vornherein eine feindliche Stellung gegeneinander ein. Der schon eher aufgetretene Herr mit den Fäusten hielt sich durch die Aufnahme des »Bittstellers« in die Gesellschaft geradezu für beleidigt, und da er von Natur schweigsam war, brummte er nur manchmal wie ein Bär und blickte mit tiefster Verachtung auf die Schmeicheleien und Scherze, mit denen sich der »Bittsteller«, der sich als eine weltmännische, diplomatische Persönlichkeit erwies, an ihn heranmachte. Seinem Äußern nach ließ der Leutnant erwarten, daß er »bei der Arbeit« mehr durch Geschicklichkeit und Gewandtheit als durch Kraft wirken werde, auch war er von kleinerer Statur als der Herr mit den Fäusten. Taktvoll, ohne in einen offenen Streit einzutreten, aber sehr ruhmredig, hatte er schon mehrmals auf die Vorzüge des englischen Boxens hingewiesen und sich als ein entschiedener Anhänger westeuropäischen Wesens zu erkennen gegeben. Der Herr mit den Fäusten hatte bei dem Wort »Boxen« nur geringschätzig und beleidigend gelächelt und seinerseits, ohne seinen Rivalen eines offenen Streites zu würdigen, zuweilen schweigend und anscheinend unbewußt ein durchaus nationales Naturprodukt gezeigt oder, richtiger gesagt, zum Anschauen vorgestreckt: eine gewaltige, sehnige, knorrige, mit einer Art von rötlichem Flaum bewachsene Faust, und es war allen klargeworden, daß, wenn dieses echt nationale Naturprodukt, ohne danebenzugehen, auf ein Lebewesen niederfiel, von diesem tatsächlich nur ein nasser Fleck übrigblieb. Im vollen Wortsinn »fertig« war ebenso wie am Tage auch diesmal keiner von ihnen; das war ein Erfolg der persönlichen Bemühungen Rogoshins, dem den ganzen Tag über sein Besuch bei Nastasja Filippowna als Ziel vor Augen geschwebt hatte. Er selbst war wieder fast ganz nüchtern geworden, aber dafür war er beinahe betäubt von all den Eindrücken, die ihm dieser seltsame, mit keinem seiner früheren Lebenstage vergleichbare Tag gebracht hatte. Nur eine Absicht hatte er jede Minute, jede Sekunde im Auge gehabt, im Gedächtnis behalten, im Herzen gehegt, und um dieses Eine auszuführen, hatte er die ganze Zeit von fünf Uhr nachmittags bis elf Uhr abends in größter Aufregung und Unruhe damit verbracht, mit Leuten wie Biskup und Kinder zu verhandeln, die gleichfalls fast den Verstand verloren hatten und in seinem Interesse wie die Besessenen umherrannten. Aber die hunderttausend Rubel in bar, auf die Nastasja Filippowna beiläufig, spöttisch und völlig unklar angespielt hatte, waren doch zusammengebracht worden, allerdings zu Prozenten, von denen sogar Biskup selbst schamhafterweise mit Kinder nicht laut, sondern nur flüsternd sprach. Rogoshin schritt wie am Tage auch jetzt an der Spitze aller einher, die übrigen gingen hinter ihm, zwar im vollen Bewußtsein ihrer Vorzüge, aber doch einigermaßen ängstlich. Hauptsächlich fürchteten sie sich, Gott weiß weshalb, vor Nastasja Filippowna. Manche von ihnen dachten sogar, man werde sie alle unverzüglich die Treppe hinunterwerfen. Zu denen, die solche Befürchtungen hegten, gehörte unter andern der Stutzer und Herzenbezwinger Saljoshew. Die andern aber, und ganz besonders der Herr mit den Fäusten, hegten, wenn sie es auch nicht laut aussprachen, doch in ihrem Herzen eine tiefe Verachtung, ja einen Haß gegen Nastasja Filippowna und gingen zu ihr, als ob sie gegen eine zu belagernde Stadt vorrückten. Aber die prachtvolle Einrichtung der ersten beiden Zimmer, die kostbaren Gegenstände, wie sie dergleichen nie gesehen hatten, ja nicht einmal vom Hörensagen kannten, die auserlesenen Möbel, die große Venusstatue, alles das rief bei ihnen eine gewisse Ehrfurcht, ja beinah Angst hervor. Das konnte sie aber natürlich alle nicht daran hindern, sich allmählich mit frecher Neugier trotz ihrer Angst hinter Rogoshin her in den Salon zu drängen; aber als der Herr mit den Fäusten, der »Bittsteller« und einige andere den General Jepantschin unter den Gästen bemerkten, wurden sie im ersten Augenblick dermaßen mutlos, daß sie sogar anfingen, sich sachte nach dem andern Zimmer zurückzuziehen. Nur Lebedew, der am meisten Mut und Selbstvertrauen besaß, ging beinah an Rogoshins Seite, denn er wußte, was es bedeutet, ein Kapital von einer Million und vierhunderttausend Rubeln im Besitz und hunderttausend augenblicklich in Händen zu haben. Es muß übrigens hervorgehoben werden, daß sie alle, sogar der sachverständige Lebedew nicht ausgenommen, sich über die Grenzen ihrer Macht einigermaßen im unklaren waren und nicht wußten, ob ihnen jetzt tatsächlich alles erlaubt sei oder nicht. Lebedew hätte in manchen Augenblicken darauf schwören mögen, daß sie jetzt alles wagen dürften, aber in andern empfand er ein unruhiges Bedürfnis, sich im stillen für alle Fälle an einige Paragraphen der Gesetzsammlung, und namentlich an solche ermutigenden und beruhigenden Inhalts, zu erinnern. Auf Rogoshin machte Nastasja Filippownas Salon den entgegengesetzten Eindruck wie auf alle seine Gefährten. Kaum hatte er die Portiere zurückgeschlagen und Nastasja Filippowna erblickt, als alles übrige für ihn zu existieren aufhörte, gerade wie am Morgen, sogar in noch höherem Grade als vorhin. Er wurde blaß und blieb einen Augenblick stehen; man konnte erraten, daß sein Herz furchtbar klopfte. Schüchtern und fassungslos sah er einige Sekunden lang Nastasja Filippowna mit unverwandten Blicken an. Auf einmal ging er, als wäre ihm alle Denkkraft abhanden gekommen, beinah schwankend an den Tisch heran; unterwegs stieß er an Ptizyns Stuhl und trat mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Spitzenbesatz des prachtvollen himmelblauen Kleides der schweigsamen, schönen Deutschen, aber er entschuldigte sich nicht und hatte es gar nicht bemerkt. Als er zum Tisch gelangt war, legte er einen sonderbaren Gegenstand darauf hin, den er beim Betreten des Salons in beiden Händen vor sich gehalten hatte. Es war ein großes Päckchen, drei Werschok in der Höhe und vier Werschok in der Länge, 1 Werschok = 4,45 cm. dicht und fest in eine Nummer der Börsennachrichten eingeschlagen und straff von allen Seiten und zweimal über Kreuz mit einem Bindfaden zusammengebunden, von der Art, wie man ihn zum Umschnüren von Zuckerhüten gebraucht. Dann stand er, ohne ein Wort zu sagen, mit herabhängenden Armen da, als erwartete er sein Urteil. Sein Anzug war ganz derselbe wie am Tage, nur hatte er jetzt ein ganz neues seidenes Tuch um den Hals, hellgrün mit Rot, ferner trug er eine große Brillantnadel, die einen Käfer darstellte, und an dem schmutzigen Ringfinger der rechten Hand einen massiven Brillantring. Lebedew ging nicht bis an den Tisch heran, sondern blieb in einer Entfernung von drei oder vier Schritten stehen; die übrigen, wie schon gesagt, sammelten sich allmählich im Salon. Katja und Pascha, die beiden Stubenmädchen Nastasja Filippownas, waren auch herbeigelaufen, um hinter den ein wenig aufgehobenen Portieren hervor mit tiefem Erstaunen und großer Angst zuzusehen. »Was ist das?« fragte Nastasja Filippowna, indem sie ihre Blicke unverwandt und neugierig auf Rogoshin richtete und mit den Augen auf das Päckchen hinwies. »Hunderttausend Rubel«, antwortete dieser fast flüsternd. »Ah, er hat also Wort gehalten! Na, so ein Mensch. Setzen Sie sich bitte, da, auf diesen Stuhl; ich werde Ihnen nachher etwas sagen. Wen haben Sie da bei sich? Das ist wohl die ganze Gesellschaft von vorhin? Nun, sie sollen hereinkommen und Platz nehmen, dort auf dem Sofa ist noch Platz, und da ist noch ein anderes Sofa. Da sind zwei Lehnsessel... Was haben die Leute nur? Sie wollen wohl nicht?« Manche waren in der Tat ganz verlegen geworden, zogen sich zurück und setzten sich im Nebenzimmer hin, um dort zu warten, manche aber blieben da und nahmen auf die Einladung hin Platz, aber möglichst fern vom Tisch und möglichst in den Ecken; die einen wünschten immer noch gewissermaßen zu verschwinden, die andern aber gewannen, je ferner sie saßen, um so mehr Mut, und zwar mit überraschender Geschwindigkeit. Rogoshin setzte sich ebenfalls auf den ihm angewiesenen Sessel, blieb aber nicht lange sitzen, er stand bald wieder auf und setzte sich dann nicht mehr hin. Allmählich begann er die Gäste zu unterscheiden und deutlicher zu sehen. Als er Ganja erblickte, lächelte er boshaft und flüsterte vor sich hin: »Sieh mal an!« Den General und Afanassij Iwanowitsch betrachtete er ohne Verlegenheit und sogar ohne besonderes Interesse. Aber als er neben Nastasja Filippowna den Fürsten bemerkte, vermochte er längere Zeit nicht seinen Blick von ihm loszureißen; er war äußerst erstaunt und anscheinend nicht imstande, sich dieses Zusammentreffen zu erklären. Man konnte vermuten, daß er sich zeitweilig in einem Zustande wirklicher Geistesverwirrung befand. Abgesehen von allen Erschütterungen, die ihm dieser Tag gebracht hatte, hatte er die ganze vorhergehende Nacht im Zuge verbracht und schon seit fast achtundvierzig Stunden nicht geschlafen. »Das sind hunderttausend Rubel, meine Herrschaften«, sagte Nastasja Filippowna, indem sie sich mit fieberhafter Ungeduld laut an alle Anwesenden wandte, »hier in diesem schmutzigen Päckchen. Heute am Tage schrie er wie ein Wahnsinniger, er werde mir am Abend hunderttausend Rubel bringen, und da habe ich denn immer auf ihn gewartet. Er hat mir nämlich ein Angebot gemacht: er fing mit achtzehntausend an, dann sprang er plötzlich auf vierzigtausend, und nun sind hier hunderttausend. Er hat Wort gehalten! O weh, wie blaß er aussieht!... Das passierte heute alles in Ganjas Wohnung, ich war hingekommen, um seine Mama zu besuchen, zu meiner künftigen Familie war ich gekommen, und da schrie mich seine Schwester an: ›Schafft denn niemand dieses schamlose Weib hinaus?‹ und ihrem Bruder Ganja spie sie ins Gesicht. Ein energisches Mädchen!« »Nastasja Filippowna!« rief der General vorwurfsvoll. Er begann die Sache ein wenig zu verstehen, wenigstens auf seine Art. »Was haben Sie denn, General? Das ist wohl unschicklich, nicht wahr? Wenn ich im Französischen Theater in meiner Loge wie eine unberührbare Tugend aus der Beletage gesessen und alle, die in diesen fünf Jahren hinter mir her waren, menschenscheu gemieden und mir das Aussehen einer stolzen Unschuld gegeben habe, so hat mich zu diesem Benehmen nur meine Dummheit gebracht! Da ist nun in Ihrer Gegenwart dieser Mensch nach den fünf Jahren der Unschuld hergekommen und hat hunderttausend auf den Tisch gelegt, und gewiß stehen schon die Troikas dieser Leute da und warten auf mich. Auf hunderttausend Rubel hat er mich taxiert. Ganja, ich sehe, du bist auf mich immer noch böse? Hast du mich denn wirklich in deine Familie einführen wollen? Mich, Rogoshins Eigentum! Was hat der Fürst vorhin gesagt?« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie Rogoshins Eigentum seien, das sind Sie auch nicht!« sagte der Fürst mit zitternder Stimme. »Nastasja Filippowna, laß es genug sein, Mütterchen, laß es genug sein, Täubchen!« mischte sich Darja Alexejewna ein, die sich nicht länger beherrschen konnte. »Wenn sie dir alle so zuwider geworden sind, was brauchst du dich denn um sie zu kümmern? Du wirst doch nicht etwa mit diesem Menschen davongehen wollen, und wenn er dir auch hunderttausend Rubel bietet! Es ist ja richtig: hunderttausend Rubel, das ist schon etwas! Nimm doch einfach die hunderttausend Rubel und jage ihn weg, so muß man es mit ihnen machen. Ach, ich würde sie an deiner Stelle alle ... was soll man sich mit denen aufhalten!« Darja Alexejewna war ordentlich zornig geworden. Sie war eine gute und sehr empfindsame Frau. »Sei nicht ärgerlich, Darja Alexejewna«, erwiderte Nastasja Filippowna lächelnd, »ich habe es ihm ja nicht im Zorn gesagt. Habe ich ihm denn einen Vorwurf gemacht? Es ist mir auch ganz unbegreiflich, wie ich habe auf den dummen Gedanken kommen können, in eine ehrenhafte Familie hineinzuheiraten. Ich habe seine Mutter gesehen und ihr die Hand geküßt. Und wenn ich dich vorhin verhöhnt habe, Ganja, so habe ich das absichtlich getan, um zum letztenmal zu sehen, wie weit du wohl zu gehen imstande wärest! Nun, du hast mich in Erstaunen versetzt, wahrhaftig! Ich hatte viel erwartet, aber das denn doch nicht! Konntest du dich denn wirklich dazu verstehen, mich zur Frau zu nehmen, obwohl du wußtest, daß der hier mir einen solchen Perlenschmuck ganz kurz vor deiner Hochzeit schenkt und ich ihn annehme? Und Rogoshin? Er hat ja in deiner Wohnung, in Gegenwart deiner Mutter und deiner Schwester, mir ein Angebot gemacht, und du bist doch trotz alledem hierhergekommen, um dich um meine Hand zu bewerben, und hättest beinah deine Schwester mitgebracht! Hat Rogoshin denn wirklich recht gehabt, als er von dir sagte, für drei Rubel würdest du auf allen vieren bis zur Wassilij-Insel kriechen?« »Er wird hinkriechen«, sagte Rogoshin plötzlich leise, aber im Ton festester Überzeugung. »Und wenn du noch nahe daran wärest, Hungers zu sterben! Aber du beziehst ja, wie es heißt, ein gutes Gehalt! Und zu alledem, ganz abgesehen von der Schande, wolltest du gar noch eine Frau, die du haßt, in dein Haus führen! (Denn du haßt mich, das weiß ich!) Nein, jetzt glaube ich, daß so ein Mensch für Geld einen Mord begeht! Es hat ja jetzt alle eine solche Gier erfaßt, es zieht sie so zum Gelde hin, daß sie wie Irrsinnige sind. So einer ist fast noch Kind und geht schon unter die Wucherer! Er bringt es fertig, Seide um ein Rasiermesser zu wickeln, damit es fest steht, und sachte von hinten seinem Freund wie einem Hammel den Hals abzuschneiden, wie ich das unlängst gelesen habe. Was bist du für ein schamloser Mensch! Ich bin ja schamlos, aber du bist noch weit ärger. Von dem Blumenspender dort will ich gar nicht reden...« »Sind Sie es wirklich, sind Sie es wirklich, Nastasja Filippowna?« rief der General und schlug in aufrichtigem Schmerz die Hände zusammen. »Sie, die Sie sonst so zartfühlend waren und so taktvoll redeten, und nun auf einmal! Welche Sprache, welche Ausdrücke!« »Ich bin jetzt betrunken, General«, erwiderte Nastasja Filippowna lachend, »ich will fidel sein! Heute ist mein Tag, mein Fest- und Feiertag, auf den ich schon lange gewartet habe. Darja Alexejewna, siehst du ihn, diesen Blumenschenker, diesen monsieur aux camélias? Kamelienherr (frz) Da sitzt er und lacht uns aus ...« »Ich lache nicht, Nastasja Filippowna, ich höre nur mit der größten Aufmerksamkeit zu«, entgegnete Tozkij mit würdiger Ruhe. »Warum habe ich ihn eigentlich fünf volle Jahre lang gequält und nicht von mir loskommen lassen? War er das denn wert? Er kann eben nicht anders sein, als er ist... Er wird noch behaupten, daß ich in seiner Schuld stehe: er hat mich ja erziehen lassen und mich wie eine Gräfin unterhalten, was ist da für Geld draufgegangen, und dann hat er schon dort einen anständigen Mann für mich ausgesucht und nun hier diesen Ganja. Und solltest du es glauben: ich habe diese fünf Jahre nicht mit ihm zusammen gelebt, aber das Geld von ihm angenommen und im Rechte zu sein gemeint! Ich war ja ganz wirr im Kopf geworden! Ich handelte nach deinem Grundsatz: ›Nimm die hunderttausend Rubel und jag den Geber weg, wenn er dir zuwider ist!‹ Daß er mir zuwider ist, stimmt... Ich hätte mich auch schon längst verheiraten können, und nicht nur mit Ganja, aber auch das war mir schon zuwider. Und warum habe ich meine fünf Jahre in dieser boshaften Stimmung verloren! Aber ob du es nun glaubst oder nicht: vor vier Jahren habe ich manchmal daran gedacht, ob ich nicht ganz einfach meinen Afanassij Iwanowitsch heiraten sollte. Dieser Gedanke kam mir damals nur aus Bosheit; was ging mir damals nicht alles durch den Kopf, aber ich hätte ihn dazu bringen können, wirklich! Er selbst hat es mir angeboten, ob du es nun glaubst oder nicht. Er meinte es ja nicht ehrlich, aber er ist gar zu lüstern und kann seine Begierden nicht unterdrücken. Aber dann überlegte ich mir Gott sei Dank: ist er es denn wert, daß ich um seinetwillen eine solche Schlechtigkeit begehe? Und er wurde mir damals plötzlich so zuwider, daß ich seitdem, auch wenn er mir selbst seine Hand antrüge, sie ablehnen würde. Und ganze fünf Jahre habe ich in dieser Art großgetan! Nein, das beste ist schon, ich gehe auf die Straße, wo ich ja auch hingehöre! Entweder will ich mit Rogoshin lustig leben oder gleich morgen Wäscherin werden! Denn Eigentum habe ich ja keines; ich werfe alles hin, das letzte Läppchen lasse ich hier, und wenn ich gar nichts mehr habe, wer nimmt mich dann zur Frau? Frag mal Ganja hier, ob er mich nehmen würde! Nicht mal Ferdyschtschenko würde mich nehmen!...« »Ferdyschtschenko würde Sie vielleicht nicht nehmen, Nastasja Filippowna, ich bin ein offenherziger Mensch«, unterbrach sie Ferdyschtschenko. »Aber dafür würde der Fürst Sie nehmen! Sie sitzen da und beklagen sich, sehen Sie doch einmal den Fürsten an! Ich beobachte ihn schon lange...« Nastasja Filippowna wandte sich neugierig zum Fürsten hin. »Ist das wahr?« fragte sie. »Ja, es ist wahr«, flüsterte der Fürst. »Sie nehmen mich so, wie ich bin, ohne alles?« »Ja, das tue ich, Nastasja Filippowna...« »Da haben wir ja eine neue Tollheit!« murmelte der General. »Das war zu erwarten!« Der Fürst schaute Nastasja Filippowna, die fortfuhr, ihn anzusehen, traurig, ernst und durchdringend ins Gesicht. »Da hat sich also noch einer gefunden!« sagte sie dann, indem sie sich wieder zu Darja Alexejewna wandte. »Und er tut es rein aus gutem Herzen, das weiß ich. Ich habe einen Wohltäter gefunden! Übrigens haben die Leute vielleicht recht, wenn sie von ihm sagen, daß er ... hm, na ja! Wovon wirst du denn leben, wenn du schon so verliebt bist, daß du, ein Fürst, Rogoshins Geliebte nehmen willst?« »Ich nehme Sie als ehrbare Frau, Nastasja Filippowna, und nicht als Rogoshins Geliebte«, antwortete der Fürst. »Ich bin also eine ehrbare Frau?« »Ja« »Nun, das hast du wohl... aus Romanen! Das sind altmodische Torheiten, liebster Fürst, aber jetzt ist die Weit klüger geworden, und all das ist jetzt Unsinn! Und wie wolltest du denn heiraten? Du brauchst ja selbst noch eine Kinderfrau!« Der Fürst stand auf und sagte mit zitternder, schüchterner Stimme, aber zugleich mit der Miene tiefster Überzeugung: »Ich weiß nichts von der Welt, Nastasja Filippowna, ich habe nichts von der Welt gesehen; darin haben Sie recht, aber ich... ich bin der Ansicht, daß Sie mir eine Ehre erweisen und nicht ich Ihnen. Ich bin ein Nichts, aber Sie haben gelitten und sind aus einer solchen Hölle rein hervorgegangen, und das ist etwas Großes. Warum schämen Sie sich also und wollen zu Rogoshin gehen? Das ist Fieber... Sie haben Herrn Tozkij die fünfundsiebzigtausend Rubel zurückgegeben und sagen, daß Sie auf alles, was hier ist, verzichten werden; dessen wäre keiner der hier Anwesenden fähig. Ich... ich liebe Sie, Nastasja Filippowna. Ich sterbe für Sie. Ich werde nicht dulden, daß jemand über Sie ein schlechtes Wort sagt. Wenn wir arm sein werden, so werde ich arbeiten, Nastasja Filippowna...« Bei den letzten Worten hörte man Ferdyschtschenko und Lebedew kichern, und selbst der General räusperte sich sehr mißvergnügt. Ptizyn und Tozkij konnten sich nicht enthalten zu lächeln, beherrschten sich aber noch. Die übrigen rissen geradezu den Mund auf vor Verwunderung. »...Aber vielleicht werden wir nicht arm sein, sondern sehr reich, Nastasja Filippowna«, fuhr der Fürst in demselben bescheidenen Ton fort. »Ich weiß es übrigens nicht bestimmt und bedaure, daß ich den ganzen Tag über bis jetzt darüber nichts habe erfahren können, aber ich habe in der Schweiz einen Brief aus Moskau von einem Herrn Salaskin erhalten, und er teilt mir mit, ich könne eine sehr große Erbschaft antreten. Hier ist der Brief...« Der Fürst zog wirklich einen Brief aus der Tasche. »Redet er denn irre?« murmelte der General. »Es ist ja hier das reine Narrenhaus!« Für einen Augenblick trat Stillschweigen ein. »Sie sagten ja wohl, Fürst, der Brief an Sie sei von Salaskin?« fragte Ptizyn. »Das ist ein in seinen Kreisen sehr bekannter Mann, ein bekannter Rechtsanwalt, und wenn er Ihnen das wirklich mitgeteilt hat, so können Sie sich vollständig darauf verlassen. Zum Glück kenne ich seine Handschrift, da ich erst kürzlich mit ihm geschäftlich zu tun hatte... Wenn Sie mir den Brief zur Einsicht geben wollten, so könnte ich Ihnen vielleicht etwas darüber sagen.« Mit zitternder Hand reichte ihm der Fürst schweigend den Brief hin. »Ja, was hat denn das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?« rief der General erstaunt und blickte alle wie ein Halbirrer an. »Hat er wirklich eine Erbschaft gemacht?« Alle richteten ihre Blicke auf Ptizyn, der den Brief las. Die allgemeine Neugier hatte einen neuen und außerordentlichen Anstoß erhalten. Ferdyschtschenko war außerstande, auf seinem Platze sitzen zu bleiben; Rogoshin machte ein verständnisloses, furchtbar beunruhigtes Gesicht und sah abwechselnd nach dem Fürsten und nach Ptizyn hin. Darja Alexejewna saß in gespannter Erwartung wie auf Nadeln. Selbst Lebedew vermochte sich nicht zu beherrschen, er kam aus seiner Ecke hervor und blickte, sich tief hinabbeugend, über Ptizyns Schulter in den Brief, mit der Miene eines Menschen, der darauf gefaßt ist, im nächsten Augenblick eine Ohrfeige zu erhalten. XVI »Die Sache hat ihre Richtigkeit«, erklärte Ptizyn endlich, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und dem Fürsten zurückgab. »Sie werden ohne alle Umstände auf Grund des unanfechtbaren Testaments Ihrer Tante ein sehr beträchtliches Kapital erhalten.« »Es ist unmöglich!« rief der General unwillkürlich. Alle sperrten den Mund auf. Sich vorzugsweise an Iwan Fjodorowitsch wendend, setzte Ptizyn die Sache folgendermaßen auseinander. Vor fünf Monaten sei eine Tante des Fürsten gestorben, die er nie persönlich gekannt habe, eine ältere Schwester seiner Mutter, die Tochter des Moskauer Kaufmanns dritter Gilde Papuschin, der Bankrott gemacht habe und in größter Armut gestorben sei. Aber der gleichfalls unlängst verstorbene ältere Bruder dieses Papuschin sei ein bekannter, reicher Kaufmann gewesen. Vor einem Jahre seien ihm fast in ein und demselben Monat seine beiden einzigen Söhne gestorben. Das habe der alte Mann sich so zu Herzen genommen, daß er bald darauf selbst erkrankt und gestorben sei. Er sei Witwer gewesen, und es seien absolut keine andern Erben dagewesen als die Tante des Fürsten, die Nichte Papuschins, eine sehr arme Frau, die bei fremden Leuten lebte. Zu der Zeit, als ihr diese Erbschaft zugefallen sei, habe diese Tante schon an Wassersucht todkrank gelegen, habe aber sofort Nachforschungen nach dem Fürsten anstellen lassen, womit Salaskin von ihr betraut worden sei, und vor ihrem Tode noch Zeit gehabt, ein Testament zu machen. Offenbar hätten weder der Fürst noch der Arzt, bei dem er in der Schweiz gewohnt habe, die amtliche Benachrichtigung abwarten oder Erkundigungen einziehen wollen, sondern der Fürst habe sich entschlossen, mit Salaskins Brief in der Tasche selbst nach Rußland zurückzukehren. »Ich kann Ihnen nur sagen«, schloß Ptizyn, sich an den Fürsten wendend, »daß alles das jedenfalls richtig und unangreifbar ist und daß Sie alles, was Ihnen Salaskin über die Unanfechtbarkeit und Gesetzlichkeit Ihrer Ansprüche schreibt, so ansehen können, als hätten Sie bereits das bare Geld in der Tasche. Ich gratuliere Ihnen, Fürst! Vielleicht erhalten Sie anderthalb Millionen, möglicherweise auch noch mehr, denn Papuschin war ein sehr reicher Kaufmann.« »Es lebe der letzte Fürst Myschkin!« brüllte Ferdyschtschenko. »Hurra!« schrie Lebedew mit seiner vom Trinken heiseren Stimme. »Und ich habe dem armen Schlucker heute noch fünfundzwanzig Rubel geliehen, hahaha! Das ist ja die reine Zaubervorstellung!« rief der General, der vor Erstaunen wie betäubt war. »Nun, ich gratuliere, ich gratuliere!« Er erhob sich von seinem Platz, ging zu dem Fürsten hin und umarmte ihn. Nach ihm standen auch die andern auf und drängten sich ebenfalls zu dem Fürsten heran. Sogar diejenigen, die sich hinter die Portiere zurückgezogen hatten, erschienen wieder im Salon. Ein buntes Stimmengetöse erhob sich, allerlei Ausrufe erschollen, man rief sogar nach Champagner, alles drängte und stieß sich, alle waren in geschäftiger Bewegung. Für einen Augenblick hatte man Nastasja Filippowna fast vergessen, und daß sie doch eigentlich bei ihrer Abendgesellschaft der Gastgeber war. Aber allmählich wurde es allen fast gleichzeitig wieder bewußt, daß der Fürst ihr soeben einen Heiratsantrag gemacht hatte. Die Sache erschien dadurch noch weit seltsamer und ungewöhnlicher als vorher. Tozkij zuckte in höchstem Erstaunen die Schultern; er war fast der einzige, der sitzen geblieben war, der ganze übrige Schwarm drängte sich unordentlich um den Tisch. Alle behaupteten später, von diesem Augenblick an hätte Nastasja Filippowna den Verstand verloren. Sie saß immer noch da und betrachtete eine Zeitlang alle mit einem sonderbaren, verwunderten Blick, wie wenn sie das alles nicht begriffe und sich Mühe gäbe, eine klare Vorstellung zu gewinnen. Dann wandte sie sich auf einmal zum Fürsten hin und sah ihn mit finster zusammengezogenen Brauen forschend an; indes dauerte das nur einen Augenblick, vielleicht hatte es ihr plötzlich geschienen, daß alles nur Scherz und Spott sei. Aber die Miene des Fürsten mußte sie vom Gegenteil überzeugen. Sie wurde nachdenklich; dann lächelte sie wieder, als wüßte sie selbst nicht recht, worüber eigentlich... »Also bin ich wirklich eine Fürstin!« flüsterte sie gewissermaßen spöttisch vor sich hin und lachte, als sie zufällig nach Darja Alexejewna hinblickte, laut auf. »Eine unerwartete Lösung!... Das... hätte ich nicht erwartet... Aber warum stehen Sie denn, meine Herren? Bitte, setzen Sie sich doch, und gratulieren Sie mir und dem Fürsten! Es hatte ja wohl jemand Champagner gewünscht; Ferdyschtschenko, gehen Sie doch einmal hin und bestellen Sie welchen! Katja, Pascha«, sagte sie zu ihren Dienstmädchen, die sie in diesem Augenblick an der Tür erblickte, »kommt her, ich werde heiraten, habt ihr es gehört? Den Fürsten, er besitzt anderthalb Millionen, er ist ein Fürst Myschkin und nimmt mich zur Frau!« »Gott gebe dazu seinen Segen, Mütterchen, es ist auch hohe Zeit! Das darfst du dir nicht entgehen lassen!« rief Darja Alexejewna, die durch diese Vorgänge tief erschüttert war. »Aber setzen Sie sich doch neben mich, Fürst«, fuhr Nastasja Filippowna fort. »So ist's recht, und da kommt auch der Wein. Nun, gratulieren Sie, meine Herrschaften!« »Hurra!« schrien viele Stimmen. Viele drängten sich zum Wein hin, darunter fast alle Begleiter Rogoshins. Aber obgleich sie bereitwillig schrien, so hatten doch viele von ihnen trotz der Seltsamkeit der Umstände und der Umgebung die Empfindung, daß sich ein Szenenwechsel vollzog. Andere waren verlegen und warteten mißtrauisch ab. Viele aber flüsterten einander zu, eigentlich sei an der Geschichte nichts Ungewöhnliches, was heirateten die Fürsten nicht oft für Frauen, manchmal nahmen sie sogar Weiber aus den Zigeunerlagern! Rogoshin stand da und sah alle diese Vorgänge mit an, sein Gesicht war zu einem starren, verständnislosen Lächeln verzogen. »Fürst, mein Bester, so komm doch zu dir!« flüsterte der General ganz entsetzt, indem er von der Seite an ihn herantrat und ihn am Ärmel zupfte. Nastasja Filippowna bemerkte es und lachte. »Nein, General! Ich bin jetzt selbst eine Fürstin, haben Sie es gehört: der Fürst wird mich von niemand beleidigen lassen! Afanassij Iwanowitsch, gratulieren Sie mir doch! Ich werde jetzt überall neben Ihrer Gemahlin sitzen dürfen, meinen Sie nicht, daß es vorteilhaft ist, einen solchen Mann zu haben? Anderthalb Millionen und dazu noch Fürst und überdies noch, wie es heißt, ein Idiot: was will man mehr? Jetzt fängt erst das wahre Leben an! Du bist zu spät gekommen, Rogoshin! Nimm dein Päckchen wieder weg, ich heirate den Fürsten und bin selbst reicher als du!« Aber jetzt hatte Rogoshin endlich begriffen, um was es sich handelte. Ein unsägliches Leid prägte sich auf seinem Gesicht aus. Er schlug die Hände zusammen, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. »Tritt zurück!« schrie er dem Fürsten zu. Ringsum wurde gelacht. »Er soll wohl zu deinen Gunsten zurücktreten?« fiel Darja Alexejewna triumphierend ein. »Seht doch, wie er das Geld auf den Tisch geworfen hat, der Bauer! Der Fürst wird sie zur Frau nehmen, du aber warst zu unsittlichen Zwecken hergekommen!« »Ich nehme sie auch zur Frau! Sofort nehme ich sie zur Frau, augenblicklich! Alles will ich hingeben...« »Seht doch, betrunken kommt der Mensch aus der Schenke hierher! Davonjagen sollte man dich!« schalt Darja Alexejewna empört weiter. Das Gelächter wurde noch stärker. »Hörst du, Fürst«, wandte sich Nastasja Filippowna an diesen, »was dieser Bauer deiner Braut für ein Angebot macht?« »Er ist betrunken«, erwiderte der Fürst, »er liebt Sie sehr.« »Wirst du dich auch später nicht schämen, daß deine Braut beinah mit Rogoshin weggefahren wäre?« »Sie fieberten, auch jetzt fiebern Sie und reden irre.« »Und wirst du dich nicht schämen, wenn die Leute später zu dir sagen werden, daß deine Frau früher Tozkijs Geliebte gewesen ist?« »Nein, ich werde mich nicht schämen. Sie waren nicht aus eigenem Willen bei Tozkij.« »Und wirst du mir nie einen Vorwurf deswegen machen?« »Nein, das werde ich nicht tun.« »Nun, sieh dich vor, für das ganze Leben kann man nicht garantieren.« »Nastasja Filippowna«, versetzte der Fürst leise und mitleidig, »ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß ich Ihr Jawort als eine Ehre für mich ansehe und daß Sie mir diese Ehre erweisen, nicht ich Ihnen. Sie haben dazu gelächelt, und ich habe gehört, daß auch um uns herum gelacht wurde. Ich habe mich vielleicht sehr lächerlich ausgedrückt und bin vielleicht auch selbst dabei lächerlich gewesen, aber es ist mir immer so vorgekommen, als ob ich... als ob ich verstünde, worin die Ehre besteht, und ich bin überzeugt, daß ich die Wahrheit gesagt habe. Sie wollten sich soeben zugrunde richten, sich unwiederbringlich zugrunde richten, denn Sie würden sich das später nie verzeihen, obwohl Sie keine Schuld trifft. Es ist unmöglich, daß Ihr Leben schon gänzlich zerstört sein sollte. Was hat es denn für eine Bedeutung, daß Rogoshin zu Ihnen gekommen ist und daß Gawrila Ardalionowitsch Sie hat betrügen wollen? Warum sprechen Sie beständig davon? Dessen, was Sie getan haben, sind nicht viele Menschen fähig, das wiederhole ich Ihnen, und was Ihren Entschluß, mit Rogoshin wegzufahren, anlangt, so haben Sie ihn in einem Anfall von Krankheit gefaßt. In einem solchen Anfall befinden Sie sich auch jetzt, und Sie täten am besten, zu Bett zu gehen. Sie würden schon morgen Wäscherin werden und nicht bei Rogoshin bleiben. Sie sind stolz, Nastasja Filippowna, aber vielleicht sind Sie schon in einem solchen Maße unglücklich, daß Sie sich wirklich für schuldig halten. Sie bedürfen vieler Pflege, Nastasja Filippowna, und ich werde Sie pflegen. Ich habe heute vormittag Ihr Bild gesehen, und es kam mir vor, als erkannte ich ein vertrautes Gesicht wieder. Ich hatte sofort eine Empfindung, als riefen Sie mich... Ich... ich werde Sie mein ganzes Leben lang achten, Nastasja Filippowna«, schloß der Fürst und errötete, als käme er auf einmal zur Besinnung und merkte, vor welchen Leuten er das sagte. Ptizyn hielt schamhaft den Kopf gesenkt und blickte auf den Fußboden. Tozkij dachte im stillen: ›Er ist ein Idiot, weiß aber instinktiv, daß man durch Schmeichelei am ehesten zum Ziel kommt!‹ Der Fürst bemerkte auch Ganjas funkelnden Blick aus der Ecke her, mit dem dieser ihn förmlich verbrennen zu wollen schien. »Nein, ist das ein guter Mensch!« rief Darja Alexejewna ganz gerührt. »Ein gebildeter Mensch, aber ein verlorener Mensch!« flüsterte der General halblaut. Tozkij nahm seinen Hut und schickte sich an aufzustehen, um still zu verschwinden. Er und der General wechselten Blicke miteinander, um zusammen fortzugehen. »Ich danke dir, Fürst, so hat bisher noch nie jemand mit mir gesprochen«, sagte Nastasja Filippowna. »Man hat mich immer kaufen wollen, aber zur Frau hat mich noch kein anständiger Mensch nehmen mögen. Haben Sie es gehört, Afanassij Iwanowitsch? Wie denken Sie über das, was der Fürst gesagt hat? Sie werden wohl meinen, es sei beinahe unschicklich... Rogoshin, warte du noch mit dem Fortgehen! Aber ich sehe, du willst ja auch noch gar nicht weg. Vielleicht komme ich doch noch mit dir mit. Wohin wolltest du mich denn bringen?« »Nach Jekaterinhof«, rapportierte Lebedew aus seiner Ecke, während Rogoshin nur zusammenfuhr und die Augen aufriß, als glaubte er falsch gehört zu haben. Er war ganz niedergedrückt, als hätte er einen furchtbaren Schlag über den Kopf erhalten. »Aber was redest du denn, was redest du denn, Mütterchen? Du leidest wirklich an Anfällen! Hast du denn ganz den Verstand verloren?« rief Darja Alexejewna erschrocken. »Hast du es denn im Ernst geglaubt?« erwiderte Nastasja Filippowna lachend und sprang vom Sofa auf. »Sollte ich denn ein solches Kind zugrunde richten? Da würde ich ja geradeso handeln wie Afanassij Iwanowitsch; das ist so ein Kinderfreund! Wir wollen fahren, Rogoshin! Halt dein Päckchen bereit! Daß du mich heiraten willst, macht gar nichts, das Geld gib mir aber trotzdem! Ich nehme dich jetzt vielleicht noch gar nicht. Hattest du gedacht, wenn du mich heiratetest, würdest du das Päckchen behalten können? Dummes Zeug! Ich kenne keine Scham! Ich bin Tozkijs Konkubine gewesen... Fürst, wen du jetzt nötig hast, das ist Aglaja Jepantschina und nicht Nastasja Filippowna, sonst kommt es noch dahin, daß Ferdyschtschenko mit Fingern auf dich weist! Du fürchtest dich nicht; aber ich würde mich fürchten, daß ich dich zugrunde richte und du es mir nachher vorwirfst! Und wenn du erklärst, ich erwiese dir eine Ehre, so weiß damit Tozkij Bescheid. Du aber, Ganja, hast Aglaja Jepantschina verpaßt: weißt du das wohl? Hättest du nicht mit ihr ein Geschäft machen wollen, so hätte sie dich bestimmt genommen! Ja, so seid ihr Männer alle, aber man muß sich für eins von beiden entscheiden: ob man mit unanständigen oder anständigen Frauen zu tun haben will. Sonst entsteht unfehlbar Verwirrung... Seht mal, der General starrt mich mit offenem Mund an...« »Das ist ja das reine Sodom, das reine Sodom«, wiederholte der General achselzuckend. Auch er stand jetzt vom Sofa auf, alle waren wieder auf den Beinen. Nastasja Filippowna schien sich in einem Zustand der Raserei zu befinden. »Ist es denn möglich?« stöhnte der Fürst händeringend. »Das hattest du wohl nicht erwartet? Ich besitze vielleicht auch selbst meinen Stolz, wenn ich auch ein schamloses Weib bin! Du hast mich vorhin eine vollkommene Frau genannt; eine schöne Vollkommenheit, die aus lauter Prahlerei, weil sie eine Million und eine Fürstenkrone in den Staub getreten hat, in die Spelunke geht! Wie kann ich unter solchen Umständen eine passende Frau für dich sein? Afanassij Iwanowitsch, ich habe tatsächlich eine Million zum Fenster hinausgeworfen! Wie haben Sie nur denken können, ich würde es für ein Glück halten, Ganja und Ihre fünfundsiebzigtausend Rubel zu heiraten! Behalte deine fünfundsiebzigtausend Rubel für dich, Afanassij Iwanowitsch (du bist nicht einmal bis auf hunderttausend gegangen; Rogoshin hat dich überboten!), und Ganja werde ich selbst zu trösten wissen, es ist mir da ein Gedanke gekommen. Jetzt aber will ich mich amüsieren, ich bin ja eine Straßendirne! Ich habe zehn Jahre lang im Gefängnis gesessen, jetzt kommt für mich die Zeit des Glücks! Nun, wie steht's, Rogoshin? Mach dich fertig; wir wollen fahren!« »Wir wollen fahren!« brüllte Rogoshin, fast rasend vor Freude. »Heda, ihr... Wein her! Oh, ach!« »Sorge nur für Wein, ich werde trinken! Wird auch Musik da sein?« »Gewiß, gewiß! Komm ihr nicht zu nah!« schrie Rogoshin wütend, als er sah, daß Darja Alexejewna sich Nastasja Filippowna nähern wollte. »Sie gehört mir! Alles gehört mir! Sie ist meine Königin! Ich habe es erreicht!« Er konnte vor Freude kaum atmen, er ging um Nastasja Filippowna herum und schrie allen zu: »Kommt ihr nicht zu nah!« Sein ganzes Gefolge war nun in den Salon eingedrungen. Die einen tranken, andere schrien und lachten, alle waren in höchst animierter, ungezwungener Stimmung. Ferdyschtschenko machte Versuche, sich ihnen anzuschließen. Der General und Tozkij schickten sich wieder an, möglichst bald zu verschwinden. Auch Ganja hatte den Hut in der Hand; aber er stand schweigend da und schien sich von dem Bild, das sich da vor seinen Augen entrollte, noch nicht losreißen zu können. »Kommt ihr nicht zu nah!« schrie Rogoshin. »Aber was brüllst du denn?« schalt ihn Nastasja Filippowna lachend. »Ich bin hier noch Gastgeber in meiner eigenen Wohnung; wenn ich will, kann ich dich immer noch mit Rippenstößen hinausjagen lassen. Noch habe ich das Geld von dir nicht angenommen, da liegt es; gib es her, das ganze Päckchen! Also in diesem Päckchen sind hunderttausend Rubel? Pfui, wie schmutzig es aussieht! Was hast du, Darja Alexejewna? Sollte ich ihn denn wirklich zugrunde richten?« (Sie wies auf den Fürsten.) »Wie kann er denn heiraten? Er braucht ja selbst noch eine Kinderfrau; der General dort, der wird nun seine Kinderfrau sein, sieh nur, wie er um ihn herumscharwenzelt! Schau her, Fürst, deine Braut hat das Geld genommen, weil sie eine Dirne ist, und du wolltest sie heiraten! Aber warum weinst du denn? Es ist dir wohl schmerzlich, wie? Aber meiner Ansicht nach solltest du lachen«, fuhr Nastasja Filippowna fort, der selbst zwei große Tränen auf den Wangen funkelten. »Vertraue auf die Zeit, es geht alles vorüber! Besser, man bedenkt das jetzt als später... Und warum weint ihr alle? Da, auch Katja weint! Was hast du, liebe Katja? Ich lasse dir und Pascha viel zurück, ich habe schon die nötigen Anordnungen getroffen, jetzt aber lebt wohl! Ich habe von dir, einem anständigen Mädchen, verlangt, daß du mich, eine Dirne, bedienen solltest ... Es ist besser so, Fürst, wirklich besser, du würdest mich später verachten, und es würde nicht unser Glück sein! Schwöre nicht! Ich glaube es nicht. Und wie dumm würde es auch sein! ... Nein, am besten scheiden wir voneinander als gute Freunde; auch ich bin ja eine Träumerin, es würde nichts Gutes dabei herauskommen! Habe ich nicht selbst von dir geträumt? Darin hast du recht, ich habe schon lange von dir geträumt, schon als ich bei ihm auf dem Dorfe fünf Jahre lang mutterseelenallein lebte; da denkt und denkt man manchmal und träumt und träumt, und da habe ich mir immer so einen Mann vorgestellt wie dich, einen guten, ehrenhaften, braven, ein bißchen dummen Mann, der auf einmal kommt und sagt: ›Sie tragen keine Schuld, Nastasja Filippowna, und ich vergöttere Sie!‹ Und ich versenkte mich manchmal so in meine Träumereien, daß ich fast den Verstand verlor ... Und da kam nun dieser Mensch hier: alle Jahre blieb er zwei Monate lang zu Besuch, entehrte, schändete, entflammte, verdarb mich und fuhr dann wieder davon. Tausendmal habe ich in den Teich springen wollen, aber ich war zu feige, mein Mut reichte dazu nicht aus. Nun, aber jetzt ... Rogoshin, bist du bereit?« »Alles bereit! Kommt ihr nicht zu nah!« »Alles bereit!« riefen mehrere Stimmen. »Die Troikas warten, mit Schellen!« Nastaja Filippowna nahm das Päckchen in die Hand. »Ganja, mir ist ein Gedanke gekommen: ich will dich entschädigen, denn warum solltest du alles verlieren? Rogoshin, wird er für drei Rubel bis nach der Wassilij-Insel kriechen?« »Jawohl, das wird er tun!« »Nun denn, so höre, Ganja, ich will zum letztenmal einen Blick in deine Seele tun; du hast mich ganze drei Monate lang gequält, jetzt ist die Reihe an mir. Du siehst dieses Päckchen, darin sind hunderttausend Rubel! Ich werde es jetzt gleich in den Kamin werfen, ins Feuer, hier vor aller Augen, alle Anwesenden sind Zeugen! Sobald das Feuer es ganz erfaßt haben wird, greife in den Kamin, aber ohne Handschuhe, mit bloßen Händen und aufgestreiften Ärmeln, und zieh das Päckchen aus dem Feuer! Wenn du es herausziehst, soll es dir gehören, die ganzen hunderttausend Rubel sollen dir gehören! Du wirst dir nur ein ganz klein bißchen die Fingerchen verbrennen, aber dafür bekommst du auch hunderttausend Rubel, bedenk das wohl! Das Herausholen ist ja in einem Augenblick ausgeführt! Ich aber will mich an dem Anblick deiner Seele erfreuen, wie du nach meinem Geld ins Feuer greifst. Alle sind Zeugen, daß das Päckchen dann dir gehört! Greifst du aber nicht hinein, so verbrennt es, ich werde keinen andern heranlassen. Weg da! Alle weg! Es ist mein Geld! Ich habe es von Rogoshin für eine Nacht bekommen. Gehört das Geld mir, Rogoshin?« »Dir gehört es, du meine Herzensfreude! Dir, du meine Königin!« »Nun, dann also alle weg! Was ich will, das tue ich auch! Suche mich keiner zu hindern! Ferdyschtschenko, schüren Sie das Feuer!« »Nastasja Filippowna, ich kann die Arme nicht heben!« erwiderte Ferdyschtschenko, der ganz benommen war. »Ach was!« rief Nastasja Filippowna, ergriff die Feuerzange, scharrte zwei schwelende Holzscheite auseinander und warf, sobald das Feuer lebhafter aufbrannte, das Päckchen hinein. Die Umstehenden stießen einen Schrei aus, viele bekreuzigten sich sogar. »Sie ist verrückt geworden! Sie ist verrückt geworden!« wurde ringsum gerufen. »Sollten wir ... sollten wir sie nicht binden?« flüsterte der General dem neben ihm stehenden Ptizyn zu. »Oder sollten wir nicht nach der Polizei schicken? ... Sie ist ja verrückt geworden, total verrückt.« »N-nein, das ist vielleicht gar nicht Verrücktheit«, flüsterte Ptizyn zurück, der bleich wie Leinwand geworden war, am ganzen Leibe zitterte und seine Augen von dem bereits schwelenden Päckchen nicht loszureißen vermochte. »Ist sie nicht verrückt? Ist sie nicht verrückt?« drang der General auf Tozkij ein. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie ein originelles Weib ist«, murmelte Afanassij Iwanowitsch, der ebenfalls etwas blaß geworden war. »Aber es sind ja doch hunderttausend Rubel! ...« »Herr Gott, Herr Gott!« wurde ringsumher gerufen. Alle umdrängten den Kamin, alle wollten sehen, alle schrien ... Manche stiegen sogar auf die Stühle, um über die Köpfe der andern hinwegsehen zu können. Darja Alexejewna stürzte ins Nebenzimmer und redete dort in ängstlichem Flüstertone mit Katja und Pascha. Die schöne Deutsche war davongelaufen. »Mütterchen, Königin, Großmächtige!« heulte Lebedew, der auf den Knien vor Nastasja Filippowna herumkroch und die Hände nach dem Kamin ausstreckte. »Hunderttausend, hunderttausend! Ich habe sie selbst gesehen, sie sind vor meinen Augen eingepackt worden. Mütterchen! Barmherzige! Erlaube mir, in den Kamin hineinzugreifen, ich will ganz und gar hineinkriechen, meinen ganzen grauen Kopf will ich ins Feuer hineinlegen! ... Ich habe ein krankes Weib, das nicht gehen kann, und dreizehn Kinder, für die keine Mutter sorgt, meinen Vater habe ich in der vorigen Woche begraben, wir haben nichts zu essen, Nastasja Filippowna!« Unter solchem Klagegeschrei wollte er schon zum Kamin hinkriechen. »Weg!« rief Nastasja Filippowna und stieß ihn fort. »Tretet alle auseinander! Ganja, was stehst du da? Schäm dich nicht, greif hinein! Es handelt sich um dein Glück!« Aber Ganja hatte schon zuviel an diesem Tage und Abend ertragen und war auf diese letzte, unerwartete Prüfung nicht vorbereitet. Die Menge trat nach beiden Seiten auseinander, und er blieb Auge in Auge mit Nastasja Filippowna stehen, drei Schritte von ihr entfernt. Sie stand dicht beim Kamin und wartete, ohne ihren brennenden, festen Blick von ihm abzuwenden. Ganja, in Frack und Handschuhen, den Hut in der Hand, stand, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Antwort zu geben, vor ihr, hatte die Arme gekreuzt und blickte ins Feuer. Ein irres Lächeln huschte über sein Gesicht, das totenblaß geworden war. Allerdings vermochte er die Augen nicht von dem Feuer und dem glimmenden Päckchen wegzuwenden, aber ein neues Gefühl schien in seine Seele Eingang gefunden zu haben, er hatte sich geschworen, diese Folter zu ertragen, er rührte sich nicht vom Flecke; nach einigen Augenblicken war es allen deutlich geworden, daß er zu dem Päckchen nicht hingehen würde, nicht hingehen wollte. »Paß auf, das Geld wird verbrennen, und man wird dich auslachen!« rief ihm Nastasja Filippowna zu. »Nachher wirst du dich aufhängen, ich scherze nicht!« Das Feuer, das anfangs zwischen den beiden schwelenden Holzscheiten aufgeflammt war, hatte, als das Päckchen darauf fiel und es niederdrückte, zunächst beinah erlöschen wollen. Aber eine kleine blaue Flamme klammerte sich noch unten an eine Ecke des darunterliegenden Scheites. Endlich leckte eine schmale, lange Feuerzunge auch an dem Päckchen, das Feuer blieb daran haften und lief an den Ecken am Papier in die Höhe, und plötzlich flammte das ganze Päckchen im Kamin auf, und eine helle Flamme schlug in die Höhe. Alle stöhnten auf. »Mütterchen!« heulte Lebedew immer noch und stürzte, wieder nach vorn, aber Rogoshin zog und stieß ihn von neuem hinweg. Rogoshin selbst hatte sich sozusagen ganz in einen einzigen starren Blick verwandelt. Er konnte sich von Nastasja Filippowna nicht losreißen, er berauschte sich an ihr, er war im siebenten Himmel. »Das ist eine Königin!« wiederholte er alle Augenblicke, indem er sich bald an diesen, bald an jenen der Umstehenden wandte. »Das ist einmal nach meinem Geschmack!« rief er ganz außer sich. »Na, wer von euch, ihr armseligen Gauner, ist eines solchen Streiches fähig, he?« Der Fürst beobachtete die Vorgänge traurig und schweigend. »Ich hole es für einen einzigen Tausender mit den Zähnen heraus!« erbot sich Ferdyschtschenko. »Ich täte es ebenfalls mit den Zähnen!« knirschte der ganz hinten stehende Herr mit den Fäusten in einem Anfall echter Verzweiflung. »Hol's der Teufel! Es brennt, es brennt vollständig!« schrie er, als er die Flamme sah. »Es brennt, es brennt!« riefen alle zugleich und stürzten fast alle ebenfalls zum Kamin hin. »Ganja, sei nicht eigensinnig, ich sage es zum letztenmal!« »Kriech hinein!« brüllte Ferdyschtschenko, indem er in voller Raserei zu Ganja hinstürzte und ihn am Ärmel riß. »Kriech hinein, du Narr! Es verbrennt! O du ver-r-rdammter Kerl!« Ganja stieß Ferdyschtschenko heftig von sich, drehte sich um und ging auf die Tür zu, aber er hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er schwankte und zu Boden stürzte. »Er ist ohnmächtig!« riefen die Umstehenden. »Mütterchen, es verbrennt!« heulte Lebedew. »Es verbrennt umsonst!« brüllte es von allen Seiten. »Katja, Pascha, bringt ihm Wasser und Spiritus!« befahl Nastasja Filippowna, ergriff die Feuerzange und holte das Päckchen heraus. Fast das ganze äußere Papier war angebrannt und glimmte, aber man konnte sofort sehen, daß der Inhalt heil geblieben war. Das Päckchen war in dreifaches Zeitungspapier eingeschlagen, und das Geld war unversehrt. Alle atmeten auf. »Höchstens ein Tausenderchen ist ein bißchen beschädigt, aber alle übrigen sind ganz«, sagte Lebedew gerührt. »Das ganze Geld gehört ihm! Das ganze Päckchen! Hören Sie, meine Herrschaften!« rief Nastasja Filippowna und legte das Päckchen neben Ganja hin. »Er hat sich doch beherrscht und ist nicht hingegangen! Also ist bei ihm das Ehrgefühl doch noch stärker als die Geldgier. Die Ohnmacht ist nicht gefährlich, er wird schon wieder zu sich kommen! Wenn ich es ihm nicht schenkte, würde er mich womöglich ermorden ... Da! er kommt schon wieder zur Besinnung. General, Iwan Petrowitsch, Darja Alexejewna, Katja, Pascha, Rogoshin, habt ihr es gehört? Das Päckchen gehört Ganja. Ich überlasse es ihm zu vollem Eigentum, als Entschädigung ... oder wie man es sonst nennen will! Sagt ihm das! Mag es da neben ihm liegenbleiben ... Vorwärts, Rogoshin! Leb wohl, Fürst, ich habe zum erstenmal einen Menschen gefunden! Leben Sie wohl, Afanassij Iwanowitsch, merci!« Rogoshins ganze Rotte eilte lärmend, polternd und schreiend hinter ihm und Nastasja Filippowna her durch die Zimmer dem Ausgang zu. Im Wohnzimmer reichten ihr die Mädchen den Pelz, die Köchin Marfa kam aus der Küche herbeigelaufen. Nastasja Filippowna küßte sie alle. »Aber wollen Sie uns denn wirklich ganz verlassen, Mütterchen? Und wohin gehen Sie denn? Und noch dazu am Geburtstag, an einem solchen Tage!« fragten die weinenden Mädchen, indem sie ihr die Hände küßten. »Ich gehe auf die Straße, Katja, du hast es ja gehört, da ist mein Platz; oder aber ich werde Wäscherin! Mit Afanassij Iwanowitsch bin ich fertig! Grüßt ihn von mir, und gedenkt meiner nicht im Bösen ...« Der Fürst eilte, so schnell er nur konnte, nach dem Portal zu, wo alle dabei waren, sich in vier mit Glöckchen behängte Troikas zu verteilen. Der General, der ihm nachlief, holte ihn noch auf der Treppe ein. »Ich bitte dich, Fürst, komm zur Besinnung!« sagte er und ergriff ihn bei der Hand. »Laß doch das Weib laufen! Du siehst ja, was sie für eine ist! Ich rede zu dir wie ein väterlicher Freund ...« Der Fürst sah ihn an, riß sich aber, ohne ein Wort zu sagen, los und lief nach unten. Am Portal, von dem die Troikas gerade abgefahren waren, sah der General noch, wie der Fürst die erste beste Droschke nahm und dem Kutscher zurief: »Nach Jekaterinhof, hinter den Troikas her!« Dann kam der mit einem grauen Traber bespannte Wagen des Generals vorgefahren und brachte den General nach Hause, mit neuen Hoffnungen und Plänen und mit dem Perlenschmuck, den der General doch nicht vergessen hatte mitzunehmen. Mitten in seinen Spekulationen tauchte auch Nastasja Filippownas verführerisches Bild ein paarmal vor seinem geistigen Auge auf, und er seufzte: »Schade, wirklich schade! Ein verlorenes Weib! Ein verrücktes Weib! Nun, der Fürst kann jetzt eine Nastasja Filippowna nicht brauchen ... Vielleicht ist es sogar gut, daß die Sache eine solche Wendung genommen hat.« In ähnlicher Weise widmeten noch zwei andere Gäste Nastasja Filippownas, die sich dafür entschieden hatten, eine Strecke zu Fuß zu gehen, ihr ein paar moralische Worte als Nachruf. »Wissen Sie, Afanassij Iwanowitsch, bei den Japanern soll es etwas Ähnliches geben«, sagte Iwan Petrowitsch Ptizyn. »Da geht, wie es heißt, der Beleidigte zu dem Beleidiger hin und sagt zu ihm: ›Du hast mich beleidigt, deshalb bin ich hergekommen, um mir vor deinen Augen den Bauch aufzuschlitzen‹, und mit diesen Worten schlitzt er sich wirklich vor den Augen des Beleidigers den Bauch auf und fühlt dabei wahrscheinlich eine außerordentliche Befriedigung, als habe er sich tatsächlich gerächt. Es gibt sonderbare Charaktere auf der Welt, Afanassij Iwanowitsch!« »Und Sie meinen, daß auch hier etwas Derartiges vorliegt?« erwiderte Afanassij Iwanowitsch lächelnd. »Hm! Sie sind sehr geistreich und haben einen sehr schönen Vergleich gebracht. Sie haben aber doch selbst gesehen, liebster Iwan Petrowitsch, daß ich alles getan habe, was in meinen Kräften stand; über die Grenze des Möglichen hinaus kann ich doch nichts tun, das müssen Sie selbst zugeben. Aber auf der anderen Seite werden Sie auch das zugeben müssen, daß diese Frau großartige Eigenschaften, herrliche Charakterzüge besitzt. Ich wollte ihr vorhin schon zurufen, wenn das in diesem Wirrwarr möglich gewesen wäre, daß sie selbst meine beste Rechtfertigung gegen ihre Anschuldigungen sei. Nun, ist es nicht erklärlich, wenn sich jemand von diesem Weibe so fesseln läßt, daß er Vernunft und alles vergißt? Sehen Sie, dieser Bauer, dieser Rogoshin, hat ihr hunderttausend Rubel angeschleppt gebracht! Alles, was sich da heute zugetragen hat, war allerdings unüberlegt, romantisch, unschicklich, aber dafür doch individuell und originell, das müssen Sie selbst zugeben. O Gott, wozu könnte sie es bei einem solchen Charakter und bei einer solchen Schönheit nicht bringen! Aber trotz aller Bemühungen von meiner Seite, ja trotz aller Bildung, die ihr zuteil geworden ist, ist nun doch alles zugrunde gegangen! Sie ist ein ungeschliffener Diamant, wie ich manchmal von ihr gesagt habe ...« Und Afanassij Iwanowitsch stieß einen tiefen Seufzer aus. Zweiter Teil I Zwei Tage nach den seltsamen Vorgängen auf Nastasja Filippownas Abendgesellschaft, mit denen wir den ersten Teil unserer Erzählung geschlossen haben, fuhr Fürst Myschkin eilig nach Moskau, um seine unerwartete Erbschaft in Empfang zu nehmen. Es hieß damals, seine eilige Abreise habe möglicherweise auch noch andere Ursachen gehabt, aber hierüber sowie über die Erlebnisse des Fürsten in Moskau und überhaupt während seiner Abwesenheit von Petersburg sind wir nur sehr weniges zu berichten imstande. Der Fürst blieb genau sechs Monate fort, und sogar diejenigen Leute, die einigen Grund hatten, sich für sein Schicksal zu interessieren, vermochten während dieser ganzen Zeit nur äußerst wenig über ihn in Erfahrung zu bringen. Manchen kamen allerdings, wenn auch nur sehr selten, gewisse Gerüchte zu Ohren, aber diese Gerüchte klangen großenteils recht seltsam und widersprachen einander fast immer. Am meisten interessierte man sich für den Fürsten natürlich im Jepantschinschen Hause, wo er bei seiner Abreise nicht einmal Zeit gefunden hatte, sich zu verabschieden. Der General war allerdings damals noch mit ihm zusammengekommen, sogar mehrere Male, und sie hatten miteinander ernste Gespräche geführt, aber von diesen Zusammenkünften machte Jepantschin seiner Familie keine Mitteilung. Und überhaupt wurde in der ersten Zeit, das heißt einen ganzen Monat nach der Abreise des Fürsten, im Jepantschinschen Hause nach stillschweigender Übereinkunft von ihm nicht gesprochen. Nur die Generalin Lisaweta Prokofjewna äußerte sich ganz am Anfange dieser Zeit dahin, sie habe sich in dem Fürsten grausam getäuscht. Und einige Tage darauf fügte sie, ohne jedoch den Fürsten zu nennen, sondern nur so im allgemeinen, hinzu, das wichtigste Charakteristikum ihres Lebens bestehe darin, daß sie sich fortwährend in den Menschen täusche. Und schließlich, nach weiteren zehn Tagen, erklärte sie, als sie sich aus irgendeinem Grunde über ihre Töchter geärgert hatte, nun sei es genug mit den Irrtümern, weitere werde sie nicht begehen. Außerdem war nicht zu verkennen, daß in diesem Hause lange Zeit eine recht unangenehme Stimmung herrschte. Es machte sich ein gewisser Druck, eine gewisse Gespanntheit bemerkbar, man sprach sich nicht ordentlich aus und neigte dazu, sich zu streiten, alle machten finstere Gesichter. Der General war Tag und Nacht beschäftigt und mit Arbeit überhäuft; man hatte ihn selten stärker von Geschäften in Anspruch genommen und tätiger gesehen, namentlich im Dienst. Seine Familie bekam ihn kaum noch zu Gesicht. Was die Jepantschinschen Mädchen anlangt, so hörte natürlich niemand ein lautes Wort von ihnen über das Vorgefallene, vielleicht sprachen sie sogar untereinander, wenn sie allein waren, nur sehr wenig darüber. Sie waren stolze, hochmütige Mädchen und sogar unter sich zuweilen sehr schamhaft; übrigens verstanden sie einander schon beim ersten Wort, ja sogar beim ersten Blick, so daß sie manchmal nicht nötig hatten, viel zu sagen. Nur auf eins hätte ein fremder Beobachter, wenn ein solcher dagewesen wäre, schließen können: daß, nach all den oben angeführten, wiewohl nicht zahlreichen Fakten zu urteilen, der Fürst doch einen besonderen Eindruck in der Jepantschinschen Familie gemacht haben mußte, obwohl er sich in ihr nur einmal und noch dazu nur flüchtig gezeigt hatte. Vielleicht beruhte dieser Eindruck einfach darauf, daß einige exzentrische Abenteuer des Fürsten die Neugier erregt hatten. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatte er einen starken Eindruck hinterlassen. Nach und nach versanken auch die Gerüchte, die sich zunächst in der Stadt verbreitet hatten, in das Dunkel der Ungewißheit. Man erzählte sich allerdings von einem närrischen jungen Fürsten (den Namen konnte niemand zuverlässig angeben), der auf einmal eine kolossale Erbschaft gemacht und eine zugereiste Französin, eine bekannte Cancantänzerin aus dem château des fleurs Schloß der Blumen (frz.) in Paris, geheiratet habe. Aber andere sagten, die Erbschaft habe vielmehr ein General gemacht, und derjenige, der die zugereiste Französin und berühmte Cancantänzerin geheiratet habe, sei ein enorm reicher russischer Kaufmann; dieser habe bei seiner Hochzeit aus reiner Prahlsucht in betrunkenem Zustand an einer Kerze siebenhunderttausend Rubel der letzten Prämienanleihe verbrannt. Aber alle diese Gerüchte verstummten sehr bald, wozu die Umstände sehr wesentlich mithalfen. So zum Beispiel hatte sich Rogoshins ganze Rotte, von der doch manche über das Geschehene allerlei hätten erzählen können, in geschlossenem Trupp mit ihm selbst an der Spitze nach Moskau begeben, eine Woche nach der schauderhaften Orgie in dem Vauxhall von Jekaterinhof, bei welcher auch Nastasja Filippowna zugegen gewesen war. Einige wenige, die sich für die Sache gar nicht einmal sonderlich interessierten, hatten gerüchtweise gehört, Nastasja Filippowna sei gleich am nächsten Tage nach jener Orgie in Jekaterinhof geflohen und verschwunden, und man habe endlich herausbekommen, daß sie sich nach Moskau begeben habe; sie fanden daher, daß auch Rogoshins Abreise nach Moskau mit diesem Gerücht im Einklang stehe. Auch speziell über Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, der gleichfalls in seinem Kreis eine recht bekannte Persönlichkeit war, begannen allerlei Gerüchte umzugehen. Aber auch mit ihm geschah etwas, wovon alles üble Gerede über ihn sehr bald nachließ und dann ganz aufhörte: er wurde sehr krank und konnte nirgends in der Gesellschaft erscheinen, ja nicht einmal im Dienst. Nachdem er einen Monat lang schwer leidend gewesen war, genas er wieder, gab aber seine Tätigkeit bei der Aktiengesellschaft aus nicht näher bekanntem Grund gänzlich auf, und ein anderer erhielt seine Stelle. Im Hause des Generals Jepantschin ließ er sich gleichfalls kein einziges Mal mehr blicken, so daß auch zum General ein anderer Beamter kommen mußte. Gawrila Ardalionowitschs Feinde hätten annehmen können, er schäme sich so sehr über alles, was mit ihm vorgegangen war, daß er sich nicht auf der Straße zeigen mochte, aber er kränkelte tatsächlich immer noch: er verfiel sogar in Hypochondrie und wurde melancholisch und nervös. Warwara Ardalionowna vermählte sich im selben Winter mit Ptizyn; alle Bekannten der beiden führten diese Eheschließung geradeswegs auf den Umstand zurück, daß Ganja nicht zu seiner Tätigkeit zurückkehren mochte und nicht nur aufgehört hatte, die Familie zu unterhalten, sondern sogar selbst der Hilfe, ja beinah der Pflege bedurfte. Wir müssen in Klammern hinzufügen, daß auch von Gawrila Ardalionowitsch im Jepantschinschen Hause nie mehr gesprochen wurde, als ob ein solcher Mensch nie im Hause verkehrt hätte, ja überhaupt nie auf der Welt gewesen wäre. Dabei hatten aber alle über ihn (und zwar sogar sehr bald) etwas sehr Merkwürdiges erfahren, nämlich folgendes: in eben jener für ihn so verhängnisvollen Nacht habe Ganja, als er nach dem unangenehmen Vorfall bei Nastasja Filippowna heimgekehrt war, sich nicht schlafen gelegt, sondern mit fieberhafter Ungeduld auf die Rückkehr des Fürsten gewartet. Der Fürst, der nach Jekaterinhof gefahren war, sei von dort um sechs Uhr morgens zurückgekehrt. Da sei Ganja zu ihm ins Zimmer gegangen und habe das angebrannte Geldpäckchen, das ihm Nastasja Filippowna während seiner Ohnmacht geschenkt hatte, vor ihm auf den Tisch gelegt. Er habe den Fürsten dringend gebeten, sobald sich eine Möglichkeit dazu biete, dieses Geschenk Nastasja Filippowna zurückzugeben. Als Ganja zum Fürsten hereingekommen sei, habe er sich in einer feindlichen und beinah verzweifelten Stimmung befunden, aber nachdem dann zwischen ihm und dem Fürsten einige Worte gewechselt worden seien, habe Ganja beim Fürsten zwei Stunden lang gesessen und die ganze Zeit über bitterlich geweint. Beide seien in aller Freundschaft voneinander geschieden. Diese Nachricht, die allen Mitgliedern der Familie Jepantschin zu Ohren gekommen war, erwies sich, wie sich in der Folgezeit bestätigte, als völlig richtig. Es war allerdings merkwürdig, daß derartige Nachrichten sich so schnell verbreiten und bekannt werden konnten; so wurde zum Beispiel alles, was in Nastasja Filippownas Wohnung vorgegangen war, in der Jepantschinschen Familie beinah schon am nächsten Tag bekannt, und zwar in ziemlich genauen Details. Hinsichtlich der Nachrichten über Gawrila Ardalionowitsch hätte man allerdings annehmen können, daß sie den Jepantschins von Warwara Ardalionowna zugetragen worden seien, die auf einmal bei den Fräulein Jepantschin aufgetaucht war und sogar sehr bald mit ihnen auf recht vertrauten Fuß stand, worüber sich Lisaweta Prokofjewna höchlichst wunderte. Aber obgleich Warwara Ardalionowna es aus irgendeinem Grunde für nötig hielt, mit den Fräulein Jepantschin in so nahe Beziehungen zu treten, so würde sie doch über ihren Bruder mit ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gesprochen haben. Sie war ebenfalls in ihrer Art recht stolz, obwohl sie an einer Stelle Freundschaft schloß, von wo ihr Bruder beinah weggejagt worden war. Auch früher schon war sie mit den Fräulein Jepantschin bekannt gewesen, aber sie hatten einander nur selten gesehen. Im Salon zeigte sie sich übrigens auch jetzt kaum, sondern benutzte, als wollte sie nur auf einen Augenblick vorsprechen, die Hintertreppe. Lisaweta Prokofjewna war ihr weder früher zugetan gewesen, noch war sie es jetzt, obwohl sie Nina Alexandrowna, Warwara Ardalionownas Mutter, sehr hochschätzte. Sie wunderte und ärgerte sich zugleich und schrieb die Freundschaft mit Warja den Launen und der Herrschsucht ihrer Töchter zu, die »sich immerzu etwas Neues ausdenken mußten, um ihr in die Quere zu kommen«. Warwara Ardalionowna jedoch setzte trotzdem sowohl vor als auch nach ihrer Verheiratung ihre Besuche bei ihnen fort. Aber es war nach der Abreise des Fürsten ungefähr ein Monat verflossen, da erhielt die Generalin Jepantschina einen Brief von der alten Fürstin Bjelokonskaja, die vierzehn Tage vorher nach Moskau zu ihrer ältesten dort verheirateten Tochter gefahren war, und dieser Brief übte eine starke Wirkung auf sie aus. Obwohl sie weder ihren Töchtern noch Iwan Fjodorowitsch etwas daraus mitteilte, merkten ihre Angehörigen doch an vielen Anzeichen, daß sie besonders animiert, ja aufgeregt war. Sie fing an, mit den Töchtern in einer ganz merkwürdigen Weise zu reden, immer über ganz ungewöhnliche Gegenstände; sie hatte offenbar die größte Lust, sich auszusprechen, bezwang sich aber aus irgendeinem Grunde. An dem Tage, an dem sie den Brief erhalten hatte, war sie gegen alle sehr zärtlich und küßte sogar Aglaja und Adelaida; es machte den Eindruck, als täte sie vor ihnen wegen irgend etwas Buße, aber weswegen eigentlich, das wurde ihnen nicht klar. Sogar gegen Iwan Fjodorowitsch, der bei ihr einen ganzen Monat lang in Ungnade gewesen war, wurde sie auf einmal nachsichtig. Natürlich ärgerte sie sich gleich am folgenden Tage furchtbar über ihre gestrige Sentimentalität und fand noch vor dem Mittagessen Zeit, sich mit allen zu zanken; aber gegen Abend hellte sich der Horizont wieder auf. Überhaupt befand sie sich die ganze folgende Woche über in recht guter Laune, was bei ihr schon lange nicht dagewesen war. Aber nach einer weiteren Woche traf von der Fürstin Bjelokonskaja ein zweiter Brief ein, und diesmal entschloß sich die Generalin dazu, sich auszusprechen. Sie erklärte feierlich, die alte Bjelokonskaja (anders bezeichnete sie die Fürstin niemals, wenn sie in Abwesenheit derselben von ihr sprach) habe ihr sehr tröstliche Nachrichten über diesen ... »Sonderling, na ja, über den Fürsten« zugehen lassen. Die Alte habe in Moskau Nachforschungen nach ihm angestellt, Erkundigungen über ihn eingezogen und sehr Gutes über ihn in Erfahrung gebracht; der Fürst habe sich schließlich auch bei ihr selbst eingefunden und auf sie einen sehr günstigen Eindruck gemacht. Das war auch daraus zu ersehen, daß sie ihn eingeladen hatte, sie täglich zwischen ein und zwei Uhr mittags zu besuchen, »und er kommt nun alle Tage zu ihr angelaufen, und sie ist seiner noch nicht überdrüssig geworden«, schloß die Generalin und fügte dann noch hinzu, durch Vermittelung »der Alten« habe der Fürst zu mehreren guten Familien Zutritt erhalten. »Das ist gut, daß er nicht immer zu Hause hockt und sich wie ein Dummkopf geniert.« Die jungen Mädchen, denen dies alles mitgeteilt wurde, merkten sofort, daß die Mama ihnen sehr vieles aus ihrem Brief vorenthielt. Vielleicht erfuhren sie das Fehlende durch Warwara Ardalionowna, die natürlich alles, was ihrem Mann über den Fürsten und dessen Aufenthalt in Moskau bekannt war, auch ihrerseits wissen konnte und wirklich wußte. Und Ptizyn konnte darüber allerdings mehr wissen als alle andern. Aber er war in geschäftlichen Dingen außerordentlich schweigsam, obwohl er seiner Frau selbstverständlich nichts vorenthielt. Die Abneigung der Generalin gegen Warwara Ardalionowna stieg dadurch noch mehr. Aber wie dem auch sein mochte, das Eis war einmal gebrochen, und es durfte nun wieder über den Fürsten laut gesprochen werden. Der ungewöhnliche Eindruck, den der Fürst im Jepantschinschen Hause gemacht, und das lebhafte Interesse, das er dort erregt und hinterlassen hatte, traten von neuem klar zutage. Die Generalin wunderte sich sogar über die starke Wirkung, die die Nachrichten aus Moskau auf ihre Töchter ausübten. Und die Töchter ihrerseits waren erstaunt über die Mama, die ihnen so feierlich erklärt hatte, das wichtigste Charakteristikum ihres Lebens bestehe darin, daß sie sich fortwährend in den Menschen täusche, und gleichzeitig den Fürsten der Aufmerksamkeit der »mächtigen« alten Fürstin Bjelokonskaja in Moskau empfohlen hatte, wozu doch ein gewaltiger Aufwand von Bitten und Beschwörungen nötig war, denn »die Alte« war in gewissen Fällen nur schwer in Bewegung zu setzen. Sowie aber einmal das Eis gebrochen war und ein neuer Wind wehte, beeilte sich auch der General auszusprechen, was er wußte. Es zeigte sich, daß auch er sich für den Fürsten lebhaft interessierte. Er machte den Seinigen übrigens nur über »die geschäftliche Seite der Angelegenheit« Mitteilung. Er habe, sagte er, im Interesse des Fürsten zwei sehr verläßliche und in ihrer Art einflußreiche Moskauer Herren beauftragt, ihn und besonders seinen Ratgeber Salaskin zu überwachen. Alles, was über die Erbschaft gesagt sei, das heißt »sozusagen das Faktum der Erbschaft«, habe sich als richtig erwiesen, aber die Erbschaft selbst stelle sich schließlich nicht als so bedeutend heraus, wie es anfangs verlautet habe. Das Vermögen stecke zur einen Hälfte in verwickelten Unternehmungen, es seien Schulden vorhanden, auch träten Prätendenten auf, und der Fürst verfahre trotz aller Ratschläge auf eine sehr wenig geschäftsmäßige Weise. Er, der General, wünsche ihm natürlich »von ganzem Herzen alles Gute«, jetzt, wo »das Eis des Schweigens« gebrochen sei, könne er das sagen, denn der junge Mann verdiene es, wenn er auch »ein bißchen soso« sei. Aber er mache doch dort arge Dummheiten: es hätten sich zum Beispiel Gläubiger des verstorbenen Kaufmanns mit anfechtbaren oder geradezu wertlosen Urkunden über ihre Ansprüche gemeldet, und andere, die von dem Fürsten Witterung bekommen hätten, ganz ohne solche Urkunden, und was habe der Fürst getan? Er habe sie fast alle befriedigt, obwohl ihm seine Freunde vorgestellt hätten, daß alle diese sauberen Patrone von Gläubigern keinerlei Rechtsansprüche besäßen, aber er habe sie dennoch befriedigt, einzig deshalb, weil sich herausgestellt habe, daß einige von ihnen tatsächlich Schaden erlitten hätten. Die Generalin erwiderte darauf, daß auch die Fürstin Bjelokonskaja an sie so etwas geschrieben habe und daß »das dumm, sehr dumm« sei. »Dummheit ist nicht heilbar«, fügte sie in scharfem Ton hinzu; aber man konnte es ihr am Gesicht ansehen, wie sehr sie sich doch innerlich über diese Handlungsweise des »Dummkopfes« freute. Aus allem merkte der General schließlich, daß seine Gemahlin an dem Fürsten wie an einem leiblichen Sohn Anteil nahm und daß sie sich gegen Aglaja außerordentlich zärtlich benahm; als Iwan Fjodorowitsch das sah, nahm er für einige Zeit eine sehr geschäftsmäßige Haltung an. Aber diese ganze angenehme Stimmung dauerte nicht lange. Kaum waren zwei Wochen vergangen, da trat auf einmal ein Umschlag ein; die Generalin machte wieder ein finsteres Gesicht, und der General fügte sich, nachdem er einige Male die Achseln gezuckt hatte, wieder in »das Eis des Schweigens«. Die Sache war die: vierzehn Tage vorher hatte er unterderhand eine zwar kurze und daher nicht ganz klare, aber doch zuverlässige Nachricht folgenden Inhalts erhalten: Nastasja Filippowna, die zuerst in Moskau verschwunden und dann in Moskau selbst von Rogoshin aufgefunden, dann wieder irgendwohin verschwunden und wieder von ihm aufgefunden sei, habe ihm endlich so gut wie fest versprochen, ihn zu heiraten. Und nun, nur vierzehn Tage später, erhielt Seine Exzellenz plötzlich eine andere Nachricht: Nastasja Filippowna sei zum drittenmal, fast vom Traualtar, davongelaufen und diesmal irgendwo in der Provinz untergetaucht, und gleichzeitig sei auch Fürst Myschkin aus Moskau verschwunden, nachdem er alle seine Angelegenheiten der Fürsorge Salaskins anvertraut habe. »Ob er mit ihr zusammen davongegangen oder ihr nur nachgelaufen ist, weiß man nicht; aber eins von beiden wird wohl der Fall sein«, schloß der General. Lisaweta Prokofjewna hatte ihrerseits ebenfalls unangenehme Nachrichten erhalten. Das Ende vom Lied war, daß zwei Monate nach der Abreise des Fürsten fast alle Gerüchte über ihn in Petersburg endgültig verstummt waren und im Jepantschinschen Hause »das Eis des Schweigens« nicht mehr gebrochen wurde. Warwara Ardalionowna setzte übrigens ihre Besuche bei den jungen Damen dennoch fort. Um nun mit all diesen Gerüchten und Nachrichten abzuschließen, fügen wir hinzu, daß bei Jepantschins zu Beginn dieses Frühjahrs sehr viele Umwälzungen vor sich gingen, so daß es leicht war, den Fürsten zu vergessen, der selbst nichts von sich hören ließ und vielleicht auch nichts von sich hören lassen wollte. Im Laufe des Winters war man allmählich zu dem Entschluß gelangt, im Sommer ins Ausland zu reisen, das heißt Lisaweta Prokofjewna und die Töchter sollten hinreisen; der General selbst konnte seine Zeit natürlich nicht zu »bloßen Zerstreuungen« vergeuden. Der Entschluß war auf die dringenden und beharrlichen Bitten der Töchter hin gefaßt worden, welche vollständig davon überzeugt waren, man wolle sie lediglich deswegen nicht ins Ausland bringen, weil die Eltern unaufhörlich mit der Sorge, sie zu verheiraten und Freier für sie zu suchen, beschäftigt seien. Vielleicht waren auch die Eltern schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß auch im Auslande Bewerber zu finden seien und daß eine Reise, die nur einen Sommer dauere, nichts verderbe, sondern am Ende sogar noch »förderlich sein« könne. An dieser Stelle scheint es angemessen, zu erwähnen, daß man von der früher in Aussicht genommenen Eheschließung zwischen Afanassij Iwanowitsch Tozkij und der ältesten Jepantschina vollständig abgekommen und ein formeller Antrag von seiner Seite nicht erfolgt war. Das hatte sich ganz von selbst so gemacht, ohne vieles Reden und ohne allen Kampf in der Familie. Seit der Abreise des Fürsten war von beiden Seiten alles auf einmal still darum geworden. Auch dieser Umstand trug mit zu der gedrückten Stimmung bei, die damals in der Familie Jepantschin herrschte, obwohl die Generalin sich dahin äußerte, sie sei jetzt so froh, daß sie sich mit beiden Händen bekreuzigen möchte. Obgleich der General in Ungnade war und fühlte, daß er das selbst verschuldet hatte, schmollte er doch längere Zeit; es tat ihm leid, daß Afanassij Iwanowitsch nicht sein Schwiegersohn wurde: »Ein solches Vermögen und ein so gewandter Mensch!« Nicht lange darauf erfuhr der General, daß Afanassij Iwanowitsch sich von einer zugereisten Französin habe fesseln lassen, die zur höheren Gesellschaft gehöre, Marquise und Legitimistin sei, daß die Eheschließung bevorstehe und daß sie ihren Gemahl dann nach Paris und später irgendwohin in die Bretagne entführen werde. »Na, mit der Französin wird er zugrunde gehen«, entschied der General. Also die Jepantschins machten sich bereit, zu Beginn des Sommers wegzureisen. Da trat plötzlich ein Ereignis ein, das von neuem alle Pläne umstieß, und die Reise wurde zur größten Freude des Generals und der Generalin wieder aufgeschoben. Es kam aus Moskau nach Petersburg ein Fürst, ein Fürst Schtsch., übrigens eine sehr bekannte Persönlichkeit, und zwar bekannt von der allerbesten Seite. Er war einer jener ehrenhaften, bescheidenen, tatfreudigen Männer, wie sie in der letzten Zeit häufiger geworden waren, jener Männer, die aufrichtig und bewußt das Nützliche erstreben, immer arbeiten und sich durch die seltene, glückliche Gabe auszeichnen, immer Arbeit für sich zu finden. Ohne sich vorzudrängen, ohne sich an dem erbitterten Gezänk und dem müßigen Gerede der Parteien zu beteiligen und ohne sich zu den Ersten zu rechnen, besaß der Fürst doch ein recht gründliches Verständnis für einen guten Teil der Entwicklung, die die letzte Zeit gebracht hatte. Er hatte früher ein Amt bekleidet und dann bei der ländlichen Selbstverwaltung mitgewirkt. Außerdem war er ein nützlicher Korrespondent mehrerer gelehrter russischer Gesellschaften. Im Verein mit einem bekannten Techniker hatte er durch das von ihm gesammelte statistische Material und die von ihm angestellten Untersuchungen bewirkt, daß eine der wichtigsten projektierten Eisenbahnen eine zweckmäßigere Richtung erhielt. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, gehörte zur »allervornehmsten Gesellschaft« und besaß außerdem ein »schönes, solides, sicheres« Vermögen, wie sich der General ausdrückte, der anläßlich einer sehr wichtigen geschäftlichen Angelegenheit mit dem Fürsten bei seinem Chef, dem Grafen, zusammengetroffen war und seine Bekanntschaft gemacht hatte. Der Fürst ging infolge einer gewissen besonderen Neugierde keiner Gelegenheit, mit russischen »Geschäftsleuten« bekannt zu werden, aus dem Wege. Es machte sich so, daß der Fürst auch mit der Familie des Generals bekannt wurde. Adelaida Iwanowna, die mittlere der drei Schwestern, machte auf ihn einen recht starken Eindruck. Zu Beginn des Frühlings hielt er um ihre Hand an. Der Freier gefiel sowohl ihr als auch ihrer Mutter recht gut. Der General war sehr erfreut. Selbstverständlich wurde die Reise verschoben. Die Hochzeit wurde für den Frühling in Aussicht genommen. Die Reise hätte übrigens auch noch in der Mitte oder gegen Ende des Sommers stattfinden können, wenn auch nur in Form eines ein- oder zweimonatigen Ausfluges der Mutter und der beiden ihr verbliebenen Töchter, um den Schmerz über Adelaidas Ausscheiden aus der Familie zu besänftigen. Aber es trat wieder ein neues Ereignis ein: schon zu Ende des Frühjahrs (Adelaidas Hochzeit hatte sich etwas verzögert und war nun auf die Mitte des Sommers angesetzt worden) führte Fürst Schtsch. bei der Jepantschinschen Familie einen entfernten Verwandten von sich ein, mit dem er aber sehr gut bekannt war. Es war dies ein gewisser Jewgenij Pawlowitsch R., ein noch sehr junger Mann, ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, Flügeladjutant, bildschön, von »vortrefflicher Herkunft«, geistreich, elegant, »ein Anhänger der neuen Ideen«, »hochgebildet« und unerhört reich. Hinsichtlich dieses letzten Punktes war der General immer sehr vorsichtig. Er zog Erkundigungen ein und äußerte dann: »Die Sache scheint sich tatsächlich so zu verhalten, indes ist doch noch weitere Bestätigung erforderlich.« Dieser junge Flügeladjutant, dem man eine »große Zukunft« prophezeite, erhielt noch eine besondere Empfehlung durch die Art, wie sich die alte Fürstin Bjelokonskaja in Moskau in ihren Briefen über ihn aussprach. Nur in einem Punkte war sein Ruf etwas bedenklich: er sollte mehrere Liebesverhältnisse gehabt und, wie behauptet wurde, mehrere »Siege« über unglückliche Herzen davongetragen haben. Nachdem er Aglaja gesehen hatte, wurde er in der Familie Jepantschin ein überaus häufiger Gast. Er hatte zwar noch nichts deutlich ausgesprochen, ja nicht einmal irgendwelche Andeutungen gemacht, aber die Eltern waren doch der Ansicht, man müsse für diesen Sommer den Plan einer Auslandsreise aufgeben. Aglaja selbst war vielleicht anderer Meinung. Dies begab sich, kurz bevor unser Held zum zweitenmal auf dem Schauplatz unserer Erzählung erschien. Zu dieser Zeit war, nach dem äußeren Scheine zu urteilen, der arme Fürst Myschkin in Petersburg bereits vollständig in Vergessenheit geraten. Wäre er jetzt auf einmal unter den Menschen, die ihn kannten, erschienen, so würden sie so überrascht gewesen sein, als ob er vom Himmel gefallen wäre. Aber wir wollen inzwischen von noch einem Ereignis Mitteilung machen und damit unsere Einleitung beschließen. Kolja Iwolgin setzte nach der Abreise des Fürsten anfangs sein früheres Leben fort, das heißt er ging ins Gymnasium, besuchte seinen Freund Ippolit, beaufsichtigte den General und half seiner Schwester Warja in der Wirtschaft, indem er Laufburschendienste verrichtete. Aber die Untermieter verschwanden schnell: Ferdyschtschenko zog drei Tage nach dem Vorfall in Nastasja Filippownas Wohnung aus und war sehr bald verschollen, so daß man von ihm überhaupt nichts mehr zu hören bekam; es hieß, daß er irgendwo trinke, aber es fehlte dafür die Bestätigung. Der Fürst reiste nach Moskau; so war es mit den Untermietern zu Ende. Als sich dann Warja verheiratete, zogen Nina Alexandrowna und Ganja mit ihr zusammen zu Ptizyn in das Ismailowskij Polk; Nach dem Ismailowskij-Regiment benannter Stadtteil in Petersburg. was aber den General Iwolgin anlangt, so begegnete ihm fast gleichzeitig etwas ganz Unvorhergesehenes: er wurde ins Schuldgefängnis gesetzt. Veranlaßt hatte dies seine Freundin, die Hauptmannsfrau, auf Grund der Schuldscheine, die er ihr zu verschiedenen Zeiten im Gesamtbetrag von etwa zweitausend Rubeln gegeben hatte. Das war für ihn eine vollständige Überraschung, und der arme General war nun »entschieden ein Opfer seines zu weit gehenden Glaubens an den Edelmut des menschlichen Herzens, allgemein gesagt«. Da er sich gewöhnt hatte, Schuldscheine und Wechsel zu unterschreiben, ohne sich im geringsten darüber zu beunruhigen, so hatte er gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß solche Urkunden jemals wirksam werden könnten, sondern immer gemeint, das sei nur so eine Form. Nun stellte sich heraus, daß es nicht nur so eine Form war. »Und da soll man sich nun noch auf Menschen verlassen und edelmütig Vertrauen schenken!« rief er bekümmert aus, als er mit seinen neuen Freunden im Tarassowschen Hause bei einer Flasche Wein saß und ihnen seine Geschichten von der Belagerung von Kars und dem auferstandenen Soldaten erzählte. Er führte dort übrigens ein höchst angenehmes Leben. Ptizyn und Warja sagten, daß das für ihn ganz der richtige Ort sei, und Ganja stimmte ihnen völlig bei. Nur die arme Nina Alexandrowna weinte im stillen bitterlich, worüber ihre Angehörigen sehr verwundert waren, und obwohl sie fortwährend kränkelte, schleppte sie sich doch, sooft sie nur konnte, nach dem Schuldgefängnis, um ihren Mann zu besuchen. Aber seit dem »Zwischenfall mit dem General«, wie Kolja sich ausdrückte, und überhaupt seit der Verheiratung seiner Schwester hatte sich Kolja fast gänzlich von der Oberherrschaft seiner Angehörigen frei gemacht, und es war so weit gekommen, daß er in der letzten Zeit nur noch selten bei der Familie erschien und dort übernachtete. Gerüchten zufolge hatte er eine Menge neuer Bekanntschaften angeknüpft; außerdem war er im Schuldgefängnis eine sehr bekannte Erscheinung geworden. Nina Alexandrowna konnte dort ohne ihn gar nicht mit ihrem Manne zurechtkommen. Zu Hause aber belästigte man ihn jetzt nicht einmal mit neugierigen Fragen. Warja, die früher so streng mit ihm verfahren war, unterwarf ihn jetzt nicht dem geringsten Verhör über seine Wanderungen, und Ganja redete und verkehrte zur großen Verwunderung seiner Angehörigen manchmal trotz seiner Hypochondrie mit ihm ganz freundschaftlich, was früher nie geschehen war, da der sechsundzwanzigjährige Ganja natürlich seinem fünfzehnjährigen Bruder nicht die geringste freundschaftliche Beachtung geschenkt, ihn grob behandelt, auch von allen anderen Angehörigen nur Strenge gegen ihn verlangt und beständig gedroht hatte, »ihn bei den Ohren zu nehmen«, wodurch bei Kolja »der letzte Rest menschlicher Geduld erschöpft wurde«. Man konnte glauben, daß Ganja seinen Bruder Kolja jetzt manchmal geradezu nötig hatte. Diesem hatte es nicht wenig imponiert, daß Ganja damals das Geld zurückgegeben hatte, und er war bereit, ihm dafür vieles zu verzeihen. Es waren nun drei Monate seit der Abreise des Fürsten vergangen, da hörte man in der Familie Iwolgin, daß Kolja auf einmal mit Jepantschins bekannt geworden sei und von den jungen Mädchen stets sehr freundlich aufgenommen werde. Warja hatte dies bald erfahren; übrigens war Kolja nicht durch Warja dort bekannt geworden, sondern »ganz auf eigene Faust«. Allmählich hatte man ihn bei Jepantschins liebgewonnen. Die Generalin war ihm anfänglich nicht sehr zugetan gewesen, hatte dann aber bald an ihm Geschmack gefunden »wegen seiner Offenherzigkeit, und weil er nicht schmeichelte«. Daß Kolja nicht schmeichelte, war durchaus richtig, er verstand es, mit ihnen auf völlig gleichem Fuß und unter Wahrung seiner Unabhängigkeit zu verkehren, obwohl er der Generalin manchmal Bücher und Zeitungen vorlas, – aber er war immer äußerst dienstfertig. Ein paarmal verzankte er sich heftig mit Lisaweta Prokofjewna und erklärte ihr, sie sei eine Despotin und er werde keinen Fuß mehr in ihr Haus setzen. Das erstemal war der Streit wegen der »Frauenfrage« entstanden und das zweitemal wegen der Frage, welche Jahreszeit zum Zeisigfang die geeignetste sei. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber die Generalin schickte ihm am dritten Tage nach dem Streit durch einen Diener ein Briefchen zu, in dem sie ihn dringend bat, wieder hinzukommen; Kolja sträubte sich nicht, sondern stellte sich sofort ein. Nur Aglaja zeigte sich ihm aus einem nicht recht verständlichen Grund dauernd nicht wohlgeneigt und behandelte ihn sehr von oben herab. Und doch sollte er gerade sie in Erstaunen versetzen. Eines Tages – es war in der Osterzeit – paßte Kolja einen Augenblick ab, wo er mit Aglaja allein war, und übergab ihr einen Brief, wobei er nur bemerkte, er sei angewiesen, ihn ihr unter vier Augen zuzustellen. Aglaja warf dem »eingebildeten Jungen« einen strengen Blick zu, aber Kolja wartete Weiteres nicht ab und ging hinaus. Sie öffnete den Brief und las: »Sie haben mich früher einmal Ihres Vertrauens gewürdigt. Vielleicht haben Sie mich jetzt ganz vergessen. Wie kommt es, daß ich an Sie schreibe? Ich weiß es nicht, aber es wurde in mir ein unüberwindliches Verlangen rege, mich Ihnen, gerade Ihnen, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie oft hatte ich Sie alle drei dringend nötig, aber ich sah von Ihnen allen dreien immer nur Sie allein. Ich habe Sie nötig, dringend nötig. Von mir selbst habe ich Ihnen nichts zu schreiben und nichts zu erzählen. Das war auch gar nicht meine Absicht; ich wünsche nur von ganzem Herzen, daß Sie glücklich sein möchten. Sind Sie glücklich? Nur das wollte ich Ihnen sagen. Ihr Bruder Fürst L. Myschkin.« Als Aglaja diesen kurzen und recht sinnlosen Brief las, wurde sie plötzlich dunkelrot und versank in Nachdenken. Es würde uns schwer sein, den Gang ihrer Gedanken aufzuzeichnen. Unter anderm fragte sie sich: ›Soll ich den Brief jemandem zeigen?‹ Sie schämte sich gewissermaßen. Schließlich warf sie den Brief mit einem sonderbaren, spöttischen Lächeln in den Schubkasten ihres Nähtisches. Am folgenden Tage nahm sie ihn wieder heraus und legte ihn in ein dickes, stark in Halbfranz gebundenes Buch (so machte sie es immer mit ihren Briefschaften, um sie recht schnell zu finden, sobald sie sie gebrauchte). Erst eine Woche darauf sah sie zufällig, was es eigentlich für ein Buch war, in dem dieser Brief lag. Es war der »Don Quijote de la Mancha«. Aglaja lachte laut auf; es ist schwer zu sagen, warum. Auch wissen wir nicht, ob sie den Brief einer ihrer Schwestern zeigte. Aber gleich bei der Lektüre des Briefes war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen: ›Hat sich denn wirklich der Fürst diesen eingebildeten, großtuerischen Jungen dazu ausersehen, mit ihm Briefe zu wechseln, und ist dieser Junge vielleicht am Ende gar der einzige Mensch, mit dem der Fürst hier in Korrespondenz steht?‹ So setzte sie denn eine sehr geringschätzige Miene auf und unterwarf Kolja einem Verhör. Aber der sonst immer sehr empfindliche »Junge« beachtete diesmal ihre Geringschätzung nicht im mindesten; sehr kurz und in recht trockenem Tone erklärte er der Fragerin, er habe zwar bei der Abreise des Fürsten von Petersburg diesem für alle Fälle seine ständige Adresse mitgeteilt und ihm dabei seine Dienste angeboten; aber dies sei der erste Auftrag, den er von ihm empfangen habe, und das erste Schreiben an ihn, und zum Beweise der Wahrheit des Gesagten zeigte er ihr auch den Brief, den er selbst von dem Fürsten erhalten hatte. Aglaja machte sich kein Gewissen daraus, ihn zu lesen. In diesem Briefe an Kolja stand: »Lieber Kolja, seien Sie so gut, den hier beiliegenden Brief an Aglaja Iwanowna abzugeben. Lassen Sie sich's gut gehen. Ihr Sie liebender Fürst L. Myschkin.« »Es ist doch komisch, daß er sich einen solchen Knirps zum Vertrauten aussucht«, bemerkte Aglaja in beleidigendem Ton, gab Kolja den Brief zurück und ging verächtlich an ihm vorbei. Das war nun doch mehr, als Kolja ertragen konnte. Und er hatte noch gerade für diesen Besuch seinen Bruder Ganja, ohne ihm den Grund zu erklären, gebeten, ob er nicht dessen noch ganz neue grüne Krawatte umbinden dürfe! Er fühlte sich bitter gekränkt. II Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna wurde auf einmal unruhig und drängte zum Aufbruch; nach kaum zwei Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um. Einen oder zwei Tage nach dem Umzug der Familie Jepantschin traf Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin mit dem Morgenzug aus Moskau ein. Es war niemand zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen, aber beim Aussteigen aus dem Waggon kam es ihm auf einmal so vor, als ob aus der Menge, die die mit dem Zug Angekommenen umdrängte, der seltsame, brennende Blick zweier Augen auf ihn gerichtet sei. Als er jedoch aufmerksamer hinschaute, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Gewiß war es ihm nur so vorgekommen, aber es blieb doch bei ihm eine unangenehme Empfindung zurück. Zudem war der Fürst auch ohnedies traurig und nachdenklich und schien aus irgendeinem Grund in Sorge zu sein. Ein Droschkenkutscher fuhr ihn nach einem Gasthof in der Litejnaja-Straße. Das Gasthaus war sehr ärmlich. Der Fürst erhielt zwei kleine, dunkle, schlecht möblierte Zimmer, wusch sich und kleidete sich um; dann ging er, ohne etwas zu genießen, eilig aus, wie wenn er Zeit zu verlieren oder jemanden nicht zu Hause anzutreffen fürchtete. Wenn einer von den Leuten, die ihn vor einem halben Jahre bei seinem ersten Aufenthalt in Petersburg kennengelernt hatten, ihn jetzt gesehen hätte, so würde er vielleicht gefunden haben, daß sein Äußeres sich sehr vorteilhaft verändert habe. Und doch war das kaum der Fall. Nur die Kleidung war völlig anders geworden: er trug jetzt einen in Moskau von einem guten Schneider gearbeiteten Anzug, aber dieser Anzug hatte einen Fehler: er war gar zu sehr nach der Mode angefertigt (wie das gewissenhafte, aber nicht sehr talentvolle Schneider immer machen) und noch dazu für einen Menschen, der darauf nicht den geringsten Wert legte, so daß ein besonders Lachlustiger bei einem aufmerksamen Blick auf den Fürsten vielleicht Anlaß gefunden hätte zu lächeln. Aber was kommt den Leuten nicht alles lächerlich vor! Der Fürst nahm eine Droschke und fuhr nach den Peski. In einer der Roshdestwenskij-Straßen fand er bald ein kleines Holzhäuschen. Zu seiner Verwunderung präsentierte sich dieses Häuschen äußerlich recht hübsch: es war sauber, gut in Ordnung gehalten und hatte einen Vorgarten, in dem Blumen wuchsen. Die Fenster nach der Straße zu waren geöffnet, und aus ihnen hörte man ein lautes, unaufhörliches Sprechen, ja fast ein Schreien, wie wenn jemand laut las oder eine Rede hielt; ab und zu wurde diese Stimme durch das Lachen mehrerer anderer heller Stimmen unterbrochen. Der Fürst ging in den Hof, stieg ein paar Stufen hinan und fragte nach Herrn Lebedew. »Da ist er«, antwortete die Köchin, die die Tür geöffnet hatte. Sie hatte die Ärmel bis zum Ellbogen aufgestreift und wies mit dem Finger nach dem »Salon«. In diesem Salon, der dunkelblau tapeziert war und dessen saubere Einrichtung einigen Anspruch auf Eleganz erhob (es befanden sich dort ein runder Tisch, ein Sofa, eine Bronzeuhr unter einem Glassturz, ein schmaler Spiegel am Fensterpfeiler und ein sehr altertümlicher kleiner Kronleuchter mit Glasprismen, der an einer bronzenen Kette von der Decke herabhing), mitten in diesem Zimmer stand Herr Lebedew in eigener Person, mit dem Rücken nach dem eintretenden Fürsten zu, sommerlich gekleidet, ohne Rock, in bloßer Weste, und hielt, sich gegen die Brust schlagend, eine affektvolle Rede über irgendein Thema. Seine Zuhörer waren: ein fünfzehnjähriger Knabe, der ein recht lustiges, kluges Gesicht hatte und ein Buch in der Hand hielt, ein etwa zwanzigjähriges junges Mädchen, ganz in Trauerkleidung, mit einem Säugling auf dem Arm, ein dreizehnjähriges Mädchen, gleichfalls in Trauer, das sehr herzlich lachte und dabei den Mund gewaltig weit aufriß, und endlich ein sehr sonderbarer Zuhörer, ein auf dem Sofa liegender junger Mann von etwa zwanzig Jahren, sehr hübsch, mit langem, dichtem, dunklem Haar, großen schwarzen Augen und einem kleinen Anflug von Bart. Dieser Zuhörer schien den Redenden häufig zu unterbrechen und ihm zu widersprechen, und darüber lachte wahrscheinlich das übrige Publikum. »Lukjan Timofejitsch, Lukjan Timofejitsch! So hör doch! Sieh doch mal her!... Na, bei euch ist auch alles vergebens!« Mit einer wegwerfenden Handbewegung ging die Köchin fort; sie ärgerte sich so, daß sie ganz rot geworden war. Lebedew sah sich um und stand, als er den Fürsten erblickte, eine Weile wie vom Donner gerührt; dann stürzte er mit unterwürfigem Lächeln auf ihn zu, machte aber unterwegs von neuem halt und sagte nur: »Durch-durch-durchlauchtigster Fürst!« Aber als könne er seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen, drehte er sich auf einmal um und stürzte ohne jede Veranlassung zunächst auf das Mädchen in Trauer zu, das das Kind auf dem Arme hielt, so daß diese vor Überraschung und Schreck zurückwankte; dann aber ließ er sie und stürmte auf das dreizehnjährige Mädchen los, das in der nach dem Nebenzimmer führenden Tür auf der Schwelle stand und auf dessen Gesicht als Überrest des kurz vorhergehenden Lachens noch ein Lächeln lag. Sie hielt dem Anschreien nicht stand, sondern flüchtete sogleich in die Küche; Lebedew stampfte hinter ihr sogar mit den Füßen auf den Boden, um sie noch mehr zu erschrecken; aber als er dem Blick des Fürsten begegnete, der ihn verlegen ansah, sagte er zur Erklärung: »Nur... nur aus Ehrerbietung, hehehe!« »Aber Sie machen sich unnötige Mühe...«, begann der Fürst. »Sofort, sofort, sofort... schnell wie der Wind!« Damit lief Lebedew rasch aus dem Zimmer. Erstaunt blickte der Fürst das junge Mädchen, den Knaben und den auf dem Sofa liegenden jungen Mann an, die alle drei lachten. Auch der Fürst fing an zu lachen. »Er ist gegangen, sich den Frack anzuziehen«, sagte der Knabe. »Es tut mir außerordentlich leid...«, begann der Fürst. »Ich dachte schon... Sagen Sie, ist er vielleicht...« »Sie meinen betrunken?« rief eine Stimme vom Sofa her. »Nicht die Spur! Er hat vielleicht drei bis vier Gläser getrunken, na, oder auch fünf, aber was will das bedeuten? Das ist ja ganz normal.« Der Fürst wollte sich der vom Sofa herkommenden Stimme zuwenden; aber nun begann das junge Mädchen zu sprechen und sagte mit dem offenherzigsten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht: »Vormittags trinkt er nie viel; wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit zu ihm hergekommen sind, dann reden Sie jetzt mit ihm, es ist gerade die rechte Zeit. Wenn er abends nach Haus kommt, dann ist er allerdings manchmal betrunken; aber jetzt weint er meistens bis in die Nacht hinein und liest uns aus der Heiligen Schrift vor, weil unsere Mutter vor fünf Wochen gestorben ist.« »Er ist wahrscheinlich deswegen weggelaufen, weil er noch nicht recht wußte, was er Ihnen antworten soll«, rief lachend vom Sofa her der junge Mann. »Ich möchte wetten, daß er vorhat, Sie zu betrügen, und sich jetzt überlegt, wie er es anstellen soll.« »Erst vor fünf Wochen! Erst vor fünf Wochen!« fiel der zurückkehrende Lebedew ein, der inzwischen den Frack angezogen hatte. Er blinzelte mit den Augen und zog ein Taschentuch aus der Tasche, um sich die Tränen abzuwischen. »Meine Kinder sind mutterlos!« »Aber warum kommen Sie denn in diesem zerlumpten Anzug herein?« sagte das Mädchen. »Da hinter der Tür haben Sie ja einen ganz neuen Oberrock liegen; haben Sie ihn nicht gesehen, nein?« »Schweig still, du Schwätzerin!« schrie Lebedew sie an. »Willst du wohl!« Er trampelte wieder mit den Füßen. Aber dieses Mal lachte sie nur. »Warum versuchen Sie, mich zu erschrecken? Ich bin ja nicht Tanja, ich werde nicht davonlaufen«, sagte sie. »Sie werden noch unsere kleine Ljubotschka hier aufwecken, und dann wird sie noch Krämpfe bekommen... Weshalb schreien Sie denn so?« »Nein, nein, nein! Schweig, schweig! ...«, versetzte Lebedew in größter Bestürzung, lief zu dem Kind hin, das auf dem Arm seiner Tochter schlief, und bekreuzigte es mit erschrockener Miene mehrmals. »Herr Gott, erhalte sie mir, Herr Gott, erhalte sie mir! Das ist meine Kleinste, meine Tochter Ljubow«, wandte er sich an den Fürsten, »sie ist in legitimer Ehe von meiner unlängst verstorbenen Gattin Jelena geboren, die im Wochenbette starb. Und dieser Kiebitz hier ist meine Tochter Wera, in Trauerkleidung. Und dieser, dieser, ja dieser ...« »Nun? Bist du steckengeblieben?« rief der junge Mann. »So fahr doch fort! Sei nicht verlegen!« »Durchlaucht!« rief Lebedew plötzlich mit Heftigkeit. »Haben Sie von der Ermordung der Familie Shemarin in den Zeitungen gelesen?« »Ja, ich habe davon gelesen«, erwiderte der Fürst einigermaßen verwundert. »Nun, das ist hier der wahre Mörder der Familie Shemarin, er ist es, er!« »Aber was reden Sie!« versetzte der Fürst. »Das heißt im übertragenen Sinne; er ist der künftige zweite Mörder einer künftigen zweiten Familie Shemarin, wenn es noch einmal eine solche geben wird. Darauf bereitet er sich jetzt schon vor...« Alle lachten. Dem Fürsten kam der Gedanke, Lebedew mache vielleicht wirklich diese Winkelzüge und Seitensprünge nur deshalb, weil er seine Fragen voraussehe, nicht wisse, was er darauf antworten solle, und Zeit zu gewinnen suche. »Er revoltiert! Er stiftet Verschwörungen an!« schrie Lebedew, als wenn er nicht mehr die Kraft hätte, sich zu beherrschen. »Na, bin ich denn imstande, na, bin ich' denn berechtigt, einen solchen Verleumder, einen solchen Wüstling und Unmenschen als meinen leiblichen Neffen, als den einzigen Sohn meiner seligen Schwester Anisja anzuerkennen?« »Hör doch auf, du betrunkenes Subjekt! Können Sie es glauben, Fürst, jetzt ist er auf den Einfall gekommen, sich mit Advokatur zu befassen und Vertretungen vor Gericht zu übernehmen; er hat sich auf die Rhetorik geworfen und redet mit seinen Kindern im Hause immer nur noch im höheren Stil. Vor fünf Tagen hat er vor den Friedensrichtern gesprochen. Und wen hat er da verteidigt? Nicht die alte Frau, die ihn gebeten und angefleht hatte und die von so einem Schuft von Wucherer ausgeplündert worden war – fünfhundert Rubel, die ihr gehörten, ihr ganzes Vermögen, hatte der Mensch sich angeeignet –, sondern eben diesen Wucherer selbst, einen gewissen Seidler, einen Juden, weil der versprochen hatte, ihm fünfzig Rubel zu geben...« »Fünfzig Rubel, wenn ich den Prozeß gewinne, und nur fünf, wenn ich ihn verliere«, erklärte Lebedew auf einmal in einer ganz anderen Tonart, als er bisher gesprochen hatte, und als hätte er nie geschrien. »Na, er hat natürlich nichts ausgerichtet; es geht jetzt bei Gericht nicht mehr so zu wie ehemals, man hat ihn da nur ausgelacht. Aber er war mit sich sehr zufrieden. ›Denken Sie daran, meine unparteiischen Herren Richter‹, hat er gesagt, ›daß ein unglücklicher Greis, der nicht gehen kann und von seiner ehrlichen Arbeit lebt, seines letzten Stückes Brot beraubt wird; denken Sie an die weisen Worte des Gesetzgebers: »Im Gericht soll Milde herrschen«!‹ Und können Sie es glauben? Jeden Morgen deklamiert er uns hier dieselbe Rede vor, Wort für Wort, wie er sie da gehalten hat; es ist heute das fünftemal, daß er sie uns vorgetragen hat, jetzt eben, bevor Sie kamen; so gut hat sie ihm gefallen. Er leckt sich darüber die Lippen. Und er hat vor, noch so einen zu verteidigen, Sie sind ja wohl Fürst Myschkin? Kolja hat mir von Ihnen gesagt, Sie seien der klügste Mensch, der ihm bisher auf der Welt vorgekommen wäre...« »Das stimmt! Das stimmt! Der klügste Mensch auf der Welt!« fiel Lebedew sofort ein. »Na, der hier schwatzt das allerdings nur so hin. Der eine liebt Sie, und der andere möchte sich bei Ihnen in Gunst setzen; aber ich beabsichtige durchaus nicht, Ihnen zu schmeicheln, das sage ich Ihnen ein für allemal. Sie sind ja doch ein urteilsfähiger Mensch: seien Sie Schiedsrichter zwischen mir und ihm! Na, bist du damit einverstanden, daß der Fürst es übernimmt, unser Schiedsrichter zu sein?« wandte er sich an seinen Onkel. »Ich bin ordentlich froh, Fürst, daß Sie gerade hergekommen sind.« »Ja, ich bin damit einverstanden!« rief Lebedew in entschlossenem Ton und sah sich unwillkürlich nach dem Publikum um, das wieder heranzurücken begann. »Aber was haben Sie denn eigentlich miteinander?« fragte der Fürst und runzelte ein wenig die Stirn. Er hatte wirklich Kopfschmerzen und gelangte außerdem immer mehr zu der Überzeugung, daß Lebedew ihm etwas vormachte und sich darüber freute, daß die Hauptsache hinausgeschoben wurde. »Also Darlegung des Tatbestandes! Ich bin sein Neffe; darin hat er nicht gelogen, obwohl er sonst immer lügt. Ich habe mein Studium nicht beendet, aber ich will es beenden und werde meine Absicht durchsetzen, denn ich habe einen energischen Charakter. Inzwischen aber will ich, um zu existieren, eine Stellung bei der Eisenbahn mit fünfundzwanzig Rubel Gehalt annehmen. Ich bekenne außerdem, daß er mir schon zwei- oder dreimal geholfen hat. Ich besaß zwanzig Rubel und habe sie verspielt. Können Sie es glauben, Fürst, ich war so gemein und nichtswürdig, das Geld zu verspielen!« »An einen Schurken, an einen Schurken, dem er überhaupt nichts hätte bezahlen sollen!« schrie Lebedew. »Ja, an einen Schurken; aber bezahlen mußte ich es ihm«, fuhr der junge Mann fort. »Daß er ein Schurke ist, kann auch ich bezeugen, und zwar nicht deswegen, weil er dich durchgeprügelt hat. Es ist das nämlich ein in seiner Karriere gescheiterter Offizier, ein Leutnant a. D., von der ehemaligen Rogoshinschen Kohorte; er erteilt Unterricht im Boxen. Die treiben sich jetzt alle hier und da umher, seitdem Rogoshin sie weggejagt hat. Aber das allerärgste war, daß ich wußte, daß er ein Schurke, ein Taugenichts und Dieb war, und mich doch mit ihm zum Spiel hinsetzte, und daß ich, als ich den letzten Rubel setzte (wir spielten Palki), Ein Hasardspiel mit Karten. bei mir dachte: ›Wenn ich verliere, gehe ich zu Onkel Lukjan und falle ihm zu Füßen; er wird es mir nicht abschlagen.‹ Das war eine unwürdige Handlungsweise, eine ganz unwürdige Handlungsweise! Das war eine bewußte Gemeinheit!« »Ja, das war eine bewußte Gemeinheit!« wiederholte Lebedew. »Na, triumphiere nicht zu früh, warte noch!« rief der Neffe beleidigt. »Er freut sich schon. Ich kam zu ihm hierher, Fürst, und bekannte ihm alles: ich handelte ehrenhaft und beschönigte nichts, was ich getan hatte; ich schimpfte vor seinen Ohren auf mich selbst mit den stärksten Ausdrücken; alle hier Anwesenden sind Zeugen. Um die Stelle bei der Eisenbahn zu erhalten, muß ich mich unbedingt einigermaßen equipieren, denn ich bin ganz zerlumpt. Da, sehen Sie mal meine Stiefel an! Sonst kann ich die Stelle nicht antreten, und wenn ich sie nicht zum bestimmten Termin antrete, so bekommt sie ein anderer; dann sitze ich wieder auf dem trockenen und kann mich nach einer neuen Stelle umsehen. Jetzt bitte ich ihn nur um fünfzehn Rubel und verspreche, ihn nie wieder um Geld zu bitten und ihm überdies im Laufe der ersten drei Monate die ganze Schuld bis auf die letzte Kopeke zurückzuzahlen. Ich werde mein Wort halten. Ich bin imstande, monatelang von Brot und Kwaß zu leben, denn ich habe einen festen Charakter. Für drei Monate werde ich fünfundsiebzig Rubel Gehalt bekommen. Mit dem früheren zusammen werde ich ihm im ganzen fünfunddreißig Rubel schuldig sein; somit werde ich genug Geld haben, um ihm alles zu bezahlen. Na, mag er mir Prozente abnehmen, soviel er will, hol's der Teufel! Kennt er mich denn etwa nicht? Fragen Sie ihn selbst, Fürst: habe ich ihm nicht jedesmal, wenn er mir früher geholfen hatte, das Geld zurückbezahlt? Warum will er denn nun diesmal nicht? Er ist ärgerlich darüber, daß ich an diesen Leutnant meinen Spielverlust bezahlt habe; das ist der einzige Grund! So ein Mensch ist das, er gönnt weder sich noch einem andern etwas!« »Und nun geht er nicht weg!« schrie Lebedew. »Er hat sich hier hingelegt und geht nicht weg.« »Das habe ich dir ja gesagt. Ich gehe nicht weg, ehe du mir nicht das Geld gibst. Warum lächeln Sie, Fürst? Sie finden wohl, daß ich unrecht habe?« »Ich lächle nicht, aber meiner Ansicht nach haben Sie in der Tat bis zu einem gewissen Grade unrecht«, antwortete der Fürst mit Widerstreben. »So sagen Sie doch geradeheraus, daß ich ganz und gar unrecht habe, und machen Sie keine gewundenen Redensarten! Was soll das heißen: ›bis zu einem gewissen Grade‹?« »Nun, wenn Sie wollen, dann auch ganz und gar unrecht.« »Wenn ich will! Lächerlich! Denken Sie denn, ich weiß nicht selbst, daß meine Handlungsweise etwas Bedenkliches hat, daß das Geld ihm gehört, daß er seinen freien Willen hat und daß das, was ich tue, auf Erpressung hinausläuft? Aber Sie kennen das Leben nicht, Fürst. Wenn man auf diese Leute nicht einen Druck ausübt, erreicht man nichts bei ihnen. Man muß einen Druck auf sie ausüben. Mein Gewissen ist ja rein; ich kann mit gutem Gewissen sagen: ich werde ihn nicht zu Schaden bringen, ich werde ihm sein Geld mit Zinsen zurückerstatten. Er hat ja auch schon eine gewisse seelische Befriedigung gehabt, indem er gesehen hat, wie ich mich vor ihm erniedrigte. Was will er nun noch mehr? Wozu ist er denn gut auf der Welt, wenn er niemandem nützt? Und ich bitte Sie, was tut er denn selbst? Erkundigen Sie sich nur einmal, wie er andere behandelt und wie er die Leute betrügt! Wie ist er denn zu diesem Haus gekommen? Ich lasse mir den Kopf abschneiden, wenn er Sie nicht schon betrogen hat und nicht überlegt, wie er Sie noch weiter betrügen kann! Sie lächeln? Sie glauben mir nicht?« »Mir scheint, daß das alles mit Ihrer Sache nichts zu tun hat«, bemerkte der Fürst. »Ich liege hier nun schon den dritten Tag, und was habe ich nicht alles zu sehen bekommen!« rief der junge Mann, ohne hinzuhören. »Können Sie sich vorstellen, daß er diesen Engel hier, dieses junge, jetzt mutterlose Mädchen, meine Kusine, seine Tochter, verdächtigt und in ihrem Schlafzimmer jede Nacht nach Liebhabern sucht! Auch zu mir pflegt er leise hereinzukommen und unter dem Sofa, auf dem ich liege, nachzusehen. Er ist vor Mißtrauen verrückt geworden, in jedem Winkel vermutet er Diebe. Die ganze Nacht über springt er jeden Augenblick aus dem Bett, sieht nach den Fenstern, ob sie auch gut geschlossen sind, faßt die Türen an, guckt in den Ofen, und so treibt er es jede Nacht etwa siebenmal. Vor Gericht verteidigt er Gauner, und er selbst verrichtet dreimal in jeder Nacht seine Gebete, hier im Salon; er liegt dabei auf den Knien und schlägt wohl eine halbe Stunde lang mit der Stirn auf den Fußboden. Und für wen er nicht alles betet! Was redet er dabei nicht alles in seiner Trunkenheit her! Er hat schon für das Seelenheil der Gräfin Dubarry gebetet, ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört; Kolja hat es auch gehört; er ist ganz verrückt geworden!« »Sehen Sie nur, hören Sie nur, wie er mich beschimpft, Fürst!« schrie Lebedew, der ganz rot geworden und wirklich außer sich war. »Aber das weiß er nicht, daß ich, der Trunkenbold und Liederjan, der Räuber und Übeltäter, ihn, diesen Spötter, als er noch ein ganz kleines Kind war, in Windeln gewickelt und in der Wanne gebadet habe und daß ich, selbst ein bettelarmer Mensch, bei meiner verwitweten, bettelarmen Schwester Anisja die Nächte über, ohne zu schlafen, aufgesessen und sie beide während ihrer Krankheiten gepflegt und dem Hausknecht Holz gestohlen und ihnen Lieder vorgesungen und dazu mit den Fingern geschnipst habe, und das alles mit hungrigem Magen! Ja, so habe ich ihn gepflegt, und nun lacht er über mich! Und was kümmert dich das, wenn ich auch wirklich einmal für das Seelenheil der Gräfin Dubarry meine Stirn bekreuzigt hätte? Vor drei Tagen, Fürst, habe ich zum erstenmal in meinem Leben ihre Biographie im Konversationslexikon gelesen. Weißt du denn überhaupt, wer die Gräfin Dubarry war? Sag, weißt du es oder nicht?« »Na, du bist wohl der einzige, der das weiß!« murmelte der junge Mann spöttisch, aber etwas gezwungen. »Das war eine Gräfin, die aus der Schande hervorgegangen war und dann wie eine Königin regierte und die von einer großen Kaiserin in einem eigenhändigen Schreiben ›ma cousine‹ angeredet wurde. Ein Kardinal, der päpstliche Nuntius, erbot sich beim lever du roi Zeremonie des morgendlichen Ankleidens (frz.) (weißt du, was das ist: lever du roi?), ihr die seidenen Strümpfe persönlich auf die nackten Füße zu ziehen, und meinte noch, das sei für ihn eine große Ehre, – so eine hohe, heilige Persönlichkeit! Weißt du das? Ich sehe dir am Gesicht an, daß du es nicht weißt! Na, und wie ist sie gestorben? Antworte, wenn du es weißt!« »Scher dich weg! Laß mich in Ruh!« »Gestorben ist sie in der Weise, daß nach all diesen Ehren der Henker Sampson diese hohe Machthaberin auf die Guillotine schleppte, unschuldig, zum Ergötzen der Pariser Fischweiber, und sie vor Angst gar nicht begriff, was mit ihr vorging. Sie sah, daß er sie am Halse unter das Messer bog und mit Fußtritten hinschob (die Weiber lachten dazu), und sie schrie: ›Encore un moment, monsieur le bourreau, encore un moment!‹ Das bedeutet: ›Warten Sie nur noch ein Augenblickchen, Herr bourreau, nur ein einziges Augenblickchen!‹ Und für dieses Augenblickchen wird Gott ihr vielleicht verzeihen; denn man kann sich nichts vorstellen, was für eine Menschenseele schlimmer wäre als diese misère. Weißt du, was das Wort misère bedeutet? Na, siehst du wohl, die schreckliche Lage, von der ich erzählt habe, das ist eben so eine misère. Als ich von diesem Aufschrei der Gräfin und von diesem einen Augenblickchen las, da hatte ich ein Gefühl, als ob man mir das Herz mit einer Zange zwickte. Und was geht dich das an, du Wurm, daß ich vor dem Zubettgehen in meinem Gebet ihrer, dieser großen Sünderin, gedacht habe? Vielleicht habe ich es gerade deswegen getan, weil, solange die Erde steht, für sie wahrscheinlich noch nie jemand seine Stirn bekreuzigt hat oder es sich überhaupt hat in den Sinn kommen lassen. Denn es wird für sie in jener Welt eine angenehme Empfindung sein, daß sich ein ebenso großer Sünder wie sie gefunden hat, der auch für sie wenigstens ein einziges Mal auf Erden gebetet hat. Warum lachst du? Du glaubst nicht, du Atheist! Aber woher hast du dein Wissen? Und du hast das, was du erlauscht hast, auch noch lügnerisch entstellt, denn ich habe nicht einfach nur für die Gräfin Dubarry gebetet; ich habe so gesagt: ›O Gott, gib die ewige Ruhe der Seele der großen Sünderin Gräfin Dubarry und allen, die ihr gleichen!‹ und das ist doch etwas ganz anderes, denn es gibt viele solche großen Sünderinnen, die warnende Beispiele für die Veränderlichkeit des Glückes sind und viel gelitten haben und sich jetzt dort ängstigen und stöhnen und warten. Und auch für dich und alle, die dir gleichen, für alle frechen, unverschämten Gesellen deiner Art habe ich damals gebetet, wie du wissen wirst, da du mich damals bei meinem Gebet hast belauschen mögen...« »Na, nun hör nur auf, laß es genug sein; bete, für wen du willst, hol dich der Teufel; warum bist du so ins Schreien hineingekommen?« unterbrach ihn der Neffe ärgerlich. »Er ist außerordentlich belesen, Fürst; haben Sie das schon gewußt?« fügte er mit einem ungeschickten Lächeln hinzu. »Er liest jetzt immer Memoiren und allerlei andere Bücher.« »Ihr Onkel ist aber bei alledem kein herzloser Mensch«, bemerkte der Fürst etwas unwillig. Dieser junge Mann wurde ihm sehr zuwider. »Sie werden ihn uns am Ende noch durch Ihr Lob verderben! Sehen Sie nur, wie er gleich die Hand aufs Herz legt und einen spitzen Mund macht; das ist ihm süß eingegangen! Herzlos ist er nicht, meinetwegen, aber ein Spitzbube ist er, das ist das Malheur, und außerdem ist er auch noch ein Trunkenbold und ist wie jeder Mensch, der ein paar Jahre lang getrunken hat, ganz aus dem Leim gegangen, so daß alles an ihm knarrt. Die Kinder hat er allerdings lieb, und meine selige Tante hat er gut behandelt... Sogar mich hat er lieb, und er hat mir gewiß in seinem Testament einen Teil seines Vermögens hinterlassen.« »Nichts hinterlasse ich dir!« schrie Lebedew ingrimmig. »Hören Sie mal, Lebedew«, sagte der Fürst in bestimmtem Ton, indem er sich von dem jungen Mann abwandte, »ich weiß ja aus Erfahrung, daß Sie, wenn Sie wollen, auf geschäftlichem Gebiet Tüchtiges leisten können... Ich habe jetzt sehr wenig Zeit, und wenn Sie... Entschuldigen Sie, wie ist doch Ihr Vor- und Vatersname? Ich habe es vergessen.« »Ti-Ti-Timofej.« »Und?« »Lukjanowitsch.« Alle, die im Zimmer anwesend waren, lachten wieder laut auf. »Er lügt!« rief der Neffe. »Auch darin lügt er! Er heißt gar nicht Timofej Lukjanowitsch, Fürst, sondern Lukjan Timofejewitsch! Na, nun sag selbst, warum hast du denn gelogen? Dir kann es doch gleich sein, ob du Lukjan oder Timofej heißt, und was hat der Fürst daran für ein Interesse? Er schwindelt nur aus reiner Angewohnheit, versichere ich Ihnen!« »Ist das wirklich wahr?« fragte der Fürst ungeduldig. »Ich heiße allerdings Lukjan Timofejewitsch«, gestand Lebedew verlegen, indem er demütig die Augen niederschlug und wieder die Hand aufs Herz legte. »Aber warum tun Sie denn das? Ich bitte Sie!« »Aus Selbsterniedrigung«, flüsterte Lebedew, der seinen Kopf immer tiefer und immer demütiger herabsinken ließ. »Ach was! Was liegt denn darin für eine Selbsterniedrigung! Wenn ich nur wüßte, wo Kolja jetzt zu finden ist!« sagte der Fürst und wollte sich schon umdrehen, um wegzugehen. »Ich will Ihnen sagen, wo Kolja ist«, erbot sich wieder der junge Mann. »Nein, nein, nein!« rief Lebedew aufgeregt und hastig. »Kolja hat hier übernachtet, ist aber am Morgen weggegangen, um seinen General zu suchen, den Sie, Fürst, Gott weiß warum, aus dem Schuldgefängnis losgekauft haben. Der General hatte noch gestern versprochen, er würde hierherkommen, um hier zu übernachten, aber er ist nicht gekommen. Am wahrscheinlichsten ist er die Nacht im Gasthaus ›Zur Waage‹, nicht weit von hier, gewesen. Kolja ist also entweder dort oder in Pawlowsk bei Jepantschins. Er hatte Geld und wollte noch gestern hinfahren. Also in der ›Waage‹ oder in Pawlowsk.« »In Pawlowsk, in Pawlowsk wird er sein!... Aber wir wollen in unser Gärtchen gehen und... ein Täßchen Kaffee...« Und Lebedew zog den Fürsten an der Hand hinaus. Sie verließen das Zimmer, durchschritten einen kleinen Hof und passierten ein Pförtchen. Dort befand sich wirklich ein sehr kleines, sehr hübsches Gärtchen, in welchem dank dem guten Wetter schon alle Bäume grün waren. Lebedew ließ den Fürsten auf einem grün angestrichenen Holzbänkchen an einem in die Erde gegrabenen Tisch Platz nehmen und setzte sich selbst ihm gegenüber. Nach kurzer Zeit erschien wirklich der Kaffee. Der Fürst lehnte nicht ab. Lebedew fuhr fort, ihm mit kriecherischer Miene in großer Spannung in die Augen zu sehen. »Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so hübsches Hauswesen haben«, sagte der Fürst, aber sein Gesicht machte den Eindruck, als ob er an etwas ganz anderes dachte. »Wir sind arme, unglückliche...«, begann Lebedew, sich zusammenkrümmend, aber er hielt inne. Der Fürst blickte zerstreut vor sich hin und hatte seine letzte Bemerkung offenbar schon wieder vergessen. Es verging noch ungefähr eine Minute. Lebedew beobachtete den Fürsten und wartete. »Nun also, wie steht es?« sagte der Fürst, der aus seinen Gedanken zu sich zu kommen schien. »Sie wissen ja selbst, Lebedew, was wir beide miteinander zu verhandeln haben: ich bin infolge Ihres Briefes hergekommen; nun reden Sie!« Lebedew wurde verlegen; er wollte etwas sagen, brachte aber nur stotternde Laute heraus und konnte nichts Deutliches von sich geben. Der Fürst wartete ein Weilchen und lächelte traurig. »Ich glaube Sie sehr gut zu verstehen, Lukjan Timofejewitsch: Sie haben mich wahrscheinlich nicht erwartet. Sie dachten, ich würde mich aus meiner Zurückgezogenheit nicht gleich auf Ihre erste Benachrichtigung hin aufmachen, und schrieben mir, um Ihr Gewissen zu beruhigen. Aber Sie sehen, ich bin hergekommen. Nun lassen Sie es genug sein, und täuschen Sie mich nicht weiter! Hören Sie auf, zwei Herren zu dienen! Rogoshin ist schon drei Wochen hier, ich weiß alles. Haben Sie es schon wieder fertiggebracht, sie ihm zu verraten und zu verkaufen wie damals? Sagen Sie die Wahrheit!« »Der Unmensch hat es selbst erfahren, ganz allein.« »Schimpfen Sie nicht auf ihn; er hat Sie ja freilich schlecht behandelt...« »Geprügelt hat er mich, geprügelt!« fiel Lebedew in großer Erregung ein. »Mit einem Hund hat er mich in Moskau gehetzt, die ganze Straße entlang, mit einem Jagdhund. Es war ein schreckliches Tier!« »Sie halten mich für ein kleines Kind, Lebedew. Sagen Sie mir im Ernst: hat sie ihn jetzt in Moskau verlassen?« »Im Ernst, im Ernst, und wieder unmittelbar vor der Trauung. Der zählte schon die Minuten, aber sie reiste hierher nach Petersburg und kam geradewegs zu mir: ›Rette mich, beschütze mich, Lukjan‹, sagte sie, ›und sage dem Fürsten nichts!‹... Sie fürchtet sich vor Ihnen, Fürst, noch mehr als vor ihm, und das ist das Rätselhafte!« Lebedew hielt mit schlauer Miene den Finger an die Stirn. »Und jetzt haben Sie die beiden wieder zusammengeführt?« »Durchlauchtigster Fürst, was konnte... was konnte ich dagegen tun?« »Nun genug! Ich werde selbst alles in Erfahrung bringen. Sagen Sie mir nur: wo ist sie jetzt? Bei ihm?« »O nein, ganz und gar nicht! Sie lebt immer noch ganz für sich. Sie sagt: ›Ich bin frei‹, und wissen Sie, Fürst, das ist bei ihr immer der Refrain: ›Ich bin noch vollkommen frei‹, sagt sie. Sie wohnt immer noch auf der Petersburger Seite, im Hause meiner Schwägerin, wie ich Ihnen ja auch geschrieben habe.« »Ist sie auch jetzt dort?« »Ja, wenn sie nicht bei dem schönen Wetter in Pawlowsk ist, bei Darja Alexejewna, in deren Landhaus. Sie sagt: ›Ich bin vollkommen frei!‹ Noch gestern hat sie sich Nikolai Ardalionowitsch gegenüber sehr ihrer Freiheit gerühmt. Ein übles Zeichen!« Lebedew fletschte die Zähne. »Ist Kolja oft bei ihr?« »Er ist leichtsinnig und unberechenbar und nicht diskret.« »Sind Sie in letzter Zeit da gewesen?« »Ich gehe alle Tage hin, alle Tage.« »Also waren Sie auch gestern da?« »N-nein, vorvorgestern.« »Wie schade, daß Sie angetrunken sind, Lebedew! Sonst hätte ich Sie etwas gefragt.« »Oh, nicht die Spur betrunken bin ich!« Lebedew machte geradezu ein finsteres Gesicht. »Sagen Sie mir: in welchem Zustand befand sie sich, als Sie sie verließen?« »Sie suchte...« »Sie suchte?« »Es war, als ob sie immer etwas suchte, als ob sie etwas verloren hätte. Was die bevorstehende Ehe betrifft, so war ihr sogar der Gedanke daran zuwider, und sie faßte die bloße Erwähnung derselben als Beleidigung auf. An ihn selbst denkt sie nicht mehr als an ein Stückchen Apfelsinenschale, das heißt: doch mehr, sie denkt an ihn mit Furcht und Schrecken und verbietet einem sogar, von ihm zu reden; sie sehen einander nur, wenn es unbedingt nötig ist.. . und er empfindet das außerordentlich schmerzlich! Aber sie wird ihrem Schicksal doch nicht entgehen!... Sie ist unruhig, spottlustig, launisch, zänkisch...« »Launisch und zänkisch?« »Ja, zänkisch, denn es fehlte das vorige Mal wenig daran, daß sie mich wegen etwas, was ich gesagt hatte, an den Haaren gerissen hätte. Ich wollte sie durch die Apokalypse zur Besinnung bringen.« »Wie? Was?« fragte der Fürst, der sich verhört zu haben glaubte. »Durch Vorlesen der Apokalypse. Sie ist eine Dame mit unruhigem Geist, hehe! Überdies habe ich die Beobachtung gemacht, daß sie eine große Neigung zu ernsten, wenn auch abseits gelegenen Gesprächsgegenständen hat. Sie liebt dergleichen und faßt es sogar als ein Zeichen besonderer Hochachtung auf, wenn man von solchen Dingen anfängt. Ja. Ich bin in der Auslegung der Apokalypse stark und beschäftige mich damit schon seit fünfzehn Jahren. Sie stimmte mir darin bei, daß wir jetzt bei dem dritten Pferd, dem Rappen, angelangt sind und bei dem Reiter, der ein Maß in seiner Hand hat, da ja in jetziger Zeit alles nach dem Maß und dem Vertrag geht und alle Menschen nur ihr Recht suchen: ›Ein Maß Weizen um einen Dinar und drei Maß Gerste um einen Dinar‹... und dann möchten sie sich noch einen freien Geist und ein neues Herz und einen gesunden Leib und alle andern Gaben obendrein bewahren. Aber auf Grund des bloßen Rechtes können sie sich das nicht bewahren, und danach folgt das fahle Pferd und der, des Name Tod heißt, und nach ihm kommt dann die Hölle... Darüber reden wir, wenn wir zusammenkommen, und es hat bei ihr starke Wirkung getan.« »Sie selbst glauben daran?« fragte der Fürst, indem er Lebedew mit einem eigentümlichen Blick ansah. »Ich glaube daran und lege es aus. Denn ich bin arm und nackt und ein Atom im Strudel der Menschheit. Und wer achtet Lebedew? Jeder spottet über ihn, und jeder versetzt ihm einen Fußtritt. Aber dort, bei dieser Auslegung, stehe ich den Großen dieser Welt gleich. Denn dabei kommt es auf den Verstand an! Und es hat auch schon ein hoher Würdenträger vor mir gezittert... auf seinem Lehnstuhl, als ihm ein Licht aufging. Seine Exzellenz Nil Alexejewitsch hatte vor zwei Jahren vor Ostern von mir gehört (ich war damals noch in seinem Departement angestellt), ließ mich durch Pjotr Sacharytsch eigens aus dem Büro zu sich in sein Arbeitszimmer rufen und fragte mich unter vier Augen: ›Ist das wahr, daß du ein Verkünder des Antichrist bist?‹ Und ich leugnete nicht und sprach: ›Ich bin es.‹ Und ich legte ihm alles aus und stellte es ihm dar, und ich milderte das Schreckliche nicht, sondern steigerte es noch unvermerkt, indem ich die allegorische Bücherrolle öffnete, und zog Schlüsse aus den Zahlen. Und er lachte, aber bei den Zahlen und den Ähnlichkeiten fing er an zu zittern und bat mich, das Buch zu schließen und wegzugehen, und zu Ostern wies er mir eine Gratifikation an, und in der Woche nach Ostern hauchte er seine Seele aus.« »Was reden Sie da, Lebedew?« »Ich sage es, wie es gewesen ist. Er fiel nach dem Mittagessen aus seiner Equipage... mit der Schläfe schlug er gegen einen Prellstein, und wie ein kleines Kind, ganz wie ein kleines Kind, war er auf der Stelle tot. Dreiundsiebzig Jahre war er nach der Rangliste alt geworden; er hatte eine rötliche Gesichtsfarbe, graues Haar und besprengte sich ganz mit Parfüm, und immer lächelte er, immer lächelte er wie ein kleines Kind. Pjotr Sacharytsch erinnerte sich damals noch an das, was vorhergegangen war. ›Du hast es vorhergesagt‹, sagte er zu mir.« Der Fürst erhob sich. Lebedew wunderte sich und war sogar ganz befremdet, daß der Fürst schon fort wollte. »Sie sind jetzt so gleichgültig geworden, hehe!« erlaubte er sich unterwürfig zu bemerken. »Ich fühle mich in der Tat nicht ganz wohl; der Kopf tut mir weh, wohl von der Reise«, antwortete der Fürst mit finsterem Gesicht. »Sie sollten aufs Land gehen«, riet Lebedew schüchtern. Der Fürst überlegte. »Ich will selbst in drei Tagen mit meiner ganzen Familie in mein Landhaus ziehen, damit sich auch der Säugling da kräftigt und damit hier im Hause unterdessen alles zurechtgemacht wird. Ich ziehe ebenfalls nach Pawlowsk.« »Sie ziehen auch nach Pawlowsk?« fragte der Fürst rasch. »Wie geht denn das zu? Ziehen hier alle Leute nach Pawlowsk? Und Sie haben, wie Sie sagen, dort ein eigenes Landhaus?« »Alle Leute ziehen nicht nach Pawlowsk. Mir hat Iwan Petrowitsch Ptizyn eines von den Landhäusern überlassen, die ihm da billig zugefallen sind. Es ist ein hübscher Ort und hochgelegen und grün und billig, und es herrscht da bon ton, und auch Musik ist da; darum ziehen so viele nach Pawlowsk. Ich wohne übrigens nur in einem Nebengebäude, das Landhaus selbst...« »Das haben Sie wohl vermietet?« »N-n-nein. Noch nicht... noch nicht definitiv.« »Vermieten Sie es mir!« schlug der Fürst schnell vor. Gerade darauf schien es Lebedew abgesehen zu haben. Dieser Gedanke war ihm wenige Augenblicke vorher durch den Kopf gegangen. Ein Bedürfnis nach einem Mieter hatte er übrigens gar nicht mehr; ein solcher hatte sich bereits gefunden und ihn benachrichtigt, er werde das Landhaus vielleicht mieten. Lebedew wußte bestimmt, daß er es nicht »vielleicht«, sondern sicher mieten werde, aber jetzt war ihm auf einmal ein seiner Meinung nach vielversprechender Gedanke gekommen, das Landhaus dem Fürsten zu überlassen, unter Benutzung des Umstandes, daß der bisherige Reflektant sich nur unbestimmt ausgedrückt hatte. ›Das ist ja ein eigentümliches Zusammentreffen und eine ganz neue Wendung der Dinge‹, das war seine Empfindung. Er nahm den Vorschlag des Fürsten fast mit Entzücken an und machte auf dessen direkte Frage nach dem Preis nur eine abwehrende Handbewegung. »Nun, wie Sie wollen«, sagte der Fürst. »Ich werde mich erkundigen, was üblich ist, und Sie sollen nicht zu Schaden kommen.« Sie verließen nunmehr beide den Garten. »Ich könnte Ihnen... ich könnte Ihnen ... wenn es Ihnen erwünscht wäre, könnte ich Ihnen eine sehr interessante Mitteilung machen, hochverehrter Fürst, ich könnte Ihnen etwas mitteilen, was sich auf denselben Gegenstand bezieht«, murmelte Lebedew, der glückselig neben dem Fürsten einherscharwenzelte. Der Fürst blieb stehen. »Darja Alexejewna hat ebenfalls ein Landhaus in Pawlowsk.« »Nun, und?« »Eine gewisse Dame ist mit ihr befreundet und beabsichtigt anscheinend, sie häufig in Pawlowsk zu besuchen. Sie hat dabei eine bestimmte Absicht.« »Nun?« »Aglaja Iwanowna...« »Ach, hören Sie auf, Lebedew!« unterbrach ihn der Fürst, als sei bei ihm ein wunder Punkt berührt. »Das verhält sich alles anders. Sagen Sie mir lieber, wann Sie umziehen! Mir ist es je eher um so lieber, da ich im Gasthaus...« Während dieses Gespräches hatten sie den Garten verlassen, waren, ohne nochmals in das Haus zu kommen, über den Hof gegangen und näherten sich nun dem Torpförtchen. »Das beste wäre«, meinte Lebedew schließlich, »wenn Sie gleich heute aus dem Gasthaus zu mir zögen; übermorgen ziehen wir dann alle zusammen nach Pawlowsk.« »Ich werde es mir überlegen«, erwiderte der Fürst nachdenklich und ging aus dem Tor. Lebedew sah ihm nach. Die plötzliche Zerstreutheit des Fürsten überraschte ihn. Dieser hatte sogar vergessen, beim Weggehen Lebewohl zu sagen, und nicht einmal mit dem Kopf genickt, was zu der Höflichkeit und Aufmerksamkeit des Fürsten, die Lebedew gut kannte, wenig stimmte. III Es ging schon auf zwölf. Der Fürst wußte, daß er bei Jepantschins in ihrer Stadtwohnung jetzt nur den dienstlich beschäftigten General treffen konnte, und auch den kaum. Er sagte sich, daß der General ihn womöglich sogleich mit Beschlag belegen und nach Pawlowsk mitnehmen würde, und ihm lag doch sehr daran, vorher noch einen Besuch zu machen. Auf die Gefahr hin, daß es ihm für Jepantschins zu spät werden und er genötigt sein würde, seine Fahrt nach Pawlowsk bis zum nächsten Tage aufzuschieben, entschloß sich der Fürst, zunächst jenes Haus aufzusuchen, wohin es ihn sosehr verlangte. Dieser Besuch war für ihn übrigens in gewisser Hinsicht gewagt. Er zauderte und schwankte. Er wußte von dem Haus, daß es in der Gorochowaja-Straße lag, nicht weit von der Sadowaja-Straße, und entschied sich dafür, hinzugehen, in der Hoffnung, es werde ihm noch gelingen, ehe er hinkam, einen endgültigen Beschluß zu fassen. Als er an die Kreuzung der Gorochowaja- und Sadowaja-Straße kam, wunderte er sich selbst über seine ungewöhnliche Aufregung; er hatte nicht erwartet, daß ihm das Herz so schmerzhaft schlagen würde. Eines der Häuser zog, wahrscheinlich durch seine besondere Physiognomie, schon von weitem seine Aufmerksamkeit auf sich, und der Fürst erinnerte sich später, daß er zu sich gesagt hatte: ›Es wird gewiß dieses Haus sein!‹ Mit außerordentlicher Neugier ging er näher heran, um seine Mutmaßung auf ihre Richtigkeit zu prüfen; er fühlte, daß es ihm aus irgendeinem Grund besonders unangenehm sein würde, wenn er es sollte erraten haben. Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Eine allerdings nur sehr geringe Anzahl derartiger Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, hat sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze, Die Skopzen waren eine am Ende des 18. Jahrhunderts entstandene religiöse Sekte, deren Mitglieder sich der Kastration unterwarfen. der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck, es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon die bloße Physiognomie des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen. Die architektonischen Linien müssen wohl auf geheimnisvolle Weise diese Wirkung ausüben. In diesen Häusern wohnen fast ausschließlich Kaufleute. Der Fürst näherte sich dem Tor, sah nach dem Türschild und las: »Haus des erblichen Ehrenbürgers Rogoshin.« Seinem Zaudern ein Ende machend, öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoshin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, ließ ihn ohne Anmeldung hinein und führte ihn lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebenso viele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Flecke stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schief gezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu sehen. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt. »Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen, ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen. »Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!« Sie duzten sich. In Moskau waren sie häufig und lange zusammen gewesen, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate nicht gesehen. Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoshins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen, näher zu treten, aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte an. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb, überrascht von seinem seltsam starren Blick, stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoshin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoshin, aber etwas verlegen und verwirrt. »Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!« Der Fürst setzte sich. »Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?« »Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoshin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?« Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr. »Aber selbst wenn du wußtest, daß ich heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit. »Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?« »Als ich vorhin aus dem Bahnwagen stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.« »Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoshin argwöhnisch. Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt. »Ich weiß es nicht, es war einer aus der Menge, ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist, dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie ich sie vor fünf Jahren hatte, als ich noch meine Anfälle bekam.« »Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen, ich weiß es nicht...«, murmelte Parfen. Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühung nicht imstande, es wieder zusammenzukleben. »Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierherfuhren, du... im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?« Rogoshin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und als freute er sich, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen. »Wohnst du hier für die Dauer?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte. »Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?« »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.« »Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoshin trocken. »Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?« »Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es auf der andern Seite des Flurs.« »Und wo wohnt dein Bruder?« »Bruder Semjon Semjonytsch wohnt im Nebengebäude.« »Ist er verheiratet?« »Witwer. Wozu willst du das wissen?« Der Fürst blickte vor sich hin und erwiderte nichts; er war plötzlich in Gedanken versunken und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Rogoshin drang nicht auf eine Antwort, sondern wartete ruhig. Sie schwiegen beide. »Ich habe dein Haus, als ich näher kam, auf hundert Schritte als das deinige erkannt«, sagte der Fürst. »Woran denn?« »Das weiß ich nicht. Dein Haus hat die Physiognomie eurer ganzen Familie und eures ganzen Rogoshinschen Lebens; wenn du mich aber fragst, worauf sich diese meine Anschauung gründet, so kann ich dafür keine Erklärung geben. Es ist natürlich nur Einbildung. Ich bin sogar in Sorge darüber, daß mich solche Dinge so aufregen. Früher wäre mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß du gerade in einem solchen Hause wohnen würdest, aber sowie ich es jetzt erblickte, mußte ich sofort denken: ›Ja, gerade so muß sein Haus aussehen!‹« »Sieh mal an!« versetzte Rogoshin mit einem unbestimmten Lächeln, ohne den unklaren Gedanken des Fürsten recht zu verstehen. »Dieses Haus hat noch der Großvater gebaut«, bemerkte er. »Es haben immer Skopzen darin gewohnt, die Familie Chludjakow, die wohnen auch jetzt hier zur Miete.« »Es ist hier so düster. Du sitzt hier so im Dunklen«, sagte der Fürst, indem er sich im Arbeitszimmer umsah. Es war ein großes, hohes, dunkles Zimmer, mit allerlei Möbeln vollgestellt, meist großen Arbeitstischen, Schreibtischen und Schränken, in denen Geschäftsbücher und Papiere aufbewahrt wurden. Ein breites, rotes Ledersofa diente offenbar als Rogoshins Bett. Der Fürst bemerkte auf dem Tisch, an dem ihn Rogoshin hatte Platz nehmen lassen, ein paar Bücher; eines von ihnen, Solowjows Geschichte Rußlands, war aufgeschlagen und mit einem Lesezeichen versehen. An den Wänden hingen in trüben Goldrahmen einige Ölgemälde, die so dunkel geworden waren, daß sich auf ihnen schwer etwas erkennen ließ. Ein lebensgroßes Porträt zog die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich: es stellte einen etwa fünfzigjährigen Mann dar in einem langschößigen Rock von deutschem Schnitt, mit zwei Medaillen am Halse, einem sehr dünnen, kurzen, grauen Bart, runzligem, gelbem Gesicht und mißtrauischem, verschlossenem, finsterem Blick. »Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst. »Ja, das ist er«, antwortete Rogoshin mit unangenehmem Lächeln, als hätte er vor, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen. »War er ein Altgläubiger?« »Nein, er ging in die Kirche, aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?« »Wirst du die Hochzeit hier feiern?« »J-ja«, antwortete Rogoshin, der bei der unerwarteten Frage zusammenzuckte. »Werdet ihr bald heiraten?« »Du weißt ja selbst, daß das nicht von mir abhängt.« »Parfen, ich bin nicht dein Feind und beabsichtige nicht, dir irgendwie hinderlich zu sein. Ich wiederhole dir das jetzt ebenso, wie ich es dir früher einmal in einem fast gleichen Augenblick ausgesprochen habe. Als in Moskau deine Hochzeit bevorstand, bin ich dir nicht hinderlich gewesen, das weißt du. Das erstemal kam sie selbst zu mir hingestürzt, unmittelbar vor der Trauung, und bat mich, sie vor dir zu ›retten‹. Ich wiederhole dir ihren eigenen Ausdruck. Dann ist sie auch von mir weggelaufen; du hast sie wieder ausfindig gemacht und zum Altar geführt, und da ist sie, wie es heißt, wieder von dir weggelaufen, hierher. Ist das wahr? Mir hat es Lebedew so mitgeteilt, und darum bin ich hergereist. Daß ihr euch aber hier wieder geeinigt habt, das habe ich erst gestern zum erstenmal von einem deiner früheren Freunde gehört, von Saljoshew, wenn du es wissen willst. Hierhergefahren bin ich aber in folgender Absicht: ich wollte sie endlich überreden, zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit ins Ausland zu reisen. Sie ist körperlich und seelisch sehr heruntergekommen, namentlich hat ihr Kopf stark gelitten, und sie bedarf meines Erachtens sorgsamster Pflege. Ich wollte sie nicht selbst ins Ausland begleiten, sondern hatte in Aussicht genommen, alles Nötige ohne meine persönliche Anwesenheit einzurichten. Ich sage dir die reine Wahrheit. Wenn es wirklich zutrifft, daß ihr euch wieder geeinigt habt, dann werde ich ihr gar nicht vor Augen treten und auch zu dir nie wieder kommen. Du weißt selbst, daß ich dich nicht täusche, da ich immer gegen dich aufrichtig gewesen bin. Wie ich darüber denke, daraus habe ich dir nie ein Hehl gemacht und habe dir immer gesagt, daß es ihr sicheres Verderben ist, wenn sie deine Frau wird. Und auch dein Verderben wird es sein, vielleicht in noch schlimmerem Grad als das ihre. Wenn ihr euch wieder trenntet, so wäre das für mich eine große Beruhigung; aber zwischen euch Unfrieden zu stiften und euch auseinanderzubringen ist nicht meine Absicht. Sei doch ruhig und hege keinen Argwohn gegen mich! Du weißt ja doch selbst, daß ich niemals dein wirklicher Nebenbuhler gewesen bin, selbst damals nicht, als sie sich zu mir geflüchtet hatte. Du lachtest jetzt eben, und ich weiß, warum du es tust. Aber wir haben dort getrennt gelebt, sie und ich, und dann sogar in verschiedenen Städten, und du weißt das alles doch ganz genau. Ich habe dir ja schon früher auseinandergesetzt, daß ich sie nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid gern habe. Ich meine, ich habe das damals klar dargelegt. Du sagtest damals, du hättest diese meine Worte verstanden, nicht wahr? Hast du sie auch wirklich verstanden? Oh, wie voll Haß du mich ansiehst! Ich bin hergekommen, um dich zu beruhigen, weil auch du mir teuer bist. Ich habe dich sehr lieb, Parfen. Ich gehe jetzt und komme niemals wieder. Lebe wohl!« Der Fürst stand auf. »Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!« sagte Parfen leise; er erhob sich nicht von seinem Platz und legte den Kopf in die rechte Hand. »Ich habe dich lange nicht gesehen.« Der Fürst setzte sich wieder. Beide schwiegen. »Wenn ich dich nicht vor mir sehe, fühle ich gleich gegen dich einen Groll, Lew Nikolajewitsch. In diesen drei Monaten, wo ich dich nicht gesehen habe, bin ich jeden Augenblick auf dich ergrimmt gewesen, bei Gott! Ich hätte dich vergiften mögen! So steht das. Und jetzt hast du nun noch nicht eine Viertelstunde bei mir gesessen, und schon ist mein ganzer Groll vergangen, und du bist mir wieder lieb und teuer wie früher. Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!...« »Wenn ich bei dir bin, dann glaubst du mir, und wenn ich nicht da bin, dann hörst du gleich auf, mir zu vertrauen, und hast mich wieder im Verdacht. Du schlägst ganz nach deinem Vater«, antwortete der Fürst freundlich lächelnd und bemüht, seine Rührung zu verbergen. »Ich glaube dem Klang deiner Stimme, wenn ich bei dir sitze. Ich verstehe ja, daß wir beide, du und ich, nicht miteinander zu vergleichen sind...« »Warum fügst du das hinzu? Und gleich bist du wieder in gereizter Stimmung«, versetzte der Fürst, der sich über Rogoshin wunderte. »Wir werden in dieser Hinsicht nicht nach unserer Meinung gefragt«, antwortete dieser, »das wird ohne unser Zutun bestimmt. Wir beide lieben ja auch auf verschiedene Weise; es ist eben in allem ein Unterschied«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen leise fort. »Du liebst sie, wie du sagst, aus Mitleid. Von solchem Mitleid mit ihr ist bei mir nichts vorhanden. Und sie haßt mich ja auch, haßt mich mehr als irgendeinen andern Menschen. Ich träume jetzt jede Nacht von ihr, und zwar immer, daß sie sich mit einem andern über mich lustig macht. So steht die Sache, Bruder. Sie geht mit mir zum Traualtar und denkt dabei an mich mit keinem Gedanken; sie hat dabei keine andere Empfindung, als wenn sie die Schuhe wechselte. Wirst du es glauben? Fünf Tage habe ich sie nicht gesehen, weil ich nicht wage, zu ihr hinzufahren; ich fürchte, sie fragt mich: ›Warum bist du hergekommen?‹ Und wie oft hat sie mir Schimpf angetan...« »Dir Schimpf angetan? Was redest du!« »Als ob du es nicht wüßtest! Sie ist ja doch von mir unmittelbar vor der Trauung mit dir selbst weggelaufen; das hast du ja eben selbst gesagt.« »Aber du wirst doch selbst nicht glauben, daß ...« »Und hat sie mich nicht mit dem Offizier, diesem Semtjushnikow, in Moskau betrogen? Ich weiß bestimmt, daß sie es getan hat, und noch dazu, nachdem sie den Tag für die Trauung selbst angesetzt hatte.« »Das ist unmöglich!« rief der Fürst. »Ich weiß es sicher«, erklärte Rogoshin im Ton der festesten Überzeugung. »Das liegt nicht in ihrem Wesen, willst du sagen, nicht wahr? Das ist richtig, Bruder, daß das nicht in ihrem Wesen liegt. Aber das ist doch nur leeres Gerede. Dir gegenüber wird sie sich nicht so benehmen und ein solches Betragen vielleicht selbst verabscheuen, aber mir gegenüber benimmt sie sich nun eben so. So ist es nun einmal. Sie betrachtet mich als das niedrigste Geschöpf auf Gottes Erdboden! Und mit Keller, diesem Offizier, der so gern boxt, hat sie sich lediglich in der Absicht eingelassen, sich über mich lustig zu machen... Und du weißt noch nicht, was sie mit mir in Moskau angestellt hat! Und wieviel Geld, wieviel Geld hat mich das alles gekostet...« »Aber... wie in aller Welt kannst du sie denn unter solchen Umständen heiraten? Wie soll denn das später werden?« fragte der Fürst ganz erschrocken. Rogoshin warf dem Fürsten einen grimmigen, furchtbaren Blick zu und antwortete nicht. »Ich bin jetzt schon fünf Tage nicht bei ihr gewesen«, fuhr er fort, nachdem er ungefähr eine Minute lang geschwiegen hatte. »Ich fürchte immer, daß sie mich wegjagt. Sie sagt: ›Ich bin noch immer meine eigene Herrin; wenn ich will, jage ich dich ganz fort und reise selbst ins Ausland‹ (davon hat sie zu mir schon gesprochen, daß sie ins Ausland reisen will«, bemerkte er gleichsam in Klammern und sah dem Fürsten in ganz besonderer Art in die Augen). »Manchmal allerdings will sie mir damit nur Furcht einjagen, sie möchte sich immer über mich lustig machen; aber zu andern Zeiten ist sie wirklich in finsterer Stimmung, zieht die Augenbrauen zusammen und sagt kein Wort, und das ist's, was ich am meisten fürchte. Neulich dachte ich: ›Ich will doch nicht immer mit leeren Händen zu ihr kommen‹, aber sie lachte nur spöttisch über meine Geschenke und wurde dann sogar ernstlich zornig. Ich hatte ihr einen so schönen Schal geschenkt, daß ihr, obwohl sie früher im Luxus gelebt hat, seinesgleichen wohl noch nicht vor Augen gekommen war; den hat sie ihrem Stubenmädchen Katjka geschenkt. Und von dem Termin für die Hochzeit darf ich gar nicht zu reden anfangen. Ich kann mich ja gar nicht als ihren Bräutigam ansehen, wenn ich mich fürchte, auch nur zu ihr hinzugehen. Da sitze ich nun hier, und wenn ich es nicht mehr aushalten kann, dann gehe ich heimlich und verstohlen auf der Straße an ihrem Hause vorbei oder verstecke mich irgendwo hinter einer Ecke. Neulich habe ich beinah bis zum Morgengrauen in der Nähe ihrer Haustür gelauert, ich hatte so einen Verdacht. Aber sie hatte mich wohl durch das Fenster bemerkt und sagte nachher: ›Was würdest du mit mir machen, wenn du sähest, daß ich dich betrüge?‹ Ich konnte mich nicht halten und sagte: ›Das weißt du selbst.‹« »Was soll sie wissen?« »Woher soll ich es denn wissen?« erwiderte Rogoshin, grimmig auflachend. »In Moskau habe ich sie damals mit keinem abfassen können, obwohl ich lange aufpaßte. Ich nahm sie mir damals einmal vor und sagte zu ihr: ›Du bist mit mir verlobt und willst in eine ehrenhafte Familie eintreten; weißt du jetzt aber auch, was du für eine bist? So eine bist du!‹ sagte ich.« »Das hast du zu ihr gesagt?« »Ja.« »Nun, und sie?« »›Ich habe jetzt vielleicht nicht einmal Lust‹, sagte sie, ›dich als Lakaien anzunehmen, geschweige denn deine Frau zu werden.‹ – ›Und ich‹, sagte ich, ›gehe mit solchem Bescheid nicht weg; die Sache muß so oder so ein Ende haben!‹ – ›Und ich‹, sagte sie, ›werde gleich Keller rufen und ihm sagen, er soll dich aus dem Haus hinauswerfen.‹ Da habe ich mich auf sie gestürzt und sie geschlagen, daß sie blaue Flecke davon bekam.« »Es ist nicht möglich!« rief der Fürst. »Ich sage dir: es ist so gewesen«, erwiderte Rogoshin leise, aber mit funkelnden Augen. »Sechsunddreißig Stunden lang habe ich nicht geschlafen, nicht gegessen, nicht getrunken und ihr Zimmer nicht verlassen, auf den Knien habe ich vor ihr gelegen. ›Ich sterbe hier‹, sagte ich, ›ich gehe nicht hinaus, ehe du mir nicht verzeihst, und wenn du mich hinausbringen läßt, ertränke ich mich, denn wie werde ich jetzt ohne dich leben können?‹ Sie war den ganzen Tag wie eine Wahnsinnige: bald weinte sie, bald wollte sie mich mit einem Messer töten, bald schimpfte sie auf mich. Sie rief Saljoshew, Keller, Semtjushnikow und alle andern herbei, wies vor aller Augen mit dem Finger auf mich und schmähte mich. ›Wir wollen heute alle zusammen ins Theater fahren, meine Herren‹, sagte sie, ›mag er hier sitzen bleiben, wenn er nicht weggehen will; ich brauche doch seinetwegen nicht das Haus zu hüten! Es wird Ihnen hier, während ich weg bin, Tee gereicht werden, Parfen Semjonowitsch, Sie müssen ja heute ganz hungrig geworden sein.‹ Sie kehrte allein aus dem Theater zurück. ›Das sind Feiglinge und Schufte‹, sagte sie, ›sie fürchten sich vor dir und wollen auch mir Angst machen; sie sagen: »Er wird so nicht fortgehen, er wird Sie am Ende noch ermorden!« Aber ich werde, wenn ich in mein Schlafzimmer gehe, die Tür nicht hinter mir zuschließen; so wenig fürchte ich mich vor dir! Das magst du wissen und mit eigenen Augen sehen! Hast du Tee getrunken?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›und ich werde auch keinen trinken.‹ – ›Das ließe sich hören, wenn du ein Ehrenmann wärest, so aber steht dir das sehr wenig.‹ Und wie sie gesagt hatte, so tat sie auch: sie schloß ihr Zimmer nicht zu. Am Morgen kam sie wieder zu mir herein und lachte. ›Du hast wohl den Verstand verloren‹, sagte sie, ›nicht wahr? Du wirst ja auf diese Weise Hungers sterben.‹ – ›Verzeih mir!‹ sagte ich. – ›Ich will dir nicht verzeihen und werde dich nicht heiraten, ich habe es dir ja gesagt. Hast du wirklich die ganze Nacht auf diesem Stuhl gesessen und nicht geschlafen?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›ich habe nicht geschlafen.‹ – ›Was bist du für ein gescheiter Mensch! Und wirst du nun heute wieder keinen Tee trinken und nicht zu Mittag essen?‹ – ›Ich habe dir ja gesagt, daß ich es nicht tun werde. Verzeih mir!‹ – ›Wenn du nur wüßtest, wie wenig dir das steht‹, sagte sie, ›gerade wie einer Kuh ein Sattel. Meinst du etwa, mich dadurch einzuschüchtern? Was schadet es mir denn, wenn du hungrig dasitzt? Nein, wie mich das ängstigt!‹ Sie wurde zornig, aber das dauerte nicht lange; dann fing sie wieder an, mich zu höhnen. Und da wunderte ich mich über sie, wie es kam, daß eigentlich so gar keine Bosheit aus ihr redete. Und doch trägt sie andern das Böse, das sie ihr angetan haben, nach, trägt es ihnen lange nach! Mir schoß damals der Gedanke durch den Kopf, sie möge mich wohl so geringschätzen, daß sie mir nicht einmal ernstlich böse sein könne. Und das ist auch die Wahrheit. ›Weißt du‹, sagte sie, ›was es mit dem römischen Papst für eine Bewandtnis hat?‹ – ›Ich habe von ihm gehört‹, sagte ich. – ›Du hast keine Weltgeschichte gelernt, Parfen Semjonowitsch‹, sagte sie. – ›Ich habe überhaupt nichts gelernt‹, sagte ich. – ›Nun‹, sagte sie, ›da will ich dir einmal etwas zu lesen geben: es gab einmal einen Papst, der war auf einen Kaiser zornig, und der Kaiser lag vor dem Palast des Papstes drei Tage, ohne zu trinken und ohne zu essen, barfuß auf den Knien, bis der ihm verzieh. Was meinst du? Was mag wohl der Kaiser in diesen drei Tagen, als er da kniete, im stillen gedacht, und was für Gelübde mag er wohl abgelegt haben? ... Aber warte‹, sagte sie, ›ich werde es dir selbst vorlesen!‹ Sie sprang auf und holte ein Buch. ›Es sind Verse‹, sagte sie und begann mir in Versen vorzulesen, wie dieser Kaiser sich in diesen drei Tagen schwor, daß er sich an dem Papste rächen werde. ›Gefällt dir das denn nicht, Parfen Semjonowitsch?‹ sagte sie. – ›Was du da gelesen hast‹, sagte ich, ›ist alles sehr richtig.‹ – ›Aha, du sagst selbst, daß es richtig ist, also tust du vielleicht ebenfalls ein Gelübde von dieser Art: »Wenn sie mich heiratet, dann werde ich daran denken und ihr's heimzahlen!«‹ – ›Ich weiß nicht‹, sagte ich, ›vielleicht denke ich wirklich so.‹ – ›Wie ist denn das möglich, daß du es nicht weißt?‹ – ›Ich weiß es einfach nicht‹, sagte ich, ›ich denke jetzt an andere Dinge.‹ – ›Woran denkst du denn jetzt?‹ – ›Wenn du von deinem Platze aufstehst und an mir vorbeigehst, dann blicke ich nach dir hin und folge dir mit den Augen, und wenn dein Kleid raschelt, dann steht mir das Herz still, und wenn du aus dem Zimmer gehst, dann rufe ich mir jedes Wort, das du gesagt hast, ins Gedächtnis zurück, und mit welchem Tone du es gesagt hast und welchen Sinn es hatte, und diese ganze Nacht habe ich an nichts gedacht; ich habe immer nur danach hingehorcht, wie du im Schlaf atmetest und wie du dich ein paarmal bewegtest...‹ – ›Da denkst du wohl‹, sagte sie lachend, ›am Ende gar auch nicht mehr daran, daß du mich geschlagen hast, und hast es ganz vergessen?‹ – ›Vielleicht denke ich nicht mehr daran‹, sagte ich, ›ich weiß es nicht.‹ – ›Aber wenn ich dir nun nicht verzeihe und dich nicht heirate?‹ – ›Ich habe schon gesagt, daß ich mich dann ertränke.‹ – ›Vielleicht tötest du mich noch vorher...‹ Als sie das gesagt hatte, versank sie in Nachdenken. Dann wurde sie zornig und ging hinaus. Eine Stunde darauf kam sie mit ganz finsterer Miene wieder zu mir herein. ›Ich werde dich heiraten, Parfen Semjonowitsch‹, sagte sie, ›nicht weil ich vor dir Angst habe, sondern weil es ganz gleich ist, wie ich zugrunde gehe. Da ist eine Art nicht besser als die andere. Setz dich hin‹, sagte sie, ›es wird gleich das Mittagessen für dich aufgetragen werden. Und wenn ich dich heirate‹, fügte sie hinzu, ›so werde ich dir eine treue Frau sein, daran zweifle nicht; darüber brauchst du dich nicht zu beunruhigen.‹ Dann schwieg sie ein Weilchen und sagte darauf: ›Du bist doch kein Lakai; ich hatte früher gemeint, du wärest ein richtiger Lakai, wie er leibt und lebt.‹ Und da setzte sie auch die Hochzeit an, aber eine Woche darauf lief sie mir davon und flüchtete sich zu Lebedew. Als ich herkam, sagte sie zu mir: ›Ich will dich nicht gänzlich abweisen, ich will nur noch warten, solange es mir gefällt, denn ich bin immer noch meine eigene Herrin. Warte auch du, wenn du willst!‹ So steht es jetzt bei uns ... Wie denkst du über das alles, Lew Nikolajewitsch?« »Wie denkst du selbst darüber?« fragte der Fürst zurück und blickte Rogoshin traurig an. »Aber denke ich denn überhaupt?« rief dieser heftig und unwillkürlich. Er wollte noch etwas hinzufügen, unterdrückte es aber und schwieg in grenzenlosem Kummer. Der Fürst erhob sich und wollte wieder fortgehen. »Ich werde dir trotzdem nicht hinderlich sein«, sagte er leise, beinah melancholisch, als antwortete er auf einen eigenen heimlichen Gedanken. »Weißt du, was ich dir sagen werde?« rief Rogoshin; er wurde auf einmal lebhaft, und seine Augen funkelten. »Wie du so vor mir zurücktreten kannst, dafür habe ich kein Verständnis! Liebst du sie denn gar nicht mehr? Früher schmachtetest du doch nach ihr, das habe ich recht wohl gesehen. Und warum wärst du denn jetzt Hals über Kopf hierhergereist? Aus Mitleid?« (Sein Gesicht verzerrte sich zu einem boshaften Lächeln.) »Hehe!« »Du meinst, daß ich dich betrüge?« fragte der Fürst. »Nein, ich glaube dir, aber ich verstehe nichts davon. Das wahrscheinlichste ist wohl, daß dein Mitleid am Ende noch größer ist als meine Liebe!« Ein böser Gedanke, der danach drängte, sich sofort zu äußern, flammte auf seinem Gesicht auf. »Nun, deine Liebe ist vom Haß schwer zu unterscheiden«, versetzte der Fürst lächelnd. »Wenn sie aber vergeht, wird das Unglück vielleicht noch schlimmer sein. Ich kann dir schon jetzt sagen, Bruder Parfen ...« »Daß ich sie umbringen werde?« Der Fürst zuckte zusammen. »Daß du sie grimmig hassen wirst für diese deine jetzige Liebe und für all die Qual, die du jetzt ausstehst. Für mich ist das allerwunderbarste, wie es zugeht, daß sie wieder bereit ist, dich zu heiraten. Als ich es gestern hörte, wollte ich es kaum glauben, und es wurde mir ganz schwer ums Herz. Sie hat sich ja schon zweimal von dir losgemacht und ist unmittelbar vor der Trauung davongelaufen; also hat sie doch ein Gefühl dafür, was ihr bevorsteht! ... Was in aller Welt reizt sie jetzt an dir? Etwa dein Geld? Das ist Unsinn. Und du hast ja auch wohl von deinem Geld schon ein gut Teil vergeudet. Oder möchte sie überhaupt nur einen Mann bekommen? Aber einen Mann könnte sie doch auch von dir abgesehen mit Leichtigkeit erlangen. Und jeder andere wäre besser als du, weil du sie vielleicht geradezu umbringen wirst und sie das schon jetzt wohl nur zu gut weiß. Oder weil du sie so heftig liebst? Wirklich, das könnte der Grund sein. Ich habe mir sagen lassen, daß es Frauen gibt, die gerade so geliebt zu werden wünschen ... aber ...« Der Fürst brach ab und versank in Nachdenken. »Warum hast du wieder über das Porträt meines Vaters gelächelt?« fragte Rogoshin, der jede Veränderung in dem Gesicht des Fürsten, jede darüber hinhuschende Regung mit der größten Aufmerksamkeit beobachtete. »Warum ich gelächelt habe? Es kam mir der Gedanke, wenn dir dieses Unglück nicht zugestoßen und diese Liebe nicht über dich gekommen wäre, dann würdest du vielleicht genauso werden wie dein Vater, und zwar in sehr kurzer Zeit. Du würdest allein und wortkarg in diesem Haus sitzen mit einer gehorsamen, schweigsamen Frau, würdest nur selten und in strengem Ton reden, keinem Menschen trauen, den freundschaftlichen Verkehr mit Menschen auch gar nicht vermissen und nur schweigend und mit finsterer Miene Geld zusammenhäufen. Höchstens würdest du gelegentlich die Bücher der Altgläubigen loben und dich für das Bekreuzigen mit zwei Fingern interessieren, und auch das vielleicht erst, wenn du alt geworden wärest ...« »Spotte nur! Ganz genau dasselbe hat sie neulich gesagt, als sie ebenfalls dieses Porträt betrachtete! Es ist erstaunlich, wie ihr in allen Dingen ein und derselben Ansicht seid ...« »Ist sie denn schon bei dir gewesen?« fragte der Fürst lebhaft interessiert. »Ja. Sie betrachtete das Porträt lange und stellte viele Fragen über den Verstorbenen. ›Du würdest ganz genau so sein‹, sagte sie endlich lächelnd zu mir. ›Du hast starke Leidenschaften, Parfen Semjonytsch, so starke Leidenschaften, daß du durch sie ohne weiteres nach Sibirien zur Zwangsarbeit kommen würdest, wenn du nicht auch Verstand besäßest; denn du hast einen guten Verstand‹, sagte sie (so drückte sie sich aus, ob du es nun glaubst oder nicht; es war das erstemal, daß ich von ihr eine solche Äußerung hörte!). ›All diese jetzigen Tollheiten würdest du sehr bald beiseite werfen. Und da du ein Mensch ohne alle Bildung bist, so würdest du anfangen, Geld zusammenzuscharren, und würdest wie dein Vater mit deinen Skopzen in deinem Haus sitzen; möglicherweise würdest du zuletzt auch selbst zu ihrem Glauben übertreten, und dein Geld würdest du so liebgewinnen, daß du nicht zwei Millionen, sondern vielleicht zehn Millionen zusammenbringen und auf deinen Geldsäcken Hungers sterben würdest, denn du bist in allen Dingen leidenschaftlich, alles treibst du bis zur Leidenschaft.‹ Genauso redete sie, fast genau mit diesen selben Worten. Sie hatte noch nie vorher so mit mir geredet! Sie redet ja sonst immer mit mir nur von törichten Dingen oder macht sich über mich lustig, und auch damals hatte sie lachend angefangen, aber dann war sie ganz ernst und düster geworden; sie ging durch dieses ganze Haus und besah es und schien eine Art Schreck darüber zu bekommen. ›Ich werde das alles umändern und anders einrichten‹, sagte ich, ›oder ich kaufe auch vielleicht zur Hochzeit ein anderes Haus.‹ – ›Nein, nein‹, sagte sie, ›hier soll nichts umgeändert werden, wir wollen hier wohnen und alles so lassen. Ich möchte bei deiner Mutter wohnen‹, sagte sie, ›wenn ich deine Frau bin.‹ Ich führte sie zu meiner Mutter; sie benahm sich gegen diese ehrerbietig wie eine leibliche Tochter. Die Mutter sitzt schon seit längerer Zeit, schon zwei Jahre, da, als ob sie nicht bei vollem Verstand wäre (sie ist krank), und nach dem Tod des Vaters ist sie ganz wie ein kleines Kind geworden und fügt sich in alles; sie sitzt, ohne aufzustehen, da und verneigt sich nur vor jedem, den sie sieht, von ihrem Platze aus; ich glaube, wenn man sie nicht fütterte, würde sie es drei Tage lang nicht merken. Ich nahm die rechte Hand der Mutter, legte ihr die Finger zurecht und sagte: ›Segnen Sie sie, Mütterchen, sie wird sich mit mir trauen lassen.‹ Da küßte sie meiner Mutter mit herzlicher Empfindung die Hand. ›Deine Mutter‹, sagte sie, ›hat gewiß viel Leid zu ertragen gehabt.‹ Als sie dieses Buch hier in meinem Zimmer sah, wunderte sie sich und sagte: ›Was treibst du denn hier? Du liest russische Geschichte?‹ (Sie hatte aber einmal in Moskau selbst zu mir gesagt: ›Du solltest doch ein bißchen für deine Bildung tun und wenigstens Solowjows Russische Geschichte lesen, du weißt ja rein gar nichts!‹) ›Das ist recht von dir‹, sagte sie, ›lies das nur weiter! Ich werde dir selbst ein Verzeichnis der Bücher aufstellen, die du in erster Linie lesen mußt, ist es dir recht?‹ Niemals, niemals vorher hatte sie so zu mir gesprochen, so daß ich ganz erstaunt war; zum erstenmal konnte ich wieder frei aufatmen.« »Ich freue mich darüber sehr, Parfen«, erwiderte der Fürst mit warmem Gefühl, »sehr freue ich mich. Wer weiß, vielleicht bringt euch Gott doch noch zueinander.« »Das wird nie geschehen!« rief Rogoshin heftig. »Höre, Parfen, wenn du sie so liebst, möchtest du dann nicht ihre Achtung verdienen? Und wenn du das möchtest, hoffst du dann nicht, daß es dir gelingen wird? Ich habe vorhin gesagt, daß es mir ein wunderbares Rätsel ist, warum sie dich heiraten will. Aber obwohl ich dies Rätsel nicht lösen kann, so zweifle ich doch nicht daran, daß jedenfalls ein zureichender, vernünftiger Grund vorhanden sein muß. Von deiner Liebe ist sie überzeugt, aber wahrscheinlich ist sie auch davon überzeugt, daß du mancherlei gute Eigenschaften besitzt. Es kann ja nicht anders sein! Das, was du soeben gesagt hast, bestätigt es. Du sagst selbst, daß sie es möglich gefunden hat, mit dir in einem ganz andern Ton zu sprechen als dem, in dem sie früher mit dir verkehrt und geredet hat. Du bist mißtrauisch und eifersüchtig; daher übertreibst du alles, was du Schlechtes bemerkst. Sie denkt doch offenbar nicht so schlecht von dir, wie du annimmst. Sonst liefe ja, wenn sie dich heiratete, dies auf dasselbe hinaus, wie wenn sie mit Bewußtsein ins Wasser ginge oder sich ans Messer lieferte. Ist denn das möglich? Wer tut denn das mit Bewußtsein?« Mit bitterem Lächeln hörte Parfen die warmen Worte des Fürsten an. Seine Überzeugung schien bereits unerschütterlich festzustehen. »Mit was für schrecklichen Augen du mich jetzt ansiehst, Parfen!« rief der Fürst erschrocken. »Ins Wasser gehen oder sich ans Messer liefern!« sagte dieser endlich. »Hehe! Eben deshalb heiratet sie mich ja, weil sie als meine Frau bestimmt mit dem Messer rechnet! Hast du denn wirklich noch nicht begriffen, Fürst, was hier vorliegt?« »Ich verstehe dich nicht.« »Nun, vielleicht verstehst du es wirklich nicht, hehe! Man sagt ja von dir, du wärest nicht so ganz... hm. Sie liebt einen andern, begreif das doch! Geradeso, wie ich sie jetzt liebe, geradeso liebt sie jetzt einen andern. Und dieser andere, weißt du, wer das ist? Das bist du! Na, das hast du nicht gewußt, nicht wahr?« »Ich?« »Ja, du. Sie hat sich gleich damals an ihrem Geburtstag in dich verliebt. Aber sie denkt, sie könne dich nicht heiraten, weil sie dir Schande machen und dir dein ganzes Leben verderben würde. ›Man weiß ja‹, sagte sie, ›was ich für eine bin.‹ Und bei dieser Auffassung ist sie bis zu diesem Augenblick geblieben. Das hat sie mir alles ganz offen ins Gesicht gesagt. Sie fürchtet, dich zu entehren und ins Verderben zu bringen; aber bei mir kommt so etwas natürlich nicht in Betracht, mich kann sie heiraten. Da sieht man, wie sie mich achtet; das ist auch bemerkenswert!« »Aber wie geht es zu, daß sie von dir zu mir geflüchtet ist, und...von mir ...« »Und von dir zu mir! Hehe! Was hat sie nicht alles für Einfälle! Sie ist jetzt ganz wie im Fieber. Sie schreit mich an: ›Ich heirate dich, gerade wie wenn ich ins Wasser gehe. Nur recht schnell Hochzeit!‹ Sie treibt selbst zur Eile, bestimmt den Tag, und wenn die Zeit heranrückt, erschrickt sie, oder es kommen ihr andere Gedanken; Gott weiß, wie's zusammenhängt, aber du hast es ja selbst gesehen: sie weint und lacht und wird wie vom Fieber geschüttelt. Und was ist dabei Wunderbares, daß sie auch von dir weggelaufen ist? Sie ist damals von dir weggelaufen, weil es ihr selbst zum Bewußtsein kam, wie stark sie dich liebt. Bei dir zu bleiben, das ging über ihre Kraft. Du hast vorhin gesagt, ich hätte sie damals in Moskau wieder ausfindig gemacht; das ist nicht richtig, sie kam aus eigenem Antrieb von dir zu mir gelaufen: ›Bestimm einen Tag‹, sagte sie, ›ich bin bereit! Laß Champagner bringen! Wir wollen zu den Zigeunerinnen fahren!‹ schrie sie... Und wenn ich nicht gewesen wäre, so hätte sie sich schon längst ins Wasser gestürzt, das kann ich bestimmt sagen. Sie stürzt sich nur deswegen nicht hinein, weil ich ihr vielleicht noch schrecklicher bin als das Wasser. Aus purem Grimm wird sie mich heiraten ... Wenn sie mich heiratet, so kann ich mit aller Sicherheit sagen, daß sie es aus Grimm tut.« »Aber wie kannst du nur... wie kannst du nur ...«, rief der Fürst, ohne den Satz zu beenden. Er blickte Rogoshin erschrocken an. »Warum sprichst du nicht zu Ende?« fragte dieser lächelnd. »Aber wenn du willst, so werde ich dir sagen, was du in diesem Augenblick im stillen denkst: ›Wie kann sie unter solchen Umständen seine Frau werden? Wie kann man das zulassen?‹ Ich weiß, daß du das denkst...« »Ich bin nicht deswegen hergereist, Parfen; ich sage dir, so etwas ist mir nicht in den Sinn gekommen...« »Es ist ja möglich, daß du nicht deswegen hergereist bist und daß dir so etwas nicht in den Sinn gekommen war, aber nun wird sich der Zweck nachträglich ergeben, hehe! Nun genug! Warum bist du so bestürzt? Solltest du wirklich nichts davon gewußt haben? Du setzt mich in Erstaunen!« »Das ist bei dir nur Eifersucht, Parfen, das ist eine Krankheit, du übertreibst das alles maßlos...«, murmelte der Fürst in größter Erregung. »Was hast du denn?« »Laß das liegen!« sagte Parfen und riß dem Fürsten hastig ein Messer aus der Hand, das dieser vom Tische aufnahm, wo es neben dem Buch gelegen hatte, und tat es wieder auf seinen früheren Platz. »Mir ist, als hätte ich es bei der Ankunft in Petersburg gewußt, als hätte ich eine Vorahnung gehabt...«, fuhr der Fürst fort. »Ich wollte nicht herfahren! Ich wollte diese ganze Sache vergessen und mir aus dem Herzen reißen! Nun, leb wohl... Aber was hast du denn?« Während des Sprechens hatte der Fürst in der Zerstreutheit dasselbe Messer wieder vom Tisch genommen, und nun nahm Rogoshin es ihm zum zweitenmal aus der Hand und warf es auf den Tisch. Es war ein Messer von ganz einfacher Gestalt, mit einem Griff aus Hirschhorn, nicht zum Zusammenklappen, mit einer etwa dreieinhalb Werschok 1 Werschok = 4,45 cm. langen und entsprechend breiten Klinge. Als Rogoshin sah, daß der Fürst stutzig darüber wurde, weil ihm dieses Messer zweimal aus der Hand gerissen ward, ergriff er es grimmig und ärgerlich, legte es in das Buch und schleuderte das Buch auf einen anderen Tisch. »Du schneidest damit wohl die Seiten auf?« fragte der Fürst, aber zerstreut, als sei er immer noch in Gedanken versunken. »Ja, freilich.« »Es ist ja ein Gartenmesser!« »Ja. Kann man denn die Seiten nicht auch mit einem Gartenmesser aufschneiden?« »Aber es...es ist ganz neu.« »Na, was ist denn dabei, daß es neu ist? Darf ich mir etwa nicht ein neues Messer kaufen, sobald ich will?« schrie Rogoshin endlich in einer Art Raserei; seine Gereiztheit war mit jedem Wort ärger geworden. Der Fürst zuckte zusammen und blickte ihn aufmerksam an. »Aber wir sind auch die Richtigen!« sagte er lachend; er war nun wieder völlig zur Besinnung gekommen. »Sei mir nicht böse, Bruder, wenn mir der Kopf so schwer ist wie jetzt, und dazu noch diese Krankheit... ich werde dann ganz zerstreut und komisch. Ich wollte überhaupt nicht danach fragen... ich weiß schon nicht mehr, um was es sich handelte. Leb wohl!« »Nicht dort!« sagte Rogoshin. »Ich habe vergessen, durch welche Tür ich hereingekommen bin!« »Hier, hier, komm, ich werde dir den Weg zeigen.« IV Sie gingen durch dieselben Zimmer, die der Fürst schon vorher passiert hatte. Rogoshin ging ein wenig voraus, der Fürst hinter ihm her. Sie kamen in den großen Salon. Hier befanden sich an den Wänden einige Gemälde, lauter Porträts von Bischöfen und Landschaften, von denen nichts zu erkennen war. Über der Tür nach dem nächsten Zimmer hing ein Bild von recht auffälligem Format: Zweieinhalb Arschin 1 Arschin = 71,1 cm lang und nicht mehr als sechs Werschok hoch. Es stellte den soeben vom Kreuze abgenommenen Heiland dar. Der Fürst blickte es flüchtig an, als käme ihm eine Erinnerung, wollte aber, ohne stehenzubleiben, durch die Tür hindurchgehen. Er fühlte sich sehr bedrückt, und es verlangte ihn, möglichst schnell aus diesem Haus herauszukommen. Aber Rogoshin blieb plötzlich vor dem Bild stehen. »All diese Bilder hier«, sagte er, »hat mein verstorbener Vater auf Auktionen gekauft, das Stück zu einem oder zwei Rubel, er liebte so etwas. Ein Sachverständiger hat sie alle hier besichtigt, er sagte, es sei Schund; aber dieses hier, das Bild über der Tür, das ebenfalls für zwei Rubel gekauft ist, von dem sagte er, es sei kein Schund. Noch zu Lebzeiten meines Vaters fand sich jemand, der ihm dafür dreihundertundfünfzig Rubel bot, und Iwan Dmitrijewitsch Saweljew, ein Kaufmann, der ein großer Liebhaber solcher Dinge ist, der ist bis auf vierhundert hinaufgegangen und hat in der vorigen Woche meinem Bruder Semjon Semjonytsch schon fünfhundert geboten. Aber ich habe es für mich behalten.« »Das ist ja... das ist ja eine Kopie nach Hans Holbein«, sagte der Fürst, der nun Zeit gehabt hatte, das Bild genauer zu betrachten, »und obwohl ich kein großer Kenner bin, scheint es mir doch eine vorzügliche Kopie zu sein. Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen. Aber... was hast du denn? ...« Rogoshin kümmerte sich auf einmal nicht weiter um das Bild, sondern ging auf dem bisherigen Wege weiter. Allerdings ließ sich dieses sprunghafte Wesen durch seine Zerstreutheit und durch die besondere, seltsam reizbare Stimmung, die bei ihm so plötzlich hervorgetreten war, vielleicht erklären; aber trotzdem erschien es dem Fürsten wunderlich, daß Rogoshin ein von ihm selbst begonnenes Gespräch so plötzlich abbrach und ihm nicht einmal antwortete. »Hör mal, Lew Nikolajewitsch«, fing Rogoshin wieder an, nachdem er einige Schritte gemacht hatte, »ich wollte dich schon längst fragen: glaubst du an Gott oder nicht?« »Wie sonderbar du fragst, und... was du für ein sonderbares Gesicht machst!« äußerte der Fürst unwillkürlich. »Dieses Bild betrachte ich immer gern«, murmelte Rogoshin nach kurzem Stillschweigen, als hätte er seine Frage wieder vergessen. »Dieses Bild betrachtest du gern?« rief der Fürst, von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Dieses Bild? Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren!« »Ich verliere ihn auch«, war Rogoshins überraschende, bestätigende Antwort. Sie waren bereits zur Ausgangstür gelangt. »Wie?« sagte der Fürst, stehenbleibend. »Was redest du da? Ich habe eigentlich nur im Scherz gesprochen, und du sagst das so ernst! Und warum hast du mich gefragt, ob ich an Gott glaube?« »Einen besonderen Grund hatte ich nicht dazu. Ich wollte dich schon früher danach fragen. Heutzutage glauben ja viele nicht an ihn. Ob das wohl wahr ist (du hast ja im Ausland gelebt), mir hat einmal so ein Trunkenbold gesagt, bei uns in Rußland gebe es mehr Leute, die nicht an Gott glauben, als in allen andern Ländern? ›Uns‹, sagte er, ›wird es leichter, zum Unglauben zu gelangen, als ihnen, weil wir weiter fortgeschritten sind‹...« Rogoshin lächelte spöttisch; als er seine Frage ausgesprochen hatte, öffnete er die Tür und wartete mit der Klinke in der Hand darauf, daß der Fürst hinausging. Der Fürst wunderte sich, trat aber hinaus. Der andere folgte ihm in den Treppenflur und machte die Tür hinter sich zu. Sie standen einander mit solchen Gesichtern gegenüber, daß es schien, als hätten sie beide vergessen, wo sie waren und was sie nun zu tun hatten. »Leb wohl!« sagte der Fürst und reichte Rogoshin die Hand. »Leb wohl!« erwiderte dieser und drückte fest, aber ganz mechanisch die ihm hingestreckte Hand. Der Fürst stieg eine Stufe hinab und drehte sich um. »Was aber den Glauben betrifft«, begann er lächelnd (er wollte offenbar Rogoshin nicht verlassen, ohne ihm geantwortet zu haben; auch belebte ihn eine plötzlich auftauchende Erinnerung), »was den Glauben betrifft, so hatte ich in der vorigen Woche an zwei Tagen vier verschiedene Erlebnisse. An einem Vormittag fuhr ich auf einer neuen Eisenbahnstrecke und unterhielt mich im Zug vier Stunden lang mit einem gewissen S., den ich auf der Fahrt kennengelernt hatte. Ich hatte schon früher viel von ihm gehört, unter anderm auch, daß er Atheist sei. Er ist tatsächlich ein sehr gelehrter Mann, und ich freute mich, daß ich mit einem wirklichen Gelehrten reden durfte. Außerdem ist er ein außerordentlich wohlerzogener Mensch und redete infolgedessen mit mir, ganz wie wenn ich ihm an Kenntnissen und Begriffsvermögen gleichkäme. An Gott glaubt er nicht. Nur eines fiel mir auf: daß er über diesen Punkt die ganze Zeit gar nicht sprach, und das fiel mir gerade deswegen auf, weil es mir auch früher, sooft ich mit Ungläubigen zusammengetroffen war und sooft ich derartige Bücher gelesen hatte, immer so vorgekommen war, als ob sie über diesen Punkt überhaupt weder redeten noch in ihren Büchern schrieben, obgleich es auf den ersten Blick scheinen konnte, daß es eben darum ging. Das sagte ich ihm gleich damals, aber jedenfalls nicht deutlich, oder ich wußte mich nicht auszudrücken; denn er verstand mich nicht... Am Abend kehrte ich in einer Kreisstadt in einem Gasthaus ein, um da zu übernachten, und in diesem Gasthaus war kurz vorher, in der vorhergehenden Nacht, ein Mord geschehen, so daß bei meiner Ankunft alle noch davon sprachen: Zwei Bauern, ältere Leute, nicht betrunken, schon lange miteinander bekannt und befreundet, hatten Tee getrunken und wollten sich zusammen in ihrem gemeinsamen Kämmerchen schlafen legen. Aber der eine hatte bei dem andern in den letzten zwei Tagen eine silberne Uhr an einer Schnur mit gelben Glasperlen gesehen, die er offenbar bei ihm früher noch nicht erblickt hatte. Dieser Mann war kein Dieb, er war sogar ein ehrenhafter Mensch und für einen Bauer durchaus nicht arm. Aber die Uhr gefiel ihm dermaßen und hatte für ihn so viel Verlockendes, daß er schließlich nicht mehr widerstehen konnte: er nahm ein Messer, ging, als der Freund sich umgedreht hatte, vorsichtig von hinten an ihn heran, faßte die richtige Stelle ins Auge, richtete den Blick gen Himmel, bekreuzigte sich, und nachdem er im stillen inbrünstig gebetet hatte: ›O Gott, verzeih mir um Christi willen!‹, schnitt er seinem Freund mit einem einzigen Schnitt wie einem Hammel die Kehle durch und nahm ihm die Uhr weg.« Rogoshin schüttelte sich vor Lachen. Er lachte so heftig, als hätte er einen Anfall bekommen. Es machte einen ganz seltsamen Eindruck, dieses Lachen zu sehen, nachdem er sich noch kurz vorher in so düsterer Stimmung befunden hatte. »Das gefällt mir! Nein, das ist ja ganz vorzüglich!« schrie er krampfhaft und fast außer Atem. »Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere glaubt so sehr an ihn, daß er sogar bei der Ermordung eines Menschen betet... Nein, Bruder, das ist ja gar nicht auszudenken! Hahaha! Nein, das ist köstlich!« »Am andern Morgen schlenderte ich durch die Stadt«, fuhr der Fürst fort, sobald Rogoshin sich einigermaßen beruhigt hatte, obwohl das Lachen immer noch nach Art eines Krampfanfalles auf seinen Lippen zuckte, »da sah ich, wie ein betrunkener Soldat in ganz wüstem Zustand auf dem hölzernen Gehsteig umherschwankte. Er kam auf mich zu und sagte: ›Herr, kauf mir dieses silberne Kreuz ab, ich lasse es dir für zwanzig Kopeken; es ist von Silber!‹ Ich sah, daß er in der Hand ein Kreuz hielt, das er sich jedenfalls eben erst abgenommen hatte; es saß an einem himmelblauen, stark abgenutzten Band, war aber, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, nur von Zinn, von großem Format, mit acht Enden, nach einem echt byzantinischen Muster. Ich nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der Tasche und gab es ihm, das Kreuz aber band ich mir sogleich um; dem Soldaten konnte man am Gesicht ansehen, wie er sich freute, den dummen Herrn geprellt zu haben; er ging schleunigst davon, um den Erlös für sein Kreuz zu vertrinken. Auf mich, Bruder, machte damals all das, was in Rußland massenhaft auf mich eindrang, einen sehr starken Eindruck; ich hatte in meinem Heimatland vorher für nichts Verständnis gehabt, war wie ein Blinder aufgewachsen, und meine Erinnerungen an Rußland während der fünf Jahre meines Aufenthaltes im Ausland waren höchst phantastischer Art gewesen. Da ging ich also weiter und dachte: ›Nein, ich will über diesen Soldaten, der seinen Christus verkauft hat, doch noch nicht den Stab brechen. Gott weiß, was für Gefühle sich in diesen trunkenen und schwachen Herzen regen.‹ Als ich eine Stunde darauf in mein Gasthaus zurückkehrte, stieß ich auf eine Bauersfrau mit einem Säugling. Es war eine noch junge Frau, das Kind mochte etwa sechs Wochen alt sein. Das Kind lächelte sie an, nach ihrer Beobachtung zum erstenmal seit seiner Geburt. Ich sah, daß sie sich auf einmal mit dem Ausdruck größter Frömmigkeit bekreuzigte. ›Was hast du denn, junge Frau?‹ fragte ich. (Ich erkundigte mich nämlich damals nach allem.) ›Ach‹, sagte sie, ›ebenso wie sich eine Mutter freut, wenn sie ihr Kind zum erstenmal lächeln sieht, ganz ebenso wird sich gewiß auch Gott jedesmal freuen, wenn er vom Himmel sieht, daß ein Sünder von ganzem Herzen betet.‹ Das sagte die Bauersfrau zu mir, fast mit diesen selben Worten, und sprach damit einen überaus tiefen, feinen, echt religiösen Gedanken aus, einen Gedanken, in dem das ganze Wesen des Christentums zugleich zum Ausdruck kommt, das heißt, die Vorstellung von Gott als unserm Vater und von der Freude Gottes über den Menschen, die der Freude eines Vaters über sein Kind gleicht, – der eigentliche Kernpunkt dessen, was Christus gesagt hat. Eine einfache Bauersfrau! Allerdings eine Mutter... und wer weiß, vielleicht war sie die Frau jenes Soldaten. Höre, Parfen, du fragtest mich vorhin, da hast du meine Antwort: das Wesen des religiösen Gefühls wird weder durch vernunftmäßige Überlegungen noch durch Vergehen und Verbrechen, noch durch atheistische Anschauungen berührt; es ist etwas Andersartiges und wird in alle Ewigkeit etwas Andersartiges sein; die Lehren des Atheismus werden in alle Ewigkeit davon abgleiten und in alle Ewigkeit daran vorbeireden. Die Hauptsache aber ist, daß man dies am klarsten und schnellsten an der russischen Seele erkennt; das ist das Resultat meiner Beobachtungen! Das ist eine der ersten Überzeugungen, die ich bei uns in Rußland gewonnen habe. Hier läßt sich etwas tun, Parfen, es läßt sich vieles tun auf unserem russischen Boden, glaube mir! Erinnere dich, wie wir eine Zeitlang in Moskau zusammen lebten und öfter miteinander darüber sprachen... Und ich hatte gar nicht vorgehabt, jetzt hierher zurückzukehren! Ich hatte mir die Wiederbegegnung mit dir ganz, ganz anders ausgemalt! Na, was hilft's... Leb wohl, auf Wiedersehen! Gott behüte dich!« Er wendete sich um und stieg die Treppe hinunter. »Lew Nikolajewitsch!« rief Parfen dem Fürsten von oben nach, als dieser zum ersten Treppenabsatz gelangt war, »hast du das Kreuz, das du von dem Soldaten gekauft hast, bei dir?« »Ja.« Der Fürst blieb wieder stehen. »Zeig es doch einmal her!« Wieder eine neue Absonderlichkeit! Der Fürst überlegte einen Augenblick, stieg dann wieder hinauf, zog das Kreuz heraus und zeigte es ihm, ohne es vom Hals abzunehmen. »Gib es mir!« sagte Rogoshin. »Wozu? Hast du denn...« Der Fürst wollte sich nicht gern von dem Kreuz trennen. »Ich will es tragen, und meines will ich dir geben, das trage du dann!« »Du willst, daß wir die Kreuze tauschen? Schön, Parfen, wenn du es so meinst, dann freue ich mich; wir werden jetzt Brüder sein!« Der Fürst nahm sein Zinnkreuz ab, Parfen sein goldenes, und sie tauschten miteinander. Parfen schwieg. Erstaunt und betrübt bemerkte der Fürst, daß das frühere Mißtrauen und das bittere, spöttische Lächeln immer noch nicht von dem Gesicht seines Kreuzbruders geschwunden waren, sondern zumindest in einzelnen Augenblicken wieder stark sichtbar wurden. Schweigend ergriff Rogoshin endlich die Hand des Fürsten und stand eine Weile da, als ob er sich zu etwas nicht entschließen könnte; endlich zog er ihn auf einmal hinter sich her, indem er kaum hörbar sagte: »Komm!« Sie gingen quer über den Treppenflur und klingelten an einer Tür, die derjenigen, aus welcher sie herausgekommen waren, gerade gegenüberlag. Es wurde ihnen bald geöffnet. Eine alte, ganz zusammengekrümmte Frau in schwarzem Kleid, mit einem Tuch um den Kopf, verbeugte sich schweigend tief vor Rogoshin; dieser sagte schnell ein paar Worte zu ihr und führte, ohne stehenzubleiben und eine Antwort abzuwarten, den Fürsten in die Wohnung hinein. Wieder durchschritten sie dunkle Zimmer von einer außerordentlichen, sozusagen kalten Sauberkeit; auch die altertümlichen Möbel in ihren weißen, reinen Überzügen machten einen kalten, trüben Eindruck. Ohne Anmeldung führte Rogoshin den Fürsten geradewegs in ein kleines, salonartiges Zimmer; eine Hälfte desselben war durch eine niedrige Zwischenwand von glänzendem Mahagoniholz mit zwei Türen an den Enden abgeteilt; der dahinter liegende Raum diente wahrscheinlich als Schlafzimmer. In einer Ecke des Salons, am Ofen, saß in einem Lehnstuhl eine kleine ältere Frau, dem Anschein nach noch nicht allzu bejahrt, sogar mit einem recht gesunden, angenehmen runden Gesicht, aber schon vollständig ergraut und (was man schon beim ersten Blick erkennen konnte) ganz kindisch geworden. Sie trug ein schwarzwollenes Kleid, ein großes schwarzes Tuch um den Hals und eine reine, weiße Haube mit schwarzen Bändern. Die Füße ruhten auf einem Fußbänkchen. Neben ihr saß eine andere sauber gekleidete alte Frau, älter als sie, gleichfalls in Trauer und gleichfalls mit einer weißen Haube, wahrscheinlich eine arme Person, die aus Gnade in das Haus aufgenommen war, und strickte schweigend einen Strumpf. Sie schienen beide die ganze Zeit geschwiegen zu haben. Als die erste Alte Rogoshin und den Fürsten erblickte, lächelte sie ihnen zu und nickte zum Zeichen ihres Vergnügens mehrmals freundlich mit dem Kopfe. »Mütterchen«, sagte Rogoshin, ihr die Hand küssend, »hier ist ein guter Freund von mir, Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin; er und ich haben miteinander die Kreuze getauscht; er ist eine Zeitlang in Moskau wie ein Bruder zu mir gewesen und hat viel für mich getan. Segne ihn, Mütterchen, wie du deinen eigenen Sohn segnen würdest! Warte, liebe Alte! So! Laß mich dir die Hand zurechtlegen...« Aber noch ehe Parfen Zeit hatte, dies auszuführen, hob die alte Frau ihre rechte Hand in die Höhe, legte drei Finger derselben zusammen und bekreuzigte den Fürsten dreimal andächtig, Darauf nickte sie ihm noch einmal freundlich und zärtlich mit dem Kopfe zu. »Nun wollen wir wieder gehen, Lew Nikolajewitsch!« sagte Parfen. »Ich hatte dich nur zu diesem Zweck hergeführt...« Als sie wieder auf die Treppe hinaustraten, fügte er hinzu: »Sie versteht ja nichts, was man zu ihr sagt, und hat auch von meinen Worten nichts verstanden; aber sie hat dich doch gesegnet, da muß es ihr eigener Wunsch gewesen sein... Nun aber leb wohl, wir haben beide keine Zeit mehr.« Damit öffnete er die Wohnungstür. »So laß dich doch wenigstens zum Abschied umarmen, du wunderlicher Mensch!« rief der Fürst, indem er ihn mit zärtlichem Vorwurf anblickte, und wollte ihn umarmen. Aber Parfen hatte kaum die Arme erhoben, als er sie auch sogleich wieder sinken ließ. Er konnte sich nicht dazu entschließen; er wandte sich ab, um den Fürsten nicht anzusehen. Er wollte ihn nicht umarmen. »Hab keine Angst! Ich habe dir zwar dein Kreuz weggenommen, werde dich aber nicht um einer Uhr willen ermorden!« murmelte er undeutlich und lachte auf einmal seltsam auf. Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Gesicht: er wurde schrecklich blaß, seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen flammten auf. Er hob die Arme in die Höhe, umarmte den Fürsten mit festem Druck und sagte keuchend: »So nimm sie, wenn das Schicksal es einmal so will! Sie sei dein! Ich trete zurück!... Vergiß Rogoshin nicht!« Und er wandte sich von dem Fürsten ab, ging, ohne noch einmal nach ihm hinzublicken, in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. V Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und entschied sich dafür, nach dem Gasthaus »Zur Waage« zu gehen und dort nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort war, ihm ein Briefchen zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage, solle man sagen, daß er gegen drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk gefahren, nach dem Landhause der Generalin Jepantschina, und werde dort auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu warten, und benutzte die Zeit, um sich Mittagessen geben zu lassen. Um halb vier und sogar um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen. Der Fürst ging hinaus und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße trugen. Zu Anfang des Sommers gibt es in Petersburg manchmal wunderschöne Tage, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt. Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf Plätzen und Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem Interesse die Passanten zu betrachten, aber meist achtete er weder auf die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an all dem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden. Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskoje Selo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immerzu das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er eben im Zug Platz nehmen wollte, warf er plötzlich das gerade gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen. Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrschte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Gehsteig vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen, ob er wirklich soeben, vor vielleicht nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden hatte und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen war und er irgend etwas verwechselt hatte. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befand, fast in demselben Zustand, der sich damals zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besonders gespannte Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er vorhin vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster ausgelegten Gegenständen war einer gewesen, den er betrachtet und dabei sogar auf sechzig Kopeken taxiert hatte, daran erinnerte er sich trotz all seiner Zerstreutheit und Unruhe. Folglich, wenn dieser Laden existierte und der betreffende Gegenstand tatsächlich unter den Waren ausgestellt war, so mußte er eigens wegen dieses Gegenstandes stehengeblieben sein. Also mußte dieser Gegenstand ihn so sehr interessiert haben, daß er seine Aufmerksamkeit sogar zu einer Zeit auf sich gezogen hatte, als er sich, nachdem er eben den Bahnhof verlassen, in so arger Verwirrung befunden hatte. Er ging, fast sehnsüchtig nach rechts blickend, zurück, und sein Herz schlug heftig vor unruhiger, ungeduldiger Erwartung. Aber da war ja dieser Laden, er hatte ihn endlich gefunden! Er war schon fünfhundert Schritte von ihm entfernt gewesen, als er den Entschluß gefaßt hatte umzukehren. Und da war auch der Gegenstand für sechzig Kopeken. ›Gewiß, sechzig Kopeken, mehr ist er nicht wert!‹ sagte er sich jetzt auf das bestimmteste und lachte auf. Aber dieses Lachen war hysterisch; er fühlte sich sehr bedrückt. Er erinnerte sich jetzt deutlich, daß er gerade hier, während er vor diesem Schaufenster stand, sich plötzlich umgedreht hatte, ebenso wie eine Weile vorher, als er Rogoshins Augen auf sich gerichtet fühlte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich in dem Laden und dem Gegenstand nicht geirrt hatte (wovon er übrigens auch schon vor der Nachprüfung überzeugt gewesen war), interessierte er sich nicht mehr für den Laden und ging so schnell wie möglich fort. Alles dies mußte er unter allen Umständen möglichst bald überdenken; jetzt war es ihm klar, daß er auch dort auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof nicht nur so eine leere Vorstellung gehabt hatte, sondern ihm unbedingt etwas Wirkliches begegnet war, das mit all dieser seiner früheren Unruhe zusammenhing. Aber der innerliche, unüberwindliche Widerwille gewann wieder die Oberhand; der Fürst mochte nichts überlegen und tat es auch nicht; er versank ganz in Gedanken an etwas anderes. Er dachte unter anderm daran, daß es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor dem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit, seelischen Finsternis und Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlage besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren nur Vorläufer jener letzten, entscheidenden Sekunde (es war nie mehr als eine Sekunde), mit der der Anfall selbst begann. Diese Sekunde freilich war unerträglich. Wenn er später, nach Wiederkehr des gesunden Zustandes, über diesen Augenblick nachdachte, so sagte er sich oft, daß dieses Aufschimmern und Aufblitzen eines erhöhten Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und somit auch eines »höheren Seins« nichts anderes sei als Krankheit, eine Aufhebung des normalen Zustandes, und daß, wenn es sich so verhalte, dies überhaupt kein höheres Sein sei, sondern ganz im Gegenteil zu der allerniedrigsten Art des Seins gerechnet werden müsse. Und trotzdem gelangte er schließlich zu einer höchst paradoxen Schlußfolgerung: ›Was liegt daran, daß dies Krankheit ist‹, sagte er sich, ›was liegt daran, daß es eine nicht normale Anspannung ist, wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der nach Wiederkehr des gesunden Zustandes sich daran erinnert und es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Gleichmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?‹ Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß dies tatsächlich »Schönheit und Gebet« und »die höchste Synthese des Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand mit einem Wort bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblicke des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: ›Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!‹, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie als deutliche Folge jener höchsten Augenblicke standen ihm nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler, aber die Realität des Gefühls verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch, er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glückes willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne. »In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoshin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll. Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoshin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. ›Rogoshin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt‹, dachte der Fürst bei sich. Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer, ein dunkles Gewölk umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob von ferne ein Gewitter aufzöge. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und seinem Denken an jeden äußeren Gegenstand, und dies gefiel ihm, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte, aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er sich so sehr loszumachen wünschte. Er versuchte sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete. Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug wie eine dämonische Versuchung auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in Richtung der Petersburger Seite. Er hatte vorhin am Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Petersburger Seite zu zeigen; das hatte dieser auch getan, aber der Fürst war vorhin nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen, das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. ›Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren, sonst hätte Kolja verabredungsgemäß etwas in der »Waage« hinterlassen.‹ Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen ... Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf den Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wenn auch nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül... Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus einem nicht recht verständlichen Grund fortwährend an Lebedews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Shemarin lebhaftes Interesse bekundet. Der Kellner war mit ihm gleicher Meinung gewesen, daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner, es war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen. ›Aber‹, sagte sich der Fürst, ›Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.‹ An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh, viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen sechs Monaten kennengelernt. Aber eine fremde Seele ist ein dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoshin verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt, aber kannte er Rogoshin etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal in einer Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger, selbstzufriedener Patron war dieser Lebedewsche Neffe von vorhin! ›Aber was mache ich denn?‹ fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort. ›Ist er es etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat? Ich scheine da etwas zu verwechseln... wie sonderbar! Der Kopf ist mir etwas schwindlig... Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat Lebedews älteste Tochter, die, welche mit dem Kind auf dem Arm dastand, was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein kindliches Lachen!‹ Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedew, der die Seinigen durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher, wie zweimal zwei vier ist, liebt Lebedew auch seinen Neffen von Herzen! Wie kam er übrigens dazu, über diese Leute so endgültig zu urteilen, er, der doch erst heute angekommen war? Wie konnte er solche Urteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedew so ein Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedew einen solchen Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedew früher von dieser Seite gekannt? Lebedew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens Rogoshin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in so widerwärtiger Weise tun. Ein solches seelisches Chaos wird es da nicht geben. Ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen! Besitzt etwa Rogoshin ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument?... ›Aber... ist es denn bereits ausgemachte Sache, daß Rogoshin einen Mord begehen wird?‹ dachte der Fürst und zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief er, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz bestürzt und blieb wie angewurzelt auf dem Weg stehen. Er erinnerte sich an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof und am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er Rogoshin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an Rogoshins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoshins Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen Verzicht Rogoshins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte, und dann dieser Laden und dieser Gegenstand... was für eine Gemeinheit! Und nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und schlug diese Richtung ein, aber nach einer Minute blieb er wieder stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort. Und jetzt befand er sich schon auf der Petersburger Seite und war nahe bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder, das war unzweifelhaft; vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr, in seinem Herzen herrschte Freude! Und... er hatte sie so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen, und... ja, jetzt würde er wünschen, Rogoshin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen ... Sein Herz war rein, war er denn etwa Rogoshins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoshin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoshin vorhin gesagt hat, nur, um sie zu sehen, hierhergeeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet! Ja, das alles muß jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vorhin Rogoshins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und im Hellen vollziehen. War denn Rogoshin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagt, er liebe sie in anderer Weise, er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«, aber damit verleumdet er sich selbst. Hm!... Rogoshin über einem Buch... ist das nicht schon Mitleid, nicht ein Anfang von Mitleid? Beweist nicht schon das Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz, es ergreift die ganze Seele, es... und eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen. Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er an ihr zum erstenmal Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoshin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber... hat denn Rogoshin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm!... Rogoshin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Vermutung sagen? (Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.) Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoshin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoshin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese geistig gestörte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoshin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmer, herzlicher Worte in Moskau nennt ihn Rogoshin schon seinen Bruder, und er... Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen!... Wie finster hat Rogoshin vorhin gesagt, daß er »seinen Glauben verliert«! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, daß er »dieses Bild gern betrachtet«; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoshin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur, er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll... Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild ist... Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja, es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin Filissowa«. Hier! Der Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna. Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm, Nastasja Filippowna sei schon am Morgen nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna gefahren, und es könne sogar sein, daß sie einige Tage dort bleibe. Frau Filissowa war eine kleine Person mit scharfen Augen und spitzem Gesicht, etwa vierzig Jahre alt; sie blickte ihn schlau und prüfend an. Auf ihre Frage nach seinem Namen, die sie absichtlich in geheimnisvollem Ton stellte, wollte ihr der Fürst zuerst keine Antwort geben; aber er drehte sich dann doch sofort wieder um und bat sie eindringlich um Mitteilung seines Namens an Nastasja Filippowna. Frau Filissowa nahm dieses dringende Verlangen mit gesteigerter Aufmerksamkeit und außerordentlich diskreter Miene entgegen, wodurch sie offenbar zum Ausdruck bringen wollte: ›Seien Sie unbesorgt, ich weiß Bescheid!‹ Der Name des Fürsten machte auf sie augenscheinlich einen sehr starken Eindruck. Der Fürst blickte sie zerstreut an, wendete sich um und machte sich auf den Rückweg nach seinem Gasthaus. Aber er bot beim Hinausgehen nicht mehr dasselbe Bild wie in dem Augenblick, als er bei Frau Filissowa geklingelt hatte. Es war mit ihm wieder, und zwar ganz plötzlich, eine sehr große Veränderung vorgegangen: er war wieder blaß und schwach geworden, befand sich in starker Aufregung und schritt wie ein schwer Leidender einher; die Knie zitterten ihm, und ein mattes, verlorenes Lächeln spielte um seine bläulich gewordenen Lippen: sein »plötzlicher Gedanke« hatte seine Bestätigung gefunden und sich als richtig erwiesen, und – er glaubte wieder an seinen Dämon! Aber hatte er seine Bestätigung gefunden? Hatte er sich als richtig erwiesen? Wodurch kam wieder dieses Zittern, dieser kalte Schweiß, diese seelische Finsternis und Kälte? Dadurch, daß er soeben wieder diese Augen gesehen hatte? Aber er war ja aus dem Sommergarten einzig und allein in der Absicht dorthin gegangen, sie wiederzusehen! Darin hatte ja sein »plötzlicher Gedanke« bestanden. Er hatte ein dringendes Verlangen verspürt, diese »Augen von vorhin« wiederzusehen und festzustellen, ob er ihnen dort, bei diesem Hause, wiederbegegnen werde. Das war ein krampfhaftes Verlangen bei ihm gewesen; warum war er also jetzt so bestürzt und niedergeschlagen darüber, daß er sie wirklich soeben gesehen hatte? Als ob er es nicht erwartet hätte! Ja, das waren dieselben Augen (und daran, daß es dieselben waren, konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen), die ihn am Morgen aus der Menschenmenge angefunkelt hatten, als er aus dem Wagen der Nikolai-Bahn ausgestiegen war; dieselben (ganz dieselben!), deren von hinten auf ihn gerichteten Blick er nachher aufgefangen hatte, als er sich in Rogoshins Wohnung auf einen Stuhl setzte. Rogoshin hatte es vorhin abgestritten. »Wessen Augen waren denn das?« hatte er mit einem verzerrten, eisigen Lächeln gefragt. Und noch vorhin auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof, als er in den Wagen stieg, um zu Aglaja zu fahren, und auf einmal wieder, schon zum drittenmal an diesem Tage, diese Augen erblickte, hatte der Fürst die größte Lust gehabt, zu Rogoshin heranzutreten und ihm zu sagen, »wessen Augen« es gewesen seien! Aber er war aus dem Bahnhof weggelaufen und erst vor dem Laden eines Messerschmiedes wieder zur Besinnung gekommen, in dem Augenblick, als er dort stand und einen Gegenstand mit einem Hirschhorngriff auf sechzig Kopeken taxierte. Ein seltsamer, schrecklicher Dämon hatte ihn endgültig gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Dieser Dämon hatte ihm im Sommergarten, als er selbstvergessen unter einer Linde saß, zugeflüstert, wenn Rogoshin es für so nötig halte, ihn vom frühen Morgen an zu verfolgen und auf Schritt und Tritt zu beobachten, so werde er, nun er gesehen habe, daß der Fürst nicht nach Pawlowsk fahre (was natürlich für Rogoshin eine Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung war), jedenfalls dorthin gehen, zu jenem Hause auf der Petersburger Seite, und ihm, dem Fürsten, auflauern, der ihm noch am Morgen sein Ehrenwort darauf gegeben habe, daß er sie nicht aufsuchen wolle und daß er nicht zu diesem Zwecke nach Petersburg gekommen sei. Und nun hatte es den Fürsten krampfhaft nach jenem Hause hingezogen; was war schon Auffälliges dabei, daß er tatsächlich dort Rogoshin getroffen hatte? Er hatte nur einen unglücklichen Menschen gesehen, dessen Seelenstimmung düster, aber sehr begreiflich war. Dieser unglückliche Mensch suchte sich jetzt auch gar nicht mehr zu verbergen. Ja, Rogoshin hatte es vorhin in seiner Wohnung aus irgendeinem Grund abgestritten und geleugnet; aber auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof hatte er, fast ohne sich zu verstecken, dagestanden. Derjenige, der sich verbarg, hatte dort eher der Fürst zu sein geschienen als Rogoshin. Aber jetzt bei dem Haus hatte er auf der andern Seite der Straße schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten mit verschränkten Armen auf dem Gehsteig gestanden und gewartet. Hier war er schon vollständig sichtbar gewesen und hatte dies anscheinend auch absichtlich gewollt. Er hatte dagestanden wie ein Ankläger und ein Richter, und nicht wie... ja, nicht wie wer? Aber warum war denn er, der Fürst, jetzt nicht selbst an ihn herangegangen, sondern hatte sich von ihm abgewandt, als hätte er nichts bemerkt, obwohl doch ihre Blicke einander begegnet waren? (Ja, ihre Blicke waren einander begegnet, und sie hatten sich angesehen.) Er hatte ja selbst vorhin beabsichtigt, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zusammen dorthin zu gehen. Er hatte ja selbst morgen zu ihm gehen und ihm sagen wollen, daß er bei ihr gewesen sei. Er hatte sich ja, während er noch dorthin ging, auf halbem Weg, als auf einmal die Freude seine Seele erfüllte, selbst von seinem Dämon losgemacht. Oder lag in Rogoshin, das heißt in der ganzen heutigen Erscheinung dieses Menschen, in der Gesamtheit seiner Worte, Bewegungen, Handlungen und Blicke, wirklich etwas, was die schrecklichen Ahnungen des Fürsten und die aufregenden Einflüsterungen seines Dämons rechtfertigen konnte? Etwas, was sich von selbst dem Auge aufdrängt, aber schwer zu definieren und darzulegen und unmöglich mit hinreichenden Gründen zu beweisen ist, aber doch trotz all dieser Schwierigkeit und Unmöglichkeit einen starken, unwiderstehlichen Eindruck macht, der unwillkürlich in volle Überzeugung übergeht?... Eine Überzeugung wovon? (Oh, wie quälte den Fürsten das Ungeheuerliche, »das Unwürdige« dieser Überzeugung, »dieser unwürdigen Ahnung«, und wie klagte er sich selbst an!) ›Sage doch, wenn du es wagst, wovon du überzeugt bist‹, sagte er fortwährend vorwurfsvoll und herausfordernd zu sich selbst. ›Formuliere es; wage es, deinen Gedanken vollständig auszusprechen, deutlich, genau, ohne Schwanken! Oh, ich bin ein Ehrloser!‹ so schalt er sich immer wieder voll Unwillen und mit Schamröte im Gesicht. ›Mit welchen Augen werde ich jetzt mein ganzes Leben lang diesen Menschen ansehen! Oh, was ist das für ein Tag! O Gott, welch ein beklemmendes Gefühl.‹ Am Ende dieses langen, qualvollen Weges von der Petersburger Seite gab es einen Augenblick, wo den Fürsten auf einmal ein unbezwingliches Verlangen ergriff, sofort nach Rogoshins Wohnung zu gehen, ihn dort zu erwarten, ihn voller Scham mit Tränen zu umarmen, ihm alles zu sagen und die ganze Sache mit einemmal zu Ende zu bringen. Aber er stand schon vor seinem Gasthof... Wie sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, sein eigenes Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse... ›Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein krankes Weib an jede Ahnung!‹ dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz direkt am Eingang in den Torweg festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, zwingen die Menschen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. ›Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!‹ sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen, aber... er blieb von neuem stehen. In dem ohnehin sehr dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die herauf gezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, da der Fürst sich dem Hause näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst sich nach kurzem Stehenbleiben ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, dort, wo es die Treppe hinaufging, einen Mann. Dieser Mann schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt hatte und daß dieser Mensch bestimmt Rogoshin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. ›Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!‹ sagte er bei sich selbst mit seltsamer Sicherheit. Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng, und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in der Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch wach, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um. Die zwei Augen von vorhin, dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen. Rogoshins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte: »Parfen, ich kann es nicht glauben!...« Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreies, der sich von selbst seiner Brust entrang und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein. Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich die eigentliche Fallsucht, ganz plötzlich ein. In diesem Augenblicke verzerrt sich auf einmal das Gesicht außerordentlich, und besonders der Blick wird entstellt. Krämpfe und Zuckungen ergreifen den ganzen Körper und alle Gesichtsmuskeln. Ein furchtbarer, unbeschreiblicher und mit nichts zu vergleichender Schrei ringt sich aus der Brust; in diesem Schrei verschwindet sozusagen alles Menschliche, und es ist für einen Beobachter unmöglich oder wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zu glauben, daß derjenige, der da schreit, wirklich noch der gleiche Mensch ist. Man kann sich dabei sogar einbilden, daß ein anderer schreie, der sich im Innern dieses Menschen befinde. Wenigstens haben viele den empfangenen Eindruck so geschildert; bei vielen ruft der Anblick eines Menschen, der einen epileptischen Anfall durchmacht, unerträgliches Entsetzen hervor, das sogar etwas Mystisches an sich hat. Man muß annehmen, daß ein solches Gefühl plötzlichen Entsetzens, im Verein mit allen andern schrecklichen Empfindungen dieses Augenblicks, Rogoshin plötzlich auf der Stelle erstarren ließ und dadurch den Fürsten vor dem sonst unvermeidlichen Stoß des bereits auf ihn herabfahrenden Messers rettete. Als dann Rogoshin sah, daß der Fürst zurücktaumelte und plötzlich hintenüberfiel, gerade die Treppe hinunter, wobei er mit voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen eine Steinstufe schlug, da stürzte er, ehe er noch Zeit gefunden hatte, über den Anfall Klarheit zu gewinnen, nach unten, lief um den Daliegenden herum und rannte fast ohne Besinnung aus dem Gasthaus hinaus. Infolge der Krämpfe, Zuckungen und des Umsichschlagens rutschte der Körper des Kranken die Stufen hinab, deren nicht mehr als fünfzehn waren, bis ganz zum Fuß der Treppe. Sehr bald, kaum fünf Minuten nachher, wurde der Daliegende bemerkt, und es sammelte sich um ihn eine Menge Menschen. Die große Blutlache, die sich um den Kopf gebildet hatte, erweckte Zweifel, ob dieser Mensch sich selbst verletzt habe oder »etwas Schlimmes geschehen« sei. Bald jedoch durchschauten einige, daß es ein Fall von Epilepsie war, und einer der Kellner erkannte in dem Fürsten den kürzlich eingetroffenen Gast. Die Aufregung kam endlich infolge eines sehr glücklichen Umstandes zur Ruhe. Kolja Iwolgin, der in der »Waage« hinterlassen hatte, er werde um vier Uhr zurück sein, und statt dessen nach Pawlowsk gefahren war, hatte es infolge einer Überlegung, die ihm plötzlich gekommen war, abgelehnt, bei der Generalin Jepantschina zu speisen, war nach Petersburg zurückgefahren und nach der »Waage« geeilt, wo er gegen sieben Uhr abends eintraf. Nachdem er aus dem für ihn hinterlassenen Billett ersehen hatte, daß der Fürst sich in der Stadt befand, eilte er zu der ihm in dem Billett mitgeteilten Adresse. Als er in dem Gasthaus erfuhr, daß der Fürst ausgegangen war, ging er nach unten in die Restaurationsräume, um dort zu warten, ließ sich Tee geben und hörte dem Spiel des Orchestrions zu. Zufällig hörte er ein Gespräch über einen Anfall, den soeben jemand bekommen habe, stürzte, von einer richtigen Ahnung erfüllt, nach der Stelle hin und erkannte den Fürsten. Sogleich wurden alle erforderlichen Maßregeln ergriffen. Der Fürst wurde in sein Zimmer getragen; obgleich er wieder zu sich gekommen war, dauerte es doch sehr lange, bis er das volle Bewußtsein zurückerlangte. Ein Arzt, der herbeigerufen war, um den zerschlagenen Kopf zu untersuchen, verordnete ein Wundwasser und erklärte, daß die Verletzungen in keiner Weise gefährlich seien. Als der Fürst nach einer Stunde endlich anfing, seine Umgebung ordentlich zu erkennen, schaffte Kolja ihn in einem Wagen aus dem Gasthaus zu Lebedew. Dieser nahm den Kranken mit großer Freundlichkeit und vielen Verbeugungen auf. Es wurde um seinetwillen auch der Umzug nach dem Landhaus beschleunigt, und am dritten Tag befanden sich alle schon in Pawlowsk. VI Lebedews Landhaus war nicht groß, aber bequem und sogar hübsch. Der zum Vermieten bestimmte Teil war besonders schön ausgestattet. Auf der ziemlich geräumigen Veranda beim Eingang von der Straße in die Wohnung waren mehrere Orangen- und Zitronenbäume und Jasminsträucher in großen grünen Holzkübeln aufgestellt, was nach Lebedews Ansicht einen überaus reizvollen Anblick bot. Einige dieser Gewächse hatte er zugleich mit dem Landhaus erworben und war von dem Effekt, den sie in der Veranda hervorbrachten, so entzückt gewesen, daß er unter Benutzung einer sich bietenden Gelegenheit beschloß, zur Vervollständigung noch eine Anzahl ebensolcher Gewächse in Kübeln auf einer Auktion zu erstehen. Als endlich alle diese Gewächse nach dem Landhaus geschafft und aufgestellt waren, lief Lebedew mehrmals am Tage die Stufen der Veranda hinab auf die Straße und bewunderte von dort aus sein Besitztum, wobei er jedesmal im stillen die Summe erhöhte, die er dem künftigen Mieter seines Landhauses abzuverlangen gedachte. Dem Fürsten, der infolge der seelischen Leiden und der physischen Abgespanntheit sehr schwach war, gefiel das Landhaus ausnehmend. Übrigens sah der Fürst am Tage des Umzuges nach Pawlowsk, das heißt am dritten Tage nach dem Anfall, äußerlich bereits fast wieder wie ein gesunder Mensch aus, obwohl er sich innerlich immer noch nicht genesen fühlte. Er freute sich über jeden, den er in diesen drei Tagen um sich sah: über Kolja, der fast nicht von seiner Seite wich, über die ganze Familie Lebedew (ohne den Neffen, der verschwunden war, man wußte nicht wohin), über Lebedew selbst; sogar den General Iwolgin, der ihn noch in der Stadt besuchte, empfing er mit Vergnügen. Am Tag des Umzuges selbst, der erst gegen Abend sein Ende erreicht hatte, war um ihn in der Veranda ziemlich viel Besuch versammelt: zuerst war Ganja gekommen, den der Fürst kaum wiedererkannte, so hatte er sich in dieser ganzen Zeit verändert und war abgemagert. Darauf waren Warja und Ptizyn erschienen, die ebenfalls in Pawlowsk zur Sommerfrische wohnten. Der General Iwolgin, der sich bei Lebedew fast für immer einquartiert hatte, schien sogar mit ihm zusammen umgezogen zu sein. Lebedew bemühte sich, ihm den Zutritt zu dem Fürsten zu verwehren und ihn bei sich festzuhalten; er verkehrte mit ihm freundschaftlich: sie waren anscheinend schon lange miteinander bekannt. Der Fürst bemerkte, daß sie an diesen ganzen drei Tagen manchmal miteinander lange Gespräche führten, nicht selten schrien und stritten, sogar, wie es schien, über wissenschaftliche Gegenstände, was offenbar Lebedew großes Vergnügen machte. Man konnte meinen, daß ihm der General für diese Disputationen unentbehrlich war. Aber Lebedew dehnte die Vorsichtsmaßregeln, die er auf den General anwandte, seit der Übersiedlung nach dem Landhaus auch auf seine Familie aus; mit der Begründung, der Fürst dürfe nicht gestört werden, ließ er niemand zu ihm; sobald er nur im entferntesten Verdacht schöpfte, daß seine Töchter, Wera mit dem Kind nicht ausgenommen, nach der Veranda gehen wollten, wo sich der Fürst befand, stürzte er sofort auf sie los, trampelte mit den Füßen und jagte sie fort, trotz aller Bitten des Fürsten, jedermann zu ihm zu lassen. »Erstens hört sonst aller Respekt auf, wenn man ihnen dergleichen gestattet, und zweitens schickt es sich auch nicht für sie...«, erklärte er schließlich auf eine direkte Frage des Fürsten. »Aber warum denn?« erwiderte der Fürst. »Wirklich, Sie quälen mich mit all dieser Beaufsichtigung und Bewachung. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß es mir langweilig ist, allein zu sein, und Sie selbst machen mich durch Ihr beständiges Gestikulieren und Umhergehen auf den Zehen noch schwermütiger.« Der Fürst spielte darauf an, daß Lebedew, obwohl er alle seine Angehörigen wegen der angeblichen Ruhebedürftigkeit des Kranken wegtrieb, doch selbst während dieser ganzen drei Tage alle Augenblicke zum Fürsten hereinkam und jedesmal zunächst die Tür öffnete, den Kopf hereinsteckte, sich im Zimmer umsah, als ob er feststellen wollte, ob der Fürst auch noch da sei und nicht davongelaufen wäre, und dann auf den Zehen, langsam, mit schleichenden Schritten, sich dessen Lehnstuhl näherte, so daß er seinen Mieter manchmal unversehens erschreckte. Fortwährend erkundigte er sich, ob der Fürst etwas brauche, und wenn der Fürst ihm endlich bemerkte, er möge ihn in Ruhe lassen, so machte er gehorsam, und ohne ein Wort zu erwidern, kehrt, ging wieder auf den Zehen zur Tür zurück und gestikulierte, während er ging, die ganze Zeit, als wollte er zu verstehen geben, er sei nur so ohne besondere Absicht hereingekommen, werde kein Wort weiter reden, gehe ja schon wieder hinaus und werde nicht mehr wiederkommen; aber nichtsdestoweniger erschien er nach zehn Minuten oder höchstens einer Viertelstunde von neuem. Kolja, der freien Zutritt zum Fürsten hatte, erregte dadurch Lebedews höchstes Mißfallen, ja dieser fühlte sich sogar schwer gekränkt. Kolja merkte, daß Lebedew manchmal eine halbe Stunde lang an der Tür stand und horchte, was er mit dem Fürsten sprach, und teilte diese seine Beobachtung natürlich dem Fürsten mit. »Aber Sie halten mich ja hinter Schloß und Riegel, wie wenn Sie mich als Ihr Eigentum erworben hätten«, protestierte der Fürst. »Wenigstens auf dem Lande möchte ich es anders haben; lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich empfangen werde, wen ich will, und gehen werde, wohin es mir beliebt.« »Ohne den allergeringsten Zweifel«, versetzte Lebedew, lebhaft gestikulierend. Der Fürst betrachtete ihn aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen. »Wie ist das, Lukjan Timofejewitsch? Haben Sie Ihr Schränkchen, das in Ihrer Wohnung über dem Kopfende Ihres Bettes an der Wand befestigt war, hierher mitgebracht?« »Nein, das habe ich nicht getan.« »Haben Sie es wirklich dort gelassen?« »Es war nicht möglich, es mitzunehmen; ich hätte es aus der Wand herausbrechen müssen... Es sitzt ganz fest.« »Aber vielleicht haben Sie hier ein ebensolches?« »Sogar ein besseres, sogar ein besseres; ich habe es mit dem Landhaus gekauft.« »Ach so! Wem haben Sie denn vorhin den Zutritt zu mir verwehrt? So etwa vor einer Stunde?« »Das... das war der General. Ich habe ihn allerdings nicht hereingelassen, und er paßt auch wirklich nicht zu Ihnen. Ich schätze diesen Mann sehr hoch, Fürst; er... er ist ein bedeutender Mensch, glauben Sie es etwa nicht? Na, sehen Sie, aber trotzdem... trotzdem wäre es das beste, durchlauchtigster Fürst, wenn Sie ihn nicht empfangen wollten.« »Aber warum denn nicht, möchte ich doch fragen. Und warum stehen Sie denn jetzt auf den Zehen, Lebedew, und kommen immer zu mir, als wollten Sie mir ein Geheimnis ins Ohr sagen?« »Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch, das fühle ich«, antwortete Lebedew ziemlich unmotiviert und schlug sich affektvoll auf die Brust. »Aber wird der General für Sie nicht gar zu gastfreundlich sein?« »Wieso gar zu gastfreundlich?« »Er ist sehr für Gastfreundschaft. Erstens richtet er sich bei mir schon ganz häuslich ein; nun, das mag noch angehen; aber er ist unternehmend und dringt gleich in die Verwandtschaft ein. Er und ich, wir haben schon mehrmals unsere Familienverhältnisse untersucht, und es hat sich herausgestellt, daß wir miteinander verwandt sind. Und noch gestern hat er mir auseinandergesetzt, es lasse sich auch beweisen, daß Sie mütterlicherseits ein entfernter Neffe von ihm seien. Wenn also Sie sein Neffe sind, dann sind auch wir beide, Sie und ich, miteinander verwandt, durchlauchtigster Fürst. Das ist ja nun noch nichts Schlimmes, eine kleine Schwäche; aber soeben hat er mir versichert, daß er sein ganzes Leben lang, von der Zeit an, wo er noch Fähnrich war, bis zum elften Juni vorigen Jahres, täglich nicht weniger als zweihundert Personen an seinem Tisch sitzen gehabt habe. Es sei schließlich so weit gekommen, daß sie gar nicht mehr aufgestanden seien, sondern täglich fünfzehn Stunden lang zu Mittag und zu Abend gespeist und Tee getrunken hätten, und das alles dreißig Jahre lang ohne die geringste Unterbrechung, es sei kaum Zeit gewesen, das Tischtuch zu wechseln. Der eine sei aufgestanden und weggegangen und ein anderer gekommen, und an den patriotischen Festtagen sei die Zahl seiner Gäste auf dreihundert gestiegen. Und bei der tausendjährigen Jubiläumsfeier Rußlands habe er siebenhundert gezählt. Das ist ja schrecklich, solche Erzählungen sind ein sehr übles Symptom; so gastfreundliche Herren auch nur zu empfangen, ist bedenklich, und da habe ich mir gedacht, ob er nicht für Sie und für mich doch gar zu gastfreundlich ist.« »Aber Sie stehen, wie es scheint, mit ihm auf sehr gutem Fuß?« »Wir verkehren miteinander wie Brüder, und ich fasse alles als Scherz auf. Mögen wir miteinander verwandt sein, was schadet es mir? Das kann mir nur zur Ehre gereichen. Ich halte ihn für einen höchst interessanten Menschen, trotz der zweihundert Tischgäste und der noch größeren Zahl bei der Tausendjahrfeier Rußlands. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig. Sie sprachen soeben von Geheimnissen, Fürst, und sagten, ich träte immer zu Ihnen heran, als wollte ich Ihnen ein Geheimnis mitteilen; nun, es trifft sich, daß wirklich ein Geheimnis vorliegt: eine gewisse Person hat mir soeben mitgeteilt, daß sie sehr wünsche, mit Ihnen eine geheime Zusammenkunft zu haben.« »Warum denn eine geheime? Der Heimlichkeit bedarf es nicht. Ich werde selbst zu ihr hingehen, womöglich gleich heute.« »Gewiß, der Heimlichkeit bedarf es gar nicht«, versetzte Lebedew gestikulierend. »Auch fürchtet sie gar nicht das, was Sie vermuten. Übrigens, der Unmensch kommt jeden Tag her, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen; ist Ihnen das bekannt?« »Sie nennen ihn so oft einen Unmenschen; das ist mir sehr verdächtig.« »Sie brauchen gar keinen Verdacht zu haben, nicht den geringsten Verdacht«, wehrte Lebedew eilig ab. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß die betreffende Person sich nicht vor ihm, sondern vor einem ganz andern fürchtet.« »Aber vor wem denn? Sagen Sie es doch schnell!« rief der Fürst ungeduldig angesichts der geheimnisvollen Grimassen Lebedews. »Das ist eben das Geheimnis.« Dabei lächelte Lebedew. »Wessen Geheimnis?« »Das ist Ihr Geheimnis. Sie selbst haben mir verboten, durchlauchtigster Fürst, in Ihrer Gegenwart davon zu sprechen...«, murmelte Lebedew, und nachdem er sich genug daran geweidet hatte, daß es ihm gelungen war, die Neugier seines Zuhörers bis zu peinlicher Ungeduld zu steigern, schloß er plötzlich: »Sie fürchtet sich vor Aglaja Iwanowna.« Der Fürst machte ein finsteres Gesicht und schwieg einen Augenblick. »Bei Gott, Lebedew, ich werde Ihr Landhaus verlassen«, sagte er plötzlich. »Wo sind Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyns? Bei Ihnen? Auch die haben Sie in Ihre eigenen Zimmer herübergelockt.« »Sie werden kommen, sie werden kommen! Sogar der General wird mitkommen. Alle Türen werde ich aufmachen, auch meine Töchter werde ich herrufen, alle, alle, sofort, sofort«, flüsterte Lebedew erschrocken unter lebhaften Handbewegungen und rannte dabei von einer Tür zur andern. In diesem Augenblick erschien Kolja, von der Straße kommend, in der Veranda und meldete, daß hinter ihm Besuch folge: Lisaweta Prokofjewna mit ihren drei Töchtern. »Soll ich Ptizyns und Gawrila Ardalionowitsch hereinlassen oder nicht? Soll ich den General hereinlassen oder nicht?« fragte Lebedew hastig, durch diese Nachricht aufs höchste überrascht. »Warum denn nicht? Lassen Sie jeden ein, der zu mir will! Ich kann Ihnen sagen, Lebedew, daß Sie mein Verhältnis zu den Menschen gleich von Anfang an falsch beurteilt haben; Sie sind da fortwährend in einem Irrtum befangen. Ich habe nicht den geringsten Grund, mich vor irgend jemand zu verstecken und zu verbergen«, bemerkte der Fürst lachend. Als Lebedew ihn lachen sah, hielt er es für seine Pflicht, dies ebenfalls zu tun. Trotz seiner großen Aufregung war er offenbar sehr zufrieden. Die von Kolja gebrachte Nachricht erwies sich als zutreffend; er war den Jepantschins nur ein paar Schritte vorausgelaufen, um sie anzumelden, und die Besucher erschienen nun plötzlich von beiden Seiten: von der Straße her Jepantschins und aus den Zimmern das Ptizynsche Ehepaar, Ganja und General Iwolgin. Jepantschins hatten von der Krankheit des Fürsten und seiner Anwesenheit in Pawlowsk erst soeben durch Kolja erfahren; bis dahin hatte die Generalin schwere Zweifel gehegt. Schon vor drei Tagen hatte der General seiner Familie die Visitenkarte des Fürsten gezeigt; diese Karte rief bei Lisaweta Prokofjewna die bestimmte Überzeugung hervor, daß der Fürst selbst unmittelbar nach dieser Karte nach Pawlowsk kommen werde, um ihnen einen Besuch zu machen. Vergebens hielten ihr die Töchter entgegen, daß jemand, der ein halbes Jahr lang nicht geschrieben habe, es auch jetzt vielleicht gar nicht so eilig haben werde und daß er vielleicht, auch abgesehen von den Beziehungen zu ihrer Familie, in Petersburg viel zu tun haben möge; woher könnten sie denn von seinen Geschäften Kenntnis haben? Die Generalin wurde über diese Bemerkungen geradezu böse und bot eine Wette darauf an, daß der Fürst spätestens am folgenden Tag erscheinen werde, wiewohl auch das schon sehr spät sei. Am folgenden Tag wartete sie den ganzen Vormittag; dann erwartete sie ihn zum Mittagessen, zum Abend, und als es schon ganz dunkel geworden war, ärgerte sich Lisaweta Prokofjewna über alles und jedes und zankte sich mit allen, selbstverständlich ohne unter den Gründen des Streites den Fürsten auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Auch am dritten Tag wurde seiner keinerlei Erwähnung getan. Als Aglaja sich beim Mittagessen unversehens die Bemerkung entschlüpfen ließ, maman sei ärgerlich, weil der Fürst nicht komme, worauf der General sofort einschaltete, er für seine Person könne nichts dafür, stand Lisaweta Prokofjewna auf und ging zornig hinaus. Endlich, am Abend, erschien Kolja mit einer Menge von Nachrichten und erzählte ihnen alle Erlebnisse des Fürsten, soweit sie ihm bekannt waren. Das Resultat war, daß Lisaweta Prokofjewna triumphierte; Kolja wurde aber gehörig ausgescholten: »Sonst hockt er hier tagelang bei uns und ist nicht loszuwerden, und jetzt hat er uns nicht einmal eine Mitteilung zugehen lassen, wenn er schon selbst nicht herkommen mochte.« Kolja wollte eigentlich sofort wegen des Ausdrucks »nicht loszuwerden« aufbegehren, verschob dies aber doch auf ein anderes Mal, und wenn der Ausdruck nicht gar zu beleidigend gewesen wäre, hätte er ihn vielleicht ganz entschuldigt, soviel Vergnügen machte ihm Lisaweta Prokofjewnas Aufregung und Unruhe bei der Nachricht von der Krankheit des Fürsten. Sie bestand eine ganze Weile darauf, man müsse unverzüglich einen expressen Boten nach Petersburg schicken, um eine ärztliche Kapazität ersten Ranges aufzusuchen und mit dem ersten Zug herbeizuschaffen. Aber die Töchter redeten ihr das aus; indes wollten sie hinter ihrer Mama nicht zurückstehen, als diese sich sofort anschickte, den Kranken zu besuchen. »Er liegt auf dem Sterbebett«, sagte sie, sich eilig zurechtmachend, »wie werden wir uns da um Vorschriften der Etikette kümmern! Ist er ein Freund unseres Hauses oder nicht?« »Andererseits ist es auch nicht passend, sich jemandem so ohne weiteres aufzudrängen«, wollte Aglaja einwenden. »Na, dann komm nicht mit! Das wird sogar ganz gut sein; sonst ist niemand hier, um Jewgenij Pawlytsch zu empfangen, wenn er kommen sollte.« Nach diesen Worten schloß sich Aglaja natürlich sofort den andern an, was sie übrigens ohnehin beabsichtigt hatte. Fürst Schtsch., der sich mit Adelaida unterhielt, erklärte sich auf deren Bitte unverzüglich bereit, die Damen zu begleiten. Er hatte schon früher, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit Jepantschins, großes Interesse bekundet, als er von ihnen etwas über den Fürsten gehört hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß er mit diesem bereits bekannt war, und zwar hatten sie einander vor nicht allzu langer Zeit irgendwo kennengelernt und dann ungefähr vierzehn Tage lang zusammen in irgendeinem kleinen Städtchen gelebt. Das war vor drei Monaten gewesen. Fürst Schtsch. hatte ihnen sogar viel von dem Fürsten erzählt und sich überhaupt sehr sympathisch über ihn ausgesprochen, so daß er jetzt mit aufrichtigem Vergnügen hinging, um einen alten Bekannten zu besuchen. Der General Iwan Fjodorowitsch war diesmal nicht zu Hause. Jewgenij Pawlowitsch war ebenfalls noch nicht gekommen. Von dem Jepantschinschen Landhause bis zu dem Lebedewschen waren es nur dreihundert Schritte. Der erste unangenehme Eindruck, den Lisaweta Prokofjewna beim Fürsten empfing, wurde dadurch hervorgerufen, daß sie eine ganze Gesellschaft um ihn versammelt fand, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß ihr in dieser Gesellschaft zwei oder drei Personen entschieden zuwider waren; und zweitens war sie unangenehm berührt, als ihnen statt eines Verscheidenden auf dem Sterbebett, den sie zu finden erwartet hatte, ein anscheinend völlig gesunder, elegant gekleideter junger Mann mit lächelnder Miene entgegentrat. Sie blieb ganz verwundert stehen, zum größten Vergnügen Koljas, der ihr natürlich, noch ehe sie von ihrem Landhaus aufbrach, sehr wohl hätte mitteilen können, daß niemand im Sterben liege und von einem Totenbett nicht die Rede sei, dies aber absichtlich unterlassen hatte in schlauer Voraussicht des komischen Zornes der Generalin, die nach seiner Spekulation sich jedenfalls darüber ärgern würde, wenn sie den Fürsten, dem sie herzlich zugetan war, gesund anträfe. Kolja war sogar so taktlos, seine Vermutung laut auszusprechen, um Lisaweta Prokofjewna noch mehr zu reizen, mit der er trotz der zwischen ihnen angeknüpften Freundschaft ständig und manchmal in recht scharfer Form stichelte. »Wart nur, mein Lieber, kräh nicht zu früh!« antwortete Lisaweta Prokofjewna und setzte sich auf den Lehnstuhl, den ihr der Fürst zurechtrückte. Lebedew, Ptizyn und General Iwolgin beeilten sich, den jungen Damen Stühle zu bringen. Aglaja wurde vom General ein Stuhl angeboten. Lebedew stellte auch dem Fürsten Schtsch. einen Stuhl hin, wobei er es fertigbrachte, durch die Krümmung seines Rückens eine außerordentliche Ehrerbietung auszudrücken. Warja begrüßte die jungen Damen mit dem gewöhnlichen Entzücken im Flüsterton. »Ich hatte allerdings geglaubt, dich im Bett zu finden, Fürst, so schwarzseherisch hatte mich die Angst gemacht, und ich leugne keineswegs, daß ich mich soeben furchtbar über dein glückliches Gesicht ärgerte; aber ich schwöre dir, das dauerte nur einen Augenblick, nur so lange, als ich noch nicht nachgedacht hatte. Sobald ich nachgedacht habe, handle und rede ich immer verständiger; ich denke, es wird dir ebenso gehen. In Wirklichkeit aber könnte ich mich über die Genesung meines eigenen Sohnes, wenn ich einen hätte, kaum mehr freuen als über die deinige; und wenn du es mir nicht glaubst, so ist das eine Schande für dich, nicht für mich. Dieser unartige Junge aber erlaubt sich mit mir ganz ungehörige Spaße. Du bist ja wohl sein Gönner; darum möchte ich dir ankündigen, daß ich eines schönen Tages auf die Ehre und das Vergnügen seiner weiteren Bekanntschaft verzichten werde, das kannst du mir glauben.« »Was kann ich denn dafür?« rief Kolja. »Wenn ich Ihnen auch hoch und heilig beteuert hätte, daß der Fürst schon beinah gesund sei, so hätten Sie mir doch nicht geglaubt, weil es viel interessanter war, ihn sich auf dem Sterbebette vorzustellen.« »Bleibst du lange hier bei uns in Pawlowsk?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an den Fürsten. »Den ganzen Sommer und vielleicht noch länger.« »Du bist ja allein hier. Bist du denn nicht verheiratet?« »Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte der Fürst, der über die Naivität dieser gegen ihn gerichteten Stichelei lächeln mußte. »Zum Lächeln ist kein Anlaß, so etwas kommt doch vor. Ich sagte es wegen des Landhauses; warum bist du nicht zu uns gezogen? Wir haben ein ganzes Nebengebäude leer stehen. Übrigens, ganz wie du willst. Wohnst du denn hier als Untermieter? Bei dem da?« fügte sie halblaut hinzu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf Lebedew hindeutete. »Warum schneidet er eigentlich fortwährend Gesichter?« In diesem Augenblick kam Wera, wie gewöhnlich mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Innern des Hauses auf die Veranda. Lebedew, der sich bei den Stühlen umherwand und nicht wußte, wo er bleiben sollte, aber durchaus nicht weggehen wollte, stürzte plötzlich auf Wera los und wollte sie mit heftigen Armbewegungen aus der Veranda hinausjagen; er vergaß sich sogar so weit, daß er mit den Füßen trampelte. »Ist er verrückt?« fügte die Generalin hinzu. »Nein, er...« »Vielleicht ist er betrunken? Deine Gesellschaft hier ist nicht schön«, sagte sie in entschiedenem Ton, indem sie auch die übrigen Gäste mit ihrem Blick maß. »Ah, was für ein nettes Mädchen! Wer ist das?« »Das ist Wera Lukjanowna, die Tochter dieses Herrn Lebedew.« »Ah!... Ein sehr nettes Mädchen. Ich möchte ihre Bekanntschaft machen.« Lebedew aber, der Lisaweta Prokofjewnas lobendes Urteil gehört hatte, zog bereits selbst seine Tochter herbei, um sie vorzustellen. »Meine Kinder sind mutterlos, mutterlos!« jammerte er, während er näher trat. »Auch dieses Kind, das sie auf dem Arm hat, ist mutterlos; es ist ihre Schwester, meine Tochter Ljubow, in rechtmäßiger Ehe von meiner Frau Jelena geboren, die vor sechs Wochen nach Gottes Willen im Wochenbett gestorben ist...ja... Sie vertritt an ihr Mutterstelle, obgleich sie nur ihre Schwester ist, nichts weiter als ihre Schwester... nichts weiter, nichts weiter...« »Und du, Väterchen, bist nichts weiter als ein Dummkopf, nimm mir's nicht übel. Na, nun genug, jetzt wirst du es wohl selbst wissen, denke ich«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna sehr ungehalten. »Vollkommen richtig!« erwiderte Lebedew sehr respektvoll mit einer tiefen Verbeugung. »Hören Sie mal, Herr Lebedew, ist das wahr, was man von Ihnen sagt: Sie legen die Apokalypse aus?« fragte Aglaja. »Vollkommen wahr... Seit fünfzehn Jahren.« »Ich habe von Ihnen gehört. Es hat ja wohl auch in den Zeitungen etwas über Sie gestanden?« »Nein, das bezog sich auf einen andern Erklärer, einen andern; der ist gestorben, und ich bin jetzt sein Nachfolger«, versetzte Lebedew, ganz außer sich vor Freude. »Tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie sie mir einmal in diesen Tagen als guter Nachbar. Ich verstehe in der Apokalypse kein Wort.« »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Aglaja Iwanowna, daß das von ihm nur Scharlatanerie ist; glauben Sie mir!« mischte sich eilig General Iwolgin in das Gespräch ein, der schon wie auf Kohlen gesessen und auf das lebhafteste gewünscht hatte, irgendwie eine Unterhaltung anzuknüpfen; er setzte sich bei diesen Worten neben Aglaja Iwanowna. »Gewiß«, fuhr er fort, »der Aufenthalt auf dem Lande hat ja seine besonderen Reize und seine besonderen Vergnügungen, und der Verkehr mit jemandem, der es so keck unternimmt, die Apokalypse zu erklären, ist ein Zeitvertreib wie jeder andere und sogar ein solcher, der in interessanter Weise den Verstand in Anspruch nimmt, aber ich... Sie scheinen mich erstaunt anzusehen? Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: General Iwolgin. Ich habe Sie auf den Armen getragen, Aglaja Iwanowna.« »Sehr erfreut. Ich bin mit Warwara Ardalionowna und Nina Alexandrowna bekannt«, murmelte Aglaja, die sich die größte Mühe gab, nicht loszulachen. Lisaweta Prokofjewna wurde dunkelrot. Der Ärger, der sich schon lange in ihrer Seele angesammelt hatte, verlangte auf einmal nach einem Ausweg. Sie konnte den General Iwolgin, mit dem sie früher einmal, vor sehr langer Zeit, bekannt gewesen war, nicht ausstehen. »Du lügst, Väterchen, wie das deine Gewohnheit ist; du hast sie nie auf den Armen getragen«, sagte sie scharf und unwillig zu ihm. »Sie haben es vergessen, maman, er hat mich wirklich auf den Armen getragen«, bestätigte Aglaja plötzlich die Angabe des Generals. »Wir wohnten damals in Twer. Ich war sechs Jahre alt; ich erinnere mich an alles. Er machte mir einen Bogen und einen Pfeil und lehrte mich damit schießen, und ich schoß eine Taube tot. Erinnern Sie sich, daß wir beide zusammen eine Taube totgeschossen haben?« »Und mir brachte er damals einen Helm aus Pappe und einen hölzernen Degen, ich entsinne mich auch!« rief Adelaida. »Auch ich erinnere mich daran«, fügte Alexandra bekräftigend hinzu. »Ihr zanktet euch damals noch wegen der verwundeten Taube und wurdet in die Ecken gestellt; Adelaida stand so da: mit dem Helm und dem Degen.« Der General, der zu Aglaja gesagt hatte, er habe sie auf den Armen getragen, hatte das nur so hingeredet, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und einzig und allein, weil er fast immer eine Unterhaltung mit jungen Leuten in dieser Weise begann, wenn er mit ihnen bekannt zu werden wünschte. Diesmal aber hatte es sich ganz zufällig getroffen, daß er die Wahrheit gesagt hatte, und ebenso war es ein Zufall gewesen, daß er selbst dieses wahre Faktum vergessen hatte. Als nun Aglaja unerwarteterweise zur Bestätigung erzählte, daß sie mit ihm zusammen eine Taube totgeschossen habe, erhellte sich sein Gedächtnis auf einmal, und er erinnerte sich selbst an diesen Vorfall bis in die kleinsten Einzelheiten, wie man sich in höheren Jahren nicht selten an etwas aus der fernen Vergangenheit erinnert. Es ist schwer zu sagen, was eigentlich an dieser Erinnerung so stark auf den armen und wie gewöhnlich etwas angetrunkenen General wirken konnte, aber er wurde auf einmal ganz gerührt. »Ich erinnere mich, ich erinnere mich an alles!« rief er. »Ich war damals Hauptmann. Sie waren so ein kleines, allerliebstes Ding. Nina Alexandrowna ... Ganja ... Ich verkehrte in Ihrem Hause. Iwan Fjodorowitsch ...« »Und nun sieh mal, wie weit du jetzt heruntergekommen bist!« fiel die Generalin ein. »Na, wenigstens hast du noch nicht alle anständigen Gefühle in dir durch den Trunk erstickt, wenn das so auf dich hat wirken können! Aber deine Frau hast du halb zu Tode gequält. Statt deinen Kindern den Weg durchs Leben zu zeigen, sitzt du im Schuldgefängnis. Mach, daß du von hier wegkommst, Väterchen; geh woandershin, stell dich hinter einer Tür in die Ecke und weine; denk an deine früheren unschuldigen Tage; vielleicht verzeiht dir dann Gott. Geh nur, geh; ich rede ganz im Ernst. Nichts ist zur Besserung nützlicher, als reuig der Vergangenheit zu gedenken.« Aber es bedurfte keiner wiederholten Versicherung, daß sie ganz im Ernst rede: der General war wie alle Trinker sehr gefühlvoll und konnte wie alle heruntergekommenen Trinker die Erinnerung an die glückliche Vergangenheit nicht ertragen. Er stand auf und begab sich gehorsam nach der Tür, so daß Lisaweta Prokofjewna sogleich wieder Mitleid mit ihm empfand. »Ardalion Alexandrytsch! Väterchen!« rief sie ihm nach. »Bleib noch einen Augenblick hier! Wir sind allzumal Sünder. Wenn du fühlen wirst, daß dein Gewissen dir nicht mehr soviel Vorwürfe macht, dann komm zu mir; dann wollen wir uns zusammensetzen und von alten Zeiten plaudern. Ich bin ja vielleicht noch fünfzigmal sündhafter als du. Aber jetzt leb wohl, geh, du hast hier nichts zu suchen!« fügte sie hinzu, in Angst, daß er wieder umkehren könnte. »Sie täten gut, wenn Sie ihm vorläufig nicht nachgingen«, sagte der Fürst, um Kolja aufzuhalten, der seinem Vater schnell folgen wollte. »Sonst wird er nach einer Minute ärgerlich werden, und der ganze segensreiche Augenblick ist dann verdorben.« »Das ist richtig, laß ihn jetzt in Ruhe, geh erst in einer halben Stunde hin!« sagte Lisaweta Prokofjewna befehlend. »Da sieht man, was es zu bedeuten hat, wenn man wenigstens einmal im Leben die Wahrheit sagt. Zum Weinen hat es ihn gebracht!« wagte Lebedew hinterdrein zu bemerken. »Na, und du mußt auch ein netter Patron sein, Väterchen, wenn das wahr ist, was ich über dich gehört habe«, kanzelte ihn Lisaweta Prokofjewna sogleich ab. Das gegenseitige Verhältnis aller bei dem Fürsten versammelten Besucher klärte sich allmählich. Der Fürst wußte die ihm von der Generalin und ihren Töchtern bewiesene Teilnahme selbstverständlich in ihrem ganzen Wert zu würdigen und sagte ihnen aufrichtig, er habe gerade heute, noch vor ihrem Besuche, die bestimmte Absicht gehabt, zu ihnen zu kommen, trotz seiner Krankheit und trotz der späten Stunde. Lisaweta Prokofjewna erwiderte ihm mit einem Blick auf seine Gäste, das könne er auch jetzt noch sogleich zur Ausführung bringen. Ptizyn, ein höflicher und sehr friedfertiger Mensch, stand sehr bald auf und zog sich nach dem Nebengebäude in Lebedews Wohnung zurück; sehr gern hätte er dabei auch Lebedew selbst mitgenommen. Dieser versprach ihm, bald nachzukommen; unterdessen war Warja mit den jungen Mädchen in ein lebhaftes Gespräch hineingekommen und blieb infolgedessen. Sie und Ganja waren sehr froh über die Abwesenheit des Generals; Ganja selbst folgte bald Ptizyn nach. Während der kurzen Zeit, die er in der Veranda in Gegenwart der Jepantschinschen Damen zugebracht hatte, hatte er sich bescheiden und würdig benommen und unter Lisaweta Prokofjewnas strengem Blicke, die ihn zweimal vom Kopf bis zu den Füßen musterte, nicht die Fassung verloren. Wer ihn früher gekannt hatte, mußte in der Tat finden, daß er sich sehr verändert habe. Auf Aglaja machte dies einen guten Eindruck. »War das nicht Gawrila Ardalionowitsch, der eben wegging?« fragte sie auf einmal in ihrer beliebten Art: laut, in scharfem Ton, ohne Rücksicht auf das Gespräch der andern, das sie mit ihrer Frage unterbrach, und ohne sich an irgendeinen einzelnen zu wenden. »Jawohl«, antwortete der Fürst. »Ich hatte ihn kaum erkannt. Er hat sich sehr verändert, und... sehr zu seinem Vorteil.« »Das ist mir sehr lieb zu hören«, erwiderte der Fürst. »Er war sehr krank«, fügte Warja, zugleich erfreut und bedauernd, hinzu. »Inwiefern soll er sich denn zu seinem Vorteil verändert haben?« fragte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich und erstaunt und beinah erschrocken. »Wie kommst du darauf? Ich bemerke an ihm nichts, was besser geworden wäre. Was scheint dir denn eigentlich besser?« »Etwas Besseres als den ›armen Ritter‹ kann es überhaupt nicht geben!« rief plötzlich Kolja, der die ganze Zeit über neben Lisaweta Prokofjewnas Stuhl gestanden hatte. »Das ist auch meine Meinung«, sagte Fürst Schtsch. lachend. »Ich bin ganz derselben Ansicht«, erklärte Adelaida ernst. »Was ist denn das für ein ›armer Ritter‹?« fragte die Generalin, indem sie alle Redenden verständnislos und ärgerlich anblickte. Aber als sie sah, daß Aglaja rot geworden war, fügte sie zornig hinzu: »Gewiß wieder irgendein Unsinn! Was für ein ›armer Ritter‹?« »Als ob es das erstemal wäre, daß dieser freche Junge, Ihr Liebling, anderer Leute Worte verdreht!« antwortete Aglaja hochmütig und unwillig. Fast jedesmal, wenn Aglaja zornig wurde (und das geschah ziemlich oft), blickte aus ihrer anscheinend ernsten, unerbittlichen Miene doch so viel von dem schlecht verhehlten, ungeduldigen Wesen eines Schulkindes hervor, daß es manchmal unmöglich war, bei ihrem Anblick das Lachen zu unterdrücken, worüber sich Aglaja übrigens gewaltig ärgerte, da sie nicht begriff, worüber die Leute lachten, und »wie jemand da überhaupt lachen könne und zu lachen wage«. Auch jetzt lachten die Schwestern und Fürst Schtsch.; sogar Fürst Lew Nikolajewitsch, der aus irgendeinem Grund ebenfalls errötet war, lächelte. Kolja jubelte und triumphierte. Aglaja wurde nun ernstlich böse und dadurch noch einmal so schön. Ihre Verlegenheit stand ihr außerordentlich gut, und nicht minder gleichzeitig ihr Ärger über sich selbst wegen dieser Verlegenheit. »Auch Ihre eigenen Worte hat er oft genug verdreht!« fügte sie hinzu. »Ich wiederhole nur Ihren eigenen Ausspruch!« rief Kolja. »Vor einem Monat blätterten Sie im Don Quijote und riefen dabei aus, es gebe doch nichts Besseres als den ›armen Ritter‹. Ich weiß nicht, auf wen sich das damals beziehen sollte: ob auf Don Quijote oder auf Jewgenij Pawlowitsch oder auf noch jemand anders, aber jedenfalls meinten Sie damit irgend jemand, und es entspann sich darüber ein langes Gespräch...« »Ich sehe, daß du dir mit deinen Vermutungen doch gar zu viel herausnimmst, mein Lieber!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna ärgerlich. »Aber bin ich denn der einzige, der davon spricht?« versetzte Kolja, der sich nicht den Mund verbieten ließ. »Alle haben damals davon gesprochen und sprechen auch jetzt noch davon. Hier Fürst Schtsch. und Adelaida Iwanowna und überhaupt alle haben erklärt, daß sie auf seiten des ›armen Ritters‹ stehen; also muß doch der ›arme Ritter‹ existieren und existiert jedenfalls, und wenn nur Adelaida Iwanowna wollte, so würden wir meiner Ansicht nach alle schon längst wissen, wer der ›arme Ritter‹ ist.« »Inwiefern soll ich denn daran schuld sein?« fragte Adelaida lachend. »Sie wollten sein Porträt nicht zeichnen, insofern sind Sie daran schuld! Aglaja Iwanowna bat Sie damals, das Porträt des ›armen Ritters‹ zu zeichnen, und setzte Ihnen den ganzen Vorwurf zu dem Bild auseinander, den sie sich selbst ausgedacht hatte; erinnern Sie sich noch an diesen Vorwurf? Aber Sie wollten es nicht...« »Wie hätte ich den Betreffenden denn zeichnen sollen? In der Beschreibung wird doch von diesem ›armen Ritter‹ gesagt: ›Niemals in die Höhe schlug er Vorm Gesichte das Visier.‹ Was konnte dabei also für ein Gesicht herauskommen? Was sollte ich zeichnen? Ein Visier? Einen Anonymus?« »Ich verstehe von alledem nichts; was ist das nun wieder für ein Visier?« ereiferte sich die Generalin, die im stillen sehr wohl zu begreifen anfing, wer mit der wahrscheinlich schon lange geläufigen Benennung »der arme Ritter« gemeint war. Aber ganz besonders ärgerte sie sich darüber, daß Fürst Lew Nikolajewitsch ebenfalls verlegen geworden war und schließlich eine Befangenheit bekundete wie ein zehnjähriger Junge. »Nun also, wird diese Dummheit endlich ein Ende nehmen? Wird mir nun erläutert werden, was dieser ›arme Ritter‹ bedeutet? Ist das etwa ein so furchtbares Geheimnis, daß man gar nicht daran rühren darf?« Aber alle lachten nur weiter. »Es ist ganz einfach ein merkwürdiges russisches Gedicht«, ergriff endlich Fürst Schtsch. das Wort, offenbar in dem Wunsch, die Sache möglichst schnell zu erledigen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ein Gedicht über einen ›armen Ritter‹, ein Fragment ohne Anfang und Schluß. Vor einem Monat scherzten wir einmal alle nach Tisch und suchten wie gewöhnlich nach einem Vorwurf für ein künftiges Bild Adelaida Iwanownas. Sie wissen, daß es bereits zu einer Art von Familiensport geworden ist, Vorwürfe für Adelaida Iwanownas Bilder ausfindig zu machen. Da verfielen wir auch auf den ›armen Ritter‹; wer zuerst auf diesen Einfall kam, weiß ich nicht mehr ...« »Aglaja Iwanowna war es!« rief Kolja. »Mag sein; ich will es nicht bestreiten, obwohl ich mich nicht erinnere«, fuhr Fürst Schtsch. fort. »Die einen spotteten über dieses Sujet, die anderen dagegen meinten, man könne sich gar nichts Höheres ausdenken. Aber um den ›armen Ritter‹ darzustellen, dazu war unter allen Umständen ein Gesicht als Modell erforderlich; so musterten wir denn die Gesichter aller unserer Bekannten, aber kein einziges taugte dazu; daran scheiterte die Sache. Das ist alles. Es ist mir unverständlich, warum Nikolai Ardalionowitsch es hier hat erwähnen und erörtern können. Was früher und bei bestimmtem Anlaß komisch war, hat jetzt alles Interesse verloren.« »Er hat es eben getan, weil da wieder irgendeine neue Dummheit dahintersteckt, eine boshafte, verletzende Dummheit«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna scharf. »Es steckt gar keine Dummheit dahinter, sondern vielmehr die größte Hochachtung«, sagte Aglaja mit ganz unerwartetem Ernst und Nachdruck. Es war ihr inzwischen gelungen, sich wieder vollständig in die Gewalt zu bekommen und ihre frühere Verlegenheit zu unterdrücken. Ja, auf Grund gewisser Anzeichen konnte man, wenn man sie ansah, meinen, daß sie sich jetzt selbst darüber freute, daß der Spaß sich immer länger und länger ausdehnte, und diese ganze Umwandlung ging bei ihr gerade in dem Augenblick vor, als die immer zunehmende und schon sehr hoch gestiegene Verlegenheit des Fürsten ganz deutlich wurde. »Erst lachen sie wie die Unsinnigen, und dann wird auf einmal von der größten Hochachtung gesprochen! Verrücktes Volk! Was soll hier die Hochachtung? Sag mal sofort, warum du so mir nichts dir nichts auf einmal von der größten Hochachtung redest!« »Von der größten Hochachtung«, erwiderte Aglaja ebenso ernst und nachdrücklich auf die ärgerliche Frage der Mutter, »von der größten Hochachtung rede ich deshalb, weil in diesen Versen ein Mensch geschildert wird, der fähig ist, erstens ein Ideal zu haben und zweitens, nachdem er sich einmal ein solches Ideal geschaffen hat, an dasselbe zu glauben und ihm blind sein ganzes Leben zu weihen. So etwas kommt in unserer Zeit nicht alle Tage vor. Dort, in diesen Versen, ist nicht gesagt, worin eigentlich das Ideal des ›armen Ritters‹ bestand; aber man sieht, daß es eben ein leuchtendes Ideal war, ›das Ideal der reinen Schönheit‹, und daß der verliebte Ritter sich sogar statt der Schärpe einen Rosenkranz um den Hals band. Allerdings ist da noch von einer dunklen, nur andeutenden Devise die Rede, den Buchstaben A. N. B., die er auf seinen Schild geschrieben hatte...« »A. M. D.«, verbesserte Kolja. »Ich sage aber A. N. B. und will dabei bleiben«, unterbrach ihn Aglaja ärgerlich. »Wie es sich damit auch verhalten mag, so viel ist klar, daß es diesem ›armen Ritter‹ nun ganz gleichgültig war, wer seine Dame war und was sie tat. Ihm genügte es, sie sich ausgewählt zu haben und an ihre ›reine Schönheit‹ zu glauben, und nun verehrt er sie sein ganzes Leben lang; gerade darin besteht sein Verdienst, daß er, selbst wenn sie später zur Diebin würde, doch an sie glauben und für ihre reine Schönheit eine Lanze brechen müßte. Der Dichter scheint beabsichtigt zu haben, in der auffallenden Gestalt eines reinen, hochgesinnten Ritters den ganzen gewaltigen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen, platonischen Liebe zur zusammenfassenden Darstellung zu bringen; selbstverständlich ist das alles ein Ideal. In dem ›armen Ritter‹ hat dieses Gefühl schon die höchste Stufe erreicht, die Askese; man muß gestehen, daß die Fähigkeit zu einem solchen Gefühl einen hohen Wert hat und daß solche Gefühle einen bedeutsamen und unter Umständen sehr löblichen Charakterzug bilden, wobei ich nicht gerade Don Quijote meine. Der ›arme Ritter‹ ist eine Art Don Quijote, aber ein ernster, nicht ein komischer. Ich habe ihn am Anfang nicht verstanden und über ihn gelacht, aber jetzt liebe ich den ›armen Ritter‹, und vor allen Dingen schätze ich seine Taten hoch.« Damit schloß Aglaja, und wenn man sie ansah, konnte man schwer daraus klug werden, ob sie im Ernst sprach oder scherzte. »Na, ein Dummkopf ist er, er und seine Taten!« urteilte die Generalin kurz. »Aber du, liebes Kind, bist ganz ins Schwatzen hineingekommen, das war ja eine ordentliche Vorlesung; aber meiner Ansicht nach steht dir das gar nicht gut, jedenfalls ist es unpassend. Was sind das für Verse? Sag sie mal auf, du kannst sie doch sicher auswendig! Ich will diese Verse unbedingt kennenlernen. Mein ganzes Leben habe ich Verse nicht leiden können, als hätte ich eine Ahnung gehabt, daß ich mich bloß darüber ärgern würde. Um Gottes willen, Fürst, werd nicht böse! Wir beide, du und ich, müssen, wie es scheint, es zusammen ertragen«, sagte sie, zu dem Fürsten Lew Nikolajewitsch gewendet. Sie war sehr aufgebracht. Fürst Lew Nikolajewitsch wollte schon etwas sagen, konnte aber wegen seiner immer noch andauernden Verlegenheit nichts herausbringen. Aglaja hingegen, die sich in ihrer »Vorlesung« soviel herausgenommen hatte, zeigte keine Spur von Verlegenheit mehr, sondern schien sich im Gegenteil zu freuen. Sie stand sofort auf, mit derselben ernsten, bedeutsamen Miene wie vorhin; es machte den Eindruck, als hätte sie sich vorher darauf vorbereitet und nur auf eine Aufforderung gewartet. In die Mitte der Veranda tretend, stellte sie sich gerade vor den Fürsten hin, der auf seinem Lehnstuhl sitzen blieb. Alle blickten sie einigermaßen erstaunt an, und fast alle, Fürst Schtsch., die Schwestern und die Mutter, sahen mit einem unangenehmen Gefühl dem neuen, in Vorbereitung befindlichen Schelmenstreich entgegen, der jedenfalls etwas weit zu gehen drohte. Aber Aglaja fand offenbar ihr Vergnügen an dem affektierten Benehmen, mit dem sie sich zu der Deklamation der Verse anschickte. Lisaweta Prokofjewna war schon nahe daran, sie mit energischen Worten von dort wegzurufen und auf ihren Platz zurückzuschicken; aber gerade in dem Augenblick, als Aglaja die bekannte Ballade Zu deklamieren begann, traten zwei neue Gäste, die in lautem Gespräch begriffen waren, von der Straße in die Veranda. Dies waren der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin und hinter ihm ein junger Mann. Ihr Erscheinen rief bei den bereits Anwesenden eine kleine Aufregung hervor. VII Der junge Mann, der den General begleitete, war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, mit einem schönen, verständigen Gesicht und großen schwarzen, klug und spöttisch blickenden Augen. Aglaja sah sich gar nicht nach ihm um und deklamierte ruhig das Gedicht weiter, indem sie fortfuhr, nur den Fürsten anzusehen, und sich nur an ihn allein wandte. Dem Fürsten war klar, daß sie dies alles mit irgendeiner besonderen Absicht tat. Aber wenigstens trugen die neuen Gäste einigermaßen zur Verbesserung seiner unbehaglichen Situation bei. Als er sie erblickte, erhob er sich, nickte dem General von weitem freundlich zu und machte ein Zeichen, daß sie die Deklamation nicht unterbrechen möchten; er selbst aber retirierte hinter seinen Lehnstuhl, wo er, mit dem linken Arm auf die Lehne gestützt, die Ballade weiter mit anhörte, sozusagen in gesicherter und nicht so komischer Stellung wie vorher, als er auf dem Lehnstuhl saß. Lisaweta Prokofjewna winkte ihrerseits den Ankömmlingen gebieterisch zu, sie möchten stehenbleiben. Der Fürst interessierte sich übrigens sehr für seinen neuen Gast, der mit dem General gekommen war; er vermutete mit Bestimmtheit in ihm Jewgenij Pawlowitsch Radomskij, von dem er bereits viel gehört und an den er schon oft gedacht hatte. Nur machte ihn dessen Zivilanzug stutzig, da er gehört hatte, daß Jewgenij Pawlowitsch Offizier sei. Ein spöttisches Lächeln spielte während der ganzen Dauer der Deklamation um die Lippen des neuen Gastes, als hätte er bereits etwas von dem »armen Ritter« gehört. ›Vielleicht rührt der ganze Gedanke von ihm her‹, dachte der Fürst im stillen. Aber mit Aglaja war eine große Veränderung vorgegangen. Statt der ursprünglichen Affektiertheit und Wichtigtuerei, mit der sie zum Deklamieren vorgetreten war, zeigte sie einen solchen Ernst und ein so tiefes Eindringen in den Geist und Sinn des dichterischen Werkes, sie sprach jedes Wort des Gedichtes mit solchem Verständnis, sie trug die Verse mit so vollendeter Schlichtheit vor, daß sie, als die Deklamation beendet war, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, sondern auch durch die Wiedergabe des hohen geistigen Gehaltes der Ballade jene besondere, affektierte Feierlichkeit, mit der sie so triumphierend in die Mitte der Veranda getreten war, nachträglich gewissermaßen zum Teil gerechtfertigt hatte. In diesem feierlichen Benehmen konnte man jetzt nur ihre grenzenlose und vielleicht naive Hochachtung vor demjenigen sehen, was sie wiederzugeben unternommen hatte. Ihre Augen leuchteten, und ein leiser, kaum bemerkbarer Schauer der Begeisterung und des Entzückens lief einigemal über ihr schönes Gesicht. Sie deklamierte: »Einstmals lebt' ein armer Ritter, Schweigsam, herzensgut und schlicht; Kühn mit jedem Feinde stritt er, Ernst und blaß war sein Gesicht. In Verzückung war erschienen Ihm ein himmlisch Frauenbild, Nie vergaß er dessen Mienen, Hehr und edel, hold und mild. Ganz der Heiligen ergeben, Mied er alle Frau'n hinfort, Gönnt' in seinem ganzen Leben Keinem ird'schen Weib ein Wort. Und ein Paternoster trug er Um den Hals als sondre Zier; Niemals in die Höhe schlug er Vorm Gesichte das Visier. Dieser Rittersmann, getrieben Von des Herzens reiner Glut, Hatt' auf seinen Schild geschrieben N. F. B. mit seinem Blut. Als ins heil'ge Land sie kamen, Rief ein jeder Christenheld Seiner edlen Dame Namen In der Schlacht auf blut'gem Feld. ›Lumen coeli, sancta rosa!‹ Licht des Himmels, heilige Rose! (lat.) Rief jedoch mit wildem Blick Unser Ritter, und sein Droh'n sah Scheu der Feind und wich zurück. Heimgekehrt zur Burg der Väter, Lebt' er fort, ein trüber Tropf, Immer einsam, bis er später Starb, nicht ganz normal im Kopf.« Wenn der Fürst später sich an diesen ganzen Vorgang erinnerte, so quälte er sich lange ratlos mit einer für ihn unlösbaren Frage ab: wie es möglich war, eine so echte, schöne Empfindung mit so offenbarem, boshaftem Spott zu vereinigen. Denn daß wirklich Spott dahintersteckte, daran zweifelte er nicht; das fühlte er deutlich, und er hatte zu seiner Auffassung seine guten Gründe: beim Deklamieren hatte sich Aglaja erlaubt, die Buchstaben A. M. D. Ave Mater Dei (Sei gegrüßt, Mutter Gottes). mit den Buchstaben N. F. B. zu vertauschen. Daß hier kein Irrtum und kein Verhören seinerseits vorlag, daran konnte er nicht zweifeln (die Folgezeit lieferte den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht). Jedenfalls war Aglajas Ausschreitung (die sicherlich nur als Scherz gemeint, aber doch gar zu keck und leichtsinnig war) vorher überlegt gewesen. Von dem »armen Ritter« hatten alle gesprochen und sich darüber amüsiert, schon vor einem Monat. Und trotzdem mußte der Fürst, wie sehr er auch später sein Gedächtnis anstrengte, zugeben, daß Aglaja jene Buchstaben nicht nur ohne jeden scherzhaften oder spöttischen Beiklang, nicht nur ohne eine besondere Betonung, die ihren geheimen Sinn stärker hervorgehoben hätte, sondern im Gegenteil mit so unverändertem Ernst, mit einer solchen unschuldigen, naiven Einfachheit gesprochen hatte, daß man hätte denken können, eben jene Buchstaben hätten in dem Gedicht gestanden und es wäre so in dem Buch gedruckt gewesen. Es lag in ihrem Verhalten etwas, was den Fürsten peinlich verletzte. Lisaweta Prokofjewna hatte es natürlich nicht verstanden und weder die Vertauschung der Buchstaben noch die Anspielung bemerkt. General Iwan Fjodorowitsch begriff weiter nichts, als daß da eine Gedicht deklamiert wurde. Von den übrigen Zuhörern hatten sehr viele die Ausschreitung gemerkt und sich über deren Kühnheit und Tendenz gewundert, aber sie schwiegen und bemühten sich, harmlose Gesichter zu machen. Jewgenij Pawlowitsch jedoch hatte (darauf hätte der Fürst wetten mögen) nicht nur verstanden, sondern war auch bestrebt, dies durch seine Miene zu zeigen: er lächelte überaus spöttisch. »Ein reizendes Gedicht«, rief die Generalin in aufrichtigem Entzücken, sobald die Deklamation zu Ende war. »Von wem ist es denn?« »Von Puschkin, maman. Machen Sie uns doch nicht solche Schande, man muß sich ja schämen!« rief Adelaida. »Ihr stellt einen aber auch immer als Dummkopf hin!« erwiderte Lisaweta Prokofjewna gekränkt. »Schämt euch! Sowie wir nach Hause kommen, müßt ihr mir dieses Puschkinsche Gedicht geben.« »Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.« »Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu. »Dann schickt sofort jemanden in die Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß, du hast sehr schön deklamiert; aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid, und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.« Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgenij Pawlowitsch Radomskij vorgestellt. »Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierherginge und daß auch alle meine Angehörigen...« »Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgenij Pawlowitsch, »und da ich mir schon längst vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft, sondern auch Ihre Freundschaft zu suchen, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört...« »Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Lew Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte. Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort eine allgemeine Unterhaltung. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgenij Pawlowitschs Zivilanzug allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, wodurch sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als messe man diesem Kostümwechsel besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert, was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte Jewgenij Pawlowitsch einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär- oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich dann aber gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigt war. Es schien dem Fürsten, daß Jewgenij Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand. »Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt«, erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein Rätsel. Er selbst proklamiert es als seinen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.« Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgenij Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte. »Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr, ausgetreten«, sagte Radomskij lachend. »Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, war es doch gar nicht notwendig«, ereiferte sich der General immer noch. »Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen...« Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu, aber die eigenartige und immer noch fortdauernde Unruhe überschritt doch nach Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte wohl etwas Besonderes dahinterstecken. »Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgenij Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat. Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, als wollte sie ihm zu verstehen geben, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe. »Aber es ist zu spät, viel zu spät, jetzt noch in die Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja hitzig mit Lisaweta Prokofjewna. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!« »Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch in die Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgenij Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein, es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend. »Sind wir so lange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida. »Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgenij Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben char à banc offenen Wagen mit Bänken (frz.) mit roten Rädern.« »Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida. »Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgenij Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen, aber diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buche zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.« Der Fürst hörte das, was Radomskij sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß er mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach. »Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wera, die Tochter Lebedews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format, waren vorzüglich gebunden und fast neu. »Puschkin«, antwortete Wera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.« »Wie ist das gemeint? Wie ist das möglich?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt. »Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« kam Lebedew hinter der Schulter seiner Tochter hervorgesprungen. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zum Selbstkostenpreis. Dies ist unser Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist, – zum Selbstkostenpreis. Ich bringe ihn Ihnen mit Ehrerbietung dar, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.« »Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen, hab keine Bange; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört, du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist's? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?« »Mit Ehrerbietung und... größtem Respekt!« versetzte Lebedew höchst zufrieden unter starkem Gesichterschneiden und nahm seiner Tochter die Bücher ab. »Na, verliere sie nur nicht, wenn du sie hinbringst; Ehrerbietung ist dabei nicht vonnöten. Aber ich sage dir vorher«, fügte sie, ihn fest anblickend, hinzu, »über die Schwelle lasse ich dich nicht; dich heute zu empfangen, das liegt nicht in meiner Absicht. Deine Tochter Wera kannst du mir aber gleich hinschicken, die hat mir sehr gefallen.« »Warum sagen Sie denn nichts von jenen Leuten?« wandte sich Wera ungeduldig an ihren Vater. »Sonst werden sie noch unaufgefordert hereinkommen, sie haben schon angefangen, Lärm zu machen. Lew Nikolajewitsch«, wandte sie sich an den Fürsten, der bereits nach seinem Hut gegriffen hatte, »da sind schon vor längerer Zeit vier Menschen gekommen, die zu Ihnen wollen. Sie warten in unserer Wohnung und schimpfen, aber Papa will sie nicht zu Ihnen hereinlassen.« »Was sind das für Besucher?« fragte der Fürst. »Sie sagen, sie kämen in einer geschäftlichen Angelegenheit«, erwiderte Wera. »Aber es sind Menschen von solcher Art, daß sie, wenn sie jetzt nicht vorgelassen werden, sich nicht scheuen werden, Sie einmal auf der Straße anzuhalten. Es wird das beste sein, wenn Sie sie vorlassen, Lew Nikolajewitsch, und sie dann ein für allemal abschütteln. Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyn reden dort auf sie ein, aber sie hören nicht darauf.« »Es ist Pawlischtschews Sohn, es ist Pawlischtschews Sohn! Er ist es nicht wert, er ist es nicht wert!« rief Lebedew mit lebhaftem Armschwenken. »Die Leute sind nicht wert, daß man sie anhört, und es schickt sich gar nicht, daß Sie, durchlauchtigster Fürst, sich ihretwegen stören lassen. So ist es. Die Menschen verdienen es nicht...« »Pawlischtschews Sohn! Mein Gott!« rief der Fürst in größter Verlegenheit. »Ich weiß... aber ich hatte ja... ich hatte ja Gawrila Ardalionowitsch mit der Erledigung dieser Sache beauftragt. Eben hat mir noch Gawrila Ardalionowitsch gesagt...« Aber Gawrila Ardalionowitsch kam bereits aus den Zimmern auf die Veranda heraus; ihm folgte Ptizyn. In dem nächsten Zimmer hörte man Lärm und die laute Stimme des Generals Iwolgin, der, wie es schien, einige andere Stimmen zu überschreien suchte. Kolja lief sogleich dahin, wo der Lärm war. »Das ist sehr interessant«, bemerkte Jewgenij Pawlowitsch laut. ›Also ist er orientiert!‹ dachte der Fürst. »Was für ein Sohn Pawlischtschews? Und... was kann das für ein Sohn Pawlischtschews sein?« fragte der General Iwan Fjodorowitsch erstaunt, der neugierig seinen Blick über alle Gesichter schweifen ließ und mit Verwunderung bemerkte, daß diese neue Geschichte nur ihm allein unbekannt war. In der Tat, die Aufregung und Spannung war allgemein. Der Fürst war höchst verwundert, daß diese seine rein persönliche Angelegenheit bereits das Interesse aller Anwesenden in so hohem Grad erregt hatte. »Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernster Miene zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie bitte erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst, sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.« »Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst, schone sie nicht! Ich habe schon soviel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch. »Gewiß, ich habe davon gehört, und zwar bei Ihnen. Aber es reizt mich ganz besonders, mir diese jungen Leute anzusehen«, erwiderte Fürst Schtsch. »Es sind wohl Nihilisten, nicht wahr?« »Nein, Nihilisten sind sie eigentlich nicht«, sagte Lebedew vortretend; auch er zitterte vor Aufregung, »es ist eine andere, besondere Sorte. Mein Neffe hat mir gesagt, sie gingen weiter als die Nihilisten. Wenn Euer Exzellenz etwa meinen, diese Leute durch Ihre Gegenwart verlegen zu machen, so würde das ein Irrtum sein; die werden nicht verlegen. Die Nihilisten sind doch manchmal kenntnisreiche Leute, sogar gelehrte Leute; aber diese hier gehen weiter, weil sie vor allem materielle Interessen im Auge haben. Es ist das eigentlich eine Folgeerscheinung des Nihilismus, wenn auch keine unmittelbare, sondern nur eine indirekte: sie kennen den Nihilismus nur vom Hörensagen. Diese Leute sprechen sich nicht in einem Zeitungsartikel aus, sondern schreiten sofort zur Tat; es ist zum Beispiel nicht davon die Rede, ob Puschkin sinnlos ist oder ob Rußland in seine Teile zerfallen muß; nein, diese Menschen betrachten es jetzt geradezu als ihr Recht, wenn sie nach etwas Verlangen tragen, vor keinem Hindernis haltzumachen, und wenn sie acht Personen dabei abmurksen müßten. Aber ich würde Ihnen doch nicht raten, Fürst...« Aber der Fürst ging schon zur Tür, um sie den Besuchern zu öffnen. »Sie verleumden die Leute, Lebedew«, sagte er lächelnd, »Sie haben sich zu sehr über Ihren Neffen geärgert. Glauben Sie ihm nicht, Lisaweta Prokofjewna! Ich versichere Ihnen: Leute wie Gorskij und Danilow sind nur seltene Ausnahmen; diese Leute hier sind nur... in einem Irrtum befangen. Aber es wäre mir nicht lieb, wenn die Sache hier in Gegenwart aller verhandelt würde. Verzeihen Sie also, Lisaweta Prokofjewna; sie werden hereinkommen, ich werde sie Ihnen zeigen und dann wegführen. Treten Sie näher, meine Herren!« Was ihn beunruhigte, war mehr ein anderer, ihm peinlicher Gedanke. In seinem Kopf war die Frage aufgetaucht: war nicht vielleicht diese ganze Sache von jemandem künstlich im voraus arrangiert, gerade zu dieser Zeit und Stunde, wo diese Zeugen zugegen waren, und zwar vielleicht arrangiert in der Erwartung, daß sie nicht mit seinem Triumph, sondern mit seiner Beschämung enden werde? Aber er war ganz betrübt über diesen »ungeheuerlichen, schändlichen Argwohn«. Er müßte ja, meinte er, vor Scham in die Erde sinken, wenn jemand erführe, daß er so etwas denke, und in dem Augenblick, als die neuen Besucher eintraten, war er aufrichtig bereit, zu glauben, daß er sittlich auf einem weit niedrigeren Standpunkte stehe als irgendeiner der übrigen Anwesenden. Es traten fünf Personen ein; vier davon waren die neuen Gäste, und als fünfter folgte ihnen General Iwolgin, ganz ereifert, in Aufregung und in einem starken Anfall von Redelust. ›Der wenigstens ist auf meiner Seite!‹ dachte der Fürst lächelnd. Kolja schlüpfte mit den andern zusammen herein. Er sprach eifrig mit Ippolit, der zu den Ankömmlingen gehörte; Ippolit hörte ihn an und lächelte. Der Fürst bat die Besucher, Platz zu nehmen. Es waren fast alle noch so jugendliche und sogar minderjährige Leute, daß man sich über den ganzen Vorfall und die dadurch hervorgerufene Aufregung wundern konnte. Namentlich war Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, der von dieser »neuen Affäre« nichts wußte und nichts verstand, geradezu empört, als er diese junge Gesellschaft erblickte, und hätte sicherlich irgendwie Einspruch erhoben, wenn ihn nicht der ihm merkwürdig erscheinende Umstand davon zurückgehalten hätte, daß seine Gattin an den Privatangelegenheiten des Fürsten so warmen Anteil nahm. Er blieb übrigens teils aus Neugier, teils aus Gutherzigkeit, sogar in der Hoffnung, helfen und jedenfalls durch seine Autorität von Nutzen sein zu können; aber die Verbeugung, die ihm der eintretende General Iwolgin machte, verstimmte ihn von neuem; er runzelte die Stirn und nahm sich vor, hartnäckig zu schweigen. Unter den vier Besuchern war übrigens einer der dreißigjährige »Leutnant a. D., der Boxer aus der Rogoshinschen Rotte, der früher selbst jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben hatte«. Es lag die Vermutung nahe, daß er die übrigen in der Eigenschaft eines aufrichtigen Freundes begleitete, um ihnen Mut zu machen und nötigenfalls zu unterstützen. Unter den übrigen nahm jener die erste Stelle ein und spielte ganz die erste Rolle, der als »Pawlischtschews Sohn« bezeichnet wurde, obwohl er sich mit dem Namen Antip Burdowskij vorstellte. Es war dies ein junger Mann, ärmlich und schlampig gekleidet, in einem Oberrock, dessen Ärmel so fettig waren, daß sie spiegelten, mit einer unsauberen, bis oben zugeknöpften Weste, ohne alle sichtbare Wäsche, mit einem schwarzseidenen, unglaublich speckigen, zu einem Strick zusammengedrehten Halstuch, ungewaschenen Händen, einem Gesicht, das ganz mit Pickeln besät war, blondem Haar und, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frechem Blick. Er war von kleiner Statur, mager und ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Ironie oder überhaupt von Denktätigkeit ausgeprägt, sondern nur eine vollständige stumpfe Berauschtheit von dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, und gleichzeitig ein sonderbarerweise zum steten Bedürfnis gewordenes Gefühl, als sei er beleidigt worden. Er sprach in erregtem Ton, heftig und stockend, einzelne Worte nicht ganz zu Ende bringend, als wäre er ein Stotterer oder gar ein Ausländer, obgleich er übrigens rein russischer Abkunft war. Es begleiteten ihn erstens der den Lesern bereits bekannte Neffe Lebedews und zweitens Ippolit. Ippolit war ein sehr junger Mensch, etwa siebzehn, vielleicht auch achtzehn Jahre alt, mit einem klugen Gesicht, das aber beständig den Ausdruck der Gereiztheit trug und die schrecklichen Spuren seiner Krankheit zeigte. Er war mager wie ein Skelett, mit blaßgelber Haut; seine Augen funkelten, und auf seinen Backen brannten zwei rote Flecken. Er hustete beständig; jedes Wort, fast jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Er befand sich offenbar im höchsten Stadium der Schwindsucht. Es schien, daß er nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Er war sehr müde und ließ sich früher als alle andern auf einem Stuhl nieder. Die übrigen genierten sich beim Eintritt ein wenig und waren sogar verlegen; sie blickten jedoch wichtigtuerisch drein und fürchteten offenbar, sich etwas von ihrer Würde zu vergeben. Das stand in seltsamem Widerstreit zu ihrem Ruf als Gegner aller nutzlosen gesellschaftlichen Konventionen, Vorurteile und überhaupt fast aller Dinge auf der Welt mit Ausnahme ihrer eigenen Interessen. »Antip Burdowskij«, sagte der »Sohn Pawlischtschews« hastig und stockend. »Wladimir Doktorenko«, stellte sich mit klarer, deutlicher Aussprache Lebedews Neffe vor; es klang, als brüste er sich mit seinem Namen. »Keller«, murmelte der Leutnant a. D. »Ippolit Terentjew«, sagte der letzte mit einer Stimme, deren kreischender Ton etwas Überraschendes hatte. Alle hatten endlich in einer Reihe auf Stühlen dem Fürsten gegenüber Platz genommen, zeigten, nachdem sie sich vorgestellt hatten, sofort finstere Gesichter und schoben, um sich Mut zu machen, ihre Mützen von einer Hand in die andere; alle bereiteten sich darauf vor, zu reden, schwiegen aber trotzdem sämtlich; sie schienen auf etwas mit herausfordernder Miene zu warten, in der gleichsam zu lesen war: ›Nein, Bruder, da irrst du dich; du wirst mich nicht übers Ohr hauen!‹ Man hatte das Gefühl, daß jemand zu Anfang nur das erste Wort, nur ein einziges Wort zu sagen brauche, dann würden sie sofort alle zusammen, sich gegenseitig unterbrechend und einander zuvorkommend, zu reden beginnen. VIII »Meine Herren, ich habe niemand von Ihnen erwartet«, begann der Fürst, »ich selbst bin bis heute krank gewesen; Ihre Angelegenheit aber« (er wandte sich an Antip Burdowskij) »hatte ich schon vor einem Monat Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin zur Erledigung übergeben, wovon ich Sie gleich damals benachrichtigt habe. Übrigens will ich einer persönlichen Aussprache nicht ausweichen; nur werden Sie selbst zugeben, daß es dazu schon etwas spät am Tage ist... Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir in ein Zimmer zu gehen, wenn es nicht zu lange dauert... Hier sind jetzt meine Freunde, und seien Sie überzeugt...« »Freunde... können dabeisein, soviel Sie wollen; aber erlauben Sie«, unterbrach ihn plötzlich in sehr anmaßendem Ton, freilich ohne noch die Stimme besonders zu erheben, Lebedews Neffe, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie uns hätten höflicher behandeln können und uns nicht zwei Stunden lang in Ihrer Gesindestube hätten warten zu lassen brauchen...« »Gewiß... auch ich... Das ist so recht fürstenmäßig! Sie freilich... spielen sich als General auf, aber ich bin nicht Ihr Lakai! Und ich... ich...«, murmelte Antip Burdowskij in großer Aufregung, mit bebenden Lippen; Speicheltröpfchen flogen ihm aus dem Munde; es war, als wenn er jeden Augenblick bersten und platzen wollte. Aber er überhastete sich so, daß nach einem Dutzend Worte nichts mehr zu verstehen war. »Das war so recht fürstenmäßig!« schrie Ippolit mit seiner kreischenden, rissigen Stimme. »Wenn mir das passiert wäre«, brummte der Boxer, »das heißt, wenn sich dieses Benehmen direkt gegen mich als anständigen Menschen richtete, dann hätte ich an Burdowskijs Stelle... ja, dann hätte ich...« »Meine Herren, ich habe erst diesen Augenblick erfahren, daß Sie hier sind, bei Gott!« erwiderte der Fürst. »Wir fürchten uns nicht vor Ihren Freunden, Fürst, wer es auch immer sein mag, weil wir in unserm Recht sind«, erklärte wieder Lebedews Neffe. »Gestatten Sie indessen die Frage«, kreischte wieder Ippolit, der aber jetzt schon sehr hitzig geworden war, »welches Recht haben Sie, Burdowskijs Angelegenheit dem Urteil Ihrer Freunde zu unterbreiten? Wir wünschen vielleicht gar nicht, daß Ihre Freunde darüber urteilen; es ist nur zu klar, was das Urteil ihrer Freunde für einen Wert hat!...« »Aber wenn Sie, Herr Burdowskij, hier nicht zu sprechen wünschen«, sagte der Fürst, als es ihm endlich gelang, zu Worte zu kommen – er war über diesen Anfang des Gespräches außerordentlich erstaunt –, »so lassen Sie uns, wie schon gesagt, gleich in ein Zimmer gehen. Davon aber, daß Sie alle hier sind, habe ich, wie ich Ihnen nochmals bemerke, erst in diesem Augenblick gehört...« »Aber Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht!... Ihre Freunde... Da!...« stotterte Burdowskij von neuem. Er sah scheu und ängstlich um sich und ereiferte sich immer mehr, je mehr sein Selbstvertrauen sank und seine Furcht wuchs. »Sie haben kein Recht.« Nachdem er das gesagt hatte, brach er ganz plötzlich ab, als ob er nichts weiter wüßte, und stumm seine kurzsichtigen, stark hervorstehenden, mit dicken, roten Äderchen durchzogenen Augen aufreißend, starrte er, mit dem ganzen Oberkörper vornübergebeugt, den Fürsten an. Diesmal war der Fürst so verwundert, daß auch er verstummte und ihn gleichfalls mit weitgeöffneten Augen, ohne ein Wort zu sagen, ansah. »Lew Nikolajewitsch!« rief auf einmal Lisaweta Prokofjewna. »Lies doch dies hier gleich einmal vor, augenblicklich! Das hat auf deine Angelegenheit unmittelbaren Bezug!« Sie hielt ihm eilig eine humoristische Wochenschrift hin und wies mit dem Finger auf einen Artikel. Lebedew war in dem Augenblick, als die neuen Gäste noch im Hereinkommen begriffen waren, von der Seite zu Lisaweta Prokofjewna herangesprungen, um deren Gunst er sich sehr bemühte, hatte, ohne ein Wort zu sagen, aus der Seitentasche seines Rockes diese Zeitschrift herausgezogen, sie ihr gerade vor die Augen gehalten und auf eine angestrichene Spalte hingezeigt. Durch das, was Lisaweta Prokofjewna bereits davon gelesen hatte, war sie in gewaltige Verwunderung und Entrüstung versetzt worden. »Wäre es aber nicht besser, es nicht laut zu lesen«, stammelte der Fürst sehr verlegen, »ich würde es lieber für mich allein lesen ... später...« »Dann lies du es lieber vor, sofort, laut! Laut!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Kolja und riß dem Fürsten die Zeitschrift, die er noch kaum berührt hatte, ungeduldig aus den Händen. »Lies es allen laut vor, damit es jeder hört!« Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame, so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr. Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten, was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der hinzuspringende Lebedew zeigte: »Proletarier und Nachfahren. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit! Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, im Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, im Zeitalter der Förderung der Industrie und der Lähmung der Arbeiterhände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte zugetragen mit einem der Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!), einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, deren Väter sich daher genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben und deren Kinder dann wie der Held unserer Erzählung entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminaläffären hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter Schande machen. Unser Adelssprößling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter aus der Schweiz, wo er eine Kur gegen seine Idiotie gemacht hatte (sic!), nach Rußland zurück. Man muß bekennen, daß er Glück hatte, denn ganz abgesehen von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ (ist denn Idiotie überhaupt heilbar, stellen Sie sich das nur einmal vor?!!), könnte er an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichwortes beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben ist, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten, goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; nicht lang ist's her, und doch ist's kaum zu glauben) und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Adelssprößling, der Letzte seines Geschlechts, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich. Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der angeborenen Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Adelssproß versuchte, obwohl er ein Idiot war, doch seinen Professor zu betrügen und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe das Glück unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, alleinstehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen, unanfechtbar, abgerundet, alles in bar, die (ja, das wäre etwas für mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unserem jungen Adelssprößling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten, von einem andern ausgehaltenen Schönheit den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen!...« »Das... das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung. »Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Tone. Von allen Seiten erschollen verschiedene Ausrufe. »Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!« Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter. »Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoße des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtschaffener Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörend, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er ist von einem jungen Mann mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt worden und kommt in dessen Namen. Dieser junge Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sohn des verstorbenen P., obgleich er einen andern Namen trägt. Der Lüstling P. hatte in seiner Jugend ein anständiges, armes Mädchen verführt, das zu seinem Hofgesinde gehörte, aber europäische Erziehung genossen hatte (wobei selbstverständlich die Herrenrechte der damaligen Zeit der Leibeigenschaft mit ins Spiel kamen), und als die unausbleiblichen, nahe bevorstehenden Folgen dieses Verhältnisses sichtbar wurden, sie möglichst schnell an einen gewerbetreibenden und sogar im Staatsdienst befindlichen Mann von edlem Charakter verheiratet, der dieses Mädchen schon lange geliebt hatte. Anfangs unterstützte er das junge Ehepaar, aber die edle Gesinnung des Ehemannes veranlaßte diesen bald, die weitere Annahme solcher Unterstützung abzulehnen. Es verging nun einige Zeit, und P. vergaß allmählich das Mädchen und seinen mit ihr gezeugten Sohn und starb dann, wie bekannt, ohne testamentarische Anordnungen zu hinterlassen. Sein Sohn, der zu einer Zeit geboren war, als seine Mutter bereits in legitimer Ehe lebte, wuchs unterdessen unter einem andern Familiennamen heran und wurde von dem edeldenkenden Gatten seiner Mutter völlig als Sohn behandelt; aber als er bei dessen Tod mit der kränklichen, leidenden, an den Füßen gelähmten Mutter in einem abgelegenen Gouvernement zurückblieb, war er gänzlich auf seine eigenen Mittel angewiesen. Er selbst ging nach der Hauptstadt und verdiente sich Geld durch tägliche anständige Arbeit, indem er in Kaufmannsfamilien Privatstunden gab und sich dadurch zuerst als Gymnasiast, dann als Hörer der für ihn zweckmäßigen Universitätsvorlesungen erhielt, wobei er ein höheres Ziel im Auge hatte. Aber kann man etwa viel erwerben, wenn einem der russische Kaufmann für die Stunde zehn Kopeken gibt und man obendrein eine kranke, gelähmte Mutter hat? Auch als diese schließlich in dem abgelegenen Gouvernement starb, wurde der Sohn dadurch nicht sonderlich entlastet. Nun werfen wir die Frage auf: wie mußte unser junger Adelssprößling sich gerechterweise entscheiden? Gewiß meinen Sie, verehrter Leser, daß er sich folgendes gesagt hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen, für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen, und da besitze ich nun Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt ist, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden müssen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohne P.s Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich – die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinne ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; da ich aber vor allen Dingen ein berechnender Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, werde ich ihm die Hälfte meiner Millionen nicht geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein' (der Adelssprößling vergaß, daß es auch nicht vorteilhaft sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹ Aber nein, meine Herren! Unsere Adelssprößlinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, fast gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstands und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts, aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, das verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne, und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der ihm durch seine Millionen zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Adelssprößling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber er hat es getan, trotz alledem! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache geregelt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht, es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdiene: In 'nem Mäntelchen von Schneider Der Name des Schweizer Professors. Spielte Lew Diminutivname des Adelssprößlings. fünf Jahr herum; Unterdessen wurde leider Nichts aus seinem Studium. Heimgekehrt drauf in Gamaschen, Erbt' er glücklich 'ne Million Und bestahl trotz voller Taschen Einen armen Musensohn. Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift eiligst dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, verkroch sich ganz tief hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich unsäglich, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt. Es schien ihm, als sei etwas ganz Ungewöhnliches vorgegangen, als sei alles Bestehende dadurch auf einmal niedergerissen und als sei er selbst beinah mit daran schuld, schon allein dadurch, daß er es laut vorgelesen hatte. Aber auch alle übrigen schienen ähnliches zu empfinden. Die jungen Mädchen fühlten sich sehr unbehaglich und schämten sich. Lisaweta Prokofjewna hielt ihren heftigen Zorn gewaltsam zurück und bereute es wohl bitter, sich in die Sache eingelassen zu haben; jetzt schwieg sie. Mit dem Fürsten ging das vor, was allzu schüchternen Menschen in solchen Fällen zu begegnen pflegt: er schämte sich dermaßen über das Benehmen anderer, nämlich seiner Gäste, daß er sich im ersten Augenblick fürchtete, sie auch nur anzusehen. Ptizyn, Warja, Ganja, sogar Lebedew, alle machten etwas verlegene Gesichter. Das sonderbarste war, daß Ippolit und »Pawlischtschews Sohn« ebenfalls erstaunt zu sein schienen; auch Lebedews Neffe war offenbar unzufrieden. Nur der Boxer saß ganz ruhig da und drehte mit würdevoller Miene seinen Schnurrbart; die Augen hielt er niedergeschlagen, aber nicht aus Verlegenheit; im Gegenteil, es schien, als tue er es aus edler Bescheidenheit und um sein Triumphgefühl nicht allzu sichtbar werden zu lassen. An allem konnte man merken, daß der Artikel ihm sehr gut gefiel. »Weiß der Teufel, was das bedeuten soll«, brummte Iwan Fjodorowitsch halblaut. »Das ist ja, als hätten fünfzig Lakaien sich zusammengetan und das abgefaßt.« »Gestatten Sie die Frage, mein Herr, wie Sie es wagen können, uns durch solche Vermutungen zu beleidigen?« fragte Ippolit, am ganzen Leibe zitternd. »Das, das, das ist für einen anständigen Menschen... sagen Sie selbst, General, wenn ein anständiger Mensch... so ist das doch verletzend!« brummte der Boxer, der gleichfalls auf einmal zusammenfuhr, seinen Schnurrbart drehte und mit den Schultern und dem ganzen Oberkörper zuckte. »Erstens bin ich für Sie nicht ›mein Herr‹, und zweitens beabsichtige ich Ihnen keinerlei Erklärungen zu geben«, erwiderte der höchst ergrimmte Iwan Fjodorowitsch in scharfem Ton, stand auf, ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Ausgang der Veranda und stellte sich dort auf die oberste Stufe hin, den Anwesenden den Rücken zuwendend. Er war höchst empört über Lisaweta Prokofjewna, die auch jetzt noch nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren. »Meine Herren, meine Herren, gestatten Sie mir doch endlich, etwas zu sagen, meine Herren!« rief der Fürst bekümmert und aufgeregt, »und tun Sie mir den Gefallen, lassen Sie uns so miteinander reden, daß wir uns gegenseitig verstehen! Auf den Artikel will ich nicht weiter eingehen, meine Herren, nur ist ja alles, was in dem Artikel gedruckt ist, unwahr, meine Herren! Ich darf Ihnen das sagen, weil Sie es selbst wissen; man muß sich geradezu schämen. Ich würde daher sehr verwundert sein, wenn einer von Ihnen das geschrieben haben sollte.« »Ich habe von dem Artikel bis auf diesen Augenblick nichts gewußt«, erklärte Ippolit. »Ich billige ihn nicht.« »Ich habe zwar gewußt, daß er geschrieben war, aber ... ich hätte ebenfalls nicht dazu geraten, ihn zu drucken, weil es noch zu früh ist«, fügte Lebedews Neffe hinzu. »Ich habe es gewußt, aber ich habe ein Recht... ich...«, murmelte »Pawlischtschews Sohn«. »Wie! Sie selbst haben das alles verfaßt?« fragte der Fürst, indem er Burdowskij gespannt anblickte. »Aber das ist doch ganz unmöglich!« »Man kann Ihnen das Recht zu solchen Fragen absprechen«, mischte sich Lebedews Neffe hinein. »Ich habe mich ja nur gewundert, daß Herr Burdowskij das fertiggebracht hat... aber... ich möchte doch eines bemerken: wenn Sie diese Sache schon der Öffentlichkeit übergeben haben, warum fühlten Sie sich denn dann vorhin so beleidigt, als ich in Gegenwart meiner Freunde von eben dieser Sache zu reden anfing?« »Endlich!« murmelte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich. »Und Sie haben sogar noch vergessen, Fürst«, bemerkte, plötzlich zwischen den Stühlen hervorschlüpfend, Lebedew, der sich nicht länger beherrschen konnte und beinah fieberte, »Sie haben noch vergessen, daß nur Ihr guter Wille und Ihre beispiellose Herzensgüte Sie veranlaßt haben, diese Herren da zu empfangen und anzuhören, und daß sie keinerlei Recht haben, solche Forderungen zu stellen, um so weniger, als Sie jene Angelegenheit schon an Gawrila Ardalionowitsch zur Erledigung abgegeben haben, ebenfalls infolge Ihrer außerordentlichen Güte. Jetzt aber, durchlauchtigster Fürst, wo Sie sich inmitten Ihrer auserlesenen Freunde befinden, dürfen Sie auf diese Gesellschaft nicht um dieser Herren willen verzichten; Sie könnten allen diesen Herren ohne weiteres die Tür weisen, worüber ich als Besitzer dieses Hauses mich sogar außerordentlich freuen würde...« »Vollkommen richtig!« erscholl auf einmal aus dem Hintergrund General Iwolgins dröhnende Stimme. »Genug, Lebedew, genug, genug...«, begann der Fürst, aber ein ganzer Sturm unwilliger Ausrufe übertönte seine Worte. »Nein, entschuldigen Sie, Fürst, entschuldigen Sie, jetzt darf es nicht damit genug sein!« überschrie Lebedews Neffe alle übrigen. »Jetzt muß die Sache klar und bestimmt festgestellt werden, da sie offenbar nicht richtig verstanden wird. Es sind hier juristische Finten hineingebracht worden, und auf Grund dieser Finten droht man, uns zur Tür hinauszuwerfen! Meinen Sie denn wirklich, Fürst, daß wir so dumm wären, nicht selbst zu verstehen, daß unsere Sache sich nicht gerichtlich verfolgen läßt, und daß wir vom juristischen Standpunkt aus nicht berechtigt sind, auch nur einen Rubel von Ihnen zu verlangen? Aber wir sagen uns, daß, wenn hier auch kein juristisches Recht vorliegt, dafür doch ein menschliches, natürliches Recht vorhanden ist, ein Recht des gesunden Menschenverstandes und der Stimme des Gewissens, und daß, wenn auch dieses unser Recht in keinem vermoderten menschlichen Kodex geschrieben steht, doch ein anständiger, ehrenhafter Mensch, was ganz dasselbe ist wie ein vernünftig denkender Mensch, verpflichtet ist, auch in denjenigen Fällen anständig und ehrenhaft zu bleiben, die im Kodex nicht verzeichnet stehen. Darum sind wir hierhergekommen, ohne zu fürchten, daß man (womit Sie soeben gedroht haben) uns aus der Tür werfen werde, weil wir nicht bitten, sondern fordern und weil unser Besuch zu so später Stunde unschicklich ist (obwohl wir eigentlich nicht so spät gekommen sind, sondern Sie es waren, der uns solange in der Gesindestube warten ließ), darum, sage ich, sind wir furchtlos hierhergekommen, weil wir annahmen, Sie seien ein vernünftig denkender Mensch, das heißt ein ehrenhafter, gewissenhafter Mensch. Ja, es ist wahr: wir sind nicht demütig hereingekommen, nicht wie Schmarotzer und Bittsteller, sondern mit erhobenem Haupt, als freie Männer, und durchaus nicht mit einer Bitte, sondern mit einer freien, stolzen Forderung (hören Sie: nicht mit einer Bitte, sondern mit einer Forderung, merken Sie sich das!). Wir legen Ihnen nun in würdiger Form, offen und geradezu die Frage vor: glauben Sie in der Burdowskijschen Angelegenheit im Recht oder im Unrecht zu sein? Geben Sie zu, daß Pawlischtschew Ihnen zahllose Wohltaten erwiesen und Sie vielleicht sogar vom Tode errettet hat? Wenn Sie es zugeben (und die Sache ist ja sonnenklar!), beabsichtigen Sie oder halten Sie es nach Ihrem Gewissen für gerecht, jetzt, wo Sie in den Besitz von Millionen gekommen sind, Ihrerseits den in Not befindlichen Sohn Pawlischtschews schadlos zu halten, wenn er auch den Namen Burdowskij führt? Ja oder nein? Wenn Sie ja sagen, das heißt mit anderen Worten, wenn in Ihnen das steckt, was Sie in Ihrer Sprache Ehre und Gewissen nennen und was wir mit einem zutreffenderen Ausdruck als gesunden Menschenverstand bezeichnen, so stellen Sie uns zufrieden, und die Sache ist erledigt. Stellen Sie uns zufrieden ohne Bitten und Dankbarkeitsbezeigungen unsererseits, erwarten Sie dergleichen nicht von uns, denn Sie werden das nicht um unseretwillen, sondern um der Gerechtigkeit willen tun. Wenn Sie uns aber nicht zufriedenstellen wollen, das heißt mit Nein antworten, dann gehen wir sofort weg, und die Verhandlungen werden abgebrochen; Ihnen aber sagen wir ins Gesicht, in Gegenwart aller Ihrer Zeugen, daß Sie ein Mensch von geringem Verstand sind und auf einer niedrigen Stufe geistiger Entwicklung stehen, daß Sie nicht wagen dürfen und nicht berechtigt sind, sich künftighin ein Mann von Ehre und Gewissen zu nennen, daß Sie sich dieses Recht gar zu billig erkaufen wollen. Ich bin zu Ende. Ich habe die Frage formuliert. Werfen Sie uns jetzt aus dem Haus, wenn Sie es wagen! Sie können das tun, Sie haben die Macht dazu. Aber vergessen Sie nicht, daß wir trotzdem fordern und nicht bitten! Wir fordern, wir bitten nicht.« Lebedews Neffe, der sehr hitzig geworden war, hielt inne. »Wir fordern, wir fordern, wir fordern, wir bitten nicht!...«, stammelte Burdowskij und wurde rot wie ein Krebs. Den Worten von Lebedews Neffen folgte eine gewisse allgemeine Bewegung, und es wurde sogar ein Gemurr hörbar, obwohl alle Mitglieder der Gesellschaft es offenbar vermieden, sich in die Sache einzumischen, ausgenommen vielleicht nur Lebedew, der sich wie im Fieber befand. (Es war merkwürdig: Lebedew, der doch augenscheinlich auf seiten des Fürsten stand, empfand jetzt nach der Rede seines Neffen doch eine Art befriedigten Familienstolzes; wenigstens ließ er mit einer Miene besonderer Genugtuung seinen Blick rings über die Anwesenden schweifen.) »Meiner Ansicht nach«, begann der Fürst mit ziemlich leiser Stimme, »meiner Ansicht nach haben Sie, Herr Doktorenko, in allem, was Sie soeben gesagt haben, zur Hälfte vollkommen recht; ich will sogar zugeben, daß es die bei weitem größere Hälfte ist, und ich würde mit Ihnen vollkommen einverstanden sein, wenn Sie nicht in Ihrer Äußerung etwas weggelassen hätten. Was Sie da eigentlich weggelassen haben, das Ihnen genau anzugeben, bin ich nicht in der Lage; aber es fehlt natürlich etwas, damit Ihre Worte in vollem Umfang als gerecht gelten könnten. Aber wenden wir uns lieber zur Sache, meine Herren; sagen Sie doch: warum haben Sie diesen Artikel drucken lassen? Jedes Wort darin ist ja eine Verleumdung, so daß Sie, meine Herren, meiner Ansicht nach eine Gemeinheit begangen haben.« »Erlauben Sie!...« »Mein Herr!...« »Das... das... das...«, tönte es gleichzeitig aus dem Munde der erregten Besucher. »Was den Artikel anlangt«, erwiderte Ippolit mit seiner kreischenden Stimme, »was diesen Artikel anlangt, so habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich und die andern ihn nicht billigen! Geschrieben hat ihn der hier.« (Er wies auf den neben ihm sitzenden Boxer.) »Ich gebe zu, daß der Artikel in unschicklicher Form, mit mangelhafter Beherrschung der Sprache und in einem Stil geschrieben ist, wie ihn eben ehemalige Militärs von seiner Art gebrauchen. Er ist ein dummer Mensch und geht obendrein immer auf Gelderwerb aus, das gebe ich zu, das sage ich ihm alle Tage gerade ins Gesicht; aber trotzdem war er zur Hälfte im Recht: die Öffentlichkeit ist das gesetzliche Recht eines jeden, folglich auch Burdowskijs. Seine Abgeschmacktheiten aber mag er selbst verantworten. Was aber das anbetrifft, daß ich vorhin in unser aller Namen gegen die Anwesenheit Ihrer Freunde Protest einlegte, so erachte ich es für nötig, Ihnen, meine Herrschaften, zu bemerken, daß dieser Protest lediglich bezweckte, unser Recht zu wahren, daß uns aber im Grunde die Anwesenheit von Zeugen sogar erwünscht ist und daß wir vorhin, noch ehe wir hereinkamen, alle vier darin einer Meinung waren. Mögen diese Zeugen sein, wer sie wollen, sogar ihre Freunde; aber da sie nicht umhinkönnen werden, Burdowskijs Recht anzuerkennen (denn es ist so sicher wie ein mathematischer Lehrsatz), so ist es sogar am besten, wenn diese Zeugen Ihre Freunde sind; um so deutlicher wird die Wahrheit ans Licht treten.« »Das ist richtig, wir sind damit einverstanden gewesen«, bestätigte Lebedews Neffe. »Warum machten Sie denn dann vorhin gleich bei den ersten Worten ein solches Geschrei und einen solchen Lärm, wenn Ihnen das selbst erwünscht war?« fragte der Fürst erstaunt. »Was diesen Artikel betrifft, Fürst«, griff nun der Boxer in die Debatte ein, der den dringenden Wunsch hatte, zu Wort zu kommen, und sich in einer angenehmen Erregung befand (man konnte vermuten, daß die Anwesenheit der Damen stark auf ihn wirkte), »was diesen Artikel betrifft, so bekenne ich, daß ich tatsächlich der Verfasser bin, obwohl mein kränklicher Freund, dem ich in Anbetracht seines Schwächezustandes vieles zugute zu halten pflege, ihn soeben scharf kritisiert hat. Aber ich habe ihn verfaßt und ihn in dem Journal eines guten Freundes in Form einer Zuschrift drucken lassen. Nur die Verse sind nicht von mir, sondern stammen tatsächlich aus der Feder eines bekannten Humoristen. Meinem Freund Burdowskij habe ich den Artikel nur vorgelesen, und zwar nicht vollständig, und habe sogleich von ihm seine Einwilligung zum Druck erhalten; indes werden Sie selbst zugeben müssen, daß ich ihn auch ohne seine Einwilligung hätte drucken lassen können. Die Öffentlichkeit ist ein allgemeines, edles, wohltätiges Recht. Ich hoffe, daß Sie selbst, Fürst, fortschrittlich genug denken, um dies nicht in Abrede zu stellen...« »Ich werde das nicht in Abrede stellen, aber Sie müssen selbst sagen, daß in Ihrem Artikel...« »Sie wollen sagen: er ist etwas scharf gehalten? Aber es handelt sich hier, wie Sie werden zugeben müssen, sozusagen um das Gemeinwohl, und kann man denn schließlich eine so ausgezeichnete Gelegenheit ungenutzt lassen? Schlimm für die Schuldigen, aber das Gemeinwohl geht über alles. Was einige Ungenauigkeiten, sozusagen Hyperbeln anlangt, so werden Sie auch hier zugeben müssen, daß das wichtigste der leitende Gedanke ist, der Zweck und die Absicht. Wichtig ist, daß ein Einzelfall als wohltätig wirkendes Beispiel benutzt wird; um Privatinteressen können wir uns erst in zweiter Linie kümmern. Und schließlich handelt es sich hier um den Stil; es ist dies sozusagen eine humoristische Aufgabe. Und schließlich... schreiben doch alle so, wie Sie selbst werden zugeben müssen! Haha!« »Aber ich muß sagen: Sie haben da doch einen ganz wahrheitswidrigen Weg eingeschlagen, meine Herren!« rief der Fürst. »Sie haben den Artikel in der Voraussetzung drucken lassen, ich würde mich um keinen Preis dazu bereit finden, Herrn Burdowskij zufriedenzustellen, und Sie müßten mir darum einen Schreck einjagen und an mir Ihr Mütchen kühlen. Aber woher wußten Sie denn das? Ich habe mich vielleicht dafür entschieden, Herrn Burdowskij zufriedenzustellen. Ich sage Ihnen jetzt geradeheraus und vor all diesen Zeugen, daß ich ihn zufriedenstellen werde...« »Nun, das ist endlich ein verständiges, edles Wort eines verständigen, edlen Menschen!« erklärte der Boxer. »O Gott!« rief Lisaweta Prokofjewna unwillkürlich. »Das ist nicht mehr zu ertragen«, murmelte der General. »Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie, ich werde Ihnen die Sache auseinandersetzen«, bat der Fürst. »Vor fünf Wochen erschien bei mir in S. ein Herr Tschebarow, Ihr Bevollmächtigter und Vertreter, Herr Burdowskij. Sie haben in Ihrem Artikel eine sehr schmeichelhafte Schilderung von ihm gegeben, Herr Keller«, wandte sich der Fürst, auf einmal auflachend, an den Boxer, »aber mir gefiel er ganz und gar nicht. Mir war gleich bei der ersten Begegnung klar, daß dieser Tschebarow die Haupttriebfeder bei der ganzen Angelegenheit und wohl derjenige ist, der Sie, Herr Burdowskij, unter Ausnutzung Ihrer Naivität zu diesem ganzen Vorgehen angestiftet hat, wenn ich offen reden soll.« »Sie haben kein Recht... ich... bin nicht naiv... das...«, stotterte Burdowskij aufgeregt. »Sie haben keinerlei Berechtigung, solche Vermutungen auszusprechen«, fügte, für ihn eintretend, Lebedews Neffe hinzu. »Das ist im höchsten Grade beleidigend!« kreischte Ippolit. »Eine beleidigende, lügenhafte Vermutung, die gar nicht zur Sache gehört.« »Verzeihung, meine Herren, Verzeihung!« entschuldigte sich der Fürst eilig. »Bitte, verzeihen Sie! Ich habe es nur deswegen gesagt, weil ich meinte, es würde wohl das beste sein, wenn wir gegeneinander völlig aufrichtig wären; aber wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen! Ich sagte zu Herrn Tschebarow, da ich nicht in Petersburg sei, so würde ich unverzüglich einem Freund zur Erledigung der Angelegenheit Vollmacht erteilen und Sie, Herr Burdowskij, davon benachrichtigen. Ich sage Ihnen geradeheraus, meine Herren, daß mir diese Sache als eine arge Gaunerei erschien, eben deshalb, weil dieser Tschebarow dabei beteiligt war... Oh, fühlen Sie sich nicht beleidigt, meine Herren! Um Gottes willen, fühlen Sie sich nicht beleidigt!« rief der Fürst erschrocken, da er sah, daß Burdowskij wieder eine gekränkte, empörte Miene machte und seine Freunde sich anschickten, aufgeregt zu protestieren. »Es kann sich doch nicht auf Sie persönlich beziehen, wenn ich sage, daß ich die Sache für eine Gaunerei hielt! Ich kannte ja damals niemand von Ihnen persönlich, nicht einmal Ihre Namen, ich urteilte nur nach dem Eindruck, den mir Tschebarow machte; ich sage das überhaupt, weil... wenn Sie wüßten, wie schrecklich ich betrogen worden bin, seitdem ich die Erbschaft gemacht habe!« »Fürst, Sie sind furchtbar naiv«, bemerkte Lebedews Neffe spöttisch. »Und dabei ein Fürst und ein Millionär! Trotz Ihres vielleicht wirklich guten, schlichten Herzens können Sie dem allgemeinen Gesetz natürlich doch nicht entgehen«, äußerte Ippolit. »Möglich, sehr möglich, meine Herren«, erwiderte der Fürst rasch, »obwohl ich nicht verstehe, von welchem allgemeinen Gesetz Sie reden. Aber ich fahre fort; fühlen Sie sich nur nicht so ganz ohne Grund beleidigt; ich schwöre Ihnen, die Absicht, Sie zu kränken, liegt mir absolut fern. Und in der Tat, was soll denn das bedeuten, meine Herren: man kann ja kein einziges offenes Wort sagen, gleich fühlen Sie sich beleidigt! Erstens also war ich höchst erstaunt, daß ein ›Sohn Pawlischtschews‹ existierte, und zwar in so schrecklicher Lage, wie sie mir Tschebarow schilderte. Pawlischtschew ist mein Wohltäter gewesen und der Freund meines Vaters. (Ach, warum haben Sie in Ihrem Artikel eine solche Unwahrheit über meinen Vater geschrieben, Herr Keller? Er hat sich keine Veruntreuung von Kompaniegeldern und keine ungerechte Behandlung Untergebener zuschulden kommen lassen, davon bin ich fest überzeugt; wie vermochte Ihre Hand eine solche Verleumdung niederzuschreiben?) Und das, was Sie über Pawlischtschew geschrieben haben, ist doch geradezu unerhört: Sie nennen diesen edelsten aller Menschen einen Lüstling, einen Leichtsinnigen und tun das mit einer Kühnheit und Sicherheit, als ob Sie wirklich die Wahrheit sagten, und dabei war er der sittenreinste Mensch, der je auf der Welt gelebt hat! Er war sogar ein sehr achtbarer Gelehrter, stand mit vielen in der Wissenschaft hochangesehenen Männern in Briefwechsel und gab viel Geld zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke aus. Was aber sein Herz und seine guten Taten anlangt, oh, da haben Sie allerdings ganz richtig geschrieben, daß ich damals beinah ein Idiot war und nichts richtig verstehen konnte (obwohl ich doch Russisch zu sprechen und zu verstehen imstande war); aber alles, woran ich mich jetzt erinnere, vermag ich doch ganz gut in seinem Wert zu beurteilen...« »Erlauben Sie«, kreischte Ippolit, »wird das nicht allzu gefühlvoll werden? Wir sind keine Kinder. Sie wollten direkt zur Sache kommen; es ist bald zehn Uhr, vergessen Sie das nicht!« »Schön, schön, meine Herren!« stimmte ihm der Fürst sogleich bei. »Nach der ersten Regung von Mißtrauen sagte ich mir, daß ich mich doch irren könne und daß Pawlischtschew vielleicht wirklich einen Sohn habe. Aber in großes Erstaunen versetzte mich der Umstand, daß dieser Sohn das Geheimnis seiner Geburt so leichtfertig, das heißt, ich will sagen, so öffentlich preisgibt, und vor allem, daß er seine Mutter verunglimpft. Schon damals nämlich suchte mich Tschebarow durch den Hinweis auf eine Veröffentlichung einzuschüchtern...« »Was für eine Dummheit!« rief Lebedews Neffe. »Sie haben kein Recht... Sie haben kein Recht!« schrie Burdowskij. »Der Sohn ist für die Liederlichkeit seines Vaters nicht verantwortlich, und die Mutter trägt keine Schuld«, kreischte Ippolit sehr erregt. »Um so mehr verdiente sie geschont zu werden, möchte man meinen«, erwiderte der Fürst schüchtern. »Sie sind nicht nur naiv, Fürst, sondern vielleicht noch etwas mehr«, bemerkte Lebedews Neffe mit boshaftem Lächeln. »Und welches Recht hatten Sie...«, kreischte Ippolit mit ganz unnatürlicher Stimme. »Keines, keines!« unterbrach ihn der Fürst eilig. »Darin haben Sie recht, das erkenne ich an; aber jener Gedanke war mir damals ganz unwillkürlich gekommen, und ich sagte mir darauf sogleich selbst, daß meine persönlichen Gefühle keinen Einfluß auf die Behandlung der Sache haben dürften, denn wenn ich aus Dankbarkeit gegen Pawlischtschew die Verpflichtung anerkennen wolle, Herrn Burdowskijs Forderungen zu befriedigen, so müsse ich sie eben in jedem Falle befriedigen, das heißt ohne Rücksicht darauf, ob ich gegen Herrn Burdowskij von Hochachtung erfüllt sei oder nicht. Ich habe hiervon nur deswegen zu reden begonnen, meine Herren, weil es mir doch unnatürlich schien, daß ein Sohn das Geheimnis seiner Mutter so vor aller Öffentlichkeit kundgibt... Mit einem Wort: dies war der Hauptgrund, weswegen ich zu der Überzeugung gelangte, dieser Tschebarow müsse eine Kanaille sein und habe Herrn Burdowskij durch Betrug zu dieser Gaunerei aufgehetzt.« »Aber das ist ja nicht mehr zum Aushalten!« wurde von Seiten der Gäste gerufen, von denen einige sogar von ihren Stühlen aufsprangen. »Meine Herren! Ich sagte mir daher, der unglückliche Herr Burdowskij müsse ein einfältiger, schutzloser Mensch sein, der sich leicht einem beliebigen Gauner fügt, und ich sei mithin um so mehr verpflichtet, ihm als dem ›Sohn Pawlischtschews‹ zu helfen, und zwar erstens dadurch, daß ich Herrn Tschebarow entgegentrat, zweitens durch meine Ergebenheit und Freundschaft, indem ich ihn zu leiten suchte, und drittens durch Auszahlung von zehntausend Rubeln, das heißt der ganzen Summe, die nach meiner Berechnung Pawlischtschew für mich aufgewendet haben dürfte.« »Wie? Nur zehntausend Rubel?« schrie Ippolit. »Na, im Rechnen sind Sie nicht sehr stark, Fürst, oder vielleicht auch sehr stark, obwohl Sie sich so naiv und harmlos stellen!« rief Lebedews Neffe. »Ich gehe auf zehntausend nicht ein«, sagte Burdowskij. »Antip, nimm es an!« riet ihm der Boxer schnell, zwar flüsternd, aber doch für alle vernehmlich, indem er sich über Ippolits Stuhllehne hinweg von hinten zu ihm hinbeugte. »Nimm es an, nachher werden wir weiter sehen!« »Hören Sie mal, Herr Myschkin«, kreischte Ippolit, »begreifen Sie doch endlich, daß wir keine Dummköpfe sind, keine gemeinen Dummköpfe, wie es wahrscheinlich alle Ihre Gäste von uns glauben, auch diese Damen, die so entrüstet über uns lächeln, und besonders dieser noble Herr« (er wies auf Jewgenij Pawlowitsch), »den ich natürlich nicht die Ehre habe zu kennen, von dem ich aber wohl schon etwas gehört habe...« »Erlauben Sie, erlauben Sie, meine Herren, Sie haben mich wieder nicht recht verstanden!« wandte sich der Fürst erregt an sie. »Erstens haben Sie, Herr Keller, in Ihrem Artikel mein Vermögen ganz ungenau angegeben: ich habe keine Millionen erhalten, ich besitze vielleicht nur ein Achtel oder ein Zehntel dessen, was Sie bei mir voraussetzen; zweitens sind in der Schweiz gar nicht so enorme Summen für mich ausgegeben worden: Schneider erhielt sechshundert Rubel jährlich und auch das nur in den ersten drei Jahren; auch hat Pawlischtschew niemals hübsche Gouvernanten aus Paris geholt, das ist wieder Verleumdung. Meines Erachtens beträgt der für mich gemachte Aufwand erheblich weniger als zehntausend Rubel. Aber doch habe ich diese Summe angesetzt, und Sie müssen selbst zugeben: da ich eine Schuld zurückzahle, kann ich Herrn Burdowskij schlechterdings nicht mehr anbieten, selbst wenn ich ihn außerordentlich liebhätte; ich kann es schon aus Taktgefühl nicht, da ich ihm eben eine Schuld zurückzahle und ihm nicht etwa ein Almosen zuwende. Ich begreife nicht, meine Herren, wie Ihnen das unverständlich sein kann! Aber ich wollte das nachher alles durch meine Freundschaft und meine tätige Teilnahme an dem Ergehen des unglücklichen Herrn Burdowskij ausgleichen, der ohne Zweifel betrogen worden ist, da er sonst unmöglich einer solchen Gemeinheit zugestimmt hätte, wie sie Herrn Kellers heutige Äußerungen über seine Mutter in diesem Artikel darstellen... Aber warum geraten Sie denn wieder außer sich, meine Herren? Auf die Art werden wir einander schließlich überhaupt nicht mehr verstehen! Was ich gedacht hatte, hat sich ja doch als zutreffend herausgestellt! Ich habe mich jetzt mit eigenen Augen überzeugt, daß meine Vermutung richtig war«, sagte in bittendem Ton der ganz in Eifer gekommene Fürst, der die Erregung zu besänftigen wünschte und nicht merkte, daß er sie nur steigerte. »Was? Wovon haben Sie sich überzeugt?« schrien die Gegner wütend auf ihn los. »Aber ich bitte Sie, erstens habe ich selbst Gelegenheit gehabt, Herrn Burdowskij genau kennenzulernen, und sehe jetzt selbst, wes Geistes Kind er ist... Er ist ein unschuldiger Mensch, der von allen betrogen wird! Und er ist ein schutzloser Mensch, und darum ist es meine Pflicht, schonend mit ihm zu verfahren. Und zweitens hat Gawrila Ardalionowitsch, in dessen Hände ich diese Sache gelegt habe und von dem mir lange keine Nachricht zugegangen war, da er sich unterwegs befand und dann drei Tage lang in Petersburg krank lag, der hat plötzlich jetzt, erst vor einer Stunde, bei unserm ersten Wiedersehen, mir mitgeteilt, er habe Tschebarows Absichten sämtlich durchschaut und besitze die erforderlichen Beweise; Tschebarow sei genau der Mensch, als den ich ihn eingeschätzt hätte. Ich weiß ja, meine Herren, daß viele mich für einen Idioten halten, und da ich in dem Ruf stand, leicht Geld hinzugeben, so hielt Tschebarow es für eine sehr leichte Aufgabe, mich zu betrügen, und rechnete dabei besonders auf meine dankbaren Empfindungen gegenüber Pawlischtschew. Aber die Hauptsache ist – hören Sie zu, meine Herren, hören Sie zu! –, die Hauptsache ist, daß sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowskij gar nicht Pawlischtschews Sohn ist! Soeben hat mir Gawrila Ardalionowitsch dies mitgeteilt, und er versichert, er habe positive Beweise dafür erlangt. Nun, was meinen Sie jetzt? Das ist ja nach allem, was Sie schon angerichtet haben, gar nicht zu glauben! Und wohlgemerkt: positive Beweise! Ich glaube es noch nicht, ich selbst glaube es noch nicht, versichere ich Ihnen; ich zweifle noch, da Gawrila Ardalionowitsch noch keine Zeit dazu gefunden hat, mir alle Einzelheiten mitzuteilen; aber daß Tschebarow eine Kanaille ist, daran kann jetzt kein Zweifel mehr bestehen! Er hat den unglücklichen Herrn Burdowskij und Sie alle, meine Herren, die Sie Ihren Freund edelmütig unterstützen wollten (denn er bedarf augenscheinlich eines Beistandes, ich habe ja dafür Verständnis!), er hat Sie alle hinters Licht geführt und Sie alle in eine Gaunerei verwickelt, denn die ganze Sache ist in Wirklichkeit nichts anderes als Gaunerei und Betrug!« »Wieso Gaunerei?... Wieso soll er nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ sein? Wie ist das möglich? ...«, ertönte es von allen Seiten. Burdowskijs ganzes Gefolge befand sich in unsagbarer Verwirrung und Aufregung. »Ja, gewiß, Gaunerei! Wenn sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowskij nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ ist, so erweist sich ja damit Herrn Burdowskijs Forderung geradezu als Gaunerei (das heißt selbstverständlich, wenn er die Wahrheit wüßte), aber das ist es ja eben, daß er getäuscht worden ist, und darum bemühe ich mich so energisch, ihn zu verteidigen; darum sage ich auch, daß er wegen seiner Naivität bemitleidet zu werden verdient; sonst erschiene er in dieser Sache selbst als ein Gauner. Aber ich für meine Person bin bereits überzeugt, daß er nichts davon weiß. Ich selbst habe mich vor meiner Abreise nach der Schweiz in derselben Lage befunden, habe ebenfalls unzusammenhängende Worte gestammelt – man will sich ausdrücken und ist nicht dazu imstande... Ich habe dafür Verständnis, ich kann es ihm sehr nachempfinden, weil ich selbst fast ein ebensolcher Mensch war; ich darf darüber reden! Und endlich will ich dennoch, obwohl er jetzt nicht mehr ›Pawlischtschews Sohn‹ ist und alles sich als Mystifikation erweist, ich will dennoch meinen Entschluß nicht ändern und bin bereit, ihm die zehntausend Rubel auszuzahlen, zum Andenken an Pawlischtschew. Eigentlich wollte ich ja vor Herrn Burdowskijs Auftreten diese zehntausend Rubel zum Andenken an Pawlischtschew für eine Schule verwenden; aber es ist ja jetzt ganz gleich, ob ich sie für eine Schule verwende oder sie Herrn Burdowskij gebe, weil Herr Burdowskij, wenn er auch nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ ist, doch beinah an Stelle eines solchen steht, da man ihn selbst darüber so boshaft getäuscht hat und er selbst sich aufrichtig für Pawlischtschews Sohn gehalten hat! Hören Sie nun mit an, meine Herren, was Gawrila Ardalionowitsch uns sagen wird; bringen wir die Sache zu Ende, seien Sie nicht zornig, regen Sie sich nicht auf, setzen Sie sich hin! Gawrila Ardalionowitsch wird uns sogleich alles erklären, und ich gestehe, daß ich selbst außerordentlich begierig bin, alle Einzelheiten zu erfahren. Er sagte, er sei sogar nach Pskow zu Ihrer Mutter gefahren, Herr Budowskij, die keineswegs gestorben ist, wie man Sie in dem Artikel hat schreiben lassen... Setzen Sie sich doch, meine Herren, setzen Sie sich doch!« Der Fürst setzte sich, und es gelang ihm, auch Herrn Burdowskijs Begleiter, die von ihren Plätzen aufgesprungen waren, wieder zum Hinsetzen zu bewegen. In den letzten zehn oder zwanzig Minuten hatte er hitzig, laut, in ungeduldiger Hast gesprochen, sich hinreißen lassen und alle andern zu überschreien gesucht; jetzt, gleich darauf, bereute er natürlich bitter einige ihm entschlüpfte Ausdrücke und die Äußerung gewisser Vermutungen. Hätte man ihn nicht so gereizt und ganz außer sich gebracht, so würde er es sich nicht gestattet haben, manche Vermutungen so unverhüllt und hastig mit unnötiger Offenherzigkeit auszusprechen. Aber kaum hatte er sich wieder auf seinen Platz gesetzt, als ein schmerzhaft brennendes Gefühl der Reue sein Herz durchdrang: er hatte Burdowskij nicht nur dadurch »beleidigt«, daß er so laut und öffentlich bei ihm dieselbe Krankheit voraussetzte, gegen die er selbst in der Schweiz eine Kur gebraucht hatte, sondern er hatte ihm auch das Angebot der eigentlich für eine Schule bestimmten zehntausend Rubel seiner Meinung nach in einer plumpen, unvorsichtigen Weise gemacht, namentlich insofern, als er es vor allen Leuten mit lauten Worten getan hatte. ›Ich hätte warten und es ihm morgen unter vier Augen anbieten müssen‹, dachte der Fürst sogleich, ›aber das ist jetzt wohl nicht mehr gutzumachen! Ja, ich bin ein Idiot, ein richtiger Idiot!‹ sagte er sich in einem Anfall von Scham und aufrichtiger Betrübnis. Inzwischen war Gawrila Ardalionowitsch, der sich bis dahin abseits gehalten und beharrlich geschwiegen hatte, auf des Fürsten Aufforderung vorgetreten, hatte sich neben ihn gestellt und begann nun ruhig und klar über die Ausführung des ihm vom Fürsten erteilten Auftrages Bericht zu erstatten. Alle Gespräche waren augenblicklich verstummt. Alle hörten höchst gespannt zu, namentlich Burdowskijs ganzes Gefolge. IX »Sie werden gewiß nicht leugnen«, begann Gawrila Ardalionowitsch, sich speziell an Burdowskij wendend, der mit größter Anstrengung zuhörte, ihn vor Erstaunen mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und sich offenbar in höchster Verwirrung befand, »Sie werden und wollen gewiß nicht ernstlich leugnen, daß Sie genau zwei Jahre nach der Verheiratung Ihrer verehrten Mutter mit dem Kollegiensekretär Herrn Burdowskij, Ihrem Vater, geboren sind. Die Zeit Ihrer Geburt läßt sich sehr leicht dokumentarisch feststellen, so daß die für Sie und Ihre Mutter so beleidigende Entstellung dieser Tatsache in Herrn Kellers Artikel sich einzig und allein als ein Spiel der eigenen Phantasie dieses Herrn darstellt, der der Meinung war, dadurch die Evidenz Ihres Rechts zu erhöhen und so Ihren Interessen zu dienen. Herr Keller sagt, er habe Ihnen den Artikel vorher vorgelesen, wenn auch nicht ganz... ohne allen Zweifel hat er ihn Ihnen nicht bis zu dieser Stelle vorgelesen...« »Bis zu dieser Stelle allerdings nicht«, unterbrach ihn der Boxer, »aber alle Tatsachen waren mir von einer vertrauenswürdigen Persönlichkeit mitgeteilt worden, und ich...« »Verzeihen Sie, Herr Keller«, unterbrach ihn Gawrila Ardalionowitsch, »lassen Sie mich jetzt reden! Ich versichere Ihnen, daß wir zur gegebenen Zeit auch noch auf Ihren Artikel zu sprechen kommen werden, dann können Sie Ihre Erklärungen abgeben; jetzt aber wollen wir lieber der Reihe nach fortfahren. Ganz zufällig, durch Mithilfe meiner Schwester Warwara Ardalionowna Ptizyna, erhielt ich von ihrer intimen Freundin, der verwitweten Gutsbesitzerin Wera Alexejewna Subkowa, einen Brief des verstorbenen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew, den dieser ihr vor vierundzwanzig Jahren aus dem Ausland geschrieben hatte. Nachdem ich mich mit Wera Alexejewna in Verbindung gesetzt hatte, wandte ich mich auf ihren Rat an den Oberst a. D. Timofej Fjodorowitsch Wjasowkin, einen entfernten Verwandten und seinerzeit sehr guten Freund des Herrn Pawlischtschew. Es gelang mir, von ihm noch zwei Briefe Nikolai Andrejewitschs zu erhalten, die ebenfalls aus dem Ausland geschrieben waren. Durch diese drei Briefe, ihr Datum und die darin enthaltenen tatsächlichen Angaben läßt sich mit zwingender Sicherheit, ohne daß irgendwelche Widerlegung oder auch nur ein Zweifel möglich wäre, beweisen, daß Nikolai Andrejewitsch damals ins Ausland gereist war (wo er sich ununterbrochen drei Jahre lang aufhielt), gerade anderthalb Jahre vor Ihrer Geburt, Herr Burdowskij. Ihre Mutter hat, wie Ihnen bekannt ist, Rußland nie verlassen... Im Augenblick werde ich diese Briefe nicht vorlesen, dazu ist es schon zu spät; ich weise nur für alle Fälle auf dieses Faktum hin. Aber wenn es Ihnen angenehm ist, Herr Burdowskij, eine Zusammenkunft in meiner Wohnung, meinetwegen gleich morgen früh, festzusetzen und Ihre Zeugen (in jeder beliebigen Anzahl) sowie Sachverständige zur Vergleichung der Handschrift mitzubringen, so hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß Sie nicht werden umhinkönnen, sich von der evidenten Wahrheit der von mir mitgeteilten Tatsache zu überzeugen. Wenn dem aber so ist, so fällt selbstverständlich die ganze Sache zusammen und ist damit von selbst erledigt.« Wieder folgte eine allgemeine Bewegung und tiefgehende Unruhe. Burdowskij selbst stand plötzlich von seinem Stuhl auf. »Wenn es so ist, dann bin ich betrogen worden, betrogen, aber nicht von Tschebarow, sondern schon vor sehr langer Zeit; ich will keine Sachverständigen, ich will keine Zusammenkunft; ich glaube es so schon, ich verzichte... ich nehme die zehntausend Rubel nicht an... Leben Sie wohl...« Er griff nach seiner Mütze und schob seinen Stuhl zurück, um fortzugehen. »Wenn es Ihnen möglich ist, Herr Burdowskij«, hielt ihn Gawrila Ardalionowitsch mit leiser Stimme und in freundlichem Ton auf, »so bleiben Sie bitte noch hier, wenn auch nur fünf Minuten! Es werden in dieser Angelegenheit noch einige außerordentlich wichtige Tatsachen zutage kommen, wichtig besonders für Sie und jedenfalls sehr interessant. Meiner Meinung nach müssen Sie dieselben kennenlernen, und es wird Ihnen vielleicht selbst angenehmer sein, wenn die Sache vollständig aufgeklärt wird...« Burdowskij setzte sich schweigend wieder hin, ließ den Kopf ein wenig herunterhängen und schien tief in Gedanken versunken. Nach ihm setzte sich auch Lebedews Neffe wieder, der ebenfalls aufgestanden war, um ihn zu begleiten; er hatte zwar nicht den Kopf verloren und von seiner Dreistigkeit nichts eingebüßt, war aber offenbar stark betroffen. Ippolit machte ein finsteres Gesicht, war traurig und, wie es schien, sehr erstaunt. In diesem Augenblick mußte er übrigens so heftig husten, daß er sogar sein Taschentuch mit Blut befleckte. Der Boxer war ganz erschrocken. »Ach, Antip«, rief er trübselig, »ich hatte dir ja damals... vorgestern gesagt, daß du vielleicht gar nicht Pawlischtschews Sohn bist!« Man hörte verhaltenes Lachen, zwei oder drei der Anwesenden lachten lauter als die andern. »Das Faktum, das Sie uns soeben mitteilten, Herr Keller«, begann Gawrila Ardalionowitsch wieder, »ist sehr wertvoll. Nichtsdestoweniger bin ich auf Grund zuverlässiger Tatsachen völlig zu der Behauptung berechtigt, daß Herrn Burdowskij zwar natürlich der Zeitpunkt seiner Geburt sehr wohl bekannt war, nicht aber der Aufenthalt Pawlischtschews im Ausland, wo dieser den größten Teil seines Lebens zubrachte und von wo er nach Rußland immer nur auf kurze Zeit zurückkehrte. Außerdem ist auch das Faktum seiner damaligen Abreise an sich so wenig auffallend, daß nach mehr als zwanzig Jahren selbst seine nahen Bekannten sich nicht daran erinnern konnten, ganz zu schweigen von Herrn Burdowskij, der damals noch gar nicht geboren war. Natürlich erwies es sich jetzt keineswegs als unmöglich, Nachforschungen anzustellen; aber ich muß bekennen, daß die Feststellungen, zu denen ich gelangte, mir nur ganz zufällig gelungen sind und ebensogut hätten mißlingen können. Für Herrn Burdowskij und sogar für Tschebarow waren diese Feststellungen tatsächlich fast unmöglich, selbst wenn es ihnen in den Sinn gekommen wäre, solche Nachforschungen anzustellen. Aber möglicherweise ist es ihnen gar nicht in den Sinn gekommen...« »Erlauben Sie, Herr Iwolgin«, unterbrach ihn plötzlich Ippolit gereizt, »welchen Zweck soll dieser ganze Galimathias haben (verzeihen Sie den Ausdruck)? Die Sache ist jetzt aufgeklärt, wir erkennen die wichtigste Tatsache als richtig an; wozu also die peinliche, verletzende Angelegenheit noch weiter breittreten? Sie möchten vielleicht mit der Geschicklichkeit Ihrer Untersuchungen prahlen, sich uns und dem Fürsten gegenüber als tüchtiger Spion und Detektiv aufspielen? Oder beabsichtigen Sie, Herrn Burdowskij durch den Nachweis zu entschuldigen und zu rechtfertigen, daß er sich nur aus Unwissenheit auf die Sache eingelassen hat? Aber das ist eine Dreistigkeit, mein Herr! Burdowskij bedarf dessen nicht, von Ihnen gerechtfertigt und entschuldigt zu werden; das mögen Sie wissen! Er fühlt sich verletzt, die Sache ist ihm ohnehin jetzt peinlich, er befindet sich in einer unbehaglichen Lage, das sollten Sie merken und verstehen...« »Genug, Herr Terentjew, genug!« gelang es endlich Gawrila Ardalionowitsch, ihn zu unterbrechen. »Beruhigen Sie sich, regen Sie sich nicht auf; Sie scheinen ja doch recht krank zu sein. Sie tun mir sehr leid. Wenn Sie es also wünschen, so schließe ich, das heißt, ich sehe mich genötigt, diejenigen Tatsachen, deren vollständige und auf Beweise gestützte Kenntnis meines Erachtens nicht überflüssig sein würde, nur noch in aller Kürze mitzuteilen«, fügte er hinzu, als er eine allgemeine Bewegung wahrnahm, die wie Ungeduld aussah. »Ich möchte nur allen, die sich für die Sache interessieren, zur Kenntnis bringen, daß Ihre Mutter, Herr Burdowskij, lediglich deswegen Herrn Pawlischtschews Wohlwollen und Fürsorge genoß, weil sie die Schwester jenes Gutsmädchens war, in das Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew seit seiner Jugend so verliebt war, daß er sie unzweifelhaft geheiratet hätte, wenn sie nicht frühzeitig gestorben wäre. Ich habe Beweise dafür, daß diese stille Liebe, so sicher und zuverlässig sie auch feststeht, doch sehr wenig bekannt war und bald in Vergessenheit geriet. Des weiteren könnte ich Ihnen darlegen, daß Ihre Mutter schon als zehnjähriges Kind von Herrn Pawlischtschew wie eine Verwandte zur Erziehung angenommen wurde, daß ihr eine beträchtliche Mitgift ausgesetzt wurde und daß all diese Fürsorge bei Pawlischtschews zahlreicher Verwandtschaft sehr beunruhigende Gerüchte hervorrief, man dachte sogar, er werde seine Pflegetochter heiraten; aber die Sache endete damit, daß sie aus Neigung (und das könnte ich Ihnen auf das schlagendste beweisen) im Alter von zwanzig Jahren den Feldmesser Herrn Burdowskij heiratete. Ich habe nun mehrere zuverlässige Tatsachen zusammengebracht zum Beweis, daß Ihr Vater, Herr Burdowskij, der durchaus kein erfahrener Geschäftsmann war, nach Empfang der Mitgift Ihrer Mutter im Betrage von fünfzehntausend Rubel den Dienst quittierte, sich auf kaufmännische Unternehmungen einließ, betrogen wurde, das Kapital einbüßte, den Kummer darüber nicht zu ertragen vermochte und zu trinken anfing, wovon er nachher krank wurde und schließlich frühzeitig starb, im achten Jahr nach seiner Verheiratung mit Ihrer Mutter. Darauf blieb diese, nach ihrem eigenen Zeugnis, in bitterer Armut zurück und wäre ganz zugrunde gegangen, wenn nicht Pawlischtschew sie beständig in großmütigster Weise unterstützt hätte: er gab ihr jährlich eine Beihilfe bis zu sechshundert Rubel. Ferner habe ich zahllose Zeugnisse dafür, daß er Sie, als Sie noch ein kleines Kind waren, überaus liebte. Aus diesen Zeugnissen sowie auch wieder aus der Bestätigung von Seiten Ihrer Mutter geht hervor, daß er sie namentlich deswegen liebte, weil Sie in Ihrer Kindheit stotterten und den Eindruck eines verkrüppelten, bemitleidenswerten, unglücklichen Kindes machten (Pawlischtschew aber hatte, wie ich aus zuverlässigen Beweisen schloß, sein ganzes Leben lang eine besondere zärtliche Zuneigung für alles Niedergedrückte und von der Natur Vernachlässigte, besonders wenn es sich um Kinder handelte, – eine Tatsache, die nach meiner Überzeugung für unsere Angelegenheit von hoher Wichtigkeit ist). Endlich kann ich mich rühmen, noch über einen bedeutsamen Punkt sehr genaue Untersuchungen angestellt zu haben, nämlich darüber, wie diese außerordentliche Zuneigung Pawlischtschews zu Ihnen (er machte es möglich, daß Sie auf das Gymnasium kamen und unter besonderer Aufsicht und Anleitung lernten) endlich allmählich Pawlischtschews Verwandte und Hausgenossen auf den Gedanken brachte, Sie wären sein Sohn und Ihr Vater nur ein betrogener Ehemann. Aber die Hauptsache ist, daß dieser Gedanke sich erst in Pawlischtschews letzten Lebensjahren zu einer bestimmten, allgemeinen Überzeugung verdichtete, das heißt zu einer Zeit, als alle für die Erbschaft zu fürchten anfingen und als die ursprünglichen Tatsachen in Vergessenheit geraten, Nachforschungen aber unmöglich waren. Ohne Zweifel ist diese Idee auch zu Ihnen gelangt, Herr Burdowskij, und hat sich vollständig bei Ihnen festgesetzt. Ihre Mutter, mit der ich die Ehre hatte, persönlich bekannt zu werden, wußte zwar von all diesen Gerüchten, weiß aber bis auf diese Stunde nicht (und ich meinerseits habe sie ebenfalls darüber in Unkenntnis gelassen), daß auch Sie, ihr Sohn, sich im Bann dieses Gerüchtes befanden. Ich fand Ihre hochverehrte Mutter, Herr Burdowskij, in Pskow krank und in ärgster Armut, in die sie durch Pawlischtschews Tod geraten ist. Mit Tränen der Dankbarkeit teilte sie mir mit, daß sie nur durch Sie und Ihre Hilfe ihr Leben auf der Welt fristet; sie erwartet viel von Ihnen für die Zukunft und glaubt fest an Ihre künftigen Erfolge...« »Das wird aber nachgerade unerträglich!« erklärte auf einmal Lebedews Neffe laut und ungeduldig. »Was soll denn hier dieser ganze Roman?« »Ekelhaft! Ganz ungehörig!« sagte Ippolit mit heftigen Körperbewegungen. Burdowskij aber äußerte nichts und rührte sich nicht einmal. »Was das hier soll?« sagte Gawrila Ardalionowitsch mit schlauer Miene, als wundere er sich sehr, und schickte sich boshaft an, nun seine Resultate darzulegen. »Erstens ist Herr Burdowskij jetzt vielleicht völlig davon überzeugt, daß Herr Pawlischtschew ihn aus Edelmut liebte, und nicht als seinen Sohn. Diese Tatsache mußte Herr Burdowskij erfahren, der vorhin nach dem Vorlesen des Artikels des Herrn Keller sein Einverständnis und seine Billigung aussprach. Ich sage das deswegen, Herr Burdowskij, weil ich Sie für einen anständigen Menschen halte. Zweitens ergibt sich, daß hier nicht die geringste diebische Gaunerei vorliegt, nicht einmal von Tschebarows Seite; das ist auch für mich ein wichtiger Punkt, weil der Fürst vorhin in der Erregung bemerkte, auch ich sei der Ansicht, daß es sich bei dieser Angelegenheit um eine diebische Gaunerei handle. Es bestand vielmehr auf allen Seiten eine feste Überzeugung, und obwohl Tschebarow vielleicht wirklich ein großer Schurke ist, hat er doch in diesem Fall lediglich wie ein erwerbslustiger Winkeladvokat gehandelt. Er hoffte, als Rechtsbeistand ein tüchtiges Stück Geld zu verdienen, und seine Spekulation war nicht nur fein und meisterhaft, sondern auch sehr richtig: er baute auf die Leichtigkeit, mit der der Fürst Geld ausgab, und auf das Gefühl der Dankbarkeit und Verehrung, das er für den verstorbenen Pawlischtschew hegte; er baute ferner (was das wichtigste ist) auf die bekannten ritterlichen Anschauungen des Fürsten von den Pflichten der Ehre und des Gewissens. Was nun speziell Herrn Burdowskij betrifft, so kann man sagen, daß er infolge seiner eigenen Überzeugung dermaßen der Einwirkung Tschebarows und seiner Umgebung unterlag, daß er die Sache fast gar nicht aus persönlichem Interesse unternahm, sondern in der Meinung, damit der Wahrheit, dem Fortschritt und der Menschheit einen Dienst zu erweisen. Jetzt also, nach Mitteilung dieser Tatsachen, wird es allen klar sein, daß Herr Burdowskij ein reiner Charakter ist, trotz alles gegenteiligen Scheines, und der Fürst kann ihm jetzt noch eher und lieber als vorhin seine freundliche Unterstützung und die tatkräftige Beihilfe anbieten, von der er vorhin sprach, als er von der Schule und von Pawlischtschew redete.« »Hören Sie auf, Gawrila Ardalionowitsch, hören Sie auf!« rief der Fürst in wirklichem Schrecken. Aber es war schon zu spät. »Ich habe gesagt, ich habe schon dreimal gesagt«, rief Burdowskij in gereiztem Ton, »daß ich kein Geld will. Ich nehme es nicht an... wozu... ich will nicht... fort von hier!« Er wollte eilends die Veranda verlassen. Aber Lebedews Neffe bekam ihn noch am Arm zu fassen und flüsterte ihm etwas zu. Burdowskij kehrte schnell zurück, zog ein offenes Kuvert großen Formats aus der Tasche und warf es auf ein Tischchen, das neben dem Fürsten stand. »Da ist das Geld!... Wagen Sie es nicht... wagen Sie es nicht!... Da ist das Geld!« »Es sind die zweihundertfünfzig Rubel, die Sie ihm durch Tschebarow als Almosen zu schicken wagten«, fügte Doktorenko erläuternd hinzu. »In dem Artikel war gesagt: fünfzig!« rief Kolja. »Ich bitte Sie um Entschuldigung!« sagte der Fürst, indem er an Burdowskij herantrat. »Ich habe Ihnen schweres Unrecht getan, Burdowskij, aber ich habe es Ihnen nicht als Almosen geschickt, glauben Sie mir! Ich habe Ihnen auch jetzt Unrecht getan, vorhin.« (Der Fürst war sehr niedergeschlagen, er sah müde und schwach aus, und seine Worte waren unzusammenhängend.) »Ich sprach von Gaunerei... aber das bezog sich nicht auf Sie, ich habe mich geirrt. Ich sagte, daß Sie ebenso ein kranker Mensch seien wie ich. Aber Sie sind nicht ebenso wie ich; Sie geben ja Stunden und unterstützen Ihre Mutter. Ich sagte, Sie brächten Ihre Mutter in Unehre; aber Sie lieben sie, sie sagt es selbst... ich wußte das nicht... Gawrila Ardalionowitsch hatte mir vorhin noch nicht alles mitgeteilt... ich habe unrecht getan. Ich wagte es, Ihnen zehntausend Rubel anzubieten, aber das war unrecht von mir; ich hätte es in anderer Weise machen müssen, aber jetzt... geht es nicht mehr, weil Sie mich verachten...« »Aber das ist ja das reine Irrenhaus!« rief Lisaweta Prokofjewna. »Gewiß, es ist ein Irrenhaus!« sagte Aglaja, die sich nicht mehr beherrschen konnte, in scharfem Ton. Aber ihre Worte gingen in dem allgemeinen Lärm unter; alle redeten jetzt laut und gaben ihr Urteil ab: der eine disputierte, der andere lachte. Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war im höchsten Grade empört und wartete mit einer Miene gekränkter Würde auf Lisaweta Prokofjewna. Lebedews Neffe gab noch ein letztes Wort hinzu: »Ja, Fürst, man muß Ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, Sie verstehen es gut, Ihre... na, sagen wir Krankheit (um es anständiger auszudrücken) auszunützen; Sie haben Ihre Freundschaft und Ihr Geld in so geschickter Form anzubieten verstanden, daß es jetzt einem anständigen Menschen absolut unmöglich ist, sie anzunehmen. Das ist entweder äußerst naiv oder äußerst raffiniert... Sie werden es übrigens am besten wissen.« »Erlauben Sie, meine Herren«, rief Gawrila Ardalionowitsch, der mittlerweile das Kuvert mit dem Geld aufgemacht hatte, »hier sind gar nicht zweihundertfünfzig Rubel drin, sondern nur hundert. Ich sage das deshalb, Fürst, damit daraus nicht irgendein Mißverständnis entsteht.« »Lassen Sie, lassen Sie!« wehrte der Fürst mit einer Handbewegung des Widerwillens ab. »Nein, nicht ›Lassen Sie!‹« fiel Lebedews Neffe sofort ein. »Ihr ›Lassen Sie!‹ ist für uns beleidigend, Fürst. Wir verstecken uns nicht, wir sprechen es offen aus: ja, es sind nur hundert Rubel drin und nicht zweihundertfünfzig, aber ist das nicht ganz gleich...« »N-nein, ganz gleich ist das nicht«, wandte Gawrila Ardalionowitsch schnell mit der Miene naiver Verwunderung ein. »Unterbrechen Sie mich nicht! Wir sind nicht solche Dummköpfe, wie Sie glauben, Herr Advokat!« rief Lebedews Neffe boshaft und ärgerlich. »Selbstverständlich sind hundert Rubel nicht zweihundertfünfzig Rubel, und das ist nicht ganz gleich, aber das Wichtige ist dabei das Prinzip; der leitende Gedanke ist hier wichtig, und daß hundertfünfzig Rubel fehlen, ist nur ein zufälliger Begleitumstand. Wichtig ist, daß Burdowskij Ihr Almosen nicht annimmt, Durchlaucht, daß er es Ihnen ins Gesicht wirft, und bei dieser Handlungsweise ist es ganz gleich, ob es hundert oder zweihundertfünfzig Rubel sind. Burdowskij hat die zehntausend Rubel nicht angenommen, das haben Sie gesehen; er würde auch die hundert Rubel nicht wiederbringen, wenn er ein Mensch ohne Ehre wäre! Die hundertfünfzig Rubel sind für Tschebarows Reise zum Fürsten verausgabt worden. Machen Sie sich lieber über unsere Ungeschicklichkeit, über unsere unpraktische Art, die Sache anzugreifen, lustig; Sie haben sich ja ohnehin aus allen Kräften bemüht, uns lächerlich zu machen; aber wagen Sie nicht zu sagen, daß wir kein Ehrgefühl besäßen! Die fehlenden hundertfünfzig Rubel, mein Herr, werden wir alle zusammen dem Fürsten zurückerstatten, zwar vielleicht nur rubelweise, aber mit Zinsen. Burdowskij ist arm, Burdowskij besitzt keine Millionen, und Tschebarow reichte nach der Reise seine Rechnung ein. Wir hatten auf einen Gewinn gehofft... Wer hätte an seiner Stelle anders gehandelt?« »Anders als wer?« rief Fürst Schtsch. »Ich werde hier noch verrückt!« rief Lisaweta Prokofjewna. »Das erinnert«, bemerkte lachend Jewgenij Pawlowitsch, der lange dagestanden und nur beobachtet hatte, »an eine berühmte Verteidigungsrede, die ein Advokat kürzlich hielt. Er betonte als Milderungsgrund die Armut seines Klienten, der sechs Menschen mit einemmal ermordet hatte, um sie auszurauben, und schloß plötzlich folgendermaßen: ›Es ist ganz natürlich, daß meinem Klienten bei seiner Armut der Gedanke kam, diese sechs Menschen zu ermorden; wem wäre an seiner Stelle nicht derselbe Gedanke gekommen?‹ Etwa in dieser Art, jedenfalls sehr amüsant.« »Genug!« rief plötzlich, vor Zorn zitternd, Lisaweta Prokofjewna. »Es ist Zeit, diesem Galimathias ein Ende zu machen!...« Sie befand sich in furchtbarer Aufregung, warf den Kopf drohend zurück und ließ ungeduldig, hochmütig und herausfordernd ihren funkelnden Blick über die ganze Gesellschaft hinschweifen, wobei sie in diesem Augenblick kaum Freund und Feind unterschied. Sie war auf jenem Punkt lange zurückgehaltenen, aber nun endlich losbrechenden Zornes angelangt, wo man sich zu sofortigem Kampf gedrängt fühlt und das Bedürfnis verspürt, unverzüglich über jemand herzufallen. Wer Lisaweta Prokofjewna kannte, mußte sogleich merken, daß mit ihr etwas Besonderes vorging. Iwan Fjodorowitsch sagte am nächsten Tag zum Fürsten Schtsch.: »Das kommt ja bei ihr manchmal vor, aber in dem Grade wie gestern doch nur sehr selten, so alle drei Jahre einmal, aber nicht öfter, nicht öfter!« fügte er erläuternd hinzu. »Genug, Iwan Fjodorowitsch! Lassen Sie mich!« rief Lisaweta Prokofjewna. »Warum bieten Sie mir jetzt Ihren Arm? Vorhin verstanden Sie nicht, den richtigen Zeitpunkt wahrzunehmen, um mich wegzuführen; Sie sind der Mann, Sie sind das Oberhaupt der Familie; Sie mußten mich Närrin am Ohr wegführen, wenn ich nicht auf Sie hörte und wegging. Und wenigstens sollten Sie für Ihre Töchter sorgen! Aber jetzt werden wir auch ohne Sie den Weg finden; Anlaß, uns zu schämen, haben wir jetzt für ein ganzes Jahr genug ... Warten Sie noch einen Augenblick; ich möchte mich erst noch beim Fürsten bedanken!... Ich danke dir, Fürst, für die gastliche Aufnahme! Und ich hatte mich hier behaglich hergesetzt, um die Jugend reden zu hören... Das ist eine Gemeinheit, eine Gemeinheit! Das ist ja ein Unfug, ein Wirrwarr; so etwas sieht man ja nicht einmal im Traum! Gibt es denn wirklich viele solche Menschen?... Schweig still, Aglaja! Schweig still, Alexandra! Das ist nicht eure Sache!... Drehen Sie sich nicht immer neben mir hin und her, Jewgenij Pawlowitsch, Sie sind mir ganz zuwider geworden!... Also du, mein Lieber, bittest diese Menschen noch um Verzeihung«, fuhr sie, sich wieder an den Fürsten wendend, fort. »›Verzeihen Sie‹, sagst du, ›daß ich Ihnen ein Kapital anzubieten gewagt habe!‹... Und du Schwadroneur, was hast du denn zu lachen?« fuhr sie plötzlich auf Lebedews Neffen los. »Du sagst: ›Wir verzichten auf das Kapital; wir bitten nicht, sondern wir fordern!‹ Als ob er nicht wüßte, daß dieser Idiot gleich morgen wieder zu ihnen hinlaufen wird, um ihnen seine Freundschaft und sein Geld anzubieten! Du wirst ja doch wohl hingehen? Wirst du hingehen? Ja oder nein?« »Ja, ich werde hingehen«, antwortete der Fürst leise und demütig. »Na, da hört ihr's! Darauf rechnest du ja auch bloß!« wandte sie sich wieder zu Doktorenko, »jetzt hast du das Geld schon so gut wie in der Tasche, und da schwadronierst du, um uns Sand in die Augen zu streuen... Nein, Verehrtester, da mußt du dir andere suchen, die dümmer sind als ich, ich durchschaue euch durch und durch ... ich verstehe euer ganzes Spiel!« »Lisaweta Prokofjewna!« rief der Fürst. »Kommen Sie weg von hier, Lisaweta Prokofjewna, es ist hohe Zeit; auch den Fürsten wollen wir mitnehmen«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd in möglichst ruhigem Ton. Die Mädchen standen ängstlich abseits, der General war ganz erschrocken, überhaupt waren alle erstaunt. Einige, die etwas weiter entfernt standen, lächelten heimlich und flüsterten untereinander; Lebedews Gesicht drückte den höchsten Grad des Entzückens aus. »Häßlichen Wirrwarr findet man in der ganzen Welt, gnädige Frau«, sagte Lebedews Neffe, der gleichfalls nicht wenig betroffen war. »Aber nicht einen so argen! Nicht einen so argen, lieber Freund, wie jetzt bei euch, nicht einen so argen!« rief Lisaweta Prokofjewna, gleichsam schadenfroh und wie in einem hysterischen Anfall. »So laßt mich doch in Ruhe!« schrie sie denen, die auf sie einredeten, zu. »Nein, wenn Sie schon erzählen, Jewgenij Pawlowitsch, daß sogar ein Verteidiger vor Gericht erklärt hat, es sei nichts natürlicher, als aus Armut sechs Menschen abzuschlachten, dann ist der Jüngste Tag nahe herangekommen; so etwas habe ich ja noch nie gehört! Jetzt ist mir alles klargeworden! Ist denn dieser Stotterer etwa nicht imstande, einem die Kehle abzuschneiden?« Sie wies auf Burdowskij, der sie höchst erstaunt ansah. »Ich möchte darauf wetten, daß er es fertigbringt! Er wird dein Geld, die zehntausend Rubel, vielleicht nicht annehmen, wird sie vielleicht aus Gewissensbedenken nicht annehmen; aber er wird bei Nacht kommen und dir die Kehle durchschneiden und das Geld aus der Schatulle nehmen, ohne daß sein Gewissen dagegen Einwendungen erhebt! Das ist nach seiner Ansicht nicht ehrlos! Das ist ›ein Ausbruch edler Verzweiflung‹, das ist ›Negation‹ oder weiß der Teufel was sonst noch... Pfui! Alles ist auf den Kopf gestellt, alle gehen mit den Füßen nach oben. Da ist ein junges Mädchen im Elternhaus aufgewachsen; auf einmal springt sie mitten auf der Straße in eine Droschke: ›Mamachen, ich habe mich neulich mit irgendeinem Karlowitsch oder Iwanowitsch verheiratet; leben Sie wohl!‹ Und eine solche Handlungsweise ist nach eurer Meinung ganz in der Ordnung, achtenswert und natürlich? Das ist die Frauenfrage? Da, dieser dumme Junge hier« (sie zeigte auf Kolja), »auch der hat neulich darüber disputiert und sagt, das sei eben die Frauenfrage. Aber auch wenn eine Mutter dumm ist, sollten die Töchter sie anständig behandeln!... Warum trugt ihr denn vorhin, als ihr hereinkamt, die Köpfe so stolz erhoben? ›Wagt es nicht, uns zu nahe zu treten; wir kommen! Gib uns alle erdenklichen Rechte; aber wage du nicht, uns gegenüber zu mucksen! Erweise uns in unerhörtem Maße alle Achtung, aber wir werden dich schlechter behandeln als den niedrigsten Lakaien!‹ Sie suchen die Wahrheit, sie bestehen auf ihrem Recht; aber sie selbst haben ihn wie die Heiden in ihrem Artikel verleumdet. ›Wir fordern, wir bitten nicht, und ihr werdet von uns kein Wort des Dankes zu hören bekommen, weil ihr es doch nur zur Beruhigung eures eigenen Gewissens tut!‹ Eine nette Moral! Aber wenn du dich von jeder Verpflichtung zur Dankbarkeit dispensierst, dann kann doch auch der Fürst dir antworten, daß er gegen Pawlischtschew keine Dankbarkeit empfinde, weil ja auch Pawlischtschew nur zur Beruhigung seines eigenen Gewissens Gutes getan habe. Und du hast ja doch nur auf seine Dankbarkeit gegen Pawlischtschew deine Spekulation gegründet; er hat ja doch von dir kein Geld geborgt und ist dir nichts schuldig; also worauf hast du denn sonst gerechnet als auf seine Dankbarkeit? Wie kannst du dich denn da selbst von ihr lossagen? Ihr Verrückten! Ihr nennt die menschliche Gesellschaft roh und inhuman, weil sie ein verführtes Mädchen ächtet; aber wenn ihr die menschliche Gesellschaft als inhuman bezeichnet, so erklärt ihr damit doch, daß diesem Mädchen von dieser Gesellschaft ein Schmerz zugefügt wird. Wenn das aber für sie ein Schmerz ist, wie könnt ihr sie dann selbst in den Zeitungen vor eben dieser Gesellschaft an den Pranger stellen und verlangen, daß das für sie kein Schmerz sein soll? Ihr Verrückten! Ihr eitlen Menschen! Ihr glaubt nicht an Gott, ihr glaubt nicht an Christus! Eitelkeit und Stolz haben eure Seelen so zerfressen, daß ihr schließlich noch einer den andern auffressen werdet, das sage ich euch voraus! Ist das nicht ein Unsinn, ein Wirrwarr, ein Skandal? Und trotz alledem wird dieser verdrehte Mensch noch zu ihnen hingehen und sie um Verzeihung bitten! Gibt es denn viele solche Leute wie euch? Was lächelt ihr? Weil ich mich mit euch so gemein gemacht habe? Das ist nun einmal geschehen; daran ist nichts mehr zu ändern!... Lächle du mich nicht so an, du frecher Bube!« (Sie stürzte plötzlich auf Ippolit los.) »Er kann kaum noch atmen und verdirbt andere! Du hast mir diesen Jungen hier verdorben« (sie zeigte wieder auf Kolja); »er schwärmt immer von dir; du unterweist ihn im Atheismus, du glaubst nicht an Gott; und dabei stehst du in einem Alter, daß du noch Hiebe bekommen könntest, mein Verehrter! Pfui über euch!... Also, Fürst Lew Nikolajewitsch, wirst du wirklich morgen zu ihnen hingehen, ja?« fragte sie wieder, fast atemlos, den Fürsten. »Ja, ich werde hingehen.« »Dann kenne ich dich nicht mehr!« Sie drehte sich schnell um, um wegzugehen, kehrte aber plötzlich wieder zurück. »Wirst du auch zu diesem Atheisten gehen?« Sie zeigte auf Ippolit. »Aber warum lächelst du denn über mich?« schrie sie mit fremdartig klingender Stimme und stürzte auf Ippolit los, dessen spöttisches Lächeln sie nicht ertragen konnte. »Lisaweta Prokofjewna! Lisaweta Prokofjewna! Lisaweta Prokofjewna!« wurde von allen Seiten zugleich gerufen. »Maman, das ist eine Schande!« rief Aglaja laut. »Beunruhigen Sie sich nicht, Aglaja Iwanowna!« antwortete Ippolit ruhig; Lisaweta Prokofjewna hatte ihn am Arm gepackt und hielt diesen aus nicht recht verständlichem Grunde fest; sie stand vor ihm und durchbohrte ihn förmlich mit ihrem wütenden Blick. »Beunruhigen Sie sich nicht! Ihre Mama wird schon selbst zu der Einsicht kommen, daß man sich an einem Sterbenden nicht vergreifen darf... Ich bin bereit, eine Erklärung darüber abzugeben, warum ich gelacht habe..., und werde mich sehr freuen, wenn man es mir verstattet...« Hier überfiel ihn plötzlich ein heftiger Husten, den er eine ganze Minute lang nicht stillen konnte. »Er ist schon im Verscheiden und hält immer noch Reden!« rief Lisaweta Prokofjewna. Sie ließ seinen Arm los und sah erschrocken, wie er sich das Blut von den Lippen wischte. »Wozu willst du noch reden? Du mußt einfach hingehen und dich ins Bett legen...« »Das wird auch geschehen«, erwiderte Ippolit leise, fast flüsternd, mit heiserer Stimme. »Sobald ich heute nach Hause komme, werde ich mich gleich hinlegen ... binnen vierzehn Tagen werde ich sterben, das weiß ich... In der vorigen Woche hat es mir B-n selbst gesagt... Also wenn Sie gestatten, möchte ich Ihnen noch ein paar Worte zum Abschied sagen.« »Aber hast du denn den Verstand verloren? Was? Das ist ja Unsinn! In ärztliche Behandlung mußt du; was hat es für Sinn, jetzt Gespräche zu führen! Geh, geh und leg dich ins Bett!...« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken. »Wenn ich mich hinlege, so werde ich ja bis zu meinem Tode nicht wieder aufstehen«, versetzte Ippolit lächelnd. »Ich wollte mich schon gestern hinlegen, um vor dem Tode nicht wieder aufzustehen, verschob es aber um zwei Tage, solange mich die Beine noch tragen ... um heute mit denen hierherzugehen... Aber ich bin sehr müde...« »So setz dich doch, setz dich doch! Warum stehst du? Da hast du einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna eifrig und schob ihm selbst einen Stuhl hin. »Ich danke Ihnen«, fuhr Ippolit leise fort. »Setzen Sie sich mir gegenüber, dann wollen wir miteinander sprechen... Wir müssen unbedingt miteinander sprechen, Lisaweta Prokofjewna, jetzt bestehe ich darauf...« Er lächelte wieder. »Bedenken Sie, daß ich heute zum letztenmal in der freien Luft und unter Menschen bin und in zwei Wochen aller Wahrscheinlichkeit nach in der Erde liegen werde. Also wird das eine Art Abschied von den Menschen und von der Natur sein. Ich bin zwar nicht sehr sentimental, aber denken Sie sich: ich freue mich doch sehr, daß sich dies alles gerade hier in Pawlowsk zugetragen hat; man sieht hier doch wenigstens einen grünen Baum.« »Aber wozu willst du denn jetzt ein Gespräch führen?« wandte Lisaweta Prokofjewna ein, die immer ängstlicher wurde. »Du fieberst ja vollständig. Vorhin kreischtest und quiektest du, und jetzt bekommst du kaum Luft und bist am Ersticken!« »Ich werde mich gleich wieder erholen. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen? ...Wissen Sie, ich habe schon lange im stillen davon phantasiert, mit Ihnen einmal zusammenzukommen, Lisaweta Prokofjewna; ich habe viel von Ihnen gehört... durch Kolja; der ist ja fast der einzige, der mich nicht verlassen hat... Sie sind eine eigenartige Frau, eine exzentrische Frau, das habe ich jetzt selbst gesehen... Wissen Sie wohl, daß ich Sie sogar ein bißchen geliebt habe?« »O Gott, und ich hätte ihn wahrhaftig beinah geschlagen!« »Aglaja Iwanowna hat Sie davon zurückgehalten. Ich irre mich doch nicht? Das ist doch Ihre Tochter Aglaja Iwanowna? Sie ist so schön, daß ich vorhin gleich beim ersten Blick vermutete, sie sei es, obwohl ich sie niemals gesehen habe. Lassen Sie mich wenigstens zum letztenmal in meinem Leben eine wirkliche Schönheit sehen!« fügte Ippolit mit einem ungeschickten, schiefen Lächeln hinzu. »Es ist ja auch der Fürst hier und Ihr Gemahl und die ganze Gesellschaft. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen?« »Einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna, aber sie ergriff selbst einen und setzte sich Ippolit gegenüber hin. »Kolja!« befahl sie, »brich gleich mit ihm auf und bring ihn nach Hause, und morgen werde ich bestimmt selbst...« »Wenn Sie erlauben, würde ich den Fürsten um eine Tasse Tee bitten... Ich bin sehr müde. Wissen Sie was, Lisaweta Prokofjewna, Sie wollten ja wohl den Fürsten zum Teetrinken mit zu sich nach Hause nehmen: bleiben Sie doch hier, lassen Sie uns eine Weile zusammensein; der Fürst wird gewiß uns allen, die wir hier sind, Tee geben lassen. Verzeihen Sie, daß ich solche Anordnungen treffe!... Aber ich kenne Sie ja, Sie sind eine gute Frau, und auch der Fürst ist ein guter Mensch... wir sind sämtlich lächerlich gute Leute...« Der Fürst geriet in geschäftige Bewegung; Lebedew stürzte Hals über Kopf davon, Wera lief hinter ihm her. »Sei es so!« stimmte die Generalin ihm kurz bei. »Rede, aber leise, und rege dich nicht auf! Du tust mir leid!... Fürst, du verdienst nicht, daß ich bei dir Tee trinke; aber ich will meinetwegen hierbleiben, obwohl ich niemand um Verzeihung bitte, niemand! Unsinn! Übrigens, wenn ich vorhin auf dich geschimpft habe, so verzeih mir das ... das heißt, wenn du willst. Übrigens will ich niemand hier zurückhalten«, wandte sie sich mit höchst zorniger Miene an ihren Mann und an ihre Töchter, als ob auch diese ihr irgendein schweres Unrecht angetan hätten. »Ich kann auch allein nach Hause zurückgehen...« Aber man ließ sie nicht zu Ende sprechen. Alle traten heran und umringten sie dienstfertig. Der Fürst bat sofort alle, zum Tee dazubleiben, und entschuldigte sich, daß er bisher nicht daran gedacht habe. Selbst der General war so liebenswürdig, ein paar Worte zur Beruhigung zu murmeln und Lisaweta Prokofjewna freundlich zu fragen, ob es ihr auf der Veranda auch nicht zu kühl sei. Er setzte sogar schon dazu an, Ippolit zu fragen, ob er schon lange auf der Universität sei, tat es aber doch nicht. Jewgenij Pawlowitsch und Fürst Schtsch. wurden auf einmal sehr liebenswürdig und heiter, und auf Adelaidas und Alexandras Gesichtern wurde durch das fortdauernde Erstaunen hindurch sogar ein Ausdruck von Zufriedenheit sichtbar; kurz, alle waren augenscheinlich froh, daß die Krisis bei Lisaweta Prokofjewna vorüber war. Nur Aglaja machte ein finsteres Gesicht und setzte sich schweigend abseits. Auch die ganze übrige Gesellschaft blieb da; keiner wollte fortgehen, nicht einmal General Iwolgin, dem Lebedew im Vorübergehen etwas zuflüsterte, wahrscheinlich nichts sehr Angenehmes, da der General sogleich in einen Winkel verschwand. Der Fürst trat mit seiner Einladung auch an Burdowskij und dessen Begleitung heran, ohne jemand zu übergehen. Sie murmelten mit gezwungener Miene, sie würden auf Ippolit warten, und zogen sich sofort nach dem fernsten Winkel der Veranda zurück, wo sie sich wieder alle in einer Reihe hinsetzten. Wahrscheinlich war der Tee in Lebedews Wohnung schon lange für die Familie fertig, denn er wurde sofort gebracht. Es schlug elf Uhr. X Ippolit benetzte seine Lippen in der Tasse Tee, die ihm Wera Lebedewa gereicht hatte, stellte die Tasse auf ein Tischchen und blickte verlegen und befangen rings um sich. »Sehen Sie einmal diese Tassen, Lisaweta Prokofjewna«, sagte er mit seltsamer Hast, »diese Porzellantassen, die wohl von vorzüglichem Porzellan sind, hat Lebedew immer in einer verschlossenen Chiffonière hinter Glas stehen; sie werden nie herausgegeben ... wie das so Sitte ist; sie haben zur Mitgift seiner Frau gehört ... das ist bei diesen Leuten so Sitte ... und nun hat er sie doch für uns herausgegeben, natürlich Ihnen zu Ehren, so hat er sich gefreut...« Er wollte noch etwas hinzufügen, konnte aber nicht gleich die richtigen Worte finden. »Er ist ganz verlegen geworden, das hatte ich doch erwartet!« flüsterte Jewgenij Pawlowitsch dem Fürsten ins Ohr. »Das ist doch wohl gefährlich, nicht wahr? Ein ganz sicheres Anzeichen dafür, daß er jetzt aus Trotz irgendeine so arge Absonderlichkeit begehen wird, daß selbst Lisaweta Prokofjewna vielleicht nicht wird hierbleiben mögen.« Der Fürst blickte ihn fragend an. »Sie fürchten sich vor solchen Absonderlichkeiten nicht?« fügte Jewgenij Pawlowitsch hinzu. »Ich tue es auch nicht, ich wünsche dergleichen sogar herbei: es liegt mir besonders daran, daß unsere liebe Lisaweta Prokofjewna bestraft wird, und zwar gleich heute, gleich jetzt; vorher möchte ich gar nicht fortgehen. Aber Sie fiebern ja, wie es scheint?« »Lassen wir das jetzt! Stören Sie nicht! Ja, mir ist nicht wohl«, antwortete der Fürst zerstreut und ungeduldig. Er hörte seinen Namen; Ippolit sprach von ihm. »Sie glauben es nicht?« lachte Ippolit krampfhaft. »Das war vorauszusehen, aber der Fürst wird es gleich beim ersten Wort glauben und gar nicht erstaunt darüber sein.« »Hörst du, Fürst?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an ihn. »Hörst du?« Ringsum wurde gelacht. Lebedew drängte sich eifrig nach vorn und wendete und drehte sich vor Lisaweta Prokofjewna hin und her. »Er hat gesagt, daß dieser Grimassenschneider da, dein Hauswirt, jenem Herrn den Schmähartikel verbessert hat, der vorhin vorgelesen wurde.« Der Fürst sah Lebedew erstaunt an. »Warum schweigst du denn?« fragte Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und stampfte dabei sogar mit dem Fuß. »Nun ja«, murmelte der Fürst, der seinen Blick immer noch auf Lebedew gerichtet hielt, »ich sehe schon, daß er es getan hat.« »Ist das die Wahrheit?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna schnell an Lebedew. »Die reine Wahrheit, Exzellenz!« antwortete Lebedew in festem Ton, ohne zu zaudern, und legte dabei die Hand aufs Herz. »Er rühmt sich dessen noch!« rief sie und war nah daran, vom Stuhl aufzuspringen. »Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« murmelte Lebedew, schlug sich gegen die Brust und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer hängen. »Was fange ich damit an, daß du ein gemeiner Mensch bist! Er denkt, wenn er sagt: ›Ich bin ein gemeiner Mensch!‹, dann hat er sich herausgeholfen. Schämst du dich nicht, Fürst, mit solchen Jammermenschen zu verkehren? frage ich dich noch einmal. Ich werde dir das nie verzeihen!« »Mir wird der Fürst verzeihen!« sagte Lebedew fest überzeugt und sehr gerührt. »Lediglich aus Edelmut«, begann auf einmal mit lauter, volltönender Stimme Keller, der schnell herzugetreten war und sich nun unmittelbar an Lisaweta Prokofjewna wandte, »lediglich aus Edelmut, gnädige Frau, um nicht einen Freund durch Verrat zu kompromittieren, habe ich vorhin von den Verbesserungen, die er vorgenommen hatte, geschwiegen, obgleich er vorschlug, uns aus der Tür zu werfen, wie Sie selbst gehört haben. Zur Ehre der Wahrheit gestehe ich nun, daß ich mich tatsächlich an ihn gewendet und ihm sechs Rubel bezahlt habe, aber durchaus nicht dafür, daß er meinen Stil verbessert hätte, sondern dafür, daß er als eine kompetente Persönlichkeit mir Tatsachen mitteilte, die mir größtenteils unbekannt waren. Das von den Gamaschen, von dem Appetit bei dem Schweizer Professor und von den fünfzig Rubeln statt der zweihundertfünfzig, kurz, diese ganze Partie stammt von ihm und ist mit sechs Rubeln honoriert worden, aber den Stil hat er nicht korrigiert.« »Ich muß bemerken«, unterbrach ihn Lebedew mit fieberhafter Ungeduld und in kriecherischem Ton, während das Lachen immer allgemeiner wurde, »daß ich nur die erste Hälfte des Artikels verbessert habe; aber da wir in der Mitte uneins wurden und wegen eines Satzes in Streit gerieten, so habe ich die zweite Hälfte nicht mehr verbessert, und es darf daher alles, was darin gegen die gute Schreibart verstößt (und dessen ist vieles!), mir nicht zur Last gelegt werden ...« »Also das ist es, worauf es ihm ankommt!« rief Lisaweta Prokofjewna. »Gestatten Sie die Frage«, wandte sich Jewgenij Pawlowitsch an Keller, »wann denn diese Verbesserungen des Artikels stattgefunden haben.« »Gestern vormittag«, antwortete Keller. »Wir hatten eine Zusammenkunft und versprachen uns gegenseitig mit unserem Ehrenwort, das Geheimnis zu wahren.« »Das war also fast zu derselben Zeit, als er sich gegen dich so kriecherisch benahm und dich seiner Ergebenheit versicherte. Nein, diese Jammermenschen! Ich brauche deinen Puschkin nicht, und deine Tochter soll auch nicht zu mir kommen!« Lisaweta Prokofjewna wollte schon aufstehen, aber plötzlich wandte sie sich gereizt an den lachenden Ippolit: »Wie ist denn das, mein Lieber? Du hast mich wohl hier lächerlich machen wollen?« »Gott bewahre!« erwiderte Ippolit mit einem schiefen Lächeln. »Aber mich interessiert außerordentlich Ihr exzentrisches Wesen, Lisaweta Prokofjewna, und ich muß gestehen, daß ich die Geschichte von Lebedew absichtlich aufs Tapet gebracht habe, weil ich wußte, wie das auf Sie wirken würde, auf Sie allein, denn der Fürst wird ihm gewiß verzeihen und hat ihm wahrscheinlich schon verziehen... er hat vielleicht schon im stillen eine Entschuldigung für ihn gesucht; es ist doch wohl so, Fürst, nicht wahr?« Er war ganz außer Atem gekommen, seine seltsame Aufregung wuchs mit jedem Wort. »Oh, oh!...«, sagte Lisaweta Prokofjewna zornig; sie wunderte sich über seinen Ton. »Nun, und weiter?« »Ich hatte über Sie schon viel von dieser Art gehört... mit großer Freude gehört... ich habe Sie sehr schätzengelernt«, fuhr Ippolit fort. Das waren seine Worte; aber er sagte sie in einer Weise, als ob er mit ihnen etwas ganz anderes sagen wollte. Er sprach mit einem Beiklang von Spott und regte sich gleichzeitig unverhältnismäßig auf, sah mißtrauisch um sich und geriet bei jedem Wort mehr in Verwirrung und Verlegenheit, so daß all dies im Verein mit seinem schwindsüchtigen Aussehen und seinem sonderbaren, funkelnden und beinah wütenden Blick unwillkürlich die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte. »Ich würde mich sonst, obwohl ich die Gebräuche der vornehmen Welt gar nicht kenne (das gebe ich zu), darüber wundern, daß Sie nicht nur selbst in unserer für Sie unpassenden Gesellschaft geblieben sind, sondern auch diesen... jungen Mädchen erlaubt haben, eine solche Skandalgeschichte mit anzuhören; allerdings werden sie das alles wohl schon in Romanen gelesen haben; übrigens, ich weiß das vielleicht nicht... denn ich befinde mich in großer Verwirrung; aber wer außer Ihnen hätte es jedenfalls fertiggebracht... auf die Bitte eines Knaben hin (nun ja, eines Knaben, auch das will ich wieder zugeben), mit ihm einen Teil des Abends zu verbringen und... und an allem solchen Anteil zu nehmen und... mit der Aussicht... sich dessen am nächsten Tag zu schämen... (ich gebe übrigens zu, daß ich mich unrichtig ausdrücke). Ich lobe das alles sehr und schlage es sehr hoch an, obgleich schon an dem Gesicht Seiner Exzellenz, Ihres Gemahls, deutlich zu sehen ist, wie wenig das nach seinem Urteil zu seinem Rang paßt... Hihi!« kicherte er; er hatte sich in seinem Reden völlig verrannt und bekam nun auf einmal einen solchen Hustenanfall, daß er mehrere Minuten lang nicht weitersprechen konnte. »Er ist ja ganz außer Atem gekommen!« sagte Lisaweta Prokofjewna in kaltem, scharfem Ton, indem sie ihn mit ernster Neugier betrachtete. »Aber nun, mein lieber Junge, müssen wir unser Gespräch abbrechen. Es ist Zeit.« »Erlauben Sie auch mir, mein Herr, Ihnen meinerseits zu bemerken«, begann auf einmal Iwan Fjodorowitsch gereizt, der den letzten Rest von Geduld verloren hatte, »daß meine Frau sich hier bei dem Fürsten Lew Nikolajewitsch, unserm gemeinsamen Freund und Nachbarn, befindet und daß es jedenfalls Ihnen, junger Mann, nicht zusteht, über Lisaweta Prokofjewnas Handlungen ein Urteil zu fällen, ebensowenig wie es Ihnen zusteht, sich laut und mir ins Gesicht darüber zu äußern, was auf meinem Gesicht geschrieben steht. Jawohl. Und wenn meine Frau hiergeblieben ist«, fuhr er fort, indem er fast mit jedem Wort in eine gereiztere Stimmung hineinkam, »so hat sie das vorwiegend aus Verwunderung getan und aus der allen begreiflichen, zeitgemäßen Neugier, so sonderbare junge Leute kennenzulernen. Und ich für meine eigene Person bin hiergeblieben, wie ich manchmal auf der Straße stehenbleibe, wenn da etwas zu sehen ist, so eine... eine...« »So eine Kuriosität«, half ihm Jewgenij Pawlowitsch. »Ganz recht, sehr richtig!« sagte erfreut Seine Exzellenz, der General, der mit seinem Vergleich nicht ganz hatte zurechtkommen können, »so eine Kuriosität. Aber jedenfalls ist es für mich höchst erstaunlich und sogar betrübend, daß Sie, junger Mensch, nicht einmal das haben begreifen können, daß Lisaweta Prokofjewna jetzt nur deswegen bei Ihnen geblieben ist, weil Sie krank sind – wenn es stimmt, Sie wirklich bald sterben werden –, sozusagen aus Mitleid, wegen Ihrer kläglichen Reden, mein Herr, und daß ihrem Namen, ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Rang in keinem Fall irgendein Makel anhaften kann... Lisaweta Prokofjewna«, schloß der General, der ganz rot geworden war, »wenn du gehen willst, so wollen wir uns von unserm guten Fürsten verabschieden und...« »Ich danke Ihnen für die Lektion, die Sie mir erteilt haben, General«, unterbrach ihn Ippolit ernst, indem er ihn nachdenklich ansah. »Kommen Sie, maman! Wie lange soll denn das noch dauern?« sagte Aglaja ungeduldig und zornig und stand von ihrem Stuhl auf. »Noch zwei Minuten, lieber Iwan Fjodorowitsch, wenn du erlaubst!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna mit würdiger Ruhe an ihren Gatten. »Mir scheint, er fiebert vollständig und redet geradezu irre, ich sehe es ihm an den Augen an; man muß etwas für ihn tun. Lew Nikolajewitsch! könnte er nicht bei dir übernachten, damit er heute nicht nach Petersburg zurückgeschleppt zu werden braucht? Cher prince, Teurer Fürst (frz.) Sie langweilen sich doch nicht?« wandte sie sich ohne verständlichen Grund auf einmal an den Fürsten Schtsch. »Komm einmal her, Alexandra, und bring dein Haar in Ordnung, mein Kind!« Sie brachte ihr das Haar in Ordnung, an dem nichts in Ordnung zu bringen war, und küßte sie; letzteres war der einzige Grund gewesen, warum sie sie zu sich gerufen hatte. »Ich habe Sie für entwicklungsfähig gehalten«, begann Ippolit von neuem, indem er aus seiner Versunkenheit wieder zu sich kam. »Ja! Das war es, was ich noch sagen wollte!« rief er erfreut, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. »Da wünscht nun Burdowskij aufrichtig, seine Mutter zu beschützen, nicht wahr? Aber das Resultat ist, daß er sie in Unehre bringt. Da wünscht nun der Fürst, Burdowskij zu helfen, und bietet ihm aus reinem Herzen seine Freundschaft und eine große Summe Geld an und ist vielleicht von Ihnen allen der einzige, der gegen ihn keinen Widerwillen empfindet, und doch stehen gerade sie beide einander als wahre Feinde gegenüber ... Hahaha! Sie alle hassen Burdowskij, weil er nach Ihrer Anschauung sich gegen seine Mutter unschön und unzart benimmt, so ist es doch? Nicht? Nicht? Sie legen ja alle einen enormen Wert auf Schönheit und Feinheit der Formen, nur darauf kommt es Ihnen an, nicht wahr? (Ich habe schon lange den Verdacht gehabt, daß es sich so verhält!) Nun, so mögen Sie denn wissen, daß vielleicht keiner von Ihnen seine Mutter so geliebt hat wie Burdowskij! Sie, Fürst, haben, wie ich weiß, durch Ganja der Mutter Burdowskijs im stillen Geld geschickt, und nun möchte ich darauf wetten... hihihi!« lachte er hysterisch, »... ich möchte darauf wetten, daß Burdowskij Ihnen dies jetzt als unzarte Form und als eine Respektlosigkeit gegen seine Mutter zum Vorwurf machen wird. Bei Gott, so ist es! Hahaha!« Hier bekam er wieder keine Luft mehr und mußte husten. »Nun, bist du fertig? Hast du jetzt alles gesagt, was du sagen wolltest? Na, dann geh jetzt schlafen; du hast Fieber«, unterbrach ihn ungeduldig Lisaweta Prokofjewna, die ihren unruhigen Blick nicht von ihm abwandte. »Ach Gott, da fängt er schon wieder an zu reden!« »Sie lachen wohl? Was haben Sie immer über mich zu lachen? Ich habe bemerkt, daß Sie fortwährend über mich lachen!« wandte er sich plötzlich unruhig, in gereiztem Ton an Jewgenij Pawlowitsch. Dieser hatte tatsächlich gelacht. »Ich wollte Sie nur fragen, Herr... Ippolit... Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Familiennamen vergessen.« »Herr Terentjew«, sagte der Fürst. »Ja, Terentjew, ich danke Ihnen, Fürst; der Name wurde vorhin genannt, war mir aber wieder entfallen... Ich wollte Sie fragen, Herr Terentjew, ob das wahr ist, was ich gehört habe: Sie seien der Ansicht, Sie brauchten nur eine Viertelstunde lang aus dem Fenster zum Volk zu reden, dann sei es sofort mit Ihnen in allen Stücken einverstanden und folge Ihnen sofort?« »Sehr möglich, daß ich das gesagt habe«, antwortete Ippolit, wie wenn er in seinem Gedächtnis nachsuchte. »Ich habe es sicher gesagt«, fügte er auf einmal hinzu, indem er wieder lebhafter wurde und einen festen Blick auf Jewgenij Pawlowitsch heftete. »Nun, und was folgern Sie daraus?« »Nichts; ich fragte nur, weil ich es gern wissen wollte, zur Vervollständigung meiner Kenntnisse.« Jewgenij Pawlowitsch schwieg, aber Ippolit blickte ihn immer noch ungeduldig wartend an. »Nun also, bist du fertig?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Jewgenij Pawlowitsch. »Komm schnell zu Ende, Väterchen; es ist für ihn Zeit, sich schlafen zu legen. Oder verstehst du nicht, das Ende zu finden?« (Sie ärgerte sich gewaltig.) »Ich würde gern noch hinzufügen«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch lächelnd fort, »daß alles, was ich von Seiten Ihrer Kameraden gehört habe, und alles, was Sie soeben auseinandergesetzt haben, und zwar mit ganz unbezweifelbarem Talent, meiner Ansicht nach zu der Theorie gehört, daß das Recht vor allem und über alles und sogar unter Ausschließung alles andern triumphieren muß, und vielleicht sogar ohne die Feststellung, worin denn eigentlich das Recht besteht. Vielleicht irre ich mich?« »Gewiß, Sie irren sich; ich verstehe Sie nicht einmal... Und weiter?« Auch in der Ecke wurde gemurrt. Lebedews Neffe murmelte etwas halblaut. »Weiter habe ich eigentlich kaum etwas zu sagen«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch fort, »ich wollte nur noch bemerken, daß infolge dieses Verfahrens die Sache geradezu in das Recht der Gewalt umschlagen kann, das heißt in das Recht der einzelnen Faust und des persönlichen Beliebens, was übrigens in der Welt sehr oft der Ausgang gewesen ist. Auch Proudhon ist bei dem Recht der Gewalt stehengeblieben. Im amerikanischen Krieg haben viele höchst fortschrittliche Liberale sich für die Pflanzer erklärt, auf Grund der Anschauung, daß die Neger eben nur Neger seien und tiefer stünden als die weiße Rasse und das folglich das Recht der Gewalt auf Seiten der Weißen sei...« »Nun?« »Das heißt also: Sie verwerfen das Recht der Gewalt nicht?« »Weiter?« »Sie sind jedenfalls konsequent; ich wollte nur bemerken, daß es von dem Recht der Gewalt zu dem Recht der Tiger und Krokodile und sogar zu Männern wie Danilow und Gorskij nicht weit ist.« »Ich weiß nicht. Weiter?« Ippolit hörte kaum zu, was Jewgenij Pawlowitsch sagte, und wenn er sein »nun« und »weiter« dazwischenwarf, so schien er das mehr aus einer alten, bei Gesprächen angenommenen Gewohnheit und nicht aus Aufmerksamkeit und Neugier zu tun. »Weiter wollte ich nichts sagen... das ist alles.« »Ich bin Ihnen übrigens nicht böse«, sagte Ippolit zum Schluß auf einmal ganz unerwartet und streckte, wohl ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, dem andern die Hand hin, wobei er sogar lächelte. Jewgenij Pawlowitsch war zuerst erstaunt, ergriff dann aber mit ganz ernstem Gesicht die ihm hingehaltene Hand, als nähme er die angebotene Verzeihung an. »Ich muß noch hinzufügen«, sagte er in demselben zweideutig-respektvollen Ton, »daß ich Ihnen dankbar bin für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich haben reden lassen, denn nach meinen zahlreichen Beobachtungen können unsere Liberalen niemand seine eigene Meinung aussprechen lassen, ohne ihrem Opponenten sofort mit Schimpfworten oder sogar mit noch Schlimmerem zu antworten...« »Da haben Sie vollkommen recht«, bemerkte General Iwan Fjodorowitsch und zog sich, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gelangweilter Miene zum Ausgang der Veranda zurück, wo er vor Ärger gähnte. »Na, nun aber Schluß, lieber Freund!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna energisch an Jewgenij Pawlowitsch. »Ich habe eure Gespräche satt...« »Es ist Zeit!« sagte Ippolit, der sich besorgt und fast erschrocken erhob und verwirrt um sich blickte. »Ich habe Sie aufgehalten; ich wollte Ihnen alles sagen... ich meinte, daß Sie alle... zum letztenmal... es war Phantasie...« Es war deutlich, daß er manchmal wie mit einem Ruck wieder lebendiger wurde und aus einem an wirkliches Irrereden grenzenden Zustand auf einmal für einige Augenblicke freikam, sich mit vollem Bewußtsein erinnerte und sprach, und zwar größtenteils in abgerissenen Sätzen, die er sich vielleicht schon vor längerer Zeit in langen, öden Krankheitsstunden, wenn er einsam und schlaflos im Bett lag, in Gedanken zurechtgelegt und auswendig gelernt hatte. »Nun also, leben Sie wohl!« sagte er plötzlich schroff. »Sie meinen wohl, es wird mir leicht, Ihnen Lebewohl zu sagen? Haha!« lachte er, selbst ärgerlich über seine ungeschickte Frage. Dann fügte er, wie ergrimmt darüber, daß es ihm nie recht gelang, zu sagen, was er wollte, laut und gereizt hinzu: »Exzellenz, ich habe die Ehre, Sie zu meinem Begräbnis einzuladen, wenn Sie mich dieser Ehre würdigen wollen, und... nach dem General auch Sie alle, meine Herrschaften!...« Er lachte wieder auf, aber das war schon das Lachen eines Irren. Lisaweta Prokofjewna trat erschrocken an ihn heran und faßte ihn bei der Hand. Er sah sie starr an, mit demselben Lachen, das aber nicht mehr fortdauerte, sondern gleichsam innehielt und auf seinem Gesicht erstarrte. »Wissen Sie wohl, daß ich hierhergekommen bin, um Bäume zu sehen? Diese Bäume hier...« (Er wies auf die Bäume des Parks.) »Ist das nicht lächerlich, wie? Eigentlich ist dabei doch nichts lächerlich?« fragte er Lisaweta Prokofjewna ernst und überließ sich wieder seinen Gedanken. Dann, einen Augenblick darauf, hob er den Kopf in die Höhe und begann eifrig mit den Augen unter den Anwesenden zu suchen. Er suchte Jewgenij Pawlowitsch, der ganz in der Nähe, rechts von ihm, auf demselben Fleck stand wie vorher; er hatte das jedoch bereits vergessen und suchte ihn ringsumher. »Ah, Sie sind nicht fortgegangen!« sagte er, als er ihn endlich gefunden hatte. »Sie haben sich vorhin darüber lustig gemacht, daß ich eine Viertelstunde lang aus dem Fenster sprechen wollte... Aber wissen Sie, ich bin noch nicht achtzehn Jahre alt: ich habe so viel auf dem Bett gelegen und so viel durch dieses Fenster geschaut und so viel nachgedacht... über alles mögliche... daß... Ein Toter hat kein Alter, wie Sie wissen; noch in der vorigen Woche habe ich darüber nachgedacht, als ich in der Nacht aufgewacht war... Wissen Sie aber, was Sie am meisten fürchten? Am meisten fürchten Sie unsere Aufrichtigkeit, obwohl Sie uns verachten! Auch das habe ich damals in der Nacht im Bett überlegt... Sie meinen, ich hätte mich vorhin über Sie lustig machen wollen, Lisaweta Prokofjewna? Nein, ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht; ich wollte Sie nur loben... Kolja hat mir gesagt, der Fürst habe Sie ein Kind genannt... Das ist gut... Ja, was hatte ich doch noch... ich wollte noch etwas sagen...« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. »Das war's: als Sie vorhin Abschied nahmen, da dachte ich auf einmal: da sind nun diese Menschen, und sie werden für immer vergehen, für immer! Und diese Bäume auch. Nur die Backsteinwand wird bestehen bleiben, die rote Backsteinwand des Meyerschen Hauses... meinem Fenster gegenüber... Nun, sprich ihnen einmal von alledem... versuch es, rede davon; da ist ein schönes Mädchen... du bist ja ein Toter, stelle dich als Toter vor; sage, daß ›ein Toter alles sagen darf‹... und daß es ihn nicht mehr kümmert, ob die Fürstin Marja Alexejewna schilt, Anspielung auf die Schlußworte von Gribojedows Lustspiel »Verstand schafft Leiden.« haha! ... Sie lachen doch nicht?« Er ließ seinen Blick mißtrauisch über alle hinschweifen. »Wissen Sie, wenn ich so im Bett lag, da kamen mir viele Gedanken... wissen Sie, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Natur sehr spottlustig ist... Sie sagten vorhin, ich sei ein Atheist, aber wissen Sie, die Natur... Warum lachen Sie wieder? Sie sind furchtbar grausam!« sagte er traurig und unwillig, indem er alle ringsum ansah. »Ich habe Kolja nicht verdorben«, schloß er in völlig verändertem, ernstem Ton, im Ton fester Überzeugung, als ob ihm auch dies eben einfiele... »Niemand, niemand lacht hier über dich, beruhige dich!« sagte Lisaweta Prokofjewna fast gequält. »Morgen wird ein neuer Arzt zu dir kommen, dein bisheriger hat sich geirrt. Aber so setz dich doch; du kannst ja nicht auf den Beinen stehen! Du redest wirr... Ach, was sollen wir jetzt mit ihm anfangen?« sagte sie, indem sie ihn eifrig veranlassen wollte, sich auf einen Lehnstuhl zu setzen. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange. Ippolit blieb überrascht stehen; dann hob er den Arm, streckte ihn furchtsam aus und berührte mit der Hand diese Träne. Auf seinem Gesicht spielte ein eigentümliches, kindliches Lächeln. »Ich... habe Sie...«, begann er erfreut, »Sie wissen nicht, wie ich Sie... er hat immer mit solcher Begeisterung von Ihnen gesprochen, er, Kolja... ich liebe seine Begeisterung. Ich habe ihn nicht verdorben! Er ist der einzige Freund, den ich zurücklasse... ich hätte gern alle Menschen als meine Freunde zurückgelassen, alle, aber ich habe keinen zum Freund gewinnen können, keinen... Ich wollte tätig sein, ich hatte ein Recht darauf... Oh, wie vieles wollte ich! Jetzt will ich nichts mehr; ich will nichts mehr wollen; ich habe mir das Wort darauf gegeben, nichts mehr zu wollen; mögen sie, mögen sie jetzt ohne mich die Wahrheit suchen! Ja, die Natur ist spottlustig! Warum«, fuhr er, plötzlich lebhafter werdend, fort, »warum schafft sie die besten Wesen, um sich dann über sie lustig zu machen? Sie hat es so eingerichtet, daß das einzige Wesen, das man auf Erden als vollkommen anerkannt hat... sie hat es eingerichtet, daß, als sie es den Menschen gezeigt hatte, sie gerade dieses Wesen dazu prädestiniert hat, Lehren zu verkünden, infolge deren so viel Blut vergossen worden ist, daß, wenn es alles auf einmal vergossen worden wäre, die Menschen darin sicher ertrunken wären! Oh, es ist gut, daß ich sterbe! Ich hätte auch vielleicht irgendeine furchtbare Lüge gesagt; die Natur würde es schon so eingerichtet haben!... Ich habe niemand verdorben... Ich wollte leben, um das Glück aller Menschen zu fördern, um die Wahrheit zu entdecken und zu verkünden... Ich blickte durch das Fenster nach der Meyerschen Mauer und dachte, ich brauchte nur eine Viertelstunde zu reden, dann würde ich alle, alle überzeugen, und nun bin ich einmal im Leben mit Menschen zusammengekommen, wenn auch nicht mit vielen Menschen, so doch mit Ihnen, und was ist nun das Resultat? Nichts! Das Resultat ist, daß Sie mich verachten! Also bin ich ein Dummkopf, also tauge ich zu nichts, also ist es Zeit, daß ich gehe! Und ich habe es nicht verstanden, irgendwelche Erinnerung an mich zurückzulassen! Kein Laut, keine Spur, keine Tat bleibt von mir zurück; keine einzige Überzeugung habe ich verbreitet!... Lachen Sie nicht über den Toren! Vergessen Sie mich! Vergessen Sie alles... vergessen Sie bitte, seien Sie nicht so grausam! Wissen Sie, wenn sich diese Schwindsucht nicht eingestellt hätte, hätte ich mir selbst das Leben genommen...« Er schien noch vieles sagen zu wollen, aber er sprach nicht zu Ende, warf sich in den Lehnstuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte wie ein kleines Kind. »Na, nun sagen Sie bloß, was soll man nun mit ihm anfangen?« rief Lisaweta Prokofjewna, stürzte auf ihn zu, faßte seinen Kopf und drückte ihn fest, ganz fest gegen ihre Brust. Er schluchzte krampfhaft. »Nun, nun, nun! Nun, weine nur nicht, nun, laß nur gut sein; du bist ein guter Junge, Gott wird dir wegen deiner Unwissenheit verzeihen; nun, hör nur auf, zeig dich mannhaft!... Sonst mußt du dich ja auch schämen ...« »Ich habe da zu Hause«, redete Ippolit weiter, indem er mit Anstrengung den Kopf ein wenig in die Höhe hob, »ich habe einen Bruder und zwei Schwestern, kleine, arme, unschuldige Kinder... Sie wird sie verderben! Sie sind eine Heilige, Sie... sind selbst ein Kind, – retten Sie sie! Entreißen Sie sie dieser... sie ist... es ist eine Schande... Oh, helfen Sie ihnen, helfen Sie ihnen; Gott wird es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie um Gottes Willen, um Christi willen!...« »Nun sagen Sie doch endlich, Iwan Fjodorowitsch, was jetzt geschehen soll!« rief Lisaweta Prokofjewna in gereiztem Ton. »Tun Sie mir den Gefallen und brechen Sie Ihr majestätisches Schweigen! Wenn Sie keine Entscheidung treffen, so mögen Sie wissen, daß ich selbst hierbleiben und hier übernachten werde; Sie haben mich genug mit Ihrer Herrschsucht tyrannisiert!« Solche lebhaften, zornigen Fragen waren bei Lisaweta Prokofjewna nichts Seltenes, und sie erwartete dann eine sofortige Antwort. Aber in solchen Fällen pflegen die meisten Anwesenden, auch wenn ihrer viele sind, mit Stillschweigen und passiver Neugier zu antworten, ohne daß sie Verlangen tragen, etwas auf sich zu beziehen und entsprechend zu handeln; ihre Gedanken sprechen sie dann erst lange nachher aus. Unter den hier Anwesenden befanden sich auch einige, die bereit waren, ohne ein Wort zu sagen, nötigenfalls bis zum Morgen dazusitzen, zum Beispiel Warwara Ardalionowna, die den ganzen Abend über schweigsam in einiger Entfernung gesessen und während der ganzen Zeit mit außerordentlichem Interesse zugehört hatte, wozu sie vielleicht ihre besonderen Gründe hatte. »Meine Meinung, liebe Frau«, versetzte der General, »geht dahin, daß hier jetzt sozusagen eine Krankenpflegerin besser angebracht wäre als wir mit unserer Aufregung, und vielleicht außerdem noch ein zuverlässiger, nüchterner Mensch für die Nacht. Jedenfalls müssen wir den Fürsten fragen und... dann sofort für Ruhe sorgen. Morgen können wir ja unsere Teilnahme weiter bekunden.« »Es ist gleich zwölf Uhr; wir wollen fahren. Soll er nun mit uns fahren oder bei Ihnen bleiben?« wandte sich Doktorenko gereizt und ärgerlich an den Fürsten. »Wenn Sie wollen, können auch Sie bei ihm hierbleiben«, antwortete der Fürst. »Es wird Platz genug da sein.« »Exzellenz«, sagte unerwartet Herr Keller, der rasch und eifrig an den General herantrat, »wenn ein zuverlässiger Mensch für die Nacht erforderlich ist, so bin ich bereit, für meinen Freund dieses Opfer zu bringen... er ist eine ganz herrliche Seele! Ich halte ihn schon lange für einen bedeutenden Menschen, Exzellenz! Meine eigene Bildung ist ja natürlich nur mangelhaft; aber wenn er etwas kritisiert, ist jedes Wort von ihm eine Perle, er streut die Perlen nur so um sich, Exzellenz!...« Der General wandte sich mit einer Miene der Verzweiflung ab. »Ich würde mich sehr freuen, wenn er hierbleibt; das Fahren würde für ihn natürlich eine böse Sache sein«, erklärte der Fürst auf Lisaweta Prokofjewnas erregte Fragen. »Aber wirst du denn dann selbst zum Schlafen kommen? Wenn du ihn nicht hierbehalten magst, Väterchen, dann werde ich ihn zu uns transportieren lassen! O Gott, er kann sich ja kaum selbst auf den Beinen halten! Du bist krank, nicht wahr?« Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten nicht auf dem Sterbebette fand, hatte sie, nach dem äußeren Aussehen urteilend, seinen Gesundheitszustand für viel befriedigender gehalten, als er in Wirklichkeit war; aber die soeben überstandene Krankheit, die schweren mit ihr verbundenen Erinnerungen, die Ermüdung von dem unruhigen Abend, die Affäre mit dem »Sohn Pawlischtschews« und der jetzige Vorfall mit Ippolit, alles dies hatte zusammengewirkt, um die krankhafte Empfindsamkeit des Fürsten bis zu einem fieberhaften, Zustand zu steigern. Aber außerdem beunruhigte ihn jetzt noch eine andere Sorge, ja eine Befürchtung; er beobachtete ängstlich Ippolit, als ob er von ihm noch etwas erwartete. Plötzlich erhob sich Ippolit; er war schrecklich blaß, und sein verzerrtes Gesicht trug den Ausdruck furchtbarer, verzweifelter Scham. Das trat namentlich in seinem Blick zutage, der voll Haß und Furcht auf die Anwesenden gerichtet war, und in dem verlegenen, schiefen, umherirrenden Lächeln auf seinen zuckenden Lippen. Die Augen schlug er sofort wieder nieder und ging mit schwankenden Schritten, immer noch in gleicher Weise lächelnd, auf Burdowskij und Doktorenko zu, die am Ausgang der Veranda standen; er wollte mit ihnen wegfahren. »Das war es, was ich befürchtete!« rief der Fürst. »So mußte es kommen!« Mit rasendem Ingrimm wandte sich Ippolit schnell zu ihm um; jeder Muskel seines Gesichts zitterte und schien zu sprechen. »Ah, Sie haben das befürchtet! So mußte es nach Ihrer Meinung kommen! So mögen Sie denn wissen«, heulte er heiser und kreischend, und Speicheltröpfchen flogen ihm dabei aus dem Mund, »daß, wenn ich jemand hier hasse (und ich hasse Sie alle, alle!), ich Sie von allen und von allem, was es auf der Welt gibt, am meisten hasse, Sie Jesuit, Sie Sirupseele, Sie Idiot, Sie Millionär und Wohltäter! Ich habe Sie schon lange durchschaut und gehaßt, schon damals, als ich Sie nur erst vom Hörensagen kannte; ich habe Sie gehaßt mit dem ganzen Haß meiner Seele... Das haben Sie hier jetzt alles kunstvoll arrangiert! Sie haben bei mir einen Anfall herbeigeführt! Sie haben einen Sterbenden dahin gebracht, sich zu schämen; Sie, Sie, Sie sind an meinem unwürdigen Kleinmut schuld! Ich würde Sie ermorden, wenn ich am Leben bliebe! Ich brauche Ihre Wohltaten nicht; ich nehme von niemand Wohltaten an, hören Sie, von niemand und nichts! Ich habe vorhin im Delirium gesprochen; erdreisten Sie sich nicht zu triumphieren!... Ich verfluche Sie alle ein für allemal!« Hier ging ihm die Luft völlig aus. »Er schämt sich seiner Tränen!« flüsterte Lebedew der Generalin zu. »›So mußte es kommen!‹ Ja, ja, der Fürst! Der hat in seiner Seele gelesen...« Aber Lisaweta Prokofjewna würdigte ihn keines Blickes. Sie stand stolz aufgerichtet mit zurückgeworfenem Kopf da und betrachtete mit geringschätziger Neugier »diese Jammermenschen«. Als Ippolit schwieg, zuckte der General die Schultern, aber seine Frau sah ihn zornig vom Kopf bis zu den Füßen an, als wollte sie ihn wegen dieser Bewegung zur Rechenschaft ziehen, und wandte sich sogleich zum Fürsten. »Ich danke Ihnen, Fürst, Sie exzentrischer Freund unseres Hauses, für den angenehmen Abend, den Sie uns allen bereitet haben. Gewiß sind Sie jetzt im Herzen froh darüber, daß es Ihnen gelungen ist, auch uns in Ihre Dummheiten zu verwickeln... Machen wir Schluß, lieber Freund unseres Hauses; ich danke Ihnen, daß Sie uns Gelegenheit gegeben haben, wenigstens Sie genau kennenzulernen!...« Mit allen Zeichen des Unwillens brachte sie ihre Mantille in Ordnung und wartete darauf, daß »jene da« aufbrächen. Für »jene da« fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor, die Doktorenko schon vor einer Viertelstunde durch Lebedews Sohn, den Gymnasiasten, hatte holen lassen. Der General fügte dem, was seine Gattin gesagt hatte, sofort auch seinerseits ein Wort hinzu. »In der Tat, Fürst, ich hätte nicht erwartet... nach allem... nach all den freundschaftlichen Beziehungen... und schließlich hat Lisaweta Prokofjewna...« »Aber wie ist es nur möglich, wie ist es nur möglich!« rief Adelaida, indem sie schnell an den Fürsten herantrat und ihm die Hand reichte. Der Fürst lächelte sie mit verwirrter Miene an. Plötzlich drang ein erregtes, hastiges Flüstern an sein Ohr. »Wenn Sie nicht augenblicklich den Verkehr mit diesen garstigen Menschen abbrechen, werde ich Sie mein Leben lang, mein ganzes Leben lang hassen«, flüsterte Aglaja. Sie war ganz außer sich vor Empörung; aber sie wandte sich ab, ehe der Fürst Zeit fand, sie anzusehen. Übrigens hatte er zu einem Abbruch des Verkehrs keine Möglichkeit mehr: der kranke Ippolit war mittlerweile, so gut es ging, in die Droschke gepackt worden, und diese fuhr gerade ab. »Nun, wird das noch lange dauern, Iwan Fjodorowitsch? Wie denken Sie darüber? Werde ich noch lange von diesen bösen Buben zu leiden haben?« »Ja, liebe Frau, ich... ich bin natürlich bereit, und... der Fürst...« Iwan Fjodorowitsch streckte dennoch dem Fürsten die Hand hin, lief aber, ohne daß es zu einem Händedruck gekommen wäre, hinter Lisaweta Prokofjewna her, die geräuschvoll und zornig die Stufen vor der Veranda hinunterstieg. Adelaida, ihr Bräutigam und Alexandra verabschiedeten sich freundlich und herzlich vom Fürsten. Jewgenij Pawlowitsch machte es ebenso; er war der einzige, der sich in heiterer Stimmung befand. »Es ist so gegangen, wie ich es mir gedacht hatte! Nur schade, daß auch Sie Armer dabei zu leiden gehabt haben!« flüsterte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln. Aglaja ging weg, ohne sich zu verabschieden. Aber die Ereignisse dieses Abends waren damit noch nicht zu ihrem Ende gelangt; Lisaweta Prokofjewna sollte noch eine höchst unerwartete Begegnung erleben. Sie war noch nicht ganz die Stufen nach dem Weg, der sich um den Park herumzog, hinuntergestiegen, als eine elegante Equipage, eine mit zwei Schimmeln bespannte Kalesche, am Landhaus des Fürsten vorbeirollte. In dem Wagen saßen zwei schöngekleidete Damen. Aber als der Wagen kaum zehn Schritte vorbeigefahren war, hielt er plötzlich an; eine der Damen wendete sich schnell um, als ob sie plötzlich einen Bekannten erblickt hätte, mit dem sie notwendig sprechen müßte. »Jewgenij Pawlytsch! Bist du es?« rief eine wohl tönende, helle Stimme, bei deren Klang der Fürst und vielleicht sonst noch jemand zusammenfuhr. »Wie freue ich mich, daß ich dich endlich gefunden habe! Ich hatte einen expressen Boten an dich nach der Stadt geschickt und dann einen zweiten! Den ganzen Tag haben sie dich gesucht!« Jewgenij Pawlowitsch stand auf den Treppenstufen wie vom Donner gerührt. Lisaweta Prokofjewna war ebenfalls stehengeblieben, aber nicht in starrem Schreck wie Jewgenij Pawlowitsch; sie schaute die dreiste Dame ebenso stolz und mit derselben kalten Verachtung an wie fünf Minuten vorher die » Jammermenschen« und wandte dann ihren forschenden Blick sofort nach Jewgenij Pawlowitsch. »Eine Neuigkeit!« fuhr die helle Stimme fort. »Wegen der Kupferschen Wechsel kannst du unbesorgt sein; Rogoshin hat sie für dreißigtausend Rubel aufgekauft; ich habe ihn dazu überredet. Wenigstens für drei Monate kannst du beruhigt sein. Und mit Biskup und dieser ganzen Bande werden wir uns gewiß einigen, auf Grund unserer alten Bekanntschaft! Nun, du siehst also, es steht alles gut. Freue dich! Bis morgen!« Die Equipage setzte sich wieder in Bewegung und verschwand schnell. »Das ist eine Irrsinnige!« rief Jewgenij Pawlowitsch endlich; er war vor Entrüstung ganz rot geworden und blickte erstaunt rings um sich. »Ich verstehe kein Wort von dem, was sie gesagt hat! Was sollen das für Wechsel sein? Wer ist die Person?« Lisaweta Prokofjewna sah ihn noch ein paar Sekunden an; dann drehte sie sich kurz um und ging schnell nach ihrem Landhaus; die andern folgten ihr. Einen Augenblick darauf kehrte Jewgenij Pawlowitsch in großer Aufregung wieder zu dem Fürsten in die Veranda zurück. »Fürst, sagen Sie mir die Wahrheit: wissen Sie nicht, was das zu bedeuten hat?« »Ich weiß nichts davon«, antwortete der Fürst, der sich ebenfalls in einer ungewöhnlichen und krankhaften Aufregung befand. »Nein?« »Nein.« »Und ich weiß auch nichts davon«, sagte Jewgenij Pawlowitsch, plötzlich auflachend. »Bei Gott, ich habe mit diesen Wechseln nichts zu schaffen; glauben Sie meinem Ehrenwort!... Aber was ist mit Ihnen? Fallen Sie in Ohnmacht?« »O nein, nein, ich versichere Ihnen, es ist nichts...« XI Erst am dritten Tage erbarmten Jepantschins sich des Fürsten und verziehen ihm vollständig. Obgleich der Fürst sich nach seiner Gewohnheit viel Schuld beimaß und in vollem Ernst eine Strafe erwartete, so war er doch von vornherein innerlich völlig davon überzeugt, daß Lisaweta Prokofjewna ihm nicht allzusehr zürnen konnte und in der Hauptsache nur auf sich selbst böse war. Daher war er am dritten Tage durch die unerwartet lange Dauer der Feindschaft in eine sehr trübe, ratlose Stimmung versetzt. Dazu hatten auch noch andere Umstände beigetragen, und einer von ihnen in besonders hohem Grade. Dieser eine Umstand hatte während der drei Tage für ihn infolge seines mißtrauischen Wesens immer mehr an Bedeutung gewonnen. (Der Fürst beschuldigte sich nämlich seit einiger Zeit zweier fehlerhafter Extreme: einer übermäßigen »sinnlosen, aufdringlichen« Zutraulichkeit und gleichzeitig eines »finsteren, unwürdigen« Mißtrauens.) Kurz, am Ende des dritten Tages hatte das Erlebnis mit der exzentrischen Dame, die aus ihrer Kutsche mit Jewgenij Pawlowitsch gesprochen hatte, in seinem Kopf ganz rätselhafte, beängstigende Dimensionen angenommen. Der Kernpunkt des Rätsels, abgesehen von anderen Seiten der Angelegenheit, bestand für den Fürsten in der betrüblichen Frage, ob er auch an dieser neuen »Ungeheuerlichkeit« schuld sei oder nur... Aber er ließ unausgesprochen, wer dabei noch m Betracht kam. Was die Buchstaben N. F. B. anlangte, so war das nach seiner Anschauung nur unschuldiger Mutwille, rein kindlicher Mutwille, so daß es ihm lächerlich und in gewisser Hinsicht sogar unehrenhaft erschien, darüber länger nachzudenken. Gleich am ersten Tage nach dem häßlichen Abend, an dessen ungehörigen Vorgängen er die »Hauptschuld« trug, hatte der Fürst am Vormittag das Vergnügen, den Fürsten Schtsch. und Adelaida in seiner Wohnung zu empfangen: sie waren nach ihrer Angabe hauptsächlich gekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und zwar befanden sie sich auf einem Spaziergange zu zweien. Adelaida hatte soeben im Park einen Baum bemerkt, einen wundervollen alten Baum, mit langen, gekrümmten Ästen, ganz mit jungem, grünem Laub bedeckt, mit einer Höhlung und einem Spalt; sie hatte sich fest, ganz fest vorgenommen, diesen Baum zu malen! So sprach sie denn die ganze halbe Stunde, die ihr Besuch dauerte, fast nur hiervon. Fürst Schtsch. war wie gewöhnlich nett und liebenswürdig, fragte den Fürsten nach weiter zurückliegenden Dingen und erwähnte einige Umstände aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft, so daß von den Ereignissen des vorhergehenden Tages fast gar nicht gesprochen wurde. Endlich konnte sich Adelaida nicht mehr beherrschen und gestand lächelnd, daß sie incognito hergekommen seien; aber damit war auch das Bekenntnis zu Ende, obwohl schon aus diesem incognito zu ersehen war, daß die Eltern, das heißt besonders Lisaweta Prokofjewna, sich in einer gewissen Mißstimmung befanden. Aber weder von ihr noch von Aglaja, noch selbst von Iwan Fjodorowitsch sagten Adelaida und Fürst Schtsch. bei ihrem Besuch ein Sterbenswörtchen. Als sie wieder fortgingen, um ihren Spaziergang fortzusetzen, luden sie den Fürsten nicht ein, sich ihnen anzuschließen. Eine Aufforderung, doch zu ihnen in ihre Wohnung zu kommen, fand auch nicht einmal andeutungsweise statt; in dieser Hinsicht ließ sich Adelaida sogar eine sehr bezeichnende Wendung entschlüpfen: sie erzählte von einem Aquarell, das sie gemalt hatte, und äußerte den lebhaften Wunsch, es dem Fürsten zu zeigen. »Wie könnten wir das nur möglichst bald machen? Warten Sie! Ich werde es Ihnen entweder heute noch durch Kolja schicken, wenn er zu uns kommen sollte, oder es morgen selbst herbringen, wenn ich wieder mit dem Fürsten spazierengehe«, so erledigte sie schließlich diese Schwierigkeit, erfreut, daß es ihr gelungen war, diese Aufgabe in einer so geschickten und für alle Beteiligten bequemen Weise zu lösen. Endlich, als sie sich schon empfahlen, fragte Fürst Schtsch., als ob ihm das plötzlich einfiele: »Ach ja, wissen Sie vielleicht, lieber Lew Nikolajewitsch, was das für eine Person war, die gestern unsern Jewgenij Pawlytsch aus dem Wagen anrief?« »Das war Nastasja Filippowna«, antwortete der Fürst. »Haben Sie denn noch nicht erfahren, daß sie es war? Aber wer ihre Begleiterin war, das weiß ich nicht.« »Ja, ja, ich habe es gehört!« sagte Fürst Schtsch. »Aber was bedeutete das, was sie ihm zurief? Ich muß gestehen, das ist mir ein reines Rätsel... mir und den andern.« Fürst Schtsch. sprach mit außerordentlicher, offensichtlicher Verwunderung. »Sie hat von Wechseln Jewgenij Pawlowitschs gesprochen«, erwiderte der Fürst schlicht, »die Rogoshin auf ihre Bitte von einem Wucherer erworben habe, und hat gesagt, Rogoshin werde mit Jewgenij Pawlowitsch Geduld haben.« »Das habe ich gehört, das habe ich gehört, mein teurer Fürst, aber das ist ja doch unmöglich! Jewgenij Pawlowitsch hat keine Wechsel ausgestellt, das ist unmöglich! Bei einem solchen Vermögen... Allerdings ist es ihm früher einmal aus Leichtsinn begegnet, und ich habe ihm sogar selbst aus der Klemme geholfen... Aber bei einem solchen Vermögen einem Wucherer Wechsel auszustellen und sich deswegen zu beunruhigen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch kann er sich nicht mit Nastasja Filippowna duzen und in solchen freundschaftlichen Beziehungen zu ihr stehen – das ist das allergrößte Rätsel. Er schwört, er verstehe von der ganzen Geschichte gar nichts, und ich glaube ihm vollkommen. Aber ich wollte doch auch Sie, lieber Fürst, fragen, ob Sie vielleicht etwas davon wissen. Ich meine: ist vielleicht durch irgendeinen wunderlichen Zufall ein Gerücht zu Ihren Ohren gelangt?« »Nein, ich weiß nichts, und ich versichere Ihnen, daß ich an der Sache in keiner Weise beteiligt bin.« »Ach, wie wunderlich reden Sie da, Fürst! Ich erkenne Sie heute gar nicht wieder! Konnte ich denn überhaupt auf den Gedanken kommen, daß Sie an einer derartigen Sache beteiligt seien?... Na, Sie sind heute angegriffen.« Er umarmte und küßte ihn. »Was meinen Sie denn mit ›an einer derartigen Sache beteiligt‹? Ich sehe hier keine ›derartige‹ Sache.« »Ohne Zweifel beabsichtigte diese Person, unserm Jewgenij Pawlowitsch irgendwie und bei irgend etwas dadurch hinderlich zu sein, daß sie ihm vor Zeugen Eigenschaften beilegte, die er nicht besitzt und nicht besitzen kann«, versetzte Fürst Schtsch. in ziemlich trockenem Ton. Fürst Lew Nikolajewitsch wurde verlegen, fuhr aber doch fort, den Fürsten Schtsch. unverwandt und fragend anzusehen, aber dieser schwieg. »Könnten es nicht doch einfach Wechsel sein? Könnte es sich nicht buchstäblich so verhalten, wie gestern gesagt wurde?« murmelte Fürst Myschkin endlich wie ungeduldig. »Aber ich bitte Sie, sagen Sie selbst: was kann es zwischen Jewgenij Pawlytsch und... ihr Gemeinsames geben, obendrein wenn dabei noch Rogoshin im Spiel ist? Ich wiederhole Ihnen: er besitzt ein kolossales Vermögen, wie mir ganz genau bekannt ist, und ein zweites Vermögen hat er von seinem Onkel zu erwarten. Nastasja Filippowna hat einfach...« Fürst Schtsch. verstummte plötzlich wieder, augenscheinlich, weil er dem Fürsten Myschkin nichts weiter über Nastasja Filippowna sagen mochte. »Jedenfalls ist sie doch mit ihm bekannt?« fragte plötzlich Fürst Lew Nikolajewitsch nach kurzem Stillschweigen. »Es scheint allerdings, daß das einmal der Fall gewesen ist; er ist ein Windhund! Wenn es übrigens so gewesen ist, dann ist es schon lange her; es müßte in früherer Zeit gewesen sein, vor zwei, drei Jahren. Er war ja noch mit Tozkij bekannt. Jetzt aber kann nichts von der Art vorliegen, und ›du‹ können sie niemals zueinander gesagt haben! Sie wissen ja selbst, daß auch sie die ganze Zeit nicht hier gewesen ist und ihr Aufenthaltsort unbekannt war. Viele wissen auch jetzt noch nicht, daß sie wieder hier erschienen ist. Ich habe ihre Equipage vor drei Tagen zum erstenmal gesehen.« »Eine prächtige Equipage!« bemerkte Adelaida. »Ja, wundervoll!« Beide brachten übrigens beim Fortgehen dem Fürsten Lew Nikolajewitsch ihre durchaus freundschaftliche, ja sozusagen geschwisterliche Gesinnung zum Ausdruck. Aber für unseren Helden war dieser Besuch von geradezu entscheidender Bedeutung. Allerdings hatte er auch selbst, schon seit dem vorhergehenden Abend (vielleicht auch schon noch früher), gar vieles geargwöhnt, aber bis zu diesem Besuch hatte er sich nicht dazu entschließen mögen, seine Befürchtungen für begründet zu halten. Jetzt aber war alles klargeworden; Fürst Schtsch. deutete den Vorfall gewiß irrig, kam jedoch insofern der Wahrheit nahe, als er begriff, daß es sich hier um eine Intrige handelte. (›Übrigens‹, dachte der Fürst, ›faßt er die Sache vielleicht im stillen ganz richtig auf, will es aber nicht aussprechen und deutet sie darum absichtlich irrig.‹) Am allerklarsten war, daß die beiden (besonders Fürst Schtsch.) jetzt zu ihm gekommen waren, weil sie gehofft hatten, von ihm irgendwelche Aufklärungen zu erlangen; wenn dem so war, so meinten sie offenbar, er sei an der Intrige mitbeteiligt. Wenn sich ferner all dies so verhielt und von solcher Wichtigkeit war, so mußte sie irgendein furchtbares Ziel im Auge haben; aber was war das für ein Ziel? Entsetzlich! ›Und wie soll man sie aufhalten? Sie aufzuhalten gibt es keine Möglichkeit, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat!‹ Das wußte der Fürst aus Erfahrung. ›Sie ist eine Irrsinnige, eine Irrsinnige!‹ Aber es kamen an diesem Morgen noch eine Menge anderer schwieriger Fragen hinzu, die alle gleichzeitig auf ihn einstürmten und sofortige Entscheidung verlangten, so daß der Fürst in recht trübe Stimmung geriet. Ein wenig Zerstreuung verschaffte ihm Wera Lebedewa, die mit der kleinen Ljubotschka auf dem Arm zu ihm kam und ihm unter vielem Lachen längere Zeit etwas erzählte. Ihr folgte ihre Schwester, die immer den Mund so weit aufriß, und beiden folgte dann Lebedews Sohn, der Gymnasiast, der versicherte, der »Wermutstern« in der Apokalypse, der auf die Wasserquellen der Erde gefallen sei, sei nach der Deutung seines Vaters das Eisenbahnnetz, welches Europa bedecke. Der Fürst glaubte nicht recht, daß Lebedew es so erklärt habe, und sie nahmen sich vor, ihn selbst bei der ersten passenden Gelegenheit danach zu fragen. Von Wera Lebedewa erfuhr der Fürst, daß Keller sich bei ihnen seit gestern einquartiert habe und, nach allen Anzeichen zu urteilen, so bald nicht wieder fortgehen werde, denn er habe hier an General Iwolgin Gesellschaft gefunden und mit ihm Freundschaft geschlossen; er habe übrigens erklärt, er bleibe einzig und allein, um seine Bildung zu vervollständigen. Überhaupt gefielen Lebedews Kinder dem Fürsten von Tag zu Tag mehr. Kolja war den ganzen Tag nicht anwesend; er hatte sich ganz früh am Morgen nach Petersburg begeben. (Auch Lebedew war beim Morgengrauen in eigenen Geschäften weggefahren.) Aber der Fürst wartete ungeduldig auf einen Besuch Gawrila Ardalionowitschs, der unbedingt heute bei ihm vorsprechen mußte. Er kam zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags, gleich nach Tisch. Sowie der Fürst ihn erblickte, kam ihm der Gedanke, wenn jemand, so müsse dieser Herr den ganzen Zusammenhang haarklein und ohne Entstellung kennen; es sei ja gar nicht anders möglich, da er solche Gehilfen wie Warwara Ardalionowna und ihren Mann habe. Aber das Verhältnis des Fürsten zu Ganja war von ganz besonderer Art. Der Fürst hatte ihm zum Beispiel die Erledigung der Burdowskijschen Angelegenheit anvertraut und ihn dringend darum gebeten; aber ungeachtet des ihm hierbei bezeigten Vertrauens und trotz manchem, was vorhergegangen war, blieben zwischen ihnen beiden doch immer noch gewisse Punkte bestehen, über die sie wie nach Vereinbarung nicht miteinander sprachen. Es schien dem Fürsten manchmal, daß Ganja vielleicht seinerseits den Wunsch hegte, es möge doch zwischen ihnen beiden die vollste, freundschaftlichste Aufrichtigkeit herrschen; jetzt zum Beispiel, unmittelbar nach Ganjas Eintritt, hatte der Fürst den Eindruck, als sei Ganja der bestimmten Überzeugung, in diesem Augenblick müsse notwendigerweise zwischen ihnen in allen Punkten das Eis brechen. (Gawrila Ardalionowitsch hatte es jedoch eilig; in Lebedews Wohnung erwartete ihn seine Schwester; sie hatten beide zusammen eine dringende geschäftliche Besorgung vor.) Aber wenn Ganja wirklich eine ganze Reihe ungeduldiger Fragen, freiwilliger Mitteilungen und freundschaftlicher Herzensergießungen erwartet haben sollte, so hatte er sich natürlich sehr geirrt. Während der ganzen zwanzig Minuten, die sein Besuch dauerte, war der Fürst in Gedanken versunken und unaufmerksam, und es fiel ihm gar nicht ein, die vielen Fragen oder, richtiger gesagt, die eine wichtige Frage zu stellen, auf die Ganja wartete. Da entschied sich auch Ganja dafür, mit größter Zurückhaltung zu sprechen. Er erzählte die ganzen zwanzig Minuten, ohne eine Pause eintreten zu lassen, dieses und jenes, lachte, führte eine leichte, nette, muntere Konversation, berührte aber nicht den Hauptpunkt. Ganja berichtete unter anderm, Nastasja Filippowna sei erst seit vier Tagen hier in Pawlowsk, ziehe aber bereits die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wohne in der Matrosskaja-Straße in einem kleinen unförmigen Häuschen bei Darja Alexejewna, habe aber beinah die feinste Equipage in ganz Pawlowsk. Es habe sich bereits eine ganze Schar alter und junger Verehrer um sie gesammelt; ihre Equipage werde manchmal von Reitern begleitet. Nastasja Filippowna sei, wie in früheren Zeiten, sehr wählerisch und gestatte nur einer Auslese, sich ihr zu nähern. Dennoch aber habe sich um sie eine ganze Leibgarde gebildet, auf deren Schutz sie sich im Notfall verlassen könne. Ein Verlobter unter den Sommerfrischlern sei bereits um ihretwillen mit seiner Braut zerfallen; ein alter General habe beinah seinen Sohn verflucht. Sie nehme auf ihren Spazierfahrten oft ein reizendes, eben erst sechzehnjähriges Mädchen mit, eine entfernte Verwandte Darja Alexejewnas; dieses Mädchen singe wunderschön, so daß abends ihr Häuschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Nastasja Filippowna benehme sich übrigens höchst anständig; sie kleide sich nicht luxuriös, aber außerordentlich geschmackvoll, und alle Damen seien wegen ihres Geschmacks, ihrer Schönheit und ihrer Equipage auf sie neidisch. »Ihr gestriges auffälliges Benehmen«, verplapperte sich Ganja, »war natürlich vorher überlegt und darf selbstverständlich nicht in Rechnung gestellt werden. Um ihr etwas am Zeuge zu flicken, müßte man sie schon absichtlich belauern oder verleumden, was übrigens nicht lange ausbleiben wird«, schloß Ganja und erwartete nun, daß der Fürst jetzt unbedingt fragen werde, warum er ihr gestriges Verhalten ein vorher überlegtes nenne und warum die Verleumdung nicht lange ausbleiben werde. Aber der Fürst stellte diese Fragen nicht. Über Jewgenij Pawlowitsch ließ sich Ganja von selbst, ohne danach gefragt zu sein, ausführlich aus, was sehr sonderbar war, da er ohne jeden äußeren Anlaß das Gespräch auf ihn brachte. Nach Gawrila Ardalionowitschs Ansicht hatte Jewgenij Pawlowitsch Nastasja Filippowna früher nicht gekannt; er kenne sie auch jetzt kaum und nur daher, daß er ihr vor vier Tagen durch irgend jemand auf dem Spaziergang vorgestellt sei; er sei aber schwerlich mit den andern auch nur ein einziges Mal bei ihr im Hause gewesen. Was die Wechsel anlange, so sei die Sache allerdings möglich (hierüber glaubte Ganja sogar Zuverlässiges zu wissen); Jewgenij Pawlowitsch besitze freilich ein großes Vermögen, aber manches auf seinem Gut sei tatsächlich in Unordnung. Bei diesem interessanten Punkt brach Ganja plötzlich ab. Über Nastasja Filippownas auffälliges Benehmen vom vorhergehenden Tag sagte er kein Wort außer der flüchtigen Bemerkung, die ihm vorher entschlüpft war. Endlich kam Warwara Ardalionowna, um Ganja abzuholen; sie blieb einen Augenblick da, teilte (ebenfalls ungefragt) mit, daß Jewgenij Pawlowitsch sich heute und vielleicht auch morgen in Petersburg aufhalten werde, daß ihr Mann (Iwan Petrowitsch Ptizyn) gleichfalls in Petersburg sei, und zwar fast ausschließlich in geschäftlichen Angelegenheiten Jewgenij Pawlowitschs, und daß da wirklich etwas passiert sein müsse. Beim Weggehen fügte sie hinzu, Lisaweta Prokofjewna befinde sich heute in einer gräßlichen Stimmung; aber, was das Seltsamste sei, Aglaja habe sich mit der ganzen Familie überworfen, nicht nur mit dem Vater und der Mutter, sondern sogar mit ihren beiden Schwestern, und das sei »ganz und gar nicht schön von ihr«. Nachdem sie, anscheinend nur so beiläufig, dem Fürsten diese letzte (für ihn überaus bedeutsame) Mitteilung gemacht hatte, entfernten sich Bruder und Schwester. Der Geschichte mit »Pawlischtschews Sohn« hatte Ganja mit keinem Wort Erwähnung getan, vielleicht aus falscher Bescheidenheit oder auch, »um die Gefühle des Fürsten zu schonen«, aber der Fürst sprach ihm doch noch einmal für die sorgsame Erledigung der Angelegenheit seinen Dank aus. Der Fürst war sehr froh, daß sie ihn endlich allein gelassen hatten; er stieg von der Veranda hinab, schritt quer über den Weg und ging in den Park hinein; er wollte nachdenken und über einen wichtigen Schritt ins klare kommen. Aber dieser »Schritt« war nicht einer von denen, die man überlegt, sondern zu denen man sich ohne Überlegung einfach entschließt: es hatte ihn auf einmal ein heftiges Verlangen ergriffen, alles, was ihn hier umgab, zu verlassen, dahin zurückzukehren, von wo er gekommen war, irgendwohin, recht weit weg, in die Einsamkeit zu fahren, und zwar sofort, ohne auch nur von jemand Abschied zu nehmen. Er sah vorher, daß, wenn er hier auch nur noch ein paar Tage bliebe, er mit Sicherheit unwiederbringlich in diese Welt werde hineingezogen werden, und daß es dann künftig sein Los sein werde, ganz in ihr aufzugehen. Aber er hatte noch nicht zehn Minuten darüber nachgedacht, als er zu der Einsicht gelangte, daß es unzulässig sei, so davonzulaufen, daß das Kleinmut sein würde, daß ihm Aufgaben gestellt seien, deren Erfüllung abzulehnen er jetzt in keiner Weise berechtigt sei, daß er sich jedenfalls nicht weigern dürfe, zu ihrer Erfüllung all seine Kräfte anzustrengen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte er nach Hause zurück, nachdem er kaum eine Viertelstunde spazierengegangen war. Er fühlte sich in diesem Augenblick tief unglücklich. Lebedew war immer noch nicht zu Hause, so daß gegen Abend Keller die Gelegenheit benutzte, zum Fürsten einzudringen; er war zwar nicht betrunken, aber sehr zu Herzensergießungen und Bekenntnissen geneigt. Er erklärte geradeheraus, er sei gekommen, um dem Fürsten sein ganzes Leben zu erzählen, und sei speziell zu diesem Zweck in Pawlowsk geblieben. Ihn hinauszujagen, war schlechterdings unmöglich: er wäre unter keinen Umständen gegangen. Keller setzte zu einer sehr langen, sehr abgeschmackten Erzählung an, sprang aber gleich von den ersten Worten zum Schluß hinüber, indem er erklärte, er habe dermaßen »jeden Schatten von Moralität« verloren (einzig und allein infolge mangelnden Glaubens an die Existenz Gottes), daß er sogar gestohlen habe. »Können Sie sich das vorstellen?« »Hören Sie mal, Keller, ich würde das an Ihrer Stelle ohne besondere Not lieber nicht bekennen«, erwiderte der Fürst. »Aber vielleicht wollen Sie sich absichtlich verleumden?« »Ihnen, einzig und allein Ihnen sage ich es, und einzig und allein um meine sittliche Entwicklung zu fördern. Keinem andern werde ich es sagen, ich werde mein Geheimnis, wenn ich sterbe, in meinem Totenhemd mitnehmen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, wenn Sie nur wüßten, wie schwer es in unserer Zeit ist, Geld zu bekommen! Woher soll unsereiner welches nehmen, wenn Sie mir die Frage gestatten wollen. Ich bekam immer ein und dieselbe Antwort: ›Bringen Sie uns Goldsachen und Brillanten als Pfand, dann werden wir Ihnen Geld geben.‹ Aber das waren gerade die Dinge, die ich nicht hatte. Können Sie sich so etwas vorstellen? Ich wurde schließlich ärgerlich, ich stand da und zauderte. ›Geben Sie auch für Smaragde Geld?‹ fragte ich. – ›Ja, auch für Smaragde‹, antwortete er. – ›Nun, das ist ja vorzüglich!‹ erwiderte ich, setzte meinen Hut auf und ging weg; hol euch der Teufel, ihr nichtswürdigen Schurken!« »Hatten Sie denn Smaragde?« »Woher hätte ich denn Smaragde haben sollen? O Fürst, was haben Sie noch für eine sonnige, unschuldige, ja sozusagen idyllische Lebensanschauung!« Es kam schließlich so weit, daß der Fürst ihn weniger bemitleidete, als vielmehr sich für ihn schämte. Es ging ihm sogar der Gedanke durch den Kopf: ›Könnte nicht aus diesem Menschen noch etwas Ordentliches werden, wenn jemand einen guten Einfluß auf ihn ausübte?‹ Seinen eigenen Einfluß hielt er aus gewissen Gründen für sehr ungeeignet, nicht weil er von sich selbst zu gering gedacht hätte, sondern wegen seiner besonderen Art, die Dinge anzuschauen. Allmählich kamen sie beide so eifrig ins Gespräch, daß sie sich gar nicht mehr voneinander trennen mochten. Keller bekannte mit seltener Offenherzigkeit von sich Dinge, bei denen man nicht begreifen konnte, wie jemand es fertigbrachte, sie zu erzählen. Jedesmal, wenn er sich zu einer solchen Erzählung anschickte, versicherte er hoch und teuer, er empfinde Reue und sei »innerlich voll Tränen«, aber trotzdem erzählte er in einer Weise, als sei er auf sein Verhalten stolz, und zugleich manchmal so komisch, daß er und der Fürst schließlich wie die Wahnsinnigen lachten. »Die Hauptsache ist, daß Sie sich eine kindliche Zutraulichkeit und eine große Aufrichtigkeit bewahrt haben«, sagte der Fürst endlich. »Wissen Sie, daß Sie schon allein dadurch sehr vieles wiedergutmachen?« »Ja, ich bin ein edler Mensch, ein edler Mensch, ein ritterlich edler Mensch!« bestätigte Keller gerührt. »Aber wissen Sie, Fürst, das bin ich immer nur, wenn ich mich so meinen Phantasien überlasse und sozusagen besondere Courage habe, in Wirklichkeit wird nie etwas daraus! Wie geht das nur zu? Mir ist das unbegreiflich.« »Verzweifeln Sie nicht! Man kann jetzt mit Bestimmtheit sagen; daß Sie mir Ihr ganzes Inneres gezeigt haben; wenigstens scheint mir, daß es unmöglich ist, zu dem, was Sie erzählt haben, noch etwas hinzuzufügen, nicht wahr?« »Unmöglich?!« rief Keller gewissermaßen mitleidig. »O Fürst, wie schweizermäßig, wenn ich mich so ausdrücken darf, beurteilen Sie den Menschen noch!« »Sollte es wirklich möglich sein, noch etwas hinzuzufügen?« erwiderte der Fürst mit schüchternem Erstaunen. »Also nun sagen Sie bitte, Keller, was Sie eigentlich von mir wollten und warum Sie mit Ihrer Beichte zu mir gekommen sind!« »Was ich wollte? Von Ihnen wollte? Erstens ist es schon allein ein Vergnügen, Ihre Herzenseinfalt anzusehen; es ist ein Vergnügen, so mit Ihnen zu sitzen und zu plaudern; ich weiß wenigstens, daß ich einen höchst tugendhaften Menschen vor mir habe. Und zweitens... zweitens...« Er stockte. »Vielleicht wollten Sie Geld von mir leihen?« half ihm der Fürst in ganz ernstem, schlichtem, ja sogar etwas schüchternem Ton. Keller fuhr ordentlich zusammen; schnell und immer noch erstaunt blickte er dem Fürsten gerade in die Augen und schlug kräftig mit der Faust auf den Tisch. »Na, Sie bringen einen ja ganz und gar aus der Fassung! Ich bitte Sie, Fürst: einerseits diese Herzenseinfalt und Harmlosigkeit, wie sie selbst im Goldenen Zeitalter unerhört wäre, und andrerseits durchschauen Sie einen gleichzeitig, wie wenn man von Glas wäre, durch und durch, mit der feinsten psychologischen Beobachtungsgabe! Aber erlauben Sie, Fürst, das bedarf einer Erklärung, da ich... ich bin ganz in Verwirrung geraten! Allerdings hatte ich die Absicht, mir zu guter Letzt von Ihnen Geld zu leihen; aber nun haben Sie mich danach in einer Weise gefragt, als fänden Sie darin nichts Tadelnswertes, als müßte das so sein.« »Ja... bei Ihnen muß das auch so sein.« »Und Sie sind darüber nicht entrüstet?« »Worüber sollte ich entrüstet sein?« »Hören Sie mal, Fürst, ich bin seit gestern abend hiergeblieben, erstens aus besonderer Hochachtung gegen den französischen Erzbischof Bourdaloue, Jesuit, bekannt als Kanzelredner und Beichtvater, 1632-1704. von dem Lebedew erzählte (wir haben in Lebedews Wohnung bis drei Uhr morgens eine Flasche nach der andern entkorkt), und zweitens und hauptsächlich (ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist, daß ich die reine Wahrheit sage), weil ich Ihnen eine vollständige, aufrichtige Beichte ablegen und dadurch sozusagen meine eigene sittliche Entwicklung fördern wollte; mit diesem Gedanken schlief ich zwischen drei und vier Uhr tränenüberströmt ein. Werden Sie das nun einem höchst edel denkenden Menschen glauben: in demselben Augenblick, als ich einschlief, aufrichtig erfüllt von inneren und sozusagen auch äußeren Tränen (denn ich schluchzte zuletzt, wie ich mich recht wohl erinnere), in demselben Augenblick kam mir ein teuflischer Gedanke: ›Wie wär's? Könnte ich nicht zu guter Letzt, nach der Beichte, mir Geld von ihm leihen?‹ Auf diese Weise machte ich meine Beichte zurecht, um mich so auszudrücken, wie ein ragoût fin mit Tränen, in der Absicht, mir mit diesen Tränen den Weg zu bahnen und, wenn Sie sich dann geschmeichelt fühlten, mir von Ihnen hundertfünfzig Rubelchen auszahlen zu lassen. Meinen Sie nicht, daß das eine Gemeinheit ist?« »Aber so ist das doch gewiß nicht wahr, sondern es ist nur einfach eins zum andern hinzugekommen. Zwei Gedanken sind zusammengetroffen, das kommt sehr oft vor. Mir begegnet das fortwährend. Ich glaube übrigens, daß das nicht schön ist, und wissen Sie, Keller, ich mache mir deswegen die größten Vorwürfe. Mir war, als ob Sie mir mich selbst schilderten. Manchmal habe ich sogar gedacht«, fuhr der Fürst sehr ernst und mit aufrichtigem, starkem Interesse fort, »daß alle Menschen von dieser Art sind, und wollte dann schon anfangen, mir Mut zu machen, denn gegen diese doppelten Gedanken anzukämpfen, ist furchtbar schwer; ich weiß es aus Erfahrung. Gott weiß, woher sie kommen und wie sie entstehen. Aber da nennen Sie das nun geradezu eine Gemeinheit! Jetzt werde auch ich wieder anfangen, mich vor diesen Gedanken zu fürchten. Jedenfalls steht es mir nicht zu, Sie zu verdammen. Aber man darf das doch meiner Ansicht nach nicht so geradezu eine Gemeinheit nennen, meinen Sie nicht auch? Sie haben sich einer List bedient, um durch Tränen Geld von mir herauszulocken, aber dabei schwören Sie doch selbst, daß Ihre Beichte noch einen andern Zweck hatte, einen edlen Zweck, nicht nur jenen pekuniären. Was aber das Geld anlangt, so wollen Sie es doch gewiß haben, um es zu verzechen, nicht? Das ist nach einer solchen Beichte selbstverständlich eine Kleinmütigkeit. Wie aber soll man auch noch die Neigung zum Trinken so im Handumdrehen ablegen? Das ist ja unmöglich. Was ist da zu tun? Das beste ist wohl, wir stellen es Ihrem eigenen Gewissen anheim, meinen Sie nicht?« Der Fürst blickte Keller mit dem lebhaftesten Interesse an. Das Thema von den doppelten Gedanken hatte ihn offenbar schon lange beschäftigt. »Na, warum man Sie bei alledem einen Idioten nennt, das ist mir unverständlich!« rief Keller. Der Fürst errötete ein wenig. »Der Prediger Bourdaloue, der würde mit einem Menschen wie mir keine Nachsicht gehabt haben; aber Sie waren nachsichtig und haben mich menschlich gerichtet! Um mich zu bestrafen und um zu zeigen, daß ich gerührt bin, verzichte ich jetzt auf die hundertfünfzig Rubel; geben Sie mir nur fünfundzwanzig und damit basta! Mehr brauche ich nicht, wenigstens nicht für die nächsten zwei Wochen. Vor Ablauf von zwei Wochen werde ich nicht wieder um Geld zu Ihnen kommen. Ich wollte eigentlich meiner Agaschka etwas schenken, aber sie verdient es gar nicht. O lieber Fürst, Gott segne Sie!« Endlich kam Lebedew herein, der soeben zurückgekehrt war, und runzelte, als er in Kellers Händen den Fünfundzwanzigrubelschein erblickte, die Stirn. Aber kaum hatte Keller das Geld, beeilte er sich wegzukommen und verschwand schleunigst. Lebedew begann sofort auf ihn zu schimpfen. »Sie sind ungerecht«, bemerkte der Fürst endlich. »Er bereute wirklich aufrichtig.« »Aber was hat die Reue für einen Wert! Das ist gerade, wie ich gestern sagte: ›Ich bin ein gemeiner Mensch, ich bin ein gemeiner Mensch!‹ Das sind doch bloße Worte!« »Also bei Ihnen waren es bloße Worte? Ich dachte schon ...« »Na, Ihnen, Ihnen allein will ich die Wahrheit sagen, weil Sie ja doch einen Menschen ganz durchschauen: die Worte und das Tun, die Lüge und die Wahrheit, das ist alles zusammen in mir enthalten und ist alles vollkommen aufrichtig. Die Wahrheit und das Tun bestehen bei mir in aufrichtiger Reue, ob Sie es nun glauben oder nicht, ich kann's beschwören, und die Worte und die Lüge bestehen in dem teuflischen (immer gegenwärtigen) Gedanken, wie ich auch hierbei jemanden hinters Licht führen und durch die Reuetränen profitieren könnte! Bei Gott, so ist es! Einem andern würde ich es nicht sagen, er würde mich auslachen oder verachten; aber Sie, Fürst, Sie urteilen human.« »Nun, sehen Sie, das ist ganz genau dasselbe, was auch er mir soeben gesagt hat!« rief der Fürst. »Und beide rühmen Sie sich dessen gewissermaßen! Sie setzen mich beide in Erstaunen; nur ist er aufrichtiger als Sie; Sie aber haben die Sache zu einer Art von Gewerbe gemacht. Nun genug davon! Runzeln Sie nicht die Stirn, Lebedew, und legen Sie nicht die Hand aufs Herz! Haben Sie mir nichts zu sagen? Sie werden doch nicht ohne Zweck zur mir gekommen sein ...« Lebedew begann Grimassen zu schneiden und sich zu winden. »Ich habe den ganzen Tag auf Sie gewartet, um Ihnen eine Frage vorzulegen; sagen Sie nun wenigstens einmal in Ihrem Leben gleich bei den ersten Worten die Wahrheit: waren Sie an der gestrigen Geschichte mit der Equipage irgendwie beteiligt?« Lebedew schnitt wieder Grimassen und kicherte, rieb sich die Hände, nieste sogar zuletzt, konnte sich aber immer noch nicht dazu entschließen, etwas zu sagen. »Ich sehe Ihnen an, daß Sie daran beteiligt waren.« »Aber nur indirekt, durchaus nur indirekt! Ich sage die reine Wahrheit! Ich bin nur insofern daran beteiligt gewesen, als ich die betreffende Person rechtzeitig davon benachrichtigte, daß sich bei mir eine Gesellschaft zusammengefunden hatte und daß gewisse Leute anwesend waren.« »Ich weiß, daß Sie Ihren Sohn dorthin geschickt haben, er hat es mir selbst vorhin eingestanden; aber was hat diese ganze Intrige zu bedeuten?« rief der Fürst ungeduldig. »Es ist nicht meine Intrige, nicht meine Intrige«, wehrte Lebedew, lebhaft gestikulierend, ab. »Da stecken andere Leute dahinter, ganz andere Leute, und es ist auch eher sozusagen ein phantastischer Einfall als eine Intrige.« »Aber um was handelt es sich denn eigentlich? Das erklären Sie mir, um des Himmels willen! Begreifen Sie denn nicht, daß die Sache mich direkt angeht? Jewgenij Pawlowitsch wird ja dadurch angeschwärzt.« »Fürst! Durchlauchtigster Fürst!« erwiderte Lebedew, sich wieder hin und her krümmend. »Sie erlauben mir ja nicht, die ganze Wahrheit zu sagen; ich habe Ihnen ja schon früher eine wahrheitsgemäße Mitteilung machen wollen, sogar mehrmals; aber Sie gestatteten mir nicht fortzufahren...« Der Fürst schwieg ein Weilchen und überlegte. »Nun gut, sagen Sie die Wahrheit!« brachte er, offenbar nach schwerem Kampf, mühsam heraus. »Aglaja Iwanowna...«, begann Lebedew sofort. »Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief der Fürst grimmig; er war vor Empörung, vielleicht auch vor Scham, ganz rot geworden. »Das ist unmöglich, das ist Unsinn! Das haben Sie sich alles selbst ausgedacht oder Leute, die ebenso verrückt sind wie Sie. Ich will das nie wieder von Ihnen hören!« Spät am Abend, erst nach zehn Uhr, erschien Kolja mit einem ganzen Sack voll Nachrichten. Seine Nachrichten waren von zweierlei Art: Petersburger und Pawlowsker. Er erzählte zunächst rasch das Wichtigste aus Petersburg (namentlich von Ippolit und der Affäre vom vorhergehenden Tage), indem er sich vorbehielt, nachher noch einmal darauf zurückzukommen, und ging dann möglichst schnell zu den Pawlowsker Ereignissen über. Er war vor drei Stunden aus Petersburg zurückgekehrt und hatte sich, ohne zu dem Fürsten zu kommen, geradewegs zu Jepantschins begeben. »Da geht es schrecklich zu!« Vornean stehe natürlich die Geschichte mit der Kutsche; aber gewiß sei dort noch etwas anderes passiert, das ihm und dem Fürsten unbekannt sei. »Ich habe selbstverständlich nicht spioniert und wollte niemanden ausfragen; übrigens nahmen sie mich freundlich auf, so freundlich, wie ich es gar nicht erwartet hatte; aber Sie, Fürst, wurden mit keinem Wort erwähnt!« Das Wichtigste und Interessanteste sei, daß Aglaja sich vorhin mit den Ihrigen Ganjas wegen überworfen habe. Wie das im einzelnen zugegangen wäre, wisse er nicht, nur daß der Streit sich um Ganja gedreht habe (»stellen Sie sich so etwas vor!«) und daß sie heftig aneinandergeraten seien, also müsse der Grund ein wichtiger sein. Der General sei erst spät und in mürrischer Stimmung nach Hause gekommen, zusammen mit Jewgenij Pawlowitsch, den sie sehr gut aufgenommen hätten, und Jewgenij Pawlowitsch selbst sei erstaunlich heiter und liebenswürdig gewesen. Die allerwichtigste Neuigkeit aber sei, daß Lisaweta Prokofjewna ohne alles Aufsehen Warwara Ardalionowna, die bei den jungen Mädchen gewesen sei, auf ihr Zimmer gerufen und ihr ein für allemal das Haus verboten habe, übrigens in der höflichsten Form, – »ich habe es von Warja selbst gehört«. Als Warja aber aus Lisaweta Prokofjewnas Zimmer wieder herausgekommen sei und sich von den jungen Mädchen verabschiedet habe, da hätten diese gar nicht gewußt, daß ihr das Haus für alle Zeit verboten worden sei und sie ihnen für immer Lebewohl sagte. »Aber Warwara Ardalionowna war noch um sieben Uhr bei mir! Wie geht das zu?« fragte der Fürst erstaunt. »Aus dem Hause gewiesen wurde sie zwischen sieben und acht Uhr oder um acht. Warja tut mir sehr leid, auch Ganja tut mir leid ... Die beiden intrigieren zweifellos fortwährend, ohne das können sie gar nicht leben. Ich habe nie dahinterkommen können, was sie eigentlich im Schilde führen, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich versichere Ihnen, mein lieber, guter Fürst, daß Ganja ein gutes Herz hat. Allerdings haften ihm manche schlechten Eigenschaften an; aber andererseits besitzt er viele Charakterzüge, denen nachzuforschen wirklich der Mühe lohnt, und ich werde es mir nie verzeihen, daß ich ihn früher nicht verstanden habe ... Ich weiß nicht, ob ich jetzt nach der Geschichte mit Warja den Verkehr bei Jepantschins fortsetzen soll. Allerdings habe ich dort gleich von Anfang an eine ganz unabhängige, selbständige Stellung eingenommen, aber ich muß mir die Sache doch erst noch überlegen.« »Sie bedauern Ihren Bruder unnötigerweise so sehr«, erwiderte ihm der Fürst. »Wenn es schon so weit gekommen ist, daß Lisaweta Prokofjewna eine derartige Maßregel für notwendig hält, so muß Gawrila Ardalionowitsch in ihren Augen gefährlich sein, und folglich erscheinen gewisse Hoffnungen, die er hegt, nicht unbegründet.« »Was denn für Hoffnungen?« rief Kolja erstaunt. »Sie glauben doch nicht, daß Aglaja ... Das ist nicht möglich!« Der Fürst schwieg. »Sie sind ein schrecklicher Skeptiker, Fürst«, fügte Kolja nach ein paar Minuten hinzu. »Ich habe bemerkt, daß Sie seit einiger Zeit außerordentlich skeptisch geworden sind; Sie fangen an, an nichts zu glauben und alles für möglich zu halten... Habe ich das Wort ›Skeptiker‹ in diesem Fall richtig angewendet?« »Ich glaube ja. Genau weiß ich es allerdings selbst nicht.« »Aber nun widerrufe ich selbst das Wort ›Skeptiker‹!« rief Kolja auf einmal. »Sie sind kein Skeptiker, sondern eifersüchtig! Sie sind auf Ganja eines gewissen stolzen Mädchens wegen höllisch eifersüchtig!« Nach diesen Worten sprang Kolja auf und lachte so herzlich, wie er es vielleicht in seinem Leben noch nie getan hatte. Als er sah, daß der Fürst ganz rot geworden war, steigerte sich sein Lachen noch; der Gedanke, daß der Fürst Aglajas wegen eifersüchtig war, machte ihm den größten Spaß, aber er verstummte sofort, als er bemerkte, daß dieser sich wirklich gekränkt fühlte. Darauf führten sie noch eine oder anderthalb Stunden lang sehr ernst und besorgt ein Gespräch miteinander. Am nächsten Tag verbrachte der Fürst wegen eines unaufschiebbaren Geschäfts den ganzen Vormittag in Petersburg. Als er – es war schon bald fünf Uhr nachmittags nach Pawlowsk zurückkehrte, traf er auf dem Bahnhof mit Iwan Fjodorowitsch zusammen. Dieser nahm ihn schnell bei der Hand, blickte sich um, als fürchtete er etwas, und zog den Fürsten mit sich in einen Wagen erster Klasse, um mit ihm zusammen zu fahren. Er brannte vor Verlangen, mit ihm über einen wichtigen Punkt zu sprechen. »Erstens, lieber Fürst, sei nicht böse auf mich, und wenn ich mich meinerseits nicht richtig verhalten habe, so vergiß das! Ich wäre gestern schon selbst zu dir gekommen, aber ich wußte nicht, wie Lisaweta Prokofjewna das aufnehmen würde... Bei mir zu Hause... ist die Hölle los; eine rätselhafte Sphinx hat sich da niedergelassen, und ich gehe umher, ohne etwas zu verstehen. Was aber dich anlangt, so trägst du meines Erachtens weniger Schuld als wir alle, obwohl natürlich vieles deinetwegen so gekommen ist. Du siehst, Fürst, es ist ein Vergnügen, ein Philanthrop zu sein, aber kein sehr großes. Du hast wohl selbst schon die Früchte davon zu schmecken bekommen. Ich habe natürlich Herzensgüte sehr gern und schätze Lisaweta Prokofjewna sehr hoch, aber...« Der General fuhr noch lange fort, in dieser Weise zu reden, aber seine Worte waren seltsam unzusammenhängend. Es war klar, daß er durch etwas ihm völlig Unverständliches stark erschüttert und verwirrt worden war. »Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß du damit nichts zu schaffen hast«, drückte er sich endlich deutlicher aus. »Aber ich bitte dich in aller Freundschaft, uns eine Zeitlang nicht zu besuchen, bis sich der Wind gedreht haben wird. Was aber Jewgenij Pawlytsch anbetrifft«, rief er mit ungewöhnlicher Leidenschaftlichkeit, »so ist das alles sinnlose Verleumdung, Verleumdung schlimmster Art! Es ist Anschwärzung, eine Intrige steckt dahinter, der Wunsch, alles über den Haufen zu stürzen und uns zu entzweien. Siehst du, Fürst, ich sage dir im Vertrauen: zwischen uns und Jewgenij Pawlytsch ist noch kein deutliches Wort gesprochen worden. Wir sind in keiner Weise gebunden, aber ein solches Wort kann gesprochen werden und vielleicht sogar sehr bald! Darum wollte man ihm schaden! Aber welchen Zweck das Ganze eigentlich verfolgt, das kann ich nicht begreifen! Sie ist ein wunderbares Weib, ein exzentrisches Weib; ich fürchte mich vor ihr so sehr, daß ich kaum schlafen kann. Und was für eine Equipage sie hat! Diese Schimmel! Das ist großartig, das ist genau das, was man im Französischen chic nennt! Wer bezahlt das für sie? Ich habe mich wahrhaftig versündigt und vorgestern gedacht, am Ende tue es Jewgenij Pawlytsch. Aber es stellt sich heraus, daß das unmöglich ist; wenn das aber unmöglich ist, warum will sie dann diese Sache hintertreiben? Das ist das Rätsel! Um Jewgenij Pawlytsch für sich zu behalten? Aber ich wiederhole dir und bekreuzige mich dabei, daß er mit ihr nicht bekannt ist und daß diese Wechsel pure Erfindung sind! Und mit welcher Frechheit sie ihn über die Straße weg duzte! Das ist ja die reine Verschwörung! Es ist klar, daß man diese Verleumdung verächtlich zurückweisen und dem beleidigten Jewgenij Pawlytsch mit doppelter Achtung begegnen muß. Das habe ich auch Lisaweta Prokofjewna gesagt. Jetzt will ich dir meinen allergeheimsten Gedanken mitteilen: ich bin fest überzeugt, daß sie das getan hat, um sich an mir persönlich zu rächen, du erinnerst dich wohl, wegen meiner früheren Beziehungen zu ihr, obwohl ich mir ihr gegenüber nie auch nur das Geringste habe zuschulden kommen lassen. Ich erröte bei der bloßen Erinnerung. Jetzt ist sie nun wieder aufgetaucht; ich hatte schon gedacht, sie wäre für immer verschwunden. Sag mal, bitte, wo steckt denn eigentlich dieser Rogoshin? Ich dachte, sie wäre schon längst seine Frau.« Kurz, der Mann war völlig durcheinander. Fast die ganze Stunde, die die Fahrt dauerte, redete er allein, warf Fragen auf, die er dann selbst beantwortete, drückte dem Fürsten die Hand und überzeugte diesen wenigstens davon, daß er keinen Verdacht gegen ihn zu hegen brauche. Das war dem Fürsten wichtig. Zuletzt erzählte er von Jewgenij Pawlytschs Onkel, dem Chef einer Kanzlei in Petersburg: »Er bekleidet ein hohes Amt, ist siebzig Jahre alt, ein Lebemann, ein Feinschmecker und läßt sich trotz seiner Jahre noch leicht verlocken ... Haha! – Ich weiß, daß er von Nastasja Filippowna gehört und sich sogar um sie bemüht hat. Ich sprach vorhin bei ihm vor; aber er empfängt nicht, er ist unpäßlich. Aber er ist reich, schwer reich, besitzt großen Einfluß und... Nun, Gott gebe ihm Gesundheit und ein langes Leben, aber irgendeinmal fällt doch alles Jewgenij Pawlytsch zu... Ja, ja... aber doch ängstige ich mich! Ich weiß nicht wovor, aber ich ängstige mich... Es ist, als ob etwas in der Luft schwebt, wie eine Fledermaus; es ist ein Unheil im Anzug, und ich ängstige mich, ich ängstige mich!...« Endlich, aber erst am dritten Tage, wie schon oben gesagt, erfolgte die förmliche Aussöhnung der Familie Jepantschin mit dem Fürsten Lew Nikolajewitsch. XII Es war sieben Uhr abends; der Fürst wollte eben in den Park gehen. Auf einmal kam Lisaweta Prokofjewna ganz allein zu ihm in die Veranda. » Erstens, bilde dir nicht ein«, begann sie, »daß ich gekommen wäre, dich um Verzeihung zu bitten! Unsinn! Du allein trägst die ganze Schuld.« Der Fürst schwieg. »Trägst du die Schuld?« »In demselben Maße wie Sie. Übrigens haben weder Sie noch ich in irgendeiner Hinsicht uns absichtlich schuldig gemacht. Ich hielt mich vorgestern für schuldig, aber jetzt bin ich doch anderer Ansicht und meine, daß dem nicht so ist.« »Also so denkst du darüber! Nun gut, hör zu und setz dich, denn ich beabsichtige nicht zu stehen.« Beide setzten sich. » Zweitens, kein Wort von den boshaften Burschen! Ich werde zehn Minuten hierbleiben und mit dir reden; ich bin hergekommen, um dich nach etwas zu fragen (du dachtest wohl schon, ich sei aus Gott weiß was für einem Grunde gekommen?), und wenn du der dreisten Burschen auch nur mit einem Worte Erwähnung tust, so stehe ich auf und gehe weg und breche jeden Verkehr mit dir ab.« »Gut«, antwortete der Fürst. »Gestatte die Frage: hast du vor zwei oder zweieinhalb Monaten, um Ostern herum, an Aglaja einen Brief geschrieben?« » J-ja, das habe ich getan.« »Was hattest du dabei für eine Absicht? Was stand in dem Brief? Zeig mal den Brief her!« Lisaweta Prokofjewnas Augen blitzten, sie zitterte vor Ungeduld. »Den Brief habe ich nicht«, versetzte der Fürst sehr erstaunt und sehr schüchtern. »Wenn er überhaupt noch existiert, muß ihn Aglaja Iwanowna haben.« »Keine Ausflüchte! Was hast du ihr geschrieben?« »Ich mache keine Ausflüchte; ich habe keinen Grund, mich zu fürchten. Ich sehe nicht ein, warum ich ihr nicht hätte schreiben dürfen...« »Schweig! Du kannst nachher reden. Was stand in dem Brief? Warum bist du so rot geworden?« Der Fürst überlegte ein Weilchen. »Ich kenne Ihre Gedanken nicht, Lisaweta Prokofjewna. Ich sehe nur, daß Ihnen dieser Brief sehr mißfällt. Sie werden zugeben müssen, daß ich die Beantwortung einer solchen Frage ablehnen könnte; aber um Ihnen zu zeigen, daß ich mich wegen des Briefes nicht fürchte und es nicht bedaure, ihn geschrieben zu haben, und ganz und gar nicht um seinetwillen erröte« (hier wurde der Fürst fast noch einmal so rot), »will ich Ihnen diesen Brief hersagen, da ich ihn, wie ich meine, auswendig weiß.« Hierauf sagte der Fürst den Brief fast Wort für Wort so her, wie er ihn geschrieben hatte. »So ein Galimathias! Was soll dieser Unsinn denn nach deiner Meinung bedeuten?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton, nachdem sie bei dem Hersagen des Briefes sehr aufmerksam zugehört hatte. »Ich weiß es selbst nicht ganz; ich weiß nur, daß meine Empfindung wahr und echt war. Ich hatte dort Augenblicke, in denen ich wahrhaft lebte und von außerordentlichen Hoffnungen erfüllt war.« »Von was für Hoffnungen?« »Das ist schwer zu erklären, aber nicht von denen, an die Sie jetzt vielleicht denken. Von Hoffnungen... nun kurz, von Hoffnungen auf die Zukunft und von Freude darüber, daß ich vielleicht dort kein Fremder, kein Ausländer war. Es gefiel mir auf einmal sehr gut in der Heimat. An einem sonnigen Morgen ergriff ich die Feder und schrieb einen Brief an sie; warum gerade an sie, das weiß ich nicht. Es überkommt einen ja manchmal ein Verlangen, einen Freund neben sich zu haben; auch ich sehnte mich offenbar nach einem Freund...«, fügte der Fürst nach kurzem Schweigen hinzu. »Bist du verliebt, ja?« »N-nein. Ich ... ich habe wie an eine Schwester geschrieben; ich habe auch als Bruder unterzeichnet.« »Hm! Absichtlich; ich verstehe.« »Es ist mir sehr peinlich, Ihnen auf diese Fragen zu antworten, Lisaweta Prokofjewna.« »Ich weiß, daß es dir peinlich ist, aber das kümmert mich nicht. Hör mal, sag mir die Wahrheit, wie wenn du vor Gott stündest: lügst du mir auch nichts vor?« »Ich lüge nicht.« »Sagst du die Wahrheit, daß du nicht verliebt bist?« »Ich glaube, daß das die volle Wahrheit ist.« »Sieh mal an: ›Ich glaube!‹ Wer hat ihr den Brief überbracht? Der dumme Junge?« »Ich habe Nikolai Ardalionowitsch gebeten...« »Ein dummer Junge ist er! Ein dummer Junge!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna. »Ich kenne keinen Nikolai Ardalionowitsch! Ein dummer Junge ist er!« »Nikolai Ardalionowitsch...« »Ein dummer Junge, sage ich dir!« »Nein, kein dummer Junge, sondern Nikolai Ardalionowitsch«, antwortete der Fürst in festem Ton, wenn auch ziemlich leise. »Na schön, mein Täubchen, schön! Das werde ich dir ankreiden.« Sie kämpfte ihre Aufregung für ein Weilchen nieder und erholte sich. »Und was hat es mit dem ›armen Ritter‹ für eine Bewandtnis?« »Das ist mir völlig unbekannt; ich bin nicht dabeigewesen, als es aufkam; es ist irgendein Scherz.« »Mir sehr angenehm, das zu erfahren! Aber konnte sie sich denn wirklich für dich interessieren? Sie hat dich ja selbst ›Mißgeburt‹ und ›Idiot‹ genannt.« »Das hätten Sie mir nicht wiedersagen sollen«, bemerkte der Fürst vorwurfsvoll, aber beinah flüsternd. »Sei nicht böse! Sie ist ein eigensinniges, verrücktes, verzogenes Mädchen; wenn sie sich verliebt, so wird sie unbedingt laut über den Geliebten schimpfen und ihm ins Gesicht spotten; ich bin ganz ebenso gewesen. Nur bitte triumphiere nicht, mein Täubchen; sie wird nicht die Deine werden; ich glaube nicht daran, es wird nie geschehen! Ich sage das, damit du dich schon jetzt danach einrichtest. Hör mal, schwöre mir, daß du nicht mit jener Frauensperson verheiratet bist!« »Lisaweta Prokofjewna, ich bitte Sie, was reden Sie da!« rief der Fürst und sprang vor Erstaunen beinah auf. »Aber es fehlte nicht viel, daß du sie geheiratet hättest?« »Nein, es fehlte nicht viel«, flüsterte der Fürst und ließ den Kopf sinken. »Also in die bist du doch verliebt, wenn es so ist? Bist du jetzt um, ihretwillen hergereist? Um dieser Frauensperson willen?«: »Ich bin nicht hergereist, um zu heiraten«, versetzte der Fürst. »Ist dir etwas auf der Welt heilig?« »Ja.« »Dann schwöre mir, daß du nicht hergereist bist, um die zu heiraten.« »Ich schwöre es bei allem, was Sie wollen!« »Ich glaube dir; küsse mich! Endlich kann ich wieder frei atmen. Aber merk dir's: Aglaja liebt dich nicht, richte dich danach; solange ich auf der Welt bin, wird sie nicht deine Frau werden! Hast du gehört?« »Ja, ich habe es gehört.« Der Fürst errötete so stark, daß er Lisaweta Prokofjewna nicht gerade in die Augen sehen konnte. »Nun, dann merk es dir! Ich habe auf dich gewartet wie auf die Vorsehung (was du übrigens nicht wert warst!); ich habe mein Kissen nachts mit Tränen benetzt – nicht deinetwegen, mein Täubchen, mach dir keine Sorgen; ich habe meinen eigenen, anderen Kummer, immer und ewig denselben. Aber der Grund, weshalb ich auf dich mit solcher Ungeduld gewartet habe, ist der: ich glaube immer noch, daß Gott selbst dich mir als meinen Freund und leiblichen Bruder gesandt hat. Ich habe keinen Menschen als die alte Bjelokonskaja, und auch die ist jetzt ausgeflogen und ist überdies infolge ihres hohen Alters dumm wie ein Schaf. Jetzt antworte einfach ja oder nein: weißt du, warum sie neulich die seltsamen Worte aus dem Wagen gerufen hat?« »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht dabei beteiligt war und nichts davon weiß!« »Genug, ich glaube dir. Jetzt fasse ich die Sache anders auf; aber noch gestern vormittag machte ich Jewgenij Pawlytsch für alles verantwortlich. Den ganzen vorgestrigen Tag und gestern vormittag war ich dieser Meinung. Jetzt allerdings kann ich nicht umhin, den andern beizustimmen: es ist offenbar, daß sie sich über ihn wie über einen Dummkopf lustig gemacht hat, aus irgendeinem Grunde, zu irgendeinem Zweck, in irgendeiner Absicht. (Schon das allein ist verdächtig und ganz ungehörig!) Aber Aglaja wird er nicht zur Frau bekommen, das sage ich dir! Er mag ja ein ganz guter Mensch sein, aber es kommt doch so. Früher habe ich noch geschwankt, aber jetzt habe ich mit aller Bestimmtheit erklärt: ›Legt mich erst in den Sarg und versenkt mich in die Erde, dann könnt ihr meine Tochter zur Frau geben, wem ihr wollt!' Das habe ich heute meinem Mann gegenüber ausgesprochen. Siehst du wohl, daß ich dir vertraue? Siehst du das wohl?« »Ja, ich sehe und verstehe es.« Lisaweta Prokofjewna blickte den Fürsten durchdringend an: vielleicht wollte sie wissen, welchen Eindruck die Mitteilung über Jewgenij Pawlytsch auf ihn machte. »Von Gawrila Iwolgin weißt du nichts?« »Das heißt... ich weiß von ihm vieles.« »Hast du gewußt, daß er mit Aglaja Beziehungen unterhält?« »Davon habe ich nicht das geringste gewußt«, erwiderte der Fürst erstaunt; er zuckte sogar zusammen. »Wie? Sie sagen, Gawrila Ardalionowitsch unterhalte Beziehungen mit Aglaja Iwanowna? Unmöglich!« »Erst seit kurzer Zeit. Seine Schwester hat ihm den ganzen Winter den Weg gebahnt, wie eine Ratte hat sie gewühlt und genagt.« »Ich glaube es nicht«, wiederholte der Fürst mit fester Stimme, nachdem er ein Weilchen erregt nachgedacht hatte. »Wenn das der Fall wäre, würde ich es sicher wissen.« »Na ja, er wäre wohl selbst gekommen, wäre dir an die Brust gesunken und hätte es dir unter Tränen gestanden! O du Einfaltspinsel, du Einfaltspinsel! Alle betrügen sie dich ja... wie... Schämst du dich denn gar nicht, ihm zu vertrauen? Siehst du denn nicht, daß er dich ständig hinters Licht führt?« »Ich weiß sehr wohl, daß er mich manchmal betrügt«, antwortete der Fürst unwillig und halblaut, »und er weiß, daß ich das weiß, aber...«, fügte er hinzu, sprach jedoch den Satz nicht zu Ende. »Es wissen und doch vertrauen! Das hat noch gefehlt! Übrigens konnte man das von dir erwarten. Worüber wundere ich mich da noch? Mein Gott! Hat es je so einen Menschen gegeben? Nein, so etwas! Und weißt du, daß dieser Ganjka oder diese Warja sie mit Nastasja Filippowna in Beziehungen gebracht haben?« »Wen?« rief der Fürst. »Aglaja.« »Das glaube ich nicht! Das ist nicht möglich! Was sollten sie dabei für eine Absicht gehabt haben?« Er sprang vom Stuhl auf. »Auch ich glaube es nicht, obwohl sichere Anzeichen dafür vorhanden sind. Sie ist ein eigenwilliges Mädchen, ein phantastisches Mädchen, ein verrücktes Mädchen! Und boshaft ist sie, boshaft! Tausend Jahre werde ich behaupten, daß sie boshaft ist! Alle meine Töchter haben sich jetzt in dieser Weise verändert, sogar das sanfte Hühnchen, die Alexandra, aber bei Aglaja ist es rein zum Tollwerden. Aber ich glaube es auch nicht! Vielleicht deswegen, weil ich es nicht glauben will«, fügte sie wie für sich hinzu. »Warum bist du denn nicht zu uns gekommen?« wandte sie sich plötzlich wieder an den Fürsten. »Warum bist du die ganzen drei Tage nicht gekommen?« rief sie ihm ungeduldig zum zweitenmal zu. Der Fürst begann, seine Gründe anzuführen, aber sie unterbrach ihn von neuem. »Alle halten sie dich für einen Dummkopf und betrügen dich! Du bist gestern nach der Stadt gefahren; ich möchte wetten, du hast auf den Knien gelegen und diesen Schuft gebeten, die zehntausend Rubel anzunehmen!« »Keineswegs, ich habe gar nicht daran gedacht. Ich habe ihn überhaupt nicht besucht, und außerdem ist er kein Schuft. Ich habe einen Brief von ihm erhalten.« »Zeig ihn mal her!« Der Fürst nahm einen Zettel aus seiner Brieftasche und reichte ihn Lisaweta Prokofjewna. Auf dem Zettel stand: »Geehrter Herr! Ich habe freilich in den Augen der Menschen nicht das geringste Recht, Ehrgefühl zu besitzen. Nach der Meinung der Leute stehe ich dazu zu niedrig. Aber so ist das nur in den Augen der Menschen, nicht in den Ihrigen. Ich bin zu der bestimmten Überzeugung gelangt, daß Sie, geehrter Herr, besser sind als die anderen. Ich bin darin nicht Doktorenkos Meinung und unsere Ansichten gehen hier auseinander. Ich werde von Ihnen nie auch nur eine Kopeke annehmen, aber Sie haben meine Mutter unterstützt, und dafür muß ich Ihnen dankbar sein, wenn auch nur aus Schwäche. Jedenfalls sehe ich Sie jetzt mit anderen Augen an und hielt es für nötig, Ihnen das mitzuteilen. Des weiteren aber bin ich der Ansicht, daß zwischen uns keinerlei Beziehungen mehr bestehen können. Antip Burdowskij. PS. Die an den zweihundert Rubel fehlende Summe wird Ihnen im Laufe der Zeit sicher zurückgezahlt werden.« »So ein Blödsinn!« rief Lisaweta Prokofjewna nach dem Durchlesen und warf dem Fürsten das Blatt wieder hin. »Es lohnte nicht die Mühe, es durchzulesen. Was schmunzelst du?« »Geben Sie doch zu, daß auch Sie es mit Vergnügen gelesen haben!« »Wie? Diesen von Eitelkeit triefenden Galimathias? Siehst du denn nicht, daß diese Menschen alle vor Stolz und Eitelkeit geradezu verrückt geworden sind?« »Ja, aber er hat sich doch schuldig bekannt, hat mit Doktorenko gebrochen, und je eitler er ist, um so schwerer muß das seiner Eitelkeit gefallen sein. Ach, was sind Sie für ein kleines Kind, Lisaweta Prokofjewna!« »Du möchtest wohl noch eine Ohrfeige von mir bekommen, was?« »Nein, das möchte ich nicht. Ich sage das, weil Sie sich über den Brief freuen und es verbergen. Warum schämen Sie sich Ihrer Empfindungen? So machen Sie es immer.« »Untersteh dich nicht, je wieder den Fuß über meine Schwelle zu setzen!« rief Lisaweta Prokofjewna und sprang blaß vor Zorn auf. »Laß dich nie wieder bei mir blicken!« »Aber nach drei Tagen werden Sie selbst herkommen und mich zu sich rufen ... Sie sollten sich schämen! Das sind ja Ihre besten Empfindungen, warum schämen Sie sich ihrer denn? Sie quälen sich ja nur selbst damit.« »Eher sterbe ich, als daß ich dich jemals rufe! Ich werde deinen Namen vergessen! Ich habe ihn vergessen!!« Sie stürzte davon. »Es ist mir sowieso schon verboten worden, zu Ihnen zu gehen!« rief ihr der Fürst nach. »Wa-as? Wer hat es dir verboten?« Sie wandte sich augenblicklich um, als hätte sie jemand mit einer Nadel gestochen. Der Fürst zögerte mit der Antwort, er merkte, daß er sich unversehens, aber sehr arg verplappert hatte. »Wer hat es dir verboten?« rief Lisaweta Prokofjewna wütend. »Aglaja Iwanowna hat es mir verboten ...« »Wann? So re-de doch!!!« »Heute vormittag hat sie mir die Weisung zugehen lassen, ich möchte mich nie wieder erdreisten, zu Ihnen zu kommen.« Lisaweta Prokofjewna stand wie versteinert da; aber sie überlegte. »Was hat sie dir geschickt? Wen hat sie geschickt? Den dummen Jungen? Mit einer mündlichen Bestellung?« rief sie plötzlich wieder. »Ich habe ein Billett erhalten«, versetzte der Fürst. »Wo ist es? Gib es her! Augenblicklich!« Der Fürst überlegte einen Augenblick, zog dann aber aus der Westentasche ein gewöhnliches Stückchen Papier heraus, auf dem geschrieben stand: »Fürst Lew Nikolajewitsch! Wenn Sie nach allem, was vorgefallen ist, beabsichtigen sollten, mich durch einen Besuch in unserem Landhaus in Erstaunen zu versetzen, so mögen Sie wissen, daß ich nicht zu denjenigen gehören werde, die sich darüber freuen. Aglaja Jepantschina.« Lisaweta Prokofjewna dachte ein Weilchen nach; dann stürzte sie plötzlich auf den Fürsten zu, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her. »Komm! Sofort! Nun gerade sofort, augenblicklich!« rief sie in einem Anfall starker Erregung und Ungeduld. »Aber Sie setzen mich ja der Gefahr aus ...« »Was für einer Gefahr? Du harmloser Tropf! Gerade als ob du kein Mann wärest! Na, jetzt werde ich selbst alles mit eigenen Augen sehen ...« »Aber lassen Sie mich doch wenigstens meinen Hut nehmen ...« »Da ist dein abscheulicher Deckel, komm! Du hast nicht einmal soviel Geschmack gehabt, dir eine ordentliche Fasson auszusuchen! ... Das hat sie ... das hat sie nach dem heutigen ... in der Aufregung«, murmelte Lisaweta Prokofjewna, indem sie den Fürsten hinter sich herzog und seine Hand keinen Augenblick losließ. »Vorhin habe ich dich noch verteidigt und habe laut erklärt, es sei dumm von dir, daß du nicht kämest ... Sonst hätte sie ja auch nicht einen so sinnlosen Brief geschrieben! Einen so unpassenden Brief, ganz unpassend für ein anständiges, wohlerzogenes, kluges, kluges Mädchen! ... Hm«, fuhr sie fort, »natürlich hat sie sich selbst darüber geärgert, daß du nicht kamst, und nur nicht bedacht, daß man so an einen Idioten nicht schreiben kann, weil er es wörtlich auffaßt, wie es ja auch geschehen ist. Warum horchst du denn?« rief sie, da sie merkte, daß sie zuviel gesagt hatte. »Sie braucht einen Hansnarren, wie du einer bist, so einen hat sie schon lange nicht gesehen; darum ladet sie dich ein zu kommen! Und ich freue mich, ich freue mich, daß sie dich jetzt bei den Ohren kriegen wird! Das geschieht dir ganz recht! Und sie versteht das, oh, das versteht sie vorzüglich! ...« Dritter Teil I Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine praktischen Menschen gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber es mangle an praktischen Menschen. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschifffahrtsgesellschaft eine halbwegs erträgliche Verwaltung zusammenzubringen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder ein paar Wagen von einer Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren abgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern würde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat, wie man hört (es ist übrigens kaum zu glauben), dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei »in Eifer geraten«. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial anständiges Verwaltungspersonal für eine Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bekommen? Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, so einfach, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln, aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu sprechen gekommen; wir wollten eigentlich von den praktischen Menschen sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines praktischen Menschen gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir uns beschuldigen – wenn überhaupt diese Meinung eine Beschuldigung ist. Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer als die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch sehr niedrig angesetzt) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders. Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als Dummköpfe gehalten worden – das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so mußte selbstverständlich, als die Leihbank abgeschafft wurde und alle sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener Millionen unfehlbar im Aktienfieber und in den Händen von Gaunern untergehen – und das forderten sogar der Anstand und die gute Sitte. Namentlich die gute Sitte; wenn eine wohlgesittete Schüchternheit und ein gehöriger Mangel an Originalität bei uns bisher nach der allgemeinen Anschauung eine unerläßliche Eigenschaft eines tüchtigen, ordentlichen Menschen bildeten, so wäre es geradezu ungehörig und unschicklich, sich plötzlich zu ändern. Welche Mutter zum Beispiel, die ihr Kind zärtlich liebt, wird nicht einen Schreck bekommen und vor Angst krank werden, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter auch nur ein wenig das gewohnte Geleise verläßt? ›Nein‹, denkt jede Mutter, die ihr Kind in Schlaf wiegt, ›mag es lieber ohne Originalität glücklich sein und zufrieden leben!‹ Und wenn unsere Kinderfrauen die Kinder in der Wiege schaukeln, so sprechen und singen sie dabei seit undenklichen Zeiten: »In goldenen Kleidern wirst du gehen, ›Exzellenz‹ wird man zu dir sagen!« Somit galt auch bei unseren Kinderfrauen der Generalsrang von jeher als Gipfelpunkt russischen Glücks und war also das populärste nationale Ideal eines schönen, geruhsamen, seligen Daseins. Und in der Tat: wer, der sein Examen auch nur mittelmäßig bestanden und dann fünfunddreißig Jahre gedient hatte, konnte bei uns nicht schließlich Exzellenz werden und sich eine erkleckliche Summe auf der Bank zusammensparen? Auf diese Weise erlangte der Russe fast ohne alle Anstrengung schließlich eine Stellung, wie sie eigentlich nur einem tüchtigen, praktischen Menschen zukommt. Wahrhaftig, die Unmöglichkeit, Exzellenz zu werden, bestand bei uns nur für einen originellen Menschen, mit andern Worten: für einen unruhigen Kopf. Vielleicht liegt hier bis zu einem gewissen Grade ein Mißverständnis vor; aber im allgemeinen scheint es doch zuzutreffen, und unsere Gesellschaft war vollkommen berechtigt, sich ihr Ideal eines praktischen Menschen in dieser Weise zu gestalten. Indessen wir haben viel gesagt, was nicht hierhergehört; wir wollten eigentlich nur ein paar erklärende Worte über die uns bekannte Familie Jepantschin einfügen. Diese Leute oder wenigstens diejenigen Mitglieder dieser Familie, die am meisten zum Nachdenken veranlagt waren, litten ständig an einer ihnen fast allen gemeinsamen Familieneigenschaft, die den Tugenden, über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne sich dieser Tatsache völlig bewußt zu sein (weil das eben seine Schwierigkeiten hatte), hatten sie doch manchmal den Argwohn, daß in ihrer Familie alles anders zugehe als bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im Übermaß ängstlich, aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum guten Ton gehörige Schüchternheit, die ihnen so erstrebenswert schien. Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich darüber beunruhigte: die Mädchen waren noch jung – wenn auch ein sehr scharfsinniges Völkchen mit Neigung zur Ironie, während der General zwar Verständnis besaß (allerdings ein langsames und schwerfälliges), in schwierigen Fällen aber nur »Hm!« sagte und schließlich seine ganze Zuversicht auf Lisaweta Prokofjewna setzte. Auf ihr ruhte also die Verantwortung. Nicht als ob diese Familie sich durch irgendwelche besondere Initiative ausgezeichnet hätte oder infolge eines bewußten Hanges zur Originalität aus dem Geleise gesprungen wäre, was sich ja freilich mit der Schicklichkeit ganz und gar nicht vertragen hätte. O nein! Das war wirklich nicht der Fall; das heißt, es lag bei ihnen keine bewußte Absicht vor, aber dennoch kam es schließlich so heraus, daß die Familie Jepantschin trotz all ihrer Respektabilität von anderer Art war, als respektable Familien sein müssen. In letzter Zeit hatte Lisaweta Prokofjewna angefangen, die Schuld an alledem lediglich sich und ihrem »unglücklichen« Charakter beizumessen, wodurch ihre Leiden nur noch vermehrt wurden. Sie selbst nannte sich alle Augenblicke » eine dumme, taktlose Person, eine verdrehte Schraube«, quälte sich mit ihrem Mißtrauen, war beständig außer sich, fand bei ganz gewöhnlichen Dingen, die ihr zustießen, keinen Ausweg und übertrieb fortwährend das Unglück. Schon zu Beginn unserer Erzählung haben wir erwähnt, daß Jepantschins sich allgemeiner, aufrichtiger Hochachtung erfreuten. Sogar der General Iwan Fjodorowitsch selbst, ein Mann von geringer Herkunft, wurde überall ohne Widerstreben achtungsvoll empfangen. Diese Achtung verdiente er erstens wegen seines Reichtums und seiner hohen Stellung und zweitens als ein durchaus ordentlicher, wenn auch nicht geistreicher Mann. Aber eine gewisse Stumpfheit des Geistes bildet ja, wie es scheint, eine notwendige Eigenschaft, wenn nicht eines jeden praktisch tätigen Mannes, so doch wenigstens eines jeden, der ernstlich auf Gelderwerb bedacht ist. Endlich besaß der General gute Manieren, war bescheiden, verstand zu schweigen, gleichzeitig aber auch, sich nichts bieten zu lassen, und zwar nicht allein mit Rücksicht auf seinen Generalsrang, sondern auch als ehrenhafter, anständiger Mensch. Das allerwichtigste war, daß er sich starker Protektion erfreute. Was Lisaweta Prokofjewna anlangt, so stammte sie, wie schon oben dargelegt, aus einem vornehmen Geschlecht, obwohl man bei uns auf solche Herkunft keinen großen Wert legt, wenn nicht die notwendigen Verbindungen hinzukommen. Aber auch an denen fehlte es ihr nicht; sie wurde von so hohen Persönlichkeiten geachtet, ja geliebt, daß natürlich auch alle andern sie dementsprechend achten und empfangen mußten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ihre Qualen bezüglich ihrer Familie keinen rechten Anlaß hatten, einer ernsten Ursache entbehrten und in komischer Weise übertrieben waren; aber wenn jemand auf der Nase oder auf der Stirn eine Warze hat, so meint er immer, alle Leute hätten auf der Welt nichts anderes zu tun, als seine Warze anzusehen, darüber zu spotten und ihn deswegen geringzuschätzen, selbst wenn er sich durch die Entdeckung von Amerika verdient gemacht hätte. Es ist auch nicht daran zu zweifeln, daß man in der Gesellschaft Lisaweta Prokofjewna wirklich für eine »verdrehte Schraube« hielt; indes genoß sie trotzdem unstreitig alle Achtung; aber Lisaweta Prokofjewna mochte zuletzt an diese Achtung nicht mehr glauben – und das war das ganze Unglück. Wenn sie ihre Töchter ansah, so quälte sie sich mit dem Verdacht, sie schädige fortwährend deren Lebensweg durch irgend etwas, sie habe einen lächerlichen, taktlosen, unerträglichen Charakter, und natürlich beschuldigte sie deswegen unaufhörlich ihre Töchter und Iwan Fjodorowitsch und zankte sich ganze Tage lang mit ihnen herum, obwohl sie sie gleichzeitig leidenschaftlich und bis zur Selbstvergessenheit liebte. Am meisten quälte sie die Befürchtung, ihre Töchter könnten ebenso »verdrehte Schrauben« werden wie sie; solche Mädchen wie die ihrigen, meinte sie, gebe es auf der ganzen Welt nicht mehr und könne es auch gar nicht mehr geben. ›Sie werden die reinen Nihilistinnen, das ist's!‹ sagte sie sich alle Augenblicke. Im letzten Jahr und besonders in der allerletzten Zeit hatte sich dieser traurige Gedanke immer mehr und mehr bei ihr festgesetzt. ›Erstens, warum heiraten sie nicht?‹ fragte sie sich fortwährend. ›Um ihre Mutter zu ärgern – darin sehen sie ihren Lebenszweck, und das kommt natürlich alles von den neuen Ideen und der verdammten Frauenfrage! Kam nicht Aglaja vor einem halben Jahr auf den Einfall, sich ihr prächtiges Haar abzuschneiden? (O Gott, solches Haar habe ich in meiner Jugend nicht gehabt!) Sie hatte ja sogar schon die Schere in der Hand, und ich habe sie auf den Knien bitten müssen, es zu lassen! ... Na, die hat das allerdings aus Bosheit getan, um ihre Mutter zu quälen, denn sie ist ein boshaftes, eigenwilliges, verzogenes Mädchen, vor allem boshaft, boshaft, boshaft! Aber wollte nicht die dicke Alexandra es ihr nachmachen und sich ebenfalls ihre Zotteln abschneiden? Und die nicht aus Bosheit und Laune, sondern in aufrichtiger Dummheit, weil Aglaja ihr eingeredet hatte, sie werde ohne Haar besser schlafen und keine Kopfschmerzen mehr haben. Und wie viele, viele Bewerber haben sie nicht in diesen fünf Jahren gehabt? Und es waren doch wirklich nette Männer darunter, sogar ganz prächtige Männer! Worauf warten sie denn noch? Warum heiraten sie nicht? Nur, um ihre Mutter zu ärgern – das ist der einzige Grund! Der einzige! Der einzige!‹ Endlich ging nun auch für ihr Mutterherz die Freudensonne auf: es war Aussicht, daß wenigstens eine Tochter, Adelaida, endlich unter die Haube kommen würde. »Wenigstens eine werde ich loswerden«, sagte Lisaweta Prokofjewna, wenn es sich traf, daß sie laut darüber sprach (im stillen für sich drückte sie sich sehr viel zärtlicher aus). Und in wie netter, schicklicher Weise sich die ganze Sache gemacht hatte; selbst in den Kreisen der vornehmen Welt wurde davon mit Achtung gesprochen. Der Bräutigam war eine allgemein bekannte Persönlichkeit, ein Fürst, mit bedeutendem Vermögen, ein guter Mensch und ihr von Herzen zugetan: was konnte man sich Besseres denken? Aber wegen Adelaida hatte sie auch früher weniger Befürchtungen gehegt als wegen der andern Töchter, obwohl ihre künstlerischen Neigungen dem stets von Zweifeln geplagten Mutterherzen Lisaweta Prokofjewnas manchmal bedenklich gewesen waren. ›Dafür hat sie ein heiteres Gemüt und außerdem viel Verstand – also wird das Mädchen nicht zugrunde gehen‹, tröstete sie sich schließlich. Um Aglaja ängstigte sie sich am allermeisten. Beiläufig gesagt, was die Älteste, Alexandra, betraf, so wußte Lisaweta Prokofjewna selbst nicht, wie sie sich bei ihr verhalten sollte: sollte sie sich um sie ängstigen oder nicht? Manchmal schien es ihr, als sei mit dem Mädchen »schon alles vorbei«; fünfundzwanzig Jahre alt, also würde sie sitzenbleiben. ›Und bei solcher Schönheit!‹ Lisaweta Prokofjewna weinte sogar nachts um sie, während Alexandra Iwanowna zur selben Zeit sehr ruhig schlief. ›Was ist sie denn eigentlich? Eine Nihilistin oder einfach dumm?‹ Daß sie übrigens nicht dumm war, davon war auch Lisaweta Prokofjewna durchaus überzeugt; sie legte auf Alexandra Iwanownas Urteil hohen Wert und beriet sich gern mit ihr. Aber daß sie ein »begossenes Huhn« war, daran konnte kein Zweifel sein: ›Sie ist von einer solchen Seelenruhe, daß man sie gar nicht aufrütteln kann! Übrigens ist es mit der Seelenruhe auch bei solchen begossenen Hühnern manchmal nicht weit her – na! Ich bin an meinen Töchtern wirklich ganz irre geworden!‹ Lisaweta Prokofjewna empfand für Alexandra Iwanowna eine Art unerklärlicher, mitleidiger Sympathie, sogar in noch höherem Grade als für Aglaja, die ihr Abgott war. Aber ihre galligen Bemerkungen (in denen im wesentlichen nur ihre mütterliche Sorge und Liebe zum Ausdruck kamen), ihre Sticheleien und solche Bezeichnungen wie »ein begossenes Huhn« brachten Alexandra nur zum Lachen. Es kam mitunter so weit, daß Lisaweta Prokofjewna über die nichtigsten Dinge furchtbar zornig wurde und außer sich geriet. So zum Beispiel liebte Alexandra Iwanowna es, lange zu schlafen, wobei sie viel träumte; aber ihre Träume zeichneten sich stets durch außerordentliche Harmlosigkeit und Naivität aus, ganz wie bei einem siebenjährigen Kind, und nun hatte sogar diese Naivität der Träume die Wirkung, die Mama in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Einmal hatte Alexandra Iwanowna von neun Hennen geträumt, und hieraus entstand ein regelrechter Streit zwischen ihr und der Mutter; warum, war schwer zu sagen. Ein andermal, nur ein einziges Mal, glückte es ihr, daß sie einen einigermaßen originellen Traum hatte: sie träumte von einem Mönch in einem dunklen Zimmer, in welches hineinzugehen sie sich fürchtete. Der Traum wurde von den beiden andern Schwestern sofort unter großem Gelächter triumphierend Lisaweta Prokofjewna mitgeteilt; aber die Mama wurde wieder ärgerlich und nannte sie alle drei Dummköpfe. ›Hm! Sie besitzt die Seelenruhe eines Dummkopfes, sie ist vollständig ein begossenes Huhn und läßt sich nicht aufrütteln; aber dabei ist sie doch traurig und sieht manchmal ganz trübselig aus! Worüber mag sie sich grämen? Ja, worüber?‹ Mitunter richtete sie diese Frage auch an Iwan Fjodorowitsch, und zwar wie immer in hysterischer Erregung, in drohendem Ton und in Erwartung einer unverzüglichen Antwort. Iwan Fjodorowitsch sagte »Hm!«, machte ein finsteres Gesicht, zuckte mit den Schultern und gab endlich, die Arme ausbreitend, sein Urteil dahin ab: »Sie braucht einen Mann!« »Nur wolle Gott ihr nicht einen solchen bescheren, wie Sie einer sind, Iwan Fjodorytsch!« explodierte Lisaweta Prokofjewna plötzlich wie eine Bombe. »Nicht einen mit solchen Anschauungen und Urteilen wie Sie, Iwan Fjodorytsch, nicht einen solchen Grobian wie Sie, Iwan Fjodorytsch...« Iwan Fjodorowitsch machte schleunigst, daß er davonkam, und Lisaweta Prokofjewna beruhigte sich nach dieser Explosion. Selbstverständlich war sie am Abend dieses Tages besonders liebenswürdig, sanft, freundlich und respektvoll gegen Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren »groben Grobian« Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren guten, lieben, vergötterten Iwan Fjodorowitsch; denn in Wirklichkeit liebte sie ihren Iwan Fjodorowitsch ihr ganzes Leben lang, ja sie war in ihn sogar verliebt, was Iwan Fjodorowitsch selbst genau wußte, der auch seinerseits seine Lisaweta Prokofjewna außerordentlich hochschätzte. Aber die ärgste Qual bereitete ihr beständig Aglaja. ›Sie ist ganz, aber auch ganz wie ich, mein Ebenbild in jeder Beziehung‹, sagte Lisaweta Prokofjewna bei sich im stillen, ›ein eigenwilliger, abscheulicher Unhold! Eine Nihilistin, eine verdrehte Schraube, verrückt, boshaft, boshaft, boshaft! O Gott, wie unglücklich wird sie werden!‹ Aber wie schon gesagt, die aufgehende Freudensonne besänftigte und erhellte alles für eine Weile. Infolgedessen gab es in Lisaweta Prokofjewnas Leben fast einen ganzen Monat, in dem sie sich von aller Unruhe wieder völlig erholte. Anläßlich der nahe bevorstehenden Hochzeit Adelaidas wurde in den vornehmen Kreisen auch über Aglaja viel gesprochen, und dabei benahm sich Aglaja überall ganz vortrefflich, ruhig, verständig, auch etwas siegesgewiß und stolz, aber das stand ihr ja gerade gut! Den ganzen Monat war sie so freundlich und liebenswürdig zu ihrer Mutter! (›Allerdings, diesen Jewgenij Pawlowitsch muß man sich noch sehr, sehr genau ansehen und gründlich kennenlernen, Aglaja scheint ja auch an ihm nicht sehr viel mehr Gefallen zu finden als an andern!‹) Sie war auf einmal ein so prächtiges Mädchen geworden, und wie schön sie war, o Gott, wie schön, von Tag zu Tag wurde sie schöner! Und da... Und da war nun soeben dieser gräßliche Fürst wieder erschienen, dieser jämmerliche Idiot, und alles war wieder in Unruhe geraten, alles im Hause ging wieder drunter und drüber! Was war denn eigentlich geschehen? Andere hätten wohl kaum gespürt, daß etwas Besonderes vorgegangen war. Aber Lisaweta Prokofjewna zeichnete sich eben dadurch aus, daß sie in dem bunten Durcheinander der gewöhnlichsten Dinge bei ihrer steten Unruhe immer etwas herausfand, was sie manchmal mit einer geradezu krankhaften Angst, mit einer unerklärlichen, argwöhnischen und infolgedessen höchst peinlichen Furcht erfüllte. Wie mußte ihr da zumute sein, als jetzt plötzlich aus der ganzen wüsten Menge lächerlicher, unbegründeter Befürchtungen wirklich etwas herausschaute, was tatsächlich wichtig zu sein schien, etwas, was tatsächlich zu Beunruhigung, Zweifel und Argwohn Anlaß gab! ›Wie hat nur jemand wagen können, wie hat nur jemand wagen können, mir diesen verdammten anonymen Brief über diese Kreatur zu schreiben, mir zu schreiben, daß sie mit Aglaja Beziehungen unterhalte?‹ dachte Lisaweta Prokofjewna auf dem ganzen Weg, während sie den Fürsten hinter sich herzog, und zu Hause, als sie ihn an dem runden Tisch Platz nehmen ließ, um den die ganze Familie versammelt war. ›Wie konnte sich jemand erdreisten, so etwas nur zu denken? Ich müßte mich ja totschämen, wenn ich auch nur die Spur davon glaubte oder diesen Brief Aglaja zeigte! Solcher Hohn und Spott über uns, die Familie Jepantschin! Und alles um Iwan Fjodorytschs willen, alles um Ihretwillen, Iwan Fjodorytsch! Ach, warum sind wir nicht nach Jelagin Eine Newa-Insel nördlich von Petersburg. gegangen; ich sagte ja, wir sollten nach Jelagin ziehen! Den Brief hat vielleicht Warjka geschrieben, denke ich mir, oder vielleicht... Aber an allem, an allem ist Iwan Fjodorytsch schuld! Diesen Streich hat ihm diese Kreatur zur Erinnerung an ihre früheren Beziehungen gespielt, um ihn zu blamieren, gerade wie sie sich früher über den Dummkopf lustig machte und ihn an der Nase herumführte, als er ihr noch Perlen schenkte... Und nun werden schließlich auch noch wir mit hineingezogen, Ihre Töchter werden mit hineingezogen, Iwan Fjodorytsch, junge Damen, die zur besten Gesellschaft gehören und in heiratsfähigem Alter stehen, die sind da mit dabeigewesen, haben dabeigestanden, haben alles mit angehört, und auch bei der Geschichte mit den dummen Burschen sind sie zugegen gewesen – freuen Sie sich doch! –, auch da sind sie dabeigewesen und haben zugehört! Ich werde das diesem Menschen, dem Fürsten, nicht verzeihen, nein, niemals werde ich ihm das verzeihen! Und warum ist Aglaja drei Tage lang so nervös gewesen, warum hat sie sich mit ihren Schwestern gezankt, sogar mit Alexandra, der sie sonst immer wie einer Mutter die Hände geküßt hat – so hat sie sie verehrt? Warum gibt sie seit drei Tagen uns allen Rätsel auf? Was hat das mit Gawrila Iwolgin zu bedeuten? Wie kam sie gestern und heute darauf, Gawrila Iwolgin zu loben, und brach dann in Tränen aus? Warum wird in diesem anonymen Brief dieser verdammte »arme Ritter« erwähnt, während sie den Brief, den sie vom Fürsten bekommen hatte, nicht einmal ihren Schwestern gezeigt hat? Und warum ... weshalb, weshalb bin ich jetzt wie eine Verrückte zu ihm hingerannt und habe ihn selbst hierhergeschleppt? O Gott, ich habe wohl den Verstand verloren, daß ich so etwas anrichte! Mit einem jungen Mann von den Geheimnissen meiner Tochter zu reden, und noch dazu... noch dazu von solchen Geheimnissen, die beinah ihn selbst betreffen! O Gott, es ist noch ein Glück, daß er ein Idiot und... und... ein Freund unseres Hauses ist! Aber hat sich Aglaja denn wirklich in eine solche Mißgeburt verlieben können! O Gott, was fasele ich da! Pfui! Wir sind die reinen Originale... man müßte uns alle unter Glas ausstellen, mich zuerst, für zehn Kopeken Eintrittspreis. Das werde ich Ihnen nicht verzeihen, Iwan Fjodorytsch, niemals werde ich Ihnen das verzeihen! Und warum nimmt sie ihn sich jetzt nicht gehörig vor? Sie hatte gesagt, daß sie das tun wolle, und nun tut sie es nicht! Da, da, sie sieht ihn mit weitgeöffneten Augen an, schweigt, geht nicht weg, bleibt da, und dabei hatte sie ihm doch selbst verboten herzukommen... Er sitzt ganz blaß da. Und dieser verdammte, verdammte Schwätzer Jewgenij Pawlowitsch hat das ganze Gespräch an sich gerissen! Sieh mal, wie ihm das Mundwerk geht, keinen andern läßt er zu Worte kommen. Ich würde alles sofort erfahren, wenn ich nur die Rede darauf bringen könnte...' Der Fürst saß tatsächlich ganz blaß an dem runden Tisch und schien sich gleichzeitig in großer Angst und für Augenblicke in einem ihm selbst unbegreiflichen Entzücken zu befinden, das seine Seele ergriffen hatte. Oh, wie er sich fürchtete, nach jener Seite hinzusehen, nach jenem Winkel, von wo zwei wohlbekannte schwarze Augen beharrlich auf ihn gerichtet waren, und wie er gleichzeitig fast verging vor Glückseligkeit darüber, daß er hier wieder unter ihnen saß und die wohlbekannte Stimme hörte – trotz allem, was sie ihm geschrieben hatte! ›O Gott, was wird sie jetzt sagen!‹ Er selbst hatte noch kein einziges Wort gesprochen und hörte mit Anstrengung dem unaufhaltsam redenden Jewgenij Pawlowitsch zu, der sich selten in so zufriedener, angeregter Stimmung befunden hatte wie jetzt an diesem Abend. Der Fürst hörte ihn lange reden und verstand kaum ein Wort. Außer Iwan Fjodorytsch, der noch nicht aus Petersburg zurückgekehrt war, waren alle vollzählig versammelt. Fürst Schtsch. war ebenfalls anwesend. Wie es schien, hatten sie sich versammelt, um nach einiger Zeit, noch vor dem Tee, zum Konzert zu gehen. Das jetzige Gespräch war offenbar schon vor der Ankunft des Fürsten in Gang gekommen. Bald darauf schlüpfte auch Kolja in die Veranda herein, ohne daß man gewußt hätte, von wo er kam. ›Also wird er hier wie früher empfangen‹, sagte sich der Fürst im stillen. Das Jepantschinsche Landhaus war luxuriös im Schweizerstil gebaut und auf allen Seiten mit Blumen und Blattpflanzen schön geschmückt. Auf allen Seiten war es von einem kleinen, aber hübschen Blumengarten umgeben. Alle saßen in der Veranda wie vor kurzem beim Fürsten; nur war die Veranda etwas geräumiger und eleganter eingerichtet. Der Gegenstand des Gespräches, das geführt wurde, schien nicht allen sonderlich zu behagen; dieses Gespräch hatte, wie man merken konnte, seinen Ursprung von einer hitzigen Debatte genommen, und alle hätten gewiß gern das Thema gewechselt; aber Jewgenij Pawlowitsch schien nun erst recht eigensinnig an ihm festzuhalten, ohne sich um die Empfindungen der übrigen zu kümmern, und es war, als würde durch die Ankunft des Fürsten sein Eifer noch erhöht. Lisaweta Prokofjewna machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie nicht alles verstand. Aglaja, die abseits, fast in einer Ecke, saß, ging nicht fort, hörte zu und schwieg hartnäckig. »Erlauben Sie«, sagte Jewgenij Pawlowitsch eifrig, »ich sage nichts gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist keine Sünde, er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservativismus. Ich greife jedoch den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, daß ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Rußland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler. Zeigen Sie mir einen russischen Liberalen, und ich will ihn sogleich vor Ihren Augen küssen.« »Wenn er Sie nur wird küssen wollen«, bemerkte Alexandra Iwanowna, die sich in großer Erregung befand. Selbst ihre Wangen waren röter als sonst. ›Nun sieh mal an!‹ dachte Lisaweta Prokofjewna für sich. ›Sonst schläft und ißt sie nur und ist gar nicht aufzurütteln, und dann richtet sie sich einmal im Jahr auf und redet so lebhaft, daß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.‹ Der Fürst nahm schon bei flüchtiger Beobachtung wahr, daß es Alexandra Iwanowna stark mißfiel, daß Jewgenij Pawlowitsch in so munterem Ton sprach, nämlich daß er über einen ernsten Gegenstand sprach und anscheinend in Eifer geriet, dabei aber doch scherzte. »Ich habe soeben kurz vor Ihrer Ankunft, Fürst«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch fort, »die Behauptung aufgestellt, daß bei uns bisher die Liberalen nur zwei Gesellschaftsschichten angehört haben: der früheren (jetzt abgeschafften) gutsherrlichen und der seminaristischen. Und da diese beiden Stände sich schließlich in richtige Kasten, in etwas von der Nation völlig Abgesondertes verwandelten, und zwar je länger, in um so höherem Grad, von einer Generation zur andern immer mehr, so war und ist auch alles, was sie getan haben und tun, ganz nicht-national...« »Wie? Also wäre alles, was auf diesem Gebiete getan worden ist, nichtrussisch?« versetzte Fürst Schtsch. »Es ist nicht national; obgleich es von Russen getan ist, ist es doch nicht national; weder unsere Liberalen noch unsere Konservativen sind echte Russen, keiner... Und seien Sie überzeugt, daß die Nation nichts von dem anerkennen wird, was von den Gutsherren und Seminaristen getan ist, weder jetzt noch später...« »Nun, das ist ja nett! Wie können Sie nur eine so paradoxe Behauptung verfechten, wenn Sie es überhaupt ernst meinen! Ich kann solchen Angriffen auf die russischen Gutsherrn keine Berechtigung zuerkennen, Sie selbst sind ja ein russischer Gutsherr!« erwiderte Fürst Schtsch. sehr erregt. »Ich rede ja von den russischen Gutsherren auch nicht in dem Sinne, wie Sie das annehmen. Das ist ein Stand, der alle Achtung verdient, und wär's auch nur deswegen, weil ich zu ihm gehöre; besonders jetzt, wo er aufgehört hat, ein Stand zu sein...« »Hat es etwa auch in der Literatur nichts Nationales gegeben?« unterbrach ihn Alexandra Iwanowna. »Ich bin mit der Literatur nicht vertraut, aber auch die russische Literatur ist meiner Ansicht nach in ihrem ganzen Umfang nichtrussisch, ausgenommen etwa Lomonossow, Puschkin und Gogol.« »Erstens ist das gerade nicht wenig, und zweitens stammt einer von ihnen aus dem Volk, während die beiden andern Gutsherren waren«, versetzte Adelaida lachend. »Ganz richtig, aber triumphieren Sie nicht zu früh! Da es von allen russischen Schriftstellern bisher nur diesen dreien gelungen ist, etwas wirklich Eigenes zu sagen, etwas, was sie von keinem andern entlehnt haben, so sind sie eben dadurch alle drei sofort national geworden. Wenn ein Russe etwas Eigenes sagt, schreibt oder tut, etwas Eigenes, das er von niemand übernommen und entlehnt hat, so wird er unfehlbar national, selbst wenn er schlecht russisch spricht. Das ist für mich ein Axiom. Aber wir sprachen ursprünglich nicht von der Literatur, wir begannen von den Sozialisten zu sprechen, und durch sie hat das Gespräch diesen Gang genommen; nun also, ich behaupte, daß wir keinen einzigen russischen Sozialisten haben; es gibt keinen und hat keinen gegeben, weil alle unsere Sozialisten aus den Gutsherren- oder Seminaristenkreisen hervorgegangen sind. Alle unsere überzeugten, erklärten Sozialisten, sowohl die hiesigen als die im Ausland lebenden, sind weiter nichts als liberale Gutsherren aus den Zeiten der Leibeigenschaft. Warum lachen Sie? Geben Sie mir ihre Bücher, ihre Lehren, ihre Memoiren, und obgleich ich kein zünftiger Kritiker bin, mache ich mich anheischig, Ihnen eine überzeugende Kritik abzufassen, in der ich sonnenklar beweisen werde, daß jede Seite ihrer Bücher, Broschüren und Memoiren mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem früheren russischen Gutsherrn geschrieben ist. Ihr Zorn, ihre Entrüstung, ihr Witz, alles weist auf Gutsherren als Verfasser hin (sogar auf solche aus der Zeit vor Famussow); Gestalt aus Gribojedows Komödie »Verstand schafft Leiden«. nicht minder ihr Entzücken, ihre Tränen, die vielleicht wahr und echt sind. Alles paßt zu Gutsherren oder auch zu Seminaristen... Sie lachen wieder, und auch Sie lachen, Fürst? Sind auch Sie nicht meiner Meinung?« In der Tat lachten alle, auch der Fürst lächelte. »Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich Ihrer Meinung bin oder nicht«, erwiderte der Fürst, indem er plötzlich aufhörte zu lächeln und wie ein ertappter Schuljunge zusammenfuhr, »Aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen mit außerordentlichem Vergnügen zuhöre...« Als er dies sagte, konnte er kaum Luft holen, und es trat ihm sogar kalter Schweiß auf die Stirn. Dies waren die ersten Worte, die er sprach, seit er sich hingesetzt hatte. Er wollte den Versuch machen, sich im Kreis der Anwesenden umzuschauen, aber er wagte es nicht; Jewgenij Pawlowitsch hatte seine Kopfbewegung bemerkt und lächelte. »Ich werde Ihnen eine Tatsache mitteilen, meine Herrschaften«, fuhr er in dem früheren Ton fort, das heißt scheinbar mit großem Eifer und großer Anteilnahme, gleichzeitig aber beinah lachend, vielleicht über seine eigenen Worte, »eine Tatsache, eine Beobachtung, sogar eine Entdeckung, die ich die Ehre habe, mir selbst zuzuschreiben und sogar mir ganz allein; wenigstens ist darüber nirgends etwas gesagt oder geschrieben worden. In dieser Tatsache kommt das ganze Wesen jener Art von russischem Liberalismus, von der ich rede, zum Ausdruck. Erstens: was ist denn der Liberalismus, allgemein gesprochen, anderes als ein Angriff (vernünftig oder unsinnig, das ist eine andere Frage) auf die bestehende Ordnung der Dinge? Nicht wahr? Die von mir beobachtete Tatsache besteht nun darin, daß der russische Liberalismus nicht ein Angriff auf die bestehende Ordnung der Dinge ist, sondern ein Angriff auf das Wesen unserer Dinge selbst, auf die Dinge selbst und nicht nur auf ihre Ordnung, ein Angriff nicht auf russische Einrichtungen, sondern auf Rußland selbst. Mein Liberaler ist dahin gelangt, die Existenzberechtigung Rußlands selbst zu verneinen, das heißt, er haßt und schlägt seine eigene Mutter. Alles, was in Rußland unglücklich ausfällt und mißlingt, bringt ihn zum Lachen und versetzt ihn beinah in Entzücken. Er haßt die Volkssitten, die russische Geschichte und alles. Wenn es für ihn eine Entschuldigung gibt, so kann sie höchstens darin bestehen, daß er nicht weiß, was er tut, und seinen Haß gegen Rußland für den fruchtbarsten Liberalismus hält (oh, Sie können bei uns nicht selten einen Liberalen finden, dem die übrigen Beifall klatschen und der vielleicht in Wirklichkeit der abgeschmackteste, stumpfsinnigste und gefährlichste Konservative ist, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben!). Diesen Haß gegen Rußland hielten vor noch nicht allzulanger Zeit manche unserer Liberalen beinah für die wahre Vaterlandsliebe und rühmten sich, besser als andere Leute zu erkennen, worin diese bestehen müsse; aber jetzt sind sie schon aufrichtiger geworden und haben sich sogar des Wortes ›Vaterlandsliebe‹ zu schämen angefangen, ja sogar den Begriff als nichtig und schädlich ausgemerzt und entfernt. Das ist eine sichere Tatsache, die ich verbürgen kann... es muß doch einmal die Wahrheit vollständig, schlicht und aufrichtig ausgesprochen werden. Ein solches Verhalten des Liberalismus ist aber seit Menschengedenken nie und bei keinem Volke vorgekommen, und es mag daher etwas Zufälliges sein und vielleicht vorübergehen, das will ich zugeben. Ein Liberaler, der einen Haß auf sein eigenes Vaterland hätte, ist in keinem andern Lande möglich. Wodurch läßt sich nun diese Erscheinung bei uns erklären? Durch denselben Gedanken, den ich schon vorhin aussprach: dadurch, daß der Liberale in Rußland vorläufig noch nicht ein russischer Liberaler ist; meiner Ansicht nach ist das die einzig mögliche Erklärung.« »Ich fasse alles, was du gesagt hast, als Scherz auf, Jewgenij Pawlowitsch«, bemerkte Fürst Schtsch. in ernstem Tone. »Ich habe nicht alle Liberalen kennengelernt und erlaube mir daher kein Urteil«, sagte Alexandra Iwanowna. »Aber ich bin über Ihre Darlegung ganz empört: Sie haben einen vereinzelten Fall genommen und eine allgemeine Regel daraus gemacht; folglich haben Sie verleumdet.« »Einen vereinzelten Fall? Ah, ah! Das ist ein wichtiger Ausdruck, den Sie da gebraucht haben!« versetzte Jewgenij Pawlowitsch. »Wie denken Sie darüber, Fürst? Ist es ein vereinzelter Fall oder nicht?« »Ich muß ebenfalls bekennen, daß ich nur wenige Liberale kennengelernt und nur wenig mit ihnen verkehrt habe«, antwortete der Fürst. »Aber es scheint mir, daß Sie vielleicht bis zu einem gewissen Grade recht haben und daß dieser russische Liberalismus, von dem Sie gesprochen haben, tatsächlich teilweise dazu neigt, Rußland selbst zu hassen und nicht nur dessen Einrichtungen. Natürlich wird das nur teilweise zutreffen... und kann natürlich nicht von allen Liberalen gesagt werden.« Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine scherzhafte Erwiderung von Seiten des andern befürchtete, spiegelten sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgenij Pawlowitsch sich sonst immer nur mit einem besonderen Lächeln an ihn wandte, so blickte er ihn jetzt bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort von ihm in keiner Weise erwartet hätte. »So... aber das ist doch seltsam«, sagte er. »War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?« »Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?« erwiderte dieser erstaunt. Alle lachten. »Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgenij Pawlytsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!« »Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir wollten doch spazierengehen...« »Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!« rief Jewgenij Pawlowitsch. »Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe, und namentlich, um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch nicht, obwohl ich wirklich oberflächlich bin!), und... zu diesem Zweck, meine Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl, Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie mir beantwortet, aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war soeben von einem ›vereinzelten Fall‹ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen Mord, den dieser... junge Mann an sechs Menschen begangen hat, und von der seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hat, dem Verbrecher habe bei seinen ärmlichen Verhältnissen naturgemäß der Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden. Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken auszusprechen, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?« Alle lachten. »Ein vereinzelter Fall, selbstverständlich ein vereinzelter Fall!« riefen Alexandra und Adelaide lachend. »Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgenij Pawlytsch«, fügte Fürst Schtsch. hinzu, »daß dein Scherz schon sehr abgenutzt ist.« »Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte, ohne darauf zu hören, Jewgenij Pawlowitsch, der wahrnahm, daß ihn Fürst Lew Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. »Was meinen Sie: war das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.« »Nein, das war kein vereinzelter Fall«, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme. »Aber ich bitte Sie, Lew Nikolajewitsch«, rief Fürst Schtsch. ein wenig ärgerlich, »sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt? Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig zu machen.« »Ich glaubte, Jewgenij Pawlytsch spräche im Ernst«, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder. »Lieber Fürst«, fuhr Fürst Schtsch. fort, »denken Sie doch an ein Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen namentlich darüber, daß es in unseren jungen, neueröffneten Gerichten bereits viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger gibt. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut, und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut..., wir sagten, daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein... Aber diese ungeschickte Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.« Fürst Lew Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete aber dann im Ton festester Überzeugung, wenn auch leise und gewissermaßen schüchtern: »Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgenij Pawlytsch ausdrückte) sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Und sogar so sehr, daß, wenn diese Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese...« »Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns, sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen zu reden und sogar zu schreiben; daher entsteht nun der Anschein, als seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, glauben Sie mir«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd. »Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch furchtbarere Verbrecher als jenen jungen Mann, Verbrecher, von denen ein jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne irgendwelche Reue zu verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist, das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt hat, obwohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber diejenigen, von denen Jewgenij Pawlytsch gesprochen hat, wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und... hätten sogar gut gehandelt, das heißt, ungefähr so denken sie. Darin besteht meiner Ansicht nach der furchtbare Unterschied. Und beachten Sie, daß das lauter junge Leute sind, das heißt Leute in dem Lebensalter, in welchem man am leichtesten und schutzlosesten in eine Verdrehung der Anschauungen verfallen kann.« Fürst Schtsch. lachte nicht mehr und hörte dem Fürsten erstaunt zu. Alexandra Iwanowna, die schon lange etwas hatte sagen wollen, schwieg, als hielte ein besonderer Gedanke sie vom Reden zurück. Jewgenij Pawlowitsch aber sah den Fürsten mit unverhohlener Verwunderung und jetzt ohne eine Spur von Lächeln an. »Aber warum wundern Sie sich denn so über ihn, mein Herr?« mischte sich Lisaweta Prokofjewna unerwartet in das Gespräch. »Ist er etwa dümmer als Sie, weil sein Urteil von dem Ihrigen abweicht?« »Nein, so etwas denke ich nicht«, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch. »Aber wie geht es denn zu, Fürst (entschuldigen Sie die Frage!), wenn Sie das alles so scharf beobachten und erkennen, wie geht es denn zu, daß Sie (ich bitte nochmals um Verzeihung) bei dieser sonderbaren Angelegenheit... ich meine das, was sich vor einigen Tagen ereignete... bei der Angelegenheit dieses Herrn – Burdowskij heißt er ja wohl... wie geht es denn zu, daß Sie da die ganz gleiche Verdrehung der Ideen und moralischen Anschauungen nicht bemerkten? Es war ja doch ganz genau dasselbe! Ich hatte damals den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht bemerkt hatten.« »Ja, sehen Sie mal, Väterchen«, ereiferte sich Lisaweta Prokofjewna, »wir haben es damals alle bemerkt, und nun sitzen wir hier und brüsten uns damit vor ihm, aber er, er hat heute von einem dieser Leute einen Brief erhalten, von der eigentlichen Hauptperson, von dem mit den Pickeln im Gesicht, erinnerst du dich, Alexandra? In dem Brief bittet er ihn um Verzeihung, wenn auch so auf seine Art, und teilt ihm mit, daß er sich von jenem Kameraden, der ihn damals aufgehetzt hatte, losgesagt habe – du erinnerst dich doch, Alexandra? Und er glaube dem Fürsten jetzt mehr als jenem. Na, aber wir haben einen solchen Brief noch nicht erhalten, obgleich wir uns hier dem Fürsten gegenüber so hochnäsig benehmen.« »Und Ippolit ist auch jetzt eben zum Fürsten in das Landhaus gezogen!« rief Kolja. »Wie? Ist er schon hier?« fragte der Fürst aufgeregt. »Gleich nachdem Sie mit Lisaweta Prokofjewna weggegangen waren, ist er eingetroffen; ich habe ihn hertransportiert!« »Na, da möchte ich wetten«, fuhr Lisaweta Prokofjewna heftig auf, die ganz vergaß, daß sie den Fürsten einen Augenblick vorher gelobt hatte, »da möchte ich wetten, daß er gestern zu ihm hingefahren ist und ihn in seiner Dachkammer kniefällig um Verzeihung gebeten hat, damit diese boshafte Kanaille sich herablassen möchte, hierher überzusiedeln. Bist du gestern zu ihm hingefahren? Du hast ja neulich selbst bekannt, daß du es tun wolltest. Ja oder nein? Bist du vor ihm auf die Knie gefallen oder nicht?« »Auf die Knie ist er ganz und gar nicht gefallen«, rief Kolja. »Ganz im Gegenteil: Ippolit hat gestern die Hand des Fürsten ergriffen und zweimal geküßt, das habe ich selbst gesehen, und damit endete die ganze Aussprache; der Fürst sagte nur noch ganz einfach, Ippolit werde sich in der Sommerfrische wohler fühlen, und der war sofort damit einverstanden überzusiedeln, sobald es ihm nur ein wenig besser gehen würde.« »Sie hätten das nicht sagen sollen, Kolja...«, murmelte der Fürst, indem er aufstand und nach seinem Hut griff. »Warum erzählen Sie das? Ich...« »Wohin willst du denn?« hielt ihn Lisaweta Prokofjewna zurück. »Lassen Sie sich hier nicht stören, Fürst!« fuhr Kolja in seinem Feuereifer fort. »Gehen Sie nicht zu ihm hin, und beunruhigen Sie ihn nicht, er ist von der Fahrt ermüdet und eingeschlafen; er freut sich sehr; und wissen Sie, Fürst, meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie ihn jetzt nicht aufsuchen. Verschieben Sie es lieber auf morgen, sonst wird er wieder verlegen. Er hat heute vormittag zu mir gesagt, er habe sich schon seit einem halben Jahr nicht so wohl und kräftig gefühlt; er hustet sogar viel weniger.« Der Fürst bemerkte, daß Aglaja plötzlich ihren Platz verließ und an den Tisch herantrat. Er wagte nicht, nach ihr hinzublicken, aber er fühlte mit seinem ganzen Wesen, daß sie ihn in diesem Augenblick ansah und vielleicht zornig ansah und daß in ihren schwarzen Augen jedenfalls ein Ausdruck des Unwillens lag und ihr Gesicht glühte. »Ich glaube, Nikolai Ardalionowitsch, Sie haben nicht gut daran getan, ihn hierherzubringen, wenn es sich um jenen schwindsüchtigen jungen Menschen handelt, der damals zu weinen anfing und uns zu seinem Begräbnis einlud«, bemerkte Jewgenij Pawlowitsch. »Er sprach damals in so pathetischen Ausdrücken von der Mauer des Nachbarhauses, daß er sich unbedingt nach dieser Mauer zurücksehnen wird, davon können Sie überzeugt sein.« »Das ist ganz richtig. Er wird sich mit dir zanken und überwerfen und wieder wegfahren – weiter kommt nichts dabei heraus!« Nach diesen Worten zog Lisaweta Prokofjewna würdevoll den Korb mit ihrer Handarbeit zu sich heran, da sie ganz vergessen hatte, daß alle bereits aufgestanden waren, um den Spaziergang anzutreten. »Es ist mir erinnerlich, daß er mit dieser Mauer sehr geprahlt hat«, begann Jewgenij Pawlowitsch von neuem. »Ohne diese Mauer wird er nicht mit großartigen Redewendungen sterben können, und daran ist ihm doch viel gelegen.« »Nun gut«, murmelte der Fürst, »wenn Sie ihm nicht verzeihen wollen, wird er eben ohne Ihre Verzeihung sterben... Jetzt ist er um der Bäume willen hierher übergesiedelt.« »Oh, ich meinerseits verzeihe ihm alles, das können Sie ihm ausrichten.« »So darf die Sache nicht aufgefaßt werden«, antwortete der Fürst leise und anscheinend nur ungern, indem er fortfuhr, mit gesenkten Augen auf einen Punkt des Fußbodens zu blicken. »Es ist erforderlich, daß auch Sie bereit sind, von ihm Verzeihung anzunehmen.« »Aber was habe ich denn damit zu tun? Was habe ich ihm denn zuleide getan?« »Wenn Sie das nicht verstehen, so... aber Sie verstehen es ja; er wollte damals... Sie alle segnen und Ihren Segen empfangen, weiter nichts...« »Lieber Fürst«, fiel Fürst Schtsch. schnell mit einer gewissen Behutsamkeit ein, nachdem er mit einem und dem andern von den Anwesenden einen Blick gewechselt hatte, »das Paradies läßt sich auf Erden nicht so leicht wiederherstellen, und doch rechnen Sie gewissermaßen mit einer Wiederherstellung des Paradieses; das ist ein schweres Ding, Fürst, weit schwerer, als es Ihrem prächtigen Herzen erscheint. Wir wollen lieber davon aufhören, sonst geraten wir alle am Ende wieder ins Streiten, und dann...« »Wir wollen zur Musik gehen«, sagte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und erhob sich ärgerlich von ihrem Platz. Alle schlossen sich ihr an. II Der Fürst trat plötzlich an Jewgenij Pawlowitsch heran. »Jewgenij Pawlytsch«, sagte er mit auffälliger Wärme, indem er seine Hand ergriff, »seien Sie überzeugt, daß ich Sie trotz allem für den edelsten, besten Menschen halte; das versichere ich Ihnen...« Jewgenij Pawlowitsch war so erstaunt, daß er sogar einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte er die größte Mühe, einen starken Lachreiz zu unterdrücken; aber bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Fürst kaum seiner selbst mächtig war und sich jedenfalls in einem ganz eigenartigen Zustand befand. »Ich möchte wetten, Fürst«, rief er, »daß Sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten und vielleicht gar nicht zu mir... Aber was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Möglich, sehr möglich, und Sie haben sehr richtig bemerkt, daß ich mich vielleicht gar nicht an Sie wenden wollte!« Nach diesen Worten lächelte er ganz seltsam und sogar komisch, aber plötzlich schien er in starke Erregung zu geraten und rief: »Erinnern Sie mich nicht an mein Benehmen vor drei Tagen! Ich habe mich diese drei Tage sehr geschämt... Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe...« »Aber... aber was haben Sie denn so Schreckliches getan?« »Ich sehe, daß Sie sich vielleicht mehr für mich schämen, als es die andern alle tun, Jewgenij Pawlowitsch. Sie erröten, und das ist das Zeichen eines guten Herzens. Ich gehe sogleich weg, glauben Sie mir!« »Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja. »Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna, ich bekomme keinen Anfall; ich werde gleich weggehen. Ich weiß, daß ich... von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als die eines Kranken auf. Ich werde gleich weggehen, gleich, seien Sie dessen versichert. Ich erröte deswegen nicht, denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht... Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl... Ich habe in diesen drei Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen... Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus, darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht... Außerdem bin ich mißtrauisch, ich ... ich bin überzeugt, daß mich in diesem Hause niemand kränken will und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene, aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal... nicht umhinkönnen, über mich zu lachen... nicht wahr?« Er blickte um sich und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich berührt durch dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß. »Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!« Sie schien im höchsten Grade entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß. »Hier ist niemand, der solche Worte verdiente!« fuhr Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner Finger und reichen nicht an Ihren Verstand und Ihr Herz heran! Sie sind ehrlicher als sie alle, edler als sie alle, klüger als sie alle! Manche sind hier nicht wert, sich zu bücken und das Taschentuch aufzuheben, das Sie soeben haben hinfallen lassen ... Warum setzen Sie sich selbst herab und stellen sich niedriger als alle? Warum karikieren Sie all Ihre guten Eigenschaften? Warum besitzen Sie so gar keinen Stolz?« »Mein Gott, ist es zu glauben?« rief Lisaweta Prokofjewna und schlug die Hände zusammen. »Der arme Ritter! Hurra!« schrie Kolja begeistert. »Schweigen Sie!... Wie kann jemand wagen, mich hier in Ihrem Hause zu beleidigen!« fiel Aglaja plötzlich mit größter Heftigkeit über ihre Mutter her. Sie befand sich bereits in jenem hysterischen Zustand, in dem der Mensch keine Grenzen mehr kennt und über jedes Hindernis hinwegschreitet. »Warum peinigen sie mich alle, alle ohne Ausnahme? Warum haben alle diese Menschen mir diese drei Tage lang um Ihretwillen zugesetzt, Fürst? Ich werde Sie um keinen Preis heiraten! Hören Sie wohl: um keinen Preis und niemals! Das mögen Sie wissen! Wie kann man denn auch einen so lächerlichen Menschen wie Sie heiraten? Betrachten Sie sich jetzt nur einmal im Spiegel, wie Sie dastehen!... Warum, warum ziehen mich alle damit auf, daß ich Sie heiraten werde? Sie, Sie müssen das wissen! Sie sind auch mit in der Verschwörung!« »Nie hat dich jemand damit aufgezogen!« murmelte Adelaida erschrocken. »Es ist keinem in den Sinn gekommen, kein Wort von der Art ist gesprochen worden!« rief Alexandra Iwanowna. »Wer hat sie aufgezogen? Wann ist das geschehen? Wer hat es fertiggebracht, so etwas zu ihr zu sagen? Redet sie irre?« Mit diesen Fragen wandte sich Lisaweta Prokofjewna, zitternd vor Zorn, an alle Anwesenden. »Alle haben es gesagt, alle ohne Ausnahme, die ganzen drei Tage lang! Aber ich werde ihn niemals heiraten, niemals!« Nach diesen heftig hervorgestoßenen Worten brach Aglaja in bittere Tränen aus, verbarg ihr Gesicht im Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Aber er hat dir ja noch gar keinen Antrag...« »Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, Aglaja Iwanowna«, entfuhr es dem Fürsten unwillkürlich. »Wa-as?« rief Lisaweta Prokofjewna erstaunt, entrüstet, erschrocken aus und zog dieses Wort sehr in die Länge. »Was – soll – das – heißen?« Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ich wollte sagen... ich wollte sagen«, erwiderte der Fürst zitternd, »ich wollte Aglaja Iwanowna nur erklären... die Ehre haben zu erklären, daß ich überhaupt nicht beabsichtigte... die Ehre zu haben, um ihre Hand zu bitten... zu keiner Zeit... Ich bin hierbei ganz unschuldig, bei Gott, ganz unschuldig, Aglaja Iwanowna! Ich habe es nie gewollt, und es ist mir nie in den Sinn gekommen, ich werde es niemals wollen, das werden Sie selbst sehen: davon können Sie überzeugt sein! Irgendein schlechter Mensch muß mich bei Ihnen verleumdet haben! Seien Sie ganz beruhigt!« Während er das sagte, näherte er sich dem aufgeregten Mädchen. Diese nahm das Taschentuch weg, mit dem sie ihr Gesicht verhüllt hatte, warf einen schnellen Blick auf ihn und seine ganze erschrockene Gestalt, wurde sich über den Sinn seiner Worte klar und lachte ihm auf einmal gerade ins Gesicht, mit einem so lustigen, unbezwingbaren Lachen, einem so komischen, spöttischen Lachen, daß als erste Adelaida sich nicht halten konnte, namentlich nachdem sie ebenfalls den Fürsten angeblickt hatte, zu ihrer Schwester hinstürzte, sie umarmte und in ein ebenso unbezwingbares, schulmädchenhaft lustiges Lachen ausbrach wie diese. Beim Anblick der beiden begann der Fürst plötzlich zu lächeln und sagte mit fröhlicher, glückseliger Miene mehrmals: »Nun, Gott sei Dank, Gott sei Dank!« Jetzt konnte sich auch Alexandra nicht mehr beherrschen und begann ebenso herzhaft zu lachen. Es schien, als wollte dieses Gelächter der drei Mädchen gar kein Ende nehmen. »Na, sie sind verrückt!« murmelte Lisaweta Prokofjewna. »Erst jagen sie einem einen Schreck ein, und dann...« Aber jetzt lachte auch schon Fürst Schtsch., auch Jewgenij Pawlowitsch lachte, Kolja lachte ohne Aufhören, und beim Anblick des allgemeinen Gelächters lachte auch der Fürst. »Wir wollen Spazierengehen, wir wollen Spazierengehen!« rief Adelaida. »Alle zusammen wollen wir gehen, und der Fürst muß unbedingt mit uns kommen; Sie dürfen nicht weggehen, Sie lieber Mensch! Was für ein lieber Mensch er ist, Aglaja! Nicht wahr, Mamachen? Ich muß ihn unbedingt, unbedingt umarmen und ihm einen Kuß geben für... für die Erklärung, die er unserer Aglaja soeben gemacht hat. Liebe maman, erlauben Sie mir, ihm einen Kuß zu geben! Aglaja, erlaube mir, deinen Fürsten zu küssen!« rief die Übermütige, sprang wirklich zu dem Fürsten hin und küßte ihn auf die Stirn. Dieser ergriff ihre beiden Hände, drückte sie kräftig, so daß Adelaida beinah aufschrie, sah ihr mit grenzenloser Freude ins Gesicht, führte plötzlich schnell ihre Hand an seine Lippen und küßte sie dreimal. »Wir wollen gehen!« rief Aglaja. »Fürst, Sie sollen mich führen! Darf das ein junger Mann tun, maman, der mir einen Korb gegeben hat? Ihre Absage an mich gilt ja doch wohl gleich für das ganze Leben, Fürst? Aber doch nicht so! So gibt man einer Dame doch nicht den Arm! Wissen Sie denn nicht, wie man eine Dame am Arm führt? So macht man das! Nun kommen Sie, wir wollen allen vorangehen; wollen Sie mit mir vorangehen, tête-à-tête?« Sie sprach ohne Pause und wurde dazwischen immer noch wieder von Lachen geschüttelt. »Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sagte Lisaweta Prokofjewna ein Mal über das andere, ohne selbst zu wissen, worüber sie sich eigentlich freute. »Ganz sonderbare Menschen!« dachte Fürst Schtsch. vielleicht zum hundertstenmal, seit er sie kennengelernt hatte, aber... diese sonderbaren Menschen gefielen ihm. Was den Fürsten anlangte, so gefiel ihm der vielleicht nicht so besonders; Fürst Schtsch. machte ein sehr ernstes Gesicht und schien nicht frei von Sorgen, als alle den Spaziergang antraten. Jewgenij Pawlowitsch befand sich anscheinend in heiterster Gemütsstimmung; während des ganzen Weges zum Vauxhall unterhielt er Alexandra und Adelaida mit den lustigsten Reden, und die jungen Damen lachten mit ganz besonderer Bereitwilligkeit über seine Scherze, mit einer solchen Bereitwilligkeit, daß ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, sie hörten auf das, was er sagte, vielleicht überhaupt nicht hin. Infolge dieses Gedankens brach er plötzlich, ohne einen Grund anzugeben, in lautes Gelächter aus, das ihm ganz von Herzen kam (so war nun einmal sein Charakter!). Die beiden Schwestern, die übrigens in einer Art festlicher Stimmung waren, blickten fortwährend nach Aglaja und dem Fürsten hin, die vor ihnen gingen; offenbar hatte die jüngste Schwester ihnen ein schweres Rätsel aufgegeben. Fürst Schtsch. war andauernd bemüht, Lisaweta Prokofjewna mit nebensächlichen Dingen zu unterhalten, vielleicht, um sie zu zerstreuen, und wurde ihr damit sehr lästig. Sie schien ganz verstört zu sein und gab Antworten, die nicht zu den Fragen paßten, mitunter antwortete sie auch überhaupt nicht. Aber die Rätsel, die Aglaja Iwanowna den anderen an diesem Abend aufgab, hatten noch nicht ihr Ende erreicht. Das letzte Rätsel legte sie dem Fürsten allein vor. Als sie sich ungefähr hundert Schritte von dem Landhaus entfernt hatten, sagte Aglaja hastig, halb flüsternd zu ihrem hartnäckig schweigenden Kavalier: »Blicken Sie einmal nach rechts!« Der Fürst blickte nach der angegebenen Richtung. »Blicken Sie recht aufmerksam hin! Sehen Sie da eine Bank im Park, da, wo die drei großen Bäume stehen... eine grüne Bank?« Der Fürst antwortete, daß er sie sehe. »Gefällt Ihnen das Plätzchen? Ich gehe manchmal frühmorgens gegen sieben Uhr, wenn alle noch schlafen, allein dorthin und sitze da.« Der Fürst murmelte, es sei ein sehr schönes Plätzchen. »Aber jetzt lassen Sie mich los, ich möchte nicht länger mit Ihnen untergefaßt gehen. Oder besser so: lassen Sie mir Ihren Arm, aber reden Sie mit mir kein Wort! Ich möchte still für mich nachdenken...« Dieses Verbot war jedenfalls überflüssig: der Fürst hätte sicherlich auch ohne solche Weisung auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Sein Herz begann furchtbar zu klopfen, als er die Mitteilung von der Bank hörte. Einen Augenblick darauf hatte er sich wieder gesammelt und wies voller Scham einen absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war. In dem Vauxhall in Pawlowsk versammelt sich an den Wochentagen, wie allgemein bekannt ist oder wenigstens alle behaupten, ein »feineres« Publikum als an Sonn- und Festtagen, wo »alle möglichen Leute« aus der Stadt kommen. Die Toiletten sind nicht festlich, aber elegant. Es ist Sitte, sich bei der Musik zu treffen. Die Kapelle ist vielleicht tatsächlich die beste unserer Gartenkapellen und spielt moderne Sachen. Man benimmt sich dort außerordentlich steif und korrekt, obwohl das Ganze bis zu einem gewissen Grade einen familiären, ja intimen Anstrich hat. Bekannte, sämtlich Sommerfrischler, finden sich dort zusammen, um sich gegenseitig zu mustern. Viele vollführen das mit wirklichem Vergnügen und gehen nur zu diesem Zwecke hin, aber es gibt auch einige, die lediglich um der Musik willen kommen. Skandalszenen sind äußerst selten, obwohl sie auch an Wochentagen vorkommen. Aber ganz ohne das geht es nun einmal nicht ab. Es war diesmal ein wundervoller Abend und ziemlich viel Publikum beisammen. Alle Plätze in der Umgebung der musizierenden Kapelle waren besetzt. Unsere Gesellschaft nahm auf Stühlen etwas mehr seitwärts Platz, dicht bei dem linken Vauxhallausgang. Die bunte Menge und die Musik übten auf Lisaweta Prokofjewna bis zu einem gewissen Grade eine belebende Wirkung aus und brachten den jungen Damen etwas Zerstreuung; sie hatten schon Zeit gefunden, mit diesem und jenem ihrer Bekannten einen Blick zu wechseln, dem einen und andern, von weitem freundlich zuzunicken, die Toiletten zu betrachten, einige Sonderbarkeiten daran zu bemerken, darüber ihre Ansichten auszutauschen und spöttisch zu lächeln. Jewgenij Pawlowitsch verneigte sich ebenfalls sehr häufig. Auf Aglaja und den Fürsten, die immer noch zusammen waren, war schon mancher aufmerksam geworden. Bald traten zur Mutter und zu den jungen Damen einzelne junge Männer aus ihrem Bekanntenkreis heran, um sie zu begrüßen; zwei oder drei blieben da und unterhielten sich mit ihnen; alle waren sie mit Jewgenij Pawlowitsch befreundet. Unter ihnen befand sich ein junger, sehr hübscher Offizier, ein sehr munterer, gesprächiger Mensch; er beeilte sich, mit Aglaja ein Gespräch anzuknüpfen, und bemühte sich aus allen Kräften, ihr Interesse zu erregen. Aglaja benahm sich ihm gegenüber sehr gnädig und war sehr lachlustig. Jewgenij Pawlowitsch bat den Fürsten um die Erlaubnis, ihn mit diesem Freund bekannt machen zu dürfen; der Fürst verstand kaum, was man mit ihm vorhatte, aber die Vorstellung kam doch zustande, beide verbeugten sich und reichten einander die Hand. Jewgenij Pawlowitschs Freund stellte eine Frage, aber der Fürst antwortete, wie es schien, gar nicht darauf oder murmelte höchstens in so sonderbarer Weise etwas vor sich hin, daß der Offizier ihn mit einem prüfenden Blick scharf anschaute, dann nach Jewgenij Pawlowitsch hinsah, sogleich begriff, warum dieser den Einfall gehabt hatte, sie einander vorzustellen, leise lächelte und sich wieder zu Aglaja wandte. Nur Jewgenij Pawlowitsch nahm es wahr, daß Aglaja plötzlich darüber errötete. Der Fürst bemerkte es nicht einmal, daß andere mit Aglaja sprachen und ihr den Hof machten; minutenlang vergaß er sogar, daß er selbst neben ihr saß. Manchmal befiel ihn ein Verlangen fortzugehen, ganz von hier zu verschwinden; es hätte ihm sogar ein düsterer, öder Ort zugesagt, wenn er nur hätte mit seinen Gedanken allein sein können und niemand gewußt hätte, wo er sich befände. Oder wenn er wenigstens hätte bei sich zu Hause sein können, in der Veranda, aber so, daß niemand bei ihm wäre, weder Lebedew noch die Kinder; dann hätte er sich auf sein Sofa geworfen, das Gesicht in das Kissen gedrückt und so einen ganzen Tag und eine Nacht und noch einen Tag dagelegen. In einzelnen Augenblicken sah er auch das Gebirge vor sich und namentlich eine ihm wohlbekannte Stelle in den Bergen, an die er immer gern zurückgedacht hatte; nach dieser Stelle war er gern hingegangen, als er noch dort wohnte, und hatte von da auf das Dorf hinabgeblickt und auf den nur schwach schimmernden weißen Faden des Wasserfalls und nach den weißen Wolken und der alten Burgruine. Oh, wie gern wäre er jetzt wieder dort gewesen und hätte an das eine gedacht – oh! das ganze Leben nur daran – und für tausend Jahre hätte er an diesem einen Gedanken genug gehabt! Und mochten sie ihn hier doch ganz vergessen. Oh, das war sogar notwendig und das beste würde sein, wenn man ihn hier gar nicht gekannt hätte und das alles nur ein Traumbild gewesen wäre. Aber war es denn nicht ganz gleich, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war? Manchmal begann er plötzlich Aglaja zu betrachten und konnte fünf Minuten lang seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen; aber sein Blick war sehr sonderbar: er schien sie so anzusehen, als wäre sie ein etwa zwei Werst von ihm entfernter Gegenstand oder als wäre sie ihr Porträt und nicht sie selbst. »Warum sehen Sie mich denn so an, Fürst?« fragte sie auf einmal, indem sie das heitere Geplauder und Gelache mit ihrer Umgebung unterbrach. »Ich fürchte mich vor Ihnen; ich habe immer die Vorstellung, Sie wollten die Hand ausstrecken und mein Gesicht mit den Fingern berühren, um es zu befühlen. Nicht wahr, Jewgenij Pawlowitsch, so sieht er mich an?« Der Fürst hörte, wie es schien, mit Erstaunen, daß sich jemand an ihn wandte, überlegte das Gesagte, obwohl er es vielleicht nicht ganz verstand, gab jedoch keine Antwort, aber als er sah, daß sie und alle andern lachten, öffnete er plötzlich den Mund und begann ebenfalls zu lachen. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; der Offizier, der offenbar ein lachlustiger Mensch war, schüttelte sich nur so vor Lachen. Aglaja flüsterte auf einmal zornig vor sich hin: »So ein Idiot!« ›O Gott! Kann sie denn wirklich so einen... ist sie denn ganz verrückt geworden?‹ dachte Lisaweta Prokofjewna zähneknirschend. »Es ist ein Scherz! Es ist derselbe Scherz wie damals mit dem ›armen Ritter‹«, flüsterte ihr Alexandra im Ton fester Überzeugung ins Ohr, »weiter nichts! Sie hat sich auf ihre Weise wieder über ihn lustig gemacht. Nur geht dieser Scherz zu weit, dem muß ein Ende gemacht werden, maman! Vorhin hat sie uns wie eine Komödiantin eine Szene vorgespielt und uns aus Unart einen Schreck eingejagt...« »Es ist noch ein Glück, daß sie an einen solchen Idioten geraten ist«, flüsterte ihr Lisaweta Prokofjewna als Antwort zu. Die Bemerkung der Tochter hatte ihr doch das Herz etwas leichter gemacht. Der Fürst hörte, daß er ein Idiot genannt wurde, und fuhr zusammen, aber nicht infolge dieser Benennung. Den »Idioten« vergaß er sofort wieder. Aber in der Menge, nicht weit von der Stelle, wo er saß, irgendwo seitwärts – er hätte die Stelle und den Punkt, wo es gewesen war, schlechterdings nicht bezeichnen können –, war ein Männergesicht aufgetaucht, ein blasses Gesicht, mit lockigem, dunklem Haar, mit einem ihm bekannten, sehr bekannten Blick und Lächeln, es war aufgetaucht und wieder verschwunden. Sehr möglich, daß er es sich nur eingebildet hatte; von der ganzen Vision blieb ihm nur der Eindruck des schiefen Lächelns, der Augen und des hellgrünen, stutzerhaften Halstuches, das der vorüberhuschende Herr getragen hatte, im Gedächtnis haften. Ob dieser Herr in der Menge verschwunden oder in das Vauxhallgebäude hineingeschlüpft war, das hätte der Fürst gleichfalls nicht zu sagen vermocht. Aber einen Augenblick darauf begann er auf einmal schnell und unruhig um sich zu blicken; diese erste Vision konnte die Vorbotin und Vorläuferin einer zweiten sein. Das war mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er wirklich, als er sich nach dem Vauxhall begab, gar nicht an die Möglichkeit eines Zusammentreffens gedacht? Während er nach dem Vauxhall ging, hatte er allerdings gar nicht gewußt, daß er dorthin ging – in einem solchen Zustand hatte er sich befunden. Wenn er aufmerksamer hätte sein können oder wollen, so hätte er schon vor einer Viertelstunde bemerken können, daß Aglaja ab und zu ebenfalls mit einer gewissen Unruhe eilig um sich blickte, ebenfalls, als ob sie etwas um sich herum suche. Jetzt, als seine Unruhe stark bemerkbar wurde, wuchs auch Aglajas Aufregung und Unruhe, und kaum blickte er rückwärts, so tat auch sie fast im gleichen Augenblick dasselbe. Das Ereignis, dem mit solcher Unruhe entgegengesehen wurde, ließ nicht lange auf sich warten. Von eben jenem Seitenausgang aus dem Vauxhall, neben dem der Fürst und die ganze Jepantschinsche Gesellschaft Platz genommen hatten, erschien plötzlich ein ganzer Schwarm von mindestens zehn Menschen. An der Spitze dieses Schwarmes gingen drei Frauen; zwei von ihnen waren außerordentlich schön, und es war nicht zu verwundern, daß ihnen so viele Verehrer nachfolgten. Aber sowohl die Verehrer als auch die Frauen, alle hatten etwas Besonderes an sich, etwas, was von dem übrigen um die Musik versammelten Publikum stark abstach. Fast alle Anwesenden bemerkten die Ankömmlinge sofort, bemühten sich aber großenteils, so zu tun, als ob sie sie gar nicht sähen, und nur einige junge Männer lächelten und tauschten miteinander halblaute Bemerkungen aus. Sie zu übersehen war ganz unmöglich: sie machten sich nur zu bemerkbar, redeten laut und lachten. Man konnte annehmen, daß manche unter ihnen einen ziemlichen Rausch hatten, obgleich mehrere äußerlich stutzerhaft und elegant gekleidet waren; aber es waren darunter auch Leute von recht sonderbarem Aussehen, in sonderbarer Kleidung und mit sonderbar geröteten Gesichtern; auch einige Offiziere waren dabei; manche waren bereits älter; etliche waren behäbig gekleidet, in bequemen, elegant gearbeiteten Anzügen, und trugen kostbare Ringe und Manschettenknöpfe, prächtige pechschwarze Perücken und schwarze Backenbärte und gaben ihren Gesichtern einen besonders vornehmen, wenn auch etwas verdrossenen Ausdruck, eine Menschensorte, die man in der Gesellschaft wie die Pest zu meiden pflegt. Unter den Sommerfrischen in unseren Vororten befinden sich natürlich auch solche, die sich durch besonders guten Ton auszeichnen und sich eines vorzüglichen Rufes erfreuen; aber auch der vorsichtigste Mensch kann sich nicht in jedem Augenblick vor einem Ziegelstein hüten, der vom Nachbarhaus herabfällt. Ein solcher Ziegelstein war jetzt im Begriff, auf das wohlanständige Publikum herabzufallen, das sich bei der Musik versammelt hatte. Um von dem Vauxhall auf den Platz zu gelangen, auf dem sich das Orchester befand, mußte man drei Stufen hinabsteigen. Dicht bei diesen Stufen hatte der Schwarm haltgemacht; sie trauten sich nicht hinabzusteigen, aber eine der Frauen schritt vorwärts; von ihrer Suite wagten nur zwei Männer, ihr zu folgen. Der eine war ein Herr in mittleren Jahren, mit recht bescheidener Miene und einem in jeder Hinsicht anständigen Äußeren, aber er machte den Eindruck eines richtigen Einzelgängers, das heißt eines der Leute, die nie jemand kennen und von niemand gekannt werden. Der andere, der sich von der Dame nicht getrennt hatte, trug eine sehr schäbige Kleidung und sah höchst zweideutig aus. Außer diesen beiden folgte der exzentrischen Dame niemand weiter; aber während des Hinuntersteigens blickte sie gar nicht zurück, als wäre es ihr völlig gleichgültig, ob ihr jemand folgte oder nicht. Sie lachte und redete laut wie vorher; gekleidet war sie mit viel Geschmack und reich, aber etwas luxuriöser, als es schicklich gewesen wäre. Sie ging am Orchester vorbei nach der andern Seite des Platzes, wo neben der Landstraße eine Equipage wartete. Der Fürst hatte sie schon seit mehr als drei Monaten nicht gesehen. Seit seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich jeden Tag vorgenommen, zu ihr zu gehen, aber vielleicht hatte ihn eine geheime Ahnung immer davon zurückgehalten. Wenigstens vermochte er schlechterdings nicht den Eindruck vorauszusehen, den die bevorstehende Begegnung mit ihr auf ihn machen würde, aber er bemühte sich manchmal angstvoll, ihn sich vorzustellen. Eines war ihm klar: daß die Begegnung peinlich sein würde. Mehrmals hatte er in diesen sechs Monaten an die erste Empfindung zurückgedacht, die das Gesicht dieser Frau schon beim bloßen Anblick ihres Bildes bei ihm hervorgerufen hatte; aber selbst der Eindruck des Bildes war, wie er sich erinnerte, ein sehr peinlicher gewesen. Jeder Monat in der Provinz, da er beinah täglich mit ihr zusammengewesen war, hatte auf ihn eine schreckliche Wirkung ausgeübt, so daß der Fürst manchmal sogar die Erinnerung an diese noch nicht weit zurückliegende Zeit zu verscheuchen suchte. In dem Gesicht dieser Frau lag für ihn stets etwas, was ihm Qualen bereitete: in dem Gespräch mit Rogoshin hatte der Fürst dieses Gefühl als ein Gefühl grenzenlosen Mitleids bezeichnet, und das war die Wahrheit gewesen: dieses Gesicht hatte schon beim Anblick des Bildes in seinem Herzen ein Mitleid erweckt, das zum eigenen Leid geworden war; dieses Gefühl des Mitleids und sogar des eigenen Leids um dieses Wesen hatte ihn nie verlassen und war ihm auch jetzt gegenwärtig. Nein, es war jetzt sogar noch stärker. Aber der Ausdruck, den er Rogoshin gegenüber gebraucht hatte, hatte den Fürsten auf die Dauer nicht befriedigt; erst jetzt, in dem Augenblick, wo sie plötzlich vor seinen Augen erschien, verstand er, vielleicht infolge der unmittelbaren Anschauung, inwiefern das, was er zu Rogoshin gesagt hatte, mangelhaft gewesen war. Er hatte damals nicht die Worte gefunden, um das Entsetzen auszudrücken – jawohl, das Entsetzen! Jetzt, in diesem Augenblick, empfand er es ganz; er war auf Grund all seiner eigenen Beobachtungen mit völliger Sicherheit davon überzeugt, daß diese Frau irrsinnig war. Wenn man eine Frau über alles in der Welt liebt oder einen Vorgeschmack von der Möglichkeit einer solchen Liebe verspürt und nun auf einmal diese Frau an der Kette erblickt, hinter einem Eisengitter, von dem Stock des Aufsehers bedroht, dann mag die Empfindung einigermaßen derjenigen ähnlich sein, die jetzt der Fürst durchmachte. »Was ist Ihnen?« fragte Aglaja hastig, indem sie sich nach ihm umwandte und naiv seinen Arm berührte. Er drehte den Kopf nach ihr hin, sah sie an, blickte in ihre schwarzen Augen, die jetzt in einer ihm unverständlichen Weise funkelten, und machte den Versuch, ihr zuzulächeln; aber plötzlich, als hätte er sie sofort wieder vergessen, wandte er die Augen wieder nach rechts und verfolgte die ihn fesselnde Erscheinung weiter. Nastasja Filippowna ging soeben dicht an den Stühlen der jungen Damen vorüber. Jewgenij Pawlowitsch fuhr fort, Alexandra Iwanowna etwas wohl sehr Komisches und Interessantes zu erzählen, und sprach laut und lebhaft. Der Fürst erinnerte sich später, daß Aglaja auf einmal halblaut gesagt hatte: »Was für eine...« Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts weiter hinzu, aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna, die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war, wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und schien erst jetzt Jewgenij Pawlowitsch zu bemerken. »Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet... Ich dachte ja, du wärest dort... bei deinem Onkel!« Jewgenij Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab. »Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt, aber jetzt weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere sagen fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch eine große Erbschaft hinterlassen würde; aber er hat alles verjubelt. Ja, ja, der alte Mann führte ein ausschweifendes Leben... Nun, leb wohl, bonne chance! Also du fährst wirklich nicht hin? Da hast du ja noch glücklich zur rechten Zeit den Abschied genommen, du Schlaukopf! Ach, Unsinn, du hast es ja gewußt, hast es vorher gewußt: vielleicht wußtest du es schon gestern...« Obgleich hinter dieser dreisten Zudringlichkeit und der öffentlichen Behauptung einer gar nicht existierenden Bekanntschaft und Intimität unbedingt eine besondere Absicht steckte und daran jetzt kein Zweifel mehr möglich war, so hatte Jewgenij Pawlowitsch doch zunächst noch geglaubt, er könne davonkommen, wenn er die Beleidigerin gar nicht beachte. Aber Nastasja Filippownas Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag; als er von dem Tod seines Onkels hörte, wurde er kreidebleich und wandte sich zu der Überbringerin dieser Nachricht hin. In diesem Augenblick erhob sich Lisaweta Prokofjewna schnell von ihrem Platz, winkte allen, ihr zu folgen, und entfernte sich fast laufend. Nur Fürst Lew Nikolajewitsch blieb noch einen Moment anscheinend unentschlossen auf seinem Platz, und Jewgenij Pawlowitsch stand immer noch wie besinnungslos da. Aber die Familie Jepantschin hatte sich noch nicht zwanzig Schritte entfernt, als sich eine furchtbare Skandalszene abspielte. Der mit Jewgenij Pawlowitsch gut befreundete Offizier, der sich mit Aglaja unterhalten hatte, war im höchsten Grade empört. »Da müßte man einfach eine Reitpeitsche nehmen, auf andere Art wird man mit diesem Geschöpf nicht fertig!« sagte er ziemlich laut. (Wie es schien, war er auch früher schon Jewgenij Pawlowitschs Vertrauter gewesen.) Nastasja Filippowna wandte sich augenblicklich zu ihm um. Ihre Augen funkelten; sie stürzte auf einen ihr ganz unbekannten jungen Mann los, der zwei Schritte von ihr entfernt stand und ein dünnes, geflochtenes Spazierstöckchen in der Hand hatte, entriß es ihm und versetzte ihrem Beleidiger damit aus aller Kraft einen Schlag quer ins Gesicht. All dies vollzog sich in einer Sekunde... Der Offizier, vor Wut außer sich, stürzte sich auf sie; ihr Gefolge hatte Nastasja Filippowna nicht mehr um sich; der anständige Herr in mittleren Jahren hatte sich bereits aus dem Staube gemacht, und der angeheiterte Herr stand ein wenig abseits und lachte aus Leibeskräften. Eine Minute darauf wäre natürlich die Polizei erschienen, aber während dieser Minute wäre es Nastasja Filippowna schlimm ergangen, wenn ihr nicht eine unerwartete Hilfe gekommen wäre: der Fürst, der ebenfalls zwei Schritte entfernt stand, vermochte noch gerade den Offizier von hinten an den Armen zu fassen. Seinen Arm losreißend, versetzte ihm der Offizier einen starken Stoß gegen die Brust; der Fürst flog etwa drei Schritte zurück und fiel auf einen Stuhl. Aber nun erschienen bei Nastasja Filippowna bereits zwei Beschützer. Vor dem heranstürmenden Offizier stand der Boxer, der Verfasser jenes dem Leser bekannten Schmähartikels und aktives Mitglied der früheren Rogoshinschen Bande. »Keller! Leutnant a. D.«, stellte er sich in affektiert forscher Weise vor. »Wenn Ihnen ein Faustkampf gefällig ist, Hauptmann, so stehe ich als Vertreter des schwachen Geschlechts zu Ihren Diensten; ich verstehe mich vorzüglich auf die englische Boxkunst. Nehmen Sie es nicht übel, Hauptmann; ich bedaure die Ihnen angetane blutige Beleidigung, aber ich kann nicht zugeben, daß jemand gegen eine Frau vor den Augen des Publikums vom Faustrecht Gebrauch macht. Wenn Sie aber, wie es sich für einen anständigen Mann schickt, die Sache in anderer Form zu erledigen wünschen, so ... Sie werden mich selbstverständlich verstehen, Hauptmann...« Aber der Hauptmann war schon zur Besinnung gekommen und hörte nicht mehr auf ihn hin. In diesem Augenblick tauchte Rogoshin aus der Menge auf, reichte Nastasja Filippowna schnell den Arm und zog sie hinter sich her. Rogoshin selbst schien furchtbar aufgeregt zu sein, er war blaß und zitterte. Während er Nastasja Filippowna wegführte, fand er noch Zeit, dem Offizier höhnisch ins Gesicht zu lachen und ihm mit der Miene eines triumphierenden Krämers zuzurufen: »He! Da hast du's abbekommen! Die ganze Visage voll Blut! Teufel auch!« Der Offizier, der seine Fassung wiedererlangt hatte und sich darüber klargeworden war, an wen er sich zu halten hatte, wandte sich, das Gesicht mit dem Taschentuch verdeckend, höflich an den Fürsten, der bereits vom Stuhl wieder aufgestanden war: »Sie sind Fürst Myschkin, dem ich das Vergnügen hatte vorgestellt zu werden?« »Sie ist irrsinnig! Geisteskrank! Ich versichere es Ihnen!« antwortete der Fürst mit bebender Stimme und streckte ihm aus irgendeinem Grund seine zitternden Hände entgegen. »Ich kann mich natürlich solcher Kenntnisse nicht rühmen; aber ich muß Ihren Namen wissen.« Er nickte ihm zu und ging weg. Die Polizei erschien genau fünf Sekunden, nachdem die letzten beteiligten Personen verschwunden waren. Übrigens hatte der ganze Skandal nicht länger als zwei Minuten gedauert. Einige aus dem Publikum hatten sich von ihren Stühlen erhoben und waren weggegangen; andere hatten sich nur auf einen andern Platz gesetzt; wieder andere freuten sich gewaltig über die Skandalaffäre; andere schließlich begannen eifrig und mit lebhaftem Interesse darüber zu sprechen. Die Musikkapelle fing wieder an zu spielen. Der Fürst folgte den Jepantschins nach. Wenn er darauf verfallen wäre oder Zeit gehabt hätte, nach links zu blicken, als er infolge des Stoßes auf den Stuhl gefallen war, so hätte er zwanzig Schritte entfernt Aglaja erblickt, die stehengeblieben war, um die Skandalszene mit anzusehen, und nicht auf die Rufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern hörte, die schon weitergegangen waren. Fürst Schtsch., der zu ihr gelaufen kam, überredete sie endlich, schneller wegzugehen. Lisaweta Prokofjewna erinnerte sich später, daß Aglaja zu ihnen in einer solchen Aufregung zurückkam, daß sie ihre Rufe wohl kaum gehört haben konnte. Aber zwei Minuten darauf, als sie eben in den Park eingetreten waren, sagte Aglaja in ihrem gewöhnlichen, gleichgültigen, launischen Ton: »Ich wollte nur sehen, wie die Komödie endete.« III Der Vorfall in dem Vauxhall hatte die Mutter und die Töchter arg erschreckt. In ihrer Unruhe und Aufregung legten Lisaweta Prokofjewna und die Töchter den ganzen Weg vom Vauxhall nach ihrem Hause geradezu laufend zurück. Nach der Ansicht und Auffassung der Mutter war der Vorfall doch sehr bedeutsam, und es hatte sich bei ihm doch gar manches entschleiert, so daß in ihrem Kopf trotz aller Verwirrung und Angst bereits feste Entschlüsse reiften. Aber auch die andern begriffen alle, daß da etwas Besonderes vorgegangen war und daß sich vielleicht zum Glück irgendein großes Geheimnis zu enthüllen begann. Trotz der früheren Behauptungen und Versicherungen des Fürsten Schtsch. war Jewgenij Pawlowitsch jetzt »entlarvt« und »seiner Beziehungen zu dieser Kreatur in aller Form überführt«. So dachten Lisaweta Prokofjewna und sogar ihre beiden ältesten Töchter. Aber der Gewinn aus dieser Schlußfolgerung bestand lediglich darin, daß die Rätsel sich noch mehr häuften. Die beiden ältesten Mädchen waren zwar im stillen etwas ungehalten darüber, daß ihre Mama sich so übermäßig geängstigt hatte und so offensichtlich davongelaufen war, aber sie mochten sie in der ersten Zeit des Wirrwarrs nicht mit Fragen belästigen. Außerdem hatten sie aus irgendeinem Grund den Eindruck, daß ihre Schwester Aglaja vielleicht von dieser Sache mehr wisse als sie beide und die Mama. Fürst Schtsch. machte ebenfalls ein Gesicht finster wie die Nacht und war ebenfalls sehr nachdenklich. Lisaweta Prokofjewna sprach mit ihm auf dem ganzen Weg kein Wort, aber er schien das gar nicht zu beachten. Adelaida versuchte, ihn zu fragen: »Von was für einem Onkel war denn da eben die Rede, und was ist denn eigentlich in Petersburg passiert?« Aber er gab ihr mit sehr saurer Miene murmelnd eine recht unbestimmte Antwort von irgendwelchen Erkundigungen, die er anstellen wolle, und das sei natürlich alles Unsinn. »Daran ist kein Zweifel!« antwortete Adelaida und fragte nicht weiter. Aglaja dagegen war auffallend ruhig und bemerkte unterwegs nur, sie liefen doch gar zu schnell. Einmal wandte sie sich um und erblickte den Fürsten, der ihnen nacheilte. Als sie wahrnahm, wie er sich anstrengte, um sie einzuholen, lächelte sie spöttisch und sah sich seitdem nicht mehr nach ihm um. Endlich, als sie schon ganz nahe bei ihrem Landhaus waren, kam ihnen Iwan Fjodorowitsch entgegen, der soeben aus Petersburg zurückgekommen war. Er erkundigte sich sogleich bei den ersten Worten nach Jewgenij Pawlowitsch. Aber seine Gattin ging mit drohender Miene an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten und ohne ihn auch nur anzusehen. An den Augen seiner Töchter und des Fürsten Schtsch. erkannte er sogleich, daß es in seiner Familie gewitterte. Aber auch ohne das prägte sich auf seinem eigenen Gesicht eine ungewöhnliche Unruhe aus. Er faßte den Fürsten Schtsch. sogleich unter, hielt ihn am Hauseingang zurück und wechselte fast flüsternd einige Worte mit ihm. An den aufgeregten Mienen beider, als sie dann in die Veranda kamen und sich weiter zu Lisaweta Prokofjewna begaben, konnte man merken, daß sie beide eine ganz ungewöhnliche Nachricht erhalten hatten. Allmählich fanden sich alle oben bei Lisaweta Prokofjewna zusammen, und in der Veranda blieb schließlich nur der Fürst zurück. Er saß in einer Ecke, als wartete er auf etwas, ohne jedoch selbst zu wissen warum; angesichts der im Hause herrschenden Unruhe wegzugehen, das kam ihm gar nicht in den Sinn; es schien, als habe er die ganze Welt vergessen und sei bereit, auch zwei Jahre hintereinander da zu sitzen, wo man ihn hinsetzen würde. Von oben hörte er mitunter einzelne Laute eines aufgeregten Gesprächs. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er da schon so gesessen hatte. Es war spät geworden und schon ganz dunkel. Auf einmal kam Aglaja nach der Veranda heraus; sie war äußerlich ruhig, wenn auch etwas blaß. Als sie den Fürsten erblickte, den sie hier in der Ecke auf einem Stuhl zu treffen anscheinend nicht erwartet hatte, lächelte sie wie erstaunt. »Was machen Sie denn hier?« fragte sie, an ihn herantretend. Der Fürst murmelte verlegen eine Antwort und sprang vom Stuhl auf; aber Aglaja setzte sich sogleich neben ihn, und so ließ auch er sich wieder nieder. Sie blickte ihn aufmerksam an, dann sah sie wie gedankenlos durch das Fenster, dann wieder nach ihm hin. ›Vielleicht will sie sich über mich lustig machen‹, dachte der Fürst, ›aber nein, dann hätte sie es ja schon getan.‹ »Vielleicht möchten Sie Tee trinken, dann werde ich welchen bringen lassen«, sagte sie nach einigem Schweigen. »N-nein ... Ich weiß nicht...« »Aber wie kann man denn so etwas nicht wissen? Ach ja, hören Sie: wenn Sie jemand zum Duell forderte, was würden Sie dann machen? Ich wollte Sie schon vorhin danach fragen.« »Aber... wer sollte... es fordert mich ja niemand zum Duell.« »Nun, aber wenn Sie gefordert würden? Würden Sie große Angst haben?« »Ich glaube, ich würde mich sehr... fürchten.« »Im Ernst? Also sind Sie feige?« »N-nein; das vielleicht nicht. Feige ist derjenige, der sich fürchtet und davonläuft, aber wer sich fürchtet und nicht davonläuft, der braucht noch nicht feige zu sein«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lächelnd. »Und Sie würden nicht weglaufen?« »Vielleicht würde ich das nicht tun«, antwortete er, schließlich auflachend, auf Aglajas Fragen. »Ich bin zwar ein Weib, aber ich würde unter keinen Umständen weglaufen«, bemerkte sie empfindlich. »Aber Sie machen sich über mich lustig und reden nach Ihrer Gewohnheit wunderliches Zeug, um sich interessant zu machen. Sagen Sie mal: die Duellanten schießen ja wohl gewöhnlich auf zwölf Schritte, manche auch auf zehn Schritte; also wird man sicher erschossen oder verwundet?« »Beim Duell fällt wohl selten jemand.« »Selten? Puschkin ist doch im Duell erschossen.« »Das war vielleicht ein Zufall.« »Ganz und gar kein Zufall; es war ein Duell auf Leben und Tod, und da wurde er erschossen.« »Die Kugel traf ihn so weit unten, daß man annehmen muß, Dantès habe auf eine höhere Körperstelle gezielt, auf die Brust oder auf den Kopf. So weit nach unten zielt niemand, somit hat die Kugel Puschkin aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig getroffen, durch einen Fehlschuß. Das ist mir von kompetenten Leuten gesagt worden.« »Aber mir hat ein Soldat, mit dem ich einmal sprach, gesagt, sie seien, wenn sie sich in Schützenschwärme auflösten, durch das Reglement ausdrücklich angewiesen, auf die Mitte des Menschen zu zielen; so lautet der Ausdruck bei ihnen: ›auf die Mitte des Menschen‹. Also die werden angewiesen, nicht nach der Brust oder nach dem Kopf, sondern absichtlich nach der Mitte des Körpers zu schießen. Ich fragte später einen Offizier danach, und der sagte mir, daß es sich genau so verhalte.« »Das ist gewiß so angeordnet, weil da auf weite Entfernung geschossen wird.« »Können Sie schießen?« »Ich habe noch nie geschossen.« »Können Sie wirklich nicht einmal eine Pistole laden?« »Nein, das kann ich nicht. Das heißt, ich weiß, wie es gemacht wird, aber ich habe noch nie selbst eine geladen.« »Nun, dann können Sie es auch nicht; denn dazu gehört praktische Erfahrung! Hören Sie mal zu und prägen Sie es sich gut ein: erstens kaufen Sie sich gutes Pistolenpulver, nicht feuchtes (es darf nicht feucht sein, sage ich, es muß ganz trocken sein), recht feines; solches müssen Sie gleich fordern, nicht solches, mit dem man aus Kanonen schießt. Die Kugel gießt man sich irgendwie selbst. Haben Sie Pistolen?« »Nein, ich brauche auch keine«, versetzte der Fürst lachend. »Ach, dummes Zeug! Kaufen Sie sich unter allen Umständen eine: eine gute französische oder englische; das sind die besten, sage ich Ihnen. Dann nehmen Sie Pulver, etwa einen Fingerhut voll oder vielleicht zwei, und schütten Sie es hinein! Lieber ein bißchen mehr. Drücken Sie es mit Filz fest (Filz ist unbedingt nötig, sage ich Ihnen); den können Sie sich leicht irgendwoher beschaffen, von einer Matratze; auch die Türen werden manchmal mit Filz beschlagen. Dann, wenn Sie den Filz hineingestopft haben, legen Sie die Kugel darauf; hören Sie wohl: die Kugel nachher, das Pulver zuerst, sonst schießt es nicht. Warum lachen Sie? Ich will, daß Sie täglich ein paarmal schießen und unbedingt ein Ziel treffen lernen. Werden Sie das auch tun?« Der Fürst lachte; Aglaja stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Ihre ernste Miene bei einem solchen Gespräch setzte den Fürsten einigermaßen in Erstaunen. Er hatte die unklare Empfindung, daß er hier etwas in Erfahrung bringen, nach etwas fragen müsse, und zwar jedenfalls nach etwas Ernsthafterem, als es das Laden einer Pistole war. Aber all das war ihm aus dem Sinn entschwunden, und er fühlte nur das eine, daß sie vor ihm saß und er sie ansah; worüber sie redete, das war ihm in diesem Augenblick so gut wie gleichgültig. Endlich kam Iwan Fjodorowitsch selbst von oben nach der Veranda herunter; er hatte noch einen Gang vor; seine Miene war finster und sorgenvoll, zeigte aber feste Entschlossenheit. »Ah, Lew Nikolajitsch, du bist hier... Wo willst du denn jetzt hin?« fragte er, obwohl dieser gar nicht daran dachte, sich von seinem Platz zu rühren. »Komm mit, ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.« »Auf Wiedersehen!« sagte Aglaja und reichte dem Fürsten die Hand. In der Veranda war es schon recht dunkel, und der Fürst konnte jetzt ihren Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen. Gleich darauf, als er bereits mit dem General das Landhaus verließ, errötete er plötzlich stark und preßte seine rechte Hand fest zusammen. Es stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch mit ihm den gleichen Weg hatte; der General ging trotz der späten Stunde noch eilig fort, um mit jemand etwas zu besprechen. Zunächst aber begann er jetzt mit dem Fürsten zu reden, Hastig, aufgeregt, unzusammenhängend, und erwähnte in dem Gespräch häufig Lisaweta Prokofjewna. Hätte der Fürst in diesem Augenblick aufmerksamer sein können, so würde er vielleicht gemerkt haben, daß Iwan Fjodorowitsch unter anderm auch von ihm etwas herauszubringen oder, richtiger ausgedrückt, ihn offen und geradezu nach etwas zu fragen wünschte, es aber immer nicht fertigbrachte, den Hauptpunkt zu berühren. Zu seiner Schande war aber der Fürst in einem Maße zerstreut, daß er gleich von vornherein nichts hörte und, als der General mit einer eifrigen Frage vor ihm stehenblieb, bekennen mußte, daß er nichts verstanden habe. Der General zuckte mit den Achseln. »Was seid ihr alle für sonderbare Menschen geworden«, begann er dann von neuem. »Ich sage dir, ich begreife gar nicht, was Lisaweta Prokofjewna sich für Gedanken macht und warum sie sich so aufregt. Sie ist furchtbar nervös und weint und sagt, wir seien beschimpft und an den Pranger gestellt worden. Wer hätte das getan? Wie? Wodurch? Wann und warum? Ich gestehe, daß ich einen Teil der Schuld trage (das gebe ich zu), einen großen Teil der Schuld, aber den Zudringlichkeiten dieses... dieses unruhigen Weibes (obendrein ist auch ihr Benehmen schlecht) muß schließlich durch die Polizei ein Ende gemacht werden, und ich beabsichtige gleich heute, zu diesem Zweck mit jemand zu sprechen und der Sache einen Riegel vorzuschieben. Man kann all dergleichen im stillen, im guten, sogar in freundlicher Weise, durch gute Bekannte und ohne alles Aufsehen abmachen. Ich gebe auch zu, daß die Zukunft noch manche Überraschungen in ihrem Schoß birgt und daß vieles noch unaufgeklärt ist; es steckt eine Intrige dahinter; aber wenn man hier nichts weiß und dort nichts zu erklären vermag und wenn ich nichts gehört habe und du nichts gehört hast und jener nichts gehört hat und ein vierter ebenfalls nichts gehört hat: wer hat denn schließlich etwas davon gehört, frage ich dich? Wie soll man das deiner Ansicht nach erklären, wenn man nicht sagen will, die Sache sei zur Hälfte eine Luftspiegelung, etwas nicht Existierendes, in der Art wie das Mondlicht... oder andere Visionen?« » Sie ist geisteskrank«, murmelte der Fürst, der sich plötzlich mit Schmerz an den ganzen Vorfall von vorhin erinnerte. »Das habe ich auch geglaubt, wenn du damit dieses Weib meinst. Auch mir war dieser Gedanke gekommen, und dann schlief ich ruhig ein. Aber jetzt sehe ich, daß sie doch sehr folgerichtig denkt, und glaube nicht mehr an ihre Geisteskrankheit. Ein launisches Weib, gewiß, dabei aber scharfsinnig und ganz und gar nicht verrückt. Ihre heutigen Ausfälle gegen Kapiton Alexejitsch beweisen das deutlich. Es liegt ihrerseits ein gaunerisches, das heißt mindestens ein jesuitisches Verfahren vor, bei dem sie bestimmte Ziele verfolgt.« »Was ist das für ein Kapiton Alexejitsch?« »Ach, mein Gott, Lew Nikolajitsch, du hörst ja gar nicht zu! Ich habe ja damit angefangen, dir von Kapiton Alexejitsch zu erzählen; ich bin so erschüttert, daß mir noch jetzt Arme und Beine zittern. Darum bin ich ja auch heute so lange in der Stadt geblieben. Es handelt sich um Kapiton Alexejitsch Radomskij, den Onkel Jewgenij Pawlowitschs.« »Nun, was ist mit ihm?« rief der Fürst. »Er hat sich erschossen, heute morgen um sieben Uhr. Ein allgemein geachteter Greis, siebzigjährig, ein Epikureer. Und ganz wie sie gesagt hat: es fehlen Staatsgelder, eine bedeutende Summe!« »Woher hat sie denn...« »Woher sie das erfahren hat? Haha! Es hat sich ja um sie schon ein ganzer Stab gebildet, sobald sie nur hier erschienen ist. Weißt du nicht, was für Leute sie jetzt besuchen und sich um die ›Ehre ihrer Bekanntschaft‹ bemühen? Sie konnte das heute auf die einfachste Weise von Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, erfahren, denn jetzt weiß es schon ganz Petersburg und hier halb Pawlowsk oder auch schon ganz Pawlowsk. Aber wie fein war ihre Bemerkung über die Uniform – sie ist mir wiedererzählt worden –, das heißt in bezug darauf, daß Jewgenij Pawlytsch rechtzeitig den Abschied genommen habe! Das war eine teuflische Anspielung! Nein, das weist nicht auf Geisteskrankheit hin. Ich kann natürlich nicht glauben, daß Jewgenij Pawlytsch von der Katastrophe etwas im voraus wissen konnte, das heißt, daß am Soundsovielten, um sieben Uhr morgens und so weiter. Aber er konnte all das wenigstens ahnen. Und ich und wir alle, auch Fürst Schtsch., rechneten damit, daß der Onkel ihm noch eine hübsche Erbschaft hinterlassen würde! Es ist furchtbar! Geradezu furchtbar! Versteh mich übrigens recht: ich spreche gegen Jewgenij Pawlytsch keinerlei Beschuldigung aus und beeile mich, dir das ausdrücklich zu erklären, aber verdächtig ist die Sache trotz alledem. Fürst Schtsch. ist tief erschüttert. Das alles ist so seltsam über uns hereingebrochen.« »Aber was ist denn an Jewgenij Pawlytschs Benehmen verdächtig?« »Gar nichts! Er hat sich durchaus anständig benommen. Ich habe ja auch nichts Derartiges angedeutet. Sein eigenes Vermögen, denke ich, ist unversehrt. Lisaweta Prokofjewna will davon natürlich nichts hören... Aber die Hauptsache sind all diese Familienkatastrophen oder, richtiger gesagt, all diese Zänkereien – man weiß gar nicht, wie man es nennen soll... Du bist ja, das muß man wirklich sagen, ein Freund unseres Hauses, Lew Nikolajitsch; nun denk dir einmal, eben kommt zur Sprache, wenn auch nicht in genauer, zuverlässiger Form, daß Jewgenij Pawlytsch schon vor mehr als einem Monat Aglaja einen Heiratsantrag gemacht und von ihr in aller Form einen Korb erhalten hat.« »Das ist nicht möglich!« rief der Fürst lebhaft. »Aber weißt du denn vielleicht etwas darüber? Siehst du, Teuerster«, sagte der General, indem er erschrocken zusammenfuhr und wie angenagelt auf dem Fleck stehenblieb, »ich habe dir vielleicht unpassenderweise mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen, aber das ist mir so entschlüpft, weil du... weil du... man kann sagen, weil du ein solcher Mensch bist. Vielleicht weißt du irgend etwas Besonderes?« »Ich weiß nichts... von Jewgenij Pawlytsch«, murmelte der Fürst. »Auch ich weiß nichts! Mich... mich, mein Lieber, behandeln alle geradezu, als ob ich schon tot und begraben wäre und von nichts mehr zu wissen brauchte, und können dabei gar nicht verstehen, daß das für einen Menschen peinlich ist und daß ich das nicht ertragen kann. Eben habe ich da eine Szene erlebt, es war schrecklich! Ich rede mit dir, als wärst du mein Sohn. Die Hauptsache ist: Aglaja macht sich geradezu über ihre Mutter lustig. Daß sie anscheinend vor einem Monat Jewgenij Pawlytsch einen Korb gegeben und daß zwischen ihnen eine ziemlich formelle Auseinandersetzung stattgefunden hat, haben uns die Schwestern als Vermutung mitgeteilt... übrigens als sichere Vermutung. Aber sie ist ja ein so eigenwilliges, phantastisches Wesen, daß es gar nicht zu sagen ist! Sie besitzt die prächtigsten, glänzendsten Eigenschaften des Geistes und Herzens, gewiß, zugegeben, aber dabei ist sie launisch und spottlustig, kurz, ein reiner Kobold, und hat immer phantastische Einfälle. Über ihre Mutter hat sie sich jetzt eben gerade ins Gesicht lustig gemacht, ebenso über ihre Schwestern und den Fürsten Schtsch. Von mir brauche ich erst gar nicht zu reden; über mich macht sie sich eigentlich fortwährend lustig, aber, weißt du, ich liebe sie doch und habe es sogar gern, daß sie sich über unsereinen lustig macht, – und wie es scheint, liebt mich dieser Kobold deswegen ganz besonders, das heißt mehr, als sie alle andern liebt. Ich möchte darauf wetten, daß sie sich auch über dich schon lustig gemacht hat. Ich fand euch hier eben im Gespräch begriffen, als ich von der erregten Szene oben herunterkam; sie saß da mit dir zusammen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.« Der Fürst wurde furchtbar rot und preßte seine rechte Hand zusammen, aber er schwieg. »Mein lieber, guter Lew Nikolajitsch!« sagte der General auf einmal mit warmer Empfindung. »Ich... und sogar Lisaweta Prokofjewna selbst (die übrigens wieder angefangen hat, auf dich zu schimpfen und zugleich in zweiter Linie auch auf mich, ich weiß nicht, weswegen eigentlich), wir lieben dich trotz alledem, wir lieben und achten dich aufrichtig, trotz aller Äußerlichkeiten. Du mußt aber selbst zugeben, lieber Freund, du mußt selbst zugeben: was ist das auf einmal für ein Rätsel und für ein Ärger, wenn man hört, wie dieser kaltblütige Kobold (denn sie stand vor ihrer Mutter mit dem Ausdruck tiefster Verachtung für all unsere Fragen und namentlich für die meinigen, weil ich, hol's der Teufel, die Dummheit begangen hatte, streng zu sein, wo ich doch das Oberhaupt der Familie bin, – na, das war eben eine Dummheit), wie dieser kaltblütige Kobold auf einmal lächelnd erklärt, daß diese ›Geisteskranke‹ (so drückte sie sich aus, und es kommt mir merkwürdig vor, daß sie sich desselben Wortes bediente wie du: ›Habt ihr denn das noch nicht gemerkt?‹ sagte sie), daß diese Geisteskranke ›es sich in den Kopf gesetzt hat, mich um jeden Preis mit Lew Nikolajitsch zu verheiraten, und zu diesem Zwecke Jewgenij Pawlytsch aus unserm Haus herausschaffen möchte‹... Mehr sagte sie nicht, sie gab keine weiteren Erklärungen, lachte für sich, wir rissen erstaunt den Mund auf, sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Dann erzählten mir die Meinigen von der Szene, die sich vorhin zwischen ihr und dir abgespielt hat... und... und... hör mal, lieber Fürst, du bist ein sehr verständiger Mensch und nicht empfindlich, das habe ich an dir wahrgenommen, aber... werde nicht böse: sie macht sich, weiß Gott, über dich lustig. Wie ein Kind macht sie sich über andere Leute lustig, und darum sei ihr nicht böse, aber es verhält sich bestimmt so. Mach dir darüber weiter keine Gedanken – sie hält dich und uns alle einfach zum Narren, so zum Zeitvertreib. Aber nun leb wohl! Du kennst doch unsere Gesinnung? Unsere herzliche Zuneigung zu dir? Die ist unwandelbar, für alle Zeit und in jeder Hinsicht... aber... ich muß jetzt hier abbiegen, auf Wiedersehn! Selten in meinem Leben habe ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt... O weh, ist das eine Sommerfrische!« Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gespräches mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers: »Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht. PS. Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemand zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, wobei ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete. PP. SS. Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.« Der Zettel war eilig geschrieben und ohne Sorgfalt zusammengefaltet, aller Wahrscheinlichkeit nach kurz bevor Aglaja nach der Veranda herausgekommen war. In einer unsagbaren Aufregung, die mit Angst Ähnlichkeit hatte, drückte der Fürst den Zettel wieder in der Hand zusammen und sprang schnell wie ein erschreckter Dieb vom Fenster und vom Licht zurück, aber bei dieser Bewegung stieß er auf einmal heftig mit einem Herrn zusammen, der unmittelbar hinter ihm stand. »Ich bin Ihnen gefolgt, Fürst«, sagte der Herr. »Sie sind es, Keller?« rief der Fürst erstaunt. »Ich möchte mit Ihnen reden, Fürst. Ich habe bei dem Jepantschinschen Landhaus auf Sie gewartet; hineingehen konnte ich natürlich nicht. Ich bin hinter Ihnen hergegangen, während Sie mit dem General gingen. Ich stehe zu Ihren Diensten, Fürst; verfügen Sie über Keller. Ich bin bereit, für Sie jedes Opfer zu bringen und, wenn es sein muß, sogar zu sterben.« »Aber... weshalb denn?« »Nun, es wird jetzt jedenfalls eine Herausforderung zum Duell erfolgen. Dieser Leutnant Molowzow, ich kenne ihn, das heißt nicht persönlich... er wird die Beleidigung nicht so hinnehmen. Unsereinen, das heißt mich und Rogoshin, hält er natürlich für Pack, und vielleicht verdientermaßen; auf diese Weise fällt die Verantwortung allein Ihnen zu. Sie werden die Zeche bezahlen müssen, Fürst. Er hat sich, wie ich gehört habe, nach Ihnen erkundigt, und es wird sich gewiß morgen einer seiner Freunde bei Ihnen einfinden, vielleicht wartet er auch jetzt schon auf Sie. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich als Sekundanten zu nehmen, so bin ich bereit, alles auf mich zu nehmen; darum habe ich Sie aufgesucht, Fürst.« »Also auch Sie reden von einem Duell!« rief der Fürst lachend zu Kellers größtem Erstaunen. Er lachte gewaltig. Keller, der wirklich von Unruhe gepeinigt worden war, bis er es zu seiner Beruhigung fertiggebracht hatte, sich als Sekundanten anzubieten, fühlte sich beinah beleidigt, als er den Fürsten so heiter lachen sah. »Sie haben ihn aber vorhin bei den Armen gepackt, Fürst. Das kann sich ein anständiger Mensch vor den Augen des Publikums schwerlich gefallen lassen.« »Und er hat mich vor die Brust gestoßen!« rief der Fürst lachend. »Wir haben keinen Grund, uns zu duellieren! Ich werde ihn um Verzeihung bitten, und damit ist die Sache erledigt. Wenn es aber zum Duell kommen soll, mir ist's recht! Mag er schießen; ich wünsche es sogar. Haha! Ich verstehe jetzt eine Pistole zu laden! Verstehen Sie eine Pistole zu laden, Keller? Zuerst muß man Pulver kaufen, Pistolenpulver, nicht feuchtes und nicht so grobes wie das, womit man aus Kanonen schießt; dann muß man zuerst das Pulver hineintun, darauf Filz, den man von einer Tür abreißt, und dann schiebt man die Kugel hinein, aber nicht die Kugel vor dem Pulver, weil es sonst nicht schießt. Hören Sie wohl, Keller: weil es sonst nicht schießt. Haha! Ist das nicht eine ausgezeichnete Begründung, Freund Keller? Ach, Keller, wissen Sie, ich werde Sie gleich umarmen und küssen. Hahaha! Wie ging das nur zu, daß Sie vorhin in dem Vauxhall so plötzlich vor ihm standen? Kommen Sie möglichst bald einmal zu mir Champagner trinken! Wir wollen uns alle gehörig bezechen! Wissen Sie, daß ich zwölf Flaschen Champagner in Lebedews Keller liegen habe? Lebedew hat sie mir vorgestern als Gelegenheitskauf angeboten, gleich am andern Tag, nachdem ich zu ihm gezogen war, ich habe sie alle gekauft! Ich werde die ganze Gesellschaft zusammen einladen! Wie ist's, werden Sie heute nacht schlafen?« »Wie jede Nacht, Fürst.« »Nun, dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume! Haha!« Der Fürst ging quer über die Straße und verschwand im Park; Keller blieb sehr verwundert und nachdenklich stehen. Er hatte den Fürsten noch nie in einem so sonderbaren Zustand gesehen und ihn sich bisher auch nicht so vorstellen können. ›Vielleicht fiebert er, denn er ist ein nervöser Mensch, und das alles hat eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt, aber feige ist er gewiß nicht. Gerade solche Leute sind nicht feige, weiß Gott!‹ dachte Keller bei sich. ›Hm! Champagner! Das ist doch eine sehr interessante Mitteilung. Zwölf Flaschen, ein Dutzend; das läßt sich hören: eine ordentliche Batterie! Ich möchte wetten, daß Lebedew den Champagner von irgend jemand als Pfand bekommen hat. Hm!... Er ist aber doch recht liebenswürdig, dieser Fürst; wirklich, ich habe solche Menschen gern, aber es ist keine Zeit zu verlieren, und... wenn Champagner da ist, so ist das gerade die richtige Zeit...‹ Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, war natürlich ganz richtig. Er schweifte lange im dunklen Park umher und kam endlich zu sich, als er in einer Allee auf und ab ging. In seinem Bewußtsein haftete die Erinnerung, daß er in dieser Allee, von einer Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens bei einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein lautes Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen vorhanden, aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können und daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig gewesen war... ›Ah!‹ dachte er und blieb, von einem andern Gedanken überrascht, stehen, ›vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und lachte so ... und fing an, vom Teetrinken zu reden, und doch hatte sie in diesem Augenblick schon den Zettel in der Hand; folglich wußte sie unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie dann also so erstaunt? Hahaha!‹ Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken. »Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein Weilchen darauf beinahe traurig. In Augenblicken einer starken Freude wurde er stets traurig, er wußte selbst nicht warum. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er hierhergeraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik im Vauxhall hatte schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme, helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni, aber in dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand, war es schon fast ganz dunkel. Wenn ihm jemand in diesem Augenblick gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt, und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen Menschen«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten. Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte, aber er fand diesen Mutwillen ganz natürlich und regte sich darüber nicht auf; etwas ganz anderes war es, was ihn beschäftigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Die Bemerkung, die kurz vorher dem General in seiner Erregung entschlüpft war, daß sie sich über alle und namentlich über ihn, den Fürsten, lustig mache, hielt er für vollkommen richtig. Er fühlte sich dadurch auch nicht im geringsten verletzt, seiner Meinung nach mußte es so sein. Die Hauptsache war für ihn, daß er sie am nächsten Tage frühmorgens wiedersehen, neben ihr auf der grünen Bank sitzen, die Belehrung über das Laden von Pistolen anhören und sie ansehen würde. Weiter hatte er keinen Wunsch. Die Frage, was sie ihm eigentlich sagen wollte und was das für eine wichtige, ihn direkt angehende Angelegenheit war, tauchte ebenfalls ein- oder zweimal in seinem Kopf auf. An der tatsächlichen Existenz dieser »wichtigen Angelegenheit«, um derentwillen er zum Rendezvous bestellt war, zweifelte er übrigens keinen Augenblick, aber er dachte an diese wichtige Angelegenheit jetzt fast gar nicht, so wenig, daß er nicht einmal den geringsten Drang verspürte, daran zu denken. Das Knirschen leiser Schritte auf dem Sand der Allee veranlaßte ihn, den Kopf zu heben. Ein Mensch, dessen Gesicht in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, näherte sich der Bank und setzte sich neben ihn. Der Fürst rückte schnell nahe an ihn heran und erkannte das bleiche Gesicht Rogoshins. »Das habe ich doch gewußt, daß du hier irgendwo umherschweifst, ich habe auch nicht lange zu suchen brauchen«, murmelte Rogoshin durch die Zähne. Es war das erstemal seit ihrer Begegnung auf der Treppe des Gasthauses, daß sie miteinander zusammentrafen. Überrascht durch Rogoshins plötzliches Erscheinen, konnte der Fürst eine Weile nicht seine Gedanken sammeln, und eine qualvolle Empfindung wurde in seinem Herzen wieder wach. Rogoshin hatte offenbar Verständnis für den Eindruck, den er hervorrief; aber obgleich er anfänglich verwirrt zu sein und mit einer Art gekünstelter Ungezwungenheit zu reden schien, schien es dem Fürsten doch bald, daß sein Benehmen ungekünstelt und nicht einmal besonders verlegen war: wenn eine gewisse Ungeschicklichkeit in seinen Gesten und seiner Redeweise zutage trat, so war das nur äußerlich; im Herzen konnte sich dieser Mensch nicht verändern. »Wie hast du... mich denn hier gefunden?« fragte der Fürst, um etwas zu sagen. »Ich hatte von Keller gehört (ich war nämlich in deiner Wohnung), du wärest in den Park gegangen; na, dachte ich, dann ist die Sache richtig.« »Was heißt das: ›die Sache ist richtig‹?« fragte der Fürst, indem er aufgeregt den Ausdruck aufgriff, der dem andern entschlüpft war. Rogoshin lächelte, gab aber keine Erklärung. »Ich habe deinen Brief erhalten, Lew Nikolajitsch; du hast dir unnütze Mühe gemacht..., wozu tust du das nur!... Jetzt aber komme ich zu dir in ihrem Auftrag: du sollst unbedingt zu ihr kommen; sie hat dir etwas zu sagen. Sie läßt dich bitten, noch heute hinzukommen.« »Ich werde morgen kommen. Ich gehe jetzt gleich nach Hause. Willst du nicht... zu mir kommen?« »Wozu? Ich habe dir alles Nötige gesagt. Leb wohl!« »Willst du nicht doch mitgehen?« fragte ihn der Fürst leise. »Du bist ein sonderbarer Mensch, Lew Nikolajitsch; man muß sich über dich wundern.« Rogoshin lächelte spöttisch. »Warum? Weshalb hast du jetzt einen solchen Groll gegen mich?« fragte ihn der Fürst traurig und mit leidenschaftlicher Empfindung. »Du weißt ja jetzt selbst, daß alles, was du gedacht hast, unwahr ist. Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß dein Groll gegen mich noch nicht vergangen sein würde, und weißt du weshalb? Weil du mir nach dem Leben getrachtet hast, darum vergeht dein Groll nicht. Ich sage dir, ich erinnere mich nur an jenen Parfen Rogoshin, mit dem ich an jenem Tag das Kreuz gewechselt habe; ich habe dir das in meinem gestrigen Brief geschrieben, damit du diesen ganzen Fieberwahn vergessen und nicht mit mir davon zu reden anfangen möchtest. Warum rückst du von mir weg? Warum versteckst du deine Hand vor mir? Ich sage dir, daß ich alles damals Geschehene nur für einen Fieberwahn halte: ich kenne dich, wie du an jenem ganzen Tage warst, durch und durch, wie mich selbst. Das, was du dir einbildest, hat nicht existiert und konnte nicht existieren. Warum soll unser Groll fortdauern?« »Was kannst du denn für Groll empfinden?« erwiderte Rogoshin, wieder lachend, auf die warmen Worte des Fürsten. Er stand wirklich etwas von ihm entfernt, da er ein paar Schritte zurückgewichen war, und hielt seine Hände versteckt. »Es schickt sich jetzt für mich überhaupt nicht, zu dir zu kommen, Lew Nikolajitsch«, fügte er langsam und bedeutsam zum Schluß hinzu. »So sehr haßt du mich also? Wie?« »Ich liebe dich nicht, Lew Nikolajitsch, also warum sollte ich zu dir kommen? Ach, Fürst, du bist ganz wie ein kleines Kind: du möchtest ein Spielzeug haben; ›gib her, gib her!‹ heißt es, aber du verstehst von der Sache gar nichts. Was du jetzt sagst, hast du mir alles ganz ebenso in deinem Brief geschrieben; meinst du denn, daß ich dir nicht glaube? Ich glaube jedes Wort, das du sagst, und weiß, daß du mich nie getäuscht hast und nie täuschen wirst; aber ich liebe dich trotzdem nicht. Du schreibst mir, du hättest alles vergessen und erinnerst dich nur an deinen Kreuzbruder Rogoshin, aber nicht an jenen Rogoshin, der damals das Messer gegen dich gezückt habe. Aber woher kennst du denn meine Gefühle?« Rogoshin lächelte wieder.) »Ich habe das vielleicht seitdem noch nie bereut, und du hast mir schon deine brüderliche Verzeihung geschickt. Vielleicht habe ich gleich an jenem selben Abend schon an etwas ganz anderes gedacht und diese Geschichte...« »Und diese Geschichte vergessen!« fiel der Fürst ein. »Wie könnte es auch anders sein! Ich möchte wetten, daß du damals geradewegs nach der Bahn gelaufen und hierher nach Pawlowsk zur Musik gefahren und ihr gerade wie heute im Menschengewühl nachgegangen bist und sie beobachtet hast. Das wundert mich gar nicht! Hättest du dich nicht damals in einem solchen Zustand befunden, daß du nur an das eine denken konntest, so würdest du vielleicht gar nicht das Messer gegen mich erhoben haben. Ich hatte damals schon vom Vormittag an, als ich dich anblickte, so eine Ahnung; weißt du, wie du da aussahst? In dem Augenblick, als wir die Kreuze tauschten, da wurde dieser Gedanke wohl zuerst in mir wach. Warum hast du mich damals zu der alten Frau geführt? Deine Absicht war doch wohl, deine eigene Hand dadurch aufzuhalten? Aber du hast das unmöglich klar gedacht, sondern nur unbestimmt gefühlt, gerade wie ich... Wir hatten damals beide das gleiche Gefühl. Und hättest du damals deine Hand nicht gegen mich erhoben (Gott hat sie abgewendet), was wäre ich dann jetzt vor dir? Denn ich meinerseits hatte ja doch jenen Verdacht gegen dich; wir haben dieselbe Sünde begangen, die gleiche Sünde! (Runzle nicht die Stirn! Nun, und weshalb lachst du?) Du sagst, du hättest es nicht bereut. Aber selbst wenn du es gewollt hättest, du hättest es vielleicht gar nicht gekonnt, weil du mich eben nicht liebtest. Und wäre ich dir gegenüber unschuldig wie ein Engel, so wirst du mich trotzdem nicht leiden können, solange du denkst, daß sie nicht dich, sondern mich liebt. Das liegt im Wesen der Eifersucht. Aber nun hör einmal zu, Parfen; ich will dir sagen, zu welchem Resultat mich in dieser Woche mein Nachdenken gebracht hat: weißt du, daß sie dich jetzt vielleicht mehr liebt als irgendeinen andern, und sogar so stark, daß ihre Liebe um so größer ist, je mehr sie dich quält? Sie wird dir das nicht sagen, aber man muß verstehen, das zu durchschauen. Warum wird sie dich schließlich doch heiraten? Sie wird es dir später einmal selbst sagen. Manche Frauen haben es sogar gern, daß man sie so liebt, und gerade sie hat einen solchen Charakter! Und dein Charakter und deine Liebe haben sicherlich auf sie einen großen Eindruck gemacht! Weißt du, daß eine Frau imstande ist, einen Menschen durch ihre Grausamkeiten und Spöttereien zu martern, ohne dabei die geringsten Gewissensbisse zu verspüren, weil sie jedesmal, wenn sie den Betreffenden ansieht, denkt: Jetzt quäle ich ihn halbtot, aber nachher werde ich durch meine Liebe alles wiedergutmachen›...« Rogoshin lachte, als er den Fürsten das sagen hörte. »Hör mal, Fürst, du bist wohl selbst an so eine geraten? Ich habe so etwas über dich gehört, wenn's wahr ist.« »Was kannst du gehört haben? Was?« fragte der Fürst, der plötzlich zusammenfuhr und in großer Bestürzung stehenblieb. Rogoshin fuhr fort zu lachen. Er hatte mit Interesse und vielleicht nicht ohne Vergnügen dem Fürsten zugehört; die freudige, warme Begeisterung des Fürsten imponierte ihm und ermutigte ihn. »Und ich habe nicht nur etwas gehört, sondern ich sehe jetzt auch selbst, daß es wahr ist«, fügte er hinzu. »Wann hättest du denn jemals so geredet wie jetzt? Deine Reden klingen ja gar nicht, als ob sie von dir kämen. Hätte ich nicht so etwas über dich gehört, so würde ich nicht zu dir gekommen sein, noch dazu in den Park, um Mitternacht.« »Ich verstehe dich absolut nicht, Parfen Semjonytsch.« »Sie hat mir das schon vor längerer Zeit von dir gesagt, und vorhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen, als du mit der andern bei der Musik saßest. Sie hat mir geschworen, gestern und heute hat sie mir geschworen, daß du in Aglaja Jepantschina wie ein Kater verliebt seist. Mir ist das ganz gleichgültig, Fürst, das geht mich nichts an: wenn du sie auch nicht mehr liebst, so liebt doch sie dich noch immer. Du weißt ja, daß sie aus dir und jener andern unter allen Umständen ein Paar machen will, das hat sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt, hehe! Sie sagt zu mir: ›Sonst heirate ich dich nicht; wenn die beiden zum Traualtar gehen, dann wollen wir es auch tun.‹ Was das zu bedeuten hat, habe ich nie begriffen und begreife ich auch jetzt nicht: entweder liebt sie dich grenzenlos oder... wenn sie dich liebt, wie kann sie dann wünschen, daß du eine andere heiratest? Sie sagt: ›Ich will ihn glücklich sehen‹, also liebt sie dich.« »Ich habe dir gesagt und geschrieben, daß sie... nicht bei Sinnen ist«, sagte der Fürst, der Rogoshin mit innerer Qual angehört hatte. »Gott mag's wissen! Vielleicht irrst du dich auch... Übrigens hat sie heute, als ich sie von der Musik nach Hause brachte, unsern Hochzeitstag bestimmt: ›In drei Wochen‹, sagt sie, ›vielleicht auch schon früher, wollen wir uns bestimmt trauen lassen.‹ Sie hat es geschworen, hat das Heiligenbild von der Wand genommen und geküßt. Also hängt die Sache jetzt von dir ab, Fürst, hehe!« »Das ist lauter irres Gerede! Das, was du da von mir sagst, kann nie geschehen! Ich werde morgen zu euch kommen...« »Wie soll sie denn geisteskrank sein?« bemerkte Rogoshin. »Allen andern scheint sie bei Verstand zu sein, und nur du hältst sie für verrückt. Wie könnte sie denn Briefe dorthin schreiben? Wenn sie geisteskrank wäre, dann würde es doch auch dort an den Briefen gemerkt werden.« »Was für Briefe?« fragte der Fürst erschrocken. »Sie schreibt dorthin, an jene, und die liest es. Weißt du das denn nicht? Na, dann wirst du es schon noch erfahren; sie wird dir die Briefe schon selbst zeigen.« »Das kann ich nicht glauben!« rief der Fürst. »O weh! Du, Lew Nikolajitsch, hast, wie ich sehe, auf diesem Gebiet noch nicht viel Erfahrung, sondern bist noch ein Anfänger. Warte nur ein bißchen: du wirst dir deine eigene Polizei halten und selbst Tag und Nacht auf dem Posten sein und jeden Schritt von dort in Erfahrung bringen, wenn du nur erst...« »Laß das und rede nie wieder davon!« rief der Fürst. »Höre, Parfen, ich bin hier soeben, bevor du kamst, umhergegangen und fing auf einmal an zu lachen, worüber, weiß ich selbst nicht, aber der äußere Anlaß war, daß mir einfiel, daß gerade morgen mein Geburtstag ist. Jetzt ist es bald zwölf Uhr. Komm mit, wir wollen den Tag zusammen begrüßen! Ich habe Wein zu Hause, den wollen wir trinken, wünsche du mir das, was ich mir selbst jetzt nicht zu wünschen weiß, ich lege Wert darauf, daß gerade du es mir wünschst, und ich werde dir wünschen, daß du vollkommen glücklich wirst. Sonst mußt du mir das Kreuz zurückgeben! Du hast mir das Kreuz damals doch nicht am nächsten Tag zurückgeschickt! Du trägst es doch noch? Trägst du es auch in diesem Augenblick?« »Ja, ich trage es«, antwortete Rogoshin. »Nun, dann wollen wir gehen! Ich will mein neues Leben nicht ohne dich antreten, denn es hat allerdings ein neues Leben für mich begonnen! Weißt du es nicht, Parfen, daß heute für mich ein neues Leben begonnen hat?« »Jetzt sehe ich selbst und weiß selbst, daß das der Fall ist; ich werde es auch ihr berichten. Du bist ja ganz außer dir, Lew Nikolajitsch!« IV Mit großem Vergnügen bemerkte der Fürst, als er sich mit Rogoshin seinem Landhause näherte, daß in seiner hell erleuchteten Veranda eine zahlreiche, lärmende Gesellschaft versammelt war. Es wurde lustig gelacht und geredet, anscheinend sogar unter Geschrei debattiert; man erkannte auf den ersten Blick, daß diese Leute die Zeit höchst heiter verbrachten. Und wirklich sah er, als er zur Veranda hinaufgestiegen war, daß alle tranken, und zwar Champagner tranken und dies, wie es schien, schon ziemlich lange getan hatten, so daß viele der Zechenden sich bereits in einem sehr angenehmen, angeregten Zustand befanden. Die Gäste waren lauter Bekannte des Fürsten, aber es war merkwürdig, daß sie sich alle auf einmal wie auf eine Einladung zusammengefunden hatten, obwohl der Fürst in Wirklichkeit niemand eingeladen und sich an seinen Geburtstag selbst soeben nur zufällig erinnert hatte. »Du hast gewiß jemand mitgeteilt, daß du Champagner spendierst, und da sind sie zusammengelaufen«, murmelte Rogoshin, als er hinter dem Fürsten die Veranda betrat. »Das kenne ich; solchen Leuten braucht man nur zu pfeifen...«, fügte er ingrimmig hinzu, offenbar in Erinnerung an seine eigene, noch nicht weit zurückliegende Vergangenheit. Alle begrüßten den Fürsten mit Freudenrufen und Glückwünschen und umringten ihn. Manche machten dabei viel Lärm, andere benahmen sich ruhiger, aber alle beeilten sich, ihm zu gratulieren, da sie von seinem Geburtstag gehört hatten, und jeder wartete auf den Augenblick, wo er an die Reihe kommen würde. Die Anwesenheit mancher Persönlichkeiten, so zum Beispiel Burdowskijs, war dem Fürsten interessant, aber am erstaunlichsten war es ihm, daß sich auch Jewgenij Pawlowitsch in dieser Gesellschaft befand; der Fürst traute kaum seinen Augen und bekam beinah einen Schreck, als er ihn erblickte. Unterdessen kam auch Lebedew, mit gerötetem Gesicht und sehr enthusiasmiert, herbeigelaufen und erklärte den Hergang; er war schon in hohem Grade fertig. Aus seinem Geschwätz war zu entnehmen, daß alle sich ganz natürlich, ja zufällig zusammengefunden hatten. Am frühesten von allen, noch vor Abend, war Ippolit gekommen und hatte, da er sich weit besser fühlte, den Fürsten in der Veranda zu erwarten gewünscht. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht; dann war Lebedew hinzugekommen, hierauf dessen ganze Familie, das heißt General Iwolgin und die Töchter. Burdowskij war zugleich mit Ippolit angekommen, den er herbegleitet hatte. Ganja und Ptizyn waren erst vor kurzem, als sie gerade vorübergingen, eingetreten ihr Erscheinen fiel mit den Vorgängen im Vauxhall zusammen); darauf war Keller erschienen, hatte von dem Geburtstag Mitteilung gemacht und Champagner verlangt. Jewgenij Pawlowitsch hatte sich erst vor einer halben Stunde eingefunden. Auf das Champagnertrinken und die Veranstaltung eines Festes hatte auch Kolja mit aller Energie gedrungen. Lebedew hatte bereitwillig Wein aufgetragen. »Aber von meinem eigenen, von meinem eigenen!« beteuerte er dem Fürsten lallend. »Auf meine eigenen Kosten, um Ihren Geburtstag festlich zu begehen und Ihnen zu gratulieren; es wird auch etwas zu essen geben, einen Imbiß; meine Tochter ist schon dabei, das zu besorgen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, über welches Thema wir gerade debattieren! Erinnern Sie sich an die Stelle im Hamlet: ›Sein oder Nichtsein‹? Das ist ein zeitgemäßes Thema, ein sehr zeitgemäßes Thema! Wir werfen Fragen auf und beantworten sie... Auch Herr Terentjew ist im höchsten Grade... er ist gar nicht müde! Von dem Champagner hat er nur genippt, nur genippt; das kann ihm nicht schaden... Treten Sie näher, Fürst, und entscheiden Sie! Alle haben wir nur auf Sie gewartet und auf Ihren glücklichen Verstand ...« Der Blick des Fürsten begegnete dem lieben, freundlichen Blicke Wera Lebedewas, die sich ebenfalls eilig bemühte, durch den Schwarm zu ihm vorzudringen. Unter Übergehung aller andern streckte er ihr zuerst die Hand hin; sie errötete vor Freude und wünschte ihm, daß er von diesem Tage an immer glücklich leben möge. Dann lief sie schleunigst in die Küche, wo sie den Imbiß herrichtete; aber auch vor der Ankunft des Fürsten war sie mehrmals, sowie sie sich nur für ein Weilchen von ihrer Arbeit hatte losmachen können, in der Veranda erschienen und hatte eifrig zugehört, wie die angetrunkenen Gäste unausgesetzt über ganz abstrakte und ihr ganz fernliegende Gegenstände debattierten. Ihre jüngere Schwester war mit offenem Mund im Nebenzimmer auf einem Koffer eingeschlafen, der Knabe aber, Lebedews Sohn, stand neben Kolja und Ippolit, und schon sein begeisterter Gesichtsausdruck zeigte, daß er bereit war, hier noch lange in genußreichem Zuhören auf einem Fleck stehenzubleiben, selbst zehn Stunden hintereinander. »Ich habe speziell auf Sie gewartet und freue mich außerordentlich, daß Sie in so glücklicher Stimmung gekommen sind«, sagte Ippolit, als der Fürst unmittelbar nach Begrüßung Weras zu ihm trat, um ihm die Hand zu drücken. »Aber woher wissen Sie, daß ich mich ›in so glücklicher Stimmung‹ befinde?« »Das sieht man Ihnen am Gesicht an. Begrüßen Sie die Herren, und setzen Sie sich so bald wie möglich hierher zu mir! Ich habe speziell auf Sie gewartet«, fügte er hinzu, indem er einen bedeutsamen Nachdruck darauf legte, daß er gewartet habe. Auf die Bemerkung des Fürsten, ob ihm das lange Aufbleiben auch nicht schädlich sein würde, erwiderte er, er wundere sich selbst darüber, daß er vor drei Tagen habe sterben wollen, er habe sich nie wohler gefühlt als an diesem Abend. Burdowskij sprang auf und murmelte, er sei »nur so« ... er habe Ippolit »herbegleitet« und freue sich ebenfalls; in dem Brief habe er »allerlei Unsinn geschrieben«, aber jetzt empfinde er »einfach« Freude... Er sprach nicht zu Ende, drückte dem Fürsten kräftig die Hand und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Nach Begrüßung aller andern trat der Fürst auch zu Jewgenij Pawlowitsch. Dieser faßte ihn sogleich unter den Arm. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Worte sagen«, flüsterte er ihm zu, »und zwar in einer überaus wichtigen Angelegenheit. Lassen Sie uns einen Augenblick beiseite treten.« »Nur ein paar Worte!« flüsterte eine andere Stimme dem Fürsten in das andere Ohr, und eine andere Hand faßte ihn von der anderen Seite unter den Arm. Der Fürst erblickte mit Erstaunen eine Gestalt mit gerötetem, blinzelndem, lachendem Gesicht und wirrem Haar und erkannte im gleichen Augenblick Ferdyschtschenko, der sich, Gott weiß woher, hier wieder angefunden hatte. »Erinnern Sie sich noch an Ferdyschtschenko?« fragte dieser. »Wo kommen Sie denn her?« rief der Fürst. »Er bereut!« rief der herbeilaufende Keller. »Er hatte sich versteckt und wollte sich nicht sehen lassen, er hatte sich dahinten in einem Winkel versteckt; er bereut, Fürst, er fühlt sich schuldig.« »Schuldig? Wieso?« »Ich habe ihn getroffen, Fürst, ich habe ihn vorhin eben getroffen und mit hergebracht; er ist einer meiner besten Freunde, aber er bereut.« »Ich freue mich sehr, meine Herren, gehen Sie nur, und setzen Sie sich dort zu den andern; ich komme auch gleich«, sagte der Fürst, indem er sich endlich losmachte und zu Jewgenij Pawlowitsch eilte. »Es ist ja hier bei Ihnen sehr amüsant«, bemerkte dieser, »und ich habe mit Vergnügen eine halbe Stunde lang auf Sie gewartet. Was ich sagen wollte, liebster Lew Nikolajewitsch: ich habe alles mit Kurmyschew geordnet und kam her, um Sie zu beruhigen; Sie brauchen sich nicht darüber aufzuregen, er hat die Sache sehr, sehr vernünftig aufgefaßt, was auch um so näherlag, als er meiner Ansicht nach selbst die meiste Schuld hatte.« »Mit was für einem Kurmyschew?« »Nun, mit dem, den Sie vorhin an den Armen gepackt haben... Er war so wütend, daß er schon beabsichtigte, morgen zu Ihnen zu schicken und Genugtuung zu fordern.« »Ich bitte Sie, was für ein Unsinn!« »Natürlich ist es ein Unsinn, und die Sache wäre auch sicher harmlos erledigt worden, aber diese Leute sind bei uns hier...« »Sie sind vielleicht auch noch zu einem andern Zweck hergekommen, Jewgenij Pawlytsch?« »Oh, natürlich noch zu einem andern Zweck!« versetzte dieser lachend. »Lieber Fürst, ich fahre morgen bei Tagesanbruch in dieser unglücklichen Angelegenheit (nun ja, ich meine die Sache mit meinem Onkel) nach Petersburg. Denken Sie sich nur: es ist alles wahr, und alle Leute wissen davon mehr als ich. Mich hat die Sache so mitgenommen, daß ich heute nicht mehr dazu gekommen bin, dorthin zu gehen (zu Jepantschins), und morgen werde ich es ebenfalls nicht können, weil ich in Petersburg sein werde, Sie verstehen. Vielleicht werde ich ungefähr drei Tage von hier abwesend sein – kurz gesagt, meine Sache kommt nicht voran. Obwohl es eine Sache von allergrößter Wichtigkeit ist, habe ich es doch für das richtige gehalten, mich Ihnen gegenüber in der offenherzigsten Weise und unverzüglich, das heißt noch vor meiner Abreise, auszusprechen. Ich werde jetzt, wenn es Ihnen recht ist, noch ein Weilchen hier sitzenbleiben und warten, bis die Gesellschaft auseinandergeht; überdies wüßte ich auch nicht, was ich sonst anfangen sollte: ich bin so aufgeregt, daß ich mich gar nicht schlafen legen werde. Endlich möchte ich Ihnen noch eins geradeheraus sagen: obwohl es gewissenlos und unschicklich ist, sich jemandem so geradezu aufzudrängen, so bin ich doch hergekommen, um Ihre Freundschaft zu gewinnen, mein lieber Fürst; Sie sind ein unvergleichlicher Mensch, das heißt, Sie lügen nicht auf Schritt und Tritt und vielleicht überhaupt nicht, und ich bedarf in einer gewissen Angelegenheit eines Freundes und Ratgebers, weil ich jetzt tatsächlich ein unglücklicher Mensch bin...« Er lachte wieder auf. »Das Schlimme ist nur«, sagte der Fürst, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, »Sie wollen warten, bis diese Leute auseinandergehen, aber weiß Gott, wann das geschehen wird. Wäre es nicht das beste, wenn wir jetzt in den Park gingen? Gewiß werden sie ein Weilchen warten, ich werde mich entschuldigen.« »Nein, nein, ich möchte aus bestimmten Gründen nicht den Verdacht aufkommen lassen, als führten wir ein Gespräch mit besonderen Absichten; es sind hier Leute darunter, die sich sehr für unsere Beziehungen interessieren, wissen Sie das nicht, Fürst? Es wird weit besser sein, wenn sie sehen, daß wir auch ohnehin in sehr freundschaftlichen Beziehungen stehen, von allen Sonderfällen abgesehen, verstehen Sie wohl? Sie werden in etwa zwei Stunden auseinandergehen, dann möchte ich Sie zwanzig Minuten in Anspruch nehmen – nun, oder eine halbe Stunde...« »Aber ich bitte sehr, mit Vergnügen; ich freue mich darüber auch ohne alle Erklärungen, und für Ihre liebenswürdigen Worte über unsere freundschaftlichen Beziehungen danke ich Ihnen herzlich. Sie entschuldigen, daß ich heute zerstreut bin; wissen Sie, ich kann mich augenblicklich gar nicht zur Aufmerksamkeit zwingen.« »Ich sehe, ich sehe«, murmelte Jewgenij Pawlowitsch mit einem leisen Lächeln! Er war an diesem Abend überhaupt sehr zum Lachen aufgelegt. »Was sehen Sie denn?« fragte der Fürst erschrocken. »Hegen Sie denn gar keinen Verdacht, lieber Fürst«, sagte Jewgenij Pawlowitsch, immer noch lächelnd, ohne auf die direkte Frage zu antworten, »hegen Sie denn gar keinen Verdacht, daß ich einfach hergekommen bin, um Sie hinters Licht zu führen und so nebenbei etwas von Ihnen herauszubekommen, wie?« »Daß Sie hergekommen sind, um etwas von mir herauszubekommen, daran ist kein Zweifel«, antwortete der Fürst lachend, »und vielleicht haben Sie sich auch vorgenommen, mich ein bißchen zu betrügen. Aber nur zu! Ich fürchte mich vor Ihnen nicht, und außerdem ist es mir jetzt ganz gleichgültig, wollen Sie mir das glauben? Und... und... und da ich vor allem überzeugt bin, daß Sie trotzdem ein vortrefflicher Mensch sind, so werden wir möglicherweise wirklich am Ende Freundschaft miteinander schließen. Sie haben mir sehr gefallen, Jewgenij Pawlytsch; Sie... sind meiner Ansicht nach ein sehr anständiger Mensch!« »Nun, jedenfalls ist es sehr angenehm, mit Ihnen etwas zu tun zu haben, mag es sein, was es will«, schloß Jewgenij Pawlowitsch. »Kommen Sie, ich will ein Glas auf Ihre Gesundheit trinken; ich bin sehr zufrieden, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Ah!« unterbrach er sich plötzlich. »Ist dieser Herr Ippolit vollständig zu Ihnen übergesiedelt?« »Ja.« »Ich meine, er wird nicht so bald sterben.« »Wieso meinen Sie das?« »Ich denke es mir so; ich habe hier eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbracht...« Ippolit wartete diese ganze Zeit auf den Fürsten und blickte ununterbrochen nach ihm und Jewgenij Pawlowitsch hin, während die beiden abseits standen und miteinander redeten. Er zeigte eine krankhafte Lebhaftigkeit, als sie an den Tisch traten. Er war unruhig und aufgeregt; der Schweiß trat ihm auf die Stirn. In seinen funkelnden Augen kam außer einer dauernden unsteten Unruhe auch eine unbestimmte Ungeduld zum Ausdruck, sein Blick irrte ziellos von einem Gegenstand zum andern, von einer Person zur andern. Er hatte sich zwar an dem gemeinsamen lärmenden Gespräch bisher stark beteiligt, aber sein Eifer hatte etwas Fieberhaftes; im Grunde schenkte er dem Gespräch wenig Aufmerksamkeit; was er in der Debatte vorbrachte, war unzusammenhängend und klang spöttisch, geringschätzig warf er paradoxe Bemerkungen hin; er sprach seine Gedanken nicht bis zu Ende aus und ließ ein Thema, über das er eine Minute vorher selbst mit glühendem Eifer zu sprechen begonnen hatte, schnell wieder fallen. Der Fürst erfuhr mit Verwunderung und Bedauern, daß man ihn an diesem Abend ungehindert schon zwei volle Gläser Champagner hatte trinken lassen und daß das vor ihm stehende angefangene Glas schon das dritte war. Aber er erfuhr dies erst später; im Augenblick war er nicht imstande, seine Umgebung genau zu beobachten. »Wissen Sie, ich freue mich außerordentlich darüber, daß gerade heute Ihr Geburtstag ist!« rief Ippolit. »Warum denn?« »Das werden Sie bald sehen; setzen Sie sich nur schnell her! Erstens schon deswegen, weil hier alle unsere Leute zusammengekommen sind. Ich hatte damit gerechnet, daß Leute hier sein würden; zum erstenmal in meinem Leben hat sich eine Rechnung von mir als richtig erwiesen! Aber schade, daß ich von Ihrem Geburtstag nichts gewußt habe, sonst hätte ich ein Geschenk mitgebracht... Haha! Ja, vielleicht habe ich aber wirklich eins mitgebracht! Dauert es noch lange, bis es Tag wird?« »Bis zum Morgengrauen sind es nicht mehr ganz zwei Stunden«, sagte Ptizyn nach einem Blick auf die Uhr. »Wozu braucht es jetzt erst noch Tag zu werden, wo man draußen auch ohne das lesen kann?« bemerkte jemand. »Damit ich ein Stückchen von der Sonne sehen kann. Kann man auf die Gesundheit der Sonne trinken, Fürst? Wie denken Sie darüber?« Ippolit stellte seine Fragen in scharfem Ton und wendete sich ungeniert, als kommandierte er, an alle, schien sich aber dessen selbst nicht bewußt zu sein. »Trinken wir darauf, meinetwegen! Nur sollten Sie sich beruhigen, Ippolit, nicht?« »Sie reden immer von Schlafen, Sie sind meine Kinderfrau, Fürst! Sobald die Sonne erscheint und am Himmel ertönt (wer hat das doch in einem Gedicht gesagt: ›Die Sonne tönt nach alter Weise‹? Es ist sinnlos, aber schön!) dann will ich mich schlafen legen. Lebedew! Die Sonne ist ja wohl die Quelle des Lebens? Was bedeuten die ›Quellen des Lebens‹ in der Apokalypse? Sie haben wohl von dem ›Wermutstern‹ gehört, Fürst?« »Ich habe gehört, daß Lebedew diesen ›Wermutstern‹ für das Eisenbahnnetz hält, das Europa überzieht.« »Nein, erlauben Sie, das ist nicht gestattet!« schrie Lebedew, indem er aufsprang und lebhaft mit den Armen gestikulierte, als wollte er das allgemeine Gelächter, das sich erhob, hemmen. »Erlauben Sie! Mit diesen Herren... all diese Herren«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »das ist in mehreren Punkten gegen die Verabredung, hören Sie nur...« Und er schlug sehr ungezwungen zweimal auf den Tisch, wodurch das Gelächter noch stärker wurde. Lebedew befand sich nicht nur in seinem gewöhnlichen »Abendzustand«, sondern es kam diesmal auch noch hinzu, daß er durch die vorhergehende lange »gelehrte« Debatte besonders aufgeregt und gereizt war; in solchen Fällen benahm er sich gegen seine Opponenten mit grenzenloser und im höchsten Grade offenherziger Geringschätzung. »Das ist nicht gestattet! Fürst, vor einer halben Stunde haben wir eine Verabredung getroffen: es darf niemand unterbrochen werden, es darf nicht gelacht werden, solange jemand spricht, es soll jeder alles freiheraus sagen dürfen. Nachher können ja auch die Atheisten, wenn sie wollen, ihre Erwiderungen vorbringen. Wir haben den General als Vorsitzenden eingesetzt, jawohl! Denn wie soll es anders gehen? Man könnte jeden, der eine hohe Idee, eine tiefsinnige Idee vorbringt, konfus machen...« »Reden Sie doch, reden Sie doch! Niemand wird Sie stören!« riefen mehrere. »Reden Sie, aber reden Sie nicht zuviel Unsinn!« »Was ist das für ein ›Wermutstern‹?« erkundigte sich jemand. »Ich habe keine Ahnung!« antwortete General Iwolgin und nahm mit wichtiger Miene den ihm vorhin zuerkannten Platz als Vorsitzender ein. »Ich liebe all diese gereizten Debatten außerordentlich, Fürst, natürlich nur Debatten über gelehrte Themen«, murmelte unterdessen Keller, der in höchster Begeisterung und Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her rückte, »über gelehrte und politische Themen«, wandte er sich plötzlich und unerwartet an Jewgenij Pawlowitsch, der in seiner Nähe saß. »Wissen Sie, ich lese furchtbar gern in den Zeitungen die Berichte über die Sitzungen des englischen Parlaments, das heißt, mich interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie miteinander reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›der sehr ehrenwerte Vicomte, der mir gegenübersitzt‹, ›der sehr ehrenwerte Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes – das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich, Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das schwöre ich Ihnen, Jewgenij Pawlytsch.« »Und was ist nun das Resultat von alledem?« ereiferte sich Ganja an einer anderen Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?« Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah triumphierenden Stimmung. Mit Lebedew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte, aber er wurde dabei bald selbst hitzig. »Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedew, der außer sich geriet und zugleich einen maßlosen Genuß empfand. »Was die Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen, sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze Tendenz der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.« »Tatsächlich verflucht oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgenij Pawlowitsch. »Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedew hitzig. »Übereilen Sie sich nicht, Lebedew, Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd. »Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedew, sich mit Lebhaftigkeit zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer; und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft, der Industrie, der Assoziationen, Arbeitslöhne und so weiter? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?« »Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgenij Pawlowitsch. »Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!« »Aber der Kredit bewirkt doch die allgemeine Solidarität und das Gleichgewicht der Interessen«, bemerkte Ptizyn. »Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendwelcher sittlichen Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der allgemeine Friede, das allgemeine Glück sollte durch die Befriedigung des Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?« »Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung, daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und ›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt ernstlich erregt wurde. »Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb...« »Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit...« »Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch. »Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig, aber fundamental ist dieses Gesetz nicht mehr als das Gesetz des Vernichtungstriebes und vielleicht auch des Selbstvernichtungstriebes. Besteht denn etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein im Selbsterhaltungstrieb?« »Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgenij Pawlowitsch hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja an und fragte ihn wieder, wie spät es sei; ja er zog sogar Koljas silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den Zeigern. Dann streckte er sich, als hätte er alles vergessen, auf dem Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke, aber eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und hörte das Geschwätz Lebedews mit an, der im höchsten Grade hitzig geworden war. »Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedew eifrig auf Jewgenij Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen, – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (obwohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstvernichtung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie nach Voltaires Vorbild über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben, denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!...« »Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall. »Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht die ›Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Erstarkens...« »Der Eisenbahnen?!« rief Kolja. »Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und geschäftig in der Menschheit, es gibt zuwenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein, aber das Rasseln der Wagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer, der überall geschäftig umherreist, und entfernt sich eitel und selbstgefällig. Aber ich, der schändliche Lebedew, glaube nicht an die Wagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Wagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an der sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist...« »Die Wagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand. »Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedew, ohne der Frage irgendwelche Beachtung zu schenken. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden, – übrigens, um die Wahrheit zu sagen, genauso wie jeder von uns und auch ich, der Schändlichste von allen, es tun würde, denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz herbeiträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!« »Aber um was handelt es sich denn schließlich?« »Langweiliges Gerede!« »Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten, denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben wie ich, denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut dafür zu vergießen...« »Weiter! Weiter!« »In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Viertel Jahrhundert, mit anderen Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen, aber es kommt verhältnismäßig selten vor.« »Im Verhältnis wozu?« »Im Verhältnis zum zwölften Jahrhundert und den beiderseits anschließenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.« »Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als fühlte er sich persönlich beleidigt. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themen, aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!« »General! Denk an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.« »Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen. »Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich...« »Und natürlich?« »Und natürlich!« wiederholte Lebedew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt, aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.« »Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst. Bisher hatte er den Streitenden schweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt, oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend zuging, und sogar darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt, aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten. »Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Geschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer Fallhöhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Anstieg auf den Saumpfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es gab damals von ihnen nur wenige; wahrscheinlich verhungerten sie massenhaft, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiterbestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser gab, und vielleicht sehr viele, darin hat Lebedew ohne Zweifel recht; nur weiß ich nicht, warum er dabei gerade von Mönchen sprach, und was er damit sagen will.« »Er meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch. »Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche, das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wert für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf, denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit...« »Übertreibung, Übertreibung, Lebedew!« lachte man ringsum. »Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist, aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott gegenüber Lebedew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen, auch über ihn zu lachen, aber er bemerkte das nicht.) »Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgenij Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zwecke ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.« »Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen und juristischen Zustand des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male im Laufe seines merkwürdigen Lebens den Wunsch zur Reue bekundet und sich von der Geistlichkeit abwendet. Wir ersehen dies deutlich aus den Tatsachen: es wird erwähnt, daß er fünf oder sechs Kinder verspeist hat, eine verhältnismäßig niedrige Zahl, die aber dafür in anderer Hinsicht interessant ist. Es ist klar, daß er, von furchtbaren Gewissensbissen gequält (denn mein Klient ist ein religiöser Mensch, der ein Gewissen besitzt, was ich beweisen werde) und um nach Möglichkeit seine Sünde zu verringern, versuchsweise sechsmal die mönchische Nahrung mit Laiennahrung vertauschte. Daß dies versuchsweise geschah, ist wiederum unzweifelhaft, denn wäre es nur zum Zwecke gastronomischer Abwechslung geschehen, so wäre die Zahl sechs sehr gering gewesen: warum nur sechs Stück und nicht dreißig? (Ich nehme die Hälfte von der Zahl der verzehrten Mönche.) Aber wenn dies nur ein Versuch war, hervorgegangen aus angstvoller Verzweiflung über das Verbrechen der Religionsspötterei und Kirchenschändung, dann wird diese Zahl sechs sehr verständlich, denn sechs Versuche waren zur Beruhigung der Gewissensbisse ganz ausreichend, da diese Versuche unmöglich erfolgreich sein konnten. Erstens ist meiner Ansicht nach ein Kind gar zu klein, das heißt zu gering an Masse, so daß in einem bestimmten Zeitraum drei- bis fünfmal soviel Laienkinder erforderlich sein würden als Geistliche, und die Sünde, wenn sie sich auch auf der einen Seite verringerte, doch schließlich auf der andern Seite wüchse, nicht qualitativ, aber quantitativ. Bei diesen Erwägungen, meine Herren, versetze ich mich natürlich in die Seele eines Verbrechers aus dem zwölften Jahrhundert. Was mich selbst, einen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, anlangt, so würde ich darüber vielleicht anders urteilen, was ich hiermit zu Ihrer Kenntnis bringe, meine Herren, so daß Sie keinen Anlaß haben, über mich zu grinsen, und für Sie, General, schickt sich das nun schon ganz und gar nicht. Zweitens ist ein Kind meiner Ansicht nach nicht nahrhaft, vielleicht sogar von zu süßlichem, fadem Geschmack, so daß sein Genuß, ohne die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen, nur Gewissensbisse hinterläßt. Jetzt kommt nun die Schlußfolgerung, das Finale, meine Herren, das Finale, in welchem die Antwort auf eine der wichtigsten Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin und denunziert sich bei der Geistlichkeit und gibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl Sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, stärker als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, welche den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen... das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen, aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen, denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt, alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, alle, alle sind ausgekocht!... Aber genug davon, darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?« Lebedew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen »geschickten Advokatenkniff«. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter, die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung. »Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt. »Ich habe einen echten Erklärer der Apokalypse gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einem Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigorij Semjonowitsch Burmistrow: der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf, na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene, selbst Generale beugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß. Ein ganz tolles Benehmen!« Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen oder er vergaß sein Vorhaben ständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoshin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoshin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges wartete und vorher nicht weggehen wollte. Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich sein und Jewgenij Pawlowitschs Blick; er erinnerte sich an die bevorstehende Unterredung und lächelte freundlich. Jewgenij Pawlowitsch nickte ihm zu und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte. Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief. »Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten, daß er nichts Gutes im Schilde führt!« »Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als interessierte er Sie heute ganz besonders, Jewgenij Pawlytsch, ist das richtig?« »Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich mit meinen eigenen Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend nicht von dieser widerwärtigen Visage losreißen kann.« »Er hat ein hübsches Gesicht...« »Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgenij Pawlowitsch, indem er den Fürsten am Arm faßte. »Sehen Sie!« Der Fürst blickte Jewgenij Pawlowitsch noch einmal verwundert an. V Ippolit, der gegen Ende des Lebedewschen Vortrages auf dem Sofa eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, als hätte ihm jemand einen Stoß in die Seite versetzt, fuhr zusammen, richtete sich auf, blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich endlich alles ins Gedächtnis zurückgerufen und begriffen hatte. »Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist die Sonne schon aufgegangen?« fragte er aufgeregt und griff nach der Hand des Fürsten. »Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr? Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?« fügte er mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte, wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge. »Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch. Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach. »Ah ... nicht mehr! Also kann ich ...« Er holte tief und begierig Atem, als hätte er eine schwere Last von sich geworfen. Er merkte endlich, daß nichts »zu Ende war«, daß es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch aufgestanden waren und daß lediglich Lebedews Geschwätz aufgehört hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt zweier greller Flecke auf seinen Wangen. »Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief, Jewgenij Pawlytsch«, sagte er spöttisch. »Sie haben den ganzen Abend über die Augen nicht von mir abgewandt, ich habe es wohl gesehen ... Ah, da ist ja Rogoshin! Ich habe soeben von ihm geträumt«, flüsterte er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoshin hindeutete. »Ach ja«, fuhr er, plötzlich zu etwas anderem übergehend, fort, »wo ist denn der Redner? Wo ist denn Lebedew? Lebedew ist also zu Ende? Worüber hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren«, rief er allen laut zu, »der Fürst behauptet, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er jetzt deshalb so leichtsinnige Gedanken hat, weil er verliebt ist. Meine Herren, der Fürst ist verliebt; vorhin, sowie er hereinkam, habe ich mich davon überzeugt. Erröten Sie nicht, Fürst, das würde mir leid tun. Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt erlöst werden wird? Mir hat Kolja das wiedererzählt... Sind Sie ein eifriger Christ? Kolja sagt, Sie bezeichneten sich selbst als Christ.« Der Fürst sah ihn aufmerksam an, ohne ihm zu antworten. »Sie antworten mir nicht? Sie glauben vielleicht, daß ich Sie sehr gern habe?« fügte Ippolit plötzlich ganz unvermittelt hinzu. »Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können.« »Wie? Selbst nach dem, was gestern geschehen ist? War ich gestern gegen Sie nicht aufrichtig?« »Ich wußte auch gestern, daß Sie mich nicht leiden können.« »Sie meinen, weil ich Sie beneide? Das haben Sie immer gedacht und denken es auch jetzt, aber... aber warum rede ich mit Ihnen davon? Ich will noch Champagner trinken; gießen Sie mir ein, Keller!« »Sie dürfen nicht mehr trinken, Ippolit, ich gebe Ihnen keinen mehr...« Der Fürst schob das Glas von ihm weg. »Nun gut...«, sagte er, sofort damit einverstanden, und schien in Gedanken zu versinken. »Die Leute werden womöglich noch sagen... aber was schere ich mich um das, was die Leute sagen werden! Nicht wahr? Nicht wahr? Mögen die Leute nachher reden, was sie wollen, nicht wahr, Fürst? Und was kümmert es uns alle, was nachher sein wird! ... Ich bin übrigens noch schlaftrunken. Was ich für einen schrecklichen Traum gehabt habe, jetzt fällt es mir wieder ein... Ich wünsche Ihnen solche Träume nicht, Fürst, wenn ich Sie auch vielleicht wirklich nicht leiden kann. Übrigens, wenn man jemand auch nicht leiden kann, warum soll man ihm Böses wünschen, nicht wahr? Warum frage ich nur fortwährend? Fortwährend frage ich! Geben Sie mir Ihre Hand, ich werde sie kräftig drücken, sehen Sie, so!... Sie haben mir also doch die Hand gereicht! Sie wissen also, daß mein Händedruck aufrichtig gemeint ist? ... Meinetwegen, ich werde nicht mehr trinken. Was ist die Uhr? Übrigens brauchen Sie es mir nicht zu sagen; ich weiß, was die Uhr ist. Die Stunde ist gekommen! Jetzt ist genau die Zeit. Was? Wird der Imbiß dort in die Ecke gestellt? Also bleibt dieser Tisch frei? Vorzüglich! Meine Herren, ich ... aber diese Herren hören ja alle nicht... ich beabsichtige, einen Artikel vorzulesen, Fürst; der Imbiß ist natürlich interessanter, aber...« Und ganz unerwartet zog er aus seiner oberen Seitentasche ein mit einem großen roten Siegel verschlossenes Kuvert in Kanzleiformat heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch. Dieser unerwartete Vorgang übte auf die angeheiterte Gesellschaft, die vorbereitet war, aber nicht darauf, eine starke Wirkung aus. Jewgenij Pawlowitsch sprang sogar von seinem Stuhl auf; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoshin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten. »Was haben Sie denn da?« fragte der Fürst beunruhigt. »Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst, ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es sehen!« rief Ippolit. »Aber... aber... glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?« fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte. Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte. »Niemand von uns glaubt das«, antwortete der Fürst für alle. »Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was... was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?« »Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?« wurde von allen Seiten gefragt. Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet. »Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann die ganze Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum ...« »Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern. »Morgen wird ›keine Zeit mehr sein‹«, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich übrigens nicht, das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern, na – oder eine Stunde... Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie hergekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert verpackt und versiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert aufbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Apokalypse.« »Es ist das beste, die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch, aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien. »Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert. »Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand. »Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer. »Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu. »Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen. Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein. »Also... soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ, als wollte er sich wieder mit der gleichen, sozusagen anstürmenden Expansivität an alle klammern. »Sie ... fürchten sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewandt. »Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, während sein Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte. »Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?« »Hier!« sagte Lebedew, ihm schnell eine Münze hinreichend. Ihm huschte der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei. »Wera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler oben liegt, will ich es vorlesen!« Wera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann warf sie, den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, diese mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen. »Also vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das... das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!« wiederholte er, wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst, merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung... Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. »Da muß man sich ja geradezu schämen!... Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens... ich zwinge niemand zuzuhören! ...« Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt. »Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?« murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst, in fast gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen hatte. »Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen«, schickte Ippolit aus irgendeinem Grunde voraus und begann dann seine Vorlesung: »Eine notwendige Erklärung! Motto: Après moi le déluge... Nach mir die Sintflut... (frz.) Pfui! Hol's der Teufel!« rief er, als ob er sich verbrannt hätte. »Habe ich wirklich im Ernst ein solches dummes Motto hinsetzen können?... Hören Sie, meine Herren!... Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir... Wenn Sie glauben, daß das hier... irgend etwas Geheimnisvolles oder... Verbotenes ist... mit einem Wort...« »Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!« unterbrach ihn Ganja. »Er kneift!« fügte jemand hinzu. »Viel unnützes Gerede!« mischte sich Rogoshin ein, der bisher die ganze Zeit geschwiegen hatte. Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, fletschte Rogoshin bitter und grimmig die Zähne und sprach langsam die seltsamen Worte: »Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders...« Was Rogoshin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand, aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke berührte einen jeden von ihnen. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte. Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoshin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung: »Also Sie... Sie waren es ... Sie?« »Was soll ich gewesen sein? Ich?« antwortete Rogoshin verständnislos. Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme: »Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tage, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war, Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?« »In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?« Der »Junge« schwieg wieder ungefähr eine Minute, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf. »Das waren Sie!« wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. »Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen ... Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht, aber das waren Sie!« Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf. »Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren, ich ... ich ... hören Sie nur zu ...« Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten, er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam. »Er ist verrückt geworden oder er redet im Fieber!« murmelte Rogoshin kaum hörbar. Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es dem Verfasser der unerwarteten Abhandlung noch schwer, Luft zu bekommen, und er las unzusammenhängend und ungleichmäßig, aber dann wurde seine Stimme fest und vermochte den Sinn des Gelesenen vollständig zum Ausdruck zu bringen. Nur wurde er manchmal von einem ziemlich starken Husten unterbrochen; von der Mitte des Schriftstücks an war er sehr heiser. Der gewaltige Eifer, der sich seiner, je weiter die Vorlesung fortschritt, immer mehr bemächtigte, erreichte gegen Ende den höchsten Grad, ebenso wie die peinliche Empfindung der Zuhörer. Hier ist diese ganze »Abhandlung«. »Meine notwendige Erklärung. Après moi le déluge. Gestern vormittag war der Fürst bei mir; unter anderm überredete er mich, nach seinem Landhaus überzusiedeln. Ich wußte, daß er unbedingt darauf bestehen würde, und war überzeugt, daß er geradezu mit der Bemerkung herausplatzen werde, es werde mir in dem Landhaus unter den Menschen und Bäumen leichter sein, zu sterben, wie er sich ausdrückt. Heute jedoch sagte er nicht sterben, sondern er sagte: ›Es wird Ihnen leichter sein zu leben‹, was indessen für mich in meiner Lage beinah dasselbe ist. Ich fragte ihn, was er denn mit den Bäumen, von denen er fortwährend redete, eigentlich wolle und warum er mir diese Bäume so aufdränge, – und erfuhr von ihm zu meiner Verwunderung, daß ich selbst an jenem Abend geäußert hätte, ich sei nach Pawlowsk gekommen, um zum letztenmal Bäume zu sehen. Als ich ihm bemerkte, es sei ja doch ganz gleich, ob ich unter Bäumen stürbe oder mit dem Blick durchs Fenster auf meine Backsteinmauer, und daß es um zweier Wochen willen sich nicht lohne, besondere Umstände zu machen, stimmte er mir sogleich bei; aber er meinte, das Grün und die reine Luft würden sicherlich bei mir eine physische Veränderung hervorrufen, und meine Aufregung und meine Träume würden vielleicht einen linderen Charakter annehmen. Ich erwiderte ihm lachend, er rede wie ein Materialist. Er antwortete mir mit seinem Lächeln, er sei immer ein Materialist gewesen. Da er nie lügt, sind diese Worte bedeutungsvoll. Sein Lächeln ist gut und angenehm; ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt gern habe oder nicht; aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich muß aber bemerken, daß mein fünfmonatiger Haß gegen ihn sich im letzten Monat ganz gelegt hat. Wer weiß, vielleicht bin ich nach Pawlowsk hauptsächlich gefahren, um ihn kennenzulernen. Aber... weshalb habe ich damals mein Zimmer verlassen? Wer zum Tode verurteilt ist, muß in seinem Winkel bleiben; und wenn ich jetzt nicht einen definitiven Entschluß gefaßt hätte, sondern entschieden hätte, die letzte Stunde abzuwarten, so würde ich natürlich mein Zimmer um keinen Preis verlassen und seinen Vorschlag, zu ihm überzusiedeln, um in Pawlowsk zu ›sterben‹, nicht annehmen. Ich muß mich beeilen und diese ganze Erklärung unter allen Umständen bis morgen zu Ende bringen. Somit werde ich keine Zeit haben, sie noch einmal durchzulesen und zu korrigieren; ich werde sie erst morgen wieder durchlesen, wenn ich sie dem Fürsten und zwei oder drei Zeugen, die ich bei ihm vorzufinden hoffe, vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ›die letzte, feierliche Wahrheit‹ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (NB. Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.) Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben, aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist. Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer für immer! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu empfinden oder sich irgendwelchen derartigen Gefühlen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben habe. Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B-n hat nichts zu mir gesagt und mich nie gesehen, aber man hat vor etwa einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; ebendeswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme, möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag: solche Fälle seien vorgekommen, erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in Kolomna, Stadtteil in Petersburg. deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches alles negierendes höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei, für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache, zu sterben. Aber am Ende blieb doch wie eingerahmt die Tatsache: einen Monat und nicht ein bißchen mehr. Daß er sich nicht irrte, davon war ich überzeugt. Es hat mich sehr gewundert, wieso der Fürst vorhin erraten hat, daß ich ›böse Träume‹ habe; er sagte wörtlich, ›meine Aufregung und meine Träume‹ würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume? Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß er aber im Grunde doch ein ›Idiot‹ ist, daran kann kein Zweifel bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie jetzt zu Hunderten habe). Ich war eingeschlafen – ich glaube, eine Stunde vor seiner Ankunft – und sah mich in einem Zimmer (aber nicht in dem meinigen). Das Zimmer war größer und höher als das meine, besser möbliert und hell; darin standen ein Schrank, eine Kommode, ein Sofa und mein Bett, ein großes, breites Bett, mit einer grünseidenen Steppdecke darauf. Aber in diesem Zimmer bemerkte ich ein schreckliches Tier, eine Art Ungeheuer. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Skorpion, war aber kein Skorpion, sondern widerwärtiger und weit furchtbarer, anscheinend ebendeswegen, weil es solche Tiere in der Natur nicht gibt und weil es sich absichtlich gerade bei mir eingefunden hatte und weil eben darin irgendein Geheimnis zu liegen schien. Ich betrachtete es sehr genau: es war ein mit einer braunen Schale bekleidetes Kriechtier, ungefähr vier Werschok 1 Werschok = 4,45 cm. lang, am Kopf etwa zwei Finger dick, nach dem Schwanz zu wurde es allmählich dünner, so daß die Schwanzspitze selbst nicht dicker als ein Zehntel Werschok war. Etwa einen Werschok vom Kopf entfernt traten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Rumpf zwei Pfoten heraus, auf jeder Seite eine, etwa zwei Werschok lang, so daß das ganze Tier, von oben gesehen, die Gestalt eines Dreizacks hatte. Den Kopf konnte ich nicht deutlich erkennen, aber ich sah zwei Fühler, nicht besonders lang, in Form zweier starker Nadeln, gleichfalls von brauner Farbe. Zwei ebensolche Fühler befanden sich am Ende des Schwanzes und am Ende jeder der Pfoten, so daß es also im ganzen acht Fühler waren. Das Tier lief sehr schnell im Zimmer umher, wobei es sich auf die Pfoten und den Schwanz stützte, und wenn es lief, wanden sich die Pfoten und der Rumpf trotz der Schale mit großer Schnelligkeit wie kleine Schlangen, was sehr widerwärtig anzusehen war. Ich hatte schreckliche Angst, es könnte mich stechen; mir war gesagt worden, es sei giftig. Ganz besonders aber quälte mich der Gedanke, wer es wohl in mein Zimmer geschickt hatte, was man mir antun wollte und worin dieses Geheimnis bestand. Das Tier versteckte sich unter der Kommode, unter dem Schrank und kroch in die Ecken. Ich zog meine Beine auf den Stuhl hinauf und schlug sie unter den Leib. Das Tier lief schnell schräg durch das ganze Zimmer und verschwand irgendwo in der Gegend meines Stuhls. Voller Furcht blickte ich rings um mich, aber da ich mit untergeschlagenen Beinen dasaß, so hoffte ich, daß es nicht werde auf den Stuhl heraufkriechen können. Plötzlich hörte ich hinter mir, fast bei meinem Kopf, ein knisterndes Geräusch; ich drehte mich um und sah, daß das Scheusal an der Wand hinaufkroch, sich schon in gleicher Höhe mit meinem Kopf befand und sogar meine Haare mit seinem Schwanz berührte, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit drehte und wand. Ich sprang auf, und im gleichen Augenblick war auch das Tier verschwunden. Auf das Bett mochte ich mich nicht legen, aus Furcht, es könnte unter das Kissen kriechen. Da traten meine Mutter und ein Bekannter von ihr ins Zimmer. Sie begannen, auf das garstige Tier Jagd zu machen, aber sie waren ruhiger als ich und fürchteten sich nicht einmal. Sie konnten jedoch nichts begreifen. Auf einmal kam das Untier wieder hervorgekrochen; es kroch diesmal sehr sachte und wand sich, wie mit besonderer Absicht, nur langsam, was noch viel greulicher aussah; es nahm seinen Weg wieder schräg durch das Zimmer nach der Tür hin. Da öffnete meine Mutter die Tür und rief Norma, unsere Hündin, einen riesigen schwarzen, zottigen Neufundländer; sie ist vor fünf Jahren gestorben. Norma kam ins Zimmer gestürzt und blieb vor dem Reptil wie angewurzelt stehen. Auch dieses machte halt, wand sich aber immer noch hin und her und kratzte mit den Enden der Pfoten und des Schwanzes auf dem Fußboden herum. Tiere sind, wenn ich nicht irre, nicht imstande, eine mystische Angst zu empfinden, aber in diesem Augenblick schien es mir doch, als ob auch in Normas Angst etwas sehr Ungewöhnliches, beinah Mystisches lag und sie ebenso wie ich ahnte, daß in dem Tier etwas Verhängnisvolles, ein Geheimnis steckte. Sie wich langsam vor dem Reptil zurück, das sachte und vorsichtig auf sie zukroch und, wie es schien, sich plötzlich auf sie stürzen und sie stechen wollte. Aber trotz aller Angst und obwohl sie an allen Gliedern zitterte, machte Norma doch schrecklich grimmige Augen. Auf einmal fletschte sie langsam ihre furchtbaren Zähne, öffnete weit ihren gewaltigen roten Rachen, duckte sich, paßte geschickt die Entfernung ab, faßte einen Entschluß und packte plötzlich das garstige Tier mit den Zähnen. Dieses machte heftige Bewegungen, um zu entschlüpfen, so daß Norma es noch einmal, jetzt im Fluge, griff und es zweimal, immer im Fluge, mit dem ganzen Rachen in sich hineinzog, als wollte sie es hinunterschlucken. Die Schale knackte unter ihren Zähnen; der Schwanz des Tieres und die Pfoten, die aus dem Maul herausragten, bewegten sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Auf einmal begann Norma kläglich zu winseln: das Reptil hatte es doch noch fertiggebracht, sie in die Zunge zu stechen. Vor Schmerz winselnd und heulend, öffnete sie das Maul, und ich sah, daß das zerbissene, quer im Maul liegende Reptil sich noch bewegte und aus seinem halbzerquetschten Körper auf Normas Zunge eine Menge weißen Saftes floß, ähnlich dem Saft einer zerdrückten schwarzen Schabe... In diesem Augenblicke wachte ich auf, und der Fürst trat herein. Meine Herren«, sagte Ippolit, indem er seine Vorlesung plötzlich unterbrach und ein beschämtes Gesicht machte, »ich habe es nicht noch einmal durchgelesen, aber ich habe, wie es scheint, tatsächlich viel Überflüssiges hingeschrieben. Dieser Traum ...« »Ja, das ist richtig«, beeilte sich Ganja zu bemerken. »Ich muß zugeben, es ist zuviel Persönliches dabei, das heißt Dinge, die eigentlich nur auf mich Bezug haben...« Als Ippolit das sagte, sah er müde und erschöpft aus und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Ja, Sie interessieren sich zu sehr für sich selbst«, zischte Lebedew. »Meine Herren, noch einmal: ich nötige niemand; wer nicht zuhören will, kann sich entfernen.« »Er jagt uns weg ... aus einem fremden Haus«, brummte Rogoshin kaum vernehmbar. »Aber wie können wir denn alle auf einmal aufstehen und uns entfernen?« sagte plötzlich Ferdyschtschenko, der bis dahin nicht gewagt hatte, laut zu reden. Ippolit schlug die Augen nieder und griff nach seinem Manuskript; aber in derselben Sekunde hob er den Kopf wieder und sagte mit funkelnden Augen und zwei roten Flecken auf den Backen, indem er Ferdyschtschenko gerade ins Gesicht blickte: »Sie können mich gar nicht leiden!« Man hörte Lachen; indes war es nicht die Mehrzahl, die lachte. Ippolit wurde dunkelrot. »Ippolit«, sagte der Fürst, »machen Sie Ihr Manuskript zu und geben Sie es mir und legen Sie selbst sich hier in meinem Zimmer schlafen. Wir wollen, bevor Sie einschlafen, noch ein bißchen mit Ihnen reden und das Gespräch dann morgen fortsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Blätter nie wieder aufschlagen. Wollen Sie das tun?« »Ist das denn möglich?« rief Ippolit, indem er ihn mit wirklicher Verwunderung anblickte. »Meine Herren«, fuhr er, wieder in fieberhafter Lebhaftigkeit, fort, »das war ein dummer Zwischenakt, in dem ich mich nicht richtig zu benehmen verstand. Ich werde in der Vorlesung keine Unterbrechung mehr eintreten lassen. Wer zuhören will, mag zuhören...« Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber... »Der Gedanke«, fuhr er fort zu lesen, »daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte, aber meiner völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskijs, ›meines Nächsten‹, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese ›Überzeugung‹ habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich angefangen zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen. Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser schmutzigen Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre. Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben jener zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja, wenn ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu ein Klatschmaul wurde. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). Ich kannte einen armen Kerl, von dem man mir später erzählte, er sei Hungers gestorben, und ich erinnere mich, daß mich dies ganz aus der Fassung brachte: hätte man diesen armen Menschen ins Leben zurückrufen können, so hätte ich ihn, glaube ich, hinrichten lassen. Es ging mir manchmal ganze Wochen lang besser, und ich konnte auf die Straße gehen; aber was ich auf der Straße sah, versetzte mich in eine so ärgerliche Stimmung, daß ich ganze Tage lang absichtlich im verschlossenen Zimmer saß, obgleich ich wie alle Leute hätte ausgehen können. Ich konnte dieses hin und her rennende, hastende, immer sorgenvolle, mürrische, aufgeregte Volk nicht vertragen, das auf dem Gehsteig um mich herumwimmelte. Wozu ihre ewige Traurigkeit, Unruhe und Geschäftigkeit, ihre ewige mürrische Bosheit (denn sie sind boshaft, boshaft, boshaft). Wer ist schuld daran, daß sie unglücklich sind und nicht zu leben verstehen, obwohl jeder von ihnen sechzig Lebensjahre vor sich hat? Warum hat Sarnizyn es dahin kommen lassen, daß er Hungers starb, obgleich er sechzig Jahre vor sich hatte? Und jeder weist auf seine abgetragene Kleidung hin und auf seine zerarbeiteten Hände und ist böse und schreit: ›Wir arbeiten wie die Ochsen und quälen uns, aber wir sind hungrig wie die Hunde und arm! Andere arbeiten nicht und quälen sich nicht und sind reich!‹ (Das ist der ewige Refrain!) Und mit ihnen zugleich läuft so ein unglücklicher Jammermensch ›aus besserer Familie‹ herum und rackert sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend ab; ich denke an Iwan Fomitsch Surikow, der in unserm Haus über uns wohnt; er hat immer zerrissene Ellbogen und durchgeriebene Knöpfe und macht für allerlei Leute Gänge und übernimmt Aufträge vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Läßt man sich mit ihm in ein Gespräch ein, dann bekommt man zu hören: ›Ich bin arm, geradezu ein Bettler, meine Frau ist mir gestorben, ich hatte kein Geld, um ihr Medizin zu kaufen, und im Winter ist mir ein kleines Kind erfroren; meine älteste Tochter lebt als Mätresse...‹ So jammert und weint er fortwährend! Oh, ich habe kein Mitleid, nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen, ich habe jetzt keines und habe es auch früher nicht gehabt, das sage ich mit Stolz! Warum ist er denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperiale und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift? Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig, jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern, aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und biß tatsächlich nachts vor Wut in mein Kopfkissen und zerriß meine Bettdecke. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich gezeigt... Was hätte ich gezeigt? Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle. Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem denn? Ich habe mich damals mit ihnen belustigt, als ich klar einsehen mußte, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; mir fiel zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax gelangt bin, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe Matrjona verboten, es aufzuheben. Mag immerhin, wer meine ›Erklärung‹ in die Hände bekommt und die Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten oder auch für einen Gymnasiasten oder noch besser für einen zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zuwenig zu schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag man so denken! Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt und daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig ist. Man frage doch nur die Menschen, worin sie alle, vom ersten bis zum letzten, das Glück sehen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus nicht damals glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa zurückzusteuern! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich entdeckt wurde, die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, ewig damit beschäftigt ist zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat eine solche Ähnlichkeit mit den landläufigsten Redensarten, daß man mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird, der seinen Aufsatz über den ›Sonnenaufgang‹ vorlegt, oder daß man sagen wird, ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht verstanden, es zu ... ›entwickeln‹. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei jedem genialen oder neuen menschlichen Gedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten menschlichen Gedanken, der in irgendeinem Kopf entsteht, immer ein Rest übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und ewig darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben. Indessen, ich fahre fort.« VI »Ich will nicht lügen: die Wirklichkeit hat in diesen sechs Monaten auch nach mir ihre Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohnedies vergessen. Auch zu Hause, das heißt ›in der Familie‹, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte, zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal, vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie keinen Lärm machten und mich dadurch störten, denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie sie mich jetzt dafür lieben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt habe, werde ich wohl auch gehörig gequält haben. In der letzten Zeit hat auch er mich gepeinigt: das alles war ganz natürlich, die Menschen sind eben dazu geschaffen, einander zu peinigen. Aber ich merkte, daß er mein reizbares Wesen so ertrug, als hätte er sich von vornherein vorgenommen, mich als einen Kranken zu schonen. Natürlich reizte mich das noch mehr; aber wie es schien, beabsichtigte er, dem Fürsten in ›christlicher Sanftmut‹ nachzueifern, was ziemlich lächerlich wirkte. Er ist ein junger, heißblütiger Mensch und macht natürlich alles nach; aber es wollte mir manchmal scheinen, daß es für ihn an der Zeit sei, seinen eigenen Verstand zur Richtschnur zu nehmen. Ich habe ihn sehr gern. Ich habe auch Surikow gequält, der über uns wohnt und vom Morgen bis zum Abend herumläuft, um allerlei Aufträge auszuführen; ich suchte ihm fortwährend zu beweisen, daß er an seiner Armut selbst schuld sei, so daß er endlich ängstlich wurde und aufhörte, zu mir zu kommen. Er ist ein sehr sanftmütiger Mensch, das sanftmütigste Wesen, das man sich nur denken kann. (NB. Ich habe die Behauptung gehört, die Sanftmut sei eine gewaltige Kraft; ich muß den Fürsten danach fragen, es ist das sein eigener Ausdruck.) Aber als ich im März zu ihm nach oben ging, um zu sehen, wie sie dort das kleine Kind nach seinen Worten ›hatten erfrieren lassen‹, und über der Leiche des Kindes wie zufällig lächelte, weil ich diesem Surikow wieder zu beweisen anfing, daß er ›selbst schuld‹ sei, da begannen diesem Jammermenschen auf einmal die Lippen zu beben; er faßte mich mit der einen Hand an der Schulter, wies mit der andern nach der Tür und sagte leise, beinah flüsternd, zu mir: ›Gehen Sie weg!‹ Ich ging hinaus, und sein Benehmen gefiel mir sehr, gefiel mir gleich damals, gleich in dem Augenblick, als er mich hinauswies; aber seine Worte riefen nachher, wenn ich mich an sie erinnerte, lange Zeit bei mir das peinliche Gefühl eines seltsamen, geringschätzigen Mitleids mit ihm hervor, das ich eigentlich gar nicht empfinden wollte. Sogar im Augenblick einer solchen Kränkung (ich fühle ja, daß ich ihn gekränkt habe, obgleich das nicht in meiner Absicht lag), sogar in einem solchen Augenblick brachte dieser Mensch es nicht fertig, böse zu werden! Ich kann beschwören, daß seine Lippen damals nicht vor Zorn bebten, und als er mich am Arm faßte und sein prächtiges ›Gehen Sie weg!‹ sagte, da war er gar nicht zornig. Eine gewisse Würde lag darin, sogar viel Würde, eine Würde, die zu seinem ganzen Wesen gar nicht recht passen wollte (so daß sie, die Wahrheit zu sagen, recht komisch wirkte), aber Zorn lag nicht darin. Vielleicht hatte er einfach angefangen, mich zu verachten. Seit jener Zeit begann er plötzlich, als ich ihm ein paarmal auf der Treppe begegnete, vor mir den Hut abzunehmen, was er früher nie getan hatte, aber er blieb nicht mehr stehen wie früher, sondern lief verlegen an mir vorbei. Wenn er mich auch verachtete, so machte er das doch auf seine Weise: er ›verachtete demütig‹. Vielleicht aber nahm er seinen Hut auch einfach aus Furcht ab, weil ich der Sohn seiner Gläubigerin war; denn er war meiner Mutter beständig Geld schuldig und nie imstande, sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Und das ist sogar das wahrscheinlichste. Ich hätte mich gern mit ihm ausgesprochen und weiß sicher, daß er nach zehn Minuten mich um Verzeihung gebeten hätte; aber ich war doch der Meinung, daß es das beste sei, ihn in Ruhe zu lassen. Zur gleichen Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden, und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr, ich konnte ihn nicht genauer erkennen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er an einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben, – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er ihn mir nicht streitig, warf nur einen eiligen Blick danach hin und schlüpfte vorbei. Der Gegenstand war eine große lederne, altmodische, ganz vollgestopfte Brieftasche, aber ich vermutete, ich weiß nicht woher, gleich auf den ersten Blick, daß alles mögliche darin sei, nur kein Geld. Der Passant, der die Brieftasche verloren hatte, ging bereits etwa vierzig Schritte vor mir, und ich verlor ihn in der Menge bald aus den Augen. Ich fing an zu laufen und ihm nachzurufen, aber da ich nichts weiter rufen konnte als ›He!‹ so drehte er sich nicht um. Auf einmal bog er nach links in den Torweg eines Hauses ein. Als ich in den Torweg hineinlief, in dem es sehr dunkel war, war niemand mehr da. Das Haus war von gewaltiger Größe, eines jener Riesenbauwerke, wie sie mit lauter kleinen Wohnungen von Spekulanten errichtet werden; in manchen derartigen Häusern gibt es bis zu hundert Wohnungen. Als ich durch den Torweg lief, kam es mir so vor, als ob in dem hinten rechts befindlichen Winkel des riesigen Hofes ein Mensch ginge, obwohl ich es in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Ich lief nach jenem Winkel hin und sah einen Eingang mit einer Treppe. Die Treppe war eng, sehr schmutzig und ganz ohne Beleuchtung, aber ich hörte, daß oben ein Mensch noch die Stufen hinanstieg, und begann ebenfalls hinaufzusteigen, indem ich darauf rechnete, ihn einzuholen, sobald ihm irgendwo eine Tür geöffnet würde. So ähnlich kam es denn auch. Die Treppen waren zwar sehr kurz, aber sehr zahlreich, so daß ich furchtbar außer Atem kam; im fünften Stock wurde eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, das merkte ich, als ich noch drei Treppen tiefer war. Während ich hinauflief, auf dem Treppenabsatz wieder Atem schöpfte und die Klingel suchte, waren mehrere Minuten vergangen. Endlich öffnete mir eine Frau, die in einer winzigen Küche einen Samowar anblies; sie hörte schweigend meine Fragen an, verstand natürlich nichts davon und öffnete mir schweigend die Tür zu dem anstoßenden Zimmer, einem ebenfalls kleinen, furchtbar niedrigen Raum; hier standen nur die notwendigsten Möbel, und zwar von sehr schlechter Art, und ein gewaltiges, breites, mit Vorhängen versehenes Bett, auf welchem ein ›Terentjitsch‹ (so rief ihn die Frau) lag, wie mir schien, in betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter, auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach der folgenden Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das nächste Zimmer. Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; an sonstigen Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bette quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind zu ›wechseln‹, das heißt mit trockenen Windeln zu versehen, aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, er lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern. Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stande, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden. Als ich eintrat, war der Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebensmittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen, denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war düster, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab. Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Der Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunderding, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, stürzte der Herr mit einer wahren Wut auf mich los; namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam. ›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche. ›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.) Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. ›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹ Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trocknerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre. ›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet, ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente, hier ist alles ... oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹ Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen, aber ich bekam selbst keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr hin und her lief, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl hinstellte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt. ›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, indem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin... Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendeinem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, als protestiere er gegen seine jetzige Lage. ›Ich sehe, daß Sie...‹ ›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf. Er sprang ebenfalls auf. ›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und... bei Anwendung geeigneter Mittel...‹ Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand. ›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke, ›in der vorigen Woche hat mich B-n untersucht' (ich brachte also wieder B-n hinein), und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie...‹ Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen, aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, freundliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb, nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält, das sah ich. ›Wenn ich...‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen... ich... Sie sehen...‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage...‹ ›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei, das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹ ›Woher... woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt. ›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹ Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm widerfahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet, aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn gewühlt und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war mit seinen letzten Mitteln nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör geschenkt, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen, – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und... und... ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten, und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich... ich...‹ Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke, das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an. ›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow, sein Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Pjotr Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor...‹ ›Pjotr Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹ Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich durch Zufall mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten auf mich möglichst keinerlei Hoffnungen setzen, ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast), es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben, aber ich würde mich sofort nach der Wassilij-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig wisse, daß sein Onkel, der Wirkliche Staatsrat, ein kinderloser Junggeselle, an seinem Neffen, in dem er den letzten Sproß seines Geschlechtes sehe, außerordentlich hänge und ihn sehr in sein Herz geschlossen habe, so ›wird mein Kamerad vielleicht imstande sein, mir zu Gefallen bei seinem Onkel etwas für Sie durchzusetzen...‹ ›Wenn mir nur gestattet würde, mich vor Seiner Exzellenz zu rechtfertigen! Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden, die Sache mündlich darzulegen!‹ rief er; er zitterte wie im Fieber, und seine Augen glänzten. So drückte er sich aus: ›Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden!‹ Nachdem ich noch einmal wiederholt hatte, die Sache werde wahrscheinlich mißlingen und alles sich als Torheit herausstellen, fügte ich hinzu, wenn ich morgen vormittag nicht zu ihnen käme, so sei die Sache aus und sie hätten nichts mehr zu erwarten. Sie begleiteten mich unter Verbeugungen hinaus und waren fast wie von Sinnen. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck vergessen. Ich nahm mir eine Droschke und fuhr sogleich nach der Wassilij-Insel. Mit diesem Bachmutow hatte ich auf dem Gymnasium mehrere Jahre lang auf gespanntem Fuß gelebt. Er galt bei uns als Aristokrat, wenigstens nannte ich ihn so: er war stets elegant gekleidet und kam in eigener Equipage angefahren, indessen renommierte er nicht, sondern benahm sich stets als guter Kamerad, war immer außerordentlich heiter und sogar manchmal recht witzig, obgleich es mit seinem Verstand nicht weit her war, wiewohl er in der Klasse immer den ersten Platz innehatte; ich dagegen war nie in irgendeinem Gegenstand der Erste. Alle Kameraden mochten ihn gern leiden, nur ich nicht. Mehrmals hatte er sich mir in jenen Jahren zu nähern versucht, aber ich hatte mich jedesmal mürrisch und gereizt von ihm abgewandt. Jetzt hatte ich ihn schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen; er besuchte die Universität. Als ich zwischen acht und neun Uhr abends zu ihm ins Zimmer trat (es war sehr offiziell zugegangen, indem man mich erst angemeldet hatte), empfing er mich zunächst erstaunt, auch nicht einmal eigentlich freundlich, dann aber wurde er sofort heiter und lachte, als er mich ansah, auf einmal laut auf. ›Wie sind Sie denn auf den Einfall gekommen, mich zu besuchen, Terentjew?‹ rief er mit seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Ungeniertheit, die manchmal etwas Dreistes, aber nie etwas Verletzendes hatte, die mir an ihm so gefiel und um derentwillen ich ihn so haßte. ›Aber was ist das?‹ rief er erschrocken. ›Sie sehen ja ganz krank aus!‹ Der Husten quälte mich wieder, ich sank auf einen Stuhl und konnte mich nur mit Mühe wieder erholen. ›Beunruhigen Sie sich nicht, ich habe die Schwindsucht‹, sagte ich. ›Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.‹ Erstaunt setzte er sich hin, ich trug ihm sofort die ganze Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den Unglücklichen etwas erwirken. ›Das werde ich tun, das werde ich unbedingt tun, gleich morgen werde ich meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen, ich freue mich sogar sehr, Sie haben das alles so hübsch erzählt... Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹ ›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu. ›Gerade wie Napoleon sich an England gewandt hat!‹ rief er lachend. ›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen, wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst und gemessen vom Stuhl aufstand. Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen solchen Verlauf, wie man ihn sich besser gar nicht denken konnte. Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in einem andern Gouvernement, er bekam das Umzugsgeld und sogar eine Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, recht trocken empfing), – daß Bachmutow, wie ich vermute, den Arzt sogar überredete, ein Darlehen von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie sehr bald wieder nach Haus zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai, es war ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht hinab. Bachmutow begleitete mich nach Haus; wir gingen über die Nikolai-Brücke, der genossene Wein hatte auf uns beide seine Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich drängte es, mich auszusprechen. ›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber die Organisation des gesellschaftlichen Almosenwesens und die Frage der persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen einander nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird allezeit bestehenbleiben, denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen Namen, ein »General«, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern; jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im voraus, daß »der alte General« ihm auf den Sperlingsbergen Berge bei Moskau einen Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei jedem nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine Strafpredigt und nannte sie alle »Täubchen«. Er gab ihnen Geld und schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und Leinwand, auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung, daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen fragte er nur selten, jedoch hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich, er machte darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern, sie selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so trat er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu seinem Tod, es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien bekannt war, das heißt bei allen Verbrechern. Jemand, der in Sibirien gewesen ist, hat mir erzählt, er sei selbst Zeuge gewesen, wie die verstocktesten Verbrecher sich des Generals erinnerten, und dabei konnte der General, wenn er einen Trupp besuchte, jedem einzelnen Verschickten selten mehr als zwanzig Kopeken geben. Allerdings gedachten sie seiner nicht eigentlich mit warmer, tiefer Empfindung. Der eine oder andere dieser »Unglücklichen«, der vielleicht zwölf Menschen ermordet und ein halbes Dutzend Kinder lediglich zu seinem Vergnügen abgeschlachtet hatte (es heißt ja, daß es solche Menschen gibt), seufzte plötzlich mir nichts dir nichts und vielleicht nur einmal im Laufe seiner zwanzigjährigen Strafzeit auf und sagte: »Was mag jetzt der alte General machen? Ob er wohl noch lebt?« Dabei lächelte er vielleicht, das war alles. Aber woher wollen Sie wissen, was für ein Samenkorn in die Seele dieses Verbrechers von dem alten General gestreut war, den derselbe in den zwanzig Jahren nicht vergessen hatte? Woher wissen Sie, Bachmutow, welche Bedeutung diese Hingabe einer Persönlichkeit an die andere für die Schicksale dieser anderen Persönlichkeit haben wird?... Hierbei handelt es sich ja um das ganze Leben mit seiner zahllosen Menge uns unbekannter Verzweigungen. Der beste Schachspieler, auch der scharfsinnigste, kann nur einige Züge vorausberechnen; von einem französischen Spieler, der zehn Züge vorausberechnen konnte, wurde in den Zeitungen wie von einem Weltwunder berichtet. Wie viele Züge aber und wieviel uns Unbekanntes gibt es in einem Menschenleben? Indem Sie Ihr Samenkorn, Ihr »Almosen«, Ihre gute Tat in irgendeiner Form ausstreuen, geben Sie einen Teil Ihrer Persönlichkeit weg und nehmen einen Teil einer andern in sich auf; Sie gehen einer in den andern ein, es bedarf dann nur noch einiger Aufmerksamkeit, und Sie werden sich durch eine schöne Erkenntnis und durch ganz ungeahnte Entdeckungen belohnt sehen. Sie werden schließlich mit Sicherheit Ihre Tätigkeit wie eine Wissenschaft betrachten; diese Wissenschaft wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch vielleicht längst vergessen haben, Gestalt gewinnen und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter, ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand. ›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete. In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter. ›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer beugte. ›Doch nicht ins Wasser zu springen?‹ rief Bachmutow beinah entsetzt. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben. ›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in diesem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹ Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt, er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben, ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte. Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken, eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese ständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Entscheidung drängen würde. Aber zu dieser Entscheidung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes. Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein, aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Oben habe ich soeben die Bemerkung hingeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoshin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoshin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle nötigen Auskünfte, und er ging bald wieder weg, und da er nur um dieser Auskünfte willen gekommen war, so hätte unser Verkehr damit beendet sein können. Aber er hatte in hohem Grad mein Interesse erregt, und ich befand mich diesen ganzen Tag über im Bann sonderbarer Gedanken, so daß ich beschloß, am andern Tag zu ihm zu gehen und seinen Besuch zu erwidern. Rogoshin war über mein Kommen offenbar nicht erfreut und deutete sogar ›taktvoll‹ an, wir hätten eigentlich keinen Anlaß, unsere Bekanntschaft fortzusetzen; aber trotzdem verbrachte ich eine sehr interessante Stunde und wahrscheinlich auch er. Es war zwischen uns ein solcher Gegensatz, daß er uns beiden notwendigerweise auffallen mußte, namentlich mir: ich war ein Mensch, der schon die restlichen Lebenstage zählte, er aber überließ sich dem vollen, unmittelbaren Lebensgenuß, dem Genuß des gegenwärtigen Augenblicks ohne alle Sorge um ›letzte‹ Schlüsse, um zeitliche Daten oder um irgend etwas, was nicht mit dem Gegenstand seiner... seiner... nun meinetwegen seiner Verrücktheit zusammenhing; möge mir Herr Rogoshin diesen Ausdruck verzeihen, meinetwegen als einem schlechten Stilisten, der seine Gedanken nicht recht auszudrücken versteht. Trotz all seiner Unliebenswürdigkeit schien es mir, daß er ein Mensch von Verstand sei und vieles begreifen könne, obgleich er für das, was ihn nicht unmittelbar angeht, wenig Interesse hat. Ich machte ihm keine Andeutungen über meine ›letzte Überzeugung‹, aber ich hatte aus einem nicht recht verständlichen Grund den Eindruck, daß er sie erriet, während er mir zuhörte. Er schwieg meist, er ist furchtbar schweigsam. Beim Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités se touchent Gegensätze sich anziehen (frz.) (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch er selbst von meiner ›letzten Überzeugung‹ gar nicht so weit entfernt sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr mürrischen, sauren Grimasse, stand auf, suchte mir meine Mütze, tat so, als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem finsteren Hause hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Friedhof, ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist schon für sich zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte. Dieser Besuch bei Rogoshin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett, und zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fornitsch vor Augen, von dem ich träumte, er wäre in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zwecke das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoshin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes, aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen. Auf diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoshins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in vollem Maße der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von Seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (so lange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Es ist wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen, das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, als empfände er ihn noch jetzt (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte wahrhaftig der Leichnam eines Menschen, wer er auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe und daß folglich sein Körper am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen blauen Flecken bedeckt, die Augen stehen weit offen, die Pupillen schielen, die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuze gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese alle einen solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen): wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde? Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹ und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wenn auch etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf. Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeitweilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als führe mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und als lache er über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer zur Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, jedoch kann man alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoshin trat herein. Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoshin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar, aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen, aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war derart, daß Rogoshin wegen desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen feindseliger Stimmung getrennt, und ich erinnere mich sogar, daß er mich ein paarmal sehr spöttisch angesehen hatte. Und nun las ich in seinem Blick den gleichen Spott, und das war es eben, was mich beleidigte. Daran, daß dies wirklich Rogoshin selbst war und nicht eine Erscheinung, ein Fieberwahn, daran zweifelte ich anfangs nicht im geringsten. Ein solcher Gedanke kam mir überhaupt gar nicht in den Kopf. Unterdessen saß er noch immer da und schaute mich mit demselben Lächeln an. Ich drehte mich zornig im Bett herum, stützte mich ebenfalls mit dem Ellbogen auf das Kopfkissen und beschloß absichtlich, auch meinerseits zu schweigen, und wenn wir noch so lange so dasitzen sollten. Aus irgendeinem Grunde wollte ich durchaus, daß er zuerst anfangen sollte zu reden. Ich glaube, so vergingen etwa zwanzig Minuten. Plötzlich kam mir der Gedanke: wie, wenn das nicht Rogoshin ist, sondern eine Erscheinung? Weder in meiner Krankheit noch sonst je in der vorhergehenden Zeit hatte ich eine Erscheinung gehabt; aber ich hatte immer, schon seit meiner Kinderzeit, gemeint, und das meinte ich auch jetzt, das heißt noch vor kurzem, wenn ich auch nur ein einziges Mal eine Erscheinung sähe, so würde ich auf der Stelle sterben, und zwar meinte ich das, obwohl ich an keine Erscheinungen glaube. Aber als mir der Gedanke kam, daß dies nicht Rogoshin, sondern nur eine Erscheinung sei, erschrak ich, wie ich mich erinnere, gar nicht darüber. Noch mehr: ich wurde darüber sogar zornig. Sonderbar war auch das, daß die Beantwortung der Frage, ob das eine Erscheinung sei oder Rogoshin selbst, mich eigentlich gar nicht so beschäftigte und beunruhigte, wie es wohl natürlich gewesen wäre; ich glaube, daß ich damals an etwas ganz anderes dachte. Es interessierte mich zum Beispiel weit mehr, warum Rogoshin, der vorhin in Schlafrock und Pantoffeln gewesen war, jetzt einen Frack, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte trug. Es tauchte in meinem Kopf auch der Gedanke auf: wenn das eine Erscheinung war und ich mich nicht vor ihr fürchtete, warum sollte ich dann nicht aufstehen und zu ihr hingehen und mich selbst vergewissern? Vielleicht wagte ich es übrigens auch nicht und fürchtete mich doch. Aber sowie mir der Gedanke gekommen war, daß ich mich fürchtete, kam es mir vor, als führe man mir mit einem Stück Eis über den ganzen Körper, ich fühlte eine Kälte im Rücken, und die Knie zitterten mir. Gerade in diesem Augenblick ließ Rogoshin, als hätte er erraten, daß ich mich fürchtete, den Arm, mit dem er sich aufgestützt hatte, sinken, richtete sich auf und öffnete den Mund, als wollte er loslachen; dabei sah er mich starr an. Mich ergriff eine solche Wut, daß ich mich wirklich auf ihn stürzen wollte, aber da ich mir fest vorgenommen hatte, daß ich nicht zuerst anfangen wollte zu reden, so blieb ich im Bett, um so mehr, als ich mir immer noch nicht im klaren darüber war, ob es Rogoshin selbst wäre oder nicht. Ich erinnere mich nicht genau, wie lange das dauerte; auch habe ich keine sichere Erinnerung, ob ich manchmal auf Minuten das Bewußtsein verlor oder nicht. Endlich jedoch stand Rogoshin auf, musterte mich ebenso langsam und aufmerksam wie vorher, als er hereinkam, lächelte aber nicht mehr und ging leise, beinah auf den Zehen, zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Ich stand nicht vom Bett auf; ich erinnere mich nicht, wie lange ich noch mit offenen Augen dalag und nachdachte, weiß Gott, worüber ich nachdachte; ebensowenig erinnere ich mich, wie mir das Bewußtsein schwand und ich einschlief. Am andern Morgen erwachte ich, als nach neun Uhr an meine Tür geklopft wurde. Ich hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, wenn ich nicht selbst bis neun Uhr die Tür öffnete und nach Tee riefe, solle Matrjona bei mir anklopfen. Als ich ihr die Tür aufmachte, kam mir sofort der Gedanke: wie hat er nur hereinkommen können, da doch die Tür verschlossen war? Ich erkundigte mich und überzeugte mich, daß es für den wirklichen Rogoshin unmöglich gewesen war, hereinzukommen, da all unsere Türen zur Nacht zugeschlossen werden. Dieses eigenartige Erlebnis, das ich so ausführlich erzählt habe, war nun auch die Ursache, weshalb ich endgültig meinen ›Entschluß‹ faßte. Diesen endgültigen Entschluß führte also nicht die Logik, nicht eine logische Überzeugung herbei, sondern der Ekel. Es war mir unmöglich, in einem Leben zu verharren, das so seltsame, für mich beleidigende Formen annahm. Diese Gespenstererscheinung hatte mich erniedrigt. Ich konnte mich nicht einer dunklen Macht unterordnen, die die Gestalt einer Tarantel annahm. Und erst dann, als ich, schon in der Dämmerung, zum festen, endgültigen Entschluß gelangt war, erst da wurde mir leichter ums Herz. Dies war nur das erste Moment; um das zweite Moment zu erleben, fuhr ich nach Pawlowsk, aber das ist bereits hinreichend klargestellt.« VII »Ich besaß eine kleine Taschenpistole, die ich mir noch als Kind angeschafft hatte, in jenem komischen Lebensalter, wo man auf einmal anfängt, an Geschichten von Duellen und räuberischen Überfällen Gefallen zu finden, und wo ich mir ausmalte, wie ich zum Duell herausgefordert werden und mit welchem edlen Anstand ich vor der Pistole des Gegners dastehen würde. Vor einem Monat habe ich sie mir wieder angesehen und instand gesetzt. In dem Kasten, in dem sie lag, fanden sich zwei Kugeln und im Pulverhorn Pulver für drei Schüsse. Diese Pistole ist ein elendes Ding, der Schuß weicht zur Seite ab und trägt nur fünfzehn Schritt weit, aber sie kann doch wohl einen Schädel zerschmettern, wenn man sie dicht an die Schläfe setzt. Ich beschloß, in Pawlowsk bei Sonnenaufgang zu sterben und dazu in den Park zu gehen, um die Bewohner der Landhäuser nicht zu stören. Meine ›Erklärung‹ wird der Polizei die ganze Sache hinreichend klarlegen. Freunde der Psychologie und wer sonst Lust hat, mögen aus ihr alle ihnen beliebigen Schlüsse ziehen. Ich würde jedoch nicht wünschen, daß dieses Manuskript der Öffentlichkeit übergeben wird. Ich bitte den Fürsten, ein Exemplar für sich zu behalten und ein zweites Aglaja Iwanowna Jepantschina zu geben. Dies ist mein Wille. Ich vermache mein Skelett der medizinischen Akademie zum Besten der Wissenschaft. Ich erkenne keine Richter an, die mich richten dürften, und weiß, daß ich jetzt außerhalb des Machtbereichs eines jeden Gerichtes stehe. Erst neulich noch belustigte mich folgende Vorstellung: wenn es mir jetzt auf einmal in den Sinn käme, einen beliebigen Menschen zu töten, meinetwegen zehn Menschen zugleich, oder sonst eine Handlung zu begehen, die in dieser Welt als besonders schrecklich gilt, in welche Verlegenheit würde dann das Gericht mir gegenüber kommen in Anbetracht dessen, daß ich nur noch zwei bis drei Monate zu leben habe und die Folter und die körperlichen Mißhandlungen abgeschafft sind? Ich würde behaglich in einem Krankenhaus sterben, in einem warmen Zimmer und unter der Obhut eines aufmerksamen Arztes, und es vielleicht weit behaglicher und wärmer haben als bei mir zu Hause. Ich verstehe nicht, warum Leuten, die sich in gleicher Lage befinden wie ich, nicht derselbe Gedanke in den Kopf kommt, wenn auch nur zum Scherz. Vielleicht kommt er ihnen übrigens auch in den Kopf; heitere Leute gibt es ja auch bei uns viele. Aber wenn ich auch kein Gericht anerkenne, so weiß ich doch, daß man mich richten wird, wenn ich erst ein tauber und stummer Angeklagter sein werde. Ich will nicht aus der Welt gehen, ohne ein Wort der Entgegnung zurückzulassen, ein freies Wort, ein Wort, das mir nicht abgenötigt ist; nicht zu meiner Entschuldigung, o nein! ich brauche niemand um Verzeihung zu bitten und für nichts, sondern einfach, weil ich es so wünsche. Hier zunächst ein sonderbarer Gedanke: wer könnte mir jetzt unter Berufung auf irgendwelches Recht oder irgendwelches innere Gefühl das Recht bestreiten wollen, über diese zwei, drei Wochen, die ich noch Frist habe, nach meinem Belieben zu verfügen? Welches Gericht hat sich darum zu kümmern? Wer kann ein Interesse daran haben, daß ich nicht nur zum Tode verurteilt bin, sondern auch noch wohlgesittet den Hinrichtungstermin abwarten muß? Kann das wirklich jemand verlangen? Etwa um der Moral willen? Wenn ich mir in der Blüte der Gesundheit und Kraft das Leben nehmen wollte, das ›meinem Nächsten noch nützlich sein könnte‹ und so weiter, dann würde ich es noch verstehen, daß die Moral auf Grund der alten Anschauung es als tadelnswert ansähe, daß ich über mein Leben, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, Verfügung träfe, oder was sie sonst noch vorbringen möchte. Aber jetzt, jetzt, wo mir der Hinrichtungstermin bereits angekündigt ist? Welche Moral kann denn außer dem Leben des Todeskandidaten auch noch das letzte Röcheln beanspruchen, mit dem er den letzten Lebenshauch von sich gibt, während er die Trostworte des Fürsten anhört, der in seinen christlichen Beweisen sich sicher zu dem glücklichen Gedanken versteigen wird, daß es im Grunde für den Betreffenden sogar das beste ist, wenn er stirbt. (Christen von seinem Schlage versteigen sich immer zu diesem Gedanken, das ist ihr liebstes Steckenpferd.) Und was wollen diese Menschen immer mit ihren lächerlichen ›Bäumen von Pawlowsk‹? Mir die letzten Lebensstunden versüßen? Können sie denn nicht begreifen, daß sie mich um so unglücklicher machen, je mehr ich meine Lage vergesse, je mehr ich mich diesem letzten Trugbild von Leben und Liebe hingebe, mit dem sie mir meine Meyersche Mauer und alles, was ich so offenherzig und schlicht darauf geschrieben habe, verdecken wollen? Was helfen mir eure freie Natur, euer Pawlowsker Park, eure Sonnenauf- und -untergänge, euer blauer Himmel und eure zufriedenen Gesichter, wenn dieses ganze Fest, das kein Ende nimmt, damit angefangen hat, daß es mich zu einem überflüssigen Gast erklärte? Was soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt im Sonnenstrahl um mich herumsummt, an diesem ganzen Festschmaus und Festchor teilnimmt, ihren Platz in ihm kennt und liebt und glücklich ist, während ich allein ein Ausgestoßener bin und nur infolge meiner Schwachmütigkeit das bisher nicht habe begreifen wollen? Oh, ich weiß ja, wie gern der Fürst und all diese Leute mich dahin bringen möchten, daß auch ich statt all dieser ›grimmigen, boshaften‹ Reden sittsam zum Triumph der Moral in Millevoyes berühmte klassische Strophe einstimmte: ›O, puissent voir votre beauté sacrée Tant d'amis, sourds à mes adieux! Qu'ils meurent pleins de jours, que leur mort soit pleurée, Qu'un ami leur ferme les yeux!‹ Oh, könnten sie eure heilige Schönheit sehn, All die Freunde, die taub für mein Scheiden! Mögen sie am Ende ihrer Tage sterben, möge ihr Tod beweint werden, Möge ein Freund ihnen die Augen zudrücken! (frz.) Aber glaubt es nur, glaubt es nur, ihr harmlosen Leute, daß auch in dieser wohlgesitteten Strophe, in diesem akademischen Segen, den der Dichter der Welt in seinen französischen Versen erteilt, so viel heimliche Galle, so viel unversöhnlicher, sich selbst an den Reimen erquickender Groll steckt, daß vielleicht sogar der Dichter selbst sich hat täuschen lassen und diesen Groll für Tränen der Rührung gehalten hat und in diesem Glauben gestorben ist; Friede seiner Asche! Wisset, daß es in dem Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und Schwäche eine Grenze der Schande gibt, über die der Mensch nicht mehr hinausgehen kann und bei der er anfängt, in seiner Schande selbst einen großen Genuß zu empfinden ... Nun, gewiß, die Sanftmut ist eine gewaltige Kraft in diesem Sinne, das gebe ich zu, obwohl nicht in dem Sinne, in welchem die Religion die Sanftmut für eine Kraft hält. Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem Willen einer höheren Macht entzündet worden, nehmen wir an, dieses mit Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt: ›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck, der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei, – dies alles zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die Frage: wozu ist unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war, um irgendeine allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast herzustellen und so weiter und so weiter, geradeso wie täglich der Opfertod vieler Millionen von Wesen notwendig ist, ohne den die übrige Welt nicht existieren kann (obwohl dazu bemerkt werden muß, daß diese Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung nichts verstehe, aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit: wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles erscheint unmöglich und ungerecht. Und doch habe ich mir niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches, vorstellen können, daß es kein zukünftiges Leben und keine Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden, daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen? Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen, hier sei eben Gehorsam vonnöten, man müsse gehorchen, ohne zu räsonieren, einzig und allein aus guter Gesittung, und ich würde mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir erniedrigten die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen zuschrieben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist, sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist. Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiele zu lassen. Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird gewiß die Sonne schon aufgehen und ›nach alter Weise am Himmel tönen‹, und eine gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich gerade auf die Quelle der Kraft und des Lebens hinblicke, und ich werde dieses Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht, zu sterben, obgleich ich nur einen kargen, schon gezählten Rest hingebe. Das ist keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das Schicksal. Eine letzte Erklärung: ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden Trost haben, aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht will ich die letzte Möglichkeit zum Handeln benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat ...« Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne ... Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt vom Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung, mit der Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie ein vom Baum abgerissenes zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen – was er jetzt zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat –, prägte sich in seinem Blick und seinem Lächeln sofort der hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille aus. Er schien mit seiner Herausforderung Eile zu haben. Aber auch die Zuhörer waren voller Entrüstung. Alle erhoben sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so ausdrücken kann, den Schmutz der Empfindungen. Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den leuchtenden Baumwipfeln hinblickte und, zum Fürsten gewandt, auf sie wie auf ein Wunder hinwies. »Sie ist aufgegangen!« »Haben Sie denn gedacht, sie würde nicht aufgehen?« bemerkte Ferdyschtschenko. »Das verspricht wieder Hitze für den ganzen Tag«, murmelte Ganja lässig und ärgerlich; er hielt den Hut in der Hand, reckte sich und gähnte. »Die Trockenheit scheint den ganzen Monat anzuhalten! ... Wollen wir gehen, Ptizyn?« Ippolit wurde, als er ihn so reden hörte, fast starr vor Staunen; plötzlich erbleichte er furchtbar und begann am ganzen Leib zu zittern. »Sie bringen die Gleichgültigkeit, mit der Sie mich kränken wollen, in recht ungeschickter Weise zum Ausdruck«, wandte er sich an Ganja und sah ihn dabei starr an. »Sie sind ein Nichtswürdiger!« »Na, weiß der Teufel, was das bedeuten soll, sich so aufzuknöpfen!« schrie Ferdyschtschenko. »Was ist das für eine unerhörte Schwachheit!« »Er ist einfach ein Narr«, sagte Ganja. Ippolit hatte wieder ein wenig Kraft gesammelt. »Ich verstehe es, meine Herren«, begann er, immer noch wie vorher zitternd und bei jedem Wort stockend, »daß ich Ihre persönliche Rache verdient habe, und ... ich bedaure, Sie mit diesen Fieberphantasien« (er wies auf das Manuskript) »halbtot gequält zu haben. Übrigens bedaure ich, daß es mir nicht gelungen ist, Sie ganz totzuquälen ...« (Er lächelte dumm.) »Habe ich Sie totgequält, Jewgenij Pawlytsch?« fragte er diesen, sich plötzlich zu ihm wendend. »Habe ich Sie totgequält oder nicht? Antworten Sie!« »Es war etwas zu weit ausgesponnen, aber im übrigen...« »Sagen Sie alles! Lügen Sie wenigstens ein einziges Mal in Ihrem Leben nicht!« rief Ippolit zitternd in befehlendem Ton. »Oh, mir ist die Sache ganz gleichgültig! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch und wandte sich geringschätzig ab. »Gute Nacht, Fürst!« sagte Ptizyn, an diesen herantretend. »Aber er wird sich gleich erschießen! Was machen Sie denn! Sehen Sie ihn doch nur an!« rief Wera, stürzte in größter Angst zu Ippolit hin und faßte ihn sogar an den Armen. »Er hat ja gesagt, bei Sonnenaufgang wolle er sich erschießen! Was machen Sie denn!« »Er wird sich nicht erschießen!« murmelten einige spöttisch, darunter auch Ganja. »Meine Herren, nehmen Sie sich in acht!« rief Kolja und faßte Ippolit ebenfalls am Arm. »Sehen Sie ihn nur an! Fürst! Fürst, warum tun Sie denn nichts?« Um Ippolit drängten sich Wera, Kolja, Keller und Burdowskij; alle vier hatten ihn an den Armen gepackt. »Er hat ein Recht... ein Recht...«, murmelte Burdowskij, der übrigens ebenfalls ganz fassungslos war. »Erlauben Sie, Fürst, was wollen Sie nun anordnen?« fragte Lebedew, auf den Fürsten zugehend, er war betrunken und bis zur Frechheit aufgebracht. »Was ich anordnen will?« »Nein, erlauben Sie, ich bin der Hausherr, obgleich ich es an Achtung Ihnen gegenüber nicht fehlen lassen will... Allerdings sind auch Sie hier Hausherr, aber ich will nicht, daß so etwas in meinem eigenen Hause... Jawohl.« »Er wird sich nicht erschießen, der Junge treibt nur Possen!« rief ganz unerwartet General Iwolgin entrüstet und mit großartiger Würde. »Der General hat's getroffen!« stimmte Ferdyschtschenko bei. »Das weiß ich, daß er sich nicht erschießen wird, General, hochverehrter General, aber doch... denn ich bin doch der Hausherr.« »Hören Sie mal, Herr Terentjew«, sagte auf einmal Ptizyn, nachdem er sich von dem Fürsten verabschiedet hatte, und streckte Ippolit seine Hand hin, »Sie reden ja wohl in Ihrem Heft von Ihrem Skelett und vermachen es der Akademie? Meinen Sie damit Ihr eigenes Skelett? Vermachen Sie also der Akademie Ihre eigenen Knochen?« »Ja, meine Knochen...« »Soso. Sonst wäre nämlich ein Mißverständnis möglich. Man sagt, ein solcher Fall sei bereits vorgekommen.« »Warum hänseln Sie ihn?« rief der Fürst. »Ihm kommen schon die Tränen«, fügte Ferdyschtschenko hinzu. Aber Ippolit weinte ganz und gar nicht. Er wollte sich von seinem Platz rühren, aber die vier Personen, die ihn umringten, griffen gleichzeitig nach seinen Armen. Man hörte lachen. »Das hat er ja gerade gewollt, daß man ihn bei den Armen halten soll, dazu hat er ja sein Heft vorgelesen«, bemerkte Rogoshin. »Leb wohl, Fürst! Ach, ich habe zu lange gesessen, die Knochen tun mir weh.« »Wenn Sie sich wirklich haben erschießen wollen, Terentjew«, sagte Jewgenij Pawlowitsch lachend, »so würde ich an Ihrer Stelle nach all den Komplimenten, die man Ihnen gemacht hat, mich nun gerade nicht erschießen, um die Leute zu foppen.« »Diese Menschen möchten alle furchtbar gern sehen, wie ich mich erschieße!« warf ihm Ippolit entgegen. Er sprach, als wollte er auf alle losfahren. »Und ärgern sich darüber, daß sie es nicht zu sehen bekommen.« »Also glauben auch Sie nicht, daß ich es tun werde?« »Ich will Sie nicht anstacheln, ich halte es vielmehr für sehr möglich, daß Sie sich erschießen werden. Vor allen Dingen werden Sie nicht böse!...« sagte Jewgenij Pawlowitsch langsam, indem er die Worte in gönnerhafter Weise dehnte. »Ich sehe erst jetzt, was für einen ungeheuren Fehler ich damit begangen habe, daß ich Ihnen dieses Heft vorgelesen habe!« erwiderte Ippolit und blickte Jewgenij Pawlowitsch auf einmal mit so vertrauensvoller Miene an, als bäte er einen Freund um einen freundschaftlichen Rat. »Es ist eine komische Situation für Sie, aber ... ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen raten soll«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch lächelnd. Ippolit sah ihn mit unverwandtem Blick ernst und starr an und schwieg. Man konnte denken, daß er zeitweilig völlig geistesabwesend war. »Nein, erlauben Sie, was ist denn das für eine Art!« ereiferte sich Lebedew. »›Ich will mich im Park erschießen‹, sagt er, ›um niemand zu stören!‹ Er denkt wohl, daß er niemand stört, wenn er die Stufen hinuntersteigt und drei Schritte weit in den Garten geht.« »Meine Herren ...«, begann der Fürst. »Nein, erlauben Sie, hochverehrter Fürst«, unterbrach ihn Lebedew wütend, »da Sie selbst sehen, daß das kein Scherz ist, und da mindestens die Hälfte Ihrer Gäste der gleichen Meinung und der bestimmten Überzeugung ist, daß er jetzt, nach allem hier Gesprochenen, um der Ehre willen sich unter allen Umständen erschießen muß, so erkläre ich als der Hausherr in Gegenwart dieser Zeugen, daß ich Sie auffordere, mir behilflich zu sein!« »Was sollen wir denn tun, Lebedew? Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen.« »Was geschehen muß, ist dies: erstens soll er sofort die Pistole ausliefern, von der er uns vorgeprahlt hat, sowie das sämtliche Zubehör. Wenn er das tut, so will ich in Anbetracht seines krankhaften Zustandes damit einverstanden sein, daß er diese Nacht im Hause bleibt, natürlich unter der Bedingung, daß er von mir beaufsichtigt wird. Morgen aber muß er unter allen Umständen fort, da mag er gehen, wohin es ihm beliebt; nehmen Sie es nicht übel, Fürst! Wenn er aber seine Waffe nicht ausliefert, so werde ich ihn unverzüglich an den Armen packen, ich am einen, der General am andern, und ich werde sofort zur Polizei schicken und sie benachrichtigen; die wird dann schon das Weitere veranlassen. Herr Ferdyschtschenko als guter Bekannter von mir wird so freundlich sein und hingehen.« Ein großer Lärm erhob sich. Lebedew war in eine Hitze geraten, die bereits jedes Maß überstieg; Ferdyschtschenko machte sich fertig, um zur Polizei zu gehen; Ganja blieb ärgerlich bei seiner Behauptung, es werde sich niemand erschießen. Jewgenij Pawlowitsch schwieg. »Fürst, sind Sie einmal von einem Kirchturm hinabgestürzt?« flüsterte Ippolit ihm plötzlich zu. »N-nein...«, antwortete der Fürst naiv. »Haben Sie etwa geglaubt, ich hätte diesen ganzen Haß nicht vorhergesehen?« flüsterte Ippolit wieder und sah den Fürsten mit funkelnden Augen an, als erwarte er tatsächlich von ihm eine Antwort. »Nun genug!« rief er, indem er sich an alle Anwesenden wandte. »Ich bin daran schuld... in höherem Grad als Sie alle! Lebedew, da ist der Schlüssel.« (Er zog sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen Stahlring mit drei oder vier kleinen Schlüsseln.) »Dieser ist es, der vorletzte... Kolja wird es Ihnen zeigen... Kolja! Wo ist Kolja?« rief er, er starrte Kolja an, ohne ihn zu sehen. »Ja... er wird es Ihnen zeigen; er hat vorhin mit mir zusammen meinen Koffer gepackt. Führen Sie ihn hin, Kolja, mein Koffer steht... im Zimmer des Fürsten unter dem Tisch... mit diesem Schlüssel... unten im Koffer... meine Pistole und das Pulverhorn. Er selbst hat die Sachen vorhin eingepackt, Herr Lebedew, er wird sie Ihnen zeigen, aber unter der Bedingung, daß Sie mir morgen früh, wenn ich nach Petersburg fahre, die Pistole zurückgeben. Hören Sie wohl? Ich tue das mit Rücksicht auf den Fürsten, nicht um Ihretwillen.« »So ist es recht!« rief Lebedew, griff nach dem Schlüssel und lief, spöttisch lächelnd, in das Nachbarzimmer. Kolja blieb stehen, er schien etwas sagen zu wollen, aber Lebedew zog ihn hinter sich her. Ippolit blickte die lachenden Gäste an. Der Fürst bemerkte, daß seine Zähne wie im stärksten Fieberschauer klapperten. »Was sind das hier alles für nichtswürdige Menschen!« flüsterte Ippolit ganz außer sich dem Fürsten wieder zu. Wenn er mit dem Fürsten sprach, beugte er sich immer zu ihm hin und flüsterte. »Lassen Sie sie doch; Sie sind sehr schwach...« »Gleich, gleich... gleich werde ich fortgehen.« Plötzlich umarmte er den Fürsten. »Sie meinen vielleicht, daß ich verrückt bin?« fragte er, indem er ihn, seltsam auflachend, ansah. »Nein, aber Sie ...« »Gleich, gleich, seien Sie still; reden Sie nicht; bleiben Sie stehen ... ich will Ihnen in die Augen sehen ... Bleiben Sie so stehen, ich will Sie ansehen. Ich will vom Menschen Abschied nehmen.« Er stand und blickte, ohne sich zu rühren, den Fürsten schweigend etwa zehn Sekunden lang an. Er war sehr blaß, seine Schläfen waren feucht von Schweiß. Er hielt den Fürsten in sonderbarer Weise an der Schulter gefaßt, als fürchtete er sich, ihn loszulassen. »Ippolit, Ippolit, was ist Ihnen?« rief der Fürst. »Gleich ... es ist genug ... ich werde mich hinlegen. Ich will einen Schluck auf die Gesundheit der Sonne trinken ... Ich will es, ich will es, lassen Sie mich!« Er ergriff schnell ein Glas vom Tisch, stürzte davon und stand im nächsten Augenblick am Ausgang der Veranda. Der Fürst wollte ihm nachlaufen, aber es traf sich, daß gerade in diesem Moment Jewgenij Pawlowitsch ihm die Hand hinstreckte, um ihm Lebewohl zu sagen. Es verging eine Sekunde, und plötzlich erscholl in der Veranda ein allgemeiner Aufschrei. Dann folgte ein Augenblick ärgster Verwirrung. Folgendes war geschehen: Als Ippolit ganz nahe an den Ausgang der Veranda gelangt war, blieb er stehen, in der linken Hand hielt er das Glas, die rechte hatte er in die rechte Seitentasche seines Mantels gesteckt. Keller versicherte nachher, Ippolit habe schon vorher diese Hand immer in der rechten Tasche gehabt, schon als er mit dem Fürsten gesprochen und ihn mit der linken Hand an die Schulter und den Kragen gefaßt habe, und diese rechte Hand in der Tasche habe schon damals seinen, Kellers, ersten Verdacht erregt. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls veranlaßte ihn eine gewisse Unruhe, Ippolit ebenfalls nachzulaufen. Aber auch er kam zu spät. Er sah nur, wie auf einmal in Ippolits rechter Hand etwas schimmerte und wie in derselben Sekunde die kleine Taschenpistole sich dicht an seiner Schläfe befand. Keller stürzte hinzu, um ihn am Arm zu packen, aber im selben Augenblick drückte Ippolit ab. Es ertönte das scharfe, trockene Knacken des Hahnes; ein Schuß jedoch erfolgte nicht. Als Keller Ippolit umfaßte, sank ihm dieser wie bewußtlos in die Arme, vielleicht wirklich in der Vorstellung, daß er schon tot sei. Die Pistole befand sich in Kellers Händen. Man ergriff Ippolit, stellte ihm einen Stuhl hin, setzte ihn darauf, und alle umdrängten ihn, alle schrien, alle fragten. Alle hatten das Knacken des Hahnes gehört und erblickten nun einen Menschen, der lebte und nicht einmal eine Schramme aufwies. Ippolit selbst saß da, ohne zu begreifen, was vorging, und ließ wie geistesabwesend seinen Blick über alle Umstehenden hingleiten. Lebedew und Kolja kamen in diesem Augenblick wieder hereingelaufen. »Hat die Pistole versagt?« fragten mehrere. »Vielleicht war sie gar nicht geladen?« vermuteten andere. »Geladen ist sie!« rief Keller, der die Pistole untersuchte. »Aber...« »Also hat sie versagt?« »Es war gar kein Zündhütchen darauf«, meldete Keller. Es ist schwer, die nun folgende klägliche Szene zu schildern. Der ursprüngliche allgemeine Schreck wurde schnell von heiterem Gelächter abgelöst. Manche wollten sich sogar vor Lachen ausschütten und fanden darin ein schadenfrohes Vergnügen. Ippolit schluchzte krampfhaft, rang die Hände, stürzte zu allen hin, sogar zu Ferdyschtschenko, faßte ihn mit beiden Händen und schwur ihm, er habe vergessen, »ganz zufällig, nicht absichtlich vergessen«, ein Zündhütchen aufzusetzen; die Zündhütchen, zehn Stück an der Zahl, befänden sich alle in seiner Westentasche (er zeigte sie allen herum); er habe vorher keines aufgesetzt aus Besorgnis, der Schuß könne zufällig in der Tasche losgehen; er habe damit gerechnet, daß er auch später noch Zeit haben werde, sobald es nötig sei, und habe es dann plötzlich vergessen. Er stürzte zum Fürsten und zu Jewgenij Pawlowitsch hin und flehte Keller an, ihm die Pistole zurückzugeben, er werde allen sofort beweisen, daß er »Ehre im Leibe habe«... er sei jetzt »für alle Ewigkeiten entehrt«! Schließlich fiel er bewußtlos hin. Man trug ihn in das Zimmer des Fürsten, und Lebedew, der wieder ganz nüchtern geworden war, schickte unverzüglich zu einem Arzt, während er selbst, seine Tochter, sein Sohn, Burdowskij und der General am Bett des Kranken blieben. Als der bewußtlose Ippolit hinausgetragen war, stellte sich Keller mitten in der Veranda hin und verkündete, so daß alle es hörten, in wirklicher Begeisterung, wobei er jedes Wort einzeln und deutlich aussprach: »Meine Herren, wenn jemand von Ihnen noch einmal laut in meiner Gegenwart einen Zweifel äußern sollte, daß das Zündhütchen nur zufällig vergessen war, und behauptet, der unglückliche junge Mensch habe nur Komödie gespielt, so wird der Betreffende es mit mir zu tun haben.« Aber niemand antwortete ihm. Die Gäste entfernten sich endlich in einzelnen Gruppen. Ptizyn, Ganja und Rogoshin gingen zusammen. Der Fürst war sehr erstaunt, daß Jewgenij Pawlowitsch seine Absicht geändert hatte und gehen wollte, ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben. »Sie wollten doch mit mir sprechen, sobald alle fortgegangen wären?« fragte er ihn. »Ganz richtig«, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch, setzte sich auf einen Stuhl und nötigte den Fürsten, sich neben ihn zu setzen, »aber ich habe meine Absicht jetzt vorläufig geändert. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich etwas verwirrt bin, und Ihnen wird es wohl ebenso gehen. Meine Gedanken sind ganz in Unordnung gekommen; außerdem ist der Gegenstand, über den ich mit Ihnen sprechen wollte, für mich sehr wichtig und auch für Sie. Sehen Sie, Fürst, ich möchte wenigstens einmal in meinem Leben ganz ehrlich handeln, das heißt ganz ohne Hintergedanken; ich glaube aber, daß ich jetzt, in diesem Augenblick, einer ganz ehrlichen Handlung nicht fähig bin, und Sie vielleicht auch nicht ... ja ... und ... nun, wir werden uns also später aussprechen. Vielleicht gewinnt auch die Sache sowohl für mich als auch für Sie an Klarheit, wenn wir noch die drei Tage warten, die ich jetzt in Petersburg verbringen werde.« Darauf stand er wieder vom Stuhl auf, so daß es nicht recht verständlich war, warum er sich überhaupt hingesetzt hatte. Der Fürst hatte auch den Eindruck, als wäre Jewgenij Pawlowitsch unzufrieden und gereizt und sähe ihn feindselig an und als läge in seinem Blick etwas ganz anderes als vorher. »Übrigens, Sie gehen jetzt zu dem Kranken?« »Ja ... ich bin um ihn besorgt«, erwiderte der Fürst. »Seien Sie unbesorgt; er wird gewiß noch sechs Wochen leben und sich vielleicht hier noch ganz erholen. Aber das beste wäre, wenn Sie ihn morgen wegjagten.« »Ich habe ihn vielleicht wirklich dadurch verletzt, daß ... ich nichts gesagt habe, er hat vielleicht gedacht, ich zweifelte daran, daß er sich erschießen würde. Wie denken Sie darüber, Jewgenij Pawlytsch?« »Nein, nein. Sie sind zu gutherzig, daß Sie sich um ihn noch Sorgen machen. Ich habe sagen hören, aber nie in natura gesehen, daß sich jemand absichtlich erschießt, um gelobt zu werden, oder aus Ärger darüber, daß man ihn deswegen nicht lobt. Vor allen Dingen hätte ich ein solches offenes Eingestehen der eigenen Schwäche nicht für möglich gehalten! Aber ich möchte Ihnen doch raten, ihn morgen wegzujagen.« »Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?« »Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen Lacenaires Lacenaire, ein berüchtigter Mörder, der 1836 in Paris hingerichtet wurde. in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.« »Ist er etwa ein Lacenaire?« »Dem Wesen nach ja, obwohl die Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genauso, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.« »Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.« »Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?« »Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten, all dies ist sehr seltsam, aber...« »Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgenij Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend sein werden.« »Das wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgenij Pawlowitsch nachdenklich anblickte. Dieser lachte ärgerlich. »Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie bemerkt, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?« »Ja, es ist mir aufgefallen, und... ich denke darüber nach.« »Nun allerdings, in Anbetracht jenes Dutzends«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg. Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Hause war übrigens alles in Ordnung gebracht worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedew, Kolja und Burdowskij hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorge zu machen. Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Vauxhall gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte auf ihn einen überraschenden Eindruck und kam ihm aus irgendeinem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Vauxhall gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous angegeben war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin fortgegangen ... er wußte nur nicht, wohin. Über ihm auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und im gleichen Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von der Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie »kenne ihren Platz und nehme an dem allgemeinen Festchor teil, während er allein ein Ausgestoßener« sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele. Es war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot gewesen, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm wollte. Einmal, an einem klaren, sonnigen Tag, war er in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der jedoch durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum in weiter, weiter Entfernung der helle Horizont. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausgestreckt und geweint hatte. Es war ihm eine Qual gewesen, daß er all dem ganz fremd gegenüberstand. Was war dies für ein Fest, was war dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie hingelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf, jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen, jeden Abend flammte der höchste schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rand des Himmels in purpurner Glut; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem Fest teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich, jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen vorgeschriebenen Weg, und alles kannte diesen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne, er stand allem fremd gegenüber, er war ein Ausgestoßener. Oh, er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; taub und stumm quälte er sich, aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, übernommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ... Er schlief auf der Bank ein, aber seine Unruhe blieb auch im Schlaf. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich daran, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden würde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herrschte eine schöne, klare Stille, nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte, und es waren lauter unruhige Träume, die ihn alle Augenblicke zusammenschrecken ließen. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm, er kannte sie, kannte sie qualvoll genau; er konnte jedem ihren Namen nennen, sie jedem zeigen, aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als das, welches er immer gekannt hatte, und er gab sich voll innerer Qual alle Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie wäre eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, als wolle sie ihn auffordern, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still, um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten, aber er fühlte, daß gleich etwas Schreckliches geschehen würde, durch das sein ganzes Leben beeinflußt würde. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und plötzlich hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte, eine Hand befand sich in der seinigen, er faßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand, laut lachend, Aglaja. VIII Sie lachte, war aber zugleich ungehalten. »Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig. »Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte. »Ach ja! Das Rendezvous ... Ich habe hier geschlafen.« »Das habe ich gesehen.« »Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei ... eine andere Frau hiergewesen.« »Eine andere Frau sollte hiergewesen sein?« Endlich hatte er seine Gedanken gesammelt. »Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß ich in einem solchen Augenblick von so etwas träumte ... Setzen Sie sich!« Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als sähe er sie überhaupt nicht vor sich. Sie errötete. »Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!« »Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, jedoch ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend. »Aber er ist ja nicht tot, die Pistole versagte.« Auf Aglajas dringende Bitten mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit die Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgenij Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte hierzu einige Male sogar Fragen. »Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber wegen einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen viel mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagt hat, das paßt am besten zu seiner Persönlichkeit. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Schwindel war?« »Es war bestimmt kein Schwindel.« »Das ist das wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?« »Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn danach fragen.« »Bringen Sie sie mir auf jeden Fall, Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm sicher sehr angenehm sein, weil er vielleicht überhaupt mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte lachen Sie nicht über meine Worte, Lew Nikolajitsch; es ist sehr wohl möglich, daß es sich so verhält.« »Ich lache nicht, denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.« »Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt. Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte oft die Sätze nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene zeigte, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen. »Natürlich wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten ...« »Wieso loben?« »Das heißt, es ist... Wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und ihm sagen, daß sie ihn sehr lieben und achten, und ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Sehr möglich, daß er Sie dabei mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte ... obwohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.« »Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, was er im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst an die dreißig Mal, sogar zu der Zeit, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran gedacht habe, mich zu vergiften, und alles das in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien... Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn, wenn Sie sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.« »Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.« »Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Lew Nikolajitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr, denn es ist sehr roh, eine Menschenseele so zu untersuchen und zu beurteilen, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zartheit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.« Der Fürst dachte nach. »Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat, denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt... er wünschte, zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle, nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch von etwas anderem! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt...« »Damit meinen Sie wohl sich selbst?« bemerkte Aglaja. »Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten. »Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein, das ist gar nicht hübsch von Ihnen.« »Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz...« »Auf welchem Musikplatz?« »Da, wo gestern konzertiert wurde, und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, hin und her überlegt und bin eingeschlafen.« »Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten... Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?« »Das weiß ich nicht, nur so ...« »Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immerzu, und was geht es mich überhaupt an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie da geträumt?« »Von... von... Sie haben sie gesehen...« »Ich verstehe... verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr... Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Tone hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht...« Sie wartete ein wenig, als wollte sie sich ein Herz fassen oder als suchte sie ihren Ärger zu überwinden. »Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu. Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was deutlich in ihren blitzenden Augen zum Ausdruck kam; gewöhnlich richtete sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn gegen denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, beteiligte sie sich gewöhnlich nur wenig an dem Gespräch und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, gar nicht umhinkonnte zu reden, so tat sie das zunächst sehr hochmütig und irgendwie herausfordernd. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfing oder anfangen wollte zu erröten. »Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an. »O doch, ich will ihn annehmen, nur ist das gar nicht erforderlich ... ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen. »Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was denken Sie sich eigentlich? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?« »Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält, ich ... ich halte Sie nicht dafür.« »Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr vernünftig, daß Sie es sagen.« »Meiner Ansicht nach sind Sie vielleicht mitunter sogar sehr vernünftig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr vernünftigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.« Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, als er sie anblickte. »So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen alles zu erzählen, schon von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher... Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle andern, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand... das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe, denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das gewiß nicht übelnehmen, ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, und sogar so gut, wie jene es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?« »Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig. »Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: maman hat es begriffen!« »Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.« »Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt. »Wahrhaftig, das ist meine Ansicht.« »Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit maman Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage zu bemerken. »Sehr, wirklich sehr, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.« »Ich freue mich ebenfalls, denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal... über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht... Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgenij Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will... ich will... nun, ich will von Hause weglaufen, und ich habe Sie ausgewählt, mir zu helfen.« »Von Hause weglaufen!?« rief der Fürst. »Ja, ja, ja, von Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgenij Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste, und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen, davon zu reden, daß ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief gar nicht gezeigt, aber jetzt reden sie schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will mich nützlich machen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen, ich will in Rom sein, ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen, ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen, ich habe alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen alle Bücher, die dürfen das. Aber mir gibt man nicht alle, ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten, aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige, erzieherisch tätig zu sein, und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht gleich, so doch in Zukunft? Wir werden gemeinsam Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein... Sagen Sie, Sie sind doch ein sehr gelehrter Mann?« »Oh, durchaus nicht!« »Das ist schade, ich hatte es geglaubt... wie bin ich nur darauf gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden mich dabei doch anleiten, denn ich habe Sie ausgewählt.« »Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.« »Ich will von Hause weglaufen, ich will!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder. »Wenn Sie mir Ihre Hilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein schlechtes Frauenzimmer hält und mir Gott weiß was vorwirft.« »Sind Sie bei Sinnen!« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Was wirft man Ihnen vor? Wer tut so etwas?« »Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Maman war einen ganzen Tag krank, und am nächsten Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstünde schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als maman das hörte, fiel sie beinah in Ohnmacht.« Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte. Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht alle Ausdrücke verstand. »Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?« »Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich sehe, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich, ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht... Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt bin und Sie zu einem Rendezvous bestellt habe«, sagte sie in gereiztem Ton. »Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachter Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie...« »Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich... Sie haben zu denken gewagt, daß ich... O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierherbestellt, um Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten...« »Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich nicht? Wie konnte nur ein so schmutziger Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten... Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!« Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, als hätte sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen. »Ich schäme mich gar nicht«, murmelte sie. »Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?« »Den Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war in der schwersten Stunde meines Lebens aus meinem Herzen geströmt! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt... ich...« »Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus dem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie beugte sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt... um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an, wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr schmutziger Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte, aber plötzlich sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben... Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde. »Oh, wenn Sie alles wissen könnten!« »Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in einer Wohnung mit dieser schlechten Frau, mit der Sie fortgegangen waren...« Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, gleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute. Der Fürst war durch diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte. »Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf. Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang. »Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch ...«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar, und ließ den Kopf noch tiefer sinken. »Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd. »Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser Bank.« Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach. »Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.« »Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.« »Er hat seine Hand verbrannt?« »Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.« Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich. »Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier geschehen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen...« »Jawohl... eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?« »Eine bloße Kerze oder eine auf einem Leuchter?« »Nun ja ... nein ... eine halbe Kerze... ein Stümpfchen... eine ganze Kerze... das ist ja ganz egal, lassen Sie doch das Gerede!... Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?« »Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.« Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein schallendes Gelächter aus. »Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich mit der kindlichsten Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, etwas Exzentrisches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe...« Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, als fiele ihr etwas ein. »Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte...« »Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.« »Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie ihr vor einem halben Jahr vor aller Ohren Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie sehen, ich spreche ganz ohne Kommentar. Darauf ist sie mit Rogoshin davongelaufen, dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu einem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoshin zurückgekehrt, der sie wie... wie ein Wahnsinniger liebt. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr vernünftiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger gemacht, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt... Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierhergereist, nicht wahr, um ihretwillen?« »Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren... Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoshin, obgleich... kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun und wie ich ihr helfen kann, aber ich bin trotzdem hergekommen.« Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu. »Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich. »Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!« Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper. »Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja. »Es gibt nichts, was Sie nicht hören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und nur Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, sagen Sie nicht Schlechtes von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie wie rasend, sie bekenne sich nicht schuldig, sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts, aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, die das nicht glaubt, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld sei. Sobald ich versuchte, diese düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als wäre mein Herz durchbohrt worden und hörte nicht auf zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das schrecklichste ist, daß sie vielleicht selbst nicht wußte, daß sie mir nur das beweisen wollte, und sie lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann sagen zu können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen, also bist du ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort empörte sie sich wieder, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich stellte mich hoch über sie (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder daß man sie ›zu sich emporhebe‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!« »Haben Sie ihr dort auch solche... Predigten gehalten?« »O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten, »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden, aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte. Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie, ich liebte sie sehr... aber dann... dann... dann hat sie alles erraten.« »Was hat sie erraten?« »Daß ich nur Mitleid mit ihr habe und daß ich... sie nicht mehr liebe.« »Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen... Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?« »Nein, das war nicht der Fall, ich weiß alles; sie machte sich nur über ihn lustig.« »Und über Sie hat sie sich niemals lustig gemacht?« »N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht – und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber... dann... oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Wissen Sie, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?« »Also ist das wahr!« rief der Fürst in starker Erregung. »Ich habe es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.« »Von wem haben Sie es gehört?« fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend. »Rogoshin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.« »Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?« »Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.« »Ah so! Nun, wenn es Rogoshin war... Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?« »Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.« »Da sind die Briefe.« (Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin.) »Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie ... nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich ... sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt, sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich, sie wisse das, sie habe es längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann... Sie schreibt so wild ... so sonderbar ... Ich habe die Briefe niemandem gezeigt, ich habe auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Erraten Sie nichts?« »Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit«, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten. »Sie weinen doch nicht?« »Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht«, erwiderte der Fürst, sie anblickend. »Was soll ich denn tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!« »Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!« rief der Fürst. »Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.« »Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!« rief Aglaja. »Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können, aber dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht, das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau... glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoshin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!« Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung, zu erkennen, daß dieses Kind schon längst eine Frau geworden war. »Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen, aber... ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!« »So bringen Sie sich zum Opfer, das steht Ihnen doch so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ›Aglaja‹ zu mir... Sie haben auch vorhin schon einfach ›Aglaja‹ zu mir gesagt... Sie müssen ihr zu einem neuen Leben verhelfen. Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder fortreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!« »Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und... vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrunde gehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen, aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrunde gehen! Das ist unnatürlich, aber hier ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt, aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!« »Wie blaß Sie geworden sind!« rief Aglaja erschrocken. »Das macht nichts, ich habe wenig geschlafen; ich bin etwas schwach geworden, ich... Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja...« »Also ist das wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr über mich zu sprechen? Und... und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen haben, da Sie mich doch nur ein einziges Mal gesehen hatten?« »Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte ich, ahnte ich vielleicht von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Traum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam... Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und wäre drei Jahre lang nicht wieder hergereist...« »Also sind Sie um ihretwillen hergereist?« Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang. »Ja, um ihretwillen.« Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf. »Wenn Sie sagen«, begann sie mit unsicherer Stimme, »wenn Sie selbst glauben, daß diese... daß diese Frau... irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an. .. Ich bitte Sie, Lew Nikolajitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr«, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, »wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde in eine Besserungsanstalt gebracht werden ...« Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an, und auf einmal schien sich vor seinen Augen ein Nebel zu zerteilen... »Sie können nicht so fühlen... das ist nicht wahr!« murmelte er. »Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!« schrie Aglaja fast außer sich. »Was ist wahr? Was soll wahr sein?« ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme. Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna. »Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen davonlaufen werde!« rief Aglaja ihr heftig zu. »Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?« Und sie lief nach Hause. Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. »Nein, Väterchen«, sagte sie, »geh jetzt nicht weg, tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben!... Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.« Der Fürst folgte ihr. IX Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal mit einem runden Tisch in der Mitte, einem Kamin, einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an. Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatte sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja beim Rendezvous angetroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus vielen Ursachen sehr erschrocken gewesen, aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war schon dabei, wenn Aglaja sich mit dem Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war? »Denken Sie nicht, Väterchen Fürst«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich Sie hierhergeschleppt habe, um Sie einem Verhör zu unterwerfen ... Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit Ihnen zusammenzukommen, mein Täubchen...« Sie stockte ein wenig. »Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende. »Nun ja, gewiß möchte ich das!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden, denn ich kränke niemand und beabsichtigte, niemand zu kränken...« »Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein, es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen Punkt sieben Uhr mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank getroffen, nachdem sie mich gestern dazu aufgefordert hatte. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns getroffen und eine ganze Stunde über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.« »Natürlich, das wird alles sein, Väterchen, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene. »Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat.. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für außerstande gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, maman, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?« »Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Leben Sie wohl, Fürst; verzeihen Sie, daß ich Ihnen Umstände gemacht habe! Ich hoffe, Sie sind nach wie vor von meiner unveränderten Hochachtung gegen Sie überzeugt.« Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu. »Wir amüsieren uns nur darüber, maman«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie... wie Jewgenij Pawlytsch.« »Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen. Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte – es war schon gegen neun Uhr –, fand er in der Veranda Wera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus. »Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wera erfreut. »Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.« »Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.« Das Dienstmädchen ging hinaus; Wera war schon im Begriff, ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran. »Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem... mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!« »Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen, er kann bleiben, solange er will.« »Er wird jetzt nichts anrichten, und... seien Sie nicht zu streng zu ihm!« »O nein! Warum sollte ich?« »Und... lachen Sie ihn nicht aus, das ist das allerwichtigste.« »Oh, durchaus nicht!« »Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Ihnen das erst noch sage«, sagte Wera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich halb umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen... so glückliche Augen.« »Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf. Aber Wera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer noch lachend, schnell hinaus. ›Was für ein prächtiges Mädchen...‹, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus. Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein. Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und den Augenblick verschieben konnte. »Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?« »Warum sollte ich das tun?... Aber Kolja, ich bin müde... Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen... Aber was macht er jetzt?« »Er schläft und wird noch zwei Stunden schlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert... natürlich, die Aufregung ... wie wäre es auch anders möglich?« »Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und nicht zu Hause geschlafen habe?« »Wera hat es mir eben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich hielt es nicht aus, nur auf ein Augenblickchen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten, jetzt hat mich Kostja Lebedew abgelöst. Burdowskij ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht... na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!« »Gewiß ... all das ...« »Nein, Fürst, nein, was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und vom zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi – gantischer Gedanke!« Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können. »Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Umständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben, aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch großartig! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde, das stellt doch eine direkte Herausforderung dar... Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Und dann zu behaupten, er hätte es absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich verbürge mich dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, als wir alle unausgesetzt bei ihm Wache halten.« »Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?« »Ich, Kostja Lebedew und Burdowskij. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General ist ständig bei Lebedew, jetzt ist er ebenfalls weggegangen... Lebedew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er suchte Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, etwas wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowskij weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernahm. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen...‹ Ich berichtete ihm. ›Das ist ja schön‹, sagte er, ›aber ich bin hauptsächlich gekommen und deswegen auch aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und... sich vor ihm hüten muß.‹ Verstehen Sie das, Fürst?« »Eigentümlich, übrigens... kann es uns ja ganz gleichgültig sein.« »Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein, wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich sehr darüber gewundert, daß der General ausgerechnet deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.« »Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?« »Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir; ich hatte Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejitsch... Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejitsch; also kehrt marsch!« »Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll. Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt. Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde. Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen. »Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen...« »Sie meinen wegen dieses Jungen von gestern, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten... aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.« »Konterka... Wie sagten Sie?« »Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.« »Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und feierlich, Lebedew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd. »Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang, »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich...« »Nun ja, selbstverständlich, selbstverständlich, was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich. »Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassungsgabe gern«, bemerkte Lebedew, indem er ihm nachsah. »Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens ... ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben.« »Was ist denn geschehen?« »Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst, eine nette Geschichte!« fügte Lebedew mit einem sauren Lächeln hinzu. »Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.« »Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.« »Gewiß, gewiß, aber wie ist denn das zugegangen?« »Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich damit rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben... ich erwartete den Bevollmächtigten.« »Übrigens, Lukjan Timofejitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?« »Durch eine Vertrauensperson, mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben. Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz...« »Nun ja, nun ja, ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.« »Der Bevollmächtigte erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste, wir tranken... Tee, und... ich war dann zu meinem Verderben etwas angeheitert. Dann – es war schon spät geworden – kam dieser Keller und brachte die Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben, denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zur größeren Feierlichkeit des vorbereiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche... Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte – es war schon halb acht – , sprang ich wie halbverrückt auf und griff zuallererst nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!« »Oh, das ist unangenehm!« »Ja, wirklich unangenehm, und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den treffenden Ausdruck gefunden«, bemerkte Lebedew nicht ohne eine gewisse Tücke. »Gewiß ist es unangenehm, aber...«, sagte der Fürst, der ein wenig nachgedacht hatte und nun in Aufregung geriet, »die Sache hat doch ihre ernste Seite.« »Ja, sie hat wirklich ihre ernste Seite; da haben Sie wieder einen sehr passenden Ausdruck gefunden, Fürst, zur Bezeichnung ...« »Ach, hören Sie doch auf, Lukjan Timofejitsch, was soll denn das? Die Ausdrücke sind hierbei nicht von Wichtigkeit... Halten Sie es für möglich, daß Sie die Brieftasche im Zustand der Trunkenheit aus der Tasche verloren haben?« »Möglich ist es, im Zustand der Trunkenheit, wie Sie sich mit aller Offenheit ausgedrückt haben, ist alles möglich, hochgeehrter Fürst! Aber ich bitte Sie, folgendes zu erwägen: wenn ich die Brieftasche beim Rockwechsel hätte aus der Tasche fallen lassen, so müßte der herausgefallene Gegenstand dort auf dem Fußboden liegen. Wo aber ist dieser Gegenstand?« »Haben Sie die Brieftasche nicht vielleicht in die Kommode oder in einen Tischkasten gelegt?« »Ich habe alles durchsucht, alles durchwühlt, obgleich ich mich genau erinnere, sie nirgends verwahrt und kein Schubfach geöffnet zu haben.« »Haben Sie im Schränkchen nachgesehen?« »Gleich zuerst und sogar mehrere Male... Aber wie hätte ich auch dazu kommen sollen, sie in das Schränkchen zu legen, aufrichtig verehrter Fürst?« »Ich muß bekennen, Lebedew, daß mich die Sache aufregt. Also muß es jemand auf dem Fußboden gefunden haben?« »Oder aus der Tasche entwendet! Das sind die zwei Alternativen.« »Die Sache regt mich sehr auf, denn wer könnte eigentlich... Das ist die Frage!« »Ohne allen Zweifel ist das die Hauptfrage! Sie finden mit bewundernswerter Sicherheit die richtigen Gedanken und Ausdrücke und präzisieren die Situation vortrefflich, durchlauchtigster Fürst.« »Ach, Lukjan Timofejitsch, lassen Sie doch die Spöttereien, hier...« »Spöttereien!« rief Lebedew und schlug die Hände zusammen. »Nun, nun, schon gut, ich bin nicht weiter böse, aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes... Ich fürchte für die Menschen. Wen haben Sie denn im Verdacht?« »Das ist eine schwierige und... sehr verwickelte Frage! Das Dienstmädchen kann ich nicht im Verdacht haben, die hat sich die ganze Zeit über in ihrer Küche aufgehalten. Meine eigenen Kinder ebenfalls nicht...« »Nun, allerdings!« »Also müßte es einer der Gäste gewesen sein.« »Aber ist das möglich?« »Das ist völlig unmöglich, ganz und gar unmöglich, aber es muß doch unter allen Umständen der Fall sein. Ich will jedoch zugeben und bin sogar davon überzeugt, daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden hat, er nicht am Abend ausgeführt wurde, als alle zusammen waren, sondern erst in der Nacht oder gar erst gegen Morgen, von einem der hier Übernachtenden.« »Ach, mein Gott!« »Burdowskij und Nikolai Ardalionowitsch nehme ich natürlich aus, die sind überhaupt nicht zu mir hereingekommen.« »Allerdings! Und selbst wenn sie hereingekommen wären! Wer hat bei Ihnen übernachtet?« »Mich mitgezählt, waren wir vier Personen, die in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern übernachteten: ich, der General, Keller und Herr Ferdyschtschenko. Also muß es einer von uns vieren gewesen sein!« »Das heißt, einer von den dreien, aber wer?« »Um der Gerechtigkeit und Ordnung willen habe ich auch mich selbst mitgezählt, aber Sie werden zugeben müssen, Fürst, daß ich mich wohl nicht gut selbst bestehlen konnte, obgleich solche Fälle allerdings in der Welt schon vorgekommen sind...« »Ach, Lebedew, wie langweilig das ist!« rief der Fürst ungeduldig. »Kommen Sie doch zur Sache und ziehen Sie die Vorreden nicht in die Länge...« »Es bleiben also drei Personen übrig. Da ist erstens Herr Keller, ein Mensch ohne festen Wohnsitz, ein Trunkenbold, und in manchen Dingen ein Liberaler, das heißt, wo es darauf ankommt, aus anderer Leute Tasche zu leben, im übrigen aber sind seine Neigungen sozusagen mehr altritterlich als liberal. Er übernachtete anfangs im Zimmer des Kranken und kam erst in der Nacht zu uns herüber, mit der Begründung, es sei ihm nicht möglich, auf dem harten Fußboden zu schlafen.« »Haben Sie ihn im Verdacht?« »Ich hatte ihn allerdings im Verdacht. Als ich zwischen sieben und acht Uhr morgens wie ein Halbverrückter aufsprang und mich vor die Stirn schlug, da weckte ich sogleich den General, der den Schlaf der Unschuld schlief. Nachdem wir über Ferdyschtschenkos sonderbares Verschwinden unsere Betrachtungen angestellt hatten, ein Umstand, der schon an und für sich unsern Verdacht erweckte, entschlossen wir beide uns sofort, Keller zu visitieren, der wie... wie... beinah wie ein Holzklotz dalag. Wir visitierten ihn vollständig: in den Taschen fand sich kein Groschen, und nicht eine einzige Tasche war ohne Löcher. Der Inhalt war: ein baumwollenes, blaukariertes Taschentuch in unanständigem Zustand; ferner ein Liebesbrief von einem Stubenmädchen, enthaltend Geldforderungen und Drohungen, und Fetzen des Ihnen bekannten Feuilletons. Der General gab sein Urteil dahin ab, daß Keller unschuldig sei. Zum Zweck völliger Vergewisserung weckten wir ihn selbst, was uns nur mit Mühe durch viele Püffe gelang; er begriff nur schwer, um was es sich handelte, und sperrte erstaunt den Mund auf. Das betrunkene Aussehen, der alberne, unschuldige, ja dumme Gesichtsausdruck – er war es nicht gewesen!« »Nun, da freue ich mich!« rief der Fürst, freudig aufatmend. »Ich hatte schon für ihn gefürchtet!« »Gefürchtet? Also hatten Sie schon einen Grund dazu?« fragte Lebedew, die Augen zusammenkneifend. »O nein, ich sagte das nur so hin!« erwiderte der Fürst hastig. »Ich habe mich furchtbar dumm ausgedrückt, wenn ich sagte, ich hätte für ihn gefürchtet. Tun Sie mir den Gefallen, Lebedew, und sagen Sie das niemandem weiter...« »Aber Fürst, Fürst! Ihre Worte ruhen in meinem Herzen... in der Tiefe meines Herzens... wie in einem Grab!« rief Lebedew pathetisch und drückte den Hut gegen sein Herz. »Schon gut, schon gut!... Also dann war es Ferdyschtschenko? Das heißt, ich meine, Sie haben Ferdyschtschenko im Verdacht?« »Wen sonst?« sagte Lebedew leise, indem er den Fürsten scharf ansah. »Nun ja, selbstverständlich ... wen denn sonst... das heißt, was haben Sie für Beweise?« »Beweise habe ich schon. Erstens das Verschwinden um sieben Uhr oder sogar noch vor sieben Uhr morgens.« »Ich weiß, Kolja hat mir gesagt, daß er zu ihm gekommen sei und gesagt habe, er gehe weg, um den Rest der Nacht bei... bei... seinem Freund zuzubringen, ich habe den Namen vergessen.« »Wilkin heißt er. Also Nikolai Ardalionowitsch hat Ihnen das bereits gesagt?« »Von dem Diebstahl hat er mir nichts gesagt.« »Davon weiß er auch noch nichts, denn ich habe die Sache bis jetzt geheimgehalten. Also er ist zu Wilkin gegangen; man könnte nun meinen: was ist denn Besonderes dabei, daß ein Trunkenbold zu einem ebensolchen Trunkenbold geht, wenn es auch am frühen Morgen und ohne allen Anlaß geschieht? Aber hier kann man doch eine Spur entdecken: er hat beim Weggehen seine Adresse zurückgelassen... Achten Sie jetzt wohl auf diese Frage, Fürst: warum hat er seine Adresse zurückgelassen?... Warum kommt er ausgerechnet zu Nikolai Ardalionowitsch, wozu er einen Umweg machen muß, und teilt ihm mit: ›Ich gehe, um den Rest der Nacht bei Wilkin zuzubringen‹? Wer kann sich denn dafür interessieren, daß er weggeht und daß er gerade zu Wilkin geht? Was hat es für einen Zweck, das hier mitzuteilen? Nein, das ist Schlauheit, die Schlauheit eines Diebes! Das bedeutet: ›Seht ihr wohl? Ich verberge meine Spuren absichtlich nicht, wie kann ich denn dann ein Dieb sein? Würde etwa ein Dieb Mitteilung davon machen, wohin er geht?‹ Er sucht da mit besonderer Sorgfalt den Verdacht von sich abzulenken und sozusagen seine Spuren im Sand zu verwischen... Haben Sie mich auch verstanden, hochgeehrter Fürst?« »Verstanden habe ich Sie, sehr gut habe ich Sie verstanden, aber das reicht doch noch nicht aus.« »Zweiter Beweis: die Spur erweist sich als gefälscht, und die angegebene Adresse stimmt nicht. Eine Stunde darauf, das heißt um acht Uhr, klopfte ich schon bei Wilkin; er wohnt da in der Fünften Straße, und ich bin sogar mit ihm bekannt. Aber da war kein Ferdyschtschenko vorhanden. Zwar erfuhr ich von dem sehr schwerhörigen Dienstmädchen, daß vor einer Stunde tatsächlich jemand geläutet habe, und zwar so stark, daß der Klingelzug abgerissen sei. Aber das Mädchen hatte nicht geöffnet, da sie Herrn Wilkin nicht hatte wecken mögen und vielleicht auch selbst keine Lust gehabt hatte aufzustehen. Das kommt schon vor. »Und das sind all Ihre Beweise? Das ist wenig.« »Aber Fürst, bedenken Sie: wen könnte man denn sonst noch in Verdacht haben?« erwiderte Lebedew in gerührtem Ton, und aus seinem Lächeln schaute eine gewisse Listigkeit heraus. »Sie sollten noch einmal in allen Zimmern und Schubfächern nachsehen!« sagte der Fürst nach einigem Nachdenken mit sorgenvoller Miene. »Das habe ich ja getan!« versetzte Lebedew mit noch größerer Rührung und seufzte dabei. »Hm! ... Warum mußten Sie auch den Zivilrock mit der Uniform vertauschen?« rief der Fürst und schlug ärgerlich auf den Tisch. »Das ist eine Frage aus einem alten Lustspiel. Aber, großmütigster Fürst, Sie nehmen sich mein Unglück zu sehr zu Herzen! Ich bin so viele Teilnahme gar nicht wert. Das heißt, ich allein würde nicht wert sein, daß Sie sich so beunruhigen, aber Sie leiden ja auch um des Verbrechers willen... um dieses unbedeutenden Herrn Ferdyschtschenko willen!« »Nun ja, ja, Sie haben mich wirklich in Unruhe versetzt«, unterbrach ihn der Fürst zerstreut und mißvergnügt. »Also was beabsichtigen Sie nun zu tun ... wenn Sie so fest davon überzeugt sind, daß es Ferdyschtschenko gewesen ist?« »Fürst, hochgeehrter Fürst, wer könnte es denn sonst gewesen sein?« wand sich Lebedew mit immer wachsender Rührung. »Das Fehlen eines andern, an den man denken könnte, und sozusagen die absolute Unmöglichkeit, jemand außer Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht zu haben, das ist ja sozusagen noch ein Beweis gegen Herrn Ferdyschtschenko, schon der dritte Beweis! Denn ich frage noch einmal: wer könnte es sonst gewesen sein? Ich kann doch nicht Herrn Burdowskij verdächtigen, hehehe!« »Was für ein Unsinn!« »Oder schließlich den General, hehehe?« »Was für dummes Zeug!« rief der Fürst, beinah zornig, und drehte sich ungeduldig auf seinem Platz hin und her. »Natürlich ist das dummes Zeug! Hehehe! Dieser Mensch, ich wollte sagen der General, hat mich ordentlich zum Lachen gebracht! Ich ging mit ihm vorhin auf frischer Fährte zu Wilkin ... ich muß Ihnen noch bemerken, daß der General noch mehr als ich selbst bestürzt war, als ich nach Entdeckung des Verlustes zuallererst ihn weckte, dermaßen bestürzt, daß er die Farbe wechselte und bald rot, bald blaß wurde und schließlich in eine so empörte, edle Aufregung geriet, wie ich sie in solchem Maße gar nicht von ihm erwartet hatte. Ein höchst edeldenkender Mensch! Er lügt zwar fortwährend aus Schwäche, ist aber von den erhabensten Gefühlen erfüllt, und dabei ist er ein Mann von geringer geistiger Begabung, der durch seine Harmlosigkeit das größte Vertrauen einflößt. Ich habe Ihnen schon gesagt, hochgeehrter Fürst, daß ich nicht nur eine gewisse Schwäche für ihn habe, sondern ihn sogar liebe. Auf einmal blieb er mitten auf der Straße stehen, knöpfte sich den Rock auf und entblößte seine Brust: ›Visitiere mich!‹ sagte er. ›Du hast Keller visitiert, warum visitierst du mich nicht? Das verlangt‹ sagte er, ›die Gerechtigkeit!‹ Dabei zitterten ihm die Arme und Beine, und er war ganz blaß geworden, ganz grimmig sah er aus. Ich fing an zu lachen und sagte: ›Hör mal, General‹, sagte ich, ›wenn mir ein anderer das von dir sagte, dann würde ich mir gleich auf der Stelle mit eigenen Händen den Kopf abnehmen, ihn auf eine große Schüssel legen und ihn selbst auf der Schüssel zu allen Zweiflern hintragen: »Hier«, würde ich sagen, »seht mal diesen Kopf an, also mit meinem eigenen Kopf hier verbürge ich mich für ihn, und nicht nur den Kopf will ich dransetzen, sondern auch dafür ins Feuer gehen!« Siehst du‹, sagte ich, ›so bin ich bereit, mich für dich zu verbürgen!‹ Da umarmte er mich mitten auf der Straße, brach in Tränen aus, zitterte und drückte mich so fest an seine Brust, daß ich heftig husten mußte. ›Du‹, sagte er, ›bist der einzige Freund, der mir in meinem Unglück geblieben ist!‹ Er ist ein gefühlvoller Mensch! Nun, selbstverständlich erzählte er mir sofort unterwegs eine zu diesem Vorfall passende Geschichte, wie er ebenfalls, noch als junger Mensch, einmal des Diebstahls von fünfhunderttausend Rubeln verdächtigt worden sei, aber er habe sich gleich am folgenden Tag in die Flammen eines brennenden Hauses gestürzt und den Grafen, der ihn verdächtigt habe, sowie Nina Alexandrowna, die damals noch Mädchen gewesen sei, aus dem Feuer herausgeschleppt. Der Graf habe ihn umarmt, und auf diese Weise sei seine Ehe mit Nina Alexandrowna zustande gekommen; gleich am nächsten Tage aber habe man in den Brandruinen auch die Schatulle mit dem vermißten Geld gefunden; es sei eine eiserne Schatulle gewesen, von englischer Arbeit, mit einem Geheimschloß, und sie wäre auf irgendeine Weise unter den Fußboden geraten, so daß niemand sie habe bemerken können und sie nur durch diese Feuersbrunst wieder zutage gekommen sei. Alles die reine Lüge! Aber als er auf Nina Alexandrowna zu sprechen kam, da schluchzte er sogar. Nina Alexandrowna ist eine höchst edeldenkende Dame, obwohl sie auf mich böse ist.« »Sind Sie mit ihr bekannt?« »So gut wie gar nicht, aber ich würde es von ganzem Herzen wünschen, wenn auch nur, um mich vor ihr zu rechtfertigen. Nina Alexandrowna ist auf mich schlecht zu sprechen, weil sie meint, ich richte ihren Gatten durch Verführung zum Trinken zugrunde. Aber weit entfernt, ihn zu verführen, zähme ich vielmehr diese seine Leidenschaft; ich halte ihn vielleicht von verderblicherer Gesellschaft zurück. Zudem ist er mein Freund, und ich bekenne Ihnen, ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen, das heißt sogar im allereigentlichsten Sinn: wo er hingeht, da werde ich auch hingehen, weil man nur durch Einwirkung auf seine Gefühle etwas mit ihm anfangen kann. Jetzt besucht er sogar seine Hauptmannsfrau gar nicht mehr, obwohl es ihn im geheimen zu ihr hinzieht und er sogar manchmal nach ihr stöhnt, namentlich alle Morgen, wenn er aufsteht und sich die Stiefel anzieht, ich weiß nicht, warum gerade zu dieser Zeit. Geld besitzt er nicht, das ist das Unglück, und ohne Geld kann er sich bei dieser Frau nicht blicken lassen. Hat er Sie nicht um Geld gebeten, hochgeehrter Fürst?« »Nein, das hat er nicht getan.« »Er schämt sich. Er wollte es schon tun; er hat mir sogar gestanden, daß er Sie mit seiner Bitte belästigen wolle, aber er schämt sich, weil Sie ihm erst unlängst behilflich gewesen sind und er überdies glaubt, Sie würden ihm nichts geben. Er hat mir als seinem Freund sein Herz ausgeschüttet.« »Und Sie geben ihm kein Geld?« »Fürst! Hochgeehrter Fürst! Diesem Menschen würde ich nicht nur Geld geben, sondern ich würde für ihn sozusagen sogar mein Leben hingeben ... übrigens nein, ich will nicht übertreiben, das Leben nicht, aber wenn es sich darum handelte, etwa ein Fieber oder ein Geschwür oder sogar einen Husten zu ertragen, so bin ich, weiß Gott, bereit, das zu tun, vorausgesetzt, daß es sehr nötig ist, denn ich halte ihn für einen bedeutenden, aber heruntergekommenen Menschen! So steht es; es handelt sich nicht nur um Geld!« »Also Geld geben Sie ihm?« »N-nein, Geld habe ich ihm nicht gegeben, und er weiß selbst, daß ich ihm keins geben werde, aber das geschieht einzig und allein, um ihn an Enthaltsamkeit zu gewöhnen und ihn zu bessern. Jetzt hat er sich an mich gehängt, um mit mir nach Petersburg zu fahren; ich fahre nämlich nach Petersburg, um Herrn Ferdyschtsdienko auf frischer Spur abzufassen, denn ich weiß sicher, daß er schon dort ist. Mein General kocht nur so vor Entrüstung, aber ich vermute, daß er sich in Petersburg von mir fortstehlen wird, um die Hauptmannsfrau zu besuchen. Ich gestehe, ich will ihn sogar absichtlich von mir weggehen lassen, und wir haben auch schon verabredet, uns gleich bei der Ankunft in Petersburg zu trennen und nach verschiedenen Seiten zu gehen, um Herrn Ferdyschtsdienko leichter zu fangen. In dieser Weise werde ich ihn also von mir weggehen lassen und ihn dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei der Hauptmannsfrau überraschen – eigentlich um ihn als Familienvater und, allgemein gesagt, als Menschen zu beschämen.« »Führen Sie nur keinen Skandal herbei, Lebedew, um Gottes willen keinen Skandal!« sagte der Fürst halblaut in starker Unruhe. »O nein, mein Zweck ist ja nur, ihn zu beschämen und zu sehen, was er für ein Gesicht macht, denn aus dem Gesicht kann man auf vieles schließen, hochgeehrter Fürst, und besonders bei einem solchen Menschen! Ach, Fürst! Obgleich mein eigenes Unglück groß ist, kann ich doch auch jetzt nicht umhin, an ihn und an die Besserung seiner Moral zu denken. Ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie, hochgeehrter Fürst; ich bekenne sogar, daß ich eigentlich nur deswegen hergekommen bin: Sie sind schon mit seiner Familie bekannt und haben dort sogar schon gewohnt; wenn also Sie, hochgeehrter Fürst, sich entschließen wollten, mir hierbei zu helfen, eigentlich nur um des Generals und seines Glückes willen ...« Lebedew faltete sogar die Hände wie beim Gebet. »Was meinen Sie denn? Wie soll ich helfen? Seien Sie überzeugt, daß mir sehr daran liegt, Sie ganz zu verstehen, Lebedew!« »Einzig und allein in dieser Überzeugung bin ich ja auch zu Ihnen gekommen! Man könnte durch Nina Alexandrowna auf ihn einwirken, indem man Seine Exzellenz im Schoß seiner eigenen Familie ständig beobachtet und ihm sozusagen auf den Fersen bleibt. Ich selbst bin unglücklicherweise dort nicht bekannt... Außerdem könnte da auch Nikolai Ardalionowitsch vielleicht mithelfen, der Sie sozusagen mit allen Fasern seines jungen Herzens vergöttert...« »N-ein... Nina Alexandrowna dürfen wir in diese Sache... um Gottes willen nicht! Und Kolja ebensowenig... Ich verstehe Sie übrigens vielleicht noch nicht ganz, Lebedew.« »Aber es ist ja dabei eigentlich gar nichts zu verstehen!« rief Lebedew und sprang sogar von seinem Stuhl auf. »Gefühlvolle und zarte Behandlung, das ist die einzige Arznei für unsern Kranken. Sie erlauben mir wohl, Fürst, ihn als einen Kranken anzusehen?« »Das zeugt sogar von Ihrem Zartgefühl und Ihrem Verstand.« »Ich möchte es Ihnen durch ein Beispiel klarmachen, das ich der Deutlichkeit halber aus der Praxis entnehme. Sehen Sie, was das für ein Mensch ist: da hat er nun jetzt eine Schwäche für diese Hauptmannsfrau, bei der er sich ohne Geld nicht blicken lassen darf, und bei der ich ihn heute zu seinem eigenen Besten abzufassen gedenke; aber nehmen wir an, er habe nicht nur dieses Verhältnis mit der Hauptmannsfrau, sondern er begehe ein wirkliches Verbrechen, irgendeine unehrenhafte Handlung (obwohl er dazu keineswegs imstande ist), so behaupte ich, man könnte auch dann einzig und allein durch edelmütige, zarte Behandlung, um mich so auszudrücken, bei ihm alles erreichen, denn er ist ein gefühlvoller Mensch! Glauben Sie mir, er würde es nicht fünf Tage lang aushalten, sondern in Tränen ausbrechen und alles bekennen, und besonders wenn die Familie und Sie sozusagen sein ganzes Mienenspiel, seine sämtlichen Äußerungen beobachten und in geschickter, edelmütiger Weise auf ihn einwirken ... Oh, hochgeehrter Fürst!« rief Lebedew und sprang in einer Art von Begeisterung vom Stuhl auf, »ich behaupte ja gar nicht, daß er es bestimmt gewesen sei... Ich bin sogar bereit, mein ganzes Blut für ihn zu vergießen, auf der Stelle, obwohl Sie zugeben müssen, daß Unenthaltsamkeit und Trunksucht und eine Hauptmannsfrau, alles zusammengenommen, einen Menschen zu allem möglichen bringen können.« »Solche Absichten bin ich natürlich jederzeit bereit zu fördern«, erwiderte der Fürst, indem er aufstand. »Aber ich bekenne Ihnen, Lebedew, daß ich mich in furchtbarer Unruhe befinde. Sagen Sie, Sie glauben immer noch... kurz, Sie sagen ja selbst, daß Sie Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht haben.« »Aber wen denn sonst? Wen denn sonst, offenherzigster Fürst?« antwortete Lebedew, indem er wieder gerührt die Hände faltete und milde lächelte. Der Fürst machte ein finsteres Gesicht. »Sehen Sie, Lukjan Timofejitsch, ein Irrtum könnte hier die schrecklichsten Folgen haben. Dieser Ferdyschtschenko... ich möchte nichts Schlechtes von ihm sagen... aber dieser Ferdyschtschenko... ich meine, wer weiß, vielleicht ist er es doch gewesen! ... Ich will sagen, vielleicht ist er wirklich einer solchen Tat eher fähig als ... als der andere.« Lebedew kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren. »Sehen Sie«, fuhr der Fürst fort, der immer mehr in Verwirrung geriet und dessen Gesicht immer finsterer wurde, während er im Zimmer auf und ab ging und es dabei vermied, Lebedew anzusehen, »man hat mir zu verstehen gegeben... es hat mir jemand von Herrn Ferdyschtschenko gesagt, er sei, von allem anderen abgesehen, ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich in acht nehmen müsse und nichts... Überflüssiges reden dürfe, Sie verstehen? Ich sage das in der Hinsicht, daß er vielleicht wirklich einer solchen Tat eher fähig war als der andere ... damit wir uns nicht irren, – das ist doch die Hauptsache, verstehen Sie?« »Aber wer hat Ihnen das über Herrn Ferdyschtschenko mitgeteilt?« fragte Lebedew eifrig. »Nur so, es hat mir jemand das zugeflüstert, übrigens glaube ich es selbst nicht... ich ärgere mich sehr, daß ich genötigt war, es zu erwähnen; aber ich versichere Ihnen, ich glaube es selbst nicht... es ist törichtes Gerede... Pfui, wie dumm von mir, es nachzusprechen!« »Sehen Sie, Fürst«, sagte Lebedew und zitterte dabei am ganzen Leib, »das ist wichtig, das ist jetzt sehr wichtig, ich meine die Art, wie diese Beurteilung zu Ihrer Kenntnis gelangt ist, das ist wichtig, wenn auch nicht in bezug auf Herrn Ferdyschtschenko.« (Während Lebedew das sagte, lief er, dem Fürsten folgend, hin und her und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.) »Da möchte auch ich Ihnen jetzt etwas mitteilen, Fürst: als ich vorhin mit dem General zu diesem Wilkin ging, da fing er, nachdem er mir schon die Geschichte von der Feuersbrunst erzählt hatte, auf einmal in höchster sittlicher Entrüstung an, mir ganz ebensolche Andeutungen über Herrn Ferdyschtschenko zumachen, aber in einer so ungereimten, einfältigen Manier, daß ich unwillkürlich ein paar Fragen darüber an ihn richtete und infolgedessen zu der bestimmten Überzeugung kam, daß diese ganze Beurteilung lediglich aus dem Gehirn Seiner Exzellenz stammte... Eigentlich war sie sozusagen ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Denn er lügt einzig und allein, weil er seiner Rührung nicht Herr zu werden vermag. Nun belieben Sie zu erwägen: wenn er das erlogen hat, und davon bin ich überzeugt, wie ist es dann zugegangen, daß auch Sie davon gehört haben? Wohlgemerkt, Fürst, es war das nur eine momentane Eingebung; wer in aller Welt hat es Ihnen also mitgeteilt? Das ist wichtig, das... das ist sehr wichtig und... sozusagen...« »Ich habe es soeben von Kolja gehört, und ihm hatte es kurz vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.« Und der Fürst erzählte alles eingehend. »Nun, sehen Sie, das ist es, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz absichtlich seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe!...« »Hören Sie, Lebedew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedew, ich beschwöre Sie!... Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein, aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!« »Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster Fürst«, rief Lebedew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut... Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch, aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das ist der Triumph der Tugend! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten... mit leisen Schritten und... gemeinsam.« X Endlich verstand der Fürst, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einen schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, an deren langen Wimpern Tränen funkelten, und rief ihn wieder zu sich, und als er erwachte, erinnerte er sich wieder wie bei jenem früheren Traum an ihr Gesicht. Er wollte schon sofort zu ihr gehen, aber er vermochte es nicht; endlich, fast in Verzweiflung, entfaltete er die Briefe und begann, sie zu lesen. Diese Briefe hatten ebenfalls Ähnlichkeit mit einem Traum. Manchmal träumen wir seltsame Dinge, unmögliche, unnatürliche Dinge, und wenn wir aufgewacht sind, erinnern wir uns deutlich an das Geträumte und wundern uns über diese merkwürdige Tatsache. Wir erinnern uns vor allem daran, daß der Verstand während der ganzen langen, langen Dauer des Traumes seine Tätigkeit nicht eingestellt hat, als uns die Mörder umringten, als sie uns zu überlisten suchten, ihre Absicht verbargen, sich gegen uns freundschaftlich benahmen, während sie doch schon die Waffen bereithielten und nur auf ein Zeichen warteten; wir erinnern uns, wie listig wir sie endlich täuschten und uns vor ihnen versteckten, wie wir aber dann merkten, daß sie diese ganze Täuschung durchschauten und sich nur stellten, als ob sie nicht wüßten, wo wir uns versteckt hielten, wie wir sie aber von neuem listig betrogen; an all das erinnern wir uns deutlich. Aber warum konnte denn unser Verstand sich gleichzeitig mit all den augenscheinlichen Absurditäten und Unmöglichkeiten abfinden, mit denen neben andern Dingen der Traum angefüllt war? Einer der Mörder verwandelte sich vor unseren Augen in eine Frau und aus der Frau in einen kleinen, listigen, häßlichen Zwerg, und wir nahmen all dies ohne weiteres als vollendete Tatsache hin, fast ohne die geringste Verwunderung, und zwar gerade zu der gleichen Zeit, als auf der andern Seite unser Verstand auf das angestrengteste arbeitete und eine außerordentliche Stärke, Schlauheit, Fassungskraft und Logik bewies. Und ferner, warum fühlen wir, wenn wir aus einem Traum erwachen und schon wieder ganz in die Wirklichkeit zurückkehren, fast jedesmal und manchmal mit außerordentlicher Stärke, daß wir zugleich mit dem Traum etwas hinter uns lassen, was uns rätselhaft ist? Wir lächeln über die Absurdität unseres Traums und fühlen gleichzeitig, daß in dem Geflecht dieser Absurditäten ein Gedanke enthalten ist, aber ein wirklicher Gedanke, etwas, was zu unserem wirklichen Leben gehört, etwas, was in unserem Herzen existiert und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der empfangene Eindruck ist stark, ein freudiger oder ein quälender Eindruck, je nachdem, aber worin er besteht und was uns eigentlich gesagt worden ist, das können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern. Fast dasselbe geschah nach der Lektüre dieser Briefe. Aber noch ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser, phantastischer Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke hatte bereits Gestalt gewonnen, und das verwunderlichste war für ihn, daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn, aber es lag darin doch auch wahrhaftes Leid, echtes Märtyrertum, wodurch der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke, verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits einmal vor langer, langer Zeit gelesen und als sei alles, wonach er sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen enthalten. »Wenn Sie diesen Brief öffnen« (so begann das erste Schreiben), »werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich Ihnen auch nur im geringsten gleichgestellt, so könnten Sie sich durch eine solche Dreistigkeit beleidigt fühlen, aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst wenn ich es wollte.« Ferner schrieb sie an einer anderen Stelle: »Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines kranken Gehirns, aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich habe Sie gesehen, ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über Sie ab; ich bin nicht durch den Verstand dazu gekommen, Sie für die Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben. Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie. Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich, aber Sie brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen, ich stelle Sie nicht mit mir auf die gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten! ... Wenn ich könnte, würde ich die Spuren Ihrer Füße küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich... Sehen Sie nach der Unterschrift, sehen Sie schnell nach der Unterschrift!« »Ich bemerke aber« (schrieb sie in einem andern Brief), »daß ich Sie mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Er gedachte Ihrer wie des ›Lichtes‹, das sind seine eigenen Worte, ich habe sie von ihm gehört. Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn das Licht sind. Ich habe einen ganzen Monat lang mit ihm gelebt und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie und er sind für mich eins.« »Wie ist das?« (schrieb sie an einer andern Stelle dieses Briefes). »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und mir war, als erröteten Sie. Aber das ist unmöglich, das kann mir nur so vorgekommen sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und zeigte Ihnen dort die nackte Sünde, so dürften Sie doch nicht erröten; Sie können gar nicht über eine Beleidigung entrüstet sein. Sie können alle gemeinen, unwürdigen Menschen hassen, aber nicht um ihrer Eigenschaften willen, sondern aus Teilnahme für diejenigen, denen sie Kränkungen zufügen. Ihnen aber, Ihnen kann niemand eine Kränkung zufügen. Wissen Sie, ich meine, Sie müßten mich sogar lieben. Für mich sind Sie dasselbe wie für ihn: ein lichter Geist; ein Engel aber kann nicht hassen; er kann gar nicht anders als lieben. Kann man alle lieben, alle Menschen, alle seine Nächsten? Ich habe mir diese Frage oft vorgelegt. Gewiß nicht, das ist sogar unnatürlich. In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst. Aber wenn dies auch für uns unmöglich ist, so sind Sie doch ein anderes Wesen: wie könnten Sie jemand nicht lieben, da Sie sich mit niemand auf eine Stufe stellen können und da Sie über alle Kränkungen und alle persönliche Entrüstung erhaben sind? Sie allein können ohne Egoismus lieben; Sie allein können nicht um Ihrer selbst willen lieben, sondern um desjenigen willen, den Sie lieben. Oh, wie schmerzlich würde es mir sein, zu erfahren, daß Sie um meinetwillen Scham oder Zorn empfänden! Das wäre Ihr Untergang: damit stellten Sie sich auf einmal mir gleich ... Nachdem ich Ihnen gestern begegnet und nach Hause gekommen war, dachte ich mir ein Gemälde aus. Die Maler stellen Christus immer nach der Überlieferung des Evangeliums dar; ich würde ihn anders malen: ich würde ihn allein darstellen, seine Jünger haben ihn ja auch manchmal allein gelassen. Ich würde ihn nur mit einem kleinen Kind malen. Das Kind hat neben ihm gespielt, ihm vielleicht etwas in seiner kindlichen Sprache erzählt, Christus hat ihm zugehört, aber jetzt ist er in Gedanken versunken; seine Hand ist unwillkürlich, selbstvergessen auf dem blonden Köpfchen des Kindes liegengeblieben. Er blickt in die Ferne, nach dem Horizont; ein ruhiger Gedanke, groß wie die Welt, liegt in seinem Blick; sein Gesicht ist traurig. Das Kind ist verstummt;, es hat seinen Ellbogen auf das Knie des Heilands gesetzt, die eine Wange in die Hand gestützt, das Köpfchen aufgehoben und schaut ihn nun unverwandt nachdenklich an, in der Art wie Kinder manchmal nachdenklich sind. Die Sonne geht unter... Das ist mein Bild! Sie sind unschuldig, und in Ihrer Unschuld liegt Ihre ganze Vollkommenheit. Oh, vergessen Sie das nicht! Was geht Sie die Leidenschaft an, die ich für Sie empfinde? Sie gehören jetzt schon mir; ich werde mein ganzes Leben lang um Sie sein ... Aber ich werde bald sterben.« Im letzten Briefe endlich hieß es: »Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, mir das selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß ich mich nicht einmal in einem Anfall von Stolz erniedrigen könnte. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls nicht fähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich. Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinetwillen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen, darin finde ich meine ganze Absolution, das habe ich mir längst gesagt... Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt auf den Kopf stellen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen, ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was statt meiner in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich ständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer), aber ich kenne ihr Geheimnis. Er hat ein finsteres, ödes Haus, und darin befindet sich das Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Hause gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit, während ich bei ihnen in ihrem Hause wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit Shdanowscher Flüssigkeit Ein von N. J. Shdanow erfundenes Mittel gegen üblen Geruch. umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer, aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden, so habe ich es mit ihm festgesetzt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten... Aber er wird mich vorher töten ... Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.« Und dergleichen irres Gerede stand noch sehr viel in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats. Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle, durchsichtige Nacht schien ihm noch heller als gewöhnlich. ›Ob es denn noch so früh ist?‹ dachte er. (Er hatte vergessen, seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; ›wahrscheinlich beim Vauxhall‹, dachte er wieder. ›Sie werden heute gewiß nicht dort sein.‹ Während er das überlegte, sah er, daß er ganz dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es gewußt, daß er unbedingt schließlich hierhergeraten würde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen, die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. ›Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen‹, dachte er flüchtig, aber auch der Saal war leer; es war darin fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemand zu treffen. »Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich. »Ich ... bin nur so hereingekommen...« »Maman ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida legt sich gerade schlafen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.« »Ich wollte ... ich wollte Ihnen jetzt... einen Besuch machen...« »Wissen Sie, was die Uhr ist?« »N-nein...« »Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.« »Ach, ich dachte, es... wäre halb zehn.« »Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.« »Ich... dachte...«, stotterte er und schickte sich an, wieder fortzugehen. »Auf Wiedersehen! Morgen werde ich alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.« Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum erschien ihm wie ein Traum. Und plötzlich stand, ganz wie vor kurzem, wo er zweimal nach derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. ›Nein‹, sagte er sich, ›das ist kein Traumbild!‹ So stand sie ihm denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sie sagte etwas zu ihm, aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück, aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern. »Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie hochzuziehen. »Steh schnell auf!« »Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?« Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, als wären Verfolger hinter ihr her. »Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht... Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!« »Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung. Gierig hingen ihre Blicke an ihm, sie faßte seine beiden Hände. »Leb wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoshin neben ihr auftauchte, ihr seinen Arm gab und sie wegführte. »Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoshin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.« Nach fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf derselben Stelle erwartet. »Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien zu wissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir vorhin geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben, sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet, dort auf der Bank haben wir gesessen.« »Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen solltest?« »Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoshin zähnefletschend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?« »Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht. »Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle von dem Rasiermesser? Hehe!« »Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend. »Wer weiß, vielleicht auch nicht!« sagte Rogoshin leise, als spräche er mit sich selbst. Der Fürst antwortete nicht. »Nun leb wohl!« sagte Rogoshin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?« »Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz. »Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoshin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen. Vierter Teil I Es war ungefähr eine Woche seit dem Tage vergangen, an dem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück. Es gibt Leute, von denen man schwer etwas aussagen kann, das uns diese Menschen mit einemmal und vollständig in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen stellt; das sind diejenigen, die man meist als die »üblichen«, als »Masse« bezeichnet und die tatsächlich in jeder Gesellschaft die weitaus überwiegende Mehrheit bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolessin Gestalt aus Gogols Komödie »Die Heirat«. in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus keine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolessin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolessin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden. Sie haben auch vor Gogol gewußt, daß diese ihre Freunde Leute von der Art Podkolessins waren, haben aber nur noch nicht gewußt, daß sie gerade so hießen. In der Wirklichkeit sind Freier, die vor der Hochzeit aus dem Fenster springen, äußerst selten, weil das, von andern Gründen abgesehen, gar zu unbequem ist; aber trotzdem: wie viele Freier, sogar achtbare, verständige Männer, haben nicht vor der Trauung in der Tiefe ihrer Seele die Empfindung gehabt, daß sie Podkolessins seien! Ebenso rufen ja auch nicht alle Männer bei jedem Schritt: »Tu l'as voulu, George Dandin!« Du hast es gewollt, George Dandin! (Geflügeltes Wort aus Molières Komödie »George Dandin«.) Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden! Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist und daß alle diese George Dandins und Podkolessins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und wir wollen damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den ganz »gewöhnlichen« Leuten, anfangen und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist unmöglich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch bei den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr lebelang unverändert Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt. Zu der Kategorie der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte, Herr Ptizyn, und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch. In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein »wie alle Menschen«. Reichtum ist vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und davon ohne Bedenken das Gefühl hohen Genusses zu haben. Einige unserer Adelsfräulein brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene »Überzeugungen« gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfinde wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung sei. Mancher braucht nur von einem andern einen Gedanken wortwörtlich zu übernehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß zu lesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow. Gestalt aus der Erzählung »Der Newskij Prospekt«. Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich eine Frage dieser Art gar nicht vorlegt, wie denn für ihn Zweifelsfragen überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Befriedigung des verletzten moralischen Gefühls des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung ein Blätterteigpastetchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme aus und überließ seine Leser in dieser Situation sich selbst. Ich habe es immer bedauert, daß Gogol den großen Pirogow auf eine so niedrige Rangstufe gestellt hat, denn Pirogow ist so selbstzufrieden, daß für ihn nichts leichter wäre, als sich auf Grund der mit den Jahren und den Beförderungen dicker gewordenen Epauletten einzubilden, daß er ein ausgezeichneter Feldherr sei, und es sich nicht bloß einzubilden, sondern überhaupt nicht daran zu zweifeln; denn er würde sich sagen, man habe ihn zum General befördert, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Propagandisten gegeben! Ich sage »hat es gegeben«, aber natürlich gibt es sie auch jetzt... Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt: bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschengruppe verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende des Lebens hat sich vielleicht ein mehr oder minder starkes Leberleiden entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und in ihr Los fügen, manchmal sehr lange, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht bereit, sich zu einer gemeinen Handlung herbeizulassen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur ehrlichen, sondern auch herzensguten Menschen ist der Beschützer und Versorger seiner Familie und unterhält und ernährt durch seine Arbeit nicht nur die Seinigen, sondern sogar Fremde, aber was ist das Resultat? Er kann trotzdem sein ganzes Leben lang nicht zur Ruhe gelangen! Für ihn ist es keineswegs ein beruhigender, tröstlicher Gedanke, daß er seine menschlichen Pflichten so gut erfüllt hat; dieser Gedanke hat sogar im Gegenteil für ihn etwas Aufreizendes: ›Also das ist es‹, sagt er sich, ›worauf ich mein ganzes Leben verwandt habe, das ist es, was mich an Händen und Füßen gebunden hat, das ist es, was mich gehindert hat, das Pulver zu erfinden! Wäre dieses Hindernis nicht gewesen, dann hätte ich vielleicht sicher entweder das Pulver erfunden oder Amerika entdeckt; ich weiß noch nicht genau, was, aber erfunden oder entdeckt hätte ich sicherlich etwas!‹ Das Charakteristische bei diesen Herren ist, daß sie tatsächlich ihr ganzes Leben lang sich nicht recht darüber klarwerden können, was sie eigentlich so eifrig zu erfinden und zu entdecken wünschen und was für eine Großtat sie eigentlich das ganze Leben hindurch auszuführen bereit waren, ob die Erfindung des Pulvers oder die Entdeckung Amerikas. Aber ihre schmerzliche Sehnsucht nach einer solchen Großtat hätte wirklich für einen Kolumbus oder Galilei ausgereicht. Gawrila Ardalionowitsch begann sich gerade in dieser Weise zu entwickeln; aber, wie gesagt, er stand erst am Anfang. Er hatte noch die lange Periode der tollen Streiche vor sich. Das tiefe, stetige Bewußtsein seiner Talentlosigkeit und gleichzeitig das unüberwindliche Verlangen, sich davon zu überzeugen, daß er ein durchaus selbständiger Mensch sei, hatten sein Herz tief verwundet, fast schon von seiner Knabenzeit an. Er war ein junger Mensch mit neidischen und heftigen Wünschen und hatte anscheinend schon bei der Geburt ein reizbares Nervensystem mitbekommen. Die Heftigkeit seiner Wünsche hielt er für Stärke. Bei seinem leidenschaftlichen Wunsch, sich hervorzutun, war er manchmal zu den sinnlosesten Sprüngen bereit; aber sowie die Ausführung eines solchen sinnlosen Sprunges heranrückte, war unser Held doch immer zu klug, als daß er sich dazu hätte entschließen mögen. Das drückte ihn nieder. Vielleicht hätte er sich bei Gelegenheit sogar zu einer recht gemeinen Handlung bereit gefunden, falls er dadurch etwas von seinen erträumten Zielen hätte erreichen können, aber gerade, wenn es an den entscheidenden Punkt kam, war er jedesmal für die recht gemeine Handlung doch zu ehrlich. (Zu einer gemeinen Handlung kleineren Kalibers war er übrigens jederzeit bereit.) Mit Widerwillen und Haß blickte er auf die Armut und den Niedergang seiner Familie. Selbst seine Mutter behandelte er von oben herab und geringschätzig, obgleich er selbst sehr wohl wußte, daß der gute Ruf seiner Mutter vorläufig die Hauptstütze auch für seine eigene Karriere bildete. Als er mit Jepantschin in Verbindung trat, sagte er sich sofort: ›Entschließt man sich einmal, ein Schuft zu sein, dann muß man es auch bis zu Ende bleiben, wenn man nur dadurch sein Spiel gewinnt‹, – aber er führte die Rolle des Schuftes fast nie bis zu Ende durch. Warum hatte er überhaupt gemeint, er müsse unbedingt schuftig handeln? Vor Aglaja hatte er damals einfach Angst bekommen, hatte aber trotzdem die Beziehungen zu ihr nicht abgebrochen, sondern die Sache für alle Fälle in die Länge gezogen, obgleich er nie ernsthaft geglaubt hatte, daß sie sich zu ihm herablassen würde. Als dann seine Affäre mit Nastasja Filippowna war, hatte er sich auf einmal die Vorstellung zurechtgemacht, mit Geld lasse sich alles erreichen. ›Wenn man ein Schuft ist, dann muß man es auch ordentlich sein!‹ wiederholte er sich damals täglich mit Selbstzufriedenheit, aber auch mit einiger Furcht; ›läßt man sich auf Schuftigkeiten ein, dann muß man damit auch bis zum höchsten Gipfel gehen‹, sagte er sich alle Augenblicke zu seiner Ermutigung; ›gewöhnliche Menschen bekommen es in solchen Fällen mit der Angst, aber wir nicht!‹ Als er Aglaja verloren hatte und durch die Umstände niedergedrückt war, verlor er vollständig den Mut und stellte tatsächlich dem Fürsten das Geld zu, das ihm damals die wahnsinnige Frau hingeworfen hatte, der es von einem ebenso wahnsinnigen Mann gebracht worden war. Daß er das Geld so wieder weggegeben hatte, bereute er nachher tausendmal, obwohl er sich fortwährend damit brüstete. Während der drei Tage, die der Fürst damals in Petersburg zubrachte, weinte er wirklich, aber in diesen drei Tagen warf er auch schon einen Haß auf den Fürsten, weil dieser ihn gar zu mitleidsvoll behandelte, obwohl doch eine solche Handlung, wie es die Rückgabe einer so großen Geldsumme war, ›nicht jeder fertiggebracht hätte‹. Aber die achtenswerte Selbsterkenntnis, daß sein ganzer Kummer nur von ununterbrochener Verletzung seiner Eitelkeit herkam, quälte ihn schrecklich. Erst lange nachher gelangte er zu einem klareren Urteil und zu der Erkenntnis, was für eine ernste Wendung sein Verhältnis zu einem so unschuldigen, eigenartigen Wesen wie Aglaja hätte nehmen können. Die Reue nagte an seinem Herzen; er gab seine Stelle auf und vergrub sich in seinen Gram und seine Trübsal. Er lebte mit seinem Vater und seiner Mutter bei Ptizyn auf dessen Kosten, zeigte diesem aber unverhohlen seine Geringschätzung, obwohl er gleichzeitig auf seine Ratschläge hörte und verständig genug war, ihn fast immer um solche zu bitten. Gawrila Ardalionowitsch ärgerte sich zum Beispiel auch darüber, daß Ptizyn nicht darauf ausging, ein Rothschild zu werden, und sich dies nicht zum Ziel gesetzt hatte. »Wenn man schon einmal ein Wucherer ist, dann muß man es auch gründlich sein, Charakter zeigen, die Leute schinden, aus ihnen Geld prägen, ein König der Juden werden!« Ptizyn war ein bescheidener, stiller Mensch, er lächelte nur über solche Reden, aber einmal hielt er es doch für nötig, sich Ganja gegenüber ernsthaft auszusprechen, und führte das sogar mit einer gewissen Würde aus. Er wies ihn darauf hin, daß er nichts Unehrliches tue und daß Ganja ihn ohne Berechtigung einen Juden nenne; er könne nichts dafür, daß es so schwer sei, zu Geld zu kommen; er handle rechtlich und ehrenhaft und sei eigentlich bei »diesen Geschäften« nur Agent; aber infolge seiner geschäftlichen Zuverlässigkeit sei er schon hervorragenden Persönlichkeiten vorteilhaft bekannt geworden, und seine Geschäfte gewönnen immer mehr an Ausdehnung. »Ein Rothschild werde ich nicht werden, und das ist auch nicht nötig«, fügte er lachend hinzu, »aber zu einem Haus in der Litejnaja-Straße werde ich es wohl bringen, vielleicht auch zu zweien, und damit werde ich abschließen.« Im stillen aber dachte er: ›Wer weiß, vielleicht auch zu dreien!‹, sprach das aber nie laut aus, sondern verbarg diese Zukunftsphantasie. Das Schicksal liebt solche Menschen und verfährt mit ihnen freundlich: es wird Herrn Ptizyn nicht mit drei, sondern gewiß mit vier Häusern belohnen, und zwar gerade deswegen, weil er von seiner Kindheit an gewußt hat, daß er nie ein Rothschild werden würde. Aber andererseits wird das Schicksal unter keinen Umständen über vier Häuser hinausgehen, und damit wird die Sache für Ptizyn ihren Abschluß finden. Eine ganz andersartige Persönlichkeit war Gawrila Ardalionowitschs Schwester. Auch sie war von einem kräftigen Streben erfüllt, das aber mehr den Charakter der Beharrlichkeit als den der Heftigkeit trug. Sie bewies viel Verstand, wenn eine Sache zum entscheidenden Punkt gelangt war, aber daran mangelte es ihr auch schon vorher nicht. Freilich gehörte auch sie zu der Kategorie der »gewöhnlichen« Leute, die von Originalität träumen, aber sie erkannte doch sehr bald, daß sie keine Spur von besonderer Originalität besaß, und grämte sich darüber nicht allzusehr – wer weiß, vielleicht aus einer eigenen Art von Stolz. Ihren ersten Schritt ins praktische Leben führte sie mit großer Entschlossenheit aus, als sie Herrn Ptizyn heiratete, aber indem sie das tat, sagte sie ganz und gar nicht zu sich selbst: ›Will man gemein handeln, dann gründlich, wenn man nur sein Ziel erreicht‹, wie Gawrila Ardalionowitsch sich in solchem Falle unbedingt ausgedrückt hätte (er war nahe daran, sich vor ihren Ohren so auszudrücken, als er als älterer Bruder seine Billigung ihres Entschlusses aussprach). Vielmehr heiratete Warwara Ardalionowna ganz im Gegenteil erst, nachdem sie zu der wohlbegründeten Überzeugung gelangt war, daß ihr künftiger Gatte ein bescheidener, angenehmer, beinah gebildeter Mann sei und größere Gemeinheiten nie und um keinen Preis begehen würde. Nach kleineren Gemeinheiten fragte Warwara Ardalionowna nicht; das waren eben Kleinigkeiten, und solche Kleinigkeiten kamen ja in der Welt überall vor. Wozu ein Ideal suchen! Zudem wußte sie, daß sie durch diese Heirat ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern zu einem Unterkommen verhalf. Da sie ihren Bruder Ganja im Unglück sah, wünschte sie, trotz aller früheren Zwistigkeiten in der Familie, ihm zu helfen. Ptizyn drängte seinen Schwager Ganja manchmal, natürlich freundschaftlich, wieder eine Stelle anzunehmen. »Da verachtest du nun die Generale und den Generalsrang«, sagte er mitunter scherzend zu ihm, »aber paß einmal auf, ›sie‹ werden alle schließlich, wenn die Reihe an sie kommt, Generale werden; wenn du lange genug lebst, wirst du es schon sehen.« ›Wie kommen manche Leute nur zu dem Glauben, ich sei ein Verächter der Generale und des Generalsranges?‹ dachte Ganja im stillen bitter und spöttisch. Um ihrem Bruder behilflich zu sein, entschloß sich Warwara Ardalionowna, den Bereich ihrer Tätigkeit zu erweitern: sie verschaffte sich Zutritt bei der Familie Jepantschin, wobei ihr Erinnerungen an die Kinderzeit halfen, denn sowohl sie selbst als auch ihr Bruder hatten als Kinder mit den Jepantschinschen Töchtern gespielt. Wir bemerken hier, daß Warwara Ardalionowna, wenn sie mit ihren Besuchen bei den Jepantschinschen Damen irgendein phantastisches Ziel vor Augen gehabt hätte, vielleicht eben dadurch sofort aus jener Menschenklasse ausgeschieden wäre, zu der sie sich selbst rechnete; aber sie hatte kein phantastisches Ziel vor Augen, sondern es lag ihrerseits sogar eine sehr wohlbegründete Spekulation vor, wobei sie den Charakter dieser Familie als Ausgangspunkt benutzte. Aglajas Charakter studierte sie unermüdlich. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die beiden jungen Leute, ihren Bruder und Aglaja, wieder zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie tatsächlich einiges erreicht; vielleicht hatte sie auch Fehler begangen, indem sie zum Beispiel zu sehr auf ihren Bruder rechnete und von ihm etwas erwartete, was er nie und auf keine Weise hätte leisten können. Jedenfalls operierte sie bei Jepantschins sehr geschickt: sie erwähnte wochenlang ihren Bruder mit keinem Wort, war immer sehr wahrheitsliebend und aufrichtig und benahm sich schlicht, aber würdig. Was aber ihr innerstes Gewissen anlangt, so fürchtete sie sich nicht, in dasselbe hineinzublicken, und machte sich nicht den geringsten Vorwurf. Und dadurch wuchs ihre Kraft noch mehr. Nur eins, was ihr mißfiel, bemerkte sie manchmal an sich: daß auch sie sehr viel Ehrgeiz besaß, sich gelegentlich ärgerte und in ihrer Eitelkeit verletzt fühlte; besonders bemerkte sie das zu bestimmten Zeiten, und zwar fast jedesmal, wenn sie von Jepantschins fortging. So kehrte sie auch jetzt von ihnen heim und, wie wir schon gesagt haben, in nachdenklicher, trüber Stimmung. In dieser trüben Stimmung lag auch eine gewisse spöttische Bitterkeit. Ptizyn bewohnte in Pawlowsk ein unansehnliches, aber geräumiges Holzhaus, das an einer staubigen Straße gelegen war und demnächst in seinen vollen Besitz übergehen sollte, so daß er seinerseits es schon wieder einem Dritten zum Kauf angeboten hatte. Als Warwara Ardalionowna die Freitreppe hinaufstieg, hörte sie oben im Haus einen ungewöhnlichen Lärm und unterschied die schreienden Stimmen ihres Bruders und ihres Vaters. In den Salon eintretend, sah sie Ganja, der, ganz blaß vor Wut, im Zimmer auf und ab lief und sich beinah die Haare ausriß; sie runzelte bei diesem Anblick die Stirn und ließ sich mit müder Miene auf das Sofa sinken, ohne den Hut abzunehmen. Sie wußte ganz genau, daß, wenn sie noch ungefähr eine Minute lang schwieg und ihren Bruder nicht fragte, warum er so umherlaufe, dieser mit Sicherheit darüber in Zorn geraten würde; daher beeilte sie sich schließlich, in Form einer Frage zu sagen: »Immer noch die alte Geschichte?« »Ach was, die alte Geschichte!« rief Ganja. »Die alte Geschichte! Nein, weiß der Teufel, was jetzt hier vorgeht! Etwas Neues! Der Alte ist ganz rasend geworden... die Mutter heult. Wahrhaftig, Warja, rede, was du willst, aber ich werde ihn aus dem Hause jagen oder... oder selbst von euch wegziehen«, fügte er hinzu, wahrscheinlich weil ihm einfiel, daß man aus einem fremden Haus niemand wegjagen kann. »Man muß doch Nachsicht haben«, murmelte Warja. »Nachsicht womit? Mit wem?« fuhr Ganja auf. »Mit seinen Gemeinheiten? Nein, da kannst du reden, was du willst, aber das geht so nicht länger! Unmöglich, unmöglich, unmöglich! Und was ist das für eine Manier: er ist schuld und trumpft dabei noch auf. Wie ein störrisches Tier: ›Ich will nicht ins Tor, reiß den Zaun nieder!‹ Warum sitzt du so da? Was machst du denn für ein Gesicht?« »Mein Gesicht ist wie immer«, erwiderte Warja mißvergnügt. Ganja sah sie genauer an. »Bist du dort gewesen?« fragte er plötzlich. »Ja.« »Warte, da schreit er wieder! Es ist eine Schande, und noch dazu um diese Zeit!« »Was meinst du damit: ›um diese Zeit‹? Es ist doch keine besondere Zeit.« Ganja betrachtete seine Schwester noch aufmerksamer. »Hast du etwas erfahren?« fragte er. »Nein, wenigstens nichts Überraschendes. Ich habe erfahren, daß das alles seine Richtigkeit hat. Mein Mann hat gegen uns beide recht behalten; es ist so gekommen, wie er es gleich von Anfang an vorhergesagt hat. Wo ist er eigentlich?« »Er ist nicht zu Hause. Was ist geschehen?« »Der Fürst ist regulärer Bräutigam, die Sache ist entschieden. Die beiden älteren Schwestern haben mir gesagt, Aglaja habe eingewilligt; sie verheimlichen es nicht einmal mehr. (Vorher haben sie immer sehr geheimnisvoll getan.) Adelaidas Hochzeit wird von neuem verschoben, damit beide Hochzeiten gleichzeitig gefeiert werden können, an demselben Tag, – sehr romantisch! Es mutet einen ganz poetisch an. Du solltest lieber ein Hochzeitsgedicht verfassen, statt so unnütz im Zimmer umherzulaufen. Heute abend wird die alte Bjelokonskaja bei ihnen sein, sie ist gerade zur rechten Zeit angekommen; es werden auch noch mehr Gäste da sein. Sie werden ihn der alten Bjelokonskaja vorstellen, obwohl er schon mit ihr bekannt ist; es scheint, daß die Verlobung bekanntgemacht werden soll. Sie fürchten nur, daß er irgend etwas hinfallen läßt oder zerschlägt, wenn er zu den Gästen ins Zimmer kommt, oder auch, daß er selbst hinplumpst, denn auf so etwas kann man sich gefaßt machen.« Ganja hörte sehr aufmerksam zu, aber zur Verwunderung seiner Schwester übte diese ihrer Meinung nach für ihn überraschende Nachricht anscheinend auf ihn gar keine besonders überraschende Wirkung aus. »Nun gut, das war ja schon lange klar«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Also nun ist das zu Ende!« fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu, indem er seiner Schwester verschmitzt ins Gesicht sah und immer noch fortfuhr, im Zimmer auf und ab zu gehen, allerdings viel langsamer. »Es ist nur gut, daß du es mit philosophischer Ruhe aufnimmst, ich freue mich darüber wirklich«, sagte Warja. »Nun sind wir eine Last von den Schultern los, wenigstens du.« »Ich glaube, dir aufrichtig gedient zu haben, ohne mich mit meinem eigenen Urteil einzumischen und ohne dich mit Fragen zu belästigen; ich habe dich nicht gefragt, welches Glück du an Aglajas Seite zu finden hofftest.« »Aber habe ich denn überhaupt... ein Glück an Aglajas Seite zu finden gehofft?« »Na, laß dich bitte nicht auf philosophische Betrachtungen ein! Jedenfalls ist es jetzt so. Wir haben verspielt und ziehen mit langer Nase ab. Ich muß dir gestehen, ich habe diese Sache nie als etwas Ernstes betrachten können, ich habe sie nur so ›für alle Fälle‹ betrieben und dabei auf den komischen Charakter des Mädchens gebaut, vor allen Dingen aber wollte ich dir eine Freude machen; die Wahrscheinlichkeit, daß es mißlingen würde, betrug neunzig Prozent. Ich für meine Person weiß sogar jetzt nicht einmal, was du eigentlich angestrebt hast.« »Jetzt werdet ihr, du und dein Mann, mich dazu drängen, wieder in den Dienst zu treten, und werdet mir Predigten über Beharrlichkeit und Willenskraft halten, und daß man das Kleine nicht geringschätzen dürfe und so weiter. Ich weiß es schon auswendig!« sagte Ganja lachend. ›Er hat irgend etwas Neues im Sinn!‹ dachte Warja. »Nun, wie steht es jetzt dort? Die Eltern freuen sich wohl?« fragte Ganja plötzlich. »Es scheint nicht. Übrigens kannst du dir das ja selbst zurechtlegen. Iwan Fjodorowitsch ist zufrieden; die Mutter ist ängstlich; sie hat bekanntlich von jeher einen Widerwillen gegen die Vorstellung gehabt, daß er der Bräutigam ihrer Tochter werden könnte.« »Danach frage ich nicht; er ist ein unmöglicher, undenkbarer Bräutigam, das ist klar. Ich frage nach der jetzigen Situation, wie es jetzt dort steht. Hat sie ihr formelles Jawort gegeben?« »Sie hat bis jetzt nicht nein gesagt, das ist alles, aber etwas anderes war ja von ihr auch nicht zu erwarten. Du weißt, daß sie von jeher bis zur Verdrehtheit blöde und schüchtern war: als Kind stieg sie in einen Schrank und saß da zwei, drei Stunden lang, um nur nicht zu den Gästen hineingehen zu müssen; nun ist sie eine große Göre geworden, aber es ist mit ihr immer noch dieselbe Geschichte. Weißt du, ich denke, daß es sich da wirklich auch von ihrer Seite um ein ernsthaftes Gefühl handelt. Allerdings macht sie sich, wie mir gesagt wird, über den Fürsten vom Morgen bis zum Abend aus Leibeskräften lustig, um sich nichts anmerken zu lassen; aber gewiß weiß sie ihm täglich im stillen etwas Angenehmes zu sagen, denn er geht umher wie im Himmel und strahlt ordentlich... Er soll furchtbar komisch aussehen. Das habe ich von den beiden älteren Schwestern gehört. Es schien mir auch, als ob diese sich direkt über mich lustig machten.« Ganja machte endlich ein finsteres Gesicht; vielleicht vertiefte sich Warja absichtlich in dieses Thema, um in seine wahren Gedanken einzudringen. Aber jetzt erscholl oben wieder Geschrei. »Ich werde ihn aus dem Hause jagen!« brüllte Ganja, als freute er sich, seinem Ärger Luft machen zu können. »Dann wird er wieder hingehen und uns überall blamieren wie gestern.« »Was meinst du mit ›wie gestern‹? Was soll das heißen: ›wie gestern‹? Ist er etwa ...«, fragte Ganja, der plötzlich einen gewaltigen Schreck bekam. »Ach, mein Gott, weißt du es denn nicht?« fragte Warja erschrocken. »Wie... also ist es wirklich wahr, daß er dort gewesen ist?« rief Ganja, der vor Scham und Wut ganz rot wurde. »O Gott, du kommst ja von dort! Hast du etwas erfahren? Ist der Alte dagewesen? War er da oder nicht?« Ganja stürzte nach der Tür; Warja lief zu ihm hin und ergriff ihn mit beiden Händen. »Was hast du? Wo willst du hin?« sagte sie. »Wenn du ihn jetzt hinausläßt, wird er bei allen Menschen herumlaufen und noch schlimmere Dinge anrichten!« »Was hat er denn dort angerichtet? Was hat er gesagt?« »Sie haben es selbst nicht recht begriffen und konnten es mir nicht ordentlich wiedererzählen; nur hat er alle in Angst versetzt. Er wollte zu Iwan Fjodorowitsch, aber der war nicht zu Hause; dann verlangte er Lisaweta Prokofjewna zu sprechen. Zuerst bat er sie um eine Stelle, er wolle wieder in den Dienst treten, und dann fing er an, sich über uns zu beklagen, über mich, über meinen Mann, namentlich aber über dich... er hat alles mögliche zusammengeredet.« »Du hast es nicht erfahren können?« fragte Ganja, krampfhaft zitternd. »Wie wäre das möglich! Er hat selbst kaum verstanden, was er redete; und vielleicht haben sie mir auch nicht alles wiedererzählt.« Ganja griff sich an den Kopf und lief zum Fenster; Warja setzte sich an das andere Fenster. »Wie komisch Aglaja ist«, bemerkte sie plötzlich. »Als ich weggehen wollte, hielt sie mich noch zurück und sagte zu mir: ›Übermitteln Sie Ihren Eltern den Ausdruck meiner besonderen persönlichen Hochachtung; ich werde in diesen Tagen gewiß Gelegenheit finden, mit Ihrem Papa zu sprechen.‹ Und das sagte sie ganz ernst. Es war sehr merkwürdig ...« »Nicht spöttisch? Nicht spöttisch?« »Das ist es eben, daß sie es nicht spöttisch sagte; darum war es so merkwürdig.« »Weiß sie, was der Alte gemacht hat, oder nicht? Was meinst du?« »Daß es bei ihnen nicht die ganze Familie weiß, scheint mir sicher, aber du bringst mich da auf einen Gedanken: vielleicht weiß es Aglaja. Und sie wird die einzige sein, die es weiß, denn auch die Schwestern waren verwundert, als sie mir mit solchem Ernst eine Empfehlung an den Vater auftrug. Und warum gerade an ihn? Wenn sie es weiß, dann muß es ihr der Fürst gesagt haben!« »Es wird kein Kunststück sein, herauszubringen, wer es ihr gesagt hat! Ein Dieb! Das fehlte noch! Ein Dieb in unserer Familie, das ›Oberhaupt der Familie‹!« »Ach, dummes Zeug!« rief Warja ganz ärgerlich. »Gerede Betrunkener, weiter nichts! Und wer hat es aufgebracht? Lebedew und der Fürst ... selbst eine nette Sorte; gerade die rechten Kirchenlichter. Ich mache mir auch nicht so viel daraus.« »Der Alte ein Dieb und Trunkenbold«, fuhr Ganja bitter fort, »ich ein Bettler, der Mann meiner Schwester ein Wucherer – das wäre etwas für Aglaja gewesen! Das muß man sagen: eine angenehme Sippschaft!« »Und doch ist es dieser Mann deiner Schwester, der Wucherer, der dich...« »Ernährt, nicht wahr? Bitte geniere dich nicht!« »Warum bist du denn so ärgerlich?« erwiderte Warja. »Du verstehst auch gar nichts, du bist wie ein Schuljunge. Du meinst, all das hätte dir in Aglajas Augen schaden können? Da kennst du ihren Charakter schlecht; die wäre imstande, sich von dem besten Bewerber abzuwenden und mit Vergnügen zu irgendeinem Studenten auf die Dachkammer zu laufen, um da Hungers zu sterben, – das ist ihr Traum! Du hast nie begreifen können, wie interessant du in ihren Augen geworden wärest, wenn du es verstanden hättest, unsere kümmerliche Lage mit Festigkeit und Stolz zu ertragen. Bei dem Fürsten hat sie angebissen, erstens weil er es nicht darauf angelegt hatte, sie zu fangen, und zweitens weil er in den Augen aller ein Idiot ist. Schon allein, daß sie um seinetwillen ihre Familie in Aufregung versetzt, schon das ist ihr jetzt eine Freude. Ach, ihr versteht aber auch gar nichts!« »Nun, das wollen wir noch sehen, ob wir etwas verstehen oder nicht«, murmelte Ganja rätselhaft. »Aber ich möchte doch nicht, daß sie das von dem Alten erfährt. Ich hatte gemeint, der Fürst würde sich beherrschen und es nicht weitererzählen. Er hat auch Lebedew veranlaßt, darüber zu schweigen, und wollte auch mir nicht alles sagen, als ich in ihn drang...« »Also siehst du selbst, daß auch auf anderen Wegen alles schon bekanntgeworden ist. Was willst du jetzt noch weiter? Worauf hoffst du noch? Wenn dir überhaupt noch eine Hoffnung bliebe, so würde gerade dieser Vorfall dir nützen, indem er dir in ihren Augen das Ansehen eines Märtyrers verleihen würde.« »Na, vor einem Skandal würde wohl auch sie zurückschrecken, trotz all ihrer Romantik. Es hat alles seine Grenzen, und alle Menschen gehen nur bis zu einem bestimmten Punkt, so seid ihr alle.« »Aglaja würde zurückschrecken?« versetzte Warja heftig und blickte ihren Bruder geringschätzig an. »Hast du eine niedrige Denkungsart! Ihr seid allesamt nichts wert. Mag sie auch eine komische, wunderliche Person sein, aber dafür hat sie eine tausendmal anständigere Gesinnung als wir alle zusammen!« »Na, schon gut, schon gut, ärgere dich nur nicht!« murmelte Ganja wieder selbstzufrieden. »Mir tut nur die Mutter leid«, fuhr Warja fort. »Ich fürchte, daß diese Geschichte mit dem Vater ihr zu Ohren kommt. Ach ja, das fürchte ich!« »Das ist gewiß schon geschehen«, bemerkte Ganja. Warja stand auf, um zu Nina Alexandrowna nach oben zu gehen, blieb aber dann noch stehen und blickte ihren Bruder aufmerksam an. »Wer kann es aber gewesen sein, der es ihr gesagt hat?« »Wahrscheinlich Ippolit. Ich denke mir, er hat sich sofort, nachdem er zu uns übergesiedelt ist, eine Freude daraus gemacht, es der Mutter zu berichten.« »Aber woher weiß er es denn? Das sag mir bitte! Der Fürst und Lebedew haben sich vorgenommen, es niemandem zu sagen, sogar Kolja weiß nichts davon.« »Ippolit? Der hat es von selbst erfahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine listige Kreatur ist, was für ein Klatschweib, und was er für eine feine Nase hat, um alles Schlechte und Skandalöse zu wittern. Na, du magst es glauben oder nicht, ich bin überzeugt, daß er Aglaja schon ganz in seinen Händen hat! Und wenn es ihm noch nicht gelungen ist, so wird es ihm bald gelingen! Auch Rogoshin ist zu ihm in Beziehung getreten. Wie ist es nur möglich, daß der Fürst das nicht merkt! Und jetzt hat er die größte Lust, mich hineinzulegen! Er hält mich für seinen persönlichen Feind, das habe ich längst durchschaut. Warum nur? Und was hat er hier noch vor? Er wird ja bald sterben, – ich kann es nicht begreifen! Aber ich werde ihn hinters Licht führen; du wirst sehen, daß nicht er mich hineinlegt, sondern ich ihn.« »Warum hast du ihn denn zu uns herübergelockt, wenn du ihn so haßt? Und ist er das überhaupt wert, daß du ihn hineinlegst?« »Du bist es ja gewesen, die mir geraten hat, ihn zu uns herüberzulocken.« »Ich glaubte, er würde uns nützlich sein; aber weißt du, daß er sich jetzt selbst in Aglaja verliebt und an sie geschrieben hat? Sie haben mich danach gefragt... fast hätte er auch noch an Lisaweta Prokofjewna geschrieben.« »In dieser Hinsicht ist er nicht gefährlich!« sagte Ganja, boshaft lachend. »Übrigens ist da sicherlich etwas nicht in Ordnung. Daß er verliebt ist, ist sehr wohl möglich, denn er ist ein unreifes Bürschchen! Aber... anonyme Briefe wird er der Alten nicht schreiben. Eine boshafte, wertlose, selbstzufriedene Mittelmäßigkeit, das ist seine Charakteristik... Ich bin überzeugt, ja ich weiß sicher, daß er mich ihr als Intriganten geschildert hat; das ist das erste gewesen, was er getan hat. Ich muß bekennen, ich bin zuerst dumm genug gewesen, ihm zuviel von mir zu erzählen; ich meinte, er werde, schon um sich an dem Fürsten zu rächen, für meine Interessen eintreten; er ist eine so listige Kreatur! Oh, ich habe ihn jetzt völlig durchschaut. Von diesem Diebstahl aber hat er durch seine Mutter, die Hauptmannsfrau, gehört. Wenn der Alte sich zu einer solchen Tat hat entschließen können, so hat er es wegen der Hauptmannsfrau getan. Der Junge hat mir auf einmal ohne äußeren Anlaß mitgeteilt, der General habe seiner Mutter vierhundert Rubel versprochen; das hat er mir ohne äußeren Anlaß gesagt und ohne alle Umschweife. Da ist mir alles klargeworden. Und dabei hat er mir mit einem ganz besonderen Genuß in die Augen gesehen, und unserer Mama hat er es sicherlich ebenfalls gesagt, nur weil es ihm Vergnügen macht, ihr das Herz zu zerreißen. Und sage mir um alles in der Welt, warum stirbt er nicht? Er hat sich doch verpflichtet, in drei Wochen zu sterben, und nun hat er hier noch angefangen, dick zu werden! Er hört auf zu husten; gestern abend hat er selbst gesagt, er habe seit zwei Tagen kein Blut mehr gehustet.« »Jag ihn weg!« »Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn«, erwiderte Ganja stolz. »Nun ja, ja, ich gebe zu, daß ich ihn auch hasse!« rief er dann plötzlich in maßloser Wut. »Und das werde ich ihm ins Gesicht sagen, wenn er auf seinem Sterbebett in den letzten Zügen liegen wird! Wenn du seine Beichte gelesen hättest – o Gott, was für eine naive Frechheit! Das ist ja der Leutnant Pirogow, das ist Nosdrjow in einer Tragödie, und vor allen Dingen ein unreifer Bube! Oh, mit welchem Genuß hätte ich ihn damals durchgeprügelt, namentlich um ihn in Erstaunen zu versetzen! Jetzt rächt er sich an allen dafür, daß ihm sein Selbstmord damals nicht gelungen ist... Aber was ist das? Das ist ja schon wieder Spektakel! Ja, was hat denn das zu bedeuten? Ich kann das schließlich doch nicht länger dulden. Ptizyn!« rief er dem ins Zimmer tretenden Ptizyn zu. »Was ist denn das? Wie weit wird denn dieser Unfug bei uns noch gehen? Das... das ...« Aber der Lärm kam schnell näher; die Tür wurde aufgerissen, und der alte Iwolgin, vor Zorn dunkelrot und zitternd, stürzte ganz außer sich ebenfalls auf Ptizyn los. Dem Alten folgten Nina Alexandrowna, Kolja und hinter allen Ippolit. II Ippolit war schon vor fünf Tagen in Ptizyns Haus übergesiedelt. Das hatte sich in ganz natürlicher Weise so ergeben, ohne viele Worte und ohne irgendwelches Zerwürfnis zwischen ihm und dem Fürsten; sie hatten sich nicht gezankt, sondern waren sogar äußerlich als gute Freunde voneinander geschieden. Gawrila Ardalionowitsch, der an dem damaligen Abend eine so feindliche Haltung gegen Ippolit eingenommen hatte, war schon am dritten Tag nach jenem Ereignis gekommen, um den Kranken zu besuchen, wobei er sich wahrscheinlich durch irgendeinen Einfall leiten ließ, der ihm plötzlich gekommen war. Aus irgendeinem Grund hatte auch Rogoshin angefangen, dem Kranken Besuche zu machen. Der Fürst war in der ersten Zeit der Meinung gewesen, daß es für den »armen Knaben« sogar das beste sein würde, wenn er aus seinem Hause wegzöge. Aber schon während seines Umzuges hatte sich Ippolit dahin geäußert, er siedele zu Ptizyn über, der »so freundlich« sei, ihm »Unterkunft zu gewähren«, und hatte wie mit Absicht niemals gesagt, er ziehe zu Ganja, obgleich gerade Ganja darauf gedrungen hatte, daß er ins Haus aufgenommen wurde. Ganja hatte das gleich damals beachtet, es übelgenommen und sich ins Gedächtnis eingeprägt. Er hatte recht, als er zu seiner Schwester sagte, der Kranke habe sich erholt. Tatsächlich ging es Ippolit etwas besser als vorher, was man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte. Er trat langsam in das Zimmer ein, hinter den andern, mit einem spöttischen, häßlichen Lächeln auf dem Gesicht. Nina Alexandrowna sah sehr erschrocken aus. (Sie hatte sich im letzten halben Jahr sehr verändert, sie war stark abgemagert; seit sie ihre Tochter verheiratet hatte und zu ihr gezogen war, hatte sie fast ganz aufgehört, sich äußerlich in die Angelegenheiten ihrer Kinder einzumischen.) Koljas Miene war sorgenvoll und zeigte verständnislose Verwunderung; er begriff vieles von den »irren Reden« des Generals nicht, wie er sich ausdrückte, und das war auch natürlich, da er die Hauptursachen dieser neuen Aufregung in der Familie nicht kannte. Aber es war ihm klar, daß der Vater jetzt Stunde für Stunde und überall dermaßen krakeelte und sich auf einmal so stark verändert hatte, daß man meinen konnte, er sei ein ganz anderer Mensch geworden. Es beunruhigte ihn auch, daß der Alte in den letzten drei Tagen ganz aufgehört hatte zu trinken. Er wußte, daß er sich mit Lebedew und dem Fürsten überworfen und sogar gezankt hatte. Kolja war soeben mit einer Flasche Branntwein nach Hause zurückgekehrt, die er für sein eigenes Geld gekauft hatte. »Wirklich, Mama«, hatte er noch oben zu Nina Alexandrowna gesagt, »wirklich, mag er lieber trinken! Er hat jetzt schon seit drei Tagen keinen Branntwein angerührt; er muß einen stillen Kummer haben. Wirklich, wir wollen ihn lieber trinken lassen; ich habe ihm ja auch ins Schuldgefängnis Branntwein gebracht...« Der General öffnete die Tür sperrangelweit und stellte sich, zitternd vor Entrüstung, auf die Schwelle. »Mein Herr!« schrie er mit donnernder Stimme seinem Schwiegersohn Ptizyn zu, »wenn Sie tatsächlich beschlossen haben, einen achtenswerten alten Mann, Ihren Vater, das heißt wenigstens den Vater Ihrer Frau, der seinem Kaiser treu gedient hat, so einem Milchbart und Atheisten aufzuopfern, so wird mein Fuß von dieser Stunde an die Schwelle Ihres Hauses nie wieder betreten. Wählen Sie, mein Herr, wählen Sie unverzüglich: entweder ich oder dieser... dieser Bohrer! Ja, dieser Bohrer! Der Ausdruck ist mir zufällig in den Mund gekommen, aber er ist ein Bohrer! Denn er wühlt wie ein Bohrer in meiner Seele herum, ohne allen Respekt... ja, wie ein Bohrer!« »Bin ich nicht eher ein Korkenzieher?« fragte Ippolit. »Nein, kein Korkenzieher, denn du hast einen General vor dir und keine Flasche. Ich besitze Orden und Ehrenzeichen, aber du, du hast nichts, gar nichts. Entweder er oder ich! Entscheiden Sie sich, mein Herr, sofort, sofort!« schrie er Ptizyn wieder wütend an. In diesem Augenblick stellte ihm Kolja einen Stuhl hin, und er sank fast ganz erschöpft auf ihn nieder. »Es wäre wirklich das beste, wenn Sie sich schlafen legten«, murmelte Ptizyn, der ganz betäubt war. »Er droht noch!« sagte Ganja halblaut zu seiner Schwester. »Schlafen legen!« schrie der General. »Ich bin nicht betrunken, mein Herr, Sie beleidigen mich. Ich sehe«, fuhr er, wieder aufstehend, fort, »ich sehe, daß hier alle gegen mich sind, alle. Genug! Ich gehe ... Aber wissen Sie, mein Herr, wissen Sie...« Man ließ ihn nicht zu Ende reden und veranlaßte ihn, sich wieder hinzusetzen; man bat ihn, sich zu beruhigen. Ganja ging wütend in eine Ecke. Nina Alexandrowna zitterte und weinte. »Aber was habe ich ihm denn getan? Worüber beklagt er sich denn?« rief Ippolit grinsend. »Sie hätten ihm nichts getan?« sagte Nina Alexandrowna. »Es ist von Ihnen eine besondere Schändlichkeit und... Unmenschlichkeit, einen alten Mann zu quälen... und noch dazu in Ihrer Lage.« »Erstens, von welcher Art ist denn meine Lage? Ich schätze Sie, gerade Sie persönlich, sehr hoch, aber...« »Er ist ein Bohrer!« schrie der General. »Er bohrt in meiner Seele und meinem Herzen herum! Er will, daß ich an den Atheismus glauben soll! Weißt du wohl, du Milchbart, daß ich schon mit Ehren überschüttet war, als du noch gar nicht geboren warst! Du bist weiter nichts als ein neidischer Wurm, der in zwei Stücke zerrissen ist und hustet... und vor Bosheit und Unglauben stirbt... Warum hat dich Ganja bloß hierhergebracht? Alle sind sie gegen mich, von den Fremden angefangen bis zu meinem eigenen Sohn!« »So hören Sie doch auf mit dem falschen Pathos!« rief Ganja. »Sie sollten nicht in der ganzen Stadt Schande über uns bringen, das wäre besser!« »Wie? Ich bringe Schande über dich, du Milchbart? Über dich? Ich kann dir nur Ehre bringen, aber keine Unehre!« Er sprang auf und war nicht mehr zu halten, aber auch Gawrila Ardalionowitsch hatte offenbar alle Selbstbeherrschung verloren. »Sie reden noch von Ehre!« rief er boshaft. »Was hast du gesagt?« donnerte der General, der blaß wurde und einen Schritt auf ihn zutrat. »Ich brauche ja nur den Mund aufzutun, um...«, schrie Ganja, ohne den Satz zu Ende zu sprechen. Beide standen einander gegenüber; sie zitterten vor Wut, besonders Ganja. »Ganja, was sprichst du da!« rief Nina Alexandrowna und stürzte auf ihren Sohn zu, um ihn aufzuhalten. »So ein törichtes Gerede von allen Seiten!« sagte Warja entrüstet in scharfem Ton. »Hören Sie auf, Mama!« fügte sie hinzu und faßte ihre Mutter an. »Ich schone Sie nur um der Mutter willen!« rief Ganja pathetisch. »Rede!« brüllte der General in höchster Wut. »Rede! Ich befehle es unter Androhung meines väterlichen Fluches ... rede!« »Na, ich werde mich auch gerade vor Ihrem Fluch fürchten! Wer ist denn daran schuld, daß Sie seit acht Tagen wie verrückt sind? Seit acht Tagen; Sie sehen, ich weiß alles genau dem Datum nach ... Nehmen Sie sich in acht und treiben Sie mich nicht zum Äußersten, sonst sage ich alles... Warum haben Sie sich denn gestern zu Jepantschins begeben? Und da bezeichnet er sich noch als alten Mann, spricht von seinen grauen Haaren und spielt sich als Familienvater auf! Ein netter Patron!« »Schweig still, Ganja!« rief Kolja. »Schweig still, du Dummkopf!« »Aber womit habe ich, ich ihn denn beleidigt?« fragte Ippolit hartnäckig, immer noch in demselben spöttischen Ton, »Warum nennt er mich einen Bohrer, wie Sie selbst gehört haben? Er hat sich selbst an mich herangemacht; er kam eben zu mir und fing an, von einem Hauptmann Jeropegow zu sprechen. Ich wünsche überhaupt nicht, mit Ihnen zu verkehren, General, ich bin Ihnen schon früher aus dem Weg gegangen, wie Sie selbst wissen. Sagen Sie selbst: was geht mich der Hauptmann Jeropegow an? Um des Hauptmanns Jeropegow willen bin ich nicht hierhergezogen. Ich habe ihm nur laut meine Meinung gesagt, daß dieser Hauptmann Jeropegow vielleicht überhaupt niemals existiert hat. Und da hat er einen Höllenlärm gemacht.« »Zweifellos hat er nicht existiert!« sagte Ganja in scharfem Ton. Der General stand wie betäubt und blickte nur gedankenlos rings um sich. Die Worte seines Sohnes verblüfften ihn durch ihre ungewöhnliche Offenheit. Im ersten Augenblick konnte er gar keine Worte finden. Erst als Ippolit über Ganjas Antwort laut auflachte und rief: »Na, nun haben Sie es gehört, Ihr eigener Sohn sagt auch, daß es keinen Hauptmann Jeropegow gegeben hat«, erst da murmelte der Alte endlich ganz verwirrt: »Kapiton Jeropegow, nicht Hauptmann Hauptmann heißt im Russischen kapitan, was hier zu einer Verwechselung mit dem Namen Kapiton führt. ... Kapiton... Oberstleutnant a. D., Jeropegow... Kapiton.« »Auch diesen Kapiton hat es nicht gegeben!« rief Ganja, der ganz außer sich war. »Aber... warum soll es ihn nicht gegeben haben?« murmelte der General, dem die Röte ins Gesicht stieg. »So lassen Sie es gut sein!« sagten Ptizyn und Warja beschwichtigend zu ihm. »Schweig, Ganja!« rief Kolja wieder. Aber der Umstand, daß sich jemand seiner annahm, hatte die Wirkung, daß der General wieder zu sich kam. »Wieso soll es ihn nicht gegeben haben? Warum soll er nicht existiert haben?« fuhr er seinen Sohn zornig an. »Ganz einfach, weil er nicht existiert hat. Er hat eben nicht existiert und kann überhaupt nicht existiert haben. Da haben Sie es! Lassen Sie mich in Ruhe, sage ich!« »Und das ist mein Sohn... das ist mein leiblicher Sohn, den ich... o Gott! Jeropegow, Jeroschka Jeropegow soll nicht existiert haben!« »Na, da sieht man's, bald heißt er Jeroschka, bald Kapiton!« warf Ippolit dazwischen. »Kapitoschka, mein Herr, Kapitoschka, nicht Jeroschka! Kapiton, Kapitän Alexejewitsch, hören Sie wohl, Kapiton ... Oberstleutnant... a. D. ... er heiratete Marja ... Marja ... Petrowna Su... Su... mein Freund und Kamerad... Sutugowa, als er sogar noch Fähnrich war! Ich habe mein Blut für ihn... mit meinem Leib gedeckt... dennoch gefallen. Kapitoschka Jeropegow soll nicht existiert haben, nicht auf der Welt gewesen sein!« Der General schrie vor Wut, aber so, daß man denken konnte, es ginge in dem Gespräch um die eine, bei seinem Geschrei aber um eine ganz andere Sache. Und wirklich hätte er zu anderer Zeit gewiß weit stärkere Beleidigungen ertragen, als es die Bemerkung über Kapiton Jeropegows Nichtexistenz war; er hätte wohl ein bißchen Geschrei erhoben, hätte eine Szene gemacht, wäre außer sich geraten, wäre aber doch schließlich nach seinem Zimmer hinaufgegangen, um sich schlafen zu legen. Aber das Menschenherz ist ein sonderbares Ding: jetzt traf es sich, daß gerade eine verhältnismäßig geringe Kränkung wie der Zweifel an Jeropegows Existenz das Gefäß zum Überlaufen bringen mußte. Der Alte wurde purpurrot, hob die Arme in die Höhe und schrie: »Genug! Mein Fluch... hinaus aus diesem Hause! Nikolai, bring meine Reisetasche, ich gehe... ich will fort!« Eilig, in höchstem Zorn, ging er hinaus. Nina Alexandrowna, Kolja und Ptizyn stürzten ihm nach. »Na, was hast du jetzt angerichtet!« sagte Warja zu ihrem Bruder. »Er wird am Ende wieder dorthin gehen. Welche Schande! Welche Schande!« »Er hätte nicht stehlen sollen!« schrie Ganja, der beinah vor Wut erstickte; plötzlich begegnete sein Blick dem Blick Ippolits, und Ganja fing fast an zu zittern. »Sie aber, mein Herr«, schrie er, »sollten nicht vergessen, daß Sie hier in einem fremden Hause sind und... Gastfreundschaft genießen, und sollten nicht einen alten Mann reizen, der offenbar den Verstand verloren hat...« Ippolit war ebenfalls zusammengefahren, hatte aber sofort die Herrschaft über sich wiedergewonnen. »Ich kann Ihnen doch nicht ganz zustimmen, wenn Sie meinen, daß Ihr Papa den Verstand verloren hat«, antwortete er ruhig. »Es scheint mir im Gegenteil, daß sein Verstand in der letzten Zeit sogar zugenommen hat, wahrhaftig, glauben Sie es nicht? Er ist so vorsichtig und argwöhnisch geworden, immer sucht er einen auszuforschen, jedes Wort wägt er ab... daß er mit mir von diesem Kapiton zu reden anfing, dabei hatte er eine besondere Absicht; stellen Sie sich nur vor: er wollte mich darauf bringen, daß...« »Zum Teufel, was kümmert es mich, worauf er Sie bringen wollte! Ich bitte Sie, mir gegenüber keine listigen Kunstgriffe zur Anwendung zu bringen, mein Herr!« knirschte Ganja. »Wenn Sie gleichfalls den wahren Grund kennen, weshalb der Alte sich in diesem Zustand befindet (und Sie haben in diesen fünf Tagen so um mich herumspioniert, daß Sie ihn wahrscheinlich kennen), so sollten Sie doch den... Unglücklichen nicht reizen und meine Mutter nicht durch Übertreibung der Geschichte quälen, denn die ganze Geschichte ist dummes Zeug, nur Gerede Betrunkener, weiter nichts. Gerede, das durch nichts bewiesen ist und auf das ich nicht einen Pfifferling gebe... Aber Sie müssen immer spionieren und giftige Reden führen, weil Sie... weil Sie...« »Weil ich ein Bohrer bin«, fiel Ippolit lächelnd ein. »Weil Sie ein Lump sind. Eine halbe Stunde lang haben Sie die Gesellschaft gepeinigt, indem Sie meinten, Sie könnten sie dadurch erschrecken, daß Sie sich mit Ihrer ungeladenen Pistole totschießen würden, mit der Sie sich so schändlich blamiert haben, Sie erfolgloser Selbstmörder, Sie übergelaufene Galle... auf zwei Beinen. Ich habe Ihnen Gastfreundschaft gewährt, Sie sind hier dick geworden, haben aufgehört zu husten, und nun danken Sie es mir so...« »Nur zwei Worte, wenn Sie erlauben; ich wohne bei Warwara Ardalionowna und nicht bei Ihnen; Sie haben mir keinerlei Gastfreundschaft erwiesen; ich glaube sogar, daß Sie selbst Herrn Ptizyns Gastfreundschaft genießen. Vor vier Tagen habe ich meine Mutter gebeten, in Pawlowsk eine Wohnung für mich zu suchen und selbst hierher überzusiedeln, weil ich mich hier tatsächlich wohler fühle, obgleich ich keineswegs dicker geworden bin und immer noch huste. Meine Mutter hat mich gestern abend benachrichtigt, daß die Wohnung bereitstehe, und ich beeile mich meinerseits, Ihnen mitzuteilen, daß ich mich noch heute bei Ihrer Mama und bei Ihrer Schwester bedanken und in meine eigene Wohnung übersiedeln werde, wozu ich mich schon gestern abend entschlossen habe. Entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen; Sie wollten, wie es scheint, noch viel sagen.« »Oh, wenn es so ist...«, begann Ganja zitternd. »Wenn es so ist, so gestatten Sie, daß ich mich setze«, fügte Ippolit hinzu, indem er sich mit größter Seelenruhe auf den Stuhl niederließ, auf dem der General gesessen hatte. »Ich bin ja immerhin krank. Nun, jetzt bin ich bereit, Ihnen zuzuhören, um so mehr, als dies unser letztes Gespräch und vielleicht sogar unser letztes Zusammensein sein wird.« Ganja fing auf einmal an, sich zu schämen. »Sie können mir glauben, daß ich mich nicht dazu herablassen werde, mit Ihnen abzurechnen«, sagte er, »und wenn Sie...« »Es hat keinen Zweck, daß Sie sich aufs hohe Roß setzen«, unterbrach ihn Ippolit. »Ich meinerseits habe mir schon am ersten Tag, nachdem ich hierher übergesiedelt war, vorgenommen, mir nicht das Vergnügen zu versagen, Ihnen beim Abschied mit vollster Offenheit meine Meinung zu sagen. Ich beabsichtige, dies eben jetzt zu tun, selbstverständlich nach Ihnen.« »Und ich ersuche Sie, dieses Zimmer zu verlassen.« »Reden Sie lieber, sonst werden Sie bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben.« »Hören Sie auf, Ippolit, das alles ist ja unwürdig; tun Sie mir den Gefallen und hören Sie auf!« sagte Warja. »Höchstens der Dame zuliebe«, erwiderte Ippolit lachend und stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, Warwara Ardalionowna, bin ich Ihnen zuliebe bereit, mich kurz zu fassen, aber auch nur, mich kurz zu fassen, denn eine gewisse Auseinandersetzung zwischen mir und Ihrem Bruder ist durchaus notwendig, und ich werde mich unter keinen Umständen entschließen, beim Fortgehen hier eine Unklarheit zurückzulassen.« »Sie sind ganz einfach ein Klatschmaul!« rief Ganja. »Darum wollen Sie nicht weggehen, ohne Ihre Klatscherei vorgebracht zu haben!« »Sehen Sie wohl«, bemerkte Ippolit kaltblütig, »Sie haben schon jetzt die Selbstbeherrschung verloren. Wirklich, Sie werden es bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben. Ich trete Ihnen noch einmal das Wort ab. Ich werde warten.« Gawrila Ardalionowitsch schwieg und machte ein verächtliches Gesicht. »Sie wollen es nicht. Sie beabsichtigen, Ihrer Rolle treu zu bleiben, bitte sehr. Meinerseits werde ich mich möglichst kurz fassen. Ich habe heute zwei- oder dreimal einen Vorwurf wegen der genossenen Gastfreundschaft gehört; dieser Vorwurf ist ungerecht. Indem Sie mich zu sich einluden, warfen Sie selbst Ihr Netz nach mir aus; Sie spekulierten darauf, daß ich mich an dem Fürsten rächen wollte. Außerdem hatten Sie gehört, daß Aglaja Iwanowna ihre Teilnahme für mich ausgesprochen und meine Beichte gelesen hatte. Da Sie aus irgendeinem Grund darauf rechneten, daß ich mich ganz Ihren Interessen widmen würde, so hofften Sie, vielleicht in mir einen Helfer zu finden. Ich will mich nicht eingehender darüber aussprechen! Auch von Ihrer Seite verlange ich weder ein Bekenntnis noch eine Bestätigung; es genügt mir, Sie Ihrem eigenen Gewissen zu überlassen und festzustellen, daß wir einander jetzt vortrefflich verstehen.« »Aber Sie machen Gott weiß was aus einer ganz gewöhnlichen Sache!« rief Warja. »Ich habe dir ja gesagt: er ist ein Klatschmaul und ein unreifer Bube«, sagte Ganja. »Wenn Sie erlauben, Warwara Ardalionowna, werde ich fortfahren. Den Fürsten kann ich natürlich weder lieben noch hochachten, aber er ist wirklich ein guter Mensch, wenn auch recht lächerlich. Ihn jedoch zu hassen, habe ich absolut keinen Grund; ich habe Ihren Bruder von meiner Gesinnung nichts merken lassen, als er mich gegen den Fürsten aufzuhetzen suchte; ich rechnete eben darauf, ihn am Schluß der Komödie auszulachen. Ich wußte im voraus, daß Ihr Bruder mir zuviel mitteilen und damit einen argen Fehler begehen würde. Und so kam es auch... Ich bin jetzt bereit, schonend mit ihm zu verfahren, aber einzig und allein aus Hochachtung gegen Sie, Warwara Ardalionowna. Aber nachdem ich Ihnen dargelegt habe, daß ich nicht so leicht zu angeln bin, will ich Ihnen auch auseinandersetzen, warum ich Ihren Bruder in seinen eignen Augen als Dummkopf hinstellen wollte. Sie mögen wissen, daß ich es aus Haß tue, das gestehe ich offen. Schon fast sterbend (denn ich werde doch bald sterben, obwohl ich dicker geworden bin, wie Sie versichern), schon fast sterbend, fühlte ich, daß ich sehr viel ruhiger in das Paradies eingehen würde, wenn ich vorher wenigstens einen Vertreter jener zahllosen Menschenklasse als Dummkopf hinstellen könnte, die mich mein ganzes Leben lang verfolgt hat, die ich mein ganzes Leben lang gehaßt habe und für die Ihr hochgeehrter Bruder als hervorragendes Musterbeispiel dienen kann. Ich hasse Sie, Gawrila Ardalionowitsch, einzig deswegen (das kommt Ihnen vielleicht wunderlich vor), einzig deswegen, weil Sie ein Typ, eine Inkarnation, eine Verkörperung und der Gipfelpunkt der frechsten, selbstzufriedensten, gemeinsten, häßlichsten Mittelmäßigkeit sind! Sie sind die aufgeblasene Mittelmäßigkeit, die Mittelmäßigkeit, die in olympischer Ruhe an sich nicht zweifelt; Sie sind die allergewöhnlichste Gewöhnlichkeit! Nicht der kleinsten eigenen Idee ist es beschieden, jemals in Ihrem Geist oder Ihrem Herzen zu keimen. Aber Sie sind maßlos neidisch; Sie sind zwar fest davon überzeugt, daß Sie das größte Genie sind, aber in düsteren Stunden beschleicht Sie doch manchmal der Zweifel, und dann ärgern Sie sich und beneiden andere. Oh, es gibt für Sie noch schwarze Punkte am Horizont, sie werden vergehen, sobald Sie endgültig dumm geworden sind, was nicht mehr fern ist; aber Ihnen steht doch noch ein langer, vielgestaltiger Weg bevor, ich sage nicht, ein heiterer Weg, und freue mich darüber. Zunächst aber sage ich Ihnen voraus, daß Sie eine gewisse Person nicht gewinnen werden...« »Nein, das ist unerträglich!« rief Warja. »Sind Sie nun fertig, Sie widerwärtiger Bösewicht?« Ganja war blaß geworden, zitterte und schwieg. Ippolit blieb stehen, betrachtete ihn unverwandt und mit Genuß, ließ dann seine Blicke zu Warja hinübergleiten, lächelte, verbeugte sich und ging, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, hinaus. Gawrila Ardalionowitsch hätte sich mit Recht über sein Schicksal und das Mißlingen seiner Pläne beklagen können. Eine Weile mochte Warja ihn nicht anreden, ja sie sah ihn nicht einmal an, als er mit großen Schritten an ihr vorbeiging; schließlich trat er ans Fenster und drehte ihr den Rücken zu. Warja dachte an die russische Redensart vom »Stock mit den zwei Enden«. Oben war wieder Lärm zu hören. »Willst du gehen?« fragte plötzlich Ganja, der sich zu ihr umwandte, als er hörte, daß sie aufstand. »Warte noch einen Augenblick und sieh dir einmal dies hier an!« Er trat zu ihr heran und warf ein kleines, nach Art eines Briefchens zusammengelegtes Zettelchen vor ihr auf den Stuhl. »O Gott!« rief Warja und schlug die Hände zusammen. Das Billett enthielt nur wenige Zeilen: »Gawrila Ardalionowitsch! Da ich mich von Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich überzeugt habe, möchte ich Sie in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit um Rat fragen. Ich würde Sie gern morgen sprechen, Punkt sieben Uhr früh auf der grünen Bank. Das ist nicht weit von unserem Landhaus. Warwara Ardalionowna, die Sie unbedingt begleiten soll, kennt diesen Platz ganz genau. A. J.« »Daraus soll nun einer klug werden!« rief Warwara Ardalionowna, erstaunt die Arme ausbreitend. Obgleich Ganja in diesem Augenblick die größte Lust hatte zu prahlen, konnte er doch nicht umhin, sein Triumphgefühl merken zu lassen, noch dazu nach den demütigenden Prophezeiungen Ippolits. Ein selbstzufriedenes Lächeln glänzte unverhohlen auf seinem Gesicht, und selbst Warja strahlte vor Freude. »Und das schreibt sie gerade an dem Tag, an dem bei ihnen die Verlobung öffentlich bekanntgegeben wird! Da soll noch einer klug draus werden!« »Was meinst du, worüber sie morgen mit mir reden will?« fragte Ganja. »Das ist ganz gleich; die Hauptsache ist, daß sie dich nach sechs Monaten zum erstenmal wieder zu sehen wünscht. Höre auf mich, Ganja: um was es sich auch handeln und wie die Sache sich auch wenden mag, vergiß nicht, daß es für dich wichtig ist! Sehr wichtig! Spiele nicht wieder den Stolzen, mache nicht wieder Fehler, und hüte dich auch davor, ängstlich zu werden! Es hat ihr doch unmöglich entgehen können, zu welchem Zweck ich ein halbes Jahr lang immer hingekommen bin. Und kannst du dir das vorstellen: kein Wort hat sie mir heute davon gesagt, nichts hat sie sich merken lassen. Ich bin nämlich heimlich bei ihnen gewesen, die Alte hat nichts davon gewußt, daß ich da war, sonst hätte sie mich am Ende weggejagt. Ich habe es um deinetwillen riskiert hinzugehen, weil ich durchaus erfahren wollte...« Wieder erscholl von oben Geschrei und Lärm; mehrere Personen kamen die Treppe herunter. »Wir dürfen das jetzt um keinen Preis zulassen!« rief Warja hastig und ängstlich. »Es darf auch nicht die Spur von Skandal geben! Geh hin und bitte um Verzeihung!« Aber das Oberhaupt der Familie war schon auf der Straße. Kolja, der die Reisetasche trug, hinter ihm. Nina Alexandrowna stand auf der Treppe und weinte; sie wollte ihm nachlaufen, aber Ptizyn hielt sie zurück. »Sie fachen seinen Zorn dadurch nur noch mehr an«, sagte er zu ihr. »Er kann ja nirgends hingehen, in einer halben Stunde wird er wieder hierher zurückgebracht werden, ich habe schon mit Kolja darüber gesprochen; lassen Sie ihn nur seine Dummheit begehen!« »Was machen Sie denn für Streiche? Wo wollen Sie denn hin?« rief Ganja aus dem Fenster. »Sie können ja nirgends hingehen!« »Kommen Sie wieder zurück, Papa!« rief Warja. »Die Nachbarn werden aufmerksam.« Der General blieb stehen, wandte sich um, streckte den Arm aus und schrie: »Mein Fluch über dieses Haus!« »Anders als in diesem Theaterton kann er nicht reden!« murmelte Ganja und schlug das Fenster zu. Die Nachbarn hörten wirklich zu. Warja lief aus dem Zimmer. Als Warja hinausgegangen war, nahm Ganja den Zettel vom Tisch, küßte ihn, schnalzte mit der Zunge und machte einen kleinen Luftsprung. III Der Skandal mit dem General wäre zu jeder anderen Zeit spurlos im Sande verlaufen. Es waren bei ihm auch früher schon derartige Fälle von plötzlicher Störrigkeit vorgekommen, jedoch nur recht selten, da er im allgemeinen ein sehr friedlicher Mensch war und zur Gutherzigkeit neigte. Er hatte wohl hundertmal den Kampf mit der Verlotterung aufgenommen, die sich seiner in den letzten Jahren bemächtigt hatte. Er erinnerte sich dann plötzlich, daß er »der Vater der Familie« sei, versöhnte sich mit seiner Frau und vergoß aufrichtige Tränen. Er verehrte Nina Alexandrowna bis zur Vergötterung zum Dank dafür, daß sie ihm so vieles schweigend verzieh und ihn trotz seines clownhaften, unwürdigen Benehmens immer noch liebte. Aber dieser hochherzige Kampf mit der Verlotterung dauerte gewöhnlich nicht lange; der General war doch eine zu »impulsive« Natur, wenigstens in seiner Art; er konnte das ruhige Büßerleben in seiner Familie gewöhnlich nicht ertragen und revoltierte schließlich dagegen; er geriet dann in heftigen Zorn, über den er sich vielleicht selbst im gleichen Augenblick Vorwürfe machte, aber er konnte es eben nicht aushalten: er fing Streit an, begann hochmütige, pathetische Reden zu führen, verlangte seiner Person gegenüber einen maßlosen, ganz unmöglichen Respekt und verschwand schließlich aus dem Haus, manchmal sogar auf lange Zeit. In den letzten zwei Jahren hatte er von den Angelegenheiten seiner Familie nur ganz allgemein oder nur vom Hörensagen Kenntnis; sich näher darum zu kümmern, hatte er aufgegeben, da er dazu nicht die geringste Veranlagung verspürte. Aber dieses Mal war bei dem »Skandal mit dem General« etwas Besonderes hervorgetreten; alle schienen etwas zu wissen, wovon sie sich zu reden fürchteten. Der General war erst drei Tage vorher bei der Familie, das heißt bei Nina Alexandrowna, »formell« wieder erschienen, aber nicht in der demütigen, reuigen Stimmung, in der er sich in früheren Fällen immer »zurückzumelden« pflegte, sondern im Gegenteil in außerordentlich reizbarer Verfassung. Er war redselig und unruhig, knüpfte mit jedem, der ihm in den Weg kam, ein eifriges Gespräch an und stürzte sich dabei geradezu auf die Menschen, redete aber immer über so bunte, unerwartete Themen, daß man gar nicht begreifen konnte, was ihn eigentlich jetzt so aufregte. Zeitweilig war er heiter, meist aber nachdenklich, ohne daß er übrigens selbst gewußt hätte, worüber er nachdachte; auf einmal begann er etwas zu erzählen, von Jepantschins, vom Fürsten, von Lebedew, brach dann aber plötzlich wieder ab, hörte gänzlich auf zu reden, antwortete auf weitere Fragen nur mit einem stumpfsinnigen Lächeln, ohne übrigens zu bemerken, daß man ihn fragte und er lächelte. Die letzte Nacht hatte er ächzend und stöhnend verbracht und seine Frau, die ihm die ganze Nacht über heiße Umschläge gemacht hatte, halbtot gequält; erst gegen Morgen war er eingeschlafen, hatte vier Stunden lang geschlafen und war in einem Anfall von sehr starker, seltsamer Hypochondrie erwacht, die dann dazu führte, daß er mit Ippolit in Streit geriet und einen »Fluch über dieses Haus« aussprach. Es war auch aufgefallen, daß er in diesen drei Tagen beständig ein sehr starkes Ehrgefühl bekundete und infolgedessen ungewöhnlich empfindlich war. Kolja allerdings behauptete der Mutter gegenüber beharrlich, das sei alles nur Sehnsucht nach dem Alkohol und vielleicht nach Lebedew, mit dem sich der General in letzter Zeit außerordentlich angefreundet hatte. Aber drei Tage vorher hatte er sich mit Lebedew auf einmal heftig gezankt und sich in schrecklicher Wut von ihm getrennt, und sogar mit dem Fürsten hatte es eine Szene gegeben. Kolja hatte den Fürsten um Aufklärung gebeten und war schließlich auf die Vermutung gekommen, daß auch dieser ihm irgend etwas nicht sagen wollte. Wenn wirklich, wie Ganja mit größter Bestimmtheit annahm, ein besonderes Gespräch zwischen Ippolit und Nina Alexandrowna stattgefunden hatte, so war es doch merkwürdig, daß dieser boshafte Herr, den Ganja so geradezu ein Klatschmaul nannte, kein Vergnügen daran gefunden hatte, auch Kolja in derselben Weise aufzuklären. Sehr möglich, daß er gar kein boshafter »Bube« von der Art war, wie ihn Ganja in seinem Gespräch mit der Schwester geschildert hatte, sondern in anderer Weise boshaft; und er hatte auch Nina Alexandrowna eine gewisse von ihm gemachte Beobachtung wohl kaum nur zu dem Zweck mitgeteilt, »ihr das Herz zu zerreißen«. Wir wollen nicht vergessen, daß die Motive der menschlichen Handlungen gewöhnlich unendlich komplizierter und mannigfaltiger sind, als wir nachher immer glauben, und sich nur selten mit Sicherheit angeben lassen. Für den Erzähler ist es manchmal das beste, sich auf die einfache Darlegung der Tatsachen zu beschränken. So wollen wir auch bei der weiteren Darstellung der über den General hereingebrochenen Katastrophe verfahren, denn trotz alles Widerstrebens sehen wir uns doch in die Notwendigkeit versetzt, auch dieser Nebenfigur unserer Erzählung etwas mehr Aufmerksamkeit und Platz zuzugestehen, als wir bisher beabsichtigten. Die Ereignisse hatten sich in nachstehender Reihenfolge abgespielt. Als Lebedew von seiner Fahrt nach Petersburg, bei der er Nachforschungen nach Ferdyschtschenko hatte anstellen wollen, noch an demselben Tage mit dem General zurückgekehrt war, hatte er dem Fürsten nichts Besonderes mitgeteilt. Wäre der Fürst in jener Zeit nicht durch andere für ihn sehr wichtige Dinge abgelenkt und in Anspruch genommen worden, so hätte er bald bemerken müssen, daß auch an den beiden darauffolgenden Tagen Lebedew ihm nicht nur keine Aufklärung gab, sondern sogar im Gegenteil aus irgendeinem Grund einem Zusammentreffen mit ihm aus dem Weg ging. Als der Fürst schließlich doch darauf aufmerksam wurde, wunderte er sich darüber, daß an diesen beiden Tagen Lebedew bei zufälligen Begegnungen, wie er sich erinnerte, stets in der heitersten Stimmung und fast immer mit dem General zusammen gewesen war. Die beiden Freunde trennten sich keine Minute mehr. Der Fürst hörte mitunter lautes, eifriges Gespräch, das zu ihm von oben herunterdrang, und lachendes, munteres Disputieren; einmal sehr spätabends schlugen sogar plötzlich und unerwartet die Töne eines feuchtfröhlichen Soldatenliedes an sein Ohr, und er erkannte sofort die heisere Baßstimme des Generals. Aber das angestimmte Lied kam nicht recht in Gang und verstummte plötzlich wieder. Dann setzte sich ungefähr noch eine Stunde ein sehr lebhaftes Gespräch fort; nach allen Anzeichen zu urteilen, waren die Redenden bereits betrunken. Man konnte erraten, daß die beiden Freunde, die sich da oben vergnügten, einander umarmten und schließlich einer von ihnen zu weinen anfing. Dann folgte auf einmal ein heftiger Streit, der ebenfalls bald wieder verstummte. Diese ganzen Tage befand sich Kolja in besonders sorgenvoller Stimmung. Der Fürst war größtenteils nicht zu Hause und kehrte manchmal erst sehr spät zurück; dann wurde ihm immer gemeldet, Kolja habe ihn den ganzen Tag gesucht und nach ihm gefragt. Aber bei Begegnungen vermochte Kolja nichts Besonderes zu sagen, außer daß er mit dem General und dessen jetziger Aufführung sehr unzufrieden sei: »Sie treiben sich herum, betrinken sich nicht weit von hier in einer Schenke, umarmen und zanken sich auf der Straße, ärgern sich gegenseitig und können sich doch nicht voneinander trennen.« Als der Fürst ihm erwiderte, daß das auch früher fast täglich dieselbe Geschichte gewesen sei, wußte Kolja nicht, was er darauf antworten und wie er erklären sollte, weswegen er sich eigentlich jetzt so beunruhigte. An dem Morgen nach dem Trinklied und dem Streit wollte der Fürst gegen elf Uhr ausgehen, als plötzlich der General in großer Aufregung bei ihm erschien. »Ich habe lange nach einer Gelegenheit gesucht, wo ich die Ehre haben könnte, Sie zu sprechen, hochverehrter Lew Nikolajewitsch, schon lange, sehr lange«, murmelte er und drückte dem Fürsten so kräftig die Hand, daß es diesem beinahe weh tat. »Schon sehr, sehr lange.« Der Fürst bat ihn, Platz zu nehmen. »Nein, ich wollte mich nicht hinsetzen, ich halte Sie überdies auf, ein andermal. Wie es scheint, kann ich bei dieser Gelegenheit Ihnen auch zu der... Erfüllung... Ihrer Herzenswünsche gratulieren.« »Welcher Herzenswünsche?« Der Fürst wurde verlegen. Er hatte, wie viele Leute in seiner Lage, die Vorstellung, daß bestimmt niemand etwas sehe, errate oder verstehe. »Seien Sie ganz beruhigt, seien Sie ganz beruhigt! Ich werde Ihre zarten Gefühle nicht verletzen. Ich habe das selbst durchgemacht und weiß selbst, wie es ist, wenn ein Fremder... wie man sagt seine Nase... nach dem üblichen Ausdruck... da hineinsteckt, wo es nicht gewünscht wird. Ich mache diese Erfahrung jeden Morgen. Ich bin in einer andern, wichtigen Angelegenheit gekommen. In einer sehr wichtigen Angelegenheit, Fürst.« Der Fürst bat ihn noch einmal, sich zu setzen, und setzte sich selbst. »Nun, dann nur auf eine Sekunde... Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen. Ich habe jetzt bekanntlich keine praktische Tätigkeit; aber da ich mich selbst und meine den Russen im allgemeinen fehlende Geschäftstüchtigkeit wohl zu schätzen weiß... so möchte ich mich, meine Frau und meine Kinder in die Lage bringen... kurz gesagt, Fürst, ich möchte gern einen guten Rat haben.« Der Fürst spendete seiner Absicht warmes Lob. »Na, das ist alles nur dummes Zeug«, unterbrach ihn der General, »und, was die Hauptsache ist, ich will gar nicht davon, sondern von etwas anderem, Wichtigem reden. Und ich habe mich entschlossen, es gerade Ihnen auseinanderzusetzen, Lew Nikolajewitsch, als einem Menschen, von dessen Aufrichtigkeit und Edelsinn ich ebenso überzeugt bin wie... wie... Sie wundern sich doch nicht über meine Worte, Fürst?« Der Fürst betrachtete seinen Gast, wenn nicht mit besonderer Verwunderung, so doch mit großer Aufmerksamkeit und Neugier. Der Alte war etwas blaß, seine Lippen zuckten mitunter leicht, seine Hände schienen keinen Ruhepunkt finden zu können. Er saß erst einige Minuten und hatte sich während dieser Zeit bereits ein paarmal ohne Anlaß vom Stuhle erhoben und wieder hingesetzt, offenbar ohne diesen seinen Bewegungen die geringste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auf dem Tisch lagen Bücher; er nahm eines, warf, ohne sich im Reden zu unterbrechen, einen Blick auf die aufgeschlagene Seite, klappte es sofort wieder zu und legte es auf den Tisch zurück, ergriff ein anderes Buch, das er gar nicht mehr aufschlug, sondern die ganze übrige Zeit in der rechten Hand behielt, wobei er es unaufhörlich in der Luft umherschwenkte. »Genug!« rief er plötzlich. »Ich sehe, daß ich Sie sehr belästige.« »Aber durchaus nicht, ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen, im Gegenteil, ich bin ganz Ohr und würde gern erfahren ...« »Fürst, ich möchte mich in eine geachtete Position bringen... ich möchte gern mich selbst und... meine Rechte achten können.« »Wer einen solchen Wunsch hegt, verdient schon dafür alle Hochachtung.« Der Fürst sagte diesen Satz, einen Satz, wie sie in Schönschreibheften als Vorlage dienen, in der festen Überzeugung, daß er eine gute Wirkung haben würde. Er fühlte fast instinktiv, daß man durch eine solche hohle, aber schönklingende Phrase, wenn sie zur rechten Zeit ausgesprochen wurde, das Herz eines Menschen wie des Generals gewinnen und besänftigen konnte, namentlich wenn der Betreffende sich in solcher Lage befand wie der General. Jedenfalls mußte er erreichen, daß ein solcher Gast sich beim Weggehen leichter ums Herz fühlte, das war die Aufgabe. Die Redensart schmeichelte, rührte und gefiel sehr: der General wurde plötzlich gefühlvoll, änderte sofort seinen Ton und erging sich in langen, begeisterten Auseinandersetzungen. Aber wie sehr sich der Fürst auch beim Zuhören anstrengte, er konnte buchstäblich nichts verstehen. Der General redete etwa zehn Minuten lang eifrig und schnell, als wäre er gar nicht imstande, die sich massenhaft in seinem Kopf drängenden Gedanken zu bewältigen; gegen Ende blitzten sogar Tränen in seinen Augen, aber doch waren es nur Phrasen ohne Anfang und Ende, zusammenhanglose Worte und zusammenhanglose Gedanken, die rasch und in bunter Folge hervorstürzten und übereinander wegsprangen. »Genug! Sie haben mich verstanden, und ich bin beruhigt«, schloß er plötzlich und stand auf. »Ein Herz wie das Ihrige muß einen Leidenden verstehen. Fürst, Sie sind von einem idealen Edelsinn! Was sind alle andern gegen Sie? Aber Sie sind noch jung, und so erteile ich Ihnen meinen Segen. Also zum Schluß: ich bin gekommen, um Sie zu bitten, mir eine Stunde für eine wichtige Unterredung zu bestimmen; auf diese Unterredung setze ich meine größte Hoffnung. Was ich suche, ist nur Freundschaft und ein Herz, Fürst; ich habe die Forderungen meines Herzens bisher nie erfüllt gesehen.« »Aber warum nicht gleich jetzt? Ich bin bereit zuzuhören...« »Nein, Fürst, nein«, unterbrach ihn der General eifrig. »Nicht gleich! Gleich, das wäre ein Traum! Und die Sache ist allzu, allzu wichtig, allzu wichtig! In der Stunde, die dieses Gespräch dauern wird, wird sich mein Schicksal entscheiden. Diese Stunde wird mir gehören, und ich möchte nicht, daß uns in einem so heiligen Augenblick der erste beste Eindringling unterbrechen könnte, der erste beste freche Mensch, wie es ein solcher frecher Mensch oft tut« (er beugte sich auf einmal zum Fürsten hin und sprach in einem sonderbaren, geheimnisvollen, beinah ängstlichen Flüsterton), »ein solcher frecher Mensch, der nicht so viel wert ist wie Ihr Stiefelabsatz, geliebter Fürst! Oh, ich sage nicht: wie mein Stiefelabsatz! Beachten Sie besonders, daß ich nicht meinen Stiefelabsatz erwähnt habe, denn ich achte mich selbst zu sehr, um das so ohne weiteres auszusprechen; aber nur Sie sind imstande, zu verstehen, daß ich, indem ich in einem solchen Fall meinen Stiefelabsatz unerwähnt lasse, vielleicht einen außerordentlichen Stolz auf meine Würde zum Ausdruck bringe. Außer Ihnen wird kein anderer dafür Verständnis haben, auch er nicht, er vor allem nicht. Er hat für nichts Verständnis, Fürst, er ist völlig, völlig unfähig, etwas zu begreifen! Man muß ein Herz haben, um etwas zu verstehen!« Gegen Ende dieser Rede wurde der Fürst beinah ängstlich und setzte die Unterredung mit dem General für den folgenden Tag zur gleichen Stunde fest. Der General ging in mutiger Stimmung weg; er fühlte sich sehr getröstet und fast beruhigt. Am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ließ der Fürst auf einen Augenblick Lebedew zu sich bitten. Lebedew erschien mit großer Eilfertigkeit, er hielt es für eine Ehre, wie er sofort beim Eintritt sagte; mit keiner Silbe redete er davon, daß er sich drei Tage lang gewissermaßen versteckt gehalten und offenbar eine Begegnung mit dem Fürsten vermieden hatte. Er setzte sich auf den Rand eines Stuhles, schnitt Grimassen, lächelte, kniff die lachenden, lauernden Augen zusammen, rieb sich die Hände und machte in der naivsten Weise ein Gesicht, als ob er eine sehr wichtige, längst erwartete und von allen bereits erratene Mitteilung zu hören erhoffte. Dem Fürsten war das wieder peinlich; ihm wurde klar, daß alle Leute auf einmal angefangen hatten, etwas von ihm zu erwarten, daß alle ihn unter Andeutungen, Lächeln und Augenzwinkern so anblickten, als ob sie ihm zu etwas gratulieren wollten. Keller war schon dreimal eilig hereingekommen, ebenfalls mit dem offensichtlichen Wunsch zu gratulieren; er begann jedesmal mit enthusiastischen, unklaren Redensarten, die er aber nie zu Ende brachte, und verschwand schnell wieder. (Er hatte in den letzten Tagen angefangen, in einer Wirtschaft besonders stark zu trinken, und in einem Billardlokal randaliert.) Selbst Kolja begann trotz seines Kummers ebenfalls ein paarmal ein unklar andeutendes Gespräch mit dem Fürsten. Der Fürst fragte Lebedew geradeheraus und in etwas gereiztem Ton, was er über den jetzigen Zustand des Generals denke und warum sich dieser in solcher Unruhe befinde. Mit wenigen Worten erzählte er ihm die Szene, die am Vormittag stattgefunden hatte. »Jeder Mensch hat seine Unruhe, Fürst, und ... besonders in unserer seltsamen, unruhigen Zeit, jawohl!« antwortete Lebedew etwas trocken und verstummte dann gekränkt, mit der Miene eines Mannes, der sich in seinen Erwartungen arg getäuscht sieht. »Was sprechen Sie für philosophische Gedanken aus!« sagte der Fürst lächelnd. »Die Philosophie ist etwas Notwendiges; gerade für unser Zeitalter wäre es sehr notwendig, sie auf das praktische Leben anzuwenden, aber man schätzt diese Wissenschaft zu gering, das ist es. Ich meinerseits, hochgeehrter Fürst, bin zwar von Ihnen in einer gewissen, Ihnen bekannten Angelegenheit mit Ihrem Vertrauen beehrt worden, aber nur bis zu einem gewissen Grad, und nicht weiter, als es die mit dieser Angelegenheit zusammenhängenden Umstände mit sich brachten... Das begreife ich vollkommen und beklage mich in keiner Weise darüber.« »Sie scheinen mir aus irgendeinem Grund Böse zu sein, Lebedew?« »Ganz und gar nicht, nicht im geringsten, hochgeehrter, durchlauchtigster Fürst, nicht im geringsten!« rief Lebedew pathetisch und legte die Hand aufs Herz. »Im Gegenteil, ich habe sofort eingesehen, daß ich weder durch meine Stellung in der Welt noch durch Eigenschaften des Geistes und Herzens, noch durch angesammelte Reichtümer, noch durch mein früheres Benehmen, noch durch Kenntnisse, durch nichts Ihr geschätztes und meine Hoffnungen weit übersteigendes Vertrauen verdiene und daß, wenn ich Ihnen überhaupt dienen kann, ich das nur als Sklave und Tagelöhner vermag, nicht anders... ich bin nicht böse, aber traurig.« »Aber ich bitte Sie, Lukjan Timofejitsch!« »Es ist nicht anders! So auch jetzt, so auch im vorliegenden Fall! Als ich jetzt zu Ihnen kam und Sie mit meinem Herzen und meinen Gedanken anschaute, da sagte ich zu mir: ›Freundschaftlicher Mitteilungen bin ich unwürdig, aber vielleicht kann ich in meiner Eigenschaft als Hauswirt zur gegebenen Zeit, zu dem erwarteten Termin, sozusagen eine Instruktion erhalten oder, wenn's hoch kommt, eine Benachrichtigung im Hinblick auf gewisse bevorstehende und zu erwartende Veränderungen ...‹« Während Lebedew so sprach, sog er sich mit seinen scharfen, zusammengekniffenen Augen geradezu an dem ihn erstaunt anblickenden Fürsten fest; er hoffte immer noch, seine Neugier befriedigt zu sehen. »Ich begreife absolut nicht!« rief der Fürst beinah zornig. »Und... Sie sind ein schrecklicher Intrigant!« fügte er, auf einmal herzlich auflachend, hinzu. Sofort fing auch Lebedew an zu lachen, und sein strahlender Blick ließ erkennen, daß seine Hoffnungen wieder lebendig geworden waren und sich sogar verdoppelt hatten. »Ich werde Ihnen einmal etwas sagen, Lukjan Timofejitsch. Nehmen Sie es mir nur nicht übel, aber ich wundere mich über Ihre Naivität und nicht allein über die Ihrige! Sie erwarten gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick von mir etwas mit solcher Naivität, daß ich mich ordentlich vor Ihnen darüber schäme, daß ich nichts mitzuteilen habe, womit ich Ihre Wißbegierde befriedigen könnte; aber ich schwöre Ihnen, daß absolut nichts vorliegt, können Sie sich das vorstellen?« Der Fürst fing wieder an zu lachen. Lebedew nahm eine würdevolle Haltung an. Er war allerdings manchmal sehr naiv und zudringlich in seiner Neugier, aber gleichzeitig war er ein recht schlauer, geriebener Mensch und in manchen Fällen sogar von einer heimtückischen Schweigsamkeit; der Fürst hatte dadurch, daß er ihn fortwährend zurückstieß, ihn sich beinah zum Feind gemacht. Aber der Fürst stieß ihn nicht etwa deswegen zurück, weil er ihn geringgeschätzt hätte, sondern weil der Gegenstand seiner Neugier gar zu delikat war. Gewisse Zukunftsträume hatte der Fürst noch vor wenigen Tagen sozusagen wie ein Verbrechen betrachtet, aber Lukjan Timofejitsch faßte das ablehnende Verhalten des Fürsten lediglich als Widerwillen und Mißtrauen gegen sich persönlich auf, pflegte mit tief verwundetem Herzen fortzugehen und war nicht nur auf Kolja und Keller, sondern sogar auf seine eigene Tochter Wera Lukjanowna wegen des Fürsten eifersüchtig. Vielleicht hätte er sogar gerade in diesem Augenblick aufrichtig gewünscht, dem Fürsten eine für diesen höchst interessante Mitteilung zu machen, aber er schwieg finster und sagte nichts. »Womit kann ich Ihnen denn nun dienen, hochgeehrter Fürst, da Sie mich doch jetzt haben rufen lassen?« fragte er endlich, nachdem das Stillschweigen eine Weil« gedauert hatte. »Ich wollte Sie eigentlich nach dem General fragen«, versetzte der Fürst, der sich ebenfalls einen Augenblick seinen Gedanken überlassen hatte und nun zusammenfuhr, »und ... wie es mit dem Diebstahl geworden ist, von dem Sie mir Mitteilung gemacht haben...« »Wie es womit geworden ist?« »Na aber! Als ob Sie mich jetzt nicht verstünden! Ach, mein Gott, was soll das nur bedeuten, Lukjan Timofejitsch, Sie schauspielern fortwährend! Ich rede von dem Geld, von dem Geld, von den vierhundert Rubel, die Sie damals mit der Brieftasche verloren hatten; Sie kamen an dem Morgen, ehe Sie nach Petersburg fuhren, hierher, um mir davon zu erzählen, haben Sie nun endlich verstanden?« »Ach so, jene vierhundert Rubel meinen Sie!« erwiderte Lebedew gedehnt, als käme er erst jetzt auf das Richtige. »Ich danke Ihnen, Fürst, für Ihre aufrichtige Teilnahme, sie ist mir sehr schmeichelhaft, aber... ich habe das Geld wiedergefunden, schon längst.« »Sie haben es wiedergefunden! Ach, Gott sei Dank!« »Dieser Ausruf zeugt von Ihrer überaus edlen Denkungsart, denn vierhundert Rubel sind keine Kleinigkeit für einen armen Menschen, der von seiner schweren Arbeit leben muß und eine zahlreiche Familie von mutterlosen Kindern hat...« »Das meine ich ja nicht! Gewiß, ich freue mich auch darüber, daß Sie das Geld wiedergefunden haben«, verbesserte sich der Fürst eilig, »aber... wie ist es denn zugegangen, daß Sie es wiedergefunden haben?« »Ganz einfach, ich fand es unter dem Stuhl, auf dem der Rock gehangen hatte, so daß die Brieftasche offenbar aus der Tasche geglitten und auf den Fußboden gefallen war.« »Unter den Stuhl? Das ist doch nicht möglich; Sie haben mir doch selbst gesagt, Sie hätten in allen Ecken und Winkeln nachgesucht; wie sollten Sie denn gerade diese wichtigste Stelle nicht revidiert haben?« »Das ist es ja eben, daß ich sie revidiert habe! Daß ich das getan habe, darauf besinne ich mich ganz genau! Auf allen vieren bin ich herumgekrochen, habe den Stuhl weggerückt und an dieser Stelle mit den Händen umhergetastet, da ich meinen eigenen Augen nicht glaubte: ich sah, daß nichts da war, daß der Fleck leer und glatt war wie meine Handfläche da, aber dennoch fuhr ich fort umherzutasten. Solch ein törichtes Zweifeln an seinen eigenen Sinnen wiederholt sich immer beim Menschen, wenn er... bei wichtigen traurigen Verlusten den dringenden Wunsch hat, das Verlorene wiederzufinden: er sieht, daß nichts da und der Fleck leer ist, sieht aber doch fünfzehnmal nach ihm hin.« »Ja, allerdings; aber wie hängt denn die Sache hier zusammen?... Ich verstehe es gar nicht«, murmelte der Fürst ganz verwirrt. »Sie sagen, es sei zuerst nicht dagewesen und Sie hätten an dieser Stelle gesucht, aber dann sei es plötzlich doch dagewesen!« »Ja, dann war es plötzlich doch da.« Der Fürst sah Lebedew mit einem sonderbaren Blick an. »Und der General?« fragte er dann plötzlich. »Wieso? Was ist mit dem General?« erwiderte Lebedew, der wieder nicht verstand. »Ach, mein Gott! Ich frage, was der General dazu sagte, als Sie die Brieftasche unter dem Stuhl wiedergefunden hatten. Sie hatten ja doch zuerst beide zusammen danach gesucht.« »Ja, wir hatten zuerst zusammen danach gesucht. Aber ich muß bekennen, diesmal schwieg ich still und zog es vor, ihm keine Mitteilung davon zu machen, daß ich die Brieftasche bereits allein wiedergefunden hatte.« »Aber... warum denn das? War denn das Geld vollzählig darin?« »Ich habe die Brieftasche geöffnet; das Geld war vollzählig darin, nicht ein einziger Rubel fehlte.« »Aber Sie hätten doch wenigstens zu mir kommen und es mir sagen sollen«, bemerkte der Fürst nachdenklich. »Ich fürchtete, Sie in Ihren persönlichen und vielleicht sozusagen ganz außerordentlichen Empfindungen zu stören, Fürst; zudem stellte ich mich überhaupt so, als ob ich nichts gefunden hätte. Ich machte die Brieftasche auf, revidierte den Inhalt, machte sie dann wieder zu und legte sie wieder unter den Stuhl.« »Wozu denn das?« »Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei, ich war nur neugierig, was nun weiter geschehen würde«, erwiderte Lebedew kichernd und sich die Hände reibend. »Also liegt sie auch jetzt noch seit vorgestern da?« »O nein, sie hat nur vierundzwanzig Stunden lang dagelegen. Sehen Sie, ich wünschte, daß auch der General sie finden möchte. Denn wenn ich sie schließlich gefunden hatte, warum sollte nicht auch der General einen Gegenstand bemerken, der unter dem Stuhl hervorsah und einem sozusagen in die Augen sprang? Ich hob diesen Stuhl zu wiederholten Malen auf und stellte ihn anders hin, so daß die Brieftasche nun ganz frei dalag, aber der General bemerkte sie absolut nicht, und so dauerte das einen ganzen Tag lang. Er ist jetzt offenbar sehr zerstreut, man kann gar nicht aus ihm klug werden: er redet, erzählt, lacht, aber auf einmal wird er dann auf mich furchtbar böse, ich weiß nicht weshalb. Als wir schließlich einmal aus dem Zimmer gingen, ließ ich die Tür absichtlich offenstehen; er schwankte ein Weilchen, als wollte er etwas sagen; wahrscheinlich war er um die Brieftasche mit dem vielen Geld besorgt, aber auf einmal wurde er furchtbar zornig und sagte nichts. Wir waren auf der Straße noch nicht zwei Schritte gegangen, als er mich im Stich ließ und nach der anderen Seite hinüberging. Erst am Abend trafen wir im Wirtshaus wieder zusammen.« »Aber schließlich haben Sie doch wohl die Brieftasche unter dem Stuhl weggenommen?« »Nein, sie ist noch in derselben Nacht von dort verschwunden.« »Also wo ist sie denn jetzt?« »Hier!« erwiderte Lebedew lachend, indem er vom Stuhl aufstand, sich ganz aufrichtete und den Fürsten vergnügt ansah. »Sie befand sich auf einmal hier, in meinem eigenen Rockschoß. Da! Sehen Sie selbst, und befühlen Sie sie!« In der Tat hatte sich im linken vorderen Rockschoß, genau vorn, an einer sehr sichtbaren Stelle ein ordentlicher Bausch gebildet, und beim Befühlen konnte man ohne weiteres erraten, daß sich da eine lederne Brieftasche befand, die aus der zerrissenen Tasche dort hinuntergerutscht war. »Ich habe sie herausgenommen und revidiert: der Inhalt war vollzählig. Ich ließ sie wieder hinuntergleiten und gehe so seit gestern morgen herum; ich trage sie im Rockschoß, sie schlägt sogar gegen mein Bein.« »Und Sie bemerken das gar nicht?« »Nein, ich bemerke es nicht, hehe! Und stellen Sie sich vor, hochgeehrter Fürst – obwohl der Gegenstand einer solchen besonderen Beachtung von Ihrer Seite gar nicht würdig ist – meine Taschen sind immer ganz und heil, und nun hatte diese Tasche auf einmal über Nacht ein solches Loch bekommen! Ich besah mir dieses Loch genauer; es macht den Eindruck, als ob es jemand mit einem Federmesser hineingeschnitten hätte; ist das nicht beinah unglaublich?« »Und... der General?« »Den ganzen Tag über war er böse, gestern und heute; er ist furchtbar verstimmt; bald ist er vergnügt und lustig und sagt mir sogar Schmeicheleien, bald ist er so gefühlvoll, daß ihm sogar die Tränen kommen, bald wieder wird er auf einmal zornig, so daß ich sogar Angst bekomme, wahrhaftig; ich bin ja doch kein Soldat, Fürst. Gestern saßen wir im Wirtshaus, und mein Rockschoß stand wie zufällig so recht sichtbar hervor mit der daran befindlichen Erhöhung; er schielte danach hin und ärgerte sich. Gerade in die Augen sieht er mir jetzt schon längst nicht mehr, außer wenn er sehr betrunken oder sehr gefühlvoll ist; aber gestern sah er mich ein paarmal so an, daß es mir ordentlich kalt den Rücken hinunterlief. Ich beabsichtige übrigens, morgen die Brieftasche zu finden; aber heute abend will ich noch meinen Spaß mit ihm haben.« »Warum quälen Sie ihn so?« rief der Fürst. »Ich quäle ihn nicht, Fürst, ich quäle ihn nicht«, erwiderte Lebedew lebhaft. »Ich habe ihn von Herzen gern und... schätze ihn hoch, und jetzt – Sie mögen es glauben oder nicht – ist er mir noch teurer geworden, ich schätze ihn noch höher!« Lebedew sagte das alles so ernst und aufrichtig, daß der Fürst geradezu empört war. »Sie haben ihn gern und quälen ihn so! Ich bitte Sie, schon allein dadurch, daß er Ihnen den verlorenen Gegenstand so offen unter den Stuhl legte und in den Rock steckte, schon dadurch allein beweist er Ihnen deutlich, daß er Ihnen gegenüber keine List anwenden will, sondern Sie schlicht und einfach um Verzeihung bittet. Hören Sie: er bittet Sie um Verzeihung! Er hofft also auf Ihr Zartgefühl, glaubt also an Ihre freundschaftliche Gesinnung. Und Sie demütigen ihn dermaßen ... einen grundehrlichen Menschen!« »Einen grundehrlichen Menschen, einen grundehrlichen Menschen, Fürst!« fiel Lebedew mit funkelnden Augen ein. »Und nur Sie, edelster Fürst, waren imstande, ein so gerechtes Wort auszusprechen! Darum bin ich Ihnen ja auch bis zur Vergötterung ergeben, obwohl ich von mancherlei Lastern angefault bin! Also abgemacht! Ich finde die Brieftasche jetzt gleich, sofort und nicht erst morgen; da, ich ziehe sie vor Ihren Augen heraus, da ist sie, und da ist auch das ganze bare Geld; hier, nehmen Sie es, edelster Fürst, nehmen Sie es, und heben Sie es mir bis morgen auf! Morgen oder übermorgen werde ich es mir wieder zurückerbitten; wissen Sie, Fürst, es hat offenbar in der ersten Nacht, nachdem es abhanden gekommen war, irgendwo in meinem Gärtchen unter einem Stein gelegen, meinen Sie nicht auch?« »Sagen Sie es ihm nur nicht so gerade ins Gesicht, daß Sie die Brieftasche wiedergefunden haben. Mag er ganz einfach sehen, daß nichts mehr in Ihrem Rockfutter steckt; dann wird er es schon verstehen.« »Also auf diese Art? Wäre es nicht besser, zu sagen, daß ich sie wiedergefunden habe, und so zu tun, als hätte ich sie bisher nicht bemerkt?« »N-nein«, versetzte der Fürst nach einiger Überlegung, »n-nein, dazu ist es jetzt zu spät, das ist zu gefährlich; wirklich, sagen Sie lieber nichts! Und seien Sie freundlich zu ihm, aber... tragen Sie dabei nicht zu stark auf und... und... nun, Sie wissen schon...« »Ich weiß, Fürst, ich weiß, das heißt, ich weiß, daß ich es vielleicht nicht werde durchführen können, denn dazu muß man ein Herz haben wie das Ihrige. Und überdies bin ich selbst reizbar und empfindlich; er behandelt mich aber jetzt manchmal auch gar zu sehr von oben herab; bald schluchzt er und umarmt mich, und dann auf einmal fängt er an, mich zu demütigen und zu schmähen; na, dann stelle ich gleich absichtlich den Rockschoß zur Schau, hehe! Auf Wiedersehen, Fürst, denn ich halte Sie offenbar auf und behindere Sie in den sozusagen interessantesten Gefühlen...« »Aber um Gottes willen: schweigen Sie von der Sache wie bisher!« »Mit leisen Schritten, mit leisen Schritten!« Aber obgleich die Sache nun erledigt war, war der Fürst nach Lebedews Weggang doch in fast noch größerer Sorge als vorher. Ungeduldig sah er der morgigen Zusammenkunft mit dem General entgegen. IV Die Zusammenkunft war auf zwölf Uhr festgesetzt, aber der Fürst verspätete sich ganz unerwartet. Bei seiner Heimkehr fand er in seiner Wohnung den General vor, der auf ihn wartete. Er bemerkte auf den ersten Blick, daß dieser unzufrieden war und vielleicht gerade darüber, daß er hatte warten müssen. Der Fürst bat um Entschuldigung und setzte sich schleunigst hin, aber in einer eigentümlich ängstlichen Art, als wäre sein Gast von Porzellan und als fürchte er jeden Augenblick, ihn zu zerbrechen. Früher war er dem General gegenüber niemals ängstlich gewesen, dergleichen war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Der Fürst erkannte bald, daß er da einen ganz andern Menschen vor sich hatte als tags zuvor: statt der Verwirrung und Zerstreutheit machte sich eine große Zurückhaltung bemerkbar; man konnte schließen, daß dies ein Mensch war, der irgendeinen endgültigen Entschluß gefaßt hatte. Übrigens war diese Ruhe mehr äußerlich als wirklich vorhanden. Aber jedenfalls zeigte der Gast eine vornehme Zwanglosigkeit, obwohl diese sich mit zurückhaltender Würde paarte; am Anfang behandelte er den Fürsten sogar mit einer Art von Herablassung; diese vornehme Zwanglosigkeit findet man ja oft bei stolzen, ungerecht gekränkten Leuten. Er sprach freundlich, wenn auch in seinem Ton etwas Trauriges lag. »Da ist Ihr Buch, das ich neulich von Ihnen entliehen habe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung nach einem von ihm mitgebrachten Band, der auf dem Tisch lag. »Ich danke Ihnen.« »Ach ja, haben Sie diesen Artikel gelesen, General? Wie hat er Ihnen gefallen? Ist er nicht interessant?« erwiderte der Fürst, erfreut über die Möglichkeit, schnell ein Gespräch über einen nebensächlichen Gegenstand anfangen zu können. »Ja, interessant ist er, meinetwegen, aber plump und jedenfalls abgeschmackt. Vielleicht wimmelt er auch von Lügen.« Der General sprach mit affektierter Würde und zog sogar die einzelnen Worte ein wenig in die Länge. »Ach, es ist doch eine so schlichte Erzählung, die Erzählung eines alten Soldaten über das, was er während des Aufenthaltes der Franzosen in Moskau mit eigenen Augen gesehen hat, manches darin ist überaus reizvoll geschildert. Memoiren von Augenzeugen sind ja überhaupt wertvoll, wer auch immer diese Augenzeugen sind, nicht wahr?« »An Stelle des Redakteurs hätte ich diesen Artikel nicht abgedruckt; was aber Memoiren von Augenzeugen im allgemeinen anlangt, so findet ein dreister, aber amüsanter Lügner leichter Glauben als ein würdiger, wohlverdienter Mann. Ich kenne gewisse Memoiren aus dem Jahre 1812, die... Ich habe meinen Entschluß gefaßt, Fürst, und verlasse dieses Haus, das Haus des Herrn Lebedew.« Der General sah den Fürsten bedeutsam an. »Sie wohnen ja auch eigentlich hier in Pawlowsk bei... bei Ihrer Tochter...«, antwortete der Fürst, der nicht recht wußte, was er sagen sollte. Er erinnerte sich, daß der General ja gekommen war, um sich in einer wichtigen Angelegenheit Rat zu erbitten, in einer Angelegenheit, von der sein Schicksal abhänge. »Bei meiner Frau; mit andern Worten in meiner eigenen Wohnung im Hause meiner Tochter.« »Verzeihen Sie, ich ...« »Ich verlasse Lebedews Haus, lieber Fürst, weil ich mich von diesem Menschen losgesagt habe; ich habe mich gestern abend von ihm losgesagt und habe bereut, dies nicht schon früher getan zu haben. Ich verlange Respekt, Fürst, und möchte ihn mir auch von denjenigen Leuten ausbitten, denen ich sozusagen mein Herz schenke. Fürst, ich verschenke mein Herz häufig und werde dabei fast immer betrogen. Dieser Mensch ist meines Geschenkes unwürdig.« »Er ist nicht frei von inneren Widersprüchen«, bemerkte der Fürst zurückhaltend, »und manche Züge seines Charakters... aber mitten in all dem kann man doch ein Herz wahrnehmen und einen schlauen, mitunter auch amüsanten Verstand.« Daß der Fürst in gewählten Ausdrücken sprach und sich eines respektvollen Tones bediente, schmeichelte dem General offenbar, obgleich seine Miene manchmal immer noch ein plötzlich rege werdendes Mißtrauen bekundete. Aber der Ton des Fürsten klang so natürlich und aufrichtig, daß es unmöglich war zu zweifeln. »Gewiß besitzt er auch gute Eigenschaften«, stimmte der General bei, »und ich bin der erste gewesen, der das offen aussprach, als ich diesem Individuum beinah meine Freundschaft schenkte. Sein Haus und seine Gastfreundschaft benötige ich nicht, da ich eine eigene Familie besitze. Ich will meine Laster nicht entschuldigen: ich bin unenthaltsam; ich habe mit ihm getrunken und vergieße jetzt vielleicht Tränen darüber. Aber ich hatte doch nicht allein des Suffs wegen (verzeihen Sie, Fürst, einem schwer gereizten Mann diese derbe Offenherzigkeit), nicht allein des Suffs wegen mich ihm angeschlossen. Was mich lockte, waren, wie Sie richtig sagen, seine guten Eigenschaften. Aber alles geht bis zu einer gewissen Grenze, auch die Wertschätzung der guten Eigenschaften, und wenn er auf einmal die Dreistigkeit hat, mir ins Gesicht zu behaupten, er habe im Jahre 1812 als Kind sein linkes Bein verloren und es auf dem Waganjkowschen Friedhof in Moskau begraben, so überschreitet das denn doch alle Grenzen und zeugt von einer Respektlosigkeit und Frechheit...« »Vielleicht war das nur ein Scherz, der heiteres Gelächter hervorrufen sollte.« »Ich verstehe. Eine unschuldige Lüge, die heiteres Gelächter hervorrufen soll, kann, auch wenn sie plump ist, ein Menschenherz nicht beleidigen. Mancher lügt auch sozusagen nur aus Freundschaft, um demjenigen, mit dem er sich unterhält, ein Vergnügen zu machen, aber wenn bei einem solchen Benehmen Respektlosigkeit durchschimmert und wenn namentlich der Erzähler durch eine solche Respektlosigkeit zeigen will, daß ihm der Umgang mit dem andern lästig wird, dann bleibt einem anständigen Mann nichts anderes übrig, als den Beleidiger in die Schranken zu weisen, sich von ihm abzuwenden und alle Beziehungen zu ihm abzubrechen.« Der General war, während er sprach, ganz rot geworden. »Aber Lebedew kann doch im Jahre 1812 gar nicht in Moskau gewesen sein, dazu ist er ja zu jung; das ist lächerlich.« »Erstens das; aber selbst angenommen, daß er damals schon geboren war, wie kann er mir ins Gesicht behaupten, ein französischer Chasseur habe eine Kanone auf ihn abgefeuert und ihm so zum Vergnügen ein Bein abgeschossen; er habe dieses Bein aufgehoben, nach Hause getragen und nachher auf dem Waganjkowschen Friedhof begraben. Er sagt, er habe ein Denkmal darüber errichten lassen, mit einer Inschrift auf der einen Seite: ›Hier ruht ein Bein des Kollegiensekretärs Lebedew‹, und auf der andern: ›Ruhe sanft, liebe Asche, bis zum frohen Tage der Auferstehung!‹ und schließlich noch, er lasse jährlich für dieses Bein eine Seelenmesse lesen (so etwas zu sagen, ist geradezu ein Religionsfrevel) und fahre zu diesem Zweck jährlich nach Moskau. Und zum Beweis fordert er mich auf, nach Moskau mitzukommen; da wolle er mir das Grab zeigen und sogar im Kreml jene selbe französische Kanone, die nachher erbeutet worden sei; er behauptet, es sei die elfte vom Tor aus, ein französisches Falkonettgeschütz alter Konstruktion.« »Und dabei sind, wie der Augenschein lehrt, seine beiden Beine heil und gesund!« sagte der Fürst lachend. »Ich versichere Ihnen, daß das ein harmloser Spaß ist, ärgern Sie sich doch nicht darüber!« »Aber erlauben Sie auch mir, die Sache so aufzufassen, wie ich es für richtig halte. Was den augenscheinlichen Zustand seiner Beine anlangt, so ist seine Angabe freilich nicht ganz unwahrscheinlich; es wird versichert, daß das Tschernoswitowsche Bein...« »Ach ja, mit einem Tschernoswitowschen Bein soll man ja sogar tanzen können.« »Das weiß ich ganz genau; als Tschernoswitow sein Bein erfunden hatte, war das erste, was er tat, daß er schleunigst zu mir kam, um es mir zu zeigen. Aber das Tschernoswitowsche Bein ist erst viel später erfunden worden... Und außerdem behauptet er, daß sogar seine verstorbene Frau während ihrer ganzen Ehe nicht gewahr geworden sei, daß er, ihr Mann, ein Holzbein habe. ›Wenn du‹, sagte er, als ich ihn auf all diese Ungereimtheiten hinwies, ›wenn du im Jahre 1812 bei Napoleon Kammerpage warst, dann mußt du auch mir erlauben, mein Bein auf dem Waganjkowschen Friedhof zu begraben.‹« »Aber sind Sie denn...«, begann der Fürst und wurde verlegen. Der General schien ebenfalls beinah verlegen zu werden, sah aber gleich im selben Augenblick den Fürsten sehr von oben herab und fast spöttisch an. »Sprechen Sie zu Ende, Fürst«, sagte er, indem er die Worte mit besonderer Ruhe dehnte, »sprechen Sie zu Ende! Ich bin großmütig; sagen Sie alles: bekennen Sie nur, daß es Ihnen komisch vorkommt, einen Menschen in seinem jetzigen Zustand der Erniedrigung und Unbrauchbarkeit vor sich zu sehen und zugleich zu hören, daß dieser Mensch persönlich ein Zeuge großer Ereignisse gewesen ist. Er hat Ihnen noch nichts davon hinterbracht?« »Nein, ich habe von Lebedew nichts gehört... wenn Sie von Lebedew reden...« »Hm, ich nahm das Gegenteil an. Eigentlich ging unser Gespräch gestern von diesem... sonderbaren Artikel im Archiv aus. Ich wies auf dessen Absurdität hin, und da ich selbst persönlich Zeuge gewesen bin ... Sie lächeln, Fürst, Sie betrachten mein Gesicht?« »N-nein, ich ...« »Ich habe noch ein jugendliches Äußeres«, sagte der General langsam, »aber ich bin erheblich älter, als ich aussehe. Im Jahre 1812 war ich zehn oder elf Jahre alt. Ich weiß mein Lebensalter selbst nicht ganz genau. In der Dienstliste ist es zu niedrig angegeben, und ich selbst hatte im Lauf meines Lebens die Schwäche, mir ein paar Jahre abzurechnen.« »Ich versichere Ihnen, General, ich finde es durchaus nicht seltsam, daß Sie im Jahre 1812 in Moskau waren und... gewiß können Sie darüber mancherlei mitteilen... ebenso wie alle, die damals dort waren. Einer unserer Landsleute beginnt seine Selbstbiographie gerade mit der Erzählung, daß er im Jahre 1812 als Säugling in Moskau von französischen Soldaten mit Brot gefüttert worden sei.« »Nun, da sehen Sie es!« bemerkte der General beifällig und herablassend. »Was mir begegnet ist, geht allerdings über die gewöhnlichen Erlebnisse hinaus, enthält aber nichts Unerhörtes. Sehr oft macht die Wahrheit den Eindruck des Unmöglichen. Kammerpage! Das hört sich freilich sonderbar an. Aber daß ein zehnjähriger Knabe ein solches Abenteuer erlebt hat, erklärt sich vielleicht gerade durch sein Alter. Mit fünfzehn Jahren hätte mir das nicht begegnen können, auf keinen Fall, da ich als Fünfzehnjähriger am Tage von Napoleons Einzug in Moskau nicht aus unserm Holzhaus in der Alten Basmannaja-Straße von meiner Mutter weggelaufen wäre, die sich mit der Abreise aus Moskau verspätet hatte und vor Furcht zitterte. Als Fünfzehnjähriger hätte auch ich Angst gehabt, aber als Zehnjähriger fürchtete ich mich nicht und drängte mich durch die Menge hindurch bis dicht an die Freitreppe des Palastes, als Napoleon gerade vom Pferd stieg.« »Ohne Zweifel haben Sie sehr treffend bemerkt, daß sich Ihre Furchtlosigkeit gerade aus Ihrem Alter von zehn Jahren erklärt«, schaltete der Fürst schüchtern ein; ihn quälte der Gedanke, daß er gleich erröten würde. »Ohne Zweifel, und alles vollzog sich so einfach und natürlich, wie es sich eben nur in der Wirklichkeit vollziehen kann; wenn ein Romanschriftsteller dasselbe vortrüge, würde er allerlei Unmögliches und Unwahrscheinliches zusammenspinnen.« »Ja, so ist es!« rief der Fürst. »Das ist ein Gedanke, von dem auch ich einmal überrascht gewesen bin, und zwar erst neulich. Ich weiß von einem wirklich geschehenen Mord wegen einer Uhr; die Geschichte steht jetzt in den Zeitungen. Hätte das ein Schriftsteller ersonnen, so würden die Kenner unseres Volkslebens und die Kritiker sofort ein großes Geschrei erheben, das sei unglaublich; aber wenn man es in den Zeitungen als Tatsache liest, dann spürt man, daß man gerade aus solchen Tatsachen die russische Wirklichkeit kennenlernt. Das war eine sehr hübsche Bemerkung von Ihnen, General!« schloß der Fürst eifrig; er freute sich sehr, daß er auf diese Art die helle Röte seines Gesichtes motivieren konnte. »Nicht wahr, nicht wahr?« rief der General, dessen Augen vor Vergnügen blitzten. »Ein Knabe, ein Kind, das für die Gefahr kein Verständnis hat, drängt sich durch die Menge, um den Glanz, die Uniformen, das Gefolge und schließlich den großen Mann zu sehen, von dem es schon soviel Geschrei gehört hatte. Denn damals redeten alle Leute jahrelang nur von ihm. Die Welt war voll von diesem Namen; ich hatte ihn sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Als Napoleon in einer Entfernung von zwei Schritten an mir vorüberging, fiel es ihm zufällig auf, wie ich ihn ansah; ich trug adlige Tracht und war gut gekleidet. Ich war der einzige von dieser Art in der großen Menge, Sie werden selbst zugeben...« »Ohne Zweifel mußte ihm das auffallen und ein Beweis dafür sein, daß nicht alle geflüchtet, sondern daß auch Adlige mit ihren Kindern dageblieben waren.« »Ganz richtig, ganz richtig! Er wollte die Bojaren für sich gewinnen! Als er seinen Adlerblick auf mich richtete, mochten ihm wohl auch meine Augen entgegenblitzen. ›Voilà un garçon bien éveillé!‹ sagte er. ›Qui est ton père?‹ Was für ein aufgeweckter Junge! Wer ist dein Vater? (frz.) Ich antwortete ihm sofort, beinah atemlos vor Aufregung: ›Ein General, der auf einem Schlachtfeld seines Vaterlandes gefallen ist.‹ ›Le fils d'un boyard et d'un brave par-dessus le marché! J'aime les boyards. M'aimes-tu, petit?‹ Der Sohn eines Bojaren und noch dazu eines tapferen. Ich habe die Bojaren gern. Hast du mich gern, Kleiner? (frz.) Auf diese schnelle Frage antwortete ich ebenso schnell: ›Ein russisches Herz ist imstande, sogar in einem Feind seines Vaterlandes den großen Mann zu erkennen!‹ Das heißt, ich erinnere mich eigentlich nicht, ob ich mich buchstäblich so ausdrückte... ich war ein Kind... aber dies war gewiß der Sinn! Napoleon war überrascht; er dachte einen Augenblick nach und sagte zu seinem Gefolge: ›Der Stolz dieses Kindes gefällt mir! Aber wenn alle Russen so denken wie dieses Kind, dann...‹ Er sprach den Satz nicht zu Ende und ging in den Palast hinein. Ich mischte mich sogleich unter das Gefolge und lief ihm nach. In dem Gefolge traten die Leute vor mir auseinander, man hielt mich für einen Günstling. Aber all das nahm ich nur flüchtig wahr... Ich erinnere mich nur, daß der Kaiser, als er den ersten Saal betrat, plötzlich vor dem Porträt der Kaiserin Katharina stehenblieb, es lange nachdenklich betrachtete und endlich sagte: ›Das war eine große Frau!‹ und dann weiterging. Nach zwei Stunden kannten mich schon alle im Palast und im Kreml und nannten mich ›le petit boyard‹. Nach Hause ging ich nur, um in der Nacht dort zu schlafen. Zu Hause waren sie fast von Sinnen. Schon zwei Tage darauf starb Napoleons Kammerpage, Baron de Bazincourt, der die Strapazen des Feldzuges nicht hatte ertragen können. Napoleon erinnerte sich meiner; man holte mich, brachte mich hin, ohne mir zu sagen, um was es sich handelte, paßte mir die Uniform des Verstorbenen, eines zwölfjährigen Knaben, an, und als man mich in der Uniform zum Kaiser geführt und er mir zugenickt hatte, eröffnete man mir, daß mir die Gnade zuteil geworden sei, zum Kammerpagen Seiner Majestät ernannt zu werden. Ich freute mich, ich hatte schon lange eine wirkliche warme Zuneigung zu ihm empfunden... nun, und dazu noch, wie Sie sich selbst sagen können, die glänzende Uniform, das bedeutet für ein Kind viel... Ich trug einen dunkelgrünen Frack mit langen, schmalen Schößen, goldenen Knöpfen, roter Verbrämung an den goldgestickten Ärmeln, mit hohem, steifem, offenem, goldgesticktem Kragen, auch an den Schößen war Stickerei; ferner weiße, eng anliegende Beinkleider von sämischem Leder, eine weißseidene Weste, seidene Strümpfe und Schnallenschuhe... und, wenn der Kaiser spazierenritt und ich mich im Gefolge befand, hohe Reitstiefel. Obgleich die Situation nicht glänzend war und man bereits ein gewaltiges Unheil ahnte, wurde doch nach Möglichkeit die Etikette gewahrt und sogar um so peinlicher, je stärker die Besorgnis vor diesem Unheil war.« »Ja, gewiß...«, murmelte der Fürst beinah fassungslos, »Ihre Memoiren würden... sehr interessant sein.« Der General trug natürlich das vor, was er schon gestern Lebedew erzählt hatte, und trug es daher sehr geläufig vor, aber an dieser Stelle schielte er wieder mißtrauisch nach dem Fürsten hin. »Meine Memoiren«, sagte er, indem er eine noch würdevollere Haltung annahm, »ich soll meine Memoiren schreiben? Das hat mich nicht verlocken können, Fürst! Indes, wenn Sie wollen, so sind meine Memoiren schon geschrieben; aber... sie liegen in meinem Schreibtisch. Wenn man mir die Augen mit Erde zugedeckt haben wird, dann mögen sie erscheinen, und dann werden sie ohne Zweifel auch in andere Sprachen übersetzt werden, nicht wegen ihres literarischen Wertes, nein, aber wegen der Wichtigkeit der gewaltigen Ereignisse, deren Augenzeuge ich, obwohl noch ein Kind, gewesen bin. Aber gerade das kam mir zustatten: eben weil ich nur ein Kind war, konnte ich sozusagen in das innerste Schlafgemach des ›großen Mannes‹ eindringen! Ich hörte nachts das Stöhnen dieses ›Riesen im Unglück‹; vor einem Kind brauchte er sich nicht zu schämen, daß er stöhnte und weinte, obgleich ich bereits verstand, daß die Ursache seiner Leiden das Stillschweigen des Kaisers Alexander war.« »Aber er hat ja doch Briefe an ihn geschrieben... mit Friedensangeboten...«, schaltete der Fürst schüchtern ein. »Wir wissen eigentlich nicht, was für Angebote er ihm geschrieben hat, aber er schrieb täglich, stündlich, einen Brief nach dem andern! Er regte sich furchtbar auf. Einmal in der Nacht, als wir beide allein waren, stürzte ich weinend zu ihm hin (oh, ich liebte ihn!) und rief: ›Bitten Sie den Kaiser Alexander um Verzeihung!‹ Ich hätte mich ja freilich so ausdrücken sollen: ›Versöhnen Sie sich mit dem Kaiser Alexander!‹, aber weil ich ein Kind war, sprach ich meinen Gedanken in jener naiven Weise aus. ›O mein Kind‹, antwortete er (er ging im Zimmer auf und ab), ›O mein Kind!‹ (er schien es damals öfter nicht zu beachten, daß ich erst zehn Jahre alt war, und unterhielt sich gern mit mir, ›o mein Kind, ich bin bereit, dem Kaiser Alexander die Füße zu küssen; dagegen werde ich den König von Preußen und den Kaiser von Österreich lebenslänglich hassen. Jedoch... du verstehst schließlich nichts von Politik!‹ Er schien sich plötzlich zu erinnern, mit wem er sprach, und verstummte, aber seine Augen sprühten noch lange Zeit Funken. Wollte ich all diese Tatsachen berichten – und ich war auch bei den allerwichtigsten Ereignissen Zeuge – und den Bericht jetzt herausgeben, dann all diese Kritiken, all diese verletzte literarische Eitelkeit, all dieser Neid, das Parteitreiben und... nein, dafür danke ich!« »Was Sie von dem Parteitreiben gesagt haben, ist natürlich richtig, und ich kann Ihnen darin nur beistimmen«, antwortete der Fürst leise, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich habe vor kurzer Zeit das Buch von Charras über den Waterloo-Feldzug gelesen. Es ist offenbar ein ernstes Buch, und Fachmänner versichern, daß es mit außerordentlicher Sachkenntnis geschrieben sei. Aber auf jeder Seite schimmert die Freude des Verfassers über Napoleons Demütigung hindurch, und falls es möglich wäre, dem Kaiser auch bei den übrigen Feldzügen jede Spur von Talent abzusprechen, so würde Charras sich darüber wahrscheinlich höchlichst freuen; aber das macht bei einem so ernsten Werk einen schlechten Eindruck, weil es eine parteiische Denkungsart ist. Waren Sie damals durch Ihren Dienst beim Kaiser sehr in Anspruch genommen? Der General war entzückt. Die Bemerkung des Fürsten hatte durch ihren Ernst und ihre Schlichtheit den letzten Rest seines Mißtrauens zerstreut. »Charras! Oh, ich war selbst empört! Ich schrieb gleich damals an ihn, aber... ich kann mich jetzt eigentlich nicht mehr recht erinnern... Sie fragen, ob mich der Dienst sehr in Anspruch nahm. O nein! Ich hieß zwar Kammerpage, aber ich faßte das schon damals nicht als ein ernstes Amt auf. Zudem mußte Napoleon sehr bald alle Hoffnung aufgeben, daß es ihm gelingen würde, die Herzen der Russen für sich zu gewinnen, und so hätte er schließlich auch mich vergessen, den er aus politischen Erwägungen an sich herangezogen hatte, wenn... wenn er mich nicht persönlich liebgewonnen hätte; ich spreche das jetzt kühn aus. Mich zog mein Herz zu ihm. Dienst wurde nicht viel von mir verlangt: ich mußte manchmal im Palast erscheinen und... den Kaiser zu Pferd auf seinen Spazierritten begleiten, das war alles. Ich war ein ganz geschickter Reiter. Er pflegte vor Tische auszureiten; zur Suite gehörten gewöhnlich Davout, ich, der Mameluck Roustan...« »Constant«, entfuhr es auf einmal dem Fürsten. »N-nein, Constant war damals nicht da, er war damals mit einem Brief weggeschickt... zur Kaiserin Josephine; aber statt seiner waren zwei Ordonnanzen da und einige polnische Ulanen... na, das war das ganze Gefolge, abgesehen natürlich von den Generalen und Marschällen, die Napoleon mitnahm, um mit ihnen das Terrain und die Stellung der Truppen zu besichtigen und mit ihnen zu beraten... Am häufigsten befand sich Davout in seiner Umgebung, wie ich mich noch jetzt erinnere: ein sehr großer, kräftiger, kaltblütiger Mensch mit einer Brille und einem seltsamen Blick. Mit ihm beriet der Kaiser besonders oft. Er legte großen Wert auf seine Ansichten. Ich erinnere mich, daß sie schon mehrere Tage miteinander beraten hatten; Davout kam jeden Morgen und jeden Abend; oft stritten sie sogar; endlich schien Napoleon nachzugeben. Sie waren beide allein im Arbeitszimmer, als dritter ich, den sie kaum beachteten. Auf einmal fiel Napoleons Blick zufällig auf mich, ein seltsamer Gedanke leuchtete in seinen Augen auf. ›Kind!‹ sagte er plötzlich zu mir, ›wie denkst du darüber: wenn ich zur russischen Kirche übertrete und eure Sklaven befreie, werden mir dann die Russen folgen oder nicht?‹ – ›Niemals!‹ rief ich empört. Napoleon war überrascht. ›In den von Patriotismus glänzenden Augen dieses Kindes‹, sagte er, ›habe ich die Meinung des ganzen russischen Volkes gelesen. Genug davon, Davout! Das alles ist ein Hirngespinst! Entwickeln Sie Ihr zweites Projekt!‹« »Ja, aber auch dieses Projekt war eine großartige Idee!« bemerkte der Fürst, augenscheinlich interessiert. »Sie führen also dieses Projekt auf Davout zurück?« »Wenigstens berieten sie darüber zusammen. Die Idee rührte gewiß von Napoleon her und war dieses Adlers würdig, aber auch das andere Projekt war eine bedeutende Idee... Das war jener berühmte ›conseil du Lion‹, Rat des Löwen (frz.) wie Napoleon selbst diesen Ratschlag von Davout nannte. Er bestand darin, sich mit dem ganzen Heer im Kreml einzuschließen, Baracken zu bauen, Verschanzungen anzulegen, Kanonen aufzustellen, möglichst viel Pferde zu schlachten und ihr Fleisch einzusalzen, möglichst viel Getreide durch Marodieren und auf sonstige Weise zu beschaffen, den Winter bis zum Frühjahr im Kreml zuzubringen, im Frühjahr aber sich durch die Russen durchzuschlagen. Dieses Projekt hatte für Napoleon viel Verlockendes. Wir ritten täglich um die Mauern des Kreml herum, und er zeigte, wo etwas niedergerissen werden sollte, wo Lunetten oder ein Ravelin und wo Reihen von Blockhäusern angelegt werden sollten; es ging wie der Blitz: er blickte hin und traf sofort seine Anordnung. Endlich war alles festgesetzt; Davout verlangte die endgültige Entscheidung. Wieder waren sie allein im Zimmer und ich als dritter. Wieder ging Napoleon mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Ich konnte meine Augen nicht von seinem Gesicht losreißen. »Ich gehe«, sagte Davout. »Wohin?« fragte Napoleon. »Die Pferde einsalzen«, antwortete Davout. Napoleon fuhr zusammen; sein Schicksal entschied sich in diesem Augenblick. »Mein Kind«, sagte er plötzlich zu mir, »wie denkst du über unsere Absicht?« Selbstverständlich fragte er mich in der Weise, wie manchmal ein mit höchstem Verstand begabter Mann im letzten Augenblick zu der Entscheidung durch Adler oder Schrift greift. Statt an Napoleon wandte ich mich an Davout und sagte wie aus einer Eingebung: »General, machen Sie, daß Sie in Ihre Heimat davonkommen!« Das Projekt wurde verworfen. Davout zuckte die Achseln und sagte beim Hinausgehen halblaut: ›Bah! Il devient superstitieux!‹ Er wird abergläubisch (frz.) Und gleich am folgenden Tag wurde der Abmarsch angekündigt.« »All das ist außerordentlich interessant«, sagte der Fürst sehr leise, »wenn das alles so zuging... das heißt, ich will sagen...«, suchte er sich schleunigst zu verbessern. »O Fürst!« rief der General, der von seiner eigenen Erzählung so berauscht war, daß er vielleicht auch vor der größten Unvorsichtigkeit nicht mehr zurückgeschreckt wäre, »Sie sagen: ›All das‹, aber es war noch mehr; ich versichere Ihnen, daß ich noch weit mehr erlebte. All das waren nur armselige politische Ereignisse. Aber ich wiederhole Ihnen, ich war Zeuge der nächtlichen Tränen und Seufzer dieses großen Mannes, und das hat niemand gesehen und gehört außer mir! In der letzten Zeit weinte er allerdings nicht mehr, er hatte keine Tränen mehr, er stöhnte nur noch manchmal, aber sein Gesicht umwölkte sich immer düsterer. Die Ewigkeit umschattete ihn schon gleichsam mit ihren dunklen Flügeln. Manchmal verbrachten wir nachts ganze Stunden allein zusammen in Stillschweigen; der Mameluck Roustan schnarchte im Nebenzimmer; dieser Mensch hatte einen furchtbar festen Schlaf. ›Dafür ist er mir und der Dynastie treu‹, pflegte Napoleon von ihm zu sagen. Einmal war mir furchtbar schwer ums Herz, und er bemerkte plötzlich Tränen in meinen Augen; er blickte mich gerührt an: ›Du bemitleidest mich!‹ rief er. ›Du bemitleidest mich, mein Kind, und vielleicht bemitleidet mich noch ein anderes Kind, mein Sohn, le roi de Rome; der König von Rom (frz.) alle übrigen hassen mich, und meine Brüder werden die ersten sein, die mich in meinem Unglück verraten!‹ Aufschluchzend stürzte ich zu ihm hin; da konnte auch er sich nicht mehr beherrschen, wir umarmten uns, und unsere Tränen vermischten sich miteinander. ›Schreiben Sie, schreiben Sie einen Brief an die Kaiserin Josephine!‹ rief ich ihm weinend zu. Napoleon fuhr zusammen, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu mir: ›Du erinnerst mich an ein drittes Herz, das mich liebt; ich danke dir, mein Freund!‹ Darauf setzte er sich hin und schrieb jenen Brief an Josephine, mit dem Constant am folgenden Tag weggeschickt wurde.« »Das war schön von Ihnen gehandelt«, sagte der Fürst »Inmitten all der bösen Gedanken haben Sie ihn zu einem guten Gefühl hingeleitet.« »Ganz richtig, Fürst! Und wie schön Sie das ausdrücken, ganz in Übereinstimmung mit Ihrem eigenen Herzen!« rief der General entzückt, und seltsamerweise blinkten wirkliche Tränen in seinen Augen. »Ja, Fürst, ja, das war ein großartiges Schauspiel! Und wissen Sie, ich wäre beinah mit ihm nach Paris gegangen und hätte dann schließlich sein Los auf der ›heißen Insel der Verbannung‹ geteilt, aber leider gingen unsere Lebenswege auseinander! Wir trennten uns: er ging nach der heißen Insel, wo er sich vielleicht in einem Augenblick tiefen Grams wenigstens einmal noch an die Tränen des armen Knaben erinnert haben mag, der ihn in Moskau umarmt und von ihm Abschied genommen hatte; ich dagegen kam in das Kadettenkorps, wo ich nichts fand als Drill, rohes Benehmen der Kameraden und... Ach, alles war zu Ende! ›Ich will dich deiner Mutter nicht entziehen und werde dich daher nicht mitnehmen!‹ sagte er zu mir an dem Tag, an dem der Rückzug begann; ›aber ich würde gern etwas für dich tun.‹ Er stieg schon zu Pferd. ›Schreiben Sie mir etwas zum Andenken in das Album meiner Schwester!‹ sagte ich schüchtern, denn er war sehr zerstreut und finster. Er drehte sich um, verlangte eine Feder und nahm das Album. ›Wie alt ist deine Schwester?‹ fragte er mich, die Feder schon in der Hand haltend. ›Drei Jahre‹, antwortete ich. ›Petite fille alors.‹ Noch ein kleines Mädchen. (frz.) Er schrieb in das Album: Ne mentez jamais! Napoléon, votre ami sincère.Lügen Sie niemals! Napoléon, Ihr aufrichtiger Freund. (frz.) Ein solcher Rat und in einem solchen Augenblick, Sie müssen selbst sagen, Fürst ...« »Ja, das ist bedeutsam.« »Dieses Blatt hing in einem goldenen Rahmen unter Glas bei meiner Schwester zeitlebens in ihrem Salon an der augenfälligsten Stelle, bis zu ihrem Tode (sie starb im Wochenbett); wo es jetzt ist, weiß ich nicht... Aber... ach, mein Gott! Es ist schon zwei Uhr! Wie ich Sie aufgehalten habe, Fürst! Es ist unverzeihlich!« Der General stand von seinem Stuhl auf. »Oh, im Gegenteil!« stammelte der Fürst. »Sie haben mich so schön unterhalten, und... Ihre Mitteilungen... waren so interessant, ich bin Ihnen so dankbar!« »Fürst!« sagte der General, indem er ihm wieder die Hand drückte, so daß es fast schmerzte, und ihn mit glänzenden Augen unverwandt anblickte, als wäre er selbst auf einmal zur Besinnung gekommen und von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Fürst! Sie sind ein so guter, ein so harmloser Mensch, daß Sie mir manchmal geradezu leid tun. Ich sehe Sie mit inniger Rührung an, Gott segne Sie! Möge Ihr Leben... in Liebe beginnen und aufblühen! Das meine ist abgeschlossen! Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie!« Er ging schnell hinaus, das Gesicht mit den Händen bedeckend. An der Aufrichtigkeit seiner Erregung konnte der Fürst nicht zweifeln. Er verstand auch, daß der Alte wie berauscht von seinem Erfolg wegging, aber er ahnte doch, daß dieser Mensch zu derjenigen Sorte von Lügnern gehörte, die zwar bis zur Wollust und Selbstvergessenheit schwindeln, aber sogar auf dem Gipfelpunkt ihres Rausches im stillen noch argwöhnen, daß man ihnen nicht glaubt und nicht glauben kann. Es war denkbar, daß der Alte in seiner jetzigen Lage zur Besinnung kommen, sich über die Maßen schämen und den Fürsten verdächtigen würde, er bemitleide ihn nur, was ihn natürlich tief kränken mußte. ›Habe ich auch nicht schlecht daran getan, daß ich ihn bis zu solcher Begeisterung kommen ließ?‹ fragte sich der Fürst beunruhigt, konnte sich aber im nächsten Augenblick nicht mehr halten und brach in ein gewaltiges, wohl zehn Minuten anhaltendes Gelächter aus. Er wollte sich wegen dieses Gelächters Selbstvorwürfe machen, sah aber sofort ein, daß er dazu keinen Anlaß habe, weil ihm ja der General unendlich leid tat. Seine Ahnung ging in Erfüllung. Schon am Abend desselben Tages erhielt er einen sonderbaren Brief, der ebenso kurz wie energisch war. Der General teilte ihm darin mit, daß er sich auch von ihm für alle Zeiten trenne; er achte ihn und sei ihm dankbar, aber auch von ihm könne er nicht »Mitleidsbezeigungen annehmen, die die Würde eines ohnehin schon unglücklichen Mannes noch weiter herabdrücken«. Als der Fürst hörte, daß der Alte sich bei Nina Alexandrowna eingeschlossen habe, fühlte er sich seinetwegen beinahe beruhigt. Aber wir haben bereits gesehen, daß der General auch bei Lisaweta Prokofjewna Unheil anrichtete. Wir können hier keine Einzelheiten mitteilen, aber wir bemerken in aller Kürze, daß der Kernpunkt bei dieser Zusammenkunft darin bestand, daß der General Lisaweta Prokofjewna in Angst versetzte und durch seine bitteren Andeutungen über Ganja ihre Entrüstung erregte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gewiesen. Das war der Grund, weshalb er dann eine so schlechte Nacht und einen so schlechten Morgen hatte, allen Verstand verlor und zuletzt beinah geisteskrank auf die Straße lief. Kolja begriff immer noch nicht, was eigentlich vorging, und hoffte sogar, durch Strenge etwas bei seinem Vater zu erreichen. »Na, was denken Sie nun, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, General?« fragte er. »Zum Fürsten wollen Sie nicht, mit Lebedew haben Sie sich verzankt, Geld haben Sie nicht, und ich habe nie welches: da sitzen wir nun auf dem trockenen, mitten auf der Straße.« »Man sitzt angenehmer im Trockenen als auf dem trockenen«, murmelte der General. »Mit diesem Wortspiel habe ich Begeisterung erregt... in einer Offiziersgesellschaft... im Jahre vierundvierzig... Im Jahre tausend... achthundert... vierundvierzig, ja!... Ich entsinne mich nicht... Oh, erinnere mich nicht daran, erinnere mich nicht daran! ›Wo ist meine Jugend, meine Frische!‹ wie jemand ausrief ... Wer hat das doch ausgerufen, Kolja?« »Das kommt bei Gogol in den ›Toten Seelen‹ vor, Papa«, antwortete Kolja und schielte ängstlich nach dem Vater hin. »Tote Seelen! O ja, tote Seelen! Wenn du mich begraben läßt, dann schreib auf mein Grab: ›Hier ruht eine tote Seele!‹ Der Schande kann ich nicht entrinnen! Wer hat das gesagt, Kolja?« »Das weiß ich nicht, Papa.« »Jeropegow soll nicht existiert haben? Jeroschka Jeropegow!...« rief er ganz außer sich und blieb auf der Straße stehen. »Und das ist mein Sohn, mein leiblicher Sohn! Jeropegow, ein Mann, der elf Monate lang wie ein Bruder mit mir zusammen gelebt hat, für den ich zu einem Duell gegangen bin ... Fürst Wygorezkij, unser Hauptmann, sagte zu ihm, als wir bei der Flasche saßen: ›Du, Grischa, wo hast du denn deinen Anna-Orden erworben? Das möchte ich wirklich wissen.‹ – ›Auf den Schlachtfeldern meines Vaterlandes, da habe ich ihn erworben!‹ Ich rief: ›Bravo, Grischa!‹ Na, daraus entstand dann ein Duell. Und dann heiratete er Marja Petrowna Su... Sutugina und fiel auf dem Schlachtfeld... Die Kugel prallte von dem Kreuz ab, das ich auf der Brust trug, und fuhr ihm gerade in die Stirn. ›Ich werde dich in Ewigkeit nicht vergessen!‹ rief er und fiel tot nieder. Ich... ich habe mit Ehren gedient, Kolja, ich habe als anständiger Mann gedient, aber ›der Schande kann ich nicht entrinnen‹! Kommt ihr beide, du und Nina, zu meinem Grab... ›Arme Nina!‹ so habe ich sie früher genannt, Kolja; es ist schon lange her, noch in der ersten Zeit, und sie hörte das so gern!... Nina, Nina! Was habe ich dir für ein Schicksal bereitet! Wofür kannst du mich noch lieben, du geduldiges Herz? Deine Mutter hat das Herz eines Engels, Kolja, hörst du wohl? Das Herz eines Engels!« »Das weiß ich, Papa. Papa, liebster Papa, lassen Sie uns nach Hause zurückkehren, zu Mama! Sie ist uns ja nachgelaufen! Aber was stehen Sie denn so da? Als ob Sie es nicht begreifen... Na, warum weinen Sie denn?« Kolja weinte selbst und küßte seinem Vater die Hände. »Du küßt mir die Hände, mir?« »Nun ja, gewiß, gewiß. Was ist daran verwunderlich? Na, warum heulen Sie denn mitten auf der Straße? Und dabei nennen Sie sich General und wollen ein Soldat sein; na, nun kommen Sie!« »Gott segne dich, lieber Junge, dafür, daß du dich gegen deinen mit Schande bedeckten Vater respektvoll benommen hast... ja, gegen einen mit Schande bedeckten alten Mann, deinen Vater... Mögest du einmal einen ebensolchen Sohn haben... le roi de Rome... Oh, mein Fluch, mein Fluch über dieses Haus!« »Aber was soll denn dieser ganze Aufstand hier bedeuten?« brauste Kolja plötzlich auf. »Was ist denn passiert? Warum wollen Sie jetzt nicht nach Hause zurückkehren? Wieso sind Sie so verrückt geworden?« »Ich werde es dir erklären, werde es dir erklären... ich werde dir alles sagen. Schrei nicht so, die Leute hören es... le roi de Rome... Ach, mir ist so übel, und ich bin so traurig! Wo ist dein Grab, du alte Kinderfrau? Wer hat so gerufen, Kolja?« »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig ist ... Aber wo wollen Sie denn wieder hin?« Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses. »Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!« Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran. »Bück dich, bück dich!« murmelte er. »Ich will dir alles sagen... die Schande... bück dich... mit dem Ohr, mit dem Ohr, ich will es dir ins Ohr sagen...« »Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin. »Le roi de Rome...«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leibe zitterte. »Was?... Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome?...« »Ich... ich...«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich... will... ich will dir... alles... Marja, Marja... Petrowna Su-su-su...« Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und blickte ihn an wie ein Irrsinniger. Der Alte wurde dunkelrot, seine Lippen färbten sich bläulich, leichte, krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in Koljas Arme zu sinken. »Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte. V Um die Wahrheit zu sagen, Warwara Ardalionowna hatte in dem Gespräch mit ihrem Bruder die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten über die Verlobung des Fürsten mit Aglaja Jepantschina ein wenig übertrieben. Vielleicht sah sie als scharfsichtige Frau das voraus, was in naher Zukunft geschehen mußte, vielleicht hatte sie sich auch darüber geärgert, daß der schöne Zukunftstraum (an den sie übrigens, um die Wahrheit zu sagen, selbst nicht geglaubt hatte) wie ein Rausch zerflattert war, und konnte sich nun, was ja nur menschlich ist, das Vergnügen nicht versagen, durch Übertreibung des Mißgeschicks noch mehr Gift in das Herz ihres Bruders zu gießen, den sie übrigens aufrichtig liebte und bemitleidete. Aber jedenfalls hatte sie unmöglich von ihren Freundinnen, den Fräulein Jepantschin, so bestimmte Nachrichten erhalten können; es lagen nur Andeutungen, halb ausgesprochene Worte, bedeutsames Stillschweigen und rätselhafte Redewendungen vor. Vielleicht hatten Aglajas Schwestern aber auch absichtlich ein Wörtchen zuviel gesagt, um selbst etwas von Warwara Ardalionowna in Erfahrung zu bringen; möglich war schließlich auch, daß auch sie sich das echt weibliche Vergnügen nicht hatten versagen wollen, ihre Freundin, und wenn es auch eine Freundin aus der Kinderzeit war, ein klein wenig zu necken, denn in dieser ganzen Zeit hatten sie doch wenigstens ein bißchen von den Absichten der Freundin merken müssen. Andrerseits hatte sich vielleicht auch der Fürst geirrt, als er, in der Meinung, durchaus die Wahrheit zu sagen, Herrn Lebedew versicherte, er habe ihm nichts mitzuteilen und es habe sich mit ihm gar nichts Besonderes zugetragen. Tatsächlich war mit allen etwas sehr Seltsames vorgegangen: es hatte sich nichts zugetragen und gleichzeitig doch auch gewissermaßen sehr viel zugetragen. Letzteres hatte auch Warwara Ardalionowna mit ihrem zuverlässigen weiblichen Instinkt erraten. Wie es aber zugegangen war, daß in der Familie Jepantschin alle einmütig auf ein und denselben Gedanken gekommen waren, daß sich nämlich mit Aglaja etwas Wichtiges ereignet habe und ihr Schicksal sich nun entscheide, dies in der richtigen Ordnung darzulegen, ist sehr schwer. Aber kaum war dieser Gedanke bei allen gleichzeitig aufgeblitzt, als sofort alle zusammen behaupteten, sie hätten das alles schon längst deutlich vorhergesehen; alles sei schon seit dem »armen Ritter«, ja schon früher klar gewesen, nur hätten sie damals an eine solche Abgeschmacktheit noch nicht glauben mögen. Das versicherten die Schwestern; natürlich hatte auch Lisaweta Prokofjewna früher als alle andern alles vorhergesehen und erkannt, und es hatte ihr schon längst »das Herz weh getan«; aber mochte das nun schon längst der Fall gewesen sein oder nicht, jedenfalls war ihr der Gedanke an den Fürsten jetzt sehr unbehaglich, hauptsächlich deswegen, weil dieser Gedanke sie ganz durcheinanderbrachte. Es trat ihr hier eine Frage entgegen, die unverzüglich entschieden werden mußte; aber nicht nur die Entscheidung war unmöglich, sondern die arme Lisaweta Prokofjewna war trotz aller Bemühungen nicht einmal imstande, die Frage mit völliger Klarheit zu formulieren. Die Sache war sehr schwierig: war der Fürst akzeptabel oder nicht? War diese ganze Geschichte gut oder nicht? Wenn sie nicht gut war (und das unterlag keinem Zweifel), inwiefern war sie dann nicht gut? Wenn sie aber vielleicht doch gut war (was ebenfalls im Bereich des Möglichen lag), inwiefern war sie dann wieder gut? Das Oberhaupt der Familie selbst, Iwan Fjodorowitsch, war selbstverständlich zuerst höchst erstaunt, gestand dann aber auf einmal, daß auch ihm »bei Gott, immer schon etwas in dieser Art vorgeschwebt habe«, er habe es nicht wahrhaben wollen, aber dann habe es ihm »plötzlich doch vorgeschwebt«. Er verstummte sofort unter dem drohenden Blick seiner Gattin; aber wenn er auch am Vormittag verstummt war, so sah er sich doch am Abend, als er mit seiner Gattin unter vier Augen war, wieder genötigt zu reden und brachte mit besonderer Kühnheit einige überraschende Gedanken zum Ausdruck: »Im Grunde, wie steht die Sache denn...?« (Hier schwieg er eine Weile.) »All das ist ja gewiß sehr sonderbar, vorausgesetzt, daß es wahr ist, und ich will nicht darüber streiten, aber...« (Er schwieg von neuem.) »Andrerseits, wenn man die Dinge mit offenen Augen ansieht, ist ja der Fürst wirklich ein prächtiger Bursche, und... und, und, na, schließlich kommt auch der Name in Betracht, unser Familienname, die Heirat wird sozusagen als Hebung dieses in den Augen der Welt niedrig stehenden Namens erscheinen, das heißt, von diesem Gesichtspunkt aus, das heißt, weil... natürlich die Welt; die Welt ist eben die Welt. Der Fürst ist doch auch nicht ohne Vermögen, wenn es auch nicht sehr bedeutend ist. Er hat auch... auch... auch...« (Hier schwieg er lange und verstummte endgültig.) Nachdem Lisaweta Prokofjewna diese Äußerungen ihres Gatten angehört hatte, durchbrach ihr Affekt alle Schranken. Ihrer Meinung nach war alles, was vorgegangen war, ein unverzeihlicher, geradezu verbrecherischer Unsinn, ein dummes, abgeschmacktes Hirngespinst. »Erstens ist dieser Jammerfürst ein kranker Idiot, zweitens ein Dummkopf; er kennt weder die Welt, noch besitzt er eine Stellung in der Welt; wem soll man ihn präsentieren, wohin mit ihm? Er hat eine ganz unerlaubte demokratische Gesinnung und nicht den geringsten Dienstrang, und... und... was wird die alte Bjelokonskaja dazu sagen? Haben wir uns etwa einen solchen Mann für Aglaja gewünscht und in Aussicht genommen?« Das letzte Argument war selbstverständlich das wichtigste. Das Herz der Mutter zitterte bei diesem Gedanken und schwamm in Blut und Tränen, obwohl gleichzeitig im Innern dieses Herzens sich etwas regte und zu ihr sagte: ›In welcher Hinsicht ist eigentlich der Fürst kein solcher Schwiegersohn, wie ihr ihn braucht?‹ Und gerade diese Erwiderungen ihres eigenen Herzens waren es, die Lisaweta Prokofjewna am meisten zu schaffen machten. Aglajas Schwestern gefiel der Gedanke an den Fürsten nicht übel; ja, dieser Gedanke schien ihnen nicht einmal besonders seltsam; kurz, es war nicht ausgeschlossen, daß sie plötzlich auf die Seite des Fürsten traten. Aber sie entschieden sich beide zu schweigen. Man hatte in der Familie ein für allemal die Beobachtung gemacht: je eigensinniger und hartnäckiger in einer die ganze Familie betreffenden Streitfrage Lisaweta Prokofjewnas Widerspruch und Widerstand war, um so mehr konnte dies allen als ein Anzeichen dafür dienen, daß sie vielleicht schon mit ihnen in dieser Streitfrage einverstanden war. Übrigens konnte Alexandra Iwanowna sich nicht völlig schweigsam verhalten. Die Mama, von der sie schon seit langer Zeit als Ratgeberin anerkannt war, rief sie jetzt alle Augenblicke zu sich und verlangte ihre Meinung zu hören; namentlich aber mußte Alexandra ihr mit ihrem Gedächtnis aushelfen. Die Mutter fragte zum Beispiel: wie das alles gekommen sei? Warum das niemand gesehen habe? Warum sie damals nichts gesagt hätten? Was damals dieser widerwärtige »arme Ritter« zu bedeuten gehabt habe? Warum sie, Lisaweta Prokofjewna, allein dazu verurteilt sei, für alle zu sorgen, auf alles aufzupassen und alles vorauszusehen, während alle übrigen nur Maulaffen feilhielten und so weiter und so weiter. Alexandra Iwanowna war anfangs vorsichtig und bemerkte nur, sie halte Papas Ansicht für ganz richtig, daß in den Augen der Welt die Wahl des Fürsten Myschkin zum Ehemann einer der Jepantschinschen Töchter möglicherweise als eine sehr vernünftige Handlung erscheinen werde. Allmählich redete sie sich in Eifer und fügte hinzu, der Fürst sei überhaupt kein »Dummkopf« und nie ein solcher gewesen, und was die Stellung in der Gesellschaft anlange, so könne noch kein Mensch wissen, was man in einigen Jahren bei uns in Rußland für die gesellschaftliche Stellung eines anständigen Menschen als notwendig erachten werde: die Bekleidung eines höheren Amtes, wie dies bisher erforderlich war, oder irgend etwas anderes. Auf all diese Bemerkungen antwortete die Mama sofort in aller Schärfe, Alexandra sei ein »Freigeist«, und all das komme von der »verdammten Frauenfrage« her. Eine halbe Stunde darauf begab sie sich in die Stadt und von dort nach dem »Kamennyj Ostrow«, Stadtteil von Petersburg (deutsch: »Steinerne Insel«) um die alte Bjelokonskaja zu besuchen, die zufällig gerade um diese Zeit nach Petersburg gekommen war, aber bald wieder abreisen wollte. Sie war Aglajas Patin. Die »alte« Bjelokonskaja hörte Lisaweta Prokofjewnas fieberhafte, verzweifelte Bekenntnisse an, ohne sich durch die Tränen der fassungslosen Familienmutter im geringsten rühren zu lassen, ja sie blickte diese sogar recht spöttisch an. Sie war eine schreckliche Despotin; sie konnte sich nicht dazu herbeilassen, ihre Freundinnen, mochte die Freundschaft auch noch so alt sein, als ihr gleichstehende Personen zu behandeln, und auf Lisaweta Prokofjewna blickte sie, gerade wie vor dreißig Jahren, immer noch wie auf ihre protégée herab und konnte sich mit der Schroffheit und Selbständigkeit ihres Charakters nicht aussöhnen. Sie bemerkte unter anderm, sie schienen da alle nach ihrer ständigen Gewohnheit reichlich voreilig gewesen zu sein und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht zu haben; sie habe sich trotz genauesten Zuhörens nicht davon überzeugen können, daß bei ihnen tatsächlich etwas Ernsthaftes vorgegangen sei; ob es nicht das beste sei, noch ein Weilchen zu warten, bis sich etwas ereigne; der Fürst sei nach ihrer Meinung ein anständiger junger Mann, wenn er auch krank, sonderbar und recht unbedeutend sei. Das schlimmste sei, daß er sich ganz offen eine Geliebte halte. Lisaweta Prokofjewna merkte sehr wohl, daß die alte Bjelokonskaja auf sie ein bißchen böse war, weil der von ihr warm empfohlene Jewgenij Pawlowitsch bei der Familie keinen Erfolg gehabt hatte. Ihre Stimmung war bei der Rückkehr nach Pawlowsk noch gereizter als vor dieser Fahrt, und alle bekamen sofort gehörig etwas ab, vor allem, weil sie »ganz verrückt« geworden seien. In keiner Familie gehe es so zu wie bei ihnen. »Warum habt ihr es so eilig gehabt? Was ist denn vorgegangen? Soviel ich mich umsehe, ich kann nicht finden, daß wirklich etwas vorgegangen ist! Wartet erst einmal ab, bis sich etwas ereignet! Was Iwan Fjodorowitsch nicht alles vorschwebt! Aus einer Mücke soll man nicht gleich einen Elefanten machen.« Und so weiter. Es lief darauf hinaus, man müsse sich beruhigen, kaltblütig beobachten und abwarten. Aber leider hielt die Ruhe keine zehn Minuten vor. Den ersten Stoß erhielt die Kaltblütigkeit durch die Nachrichten über das, was sich zugetragen hatte, während die Mama auf dem Kamennyj Ostrow gewesen war. (Lisaweta Prokofjewnas Fahrt hatte an dem Tag stattgefunden, an welchem der Fürst statt um zehn Uhr um ein Uhr gekommen war.) Die Schwestern antworteten auf die ungeduldigen Fragen der Mama sehr ausführlich. Es sei in ihrer Abwesenheit absolut nichts vorgefallen. Der Fürst sei gekommen; Aglaja sei lange, wohl eine halbe Stunde lang, nicht zu ihm hereingekommen; als sie dann endlich hereingekommen sei, habe sie dem Fürsten sofort eine Partie Schach angeboten; aber vom Schachspiel verstehe der Fürst so gut wie nichts, und Aglaja habe ihn sogleich besiegt; sie sei sehr lustig geworden, habe den Fürsten wegen seiner Unkenntnis schrecklich verspottet und ihn dermaßen ausgelacht, daß er einem habe leid tun können. Dann habe sie ihm den Vorschlag gemacht, mit ihr Karten zu spielen, und zwar Schafskopf. Aber dabei sei das Resultat gerade das umgekehrte gewesen: der Fürst habe bei diesem Spiel eine solche Stärke bewiesen wie... wie ein Professor dieser Kunst und habe ganz meisterhaft gespielt; Aglaja habe sogar gemogelt und Karten vertauscht und ihm vor seinen Augen Stiche gestohlen, aber er habe sie trotzdem jedesmal zum Schafskopf gemacht, fünfmal hintereinander. Aglaja sei furchtbar wütend geworden und habe alle Selbstbeherrschung verloren; sie habe dem Fürsten solche Anzüglichkeiten und Unartigkeiten gesagt, daß er nicht mehr gelacht habe, und als sie ihm schließlich gesagt habe, sie würde sich in diesem Zimmer nicht aufhalten, solange er darin sitze, und er müsse sich eigentlich schämen, daß er nach allem Vorgefallenen noch zu ihnen gekommen sei, und noch dazu zwischen zwölf und ein Uhr nachts, da sei er ganz blaß geworden. Darauf sei sie hinausgegangen und habe die Tür hinter sich zugeschlagen. Der Fürst sei fortgegangen wie von einem Begräbnis, obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten gesucht hätten. Auf einmal, ungefähr eine Viertelstunde, nachdem der Fürst weggegangen sei, sei Aglaja von oben nach der Veranda heruntergelaufen gekommen, so eilig, daß sie sich nicht einmal die Augen habe trocknen können, und sie sei ganz verweint gewesen; heruntergelaufen sei sie aber deswegen, weil Kolja gekommen sei und einen Igel gebracht habe. Sie hätten sich nun alle den Igel angesehen; auf ihre Fragen habe Kolja erklärt, der Igel gehöre nicht ihm; er, Kolja, sei mit einem Kameraden, einem andern Gymnasiasten, nämlich Kostja Lebedew, zusammen ausgegangen, der jetzt auf der Straße geblieben sei und sich geniere, hereinzukommen, weil er ein Beil trage; sowohl den Igel als auch das Beil hätten sie soeben von einem ihnen entgegenkommenden Bauern gekauft. Den Igel habe der Bauer ihnen angeboten und fünfzig Kopeken dafür genommen, das Beil zu verkaufen, hätten sie ihn jedoch selbst überredet, weil es sich gerade so gut getroffen habe, und es sei wirklich ein sehr gutes Beil. Nun habe Aglaja angefangen, Kolja mit Bitten zu bestürmen, er möchte ihr sogleich den Igel verkaufen; sie sei ganz außer sich gewesen und habe ihn sogar »lieber Kolja« genannt. Kolja habe lange nicht einwilligen wollen, schließlich aber doch nicht widerstehen können und Kostja Lebedew hereingerufen, der wirklich mit dem Beil hereingekommen sei und sich sehr verlegen benommen habe. Aber nun habe sich auf einmal herausgestellt, daß der Igel überhaupt nicht ihnen gehörte, sondern einem dritten Knaben, namens Petrow, der ihnen beiden Geld gegeben hatte, damit sie für ihn Schlossers Weltgeschichte von einem vierten Knaben kauften, der sich in Geldverlegenheit befand und dieses Werk billig losschlagen wollte; sie seien nun unterwegs gewesen, um Schlossers Weltgeschichte zu kaufen, hätten aber der Verlockung nicht widerstehen können und den Igel gekauft, so daß also sowohl der Igel als auch das Beil Eigentum jenes dritten Knaben seien, dem sie diese beiden Dinge nun an Stelle von Schlossers Weltgeschichte bringen wollten. Aber Aglaja habe ihnen so zugesetzt, daß sie schließlich nachgegeben und ihr den Igel verkauft hätten. Sowie Aglaja den Igel bekommen habe, habe sie ihn sogleich mit Koljas Hilfe in ein geflochtenes Körbchen gesetzt, mit einer Serviette zugedeckt und Kolja gebeten, ihn sogleich, ohne sich unterwegs irgendwo aufzuhalten, in ihrem Namen zum Fürsten zu bringen mit der Bitte, ihn als »ein Zeichen ihrer größten Hochachtung« anzunehmen. Kolja habe freudig eingewilligt und sein Wort gegeben, daß er ihn hinbefördern werde, aber sofort durchaus von ihr wissen wollen, was ein Igel oder ein ähnliches Geschenk bedeute. Aglaja habe ihm geantwortet, das gehe ihn nichts an. Er habe erwidert, er sei überzeugt, daß eine Allegorie dahinterstecke. Aglaja sei ärgerlich geworden und habe ihm in scharfem Ton geantwortet, er sei ein dummer Junge und weiter nichts. Kolja habe ihr daraufhin sofort erwidert, wenn er nicht in ihr die Frau achtete und außerdem seine Grundsätze hätte, so würde er ihr auf der Stelle beweisen, daß er auf solche Beleidigungen sehr wohl zu antworten verstehe. Die Sache habe übrigens damit geendet, daß Kolja doch mit Begeisterung davongegangen sei, um den Igel hinzubringen, und daß Kostja Lebedew hinter ihm hergelaufen sei. Als Aglaja gesehen habe, daß Kolja mit dem Körbchen zu sehr schlenkerte, habe sie ihm von der Veranda aus nachgerufen: »Bitte, Kolja, lassen Sie ihn nicht herausfallen, mein Täubchen!«, als ob sie sich kurz vorher überhaupt nicht mit ihm gezankt hätte; Kolja sei stehengeblieben und habe, ebenfalls, als ob er sich mit ihr nicht gezankt hätte, mit der größten Dienstbeflissenheit zurückgerufen: »Ich werde ihn schon nicht herausfallen lassen, Aglaja Iwanowna, seien Sie ganz unbesorgt!« und sei wieder spornstreichs weitergelaufen. Aglaja habe hierauf furchtbar gelacht, sei höchst zufrieden auf ihr Zimmer gegangen und dann den ganzen Tag über sehr lustig gewesen. Durch diese Nachricht wurde Lisaweta Prokofjewna geradezu betäubt. Man könnte meinen: was war denn eigentlich vorgefallen? Aber sie war nun einmal in eine solche Stimmung hineingeraten. Ihre Unruhe stieg nun auf den höchsten Grad, und die Hauptsache war der Igel; was bedeutete der Igel? Was steckte dahinter? Was hatte das für einen geheimen Sinn? Was war das für ein Zeichen, was für ein Telegramm? Dazu kam noch, daß der arme Iwan Fjodorowitsch, der zufällig bei dem Verhör zugegen war, durch eine Antwort die ganze Sache vollständig verdarb. Seiner Meinung nach konnte von einem Telegramm überhaupt nicht die Rede sein, der Igel sei einfach ein Igel, weiter nichts, und bedeute vielleicht außerdem noch Freundschaft, Vergessen der Kränkungen, Versöhnung, kurz, das Ganze sei ein mutwilliger Streich, aber jedenfalls harmlos und verzeihlich. In Klammern bemerken wir, daß er damit durchaus das Richtige getroffen hatte. Als der Fürst, von Aglaja verhöhnt und davongejagt, nach Hause zurückgekehrt war, hatte er schon eine halbe Stunde in der düstersten Verzweiflung dagesessen, als auf einmal Kolja mit dem Igel erschien. Sofort klärte sich der Himmel auf; der Fürst erstand gleichsam wieder von den Toten, fragte Kolja aus, klammerte sich an jedes Wort, das dieser sagte, erkundigte sich zehnmal nach derselben Sache, lachte wie ein Kind und drückte den beiden lachenden und ihn vergnügt anblickenden Knaben alle Augenblicke die Hände. Es war also klar, daß Aglaja ihm verzieh und er gleich heute abend wieder zu ihr gehen konnte, und das war für ihn nicht nur die Hauptsache, sondern geradezu alles. »Was sind wir noch für Kinder, Kolja! Und... und... wie gut, daß wir noch Kinder sind!« rief er endlich entzückt aus. »Es ist ganz einfach: sie ist in Sie verliebt, Fürst, weiter nichts!« antwortete Kolja nachdrücklich mit der Miene eines Sachverständigen. Der Fürst wurde dunkelrot, erwiderte aber diesmal kein Wort, während Kolja nur lachte und in die Hände klatschte; einen Augenblick darauf fing auch der Fürst an zu lachen, und dann sah er bis zum Abend alle fünf Minuten nach der Uhr, ob schon viel Zeit vergangen und wieviel noch bis zum Abend übrig sei. Aber für Lisaweta Prokofjewna war die Erregung doch zu stark; sie konnte sich schließlich nicht mehr beherrschen und überließ sich einer hysterischen Anwandlung. Trotz aller Einwände ihres Gatten und ihrer Töchter ließ sie unverzüglich Aglaja rufen, um ihr die entscheidende Frage vorzulegen und von ihr eine klare, entscheidende Antwort zu erhalten. »Die ganze Geschichte soll mit einemmal ein Ende nehmen«, erklärte sie, »wir müssen die Last von den Schultern loswerden, so daß künftig gar nicht mehr davon gesprochen wird! Sonst erlebe ich diesen Abend nicht mehr!« Erst in diesem Augenblick merkten alle, wie unsinnig weit sie die Sache hatten kommen lassen. Aber außer gekünstelter Verwunderung und Entrüstung sowie spöttischem Lachen über den Fürsten und alle Fragenden war von Aglaja nichts zu erreichen. Lisaweta Prokofjewna legte sich ins Bett und erschien erst wieder zum Tee, zu der Zeit, als der Fürst erwartet wurde. Sie erwartete den Fürsten mit großer Unruhe, und als er erschien, bekam sie beinahe wieder einen hysterischen Anfall. Aber auch der Fürst selbst trat schüchtern ein, sozusagen tastend; er lächelte seltsam, blickte allen in die Augen und legte allen gewissermaßen eine Frage vor, weil Aglaja wieder nicht im Zimmer war, was ihn sofort beunruhigte. An diesem Abend war kein Fremder zugegen, sondern nur die Familienmitglieder. Fürst Schtsch. war noch in Petersburg wegen der Sache mit Jewgenij Pawlowitschs Onkel. ›Wenn doch wenigstens der da wäre und etwas redete!‹ dachte Lisaweta Prokofjewna bekümmert. Iwan Fjodorowitsch saß mit sehr sorgenvoller Miene da; die Schwestern waren ernsthaft und wie absichtlich schweigsam. Lisaweta Prokofjewna wußte nicht, womit sie ein Gespräch anfangen sollte. Endlich begann sie kräftig auf die Eisenbahn zu schimpfen und sah dabei den Fürsten herausfordernd an. O weh! Aglaja erschien immer noch nicht, und dem Fürsten sank der Mut. Stammelnd und verwirrt äußerte er die Meinung, daß Reparaturen der Strecke allerdings sehr nützlich sein würden, aber Adelaida brach plötzlich in ein Gelächter aus, und der Fürst war wieder wie vernichtet. In dem gleichen Augenblick trat Aglaja ein, ruhig und würdevoll; sie erwiderte steif die Verbeugung des Fürsten und setzte sich feierlich auf den sichtbarsten Platz an dem runden Tisch. Sie blickte den Fürsten fragend an. Alle sagten sich, daß nun alle unklaren Fragen ihre Entscheidung finden würden. »Haben Sie meinen Igel erhalten?« fragte sie ihn mit fester Stimme und beinah zornig. »Ja, ich habe ihn erhalten«, antwortete der Fürst errötend und in ängstlicher Spannung. »Sagen Sie unverzüglich, was Sie darüber denken! Das ist zur Beruhigung Mamas und unserer ganzen Familie unumgänglich notwendig.« »Hör mal, Aglaja...«, begann der General beunruhigt. »Das überschreitet ja alle Grenzen!« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken. »Von Grenzen ist hier gar nicht die Rede, maman«, antwortete die Tochter sofort in sehr ernstem Ton. »Ich habe heute dem Fürsten einen Igel geschickt und wünsche seine Meinung kennenzulernen. Nun, reden Sie, Fürst!« »Das heißt, was für eine Meinung, Aglaja Iwanowna?« »Ihre Meinung über den Igel.« »Das heißt... ich glaube, Aglaja Iwanowna, daß Sie wissen wollen, wie ich... den Igel aufgenommen habe... oder, besser gesagt, was ich über diese Zusendung... des Igels denke, das heißt... in diesem Fall nehme ich an, daß Sie... mit einem Wort...« Der Atem ging ihm aus, und er verstummte. »Nun, viel haben Sie gerade nicht gesagt«, bemerkte Aglaja, nachdem sie etwa fünf Sekunden gewartet hatte. »Nun gut, ich bin einverstanden, daß wir den Igel beiseite lassen, aber ich freue mich sehr, daß ich endlich all den Unklarheiten, die sich angesammelt haben, ein Ende machen kann. Erlauben Sie also, daß ich Sie jetzt endlich ganz persönlich frage: halten Sie um meine Hand an oder nicht?« »O Gott!« entfuhr es Lisaweta Prokofjewna. Der Fürst zuckte zusammen und fuhr zurück. Iwan Fjodorowitsch war starr; die Schwestern machten finstere Gesichter. »Lügen Sie nicht, Fürst! Sagen Sie die Wahrheit! Man verfolgt mich Ihretwegen mit seltsamen Fragen; haben diese Fragen irgendeine Begründung? Nun?« »Ich habe nicht um Ihre Hand angehalten, Aglaja Iwanowna«, sagte der Fürst, der plötzlich lebhaft wurde, »aber... Sie wissen selbst, wie ich Sie liebe und an Sie glaube... sogar jetzt...« »Ich fragte Sie: halten Sie um meine Hand an oder nicht?« »Ja, ich tue es«, erwiderte der Fürst beklommen. Auf diese Worte folgte eine allgemeine, starke Bewegung. »So geht das nicht, mein Kind«, sagte Iwan Fjodorowitsch in starker Erregung. »Das...das ist beinah unerhört, Glascha... Verzeihen Sie, Fürst, verzeihen Sie, mein Teuerster!... Lisaweta Prokofjewna!« wandte er sich an seine Gattin um Hilfe, »es wird nötig sein... zu überlegen...« »Ich weigere mich, ich weigere mich!« rief Lisaweta Prokofjewna mit abwehrenden Handbewegungen. »Gestatten Sie auch mir zu reden, maman; ich bin in einer solchen Angelegenheit doch auch von einiger Wichtigkeit: dies ist der Augenblick, in dem sich mein Schicksal entscheidet« (genau so drückte Aglaja sich aus), »und ich will selbst Bescheid wissen und freue mich außerdem, daß es in Gegenwart aller geschieht... Wenn Sie also ›ernste Absichten haben‹, Fürst, so gestatten Sie mir die Frage, wodurch Sie mich eigentlich glücklich zu machen gedenken!« »Ich weiß wirklich nicht, Aglaja Iwanowna, was ich Ihnen antworten soll; was... was soll ich da antworten? Und dann... ist es denn notwendig?« »Sie scheinen verlegen geworden zu sein und keine Luft zu bekommen; erholen Sie sich ein wenig und sammeln Sie neue Kraft; trinken Sie ein Glas Wasser; übrigens wird auch gleich Tee gebracht.« »Ich liebe Sie, Aglaja Iwanowna, ich liebe Sie sehr, ich liebe nur Sie allein und... bitte treiben Sie keinen Scherz, ich liebe Sie sehr.« »Aber das ist doch schließlich eine wichtige Sache; wir sind keine Kinder und müssen es vom praktischen Standpunkt aus ansehen... Haben Sie jetzt die Güte anzugeben, worin Ihr Vermögen besteht!« »Aber, aber, Aglaja! Was redest du! Das ist ja ungehörig, ganz ungehörig...«, murmelte Iwan Fjodorowitsch erschrocken. »Eine Schande!« flüsterte Lisaweta Prokofjewna laut. »Sie ist verrückt geworden!« flüsterte Alexandra ebenso laut. »Mein Vermögen... das heißt mein Geld?« fragte der Fürst erstaunt. »Ganz richtig.« »Ich besitze... ich besitze jetzt hundertfünfunddreißigtausend Rubel«, murmelte der Fürst errötend. »Mehr nicht?« fragte Aglaja laut und in aufrichtiger Verwunderung, ohne irgendwie zu erröten. »Übrigens, das macht nichts, namentlich bei sparsamer Wirtschaft... Beabsichtigen Sie, ein Amt anzunehmen?« »Ich wollte die Hauslehrerprüfung ablegen...« »Sehr schön, das wird natürlich unsere Mittel vermehren. Haben Sie vor, Kammerjunker zu werden?« »Kammerjunker? Daran habe ich nie gedacht; aber...« Aber hier konnten sich die beiden Schwestern nicht mehr halten und prusteten vor Lachen los. Adelaida hatte schon lange in Aglajas zuckenden Gesichtsmuskeln die Vorzeichen eines eilig nahenden, unbezwinglichen Gelächters bemerkt, das Aglaja vorläufig noch mit aller Kraft unterdrückte. Aglaja wollte den lachenden Schwestern einen drohenden Blick zuwerfen, konnte sich aber selbst keine Sekunde länger beherrschen und brach ebenfalls in ein tolles, fast hysterisches Gelächter aus; schließlich sprang sie auf und lief aus dem Zimmer. »Das habe ich doch gewußt, daß es nur ein Spaß war und weiter nichts!« rief Adelaida. »Von Anfang an, schon mit dem Igel!« »Nein, das kann ich nicht mehr dulden, das kann ich nicht mehr dulden!« rief Lisaweta Prokofjewna, in heftigem Zorn aufbrausend, und lief schnell hinter Aglaja her. Auch die Schwestern eilten sofort der Mutter nach. Im Zimmer blieben nur der Fürst und das Oberhaupt der Familie. »Das, das ist ja... kannst du dir so etwas vorstellen, Lew Nikolajitsch?« rief der General heftig; er wußte offenbar selbst nicht, was er sagen wollte. »Nein, im Ernst, sage im Ernst!« »Ich sehe, daß Aglaja Iwanowna sich über mich lustig gemacht hat«, antwortete der Fürst traurig. »Warte einen Augenblick, Bruder; ich will hingehen, und du wartest hier... denn... erkläre wenigstens du mir, Lew Nikolajitsch, wie das alles gekommen ist und was das alles sozusagen für einen Zweck verfolgt! Du mußt selbst zugeben, Bruder, ich bin schließlich der Vater, aber obwohl ich der Vater bin, verstehe ich überhaupt nichts mehr. Also gib wenigstens du mir eine Erklärung!« »Ich liebe Aglaja Iwanowna; das weiß sie und... ich meine, sie weiß es schon lange.« Der General zuckte mit den Achseln. »Seltsam, seltsam... du liebst sie sehr?« »Ja, ich liebe sie sehr.« »Das alles kommt mir so seltsam vor, so seltsam! Ich meine, es ist eine solche Überraschung, etwas so Unerwartetes, daß... Siehst du, mein Lieber, ich will nicht von deinem Vermögen reden (obwohl ich geglaubt hatte, daß du mehr besäßest), aber... das Glück meiner Tochter muß mir... und schließlich... bist du denn imstande, sie sozusagen... glücklich zu machen? Und... und... was war das? War das von ihrer Seite Spaß oder Ernst? Ich meine nicht von deiner Seite, sondern von ihrer Seite?« Hinter der Tür ließ sich Alexandra Iwanownas Stimme vernehmen; sie rief den Papa. »Warte einen Augenblick, Bruder, warte! Warte und denke über die Sache nach, ich komme gleich wieder...«, sagte er hastig und leistete eilig und beinah erschrocken dem Ruf seiner Tochter Folge. Er fand folgende Gruppe vor: seine Gattin und Aglaja lagen sich in den Armen und zerflossen in Tränen. Es waren Tränen der Glückseligkeit, der Rührung und der Versöhnung. Aglaja küßte ihrer Mutter die Hände, die Wangen, die Lippen; beide hielten sich fest umschlungen. »Also da ist sie, sieh sie dir an, Iwan Fjodorytsch! Da hast du sie jetzt ganz, wie sie ist!« sagte Lisaweta Prokofjewna. Aglaja wandte ihr glückseliges, verweintes Gesichtchen von der Brust der Mama weg, blickte den Papa an, lachte laut auf, sprang zu ihm hin, umarmte ihn kräftig und küßte ihn mehrmals. Dann stürzte sie wieder zur Mutter und verbarg ihr Gesicht völlig an deren Brust, so daß es niemand mehr sehen konnte, und begann gleich wieder zu weinen. Lisaweta Prokofjewna bedeckte sie mit dem Ende ihres Schals. »Aber was in aller Welt richtest du uns denn nur an, du grausames Mädchen; denn so muß man dich nach solchem Benehmen nennen!« sagte sie, aber in freudigem Ton, als ob sie jetzt leichter atme. »Ich bin grausam, ja, grausam!« fiel Aglaja ein. »Ich bin unartig! Verwöhnt! Sagen Sie es Papa! Ach, er ist ja hier. Papa, sind Sie hier? Hören Sie doch!« rief sie, unter Tränen lachend. »Mein liebes Kind, mein Abgott!« rief der General und küßte ihr strahlend vor Glückseligkeit die Hand, die Aglaja ihm nicht entzog. »Also du liebst diesen jungen Mann?« »Nein, nein, nein! Ich kann... Ihren jungen Mann nicht leiden, ich kann ihn nicht leiden!« rief Aglaja plötzlich aufbrausend und hob den Kopf. »Und wenn Sie, Papa, es noch einmal wagen... ich sage Ihnen das ganz im Ernst; hören Sie: ganz im Ernst!« Sie sprach wirklich im Ernst: sie war sogar ganz rot geworden, und ihre Augen blitzten. Der Papa schwieg erschrocken; aber Lisaweta Prokofjewna machte ihm, ohne daß Aglaja es merkte, ein Zeichen, und er verstand, was es bedeuten sollte: ›Frage nicht weiter!‹ »Wenn es so steht, mein Engel, nun, dann wie du willst, meinetwegen, er wartet dort allein; sollen wir ihm nicht auf zarte Weise andeuten, daß er fortgehen möchte?« Dabei zwinkerte der General seinerseits Lisaweta Prokofjewna zu. »Nein, nein, ganz unnötig, noch dazu, wenn es ›auf zarte Weise‹ geschieht: gehen Sie selbst zu ihm hin; ich werde dann auch gleich kommen. Ich will diesen ... diesen jungen Mann um Entschuldigung bitten, denn ich habe ihn gekränkt.« »Und sehr hast du ihn gekränkt«, bestätigte Iwan Fjodorowitsch ernst. »Nun, dann... bleibt lieber alle hier, ich werde zuerst allein hingehen, kommt mir dann gleich nach, in einer Sekunde! So wird es das beste sein!« Sie war schon zur Tür gegangen, drehte sich aber plötzlich wieder um. »Ich werde loslachen! Ich werde vor Lachen sterben!« sagte sie traurig. Aber in demselben Augenblick wandte sie sich um und lief zum Fürsten. »Nun, was soll das alles heißen? Wie denkst du darüber?« fragte Iwan Fjodorowitsch rasch. »Ich fürchte mich, es auszusprechen«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna ebenso schnell. »Aber meiner Ansicht nach ist die Sache klar.« »Auch nach meiner Ansicht ist sie klar. Klar wie der Tag. Sie liebt.« »Sie liebt nicht nur, sie ist restlos verliebt!« erklärte Alexandra Iwanowna. »Aber in wen denn nun eigentlich?« »Gott segne sie, wenn das nun einmal ihr Schicksal ist!« sagte Lisaweta Prokofjewna, sich fromm bekreuzigend. »Schicksal«, bestätigte der General, »und seinem Schicksal kann man nicht entgehen!« Alle gingen in den Salon; dort erwartete sie eine neue Überraschung. Aglaja lachte, als sie zu dem Fürsten trat, nicht los, wie sie das befürchtet hatte, sondern sagte im Gegenteil schüchtern zu ihm: »Verzeihen Sie einem dummen, schlechten, verzogenen Mädchen« (sie ergriff seine Hand) »und seien Sie überzeugt, daß wir alle Sie außerordentlich hochschätzen! Und wenn ich Ihre schöne... gütige Herzenseinfalt zu verspotten wagte, so bitte ich Sie, es mir zu verzeihen, wie man einem Kind eine Unart verzeiht; verzeihen Sie, daß ich so auf einer Dummheit beharrte, die natürlich nicht die geringsten Folgen haben darf...« Die letzten Worte sprach Aglaja mit besonderem Nachdruck. Der Vater, die Mutter und die Schwestern kamen alle noch früh genug in den Salon, um dies alles zu sehen und mit anzuhören, und waren alle überrascht von der »Dummheit, die nicht die geringsten Folgen haben dürfe«, und noch mehr von der ernsten Stimmung, in der Aglaja von dieser Dummheit sprach. Alle sahen einander fragend an, aber der Fürst schien diese Worte gar nicht verstanden zu haben und war auf dem Gipfel der Glückseligkeit. »Warum reden Sie so?« murmelte er. »Warum bitten Sie... um Verzeihung?...« Er wollte sogar sagen, er sei dessen nicht würdig, um Verzeihung gebeten zu werden. Wer weiß, vielleicht hatte er auch den Sinn der Worte »eine Dummheit, die nicht die geringsten Folgen haben darf«, verstanden und freute sich, ein sonderbarer Mensch, wie er nun einmal war, über diese Worte. Unstreitig bildete es für ihn schon den Gipfel der Seligkeit, daß er wieder ungehindert zu Aglaja kommen, mit ihr reden, mit ihr Spazierengehen durfte, und wer weiß, vielleicht wäre er damit sein ganzes Leben lang zufrieden gewesen! (Gerade diese Genügsamkeit war es wohl, was Lisaweta Prokofjewna im stillen fürchtete; sie erriet sie und hegte im stillen viele Befürchtungen, die sie selbst nicht deutlich auszusprechen wußte.) Man kann sich nur schwer eine Vorstellung davon machen, wie lebhaft und munter sich der Fürst an diesem Abend zeigte. Er war so heiter, daß man bei seinem Anblick selbst heiter wurde, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten. Er war gesprächig, und das hatte sich bei ihm seit jenem Vormittag, an dem er vor einem halben Jahre zuerst die Bekanntschaft der Familie Jepantschin gemacht hatte, nicht wiederholt; nach seiner Rückkehr nach Petersburg war er in auffälliger Weise betont schweigsam gewesen und hatte erst kürzlich in Gegenwart aller zum Fürsten Schtsch. gesagt, er müsse sich beherrschen und schweigen, da er eine Idee nicht dadurch entwürdigen dürfe, daß er sie darlege. An diesem Abend redete er fast allein und erzählte viel; auf Fragen antwortete er freudig, klar und eingehend. Aber in seinen Worten war nichts zu entdecken, was an die Sprache eines Verliebten erinnert hätte. Es waren lauter ernste, zum Teil sogar schwierige Gedanken. Der Fürst trug sogar einige eigene Ansichten, einige eigene heimliche Beobachtungen vor, so daß das alles sogar einen lächerlichen Eindruck gemacht hätte, wäre nicht die »schöne Darstellung« gewesen, wie nachher alle Zuhörer übereinstimmend erklärten. Zwar liebte der General ernste Gesprächsthemen, aber sowohl er als auch Lisaweta Prokofjewna fanden im stillen, daß das Gespräch doch gar zu gelehrt sei, so daß sie gegen Ende des Abends geradezu traurig wurden. Übrigens wurde der Fürst zuletzt so übermütig, daß er ein paar sehr komische Anekdoten erzählte, über die er selbst zuallererst lachte, so daß die andern dann schon mehr über sein fröhliches Lachen als über die Anekdoten lachten. Was Aglaja anlangte, so redete sie den ganzen Abend fast gar nicht; dafür hörte sie, wenn Lew Nikolajewitsch sprach, zu, ohne die Augen von ihm abzuwenden; es schien sogar, als wäre ihr das Ansehen noch wichtiger als das Zuhören. »Sie sieht ihn fortwährend an und wendet kein Auge von ihm, sie hascht ordentlich nach jedem Wort von ihm und klammert sich daran fest!« sagte Lisaweta Prokofjewna nachher zu ihrem Gatten. »Aber wenn man ihr sagt, daß sie ihn liebt, dann ist der Teufel los!« »Was ist zu machen? Es ist ihr Schicksal!« erwiderte der General achselzuckend. Noch mehrmals wiederholte er diese seine Lieblingsredensart. Wir wollen noch hinzufügen, daß ihm als Geschäftsmann an der augenblicklichen Lage der Dinge ebenfalls vieles sehr mißfiel, namentlich die herrschende Unklarheit, aber auch er entschied sich vorläufig dafür, zu schweigen und ... nach Lisaweta Prokofjewnas Augen zu blicken. Die freudige Stimmung der Familie hielt nicht lange an. Schon am folgenden Tag zankte sich Aglaja wieder mit dem Fürsten, und das setzte sich ohne Unterbrechung an allen folgenden Tagen fort. Ganze Stunden machte sie den Fürsten lächerlich und behandelte ihn beinah wie einen Hanswurst. Allerdings saßen sie manchmal eine oder zwei Stunden lang zusammen in der Laube des Hausgärtchens, aber die andern beobachteten, daß der Fürst während dieser Zeit Aglaja fast immer aus der Zeitung oder einem Buche vorlas. »Wissen Sie«, sagte Aglaja einmal zu ihm, indem sie ihn beim Vorlesen der Zeitung unterbrach, »ich habe bemerkt, daß Sie furchtbar ungebildet sind; wenn man Sie nach etwas fragt, nichts wissen Sie ordentlich: weder wer was getan hat, noch in welchem Jahr etwas geschehen ist, noch auf Grund welches Vertrages. Das ist kläglich.« »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich keine große Gelehrsamkeit besitze«, erwiderte der Fürst. »Was bleibt denn dann noch an Ihnen übrig? Wie kann ich Sie dann achten? Lesen Sie weiter; übrigens, es ist nicht nötig, hören Sie auf damit!« Und an demselben Abend veranstaltete sie wieder ein für alle rätselhaftes Intermezzo. Fürst Schtsch. war zurückgekehrt. Aglaja benahm sich ihm gegenüber sehr freundlich und fragte ihn viel nach Jewgenij Pawlowitsch. (Fürst Lew Nikolajewitsch war noch nicht gekommen.) Auf einmal erlaubte sich Fürst Schtsch. auf »die nahe bevorstehende neue Umwälzung in der Familie« hinzudeuten, und zwar infolge einer Bemerkung, die Lisaweta Prokofjewna sich hatte entschlüpfen lassen, daß nämlich Adelaidas Hochzeit vielleicht nochmals verschoben werden müsse, damit beide Hochzeiten zusammen begangen werden könnten. Es war nicht zu fassen, in was für einen Zorn Aglaja über »all diese dummen Vermutungen« geriet, und unter anderm entfuhren ihr die Worte, sie habe »noch nicht die Absicht, die Nachfolgerin der Mätressen irgend jemandes zu werden«. Durch diese Worte wurden alle und ganz besonders die Eltern in das höchste Erstaunen versetzt. Lisaweta Prokofjewna sprach in einer geheimen Beratung mit ihrem Mann das dringende Verlangen aus, es solle mit dem Fürsten eine endgültige Auseinandersetzung über sein Verhältnis zu Nastasja Filippowna stattfinden. Iwan Fjodorowitsch erwiderte, er wolle darauf schwören, daß das alles nur eine durch Aglajas »Schamhaftigkeit« verursachte »Extravaganz« sei; hätte Fürst Schtsch. nicht angefangen, von der Hochzeit zu reden, so wäre es zu dieser Extravaganz gar nicht gekommen, denn Aglaja wisse selbst zuverlässig, daß das alles nur Klatsch schlechter Menschen sei und Nastasja Filippowna sich mit Rogoshin verheiraten werde; der Fürst habe, von einer Verbindung ganz zu schweigen, mit ihr überhaupt nichts zu schaffen und niemals etwas mit ihr zu schaffen gehabt, wenn man schon die reine Wahrheit sagen wolle. Aber der Fürst ließ sich durch nichts irremachen und fuhr fort, in Seligkeit zu schwelgen. Freilich bemerkte auch er mitunter einen düsteren, ungeduldigen Ausdruck in Aglajas Blicken, aber er führte dies auf andere Gründe zurück, und der düstere Ausdruck verschwand dann auch von selbst wieder. Einmal überzeugt, ließ er sich in seiner Überzeugung durch nichts wankend machen. Vielleicht war er doch gar zu ruhig; wenigstens war Ippolit, der ihm zufällig einmal im Park begegnete, dieser Ansicht. »Nun, habe ich Ihnen damals nicht die Wahrheit gesagt, als ich es aussprach, daß Sie verliebt seien?« begann er, indem er an den Fürsten herantrat und ihn anhielt. Dieser streckte ihm die Hand hin und beglückwünschte ihn zu seinem »guten Aussehen«. Der Kranke schien auch selbst mehr Mut zu haben, wie das Schwindsüchtigen eigen ist. Er war auf den Fürsten mit der Absicht zugegangen, ihm eine giftige Bemerkung über seine glückselige Miene zu machen, jedoch kam er gleich wieder davon ab und begann von sich selbst zu reden. Er fing an zu klagen und klagte viel und lange und ziemlich zusammenhanglos. »Sie glauben gar nicht«, sagte er zum Schluß, »was für reizbare, kleinliche, egoistische, eitle und gewöhnliche Menschen sie dort alle sind; können Sie sich vorstellen, daß sie mich nur unter der Bedingung aufgenommen haben, daß ich möglichst bald sterbe, und nun alle wütend sind, weil ich noch nicht sterbe, sondern mich im Gegenteil besser fühle? Es ist die reine Komödie! Ich möchte wetten, daß Sie es mir nicht glauben!« Der Fürst mochte ihm nicht widersprechen. »Ich denke sogar manchmal daran, wieder zu Ihnen überzusiedeln«, fügte Ippolit in lässigem Ton hinzu. »Sie halten also diese Leute doch nicht für fähig, einen Menschen unter der Bedingung aufzunehmen, daß er bestimmt und möglichst bald stirbt?« »Ich glaubte, sie hätten Sie mit anderen Absichten zu sich eingeladen.« »Aha! Sie sind gar nicht so einfältig, wie man von Ihnen behauptet! Ich habe jetzt nur keine Zeit, sonst würde ich Ihnen über diesen Ganja und seine Hoffnungen ein Licht aufstecken. Man wühlt gegen Sie, Fürst, wühlt gegen Sie erbarmungslos, und... es ist ordentlich zu bedauern, daß Sie dabei so ruhig sind. Aber das liegt leider in Ihrer Natur!« »Nun sehen Sie einmal an, weswegen Sie mich bedauern!« erwiderte der Fürst lachend. »Würde ich denn etwa nach Ihrer Meinung glücklicher sein, wenn ich unruhiger wäre?« »Es ist besser, unglücklich zu sein, aber zu wissen, als glücklich zu sein und... ein Narr zu sein. Wie es scheint, wollen Sie durchaus nicht glauben, daß Sie eine Nebenbuhlerschaft zu fürchten haben... und zwar von jener Seite?« »Was Sie da über Nebenbuhlerschaft sagen, ist etwas zynisch, Ippolit; es tut mir leid, daß ich kein Recht habe, Ihnen darauf zu antworten. Was Gawrila Ardalionowitsch anlangt, so kann er ja nach einem so großen Verlust, wie er ihn erlitten hat, unmöglich ruhig bleiben; das werden Sie selbst zugeben müssen, selbst wenn Sie von seinen Angelegenheiten nur wenig wissen. Es scheint mir, daß man die Sache am besten von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet. Er hat noch Zeit, sich zu ändern, er hat noch ein langes Leben vor sich, und das Leben ist reich... Übrigens... übrigens« (hier geriet der Fürst in Verwirrung) »was das Wühlen betrifft... so verstehe ich nicht einmal, wovon Sie reden; lassen wir dieses Gespräch lieber, Ippolit.« »Lassen wir es vorläufig; Sie bekommen es ja auch gar nicht fertig, sich anders als edelmütig zu benehmen. Ja, Fürst, Sie glauben so lange, bis Sie das Gegenteil mit eigenen Fingern fühlen, haha! Jetzt verachten Sie mich wohl sehr, nicht wahr?« »Weswegen sollte ich das tun? Weil Sie mehr gelitten haben und leiden als wir?« »Nein, weil ich meines Leidens nicht würdig bin.« »Wer mehr hat leiden können, muß auch würdig sein, mehr zu leiden. Als Aglaja Iwanowna Ihre Beichte gelesen hatte, wünschte sie, Sie zu sehen, aber ...« »Sie schiebt es auf ... sie darf es nicht, ich verstehe, ich verstehe ...«, unterbrach ihn Ippolit, als wäre er bemüht, das Gespräch möglichst bald von diesem Gegenstand abzulenken. »Übrigens, man sagt, Sie selbst hätten ihr dieses ganze verrückte Zeug vorgelesen, es ist wirklich im Fieberwahn geschrieben und ... fabriziert worden. Und ich verstehe nicht, was für eine, ich will nicht sagen Grausamkeit (das wäre für mich erniedrigend), aber was für eine kindische Eitelkeit und Rachsucht dazu gehört, mir diese Beichte zum Vorwurf zu machen und sie als Waffe gegen mich zu benutzen! Beunruhigen Sie sich nicht, ich sage das nicht mit Bezug auf Sie ...« »Aber es tut mir leid, daß Sie sich von diesem Heft lossagen, Ippolit, es ist mit großer Aufrichtigkeit geschrieben, und, wissen Sie, selbst seine komischsten Stellen, und es gibt ihrer viele« (Ippolit runzelte heftig die Stirn), »sind mit Leiden erkauft, denn schon das darin Mitgeteilte zu bekennen, war ebenfalls ein Leiden und... vielleicht die größte Mannhaftigkeit. Der Gedanke, von dem Sie sich dabei leiten ließen, hatte jedenfalls eine edle Grundlage, trotz allen gegenteiligen Scheins. Ich versichere Sie: ich erkenne das um so klarer, aus je weiterer Entfernung ich es betrachte. Ich fälle über Sie kein Urteil, ich sage das nur, um mich auszusprechen, und bedaure, daß ich damals geschwiegen habe...« Ippolit wurde dunkelrot. In seinem Kopf blitzte für einen Augenblick der Gedanke auf, daß der Fürst sich nur verstelle und ihm eine Schlinge lege, aber als er ihm genauer ins Gesicht sah, konnte er doch nicht umhin, an seine Aufrichtigkeit zu glauben, und seine Miene hellte sich auf. »Aber sterben muß ich dennoch!« sagte er und hätte beinah hinzugefügt: ›Ein Mensch wie ich!‹ »Und denken Sie sich nur, wie mich Ihr Ganjetschka zurechtweist; er hat sich diese Entgegnung ausgedacht: es würden von denen, die damals der Vorlesung meines Heftes beigewohnt hätten, drei oder vier am Ende vielleicht noch früher sterben als ich! Was sagen Sie dazu? Er meint, das werde für mich ein Trost sein, haha! Erstens sind sie noch nicht gestorben, und selbst wenn diese Leute bald wegsterben sollten, was ist das für mich für ein Trost, sagen Sie selbst! Er urteilt nach sich; übrigens ist er sogar noch weiter gegangen: er schimpft jetzt einfach und sagt, ein ordentlicher Mensch sterbe in solchem Falle schweigend, und hinter meinem ganzen Verhalten stecke weiter nichts als Egoismus! Was sagen Sie dazu! Nein, was ist das seinerseits für ein Egoismus! Wie raffiniert oder, richtiger gesagt, gleichzeitig wie stiermäßig roh ist der Egoismus dieser Leute, den sie trotzdem an sich gar nicht wahrzunehmen vermögen!... Haben Sie, Fürst, einmal etwas vom Tod Stepan Glebows im achtzehnten Jahrhundert gelesen? Ich las zufällig gestern etwas darüber...« »Was für ein Stepan Glebow?« »Er wurde unter Peter dem Großen gepfählt.« »Ach mein Gott, ja, ich weiß! Er steckte fünfzehn Stunden lang am Pfahl, in der Kälte, nur mit einem Pelz bekleidet, und starb mit außerordentlichem Heldenmut; gewiß, ich habe es gelesen... Aber was soll das?« »Manchem beschert Gott einen solchen Tod, aber unsereinem nicht! Sie meinen vielleicht, ich sei nicht imstande, so zu sterben wie Glebow?« »Oh, das meine ich ganz und gar nicht«, erwiderte der Fürst verlegen, »ich wollte nur sagen, daß Sie... das heißt, nicht als ob Sie es Glebow nicht gleichtun würden, sondern... daß Sie... daß Sie dann vielmehr...« »Ich errate es: Sie meinen, ich würde ein Osterman Er wurde im Jahre 1742 zum Tode durch das Rad verurteilt; doch wurde die Strafe in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien umgewandelt. sein und kein Glebow? Das wollten Sie sagen?« »Was für ein Osterman?« fragte der Fürst verwundert. »Osterman, der Diplomat Osterman, der Zeitgenosse Peters«, murmelte Ippolit, der auf einmal etwas verlegen wurde. Der Fürst verstand ihn nicht sofort. »O n-n-nein!« sagte er dann nach einigem Stillschweigen, indem er das Wort dehnte. »Ich möchte meinen... Sie würden nie ein Osterman sein.« Ippolit machte ein finsteres Gesicht. »Ich behaupte das übrigens deshalb«, fuhr der Fürst, offensichtlich bemüht, sich zu verbessern, fort, »weil die damaligen Menschen (ich kann versichern, daß mir das von jeher aufgefallen ist) sozusagen nicht dieselben Menschen waren wie die jetzigen, nicht derselbe Schlag wie jetzt in unserm Jahrhundert, wirklich wie eine andere Rasse... Damals waren die Menschen von einer einzigen Idee erfüllt; jetzt sind sie nervöser, mehr entwickelt, sensitiver, mit zwei, drei Ideen gleichzeitig beschäftigt... Der jetzige Mensch ist vielseitiger, und nach meiner Überzeugung hindert ihn das, ein so einheitlicher Mensch zu sein wie in jenen Jahrhunderten... Ich... ich habe das nur in diesem Sinne gesagt und nicht...« »Ich verstehe; Sie versuchen jetzt, mich zu trösten, um die Naivität wiedergutzumachen, mit der sie anderer Meinung waren als ich, haha! Sie sind das reine Kind, Fürst! Ich bemerke jedoch, daß Sie alle mich wie... wie eine Porzellantasse behandeln... Nun, das tut nichts, das tut nichts, ich nehme es nicht übel. Jedenfalls hat sich das Gespräch zwischen uns recht komisch gestaltet; Sie sind manchmal noch das reinste Kind, Fürst. Lassen Sie sich übrigens sagen, daß ich vielleicht gewünscht habe, noch etwas Besseres zu sein als ein Osterman; um ein Osterman zu sein, würde es sich nicht lohnen, von den Toten aufzuerstehen... Aber ich sehe ein, daß ich guttun werde, möglichst bald zu sterben, sonst werde ich selbst... Lassen Sie mich nur in Ruhe! Auf Wiedersehn! Nun gut, dann sagen Sie mir einmal selbst, wie ich nach Ihrer Meinung am besten sterben würde... damit es recht... tugendhaft aussieht, meine ich. Nun, so reden Sie!« »Gehen Sie an uns vorüber, und verzeihen Sie uns unser Glück!« sagte der Fürst mit leiser Stimme. »Hahaha! Hatte ich es mir doch gedacht! Ich habe erwartet, daß unfehlbar so etwas kommen würde! Aber Sie... aber Sie... Nun ja, schöne Phrasen haben diese Leute immer zur Hand! Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!« VI Was Warwara Ardalionowna ihrem Bruder von der Abendgesellschaft gesagt hatte, die im Jepantschinschen Landhaus stattfinden sollte und zu der die alte Bjelokonskaja erwartet wurde, erwies sich ebenfalls als völlig richtig; die Gäste wurden wirklich am Abend eben dieses Tages erwartet; aber auch bei dieser Mitteilung hätte sie sich etwas bestimmter ausgedrückt, als sie es hätte tun sollen. Allerdings war die Abendgesellschaft sehr eilig und sogar mit einer gewissen, anscheinend sehr unnötigen Erregung arrangiert worden, eben deshalb, weil in dieser Familie »alles anders zuging als bei andern Leuten«. Dies erklärte sich aus Lisaweta Prokofjewnas Ungeduld, die »aus dem Zustand des Zweifelns herauszukommen« wünschte, und aus der heißen Sorge der beiden Elternherzen um das Glück ihrer Lieblingstochter. Außerdem beabsichtigte die alte Bjelokonskaja tatsächlich, bald wieder abzureisen; da aber ihre Protektion in der vornehmen Welt wirklich viel bedeutete und die Eltern hofften, daß sie dem Fürsten wohlgesinnt sein werde, so rechneten sie darauf, daß die vornehme Welt Aglajas Bräutigam geradewegs aus den Händen der allmächtigen Alten entgegennehmen und daß folglich, wenn an ihm dies und das wunderlich sein sollte, es unter einer solchen Protektion weit weniger wunderlich erscheinen werde. Die Schwierigkeit bestand ja eben darin, daß die Eltern nicht imstande waren, selbst die Frage zu beantworten: »Ist bei dieser ganzen Sache etwas wunderlich und inwieweit? Oder ist dabei überhaupt nichts wunderlich?« Eine freundschaftliche, offenherzige Meinungsäußerung maßgebender und kompetenter Personen wäre ihnen gerade im gegenwärtigen Augenblick erwünscht gewesen, wo dank Aglajas Benehmen noch nichts definitiv entschieden war. Jedenfalls mußte man den Fürsten früher oder später in die vornehme Welt einführen, von der er auch nicht die geringste Ahnung hatte. Kurz und gut, sie beabsichtigten, ihn zu »zeigen«. Die in Aussicht genommene Gesellschaft sollte jedoch nur ganz einfach werden; es wurden nur »Freunde des Hauses« in ganz geringer Anzahl erwartet. Außer der alten Bjelokonskaja erwarteten sie noch eine Dame, die Frau eines sehr hohen Würdenträgers. Von jüngeren Leuten rechnete man fast nur auf Jewgenij Pawlowitsch; er sollte als Begleiter der alten Bjelokonskaja erscheinen. Daß die alte Bjelokonskaja da sein würde, hatte der Fürst schon drei Tage vor der Abendgesellschaft gehört; von der Abendgesellschaft selbst aber erfuhr er erst tags zuvor. Er bemerkte selbstverständlich das geschäftige Gebaren der Familienmitglieder und durchschaute auch infolge einiger andeutender, besorgter Gespräche, die diese mit ihm führten, daß sie hinsichtlich des Eindrucks, den er machen würde, Befürchtungen hegten. Aber die Jepantschins hatten sich sämtlich eingebildet, daß er bei seiner Harmlosigkeit nicht imstande sei zu erraten, daß sie sich seinetwegen Sorge machten, was sie alle bei seinem Anblick innerlich taten. Übrigens legte er dem bevorstehenden Ereignis wirklich keinerlei Bedeutung bei; er war mit etwas ganz anderem beschäftigt: Aglaja wurde von Stunde zu Stunde launenhafter und düsterer, und das drückte ihn zu Boden. Als er erfuhr, daß auch Jewgenij Pawlowitsch erwartet wurde, freute er sich sehr und sagte, er habe ihn schon längst zu sehen gewünscht. Aus irgendeinem Grund mißfielen diese Worte allen; Aglaja verließ ärgerlich das Zimmer und benutzte erst spät am Abend, zwischen elf und zwölf Uhr, als der Fürst bereits fortging und sie ihn hinausbegleitete, die Gelegenheit, ihm ein paar Worte unter vier Augen zu sagen. »Es wäre mir angenehm, wenn Sie morgen den ganzen Tag nicht zu uns kämen, sondern sich erst am Abend einfänden, wenn diese ... Gäste sich schon versammeln. Sie wissen doch, daß wir Gäste haben werden?« Sie sprach ungeduldig und außerordentlich mürrisch; es war das erstemal, daß sie diese Abendgesellschaft erwähnte. Für sie war der Gedanke an die Gäste fast unerträglich; das bemerkten alle. Vielleicht hatte sie große Lust, sich deswegen mit den Eltern zu zanken; aber ihr Stolz und ihre Schamhaftigkeit hinderten sie, davon anzufangen. Der Fürst erkannte sofort, daß auch sie seinetwegen ihre Befürchtungen hatte (und nicht zugeben wollte, daß dies der Fall war), und wurde nun auch seinerseits ängstlich. »Ja, ich bin eingeladen«, antwortete er. Es machte ihr offenbar Mühe, das Gespräch fortzusetzen. »Kann man mit Ihnen einmal ernsthaft reden? Wenigstens einmal im Leben?« sagte sie, plötzlich in heftigen Zorn geratend, ohne selbst zu wissen worüber, und ohne sich beherrschen zu können. »O ja, ich werde Ihnen aufmerksam zuhören; ich freue mich sehr«, murmelte der Fürst. Aglaja schwieg wieder ein Weilchen und begann dann mit sichtlichem Widerwillen: »Ich wollte mit den Meinigen nicht darüber streiten; in manchen Dingen sind sie nicht zur Vernunft zu bringen. Die Lebensanschauungen, die maman manchmal hat, sind mir von jeher zuwider gewesen. Von Papa will ich nicht reden, von dem ist nichts Besseres zu erwarten. Maman ist gewiß eine anständig denkende Frau; wagen Sie einmal, ihr etwas Unwürdiges zuzumuten, dann werden Sie sehen! Na, aber vor diesem...Pack, da kriecht sie! Ich rede nicht von der alten Bjelokonskaja; sie ist ein böses Weib und hat einen schlechten Charakter, aber sie ist klug und versteht es, die andern alle im Zaum zu halten; das ist wenigstens ein Gutes an ihr. O diese unwürdige Erniedrigung! Und wie lächerlich das ist: wir haben in gesellschaftlicher Hinsicht immer der Mittelschicht angehört, der ausgesprochensten Mittelschicht, die man sich denken kann; wozu sollen wir uns jetzt in diesen vornehmen Kreis eindrängen? Die Schwestern hauen in dieselbe Kerbe; Fürst Schtsch. hat sie alle verdreht gemacht. Warum freuen Sie sich denn darüber, daß Jewgenij Pawlytsch kommen wird?« »Hören Sie, Aglaja«, sagte der Fürst, »mir scheint, Sie sind um mich sehr besorgt, ich könnte morgen bei dieser Abendgesellschaft durchfallen?« »Um Sie? Besorgt?« fuhr Aglaja auf und wurde dunkelrot. »Warum sollte ich um Sie besorgt sein, wenn Sie auch... wenn Sie sich auch völlig blamieren? Was geht das mich an? Und wie können Sie solche Ausdrücke gebrauchen? Was heißt das: ›durchfallen‹? Das ist ein häßlicher, gemeiner Ausdruck.« »Das ist... ein Schulausdruck.« »Na ja, ein Schulausdruck! Ein häßlicher Ausdruck! Sie beabsichtigen, wie es scheint, morgen in lauter solchen Ausdrücken zu reden. Suchen Sie sich doch zu Hause noch möglichst viel solche Ausdrücke aus Ihrem Wörterbuch heraus: damit werden Sie Effekt machen! Schade, daß Sie, wie es scheint, verstehen, mit Anstand ins Zimmer zu treten; wo haben Sie das nur gelernt? Verstehen Sie es, eine Tasse Tee mit Anstand in Empfang zu nehmen und auszutrinken, wenn alle absichtlich nach Ihnen hinsehen?« »Ich meine, daß ich es verstehe.« »Das ist schade; sonst hätte ich etwas zum Lachen. Zerbrechen Sie wenigstens die chinesische Vase im Salon! Sie ist sehr wertvoll: bitte zerbrechen Sie die; sie ist ein Geschenk, Mama wird den Verstand verlieren und in Gegenwart aller in Tränen ausbrechen, so ist sie ihr ans Herz gewachsen. Machen Sie irgendeine Handbewegung, wie Sie das zu tun pflegen, stoßen Sie dabei an die Vase und zerbrechen Sie sie! Setzen Sie sich absichtlich daneben!« »Im Gegenteil, ich werde mich bemühen, mich möglichst weit davon zu setzen: ich danke Ihnen, daß Sie mich gewarnt haben.« »Also fürchten Sie doch im voraus, daß Sie stark gestikulieren werden. Ich möchte wetten, daß Sie über irgendein ›Thema‹ sprechen werden, über irgend etwas Ernstes, Gelehrtes, Großartiges; das wird äußerst... wohlanständig sein!« »Ich meine, es würde dumm herauskommen, wenn ich zu unpassender Zeit von dergleichen anfangen wollte.« »Hören Sie ein für allemal«, Aglaja wurde es jetzt endlich zuviel, »wenn Sie wieder über solche Dinge Vorträge halten werden wie über die Todesstrafe oder über die wirtschaftliche Lage Rußlands oder darüber, daß ›die Welt durch die Schönheit erlöst wird‹, dann ... werde ich mich natürlich freuen und sehr lachen, aber... ich sage Ihnen dann im voraus: kommen Sie mir dann nicht wieder unter die Augen! Hören Sie wohl: ich rede im Ernst! Diesmal rede ich wirklich im Ernst!« Sie sprach diese Drohung tatsächlich in ernstem Ton aus, so daß aus ihren Worten und ihrem Blick sogar etwas Ungewöhnliches sprach, was der Fürst früher nie bemerkt hatte und was allerdings nicht nach Scherz aussah. »Nun, Sie haben bewirkt, daß ich jetzt unfehlbar ›einen Vortrag halten‹ und vielleicht sogar die Vase zerbrechen werde. Vorhin hatte ich noch keine Befürchtungen, aber jetzt befürchte ich alles. Ich werde mit Sicherheit durchfallen.« »Schweigen Sie also! Sitzen Sie still, und schweigen Sie!« »Das wird nicht angehen; ich bin überzeugt, daß ich vor Angst anfangen werde zu reden und vor Angst die Vase zerbrechen werde. Vielleicht werde ich auch auf dem glatten Fußboden hinfallen, oder es wird sonst etwas passieren, denn dergleichen ist mir schon begegnet. Und nun werde ich die ganze Nacht davon träumen. Warum haben Sie auch davon zu reden angefangen!« Aglaja blickte ihn finster an. »Wissen Sie was?« fuhr der Fürst nach einer kleinen Pause endlich fort. »Das beste wird sein, wenn ich morgen gar nicht herkomme! Ich werde einen Zettel schicken, daß ich krank bin, und die Sache ist erledigt!« Aglaja stampfte mit dem Fuß und wurde ganz blaß vor Zorn. »Mein Gott! Hat man je so etwas erlebt! Er will nicht herkommen, wo doch alles eigens seinetwegen... o Gott! Ja, es ist ein Vergnügen, mit so einem... unvernünftigen Menschen zu tun zu haben wie Ihnen!« »Nun, ich werde kommen, ich werde kommen!« unterbrach der Fürst sie schnell. »Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich den ganzen Abend dasitzen werde, ohne ein Wort zu sagen. Ich werde es ganz bestimmt so machen.« »Daran werden Sie guttun. Sie sagten soeben ›krank melden‹; wo nehmen Sie eigentlich solche Ausdrücke her? Wie kommen Sie dazu, mir gegenüber solche Ausdrücke zu gebrauchen? Sie wollen mich wohl damit aufziehen?« »Verzeihung! Das ist ebenfalls ein Schulausdruck; ich werde es nicht wieder tun. Ich begreife sehr wohl, daß Sie... Befürchtungen wegen meiner Person hegen... (aber werden Sie doch nicht böse!), und ich freue mich darüber sehr. Sie glauben gar nicht, wie ich mich jetzt vor Ihren Worten fürchte und – wie ich mich über Ihre Worte freue. Aber diese ganze Furcht ist nach meiner festen Überzeugung nur Torheit und dummes Zeug, wahrhaftig, Aglaja; aber die Freude wird bleiben. Ich habe es sehr gern, daß Sie ein solches Kind sind, ein so liebes, gutes Kind! Ach, wie schön Sie sein können, Aglaja!« Aglaja wollte natürlich eine zornige Antwort geben und setzte schon dazu an, aber plötzlich erfüllte ein Gefühl, das für sie selbst überraschend war, in einem Augenblick ihre ganze Seele. »Werden Sie mir auch meine jetzigen unartigen Reden nicht... später einmal... vorhalten?« fragte sie plötzlich. »Was reden Sie da! Was reden Sie da! Und warum sind Sie wieder so rot geworden? Und jetzt sehen Sie wieder so finster aus! Sie machen jetzt manchmal ein so finsteres Gesicht, Aglaja, wie Sie es früher nie taten. Ich weiß, warum...« »Schweigen Sie, schweigen Sie!« »Nein, es ist besser, wenn wir darüber reden. Ich wollte schon lange davon sprechen; ich habe schon früher einmal davon gesprochen, aber... das war zuwenig, denn Sie haben mir nicht geglaubt. Zwischen uns steht immer noch ein Wesen...« »Schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie!« unterbrach ihn Aglaja; sie faßte ihn kräftig am Arm und sah ihn angstvoll an. In diesem Augenblick wurde sie gerufen; sie schien sich darüber zu freuen, ließ ihn stehen und lief davon. Der Fürst lag die ganze Nacht im Fieber. Seltsamerweise hatte er schon mehrere Nächte hintereinander gefiebert. Diesmal kam ihm im halben Delirium der Gedanke: wenn er nun morgen in Gegenwart aller einen Anfall bekäme, was dann? Er hatte ja schon solche plötzlichen Anfälle gehabt. Bei diesem Gedanken überlief es ihn eiskalt; die ganze Nacht über sah er sich in einer wunderlichen, unerhörten Gesellschaft zwischen irgendwelchen sonderbaren Leuten. Die Hauptsache dabei war, daß er »einen Vortrag hielt«; er wußte, daß er nicht reden sollte, redete aber doch die ganze Zeit und suchte die Anwesenden zu etwas zu überreden. Jewgenij Pawlowitsch und Ippolit befanden sich ebenfalls unter den Gästen und schienen sehr gute Freunde zu sein. Er erwachte zwischen acht und neun Uhr mit Kopfschmerzen, mit einer argen Verwirrung aller Gedanken und mit seltsamen Empfindungen. Aus irgendeinem Grunde fühlte er ein lebhaftes Verlangen, Rogoshin wiederzusehen, ihn wiederzusehen und viel mit ihm zu reden; worüber eigentlich, das wußte er selbst nicht; dann beschloß er, zu Ippolit zu gehen. In seinem Herzen herrschte eine gewisse Verworrenheit, so daß das, was er an diesem Vormittag erlebte, einen zwar sehr starken, aber dabei doch irgendwie unvollständigen Eindruck auf ihn machte. Eines dieser Erlebnisse war der Besuch Lebedews. Lebedew erschien ziemlich früh, bald nach neun Uhr, und fast ganz betrunken. Obgleich der Fürst in der letzten Zeit auf seine Umgebung nicht viel geachtet hatte, war es ihm doch aufgefallen, daß, seitdem General Iwolgin vor drei Tagen von ihnen weggegangen war, Lebedew sich sehr schlecht aufführte. Er hatte auf einmal angefangen, sehr unsauber und schmutzig auszusehen; das Halstuch saß ihm schief, der Rockkragen war zerrissen. In seiner Wohnung tobte er nur so umher, so daß es über den Hof zu hören war; Wera kam einmal weinend zum Fürsten und erzählte ihm allerlei. Als er jetzt erschien, begann er in ganz seltsamer Weise zu reden, schlug sich gegen die Brust und beschuldigte sich selbst... » Ich habe nun... ich habe nun den Lohn für meinen Verrat und für meine Gemeinheit erhalten... Ich habe eine Ohrfeige bekommen!« schloß er endlich mit tragischem Pathos. »Eine Ohrfeige? Von wem?... Und so früh am Morgen?« »So früh am Morgen?« versetzte Lebedew, sarkastisch lächelnd. »Die Zeit spielt dabei keine Rolle... nicht einmal bei einer physischen Bestrafung ... aber ich habe eine moralische... eine moralische Ohrfeige erhalten und keine physische!« Er setzte sich ungeniert hin und begann zu erzählen. Seine Erzählung war sehr unzusammenhängend; der Fürst wollte schon stirnrunzelnd weggehen, als ihn plötzlich einige Worte frappierten. Er war starr vor Verwunderung... Herr Lebedew erzählte seltsame Dinge. Anfangs handelte es sich anscheinend um irgendeinen Brief; dabei kam Aglaja Iwanownas Name vor. Dann begann Lebedew auf einmal, sich bitter über den Fürsten selbst zu beklagen; man konnte erraten, daß er sich von dem Fürsten beleidigt fühlte. Zuerst habe der Fürst hinsichtlich seiner Beziehungen zu einer gewissen »Person« (zu Nastasja Filippowna) ihn seines Vertrauens gewürdigt, dann aber sich ganz von ihm losgesagt und ihn mit Schimpf und Schande weggejagt und sogar in so beleidigender Weise, daß er das letztemal »die harmlose Frage nach den nahe bevorstehenden Veränderungen im Hause« unhöflich zurückgewiesen habe. Mit Tränen, wie Betrunkene sie leicht vergießen, gestand Lebedew, nach alledem habe er es nicht mehr aushalten können, um so weniger, als er vieles wisse... sehr vieles... was ihm viele Personen mitgeteilt hätten: Rogoshin und Nastasja Filippowna und Nastasja Filippownas Freundin und Warwara Ardalionowna und... und sogar Aglaja Iwanowna selbst. »Können Sie sich das vorstellen? Durch Weras Vermittlung, durch Vermittlung meiner geliebten Tochter Wera, meiner einzigen Tochter... jawohl... übrigens nicht meiner einzigen, denn ich habe drei. Aber wer hat auf brieflichem Wege Lisaweta Prokofjewna Mitteilungen zugehen lassen, sogar unter dem Siegel des allertiefsten Geheimnisses, hehe? Wer hat sie von allen Beziehungen und Handlungen jener Person Nastasja Filippowna, in Kenntnis gesetzt, hehehe? Gestatten Sie die Frage: wer ist dieser Anonymus gewesen?« »Sind das wirklich Sie gewesen?« rief der Fürst. »Allerdings«, antwortete der Betrunkene würdevoll; »und erst heute, um halb neun, erst vor einer halben Stunde... nein, es ist schon eine Dreiviertelstunde her, da habe ich die hochedle Mutter wissen lassen, ich hätte ihr ein sehr wichtiges Ereignis mitzuteilen. Durch ein Zettelchen habe ich sie es wissen lassen, durch das Dienstmädchen, von der Hintertür aus. Sie hat mich empfangen.« »Sie haben soeben Lisaweta Prokofjewna gesehen?« fragte der Fürst, der kaum seinen Ohren traute. »Ich habe sie soeben gesehen und eine Ohrfeige erhalten... eine moralische Ohrfeige. Sie gab mir den Brief zurück oder schleuderte ihn mir vielmehr hin, ungeöffnet... und jagte mich mit einem Fußtritt hinaus... übrigens nur im moralischen Sinne... beinah aber auch im physischen, es fehlte nicht viel daran!« »Was war denn das für ein Brief, den sie Ihnen ungeöffnet hingeschleudert hat?« »Habe ich es denn... Hehehe! Aber ich habe es Ihnen ja noch nicht gesagt! Ich glaubte, es Ihnen schon gesagt zu haben... Ich hatte so ein Briefchen zur Bestellung erhalten...« »Von wem? An wen?« Aber es war sehr schwer, aus manchen »Erklärungen« Lebedews klug zu werden oder auch nur etwas davon zu verstehen. Der Fürst konnte nur so viel begreifen, daß der Brief frühmorgens seiner Tochter Wera von einem Dienstmädchen eingehändigt sei zum Zweck der Bestellung an eine Adresse ... »ebenso wie schon früher ... ebenso wie schon früher ein Brief von derselben Dame an eine gewisse Person... (denn ich nenne die eine von ihnen eine Dame und die andere nur eine Person, um die letztere herabzusetzen und sie beide zu unterscheiden, denn es ist ein großer Unterschied zwischen einer unschuldigen, hochwohlgeborenen Generalstochter und... so einer Kameliendame); jener Brief war also von der Dame, deren Name mit dem Buchstaben A anfängt...« »Wie ist das möglich? An Nastasja Filippowna? Unsinn!« rief der Fürst. »Doch, doch, an die war er, und wenn nicht an sie, so an Rogoshin, das ist ganz dasselbe ... und es ist sogar einmal ein Brief, den die Dame mit dem Buchstaben A an Herrn Terentjew geschrieben hatte, zur Bestellung abgegeben worden«, sagte Lebedew lächelnd und augenzwinkernd. Da er häufig von einem Gegenstand zum andern sprang und vergaß, wovon er zu sprechen angefangen hatte, so schwieg der Fürst, um ihn sich aussprechen zu lassen. Aber es blieb dennoch sehr unklar, ob die Briefe eigentlich durch seine oder durch Weras Hände gegangen waren. Wenn er selbst versicherte, an Rogoshin und an Nastasja Filippowna, das sei ganz dasselbe, so war es danach wahrscheinlicher, daß die Briefe nicht durch seine Hände gegangen waren, vorausgesetzt, daß sie überhaupt existiert hatten. Auf welche Weise ihm jetzt ein Brief in die Hände gekommen war, blieb völlig ungeklärt; am wahrscheinlichsten war die Annahme, daß er ihn Wera irgendwie weggenommen... ihn ihr heimlich entwendet und in irgendwelcher Absicht zu Lisaweta Prokofjewna getragen hatte. Das war die Auffassung, zu der der Fürst schließlich gelangte. »Sie sind verrückt geworden!« rief er ganz fassungslos. »Nicht ganz, hochgeehrter Fürst«, erwiderte Lebedew nicht ohne Bosheit. »Allerdings wollte ich den Brief eigentlich Ihnen einhändigen, zu eigenen Händen, um Ihnen einen Dienst zu erweisen ... aber ich entschied mich dann doch dafür, mich lieber dort verdient zu machen und der edelsten Mutter über alles Klarheit zu verschaffen... wie ich ja auch schon früher einmal ihr durch einen anonymen Brief eine Mitteilung hatte zugehen lassen; und als ich vorhin um acht Uhr zwanzig Minuten den Zettel schrieb, in dem ich bat, mich zu empfangen, unterzeichnete ich: ›Ihr geheimer Korrespondent‹; ich wurde sofort bei der hochedlen Mutter vorgelassen, unverzüglich, sogar mit ganz besonderer Eile, durch den hinteren Eingang...« »Nun, und?« »Aber da hat sie mich beinah geprügelt; es war nahe daran, ganz nahe daran, so daß sie mich so gut wie geprügelt hat. Und den Brief schleuderte sie mir hin. Allerdings wollte sie ihn zuerst behalten, das sah ich, das bemerkte ich, aber sie änderte ihre Absicht und schleuderte ihn mir hin: ›Wenn er dir, einem solchen Menschen, zur Bestellung anvertraut ist, dann bestell ihn auch...‹ Sie fühlte sich ordentlich beleidigt. Wenn sie sich nicht geschämt hat, in meiner Gegenwart so zu reden, so muß sie sich wohl beleidigt gefühlt haben. Was für einen jähzornigen Charakter sie hat!« »Wo ist der Brief jetzt?« »Ich habe ihn immer noch, da ist er.« Er übergab dem Fürsten Aglajas Billett an Gawrila Ardalionowitsch, das dieser an demselben Vormittag zwei Stunden später triumphierend seiner Schwester zeigte. »Diesen Brief dürfen Sie nicht behalten.« »Ich gebe ihn Ihnen, Ihnen! Ihnen bringe ich ihn!« rief Lebedew eifrig. »Jetzt bin ich wieder nach einer vorübergehenden Untreue mit Kopf und Herz Ihr Diener! Bestrafen Sie das Herz, aber schonen Sie den Bart, wie Thomas Morus sagte... in England und in Großbritannien. Mea culpa, mea culpa, Meine Schuld, meine Schuld (lat.) wie die römische Päpstin sagt... das heißt, er ist der römische Papst, aber ich nenne ihn die römische Päpstin.« »Dieser Brief muß sogleich dem Adressaten eingehändigt werden«, sagte der Fürst eifrig. »Ich werde ihn ihm zustellen.« »Aber wäre es nicht besser, wäre es nicht besser, besterzogener Fürst, wäre es nicht besser... so!« Lebedew schnitt eine sonderbare, rührende Grimasse, bewegte sich unruhig auf seinem Platz hin und her, als stäche man ihn mit einer Nadel, zwinkerte schlau mit den Augen und suchte durch Gebärden, die er mit den Händen machte, etwas zu verdeutlichen. »Was soll das heißen?« fragte der Fürst in strengem Ton. »Man sollte ihn doch zunächst öffnen!« flüsterte Lebedew gerührt und gleichsam vertraulich. Der Fürst sprang in solchem Zorn auf, daß Lebedew schon davonlaufen wollte; aber als er bis zur Tür gekommen war, blieb er stehen, um abzuwarten, ob der Fürst nicht wieder gnädig werden würde. »Ach, Lebedew, wie kann nur jemand auf eine so unwürdige Handlung verfallen, wie Sie sie vorschlagen!« rief der Fürst traurig. Lebedews Miene hellte sich auf. »Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« sagte er und näherte sich dem Fürsten sofort wieder, indem er Tränen vergoß und sich gegen die Brust schlug. »Das ist ja eine Schändlichkeit!« »Gewiß, eine Schändlichkeit. Das ist der richtige Ausdruck.« »Und was haben Sie für eine häßliche Angewohnheit, so... merkwürdige Dinge zu tun? Sie sind ja ... der reine Spion! Warum haben Sie anonym geschrieben und eine so edeldenkende, gute Frau in Aufregung versetzt? Und endlich, warum soll Aglaja Iwanowna nicht das Recht haben, zu schreiben an wen sie will? Warum gingen Sie denn heute hin – etwa um sich zu beschweren? Was hofften Sie dort zu erreichen? Was veranlaßte Sie zu dieser Denunziation?« »Einzig und allein eine angenehme Neugier und... die Dienstfertigkeit meines edlen Herzens, jawohl!« murmelte Lebedew. »Jetzt aber bin ich ganz der Ihrige, ganz wieder der Ihrige! Meinetwegen können Sie mich aufhängen lassen!« »Sind Sie in dem Zustand, in dem Sie sich jetzt befinden, auch vor Lisaweta Prokofjewna erschienen?« erkundigte sich, von Ekel erfüllt, der Fürst. »Nein... da war ich noch frischer... und anständiger; in diesen Zustand habe ich mich erst nach meiner Demütigung versetzt...« »Nun gut, dann verlassen Sie mich jetzt!« Übrigens mußte diese Aufforderung mehrmals wiederholt werden, bis der Besucher sich endlich entschloß wegzugehen. Sogar als er die Tür schon ganz geöffnet hatte, kehrte er noch einmal um, ging auf den Zehen bis in die Mitte des Zimmers zurück und begann von neuem mit den Fingern Zeichen zu machen, durch die er zeigen wollte, wie man einen Brief öffnet; seinen Rat in Worten auszusprechen, wagte er nicht; dann ging er mit leisem, freundlichem Lächeln hinaus. Es war für den Fürsten überaus peinlich gewesen, dies alles anzuhören. Aus allem ergab sich die eine wichtige, bedeutsame Tatsache, daß Aglaja aus irgendeinem Grund (»aus Eifersucht«, flüsterte der Fürst vor sich hin) sich in großer Unruhe, in großer Unentschlossenheit und in großer Pein befand. Es ergab sich ferner, daß schlechte Menschen sie in Verwirrung brachten, und es war sehr seltsam, daß sie ihnen soviel Vertrauen schenkte. Offenbar reiften in diesem unerfahrenen, aber hitzigen und stolzen Köpfchen besondere Pläne, vielleicht verderbliche und... ganz unerhörte Pläne. Der Fürst war in höchstem Grade erschrocken und wußte in seiner Verwirrung nicht, wozu er sich entschließen sollte. Unter allen Umständen mußte er etwas verhindern; das fühlte er. Er blickte noch einmal auf die Adresse des versiegelten Briefes: oh, hier gab es für ihn keine Zweifel und keine Beunruhigung, weil er glaubte und vertraute; was ihn bei diesem Brief beunruhigte, war etwas anderes: er traute Gawrila Ardalionowitsch nicht. Und doch war er bereits entschlossen, ihm diesen Brief persönlich zu übergeben, und hatte schon zu diesem Zweck das Haus verlassen, aber unterwegs änderte er seine Absicht. Beinah bei Ptizyns Haus begegnete ihm, wie gerufen, Kolja, und der Fürst beauftragte ihn, den Brief seinem Bruder persönlich zu übergeben, als wenn derselbe direkt von Aglaja Iwanowna selbst käme. Kolja fragte nicht weiter und gab ihn ab, so daß Ganja gar nicht ahnte, daß der Brief so viele Zwischenstationen passiert hatte. Als der Fürst nach Hause zurückgekehrt war, ließ er Wera Lukjanowna zu sich bitten, erzählte ihr, was erforderlich war, und beruhigte sie, denn sie hatte bis dahin immer nach dem Brief gesucht und geweint. Sie bekam einen großen Schreck, als sie erfuhr, daß ihr Vater den Brief weggetragen habe. (Der Fürst erfuhr von ihr erst später, daß sie zu wiederholten Malen bei der geheimen Korrespondenz zwischen Rogoshin und Aglaja Iwanowna behilflich gewesen war; es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß dem Fürsten daraus irgendein Nachteil erwachsen könnte...) Der Fürst war schließlich in solche Verwirrung geraten, daß, als zwei Stunden darauf ein von Kolja abgeschickter Bote mit der Nachricht von der Erkrankung des Vaters zu ihm gelaufen kam, er im ersten Augenblick nicht begriff, um was es sich handelte. Aber dieser Vorfall brachte ihn wieder zur Besinnung, da er ihn von seinen eigenen Sorgen stark ablenkte. Er verbrachte bei Nina Alexandrowna, zu der der Kranke selbstverständlich gebracht worden war, fast die ganze Zeit bis zum Abend. Er konnte sich fast gar nicht nützlich machen; aber es gibt Menschen, die man in gewissen schweren Augenblicken gern um sich sieht. Kolja war furchtbar ergriffen und weinte krampfhaft, rannte aber doch die ganze Zeit herum: er lief nach einem Arzt und schickte ihrer gleich drei, lief nach der Apotheke und zum Bader. Der General wurde zwar wieder ins Leben zurückgerufen, aber nicht zum Bewußtsein gebracht; die Ärzte sprachen sich dahin aus, der Patient befinde sich »jedenfalls in Gefahr«. Warja und Nina Alexandrowna wichen nicht vom Krankenlager; Ganja war bestürzt und erschüttert, mochte aber nicht nach oben gehen und fürchtete sich sogar, den Kranken zu sehen; er rang die Hände und äußerte, als er mit dem Fürsten sprach, in unzusammenhängender Rede: »So ein Unglück! Und gerade in solch einem Augenblick!« Der Fürst glaubte zu verstehen, von was für einem Augenblick er sprach. Ippolit traf der Fürst nicht mehr in Ptizyns Hause an. Gegen Abend kam Lebedew angelaufen, der nach der morgendlichen Aussprache bis dahin ununterbrochen geschlafen hatte. Jetzt war er beinah nüchtern und vergoß um den Kranken aufrichtige Tränen wie um einen leiblichen Bruder. Er klagte sich laut an, ohne jedoch zu erklären, worin sein Verschulden bestehe, und setzte der armen Nina Alexandrowna mit der alle Augenblicke wiederholten Versicherung zu, er, er selbst, niemand als er sei daran schuld... einzig und allein aus angenehmer Neugier habe er es getan, und der Entschlafene (so nannte er wunderlicherweise den noch lebenden General) sei sogar ein höchst genialer Mensch gewesen. Er betonte mit besonderm Ernst immer wieder dessen Genialität, als ob das in diesem Augenblick irgendwelchen besonderen Nutzen hätte bringen können. Nina Alexandrowna, die seine aufrichtigen Tränen sah, sagte schließlich zu ihm ohne jeden Vorwurf und beinah mit einer Art von Zärtlichkeit: »Wir wollen es gut sein lassen, weinen Sie nicht mehr, Gott wird Ihnen verzeihen!« Lebedew war durch diese Worte und den Ton, in dem sie gesprochen wurden, so gerührt, daß er den ganzen Abend nicht mehr von Nina Alexandrownas Seite weichen wollte (auch an den folgenden Tagen, bis zum Tod des Generals, verbrachte er fast die ganze Zeit vom Morgen bis in die Nacht in diesem Haus). Im Laufe des Tages kam zweimal zu Nina Alexandrowna ein Bote von Lisaweta Prokofjewna, um über das Befinden des Kranken Erkundigungen einzuziehen. Als am Abend um neun Uhr der Fürst im Salon bei Jepantschins erschien, der sich bereits mit Gästen gefüllt hatte, begann Lisaweta Prokofjewna ihn sofort teilnahmsvoll und eingehend nach dem Kranken auszufragen und beantwortete mit ruhigem Ernst die Fragen der alten Bjelokonskaja, was das für ein Kranker und für eine Nina Alexandrowna sei. Dem Fürsten gefiel das sehr. Er selbst redete bei seinem Gespräch mit Lisaweta Prokofjewna »sehr schön«, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten: »Bescheiden, leise, ohne überflüssige Worte, ohne Gestikulationen und mit Würde; in den Salon ist er sehr gewandt eingetreten, sein Anzug war tadellos«; er fiel keineswegs auf dem glatten Fußboden hin, wie er tags zuvor befürchtet hatte, sondern machte sogar offenbar auf alle einen recht angenehmen Eindruck. Seinerseits bemerkte er, nachdem er sich hingesetzt und um sich geblickt hatte, sofort, daß diese ganze Gesellschaft durchaus nicht den Schreckgespenstern glich, mit denen ihm Aglaja gestern hatte bange machen wollen, oder den Traumgestalten, die er in der Nacht im Schlaf gesehen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein Stückchen von dem, was man mit dem furchtbaren Namen »die vornehme Welt« bezeichnet. Er hatte infolge gewisser besonderer Absichten, Pläne und Neigungen sich schon längst danach gesehnt, in diesen Zauberkreis einzudringen, und war daher sehr gespannt auf den ersten Eindruck, den dies alles auf ihn machen würde. Dieser erste Eindruck war geradezu zauberhaft. Es kam ihm so vor, als seien alle diese Menschen dazu geboren, miteinander zusammen zu sein; als gebe es bei Jepantschins an diesem Abend keine »Gesellschaft« und keine geladenen Gäste, sondern Leute aus dem engsten Bekanntenkreis, und als sei er selbst schon lange ihr ergebener Freund und Gesinnungsgenosse und jetzt nach kurzer Abwesenheit zu ihnen zurückgekehrt. Die eleganten Manieren, die Schlichtheit und scheinbare Offenherzigkeit übten auf ihn eine faszinierende Wirkung aus. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß alle diese Treuherzigkeit und Vornehmheit, diese geistreiche Redeweise und dieses würdevolle Wesen vielleicht nur ein prächtiges Kunstprodukt seien. Die Mehrzahl der Gäste bestand sogar trotz ihres blendenden Äußern aus ziemlich hohlen Menschen, die übrigens in ihrer Selbstzufriedenheit selbst nicht einmal wußten, daß manches, was sie Gutes an sich hatten, nur ein Kunstprodukt war, das ihnen zudem gar nicht als Verdienst angerechnet werden konnte, da es ihnen unbewußt und als Erbteil zugefallen war. Dem Fürsten, der ganz im Bann des bezaubernden ersten Eindrucks stand, lag es fern, so etwas zu vermuten. Er sah zum Beispiel, daß dieser alte Herr, dieser hohe Würdenträger, der dem Lebensalter nach sein Großvater hätte sein können, sogar sein eigenes Gespräch abbrach, um ihm, einem so jungen, unerfahrenen Menschen, zuzuhören, und daß er ihm nicht nur zuhörte, sondern auch offenbar auf seine Meinung Wert legte und ihn mit solcher Freundlichkeit, mit solcher aufrichtigen Herzlichkeit behandelte, obwohl sie doch einander fremd waren und sich zum erstenmal sahen. Vielleicht wirkte gerade das Raffinement dieser Höflichkeit auf die warme Empfänglichkeit des Fürsten am allermeisten. Vielleicht hatte auch von vornherein seine persönliche Stimmung ihn für einen günstigen Eindruck geneigt gemacht und ihn gewissermaßen bestochen. Und dabei waren alle diese Menschen, wenn sie auch natürlich »Freunde des Hauses« und untereinander befreundet waren, doch keineswegs mit der Familie und unter sich in der Weise befreundet, wie es der Fürst annahm, nachdem er ihnen soeben vorgestellt war und ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Es waren Leute darunter, die nie und um keinen Preis zugegeben hätten, daß die Jepantschins mit ihnen auch nur annähernd auf gleicher Stufe stünden. Es waren auch Leute anwesend, die einander bitter haßten; die alte Bjelokonskaja empfand lebenslänglich nur »Verachtung« für die Gemahlin des »alten Würdenträgers«, und diese war ihrerseits weit davon entfernt, Lisaweta Prokofjewna zu lieben. Dieser »Würdenträger«, ihr Mann, der das Jepantschinsche Ehepaar seit dessen jungen Jahren aus irgendeinem Grund protegiert hatte und jetzt bei der Abendgesellschaft als der vornehmste Gast galt, war in Iwan Fjodorowitschs Augen eine so hochgestellte Persönlichkeit, daß er in dessen Gegenwart kein anderes Gefühl als Ehrerbietung und Furcht empfinden konnte und sich sogar selbst aufrichtig verachtet hätte, wenn er sich auch nur einen Augenblick ihm gleichgestellt und ihn nicht für einen olympischen Jupiter gehalten hätte. Es waren Leute da, die einander jahrelang nicht gesehen hatten und füreinander nichts als Gleichgültigkeit, wenn nicht Abneigung, empfanden, sich aber jetzt begrüßten, als hätten sie sich erst gestern in einer angenehmen Gesellschaft von Freunden gesehen. Übrigens war diese Abendgesellschaft nicht zahlreich. Außer der alten Bjelokonskaja und dem »alten Würdenträger«, der wirklich eine wichtige Persönlichkeit war, sowie seiner Gattin war erstens noch ein sehr bejahrter General da, ein Baron oder Graf mit einem deutschen Namen, ein außerordentlich schweigsamer Mensch, der in dem Ruf stand, eine erstaunliche Kenntnis der Regierungsangelegenheiten zu besitzen und sogar beinah ein Gelehrter zu sein, einer jener olympischen Verwaltungsbeamten, die alles kennen, »ausgenommen vielleicht nur Rußland selbst«, ein Mann, der alle fünf Jahre einen »durch seine Tiefe bemerkenswerten Ausspruch« tat, einen Ausspruch, der dann unfehlbar ein geflügeltes Wort und sogar in den allerhöchsten Regionen bekannt wurde, einer jener regierenden Beamten, die gewöhnlich nach einer sehr langen (sogar manchmal erstaunlich langen) Dienstzeit in hohem Rang und in vorzüglichen Stellen und im Besitz großer Geldmittel sterben, obwohl sie keine großen Taten vollbracht und sogar eine gewisse Feindschaft gegen große Taten an den Tag gelegt haben. Dieser General war Iwan Fjodorowitschs unmittelbarer Vorgesetzter im Dienst, und Iwan Fjodorowitsch betrachtete ihn vermöge der warmen Dankbarkeit seines Herzens und sogar aus besonderer Eigenliebe ebenfalls als seinen Wohltäter, obwohl dieser selbst sich ganz und gar nicht als Iwan Fjodorowitschs Wohltäter betrachtete, zwar mit Vergnügen von seinen mannigfachen Diensten Gebrauch machte, aber sich ihm gegenüber ganz gleichgültig verhielt und ihn sofort durch einen andern Beamten ersetzt haben würde, wenn irgendwelche Erwägungen, die gar nicht einmal »höhere Erwägungen« zu sein brauchten, dies wünschenswert gemacht hätten. Ferner war ein älterer, vornehmer Herr anwesend, von dem es sogar hieß, er sei mit Lisaweta Prokofjewna verwandt, obwohl dies gar nicht der Wahrheit entsprach, ein Mann, der einen hohen Rang besaß und ein hohes Amt bekleidete, reich und von guter Familie, behäbig und von sehr guter Gesundheit; er war sehr redelustig und stand sogar in dem Ruf, ein Unzufriedener zu sein (allerdings nur im allerzahmsten Sinne des Wortes) und Galle zu haben (aber auch diese Eigenschaft wirkte bei ihm nur angenehm); er hatte sich die Manieren der englischen Aristokraten zu eigen gemacht und sich auch hinsichtlich des Geschmacks anglisiert (zum Beispiel in bezug auf blutiges Roastbeef, Anspannen von Pferden, Diener und so weiter). Er war ein großer Freund des »Würdenträgers« und stets bemüht, diesen angenehm zu unterhalten; außerdem hegte Lisaweta Prokofjewna aus irgendeinem Grunde die sonderbare Vorstellung, dieser gesetzte Herr (ein etwas leichtsinniger Mensch und großer Liebhaber des weiblichen Geschlechts) werde plötzlich auf den Gedanken kommen, ihrer Tochter Alexandra einen Heiratsantrag zu machen. Auf diese höchste, solideste Schicht der Gesellschaft folgte eine Schicht von jüngeren Gästen, die aber gleichfalls durch sehr vortreffliche Eigenschaften glänzten. Außer dem Fürsten Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch gehörte zu dieser Schicht auch der bekannte, bezaubernde Fürst N., ehemals ein Verführer und Bezwinger von Frauenherzen in ganz Europa, jetzt schon etwa fünfundvierzig Jahre alt, aber immer noch von schönem Äußeren; er verstand vorzüglich zu erzählen, besaß ein bedeutendes, aber etwas in Unordnung geratenes Vermögen und lebte gewohnheitsmäßig meist im Ausland. Endlich waren auch Leute da, die eine dritte besondere Schicht bildeten und an und für sich nicht zu dem »auserwählten Kreis« der Gesellschaft gehörten, denen man aber, ebenso wie der Familie Jepantschin, manchmal aus irgendwelchen Gründen in diesem »auserwählten Kreise« begegnen konnte. Mit einem gewissen Takt, den sie sich zum Grundsatz gemacht hatten, liebten es Jepantschins, in den seltenen Fällen, wo sie geladene Gäste bei sich sahen, die höhere Gesellschaftsschicht mit Angehörigen einer tieferen Schicht, ausgewählten Repräsentanten der »mittleren Sorte« von Menschen, zu mischen. Jepantschins wurden für dieses Verfahren sogar gelobt, und man sagte von ihnen, sie wüßten, wo sie hingehörten, und besäßen ein ausgesprochenes Taktgefühl, und Jepantschins waren stolz auf diese Meinung, die man von ihnen hatte. Einer der Vertreter dieser »mittleren Sorte« war an diesem Abend ein Techniker, Oberst, ein ernster Mensch, ein sehr naher Freund des Fürsten Schtsch. und von diesem bei Jepantschins eingeführt; in Gesellschaft war er übrigens schweigsam; an seinem langen Zeigefinger der rechten Hand trug er einen großen, auffallenden Ring, wahrscheinlich ein allerhöchstes Geschenk. Endlich war auch noch ein Schriftsteller und Dichter anwesend, ein Deutscher, der aber russisch dichtete und überdies ein durchaus anständiger Mensch war, so daß man ihn ohne Gefahr in gute Gesellschaft hineinlassen konnte. Er hatte ein glückliches, wenn auch in gewisser Hinsicht etwas abstoßendes Äußeres, war etwa achtunddreißig Jahre alt, kleidete sich tadellos, gehörte zu einer höchst bürgerlichen, aber zugleich höchst achtbaren deutschen Familie, hatte es verstanden, verschiedene Gelegenheiten gut auszunutzen, sich die Protektion hochgestellter Persönlichkeiten zu verschaffen und sich in ihrer Gunst zu behaupten. Er hatte einmal ein bedeutendes Werk eines bedeutenden deutschen Dichters in Versen aus dem Deutschen übersetzt, hatte es verstanden, seine Übersetzung einer geeigneten Person zu dedizieren, rühmte sich der Freundschaft mit einem angesehenen, aber bereits verstorbenen russischen Dichter (es gibt eine große Menge von Schriftstellern, die es außerordentlich lieben, in ihren Druckschriften von ihrer Freundschaft mit großen, aber verstorbenen Schriftstellern zu reden) und war erst ganz vor kurzem bei Jepantschins durch die Gattin des »alten Würdenträgers« eingeführt worden. Diese Dame galt als eine Gönnerin von Schriftstellern und Gelehrten und hatte tatsächlich einem oder zwei Schriftstellern durch Vermittlung hochgestellter Persönlichkeiten, bei denen sie Einfluß hatte, eine Pension verschafft. Und ein gewisses Ansehen besaß sie allerdings. Sie war eine Dame von ungefähr fünfundvierzig Jahren (also eine sehr junge Frau für einen so alten Mann, wie es ihr Gatte war), eine ehemalige Schönheit, die es infolge einer vielen fünfundvierzigjährigen Damen eigenen Manie liebte, sich immer noch sehr luxuriös zu kleiden; ihr Verstand war nicht bedeutend und ihre Literaturkenntnis sehr zweifelhaft. Aber Schriftsteller zu protegieren, war bei ihr eine ebensolche Manie, wie sich luxuriös zu kleiden. Es wurden ihr viele Werke und Übersetzungen gewidmet; zwei oder drei Schriftsteller ließen mit ihrer Erlaubnis die Briefe drucken, die sie ihr über sehr wichtige Gegenstände geschrieben hatten ... Und diese ganze Gesellschaft nahm der Fürst für bare Münze, für reinstes Gold ohne Legierung. Übrigens traf es sich, daß auch all diese Leute sich an diesem Abend in der glücklichsten Stimmung befanden und mit sich selbst sehr zufrieden waren. Sie wußten sämtlich, daß sie der Familie Jepantschin durch ihr Erscheinen eine große Ehre erwiesen. Aber leider ahnte der Fürst von diesen Finessen nichts. Es kam ihm zum Beispiel gar nicht der Gedanke, daß die Jepantschins es jetzt, wo sie einen so wichtigen Schritt wie die Entscheidung über das Lebensschicksal ihrer Tochter vorhatten, für ihre unerläßliche Pflicht hielten, ihn, den Fürsten Lew Nikolajewitsch, dem alten Würdenträger und anerkannten Protektor ihrer Familie, vorzustellen. Der alte Würdenträger würde zwar seinerseits sogar die Nachricht von dem furchtbarsten Unglück, das die Familie Jepantschin betroffen hätte, mit größter Seelenruhe hingenommen, sich aber unbedingt beleidigt gefühlt haben, wenn die Jepantschins ihre Tochter ohne seinen Rat und sozusagen ohne seine Erlaubnis verlobt hätten. Fürst N., dieser liebenswürdige, dieser zweifelsohne geistreiche und höchst offenherzige Mensch, war der felsenfesten Überzeugung, daß er so eine Art von Sonne sei, die an diesem Abend über dem Jepantschinschen Salon aufging. Er war der Ansicht, daß sie unendlich weit unter ihm stünden, und gerade dieser treuherzige, edle Gedanke erzeugte bei ihm jene bewundernswerte, liebenswürdige Ungezwungenheit und Freundlichkeit eben diesen Jepantschins gegenüber. Er wußte ganz genau, daß er an diesem Abend unbedingt etwas erzählen müsse, um die Gesellschaft in Entzücken zu versetzen, und bereitete sich hierauf mit einer gewissen Begeisterung vor. Als Fürst Lew Nikolajewitsch dann diese Erzählung mit angehört hatte, mußte er bekennen, daß er noch nie etwas Derartiges gehört hatte: dieser glänzende Humor, diese bewunderungswürdige Heiterkeit und Naivität, die im Mund eines Don Juan, wie Fürst N., beinah etwas Rührendes hatte, bezauberten ihn geradezu. Wenn er nur dabei gewußt hätte, wie alt und abgenutzt diese Erzählung schon war und daß der Vortragende sie bereits auswendig wußte und daß sie bereits in allen Salons den Hörern zum Überdruß geworden war und nur bei den harmlosen Jepantschins wieder als Neuigkeit erschien, als eine freimütige, geistvolle Erinnerung, die einem geistvollen, schönen Mann plötzlich eingefallen war! Sogar der deutsche Dichterling, der sich freilich sehr liebenswürdig und bescheiden benahm, war beinah der Ansicht, daß er diesem Haus durch seinen Besuch eine Ehre erweise. Aber der Fürst bemerkte nicht die Kehrseite der Medaille, bemerkte nicht das Unterfutter des schönen Gewandes. Dieses Unheil hatte Aglaja nicht vorhergesehen. Sie selbst war an diesem Abend erstaunlich schön. Alle drei Fräulein waren elegant, wenn auch nicht gerade luxuriös gekleidet und trugen sogar eine besondere Frisur. Aglaja saß neben Jewgenij Pawlowitsch, mit dem sie sich sehr freundlich unterhielt und scherzte. Jewgenij Pawlowitsch betrug sich etwas gesetzter als sonst, vielleicht ebenfalls aus Respekt vor den hohen Herren. Man kannte ihn übrigens in der vornehmen Welt schon längst, und er fühlte sich dort bereits heimisch, obwohl er noch ein junger Mensch war. An diesem Abend war er bei Jepantschins mit einem Trauerflor am Hut erschienen, und die alte Bjelokonskaja lobte ihn deswegen: manch ein anderer der vornehmen Welt angehörender Neffe hätte unter solchen Umständen wegen eines solchen Onkels vielleicht keinen Trauerflor angelegt. Lisaweta Prokofjewna billigte diese Handlungsweise ebenfalls, schien aber im allgemeinen recht sorgenvoll zu sein. Der Fürst bemerkte, daß Aglaja ein paarmal aufmerksam nach ihm hinblickte und, wie es schien, mit ihm zufrieden war. Allmählich fühlte er sich sehr glücklich. Die »phantastischen« Gedanken und Befürchtungen, die er kurz vorher nach dem Gespräch mit Lebedew gehegt hatte, erschienen ihm jetzt, wenn er plötzlich an sie zurückdachte, was er häufig tat, als ein lächerlicher Traum, der unmöglich in Erfüllung gehen konnte! (Und ohnehin hatte er sich gleich damals und dann den ganzen Tag über sehr, wenn auch unbewußt, gewünscht, es irgendwie so einzurichten, daß er an diesen Traum nicht glauben mußte!) Er redete wenig und nur, wenn er gefragt wurde, und verstummte schließlich ganz, saß da und hörte immer nur zu, schwamm aber offenbar in Wonne. Allmählich wuchs in ihm selbst eine Art von Begeisterung, die sich anschickte, im gegebenen Moment zum Ausbruch zu kommen ... Da wollte es der Zufall, daß er ins Reden kam, und zwar ebenfalls durch Beantwortung einer Frage und, wie es schien, ganz ohne besondere Absichten... VII Während er mit Genuß Aglaja betrachtete, die munter mit dem Fürsten N. und Jewgenij Pawlowitsch plauderte, nannte auf einmal der bejahrte Anglomane, der in einer anderen Ecke den »Würdenträger« unterhielt und ihm mit großer Lebhaftigkeit etwas erzählte, den Namen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew. Der Fürst wandte sich schnell nach ihrer Seite hin und begann zuzuhören. Es war von der neuen Ordnung der Dinge die Rede und von gewissen Tumulten auf Gütern im Gouvernement ***. Die Erzählungen des Anglomanen mußten wohl ein heiteres Element enthalten, da der Alte schließlich über den galligen Eifer des Erzählers zu lachen anfing. Dieser erzählte flüssig, die Worte griesgrämig in die Länge ziehend und auf die Vokale einen leisen Nachdruck legend, wie er sich, speziell durch die jetzige Ordnung der Dinge, genötigt gesehen habe, ein ihm gehöriges prächtiges Gut im Gouvernement *** für den halben Preis zu verkaufen, obwohl er sich gar nicht in Geldverlegenheit befunden habe, und gleichzeitig ein heruntergekommenes, ertragloses, mit einem Prozeß belastetes Gut zu behalten, bei dem er sogar noch zuzahlen müsse. »Um noch einem Prozeß auch wegen des Pawlischtschewschen Landes zu entgehen, habe ich Reißaus genommen. Noch eine oder zwei solche Erbschaften und ich bin ruiniert. Ich habe dort übrigens dreitausend Deßjatinen 1 Deßjatine = 1,092 Hektar. vorzüglichen Bodens hinzubekommen.« »Siehst du... Iwan Petrowitsch ist mit dem verstorbenen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew verwandt... du suchtest ja wohl nach dessen Verwandten«, sagte Iwan Fjodorowitsch halblaut zum Fürsten; er hatte bemerkt, mit welcher Aufmerksamkeit der Fürst das Gespräch verfolgte, und war nun schnell zu ihm getreten. Er hatte bisher seinen Vorgesetzten, den General, unterhalten, aber schon längst die Isolierung Lew Nikolajewitschs bemerkt und wurde unruhig; nun wollte er ihn bis zu einem gewissen Grad in das Gespräch hineinziehen und ihn auf diese Weise zum zweitenmal den hohen Persönlichkeiten vorführen und präsentieren. »Lew Nikolajewitsch ist nach dem Tod seiner Eltern ein Zögling Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews gewesen«, schaltete er ein, als er Iwan Petrowitschs Blick auf sich gerichtet sah. »Se-ehr angene-ehm«, versetzte dieser, »ich erinnere mich sehr gut. Als Iwan Fjodorowitsch uns vorhin einander vorstellte, habe ich Sie sofort wiedererkannt, sogar am Gesicht. Sie haben sich wirklich äußerlich nur wenig verändert, obwohl Sie damals, als ich Sie sah, noch ein Kind waren; Sie mochten etwa zehn oder elf Jahre alt sein. Es ist in Ihren Gesichtszügen etwas, was bei mir eine Erinnerung wachruft...« »Sie haben mich gesehen, als ich noch Kind war?« fragte der Fürst sehr erstaunt. »Oh, es ist schon recht lange her«, fuhr Iwan Petrowitsch fort, »in Slatowerchowo, wo Sie damals bei meinen Kusinen lebten. Ich kam früher ziemlich oft nach Slatowerchowo, Sie erinnern sich meiner nicht? Se-ehr leicht möglich, daß Sie sich nicht erinnern... Sie hatten damals... Sie hatten damals irgendeine Krankheit, so daß ich einmal sogar Ihretwegen einen Schreck bekam...« »Ich kann mich an nichts erinnern!« antwortete der Fürst eifrig. Beide stellten nun mit noch ein paar Worten die Sache klar, Iwan Petrowitsch sehr ruhig, der Fürst sehr aufgeregt, und es ergab sich, daß die beiden alten Fräulein, die mit dem verstorbenen Pawlischtschew verwandt waren und auf seinem Gute Slatowerchowo lebten und seinerzeit von ihm mit der Erziehung des Fürsten betraut wurden, zugleich Iwan Petrowitschs Kusinen waren. Iwan Petrowitsch hatte ebensowenig wie alle andern Leute eine Erklärung dafür, weshalb Pawlischtschew so für den kleinen Fürsten, sein Pflegekind, gesorgt hatte. »Ich habe damals vergessen, mich danach zu erkundigen«, sagte er, aber es stellte sich doch heraus, daß er ein vorzügliches Gedächtnis hatte; denn er erinnerte sich, wie streng seine ältere Kusine, Marfa Nikitischna, gegen den kleinen Pflegling gewesen sei, »so daß ich einmal sogar mit ihr um Ihretwillen wegen des Erziehungssystems in Streit geriet, denn immer Schläge und Schläge für ein krankes Kind... das ist doch... das müssen Sie selbst sagen...«, und mit welcher Zärtlichkeit ganz im Gegensatz dazu die jüngere Kusine, Natalja Nikitischna, den armen Knaben behandelt habe... »Sie leben jetzt beide«, berichtete er weiter, »im Gouvernement *** (ich weiß nur nicht, ob sie zur Zeit wirklich noch leben), wo ihnen von Pawlischtschew ein sehr nettes kleines Gut durch Erbschaft zugefallen ist. Marfa Nikitischna beabsichtigte, wenn ich mich recht entsinne, in ein Kloster zu gehen; übrigens will ich es nicht behaupten, vielleicht habe ich es von jemand gehört... ja, ich hörte es neulich von der Frau eines Arztes...« Die Augen des Fürsten glänzten vor Entzücken und Rührung, als er das hörte. Er erklärte seinerseits sehr eifrig, er werde es sich nie verzeihen, daß er in den sechs Monaten, während er in den inneren Gouvernements herumgereist sei, nicht die Gelegenheit benutzt habe, um seine früheren Pflegerinnen ausfindig zu machen und zu besuchen. Er habe alle Tage hinfahren wollen und sei immer durch Abhaltungen daran gehindert worden ... aber jetzt nehme er es sich fest vor... unbedingt... wenn es auch im Gouvernement *** sei... »Also Sie kennen Natalja Nikitischna? Was ist das für eine prächtige, fromme Seele! Aber auch Marfa Nikitischna... verzeihen Sie, aber Sie irren sich wohl in bezug auf Marfa Nikitischna! Sie war ja streng, aber... man mußte ja mit einem solchen Idioten, wie ich es damals war, notwendig die Geduld verlieren (hihi!). Ich war ja damals vollständig ein Idiot, Sie werden es kaum glauben können (haha!). Übrigens... übrigens, Sie haben mich damals gesehen und... sagen Sie nur, wie geht es zu, daß ich mich an Sie nicht erinnere? Also Sie... ach, mein Gott, also Sie sind wirklich ein Verwandter Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews?« »Ja, ich ver-si-che-re es Ihnen!« erwiderte Iwan Petrowitsch, indem er den Fürsten lächelnd anblickte. »Oh, ich sagte es ja nicht in dem Sinne, als ob ich... als ob ich daran zweifelte... und kann man denn etwa irgendwie daran zweifeln (hehe!)... auch nur im geringsten zweifeln? (Hehe!) Ich sagte es deshalb, weil der verstorbene Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew ein so vortrefflicher Mensch war! Ein hochherziger Mensch, wahrhaftig, ich versichere Sie!« Der Fürst war nicht nur außer Atem, sondern »erstickte sozusagen an seinen schönen Empfindungen«, wie sich über ihn am andern Morgen Adelaida im Gespräch mit ihrem Bräutigam, dem Fürsten Schtsch., ausdrückte. »Ach, mein Gott!« erwiderte Iwan Petrowitsch lachend, »warum sollte ich denn nicht sogar mit einem hoch-her-zi-gen Menschen verwandt sein können?« »Ach, mein Gott!« rief der Fürst verlegen und hastig, er wurde immer lebhafter. »Ich... ich habe wieder eine Dummheit gesagt; aber... es ist eben nicht anders möglich, weil ich... ich... ich... Übrigens, das gehört wieder nicht hierher! Und was liegt auch jetzt an mir, sagen Sie selbst, angesichts solcher Interessen... angesichts so gewaltiger Interessen!... Und im Vergleich mit einem so hochherzigen Menschen, nicht wahr? Nicht wahr?« Der Fürst zitterte am ganzen Leibe. Warum er sich auf einmal so aufregte, warum er ohne äußeren Anlaß in eine solche Rührung und in ein solches Entzücken hineingeriet, die anscheinend gar nicht im richtigen Verhältnis zu dem Gegenstand des Gesprächs standen, das wäre schwer zu sagen. Er war nun einmal in solcher Stimmung und empfand sogar in diesem Augenblick für irgend jemand und irgend etwas die heißeste, innigste Dankbarkeit, vielleicht sogar für Iwan Petrowitsch und beinah auch für alle anderen Gäste. Er war nun einmal zu glücklich. Iwan Petrowitsch begann schließlich, ihn weit genauer zu betrachten als vorher; auch der Würdenträger musterte ihn sehr genau. Die alte Bjelokonskaja richtete einen zornigen Blick auf den Fürsten und preßte die Lippen aufeinander. Fürst N., Jewgenij Pawlowitsch, Fürst Schtsch. und die jungen Mädchen unterbrachen sämtlich ihre Gespräche und hörten zu. Aglaja schien erschrocken zu sein, Lisaweta Prokofjewna es geradezu mit der Angst zu bekommen. Das Verhalten der Jepantschinschen Damen, der Mutter wie der Töchter, war recht sonderbar: sie waren selbst der Ansicht gewesen, es sei am besten, wenn der Fürst den Abend über schweigend dasitze, und hatten ihm dies auch anempfohlen; aber sowie sie gesehen hatten, daß er völlig vereinsamt und mit seinem Schicksal ganz zufrieden in einer Ecke saß, waren sie auch sofort in Aufregung geraten. Alexandra hatte gerade vorgehabt, zu ihm hinzugehen und ihn vorsichtig quer durch das ganze Zimmer zur Gesellschaft heranzuholen, das heißt genauer zum Fürsten N., der neben der alten Bjelokonskaja saß. Und kaum hatte der Fürst von selbst zu reden angefangen, als sie noch unruhiger wurden. »Daß er ein vortrefflicher Mensch war, darin haben Sie recht«, sagte Iwan Petrowitsch mit Nachdruck und nunmehr ohne zu lächeln, »ja, ja, er war ein prächtiger Mensch! Ein prächtiger, wertvoller Mensch!« fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu. »Man kann sagen, ein höchst achtenswerter Mensch«, fuhr er nach einer neuen Pause mit noch größerem Nachdruck fort, »und... und es ist eine Freude zu sehen, daß Sie Ihrerseits...« »Hatte dieser Pawlischtschew nicht so eine Affäre... eine sonderbare Affäre... mit einem Abbé... mit einem Abbé... ich habe vergessen, mit was für einem Abbé, aber es sprachen damals alle davon«, sagte der Würdenträger, indem er in seinem Gedächtnis nachsuchte. »Mit dem Abbé Gouraud, einem Jesuiten«, kam ihm Iwan Petrowitsch zu Hilfe. »Ja, so geht es mit unsern vortrefflichsten, würdigsten Männern! Denn er war doch von guter Familie, besaß Vermögen, hatte den Rang eines Kammerherrn, und wenn er... im Dienst geblieben wäre... Und da ließ er nun Dienst und alles im Stich, um zum Katholizismus überzutreten und Jesuit zu werden, und noch dazu beinah ganz offen, mit einer Art von Begeisterung. Wirklich, er ist gerade zur rechten Zeit gestorben... ja, das wurde damals allgemein gesagt.« Der Fürst war außer sich. »Pawlischtschew... Pawlischtschew zum Katholizismus übergetreten? Das ist unmöglich!« rief er erschrocken. »Nun, nun, ›unmöglich‹!« lispelte Iwan Petrowitsch gelassen. »Das ist denn doch zuviel gesagt, mein lieber Fürst, das müssen Sie selbst zugeben... Übrigens, Sie schätzen den Verstorbenen so außerordentlich hoch ... und er war auch wirklich der beste Mensch, und gerade diesem Umstand schreibe ich es in der Hauptsache zu, daß dieser Gauner Gouraud mit seinen Bemühungen Erfolg hatte. Aber ich könnte Ihnen ein Lied davon singen, wieviel Mühe und Schererei ich damals von dieser Geschichte gehabt habe... und besonders mit diesem Gouraud! Stellen Sie sich vor«, wandte er sich plötzlich zu dem Würdenträger, »sie wollten sogar Ansprüche auf die Hinterlassenschaft erheben, und ich mußte damals sogar zu den allerenergischsten Maßregeln greifen... um sie zur Räson zu bringen... denn auf solche Dinge verstehen sie sich meisterhaft! Geradezu mei-ster-haft! Aber die Geschichte spielte, Gott sei Dank, in Moskau, so daß ich mich gleich an den Grafen wenden konnte, und da haben wir sie... zur Räson gebracht...« »Sie glauben nicht, was Sie mir für eine schmerzliche Überraschung bereitet haben!« rief der Fürst wieder. »Das tut mir leid, aber im Grunde sind das alles, streng genommen, harmlose Dinge, die auch einen harmlosen Ausgang genommen hätten, wie immer; davon bin ich überzeugt. Im vorigen Sommer«, wandte er sich wieder an den Würdenträger, »ist die Gräfin K., wie man sagt, ebenfalls im Ausland in ein katholisches Kloster gegangen; unsere Landsleute haben eben keine Widerstandskraft, wenn sie sich einmal mit diesen... geriebenen Kunden einlassen... namentlich im Ausland.« »Ich meine, das ist alles eine Folge unserer... Schlaffheit«, murmelte unter Kaubewegungen der Alte in überlegenem Ton. »Na ja, sie haben so eine eigene Manier zu predigen... eine elegante Manier... und verstehen es, die Leute einzuschüchtern. Auch mich haben sie, als ich einunddreißig Jahre alt war, in Wien eingeschüchtert, das kann ich Ihnen sagen; nur ergab ich mich nicht, sondern lief ihnen davon, haha!« »Ich habe gehört, Väterchen, daß Sie damals mit der schönen Gräfin Lewizkaja von Wien nach Paris durchgingen und Ihren Posten verließen und nicht vor einem Jesuiten flohen«, bemerkte die alte Bjelokonskaja. »Na, eigentlich doch vor einem Jesuiten, es kommt doch so heraus, daß ich vor einem Jesuiten floh!« erwiderte der Alte, bei der angenehmen Erinnerung lächelnd. »Sie sind, wie es scheint, sehr religiös, was man jetzt bei einem jungen Menschen so selten findet«, wandte er sich freundlich an den Fürsten Lew Nikolajewitsch, der mit offenem Mund zuhörte und immer noch ganz überrascht war; der Alte wünschte offenbar, den Fürsten näher kennenzulernen; dieser begann ihn aus gewissen Gründen sehr zu interessieren. »Pawlischtschew war ein heller Geist und ein Christ, ein wahrer Christ«, sagte der Fürst plötzlich, »wie konnte er nur einen unchristlichen Glauben annehmen? Der Katholizismus, das ist genauso schlimm wie ein unchristlicher Glaube!« fügte er mit blitzenden Augen hinzu, indem er vor sich hin schaute und alle Anwesenden gleichsam mit einem Blick zusammenfaßte. »Na, das geht zu weit«, murmelte der Alte und blickte Iwan Fjodorowitsch erstaunt an. »Wieso soll denn der Katholizismus ein unchristlicher Glaube sein?« fragte Iwan Petrowitsch, sich auf seinem Stuhl umwendend. »Und was für ein Glaube ist er denn?« »Erstens ist er ein unchristlicher Glaube!« erwiderte der Fürst in großer Erregung und mit übermäßiger Schärfe. »Das ist das erste, und zweitens ist der römische Katholizismus sogar schlimmer als der Atheismus selbst, das ist meine Meinung! Ja, das ist meine Meinung! Der Atheismus predigt nur das Nichts, aber der Katholizismus geht weiter: er predigt einen entstellten Christus, einen von ihm verleumdeten und beschimpften Christus, das reine Gegenteil von Christus! Er predigt den Antichrist, das schwöre ich Ihnen, das versichere ich Ihnen! Das ist meine persönliche, langgehegte Überzeugung, die mir schon viel Qual bereitet hat... Der römische Katholizismus glaubt, daß ohne eine universale Herrschaft die Kirche auf Erden nicht bestehen kann, und ruft: ›Nonpossumus!‹ Wir können nicht! (lat.) Gemeint ist: wir können nicht verzichten. Meiner Ansicht nach ist der römische Katholizismus überhaupt kein Glaube, sondern einfach eine Fortsetzung des weströmischen Kaisertums, und es ist bei ihm alles, vom Glauben angefangen, dieser Idee untergeordnet. Der Papst hat die Erde in Besitz genommen, einen irdischen Thron bestiegen und das Schwert ergriffen; seitdem geht alles in dieser Art weiter, nur haben sie zum Schwert noch die Lüge, die Intrige, den Betrug, den Fanatismus, den Aberglauben und das Verbrechen hinzugefügt; sie haben mit den heiligsten, aufrichtigsten, schlichtesten, wärmsten Empfindungen des Volkes gespielt, alles, alles haben sie für Geld, für gemeine weltliche Macht hingegeben. Und das wäre nicht die Lehre des Antichrists?! Wie hätte da nicht der Atheismus von ihnen ausgehen sollen? Der Atheismus ist von ihnen ausgegangen, direkt vom römischen Katholizismus! Der Atheismus hat zuallererst bei ihnen selbst angefangen: konnten sie denn auch sich selbst Glauben schenken? Er gewann dann Kraft aus dem gegen sie bestehenden Widerwillen; er ist ein Produkt ihrer Lüge und geistigen Kraftlosigkeit! Der Atheismus! Bei uns sind es bisher nur exklusive Schichten, die ihre Wurzel verloren haben und nicht mehr glauben, wie Jewgenij Pawlowitsch neulich sehr schön gesagt hat, aber dort in Westeuropa hören schon gewaltige Massen des eigentlichen Volkes auf zu glauben, vormals aus Unwissenheit und Unwahrhaftigkeit, aber jetzt schon aus Fanatismus und aus Haß gegen die Kirche und gegen das Christentum.« Der Fürst hielt inne, um Atem zu schöpfen. Er hatte furchtbar schnell gesprochen. Er war blaß und rang nach Luft. Alle wechselten Blicke miteinander; aber endlich begann der Alte ganz offen zu lachen. Fürst N. nahm seine Lorgnette heraus und betrachtete den Fürsten unablässig. Der deutsche Dichter kam aus seiner Ecke hervorgekrochen und näherte sich mit einem unangenehmen Lächeln dem Tisch. »Sie ü-ber-trei-ben sehr«, sagte Iwan Petrowitsch, dieses Wort in die Länge ziehend, in etwas gelangweiltem Ton; es klang sogar so, als ob ihm etwas unangenehm wäre, »auch in der dortigen Kirche gibt es höchst achtenswerte, tu-gend-hafte Vertreter...« »Ich habe nie von einzelnen Vertretern der Kirche gesprochen. Ich rede von dem, was das Wesen des römischen Katholizismus ausmacht, ich rede von Rom. Kann denn eine Kirche vollständig verschwinden? Ich habe das nie gesagt!« »Einverstanden, aber all das ist bekannt und braucht daher nicht gesagt zu werden, und... es gehört zur Theologie...« »O nein, o nein! Nicht nur zur Theologie, ich versichere Sie, nein! Das geht uns weit mehr an, als Sie meinen. Gerade darin besteht unser ganzer Irrtum, daß wir noch nicht einsehen können, daß das nicht ausschließlich nur eine theologische Angelegenheit ist! Auch der Sozialismus ist ja eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ebenso wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen, als Gegensatz zum Katholizismus im moralischen Sinne, um einen Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion zu bilden, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten, nicht durch Christus, sondern ebenfalls durch Gewalt! Das ist ebenfalls eine Freiheit durch Gewalt, das ist ebenfalls eine Vereinigung durch Schwert und Blut! ›Erdreiste dich nicht, an Gott zu glauben, erdreiste dich nicht, Eigentum zu besitzen, erdreiste dich nicht, eine Persönlichkeit zu haben, fraternité ou la mort. Brüderlichkeit oder den Tod (frz.) zwei Millionen Köpfe!‹ An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, heißt es in der Schrift. Und glauben Sie nicht, daß das alles so harmlos und für uns ungefährlich wäre; o nein, wir müssen Widerstand leisten, und auf das schnellste, auf das schnellste! Unser Christus muß als Schild dem Westen entgegenstrahlen, unser Christus, den wir uns bewahrt und den sie nicht gekannt haben! Wir dürfen uns nicht sklavisch von den Jesuiten angeln lassen, sondern müssen ihnen jetzt entgegentreten, indem wir ihnen unsere russische Zivilisation bringen, und man darf bei uns nicht sagen, daß ihre Predigt elegant sei, wie sich soeben jemand geäußert hat...« »Aber erlauben Sie, erlauben Sie«, unterbrach ihn Iwan Petrowitsch, der sich unruhig umblickte und sogar ordentlich Angst bekam, »alle Gedanken, die Sie da vortragen, sind ja gewiß sehr löblich und patriotisch, aber es ist doch alles in höchstem Grade übertrieben, und... es wäre das beste, wenn wir dieses Gespräch abbrächen...« »Nein, übertrieben ist es nicht, eher zu schwach ausgedrückt, ja, zu schwach ausgedrückt, weil ich nicht imstande bin, die richtigen Worte zu finden, aber...« »Er-lau-ben Sie!« Der Fürst schwieg. Er saß, gerade aufgerichtet, auf seinem Stuhl und blickte, ohne sich zu regen, Iwan Petrowitsch mit flammendem Blick an. »Mir scheint, daß der Vorfall mit Ihrem Wohltäter Sie gar zu sehr beeindruckt hat«, bemerkte der Alte freundlich und ohne seine Ruhe zu verlieren. »Sie sind etwas hitzig... vielleicht infolge Ihres einsamen Lebens. Wenn Sie mehr unter Menschen lebten – und ich hoffe, daß man sich in der guten Gesellschaft über Sie als über einen beachtenswerten jungen Mann freuen wird –, so wird sich Ihre Lebhaftigkeit gewiß mildern, und Sie werden sehen, daß das alles weit einfacher ist... und zudem gehen solche seltenen Fälle meiner Ansicht nach teils aus unserer Übersättigung hervor, teils aus... einem inneren Unfrieden.« »Ganz richtig, ganz richtig!« rief der Fürst. »Ein vortrefflicher Gedanke! Jawohl, aus einem inneren Unfrieden, aus unserem inneren Unfrieden! Nicht aus Übersättigung, sondern im Gegenteil aus Durst... nicht aus Übersättigung, darin haben Sie sich geirrt! Aus Durst ist noch zuwenig gesagt: aus brennendem, fieberhaftem Durst! Und... und glauben Sie nicht, das geschehe in so geringem Ausmaß, daß man darüber lachen dürfe; verzeihen Sie, man muß verstehen vorauszufühlen! Wenn unsere Landsleute das Ufer erreicht haben und zu der Überzeugung gelangt sind, daß das das Ufer ist, dann freuen sie sich darüber gleich dermaßen, daß sie sofort weitergehen, so weit wie nur irgend möglich; woher kommt das? Da wundern Sie sich über Pawlischtschew und schreiben alles seiner Verdrehtheit oder seiner Herzensgüte zu, aber dem ist nicht so! Und nicht uns allein, sondern ganz Europa setzt in solchen Fällen unsere russische Leidenschaftlichkeit in Erstaunen: wenn bei uns jemand zum Katholizismus übertritt, dann wird er unfehlbar auch gleich Jesuit und gleich einer der schlimmsten, und wenn einer Atheist wird, dann fordert er unfehlbar sofort eine gewaltsame Ausrottung des Gottesglaubens, das heißt also eine Ausrottung mit dem Schwert. Woher kommt das? Woher auf einmal ein solcher Fanatismus? Wissen Sie es wirklich nicht? Das kommt daher, daß der Betreffende ein Vaterland gefunden hat, das er hier übersah, und sich darüber freut; er hat ein Ufer gefunden, Land gefunden und hat sich hingeworfen, um es zu küssen! Nicht aus bloßer Eitelkeit, nicht immer nur aus häßlichen, eitlen Motiven werden die Russen Atheisten oder Jesuiten, sondern auch aus seelischem Schmerz, aus seelischem Durst, aus Sehnsucht nach Höherem, nach einem festen Ufer, nach einer Heimat, an die sie aufgehört haben zu glauben, weil sie sie niemals gekannt haben! Atheist zu werden ist für einen Russen so überaus leicht, leichter als für alle übrigen Menschen in der ganzen Welt! Und unsere Landsleute werden nicht einfach Atheisten, sondern glauben unfehlbar an den Atheismus wie an einen neuen Glauben, ohne zu bemerken, daß sie an ein Nichts glauben. So groß ist unser seelischer Durst! ›Wer keinen Boden unter sich hat, der hat auch keinen Gott!‹ Dieser Ausdruck rührt nicht von mir her, sondern von einem altgläubigen Kaufmann, mit dem ich auf einer Reise zusammentraf. Er drückte sich allerdings nicht ganz so aus, sondern sagte: ›Wer sich von seiner Heimat losgesagt hat, der hat sich auch von seinem Gott losgesagt.‹ Man braucht nur daran zu denken, daß bei uns die gebildetsten Leute sogar in die Sekte der Geißler eintraten... Und inwiefern ist übrigens in solchem Fall das Geißlerwesen schlechter als der Nihilismus, das Jesuitentum und der Atheismus? Man kann vielleicht sogar sagen, daß es mehr Tiefe besitzt! Aber da sieht man, wie weit jener innere Unfriede geht!... Man zeige den fieberhaft dürstenden Gefährten des Kolumbus das Gestade der Neuen Welt, man zeige dem Russen das wahre Russentum, man lasse ihn dieses Gold, diesen Schatz finden, der seinen Augen bisher in der Erde verborgen ist! Man zeige ihm, wie sich in der Zukunft die Erneuerung und Auferstehung der ganzen Menschheit vielleicht einzig und allein durch den russischen Gedanken, durch den russischen Gott und den russischen Christus vollziehen wird, und man wird sehen, welch ein starker, wahrheitsliebender, weiser, sanfter Riese vor den Augen der erstaunten Welt heranwachsen wird; erstaunt und erschrocken wird die Welt allerdings sein, weil sie von uns nur das Schwert erwartet, das Schwert und die Gewalt, denn da sie nach sich selbst urteilt, kann sie sich uns nicht ohne Barbarentum vorstellen. So ist das bisher gewesen, und dieses Sehnen wird, je länger es dauert, immer stärker! Und...« Aber hier trat plötzlich ein Ereignis ein, und die Rede des Fürsten wurde in einer ganz unerwarteten Weise unterbrochen. Diese ganze wilde Tirade, dieser ganze Schwall seltsamer, aufgeregter Worte und ungeordneter, enthusiastischer Gedanken, die in wirrem Durcheinander sich drängten und übereinander hinwegsprangen, alles dies ließ ahnen, daß in der Verfassung des so plötzlich und anscheinend ohne jeden Anlaß in Hitze geratenen jungen Mannes eine besondere Gefahr lauerte. Von den im Salon Anwesenden waren alle, die den Fürsten kannten, von ängstlichem (bei manchen sogar mit Scham gepaartem) Erstaunen über seine Extravaganz ergriffen, die so gar nicht zu seiner ständigen, geradezu schüchtern zu nennenden Zurückhaltung, zu dem in manchen Fällen von ihm bewiesenen besonders feinen Takt und zu seinem instinktiven Gefühl für die höchsten Anstandsregeln passen wollte. Es war unbegreiflich, woher das gekommen war: die Mitteilung über Pawlischtschew konnte doch nicht die Ursache sein. Die Damen blickten aus ihrer Ecke auf ihn hin wie auf einen Irrsinnigen, und die alte Bjelokonskaja gestand später, wenn die Sache noch eine Minute länger gedauert hätte, so hätte sie sich durch die Flucht gerettet. Die alten Herren waren zuerst vor Staunen ganz fassungslos; Iwan Fjodorowitschs Vorgesetzter, der General, sah den Fürsten von seinem Stuhl aus mit unzufriedener, strenger Miene an. Der Oberst saß völlig regungslos da. Der Deutsche war ganz blaß geworden, lächelte aber immer noch heuchlerisch und betrachtete die andern, wie sie jetzt wohl reagieren würden. Übrigens hätte die ganze Sache und der »ganze Skandal« durch ein sehr gewöhnliches, natürliches Mittel erledigt werden können, vielleicht sogar in einem Augenblick; Iwan Fjodorowitsch nämlich, der sehr erstaunt war, aber sich schneller als die übrigen gefaßt hatte, hatte schon mehrmals den Fürsten zu hemmen versucht; da seine Bemühungen keinen Erfolg gehabt hatten, so ging er jetzt mit einer entschiedenen und festen Absicht auf ihn zu. Noch ein Augenblick, und er hätte nötigenfalls vielleicht den Fürsten in freundschaftlicher Weise unter dem Vorwand seiner Krankheit hinausgeführt, was vielleicht sogar wirklich die Wahrheit war und wovon auch Iwan Fjodorowitsch im stillen fest überzeugt war... Aber die Sache nahm eine andere Wendung. Gleich zu Anfang, als der Fürst in den Salon getreten war, hatte er sich möglichst weit entfernt von der chinesischen Vase hingesetzt, mit der ihm Aglaja eine solche Angst eingejagt hatte. Konnte man wohl glauben, daß nach Aglajas gestrigen Worten sich bei ihm eine unauslöschliche Überzeugung, eine sonderbare, wunderliche Ahnung festgesetzt hatte, er werde unbedingt morgen diese Vase zerbrechen, möge er sich auch noch so sehr von ihr fernhalten und das Unglück zu vermeiden suchen? Und doch war es so. Im Laufe des Abends hatten sich andere starke, aber lichte Empfindungen in seine Seele eingedrängt; wir haben davon bereits gesprochen. Er hatte seine Ahnung vergessen. Als er von Pawlischtschew reden hörte und Iwan Fjodorowitsch ihn von neuem zu Iwan Petrowitsch führte und diesen auf ihn aufmerksam machte, da hatte er sich näher an den Tisch herangesetzt und zufällig gerade auf den Sessel neben der gewaltigen, schönen chinesischen Vase, die auf einem Sockel stand, beinah neben seinem Ellbogen, ganz dicht hinter ihm. Bei seinen letzten Worten erhob er sich plötzlich von seinem Platz, machte eine unvorsichtige Bewegung mit dem Arm und mit der Schulter, und ... es ertönte ein allgemeiner Schrei! Die Vase schwankte, anfangs gleichsam noch unschlüssig, ob sie nicht einem der alten Herren auf den Kopf fallen sollte, aber auf einmal neigte sie sich nach der entgegengesetzten Seite, nach der Seite des im letzten Augenblick entsetzt wegspringenden Deutschen, und fiel zu Boden. Ein Gepolter, ein Aufschrei, die kostbaren Scherben zerstreut auf dem Teppich, Bestürzung, Erstaunen, – oh, und was in der Seele des Fürsten vorging, das läßt sich schwer schildern, doch ist eine solche Schilderung auch kaum nötig! Aber wir dürfen eine sonderbare Empfindung nicht unerwähnt lassen, die ihn gerade in diesem Augenblick überkam und ihm auf einmal aus der Menge all der anderen unklaren und seltsamen Empfindungen mit aller Deutlichkeit entgegentrat: weder das Gefühl der Scham noch der Verdruß über das erregte Ärgernis, noch die Furcht vor den Folgen, noch die Plötzlichkeit des Ereignisses, nichts wirkte auf ihn so stark wie der Gedanke, daß die Prophezeiung nun doch eingetroffen sei! Was eigentlich an diesem Gedanken ihn so sehr packte, das hätte er sich selbst nicht klarmachen können; er fühlte nur, daß er im tiefsten Herzen ergriffen war, und stand da wie von einer mystischen Angst erfaßt. Noch ein Augenblick, und es war ihm, als ob sich alles vor ihm weitete und an die Stelle der Angst Licht und Freude und Entzücken träten; sein Atem stockte, und... aber der kritische Augenblick ging vorüber. Gott sei Dank, das Befürchtete war nicht eingetreten! Er schöpfte wieder Atem und blickte rings um sich. Lange schien es, als verstünde er das wirre Treiben nicht, das um ihn herum entstanden war, das heißt, er verstand es vollkommen und sah alles, aber er stand da, als sei er dabei ganz unbeteiligt, als gehe ihn die Sache in keiner Weise etwas an, als sei er wie der Unsichtbare im Märchen in das Zimmer getreten und beobachtete dort ihm fremde, aber interessante Menschen. Er sah, wie die Scherben weggeräumt wurden, hörte hastige Gespräche, sah Aglaja, die blaß war und ihn sonderbar anblickte, sehr sonderbar: in ihren Augen war gar kein Haß, gar kein Zorn sichtbar; sie schaute ihn mit einem erschrockenen, aber von freundlicher Teilnahme zeugenden Blick an, während sie den andern einen funkelnden Blick zuwarf... sein Herz wurde plötzlich von einem seligen Schmerz erfüllt. Endlich sah er mit befremdetem Erstaunen, daß alle sich wieder hingesetzt hatten und sogar lachten, als ob nichts geschehen wäre! Noch ein Augenblick und das Gelächter steigerte sich: sie lachten jetzt über ihn, wie er stumm und starr dastand, aber sie lachten gutmütig und heiter; viele begannen mit ihm zu reden und redeten so freundlich, vor allem Lisaweta Prokofjewna: sie sprach lachend und sagte etwas sehr, sehr Herzliches. Auf einmal fühlte er, daß Iwan Fjodorowitsch ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte; auch Iwan Petrowitsch lachte; aber noch netter, reizender und liebenswürdiger benahm sich der Alte, er faßte den Fürsten bei der Hand, drückte sie sanft und schlug mit der flachen andern Hand leise darauf, wobei er ihm zuredete, wieder zu sich zu kommen, wie man das mit einem erschrockenen kleinen Jungen macht, was dem Fürsten sehr gefiel, und endlich forderte er ihn auf, sich unmittelbar neben ihn zu setzen. Der Fürst blickte ihm mit einem seligen Gefühl ins Gesicht und war immer noch nicht imstande, etwas herauszubringen, da ihm der Atem stockte; das Gesicht des Alten gefiel ihm außerordentlich. »Wie?« murmelte er endlich, »Sie verzeihen mir wirklich? Auch... auch Sie, Lisaweta Prokofjewna?« Das Gelächter nahm zu; dem Fürsten kamen die Tränen in die Augen; er traute seinen Augen nicht und war wie verzaubert. »Gewiß, es war eine schöne Vase. Ich erinnere mich, sie hier schon seit ungefähr fünfzehn Jahren gesehen zu haben, ja... seit fünfzehn Jahren...«, begann Iwan Petrowitsch. »Ach was! Was ist das schon für ein Unglück! Ein Mensch lebt auch nicht ewig, wie wird man da um einen irdenen Topf viel Wesens machen!« sagte Lisaweta Prokofjewna laut. »Hast du denn wirklich einen solchen Schreck bekommen, Lew Nikolajitsch?« fügte sie in besorgtem Ton hinzu. »Laß es gut sein, mein Täubchen, laß es gut sein! Du ängstigst mich sonst wirklich.« »Und Sie verzeihen mir alles? Alles, auch abgesehen von der Vase?« sagte der Fürst und wollte sich von seinem Platz erheben, aber der Alte zog ihn sogleich an der Hand wieder nieder. Er wollte ihn nicht loslassen. »C'est très curieux et c'est très sérieux!« Das ist sehr merkwürdig, und das ist sehr ernst! flüsterte er über den Tisch Iwan Petrowitsch zu, übrigens ziemlich laut. Der Fürst konnte es durchaus gehört haben. »Ich habe also niemand von Ihnen beleidigt? Sie glauben gar nicht, wie glücklich mich dieser Gedanke macht! Aber es konnte ja auch nicht anders sein! Konnte sich denn hier jemand durch mich beleidigt fühlen? Ich beleidige Sie wieder, indem ich so etwas auch nur denke.« »Beruhigen Sie sich, mein Freund, das ist Übertreibung. Sie haben auch gar keinen Grund, sich so zu bedanken; das ist ein schönes, aber übertriebenes Gefühl.« »Ich danke Ihnen auch gar nicht, ich sehe Sie nur... voller Freude an und fühle mich bei Ihrem Anblick so glücklich. Vielleicht rede ich dumm, aber... ich muß reden, ich muß Ihnen alles erklären ... wenn auch nur aus Selbstachtung.« Alles an ihm war aufgeregt, unklar und fieberhaft; sehr möglich, daß die Worte, die er herausbrachte, oft nicht die waren, die er hatte sagen wollen. Er schien mit seinen Augen zu fragen, ob er reden dürfe. Sein Blick fiel auf die alte Bjelokonskaja. »Meinetwegen, lieber Freund, fahr nur fort, fahr nur fort, nur komm nicht außer Atem!« bemerkte diese. »Du hast auch vorhin schon Atemnot gehabt, und du siehst ja, wie arg es damit geworden ist. Aber fürchte dich nicht zu reden: diese Herren haben schon wunderlichere Käuze gesehen, als du einer bist; du setzt sie weiter nicht in Erstaunen. Und du bist ja auch gar nicht Gott weiß was für ein Sonderling, du hast nur eine Vase zerbrochen und uns einen Schreck eingejagt.« Der Fürst lächelte, als er sie das sagen hörte. »Sie waren es doch«, wandte er sich plötzlich an den Alten, »Sie waren es doch, der vor drei Monaten den Studenten Podkumow und den Beamten Schwabrin vor der Verschickung rettete?« Der Alte errötete sogar ein wenig und murmelte, er möge sich doch beruhigen. »Und über Sie habe ich im Gouvernement *** gehört«, wandte er sich sofort an Iwan Petrowitsch, »daß Sie Ihren abgebrannten Bauern, obwohl sie schon freigelassen waren und Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hatten, umsonst Holz zum Bauen gegeben haben?« »Nun, das ist eine Ü-ber-treibung«, murmelte Iwan Petrowitsch, nahm aber, angenehm berührt, eine würdevolle Haltung an. Diesmal jedoch hatte er vollkommen recht damit, daß das »eine Übertreibung« sei, es war nur ein falsches Gerücht gewesen, das dem Fürsten zu Ohren gekommen war. »Und Sie, Fürstin«, wandte er sich auf einmal mit strahlendem Lächeln an die alte Bjelokonskaja, »haben Sie mich nicht vor einem halben Jahr in Moskau auf Lisaweta Prokofjewnas Brief hin wie einen leiblichen Sohn aufgenommen und mir wirklich wie einem leiblichen Sohn einen Rat gegeben, den ich nie vergessen werde? Erinnern Sie sich?« »Was redest du für tolles Zeug zusammen?« erwiderte die alte Bjelokonskaja ärgerlich. »Du bist ein guter, aber komischer Mensch: wenn man dir zwei Groschen schenkt, bist du so dankbar, als ob man dir das Leben gerettet hätte. Du denkst, das sei lobenswert, aber es ist widerwärtig.« Sie wollte schon ernstlich zornig werden, brach aber plötzlich in ein Gelächter aus, und es war diesmal ein gutmütiges Gelächter. Auch Lisaweta Prokofjewnas Gesicht glänzte; nicht minder strahlte Iwan Fjodorowitsch. »Ich habe es ja gesagt, Lew Nikolajitsch ist ein Mensch... ein Mensch... mit einem Wort, wenn er nur nicht außer Atem käme, wie die Fürstin richtig bemerkt hat...«, murmelte der General in einer Art von Freudenrausch, indem er die Worte der alten Bjelokonskaja, die ihn frappiert hatten, wiederholte. Nur Aglaja schien traurig zu sein, aber ihr Gesicht glühte immer noch, vielleicht vor Unwillen. »Er ist wirklich sehr liebenswürdig«, sagte der Alte wieder leise zu Iwan Petrowitsch. »Ich kam hierher mit tiefem Weh im Herzen«, fuhr der Fürst fort, mit immer wachsender Erregung, immer schneller und schneller, mit immer seltsamerer Begeisterung, »ich... fürchtete mich vor Ihnen, fürchtete mich vor mir selbst. Am meisten vor mir selbst. Als ich hierher nach Petersburg zurückkehrte, hatte ich mir vorgenommen, jedenfalls unsere ersten, ältesten Familien kennenzulernen, zu denen ich selbst gehöre, unter denen ich selbst durch meine Herkunft einer der ersten Vertreter bin. Nun sitze ich ja jetzt mit ebensolchen Fürsten zusammen, wie ich einer bin, nicht wahr? Ich wollte Sie kennenlernen, und das war notwendig, sehr, sehr notwendig!... Ich hatte über Sie immer sehr viel Schlechtes gehört, mehr als Gutes: über die Kleinlichkeit und Exklusivität Ihrer Interessen, über Ihre Rückständigkeit, über Ihre geringe Bildung, über Ihre lächerlichen Gewohnheiten – oh, es wird ja so viel über Sie geschrieben und geredet! Ich bin voller Neugier und Erregung heute hierhergekommen: ich wollte mich persönlich davon überzeugen, ob wirklich diese ganze obere Schicht des russischen Volkes nichts mehr taugt, sich überlebt hat, keine Kraft zum Leben mehr besitzt, zu weiter nichts mehr fähig ist, als zu sterben, aber doch immer noch in kleinlichem Neid einen Kampf gegen die Männer... der Zukunft führt, sich ihnen in den Weg stellt, ohne zu merken, daß sie selbst im Absterben begriffen ist. Ich habe diese Meinung auch früher nicht ganz für richtig gehalten, weil es bei uns eine höhere Gesellschaftsklasse eigentlich nie gegeben hat, außer etwa der Hofgesellschaft, zu der mancher durch seine Uniform oder... durch irgendwelche Zufälle gehörte, und jetzt ist auch die ganz verschwunden, nicht wahr, nicht wahr?« »Nun, das verhält sich ganz und gar nicht so!« bemerkte Iwan Petrowitsch spöttisch lachend. »Na, nun ist er richtig wieder in Zug gekommen!« sagte die alte Bjelokonskaja verdrießlich. »Laissez le dire, Lassen Sie ihn reden (frz.) er zittert ja am ganzen Leibe«, sagte der Alte wieder halblaut in warnendem Ton. Der Fürst hatte sich augenscheinlich nicht mehr in der Gewalt. »Und was fand ich? Ich sah elegante, gutherzige, verständige Menschen; ich sah einen alten Herrn, der einen jungen Menschen wie mich freundlich anhört; ich sehe Menschen, die imstande sind zu verstehen und zu verzeihen, gute, echte russische Menschen, die fast ebenso gut und herzlich sind wie die, mit denen ich in andern Schichten zusammengekommen bin, fast in gleichem Maße. Urteilen Sie selbst, wie freudig ich erstaunt sein mußte! Oh, erlauben Sie mir, diesem Gefühl Ausdruck zu geben! Ich habe oft gehört und selbst fest geglaubt, in der vornehmen Welt sei alles nur Schein, alles nur abgelebte Form, der eigentliche Kern sei vertrocknet; aber nun sehe ich ja selbst, daß das bei uns nicht zutrifft; anderswo mag das so sein, bei uns ist es nicht so. Sind Sie denn sämtlich jetzt Jesuiten und Betrüger? Ich habe vorhin den Fürsten N. etwas erzählen hören: war das nicht gutherziger, sprudelnder Humor? War das nicht wahre Herzensgüte? Können denn solche Worte von den Lippen eines... geistig gestorbenen Menschen kommen, dessen Herz eingeschrumpft, dessen Talent versiegt ist? Könnten denn gestorbene Menschen mit mir so umgehen, wie Sie mit mir umgegangen sind? Ist das nicht Material... für die Zukunft, ein Material, auf das man seine Hoffnungen setzen darf? Können etwa solche Menschen verständnislos und rückständig sein?« »Ich bitte Sie noch einmal, sich zu beruhigen, mein Lieber«, sagte der Würdenträger lächelnd. »Wir wollen über all das ein andermal reden, und ich werde mit dem größten Vergnügen...« Iwan Petrowitsch räusperte sich und drehte sich auf seinem Sessel um; Iwan Fjodorowitsch wurde unruhig; sein hoher Vorgesetzter, der General, unterhielt sich mit der Gemahlin des Würdenträgers, ohne dem Fürsten auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken; aber die Gemahlin des Würdenträgers hörte häufig nach diesem hin und blickte zu ihm herüber. »Nein, wissen Sie, es wird schon das beste sein, wenn ich rede!« fuhr der Fürst in einem neuen fieberhaften Impuls fort, indem er sich besonders zutunlich und geradezu mit einer gewissen Vertraulichkeit an den Alten wandte. »Aglaja Iwanowna hat mir gestern verboten zu reden und mir sogar die Themen genannt, über die ich nicht reden dürfe; sie weiß, daß ich bei Erörterung dieser Themen lächerlich werde! Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, aber ich weiß ja, daß ich noch wie ein Kind bin. Ich habe kein Recht, meine Gedanken auszusprechen, das habe ich schon immer gesagt; ich habe nur in Moskau mit Rogoshin ganz offenherzig gesprochen ... Wir haben zusammen Puschkin gelesen, ihn ganz durchgelesen; er kannte nichts davon, nicht einmal den Namen Puschkin... Ich fürchte immer, durch mein komisches Wesen den Gedanken und die Hauptidee zu kompromittieren. Ich verstehe mich nicht auf Gesten. Ich mache immer Handbewegungen, die den richtigen entgegengesetzt sind, und das ruft Gelächter hervor und schadet der Idee. Ich habe auch kein Gefühl für das rechte Maß, und das ist das wichtigste; das ist sogar das allerwichtigste... Ich weiß, daß ich am besten täte, stillzusitzen und zu schweigen. Wenn ich das durchsetze und schweige, dann mache ich sogar den Eindruck eines ganz vernünftigen Menschen und denke außerdem im stillen über dies und jenes nach. Aber jetzt ist es doch besser, wenn ich rede. Ich habe zu reden angefangen, weil Sie mich so nett ansehen; Sie haben ein so nettes Gesicht! Ich habe gestern Aglaja Iwanowna mein Wort darauf gegeben, heute den ganzen Abend zu schweigen.« »Vraiment?« Wirklich? (frz.) fragte der Alte lächelnd. »Aber in manchen Augenblicken denke ich, daß ich unrecht tue, wenn ich so denke: Offenherzigkeit ist doch wohl ebensoviel wert wie eine schöne Geste, nicht wahr? Nicht wahr?« »Manchmal.« »Ich will Ihnen alles erklären, alles, alles, alles! O ja! Sie denken, ich sei ein Utopist, ein Ideologe? O nein, weiß Gott, meine Gedanken sind immer ganz einfach... Sie glauben es nicht? Sie lächeln? Wissen Sie, ich bin manchmal ein gemeiner Mensch, weil ich den Glauben verliere. Vorhin ging ich hierher und dachte: Na, wie werde ich mit ihnen reden? Womit muß ich anfangen, damit sie wenigstens etwas verstehen?' Was hatte ich für Furcht; aber ich fürchtete in der Hauptsache für Sie; es war schrecklich, ganz schrecklich! Aber durfte ich denn Furcht haben? Mußte ich mich nicht schämen, Furcht zu haben? Was tut es denn, daß auf einen Vorgeschrittenen eine solche Menge von Zurückgebliebenen, Schlechten kommt? Und das ist für mich nun gerade ein Grund zur Freude, daß ich jetzt die Überzeugung gewonnen habe, daß es sich gar nicht um eine solche tote Menge handelt, sondern daß das lauter lebensvolles Material ist! Wir dürfen uns auch dadurch nicht beirren lassen, daß wir komisch sind, nicht wahr? Es ist ja freilich wirklich so: wir sind komisch, leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu sehen, verstehen nicht zu begreifen, wir sind ja alle von dieser Art, alle, Sie und ich und alle andern! Sie fühlen sich doch nicht beleidigt dadurch, daß ich Ihnen ins Gesicht sage, Sie seien komisch? Wenn dem aber so ist, sind Sie denn dann nicht lebensvolles Material? Wissen Sie, meiner Ansicht nach ist es manchmal sogar gut, komisch zu sein, sogar das beste: man kann einander leichter verzeihen und sich leichter miteinander versöhnen; man kann doch auch nicht alles auf einmal verstehen, nicht gleich mit der Vollkommenheit anfangen! Um Vollkommenheit zu erreichen, muß man vorher gar vieles nicht verstanden haben! Und wenn man etwas gar zu schnell versteht, so ist Gefahr, daß man es nicht ordentlich versteht. Das sage ich Ihnen, die Sie es schon fertiggebracht haben, so vieles zu verstehen und... nicht zu verstehen. Ich fürchte jetzt nicht für Sie; Sie sind ja doch nicht böse darüber, daß ein so junger Mensch solche Worte zu Ihnen spricht? Sie lachen, Iwan Petrowitsch? Sie denken, ich fürchtete für die andern Schichten, sei ihr Advokat, ein Demokrat, ein Gleichheitsapostel?« Hier lachte er krampfhaft (er stieß alle Augenblicke ein kurzes, entzücktes Lachen aus). »Ich fürchte für Sie, für Sie alle, für Sie alle zusammen. Ich bin ja selbst ein Fürst aus einem alten Geschlecht und sitze hier unter Fürsten. Ich rede hier, um uns alle zu retten; ich rede, damit nicht unser Stand, ohne etwas gewirkt zu haben, im Dunkel verschwindet, weil er nichts begriffen, sich um alles herumgestritten und alles verspielt hat. Wozu sollen wir verschwinden und andern unsern Platz einräumen, wenn wir die Vordersten und Obersten bleiben können? Wenn wir die Vordersten sein werden, dann werden wir auch die Obersten sein. Wir wollen Diener sein, um die Obersten zu werden.« Er versuchte wieder, von seinem Sessel aufzuspringen, aber der Alte hielt ihn beständig fest, betrachtete ihn jedoch mit wachsender Unruhe. »Hören Sie! Ich weiß, daß es nicht gut ist, bloß zu sprechen: besser ist es, wenn man einfach ein gutes Beispiel gibt und einfach selbst den Anfang macht... ich habe bereits den Anfang gemacht... und... und ist es denn wirklich möglich, unglücklich zu sein? Oh, was will mein Kummer und mein Leid besagen, wenn ich imstande bin, glücklich zu sein? Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorbeigehen kann, ohne darüber glücklich zu sein, daß man ihn sieht, wie man mit einem Menschen reden und nicht darüber glücklich sein kann, daß man ihn liebt! Oh, ich verstehe nur nicht, es auszudrücken... aber wie viele schöne Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die sogar der verkommenste Mensch schön findet! Sehen Sie ein Kind an, sehen Sie die Morgen- und Abendröte an, betrachten Sie ein Gräschen, wie es wächst, schauen Sie in Augen, die liebevoll auf Sie blicken...« Er war schon längst während des Redens aufgestanden. Der Alte sah ihn jetzt erschrocken an. Lisaweta Prokofjewna, die früher als alle andern merkte, was vorging, rief: »Ach, mein Gott!« und schlug die Hände zusammen. Aglaja lief schnell zu ihm hin, fing ihn noch gerade in ihren Armen auf und hörte voller Angst mit schmerzverzerrtem Gesicht den wilden Schrei des Dämons, der den Unglücklichen schüttelte und niederwarf. Der Kranke lag auf dem Teppich. Jemand hatte noch Zeit gefunden, ihm schnell ein Kissen unter den Kopf zu schieben. Das hatte niemand erwartet. Eine Viertelstunde darauf versuchten Fürst N., Jewgenij Pawlowitsch und der Alte das Zusammensein wieder etwas lebendiger zu gestalten, aber schon nach einer weiteren halben Stunde brachen alle Gäste auf. Dabei erfolgten zahlreiche Äußerungen der Teilnahme und des Bedauerns, manche sprachen auch ihre Meinung über den Vorfall aus. Iwan Petrowitsch sagte unter anderm, der junge Mann sei ein Sla-wo-philer oder etwas Ähnliches, indes sei das nicht weiter gefährlich. Der Alte äußerte sich gar nicht. Nachher allerdings, am nächsten und übernächsten Tage, waren alle in etwas ärgerlicher Stimmung; Iwan Petrowitsch fühlte sich sogar beleidigt, wenn auch nur ein wenig. Der General, der Iwan Fjodorowitschs Chef war, benahm sich eine Zeitlang gegen diesen etwas kühl. Der »Patron« der Familie, der Würdenträger, murmelte dem Oberhaupt der Familie unter Kaubewegungen ein paar tröstende Worte zu, wobei er in schmeichelhafter Weise zum Ausdruck brachte, daß er an Aglajas Geschick sehr, sehr großen Anteil nehme. Er war wirklich ein ganz gutherziger Mensch; aber unter den Gründen, aus denen er bei der Abendgesellschaft dem Fürsten seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, spielte eine besondere Rolle das Verhältnis, in dem der Fürst unlängst zu Nastasja Filippowna gestanden hatte; er hatte davon etwas gehört, interessierte sich sehr dafür und wollte sogar danach fragen. Die alte Bjelokonskaja sagte, als sie am Abend wegfuhr, zu Lisaweta Prokofjewna: »Na ja, er hat sein Gutes und sein Schlechtes; aber wenn du meine Meinung wissen willst, so muß ich sagen: das Schlechte überwiegt. Du siehst ja selbst, was er für ein Mensch ist, ein kranker Mensch!« Lisaweta Prokofjewna kam zu der endgültigen Überzeugung, daß er als Bräutigam »unmöglich« sei, und nahm sich beim Schlafengehen vor, solange sie lebe, solle der Fürst nicht der Mann ihrer Aglaja werden. Mit diesem Entschluß stand sie auch am Morgen auf. Aber noch an demselben Vormittag, zwischen zwölf und ein Uhr, beim Frühstück, setzte sie sich in einen wunderlichen Widerspruch zu sich selbst. Auf eine übrigens sehr behutsame Frage der Schwestern antwortete Aglaja kalt und hochmütig, als wolle sie die Sache damit abtun: »Ich habe ihm nie mein Wort gegeben und ihn nie in meinem Leben als meinen Bräutigam betrachtet. Er steht mir ebenso fern wie jeder andere.« Da fuhr Lisaweta Prokofjewna plötzlich auf. »Das hatte ich nicht von dir erwartet«, sagte sie gekränkt. »Daß er als Bräutigam unmöglich ist, weiß ich, und Gott sei Dank, daß es so gekommen ist; aber von dir hätte ich solche Reden nicht erwartet. Ich hatte geglaubt, du würdest dich anders dazu stellen. Ich würde am liebsten alle, die gestern hier waren, fortjagen und ihn allein dabehalten, so ein Mensch ist das!...« Hier brach sie plötzlich ab, da sie über das, was sie gesagt hatte, selbst einen Schreck bekam. Aber wenn sie gewußt hätte, wie sehr sie ihrer Tochter in diesem Augenblick unrecht tat! Aglaja hatte sich in ihrem Kopf schon alles zurechtgelegt; auch sie wartete auf ihre Stunde, die alles entscheiden sollte, und jede Andeutung, jede unvorsichtige Berührung schlug ihrem Herzen eine tiefe Wunde. VIII Auch für den Fürsten begann dieser Tag damit, daß er sich von schlimmen Ahnungen bedrückt fühlte; diese ließen sich zwar durch seinen krankhaften Zustand erklären, aber seine Traurigkeit hatte doch einen gar zu unbestimmten Charakter, und das war für ihn das qualvollste. Gewiß standen ihm bestimmte Tatsachen deutlich vor Augen, schmerzliche, peinliche Tatsachen, aber seine Traurigkeit ging doch über alles hinaus, was ihm Gedächtnis und Denkkraft als Stoff dafür boten; er sah ein, daß er sich nicht beruhigen würde, wenn er allein bliebe. Allmählich setzte sich in seinem Kopf die Erwartung fest, daß noch an diesem Tag mit ihm etwas Besonderes und Entscheidendes geschehen würde. Der Anfall, den er tags zuvor gehabt hatte, war leichter gewesen: außer einer starken Niedergeschlagenheit, einer gewissen Schwere im Kopf und Schmerzen in den Gliedern fühlte er keine andere gesundheitliche Störung. Sein Kopf arbeitete durchaus normal, obgleich die Seele krank war. Er stand sehr spät auf und erinnerte sich sofort mit aller Deutlichkeit an den gestrigen Abend; auch daran erinnerte er sich, freilich nicht ganz klar, daß man ihn eine halbe Stunde nach dem Anfall nach Hause gebracht hatte. Er erfuhr, daß bereits ein Bote von Jepantschins bei ihm erschienen war, um nach seinem Befinden zu fragen. Um halb zwölf erschien ein zweiter; das war ihm angenehm. Wera Lebedewa war die erste, die ihn besuchte und für ihn sorgte. Im ersten Augenblick, als sie ihn erblickte, fing sie plötzlich an zu weinen; aber als der Fürst sie gleich beruhigte, lachte sie. Ihn überraschte das starke Mitgefühl, das dieses Mädchen für ihn empfand; er ergriff ihre Hand und küßte sie. Wera errötete. »Ach, was tun Sie, was tun Sie!« rief sie erschrocken und zog schnell ihre Hand weg. Sie ging in seltsamer Aufregung bald wieder weg. Unter anderm hatte sie ihm erzählt, ihr Vater sei an diesem Tage schon ganz frühmorgens zu dem »Dahingeschiedenen« gelaufen, wie er den General nannte, um nachzufragen, ob er in der Nacht gestorben sei; es verlaute, er werde wahrscheinlich bald sterben. Kurz vor zwölf Uhr kam auch Lebedew selbst nach Hause und zum Fürsten, aber eigentlich »nur auf einen Augenblick, um sich nach dem kostbaren Befinden zu erkundigen«, und so weiter und außerdem dem »Schränkchen« einen Besuch abzustatten. Da er nichts anderes tat als ächzen und stöhnen, so machte der Fürst, daß er ihn bald wieder loswurde, aber Lebedew versuchte doch noch, sich nach dem gestrigen Anfall zu erkundigen, obgleich er offenbar darüber bereits in allen Einzelheiten orientiert war. Nach ihm kam Kolja angelaufen, ebenfalls nur auf einen Augenblick; er hatte es wirklich eilig und befand sich in einer starken, düsteren Unruhe. Er begann damit, daß er den Fürsten geradeheraus und inständig bat, ihm alles mitzuteilen, was man ihm noch verberge; das meiste habe er schon am gestrigen Tag erfahren. Er war tief und heftig erschüttert. Mit aller Teilnahme, deren er nur fähig war, erzählte ihm der Fürst den ganzen Hergang, indem er die Tatsachen mit größter Genauigkeit wiedergab; sein Bericht traf den armen Jungen wie ein Donnerschlag. Er vermochte kein Wort herauszubringen und weinte schweigend. Der Fürst fühlte, daß dies einer jener Eindrücke war, die sich nie wieder verwischen und im Leben eines Jünglings einen Wendepunkt bilden. Er beeilte sich, ihm seine Ansicht über die Angelegenheit mitzuteilen, und fügte hinzu, daß seiner Ansicht nach auch der Tod des alten Mannes seine Ursache vielleicht hauptsächlich in dem Gefühl des Schreckens gehabt habe, das in seinem Herzen nach dem Vergehen zurückgeblieben sei, und daß zu so etwas nicht jeder Mensch fähig wäre. Koljas Augen funkelten, als er den Fürsten so reden hörte. »Abscheuliche Menschen sind Ganja und Warja und Ptizyn! Ich werde mich nicht mit ihnen herumstreiten, aber unsere Wege gehen von nun an auseinander! Ach, Fürst, ich habe seit gestern sehr viel neue Empfindungen durchgemacht; das ist eine schwere Prüfung für mich! Auch für meine Mutter glaube ich jetzt selbst sorgen zu müssen; sie befindet sich zwar in Warjas Pflege, aber das ist doch nicht das Richtige...« Er sprang auf, da er sich erinnerte, daß er erwartet wurde, fragte noch schnell nach dem Gesundheitszustand des Fürsten und fügte, als er die Antwort gehört hatte, plötzlich eilig hinzu: »Gibt es sonst nichts Neues? Ich hörte, daß gestern... (übrigens habe ich kein Recht, davon zu reden), aber wenn Sie jemals in irgendeiner Sache einen treuen Diener nötig haben, so steht ein solcher vor Ihnen. Es scheint, daß wir beide nicht ganz glücklich sind, nicht wahr? Aber... ich stelle keine Fragen, ich stelle keine Fragen...« Er ging weg, der Fürst aber versank noch mehr in seine Gedanken: alle Leute prophezeiten ihm Unheil, alle hatten bereits aus dem Geschehenen ihre Schlüsse gezogen, alle sahen so aus, als ob sie etwas wüßten, etwas, was er nicht wußte; Lebedew fragte ihn aus, Kolja machte direkte Andeutungen, Wera weinte. Zuletzt machte er ärgerlich eine Handbewegung, als würfe er alles hinter sich: ›Weg mit der verdammten krankhaften Zweifelsucht!‹ dachte er. Sein Gesicht hellte sich auf, als er zwischen ein und zwei Uhr die Jepantschinschen Damen eintreten sah, die ihm »auf ein Augenblickchen« einen Besuch machen wollten. Lisaweta Prokofjewna hatte, als sie vom Frühstückstisch aufstand, erklärt, sie würden jetzt alle Spazierengehen, und zwar alle zusammen. Diese Mitteilung war kurz, trocken, ohne Erläuterungen in Form eines Befehls erfolgt. Alle hatten sich aufgemacht, das heißt die Mama, die jungen Mädchen und Fürst Schtsch. Lisaweta Prokofjewna hatte ohne weiteres die den gewohnten täglichen Spaziergängen entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Alle hatten sogleich gemerkt, um was es sich handelte, und alle hatten geschwiegen, da sie sich fürchteten, die Mama zu reizen; diese aber war, als wollte sie einen Vorwurf und die Erwiderung darauf vermeiden, allen vorangegangen, ohne sich umzudrehen. Schließlich hatte Adelaida bemerkt, auf einem Spaziergange brauche man doch nicht so zu laufen, und sie könnten mit der Mama gar nicht mitkommen. Da hatte sich Lisaweta Prokofjewna auf einmal umgedreht und gesagt: »Also wir kommen jetzt bei ihm vorbei. Wie nun auch Aglaja darüber denken und was sich auch weiter ereignen mag, jedenfalls ist er kein Fremder, und jetzt ist er obendrein unglücklich und krank; ich wenigstens werde jetzt zu ihm gehen und ihn besuchen. Wer mit mir kommen will, kann es tun, wer es nicht will, kann vorbeigehen; der Weg ist nicht versperrt.« Alle waren selbstverständlich mitgekommen. Der Fürst beeilte sich, wie es sich gehörte, noch einmal wegen der gestrigen Vase und... wegen des Skandals um Verzeihung zu bitten. »Na, es hat nichts auf sich«, antwortete Lisaweta Prokofjewna. »Um die Vase ist es nicht weiter schade, sondern um dich. Also merkst du jetzt selbst, daß es ein Skandal war; da sieht man, was es bedeutet: ›sich eine Sache beschlafen‹. Aber auch das macht nichts, da jeder jetzt sieht, daß du dafür nicht verantwortlich gemacht werden kannst. Nun aber auf Wiedersehen; wenn du dazu imstande bist, so geh ein bißchen spazieren und lege dich dann wieder schlafen – das ist mein Rat. Und wenn du magst, so besuche uns wie früher; sei ein für allemal versichert, daß, was sich auch ereignen und begeben mag, du doch immer ein Freund unseres Hauses bleibst, wenigstens mein Freund. Für mich wenigstens kann ich einstehen ...« Auf diese Herausforderung reagierten alle und stimmten der Mama bei. Sie gingen fort, aber in Lisaweta Prokofjewnas gutmütiger Eile, etwas Freundliches und Ermutigendes zu sagen, hatte doch eine arge Grausamkeit verborgen gelegen, was ihr gar nicht zum Bewußtsein gekommen war. In der Einladung, »wie früher« zu kommen, und den Worten »wenigstens mein Freund« wiederum hatte eine Art Voraussagung gelegen. Der Fürst rief sich Aglajas Verhalten ins Gedächtnis zurück; gewiß, sie hatte ihm sehr freundlich zugelächelt, beim Kommen und beim Abschied, hatte aber kein Wort gesagt, nicht einmal da, als alle ihm ihre Freundschaft versicherten, obgleich sie ihn zweimal unverwandt angesehen hatte. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blaß gewesen, als hätte sie die Nacht schlecht geschlafen. Der Fürst nahm sich vor, am Abend unbedingt »wie früher« zu ihnen zu gehen, und blickte in fieberhafter Erregung nach der Uhr. Da trat, gerade drei Minuten, nachdem Jepantschins weggegangen waren, Wera ins Zimmer. »Lew Nikolajewitsch, Aglaja Iwanowna hat mir soeben heimlich eine Bestellung an Sie aufgetragen.« Der Fürst begann ordentlich zu zittern. »Ein Billett?« »Nein, eine mündliche Bestellung; auch dazu hatte sie nur knapp Zeit. Sie läßt Sie dringend bitten, heute den ganzen Tag das Haus auch nicht eine Minute zu verlassen, bis sieben Uhr abends oder sogar bis neun Uhr, das habe ich nicht ganz deutlich gehört.« »Ja... warum denn? Was bedeutet das?« »Das weiß ich nicht; aber sie hat mir aufs strengste befohlen, es auszurichten.« »Hat sie den Ausdruck ›aufs strengste‹ gebraucht?« »Nein, so geradezu hat sie es nicht gesagt: sie hatte kaum Zeit, sich umzudrehen und es mir zu sagen; es war ein Glück, daß ich gleich selbst herbeisprang. Aber schon an ihrem Gesicht war zu sehen, wie sie es befahl: ob aufs strengste oder nicht. Sie sah mich an, daß mir beinah das Herz stehenblieb...« Der Fürst richtete noch einige Fragen an Wera, und obgleich er nichts weiter erfuhr, wurde er nun noch unruhiger. Als er allein geblieben war, legte er sich auf das Sofa und fing wieder an nachzudenken. ›Vielleicht ist heute jemand bis neun Uhr bei ihnen, und sie fürchtet wieder, daß ich in Gegenwart der Gäste etwas anrichte‹, dachte er endlich und begann wieder ungeduldig auf den Abend zu warten und nach der Uhr zu sehen. Aber die Auflösung des Rätsels erfolgte lange vor Abend und ebenfalls in Form eines neuen Besuches, und diese Auflösung hatte die Gestalt eines neuen qualvollen Rätsels: genau eine halbe Stunde, nachdem Jepantschins weggegangen waren, trat Ippolit bei ihm ein, dermaßen müde und erschöpft, daß er beim Eintritt, ohne ein Wort zu sagen, wie besinnungslos auf einen Sessel niederfiel und sofort einen entsetzlichen Hustenanfall bekam. Er hustete so, daß er Blut ausspie. Seine Augen funkelten, und rote Flecke brannten auf seinen Wangen. Der Fürst murmelte ihm etwas zu, aber er antwortete nicht und winkte noch lange, ohne zu antworten, nur mit der Hand ab, der Fürst möchte ihn vorläufig in Ruhe lassen. Endlich kam er wieder zu sich. »Ich werde gleich gehen!« brachte er endlich unter großen Anstrengungen mit heiserer Stimme heraus. »Wenn Sie wollen, werde ich Sie nach Hause bringen«, sagte der Fürst und erhob sich von seinem Platz, aber er verstummte schnell, da ihm einfiel, daß ihm soeben verboten war, das Haus zu verlassen. Ippolit lachte. »Ich meine nicht, daß ich von Ihnen weggehen will«, fuhr er, beständig hüstelnd und mit Atemnot kämpfend, fort. »Ich habe es vielmehr nötig gefunden, zu Ihnen zu kommen, in einer ernsten Angelegenheit... sonst hätte ich Sie nicht belästigt. Ich werde nach drüben gehen, und diesmal scheint es ernst zu sein. Ich bin kaputt! Glauben Sie mir, ich sage das nicht, um mich bedauern zu lassen... ich hatte mich heute gegen zehn Uhr schon hingelegt, um vor dem Jüngsten Tag überhaupt nicht mehr aufzustehen, aber ich habe meine Absicht geändert und bin noch einmal aufgestanden, um zu Ihnen zu kommen... also muß es wohl etwas Dringliches sein.« »Es ist mir schmerzlich, Sie anzusehen; Sie hätten mich doch lieber rufen lassen sollen, statt sich selbst herzubemühen.« »Na, nun lassen Sie es genug sein! Sie haben mich bedauert und somit der gesellschaftlichen Höflichkeit Genüge getan... Ja, das hatte ich vergessen: wie steht es mit Ihrer Gesundheit?« »Ich bin gesund. Ich befand mich gestern... nicht ganz...« »Ich habe davon gehört, ich habe davon gehört! Die chinesische Vase hat dran glauben müssen; schade, daß ich nicht dabei war! Ich bin in einer ernsten Angelegenheit gekommen. Erstens hatte ich heute das Vergnügen, Gawrila Ardalionowitsch bei einem Rendezvous mit Aglaja Iwanowna an der grünen Bank zu sehen. Ich bin erstaunt gewesen, was für ein dummes Gesicht ein Mensch machen kann. Ich sagte das zu Aglaja Iwanowna selbst, nachdem Gawrila Ardalionowitsch weggegangen war... Es scheint, Sie wundern sich über nichts, Fürst«, fügte er hinzu, indem er mißtrauisch das ruhige Gesicht des Fürsten ansah. »Man sagt, sich über nichts zu wundern, sei ein Kennzeichen von großem Verstand; meiner Ansicht nach könnte es in gleichem Maße als Kennzeichen großer Dummheit dienen... Ich spiele übrigens damit nicht auf Sie an; entschuldigen Sie... Ich bin heute in der Wahl meiner Ausdrücke sehr unglücklich.« »Ich habe schon gestern erfahren, daß Gawrila Ardalionowitsch...« Der Fürst verstummte, sichtlich verlegen, obwohl Ippolit sich darüber ärgerte, daß er sich nicht wunderte. »Sie haben es gewußt! Das ist eine Neuigkeit! Übrigens brauchen Sie mir meinetwegen nichts zu erzählen ... Aber Zeuge des Rendezvous sind Sie heute nicht gewesen?« »Wenn Sie selbst dort waren, werden Sie ja gesehen haben, daß ich nicht da war.« »Na, Sie könnten ja in einem Busch gesessen haben. Übrigens freue ich mich jedenfalls über den Ausgang, selbstverständlich für Sie; sonst hätte ich schon geglaubt, Gawrila Ardalionowitsch liefe Ihnen den Rang ab!« »Ich bitte Sie, Ippolit, mit mir darüber nicht zu reden, und schon gar nicht in solchen Ausdrücken.« »Das ist um so weniger nötig, als Sie bereits alles wissen.« »Sie irren sich. Ich weiß fast nichts, und Aglaja Iwanowna weiß sicherlich, daß ich nichts weiß. Ich habe auch von diesem Rendezvous nicht das geringste gewußt. Sie sagen, es habe ein Rendezvous stattgefunden? Nun gut, verlassen wir dieses Thema ...« »Aber was heißt denn das? Bald haben Sie es gewußt, bald haben Sie es nicht gewußt! Sie sagen: ›Gut, verlassen wir dieses Thema‹? Aber seien Sie doch nicht so vertrauensselig! Besonders, wenn Sie nichts wissen. Ebendarum sind Sie so vertrauensselig, weil Sie nichts wissen. Aber wissen Sie wohl, was für Pläne diese beiden Menschen, der Bruder und die Schwester, verfolgen? Haben Sie nicht vielleicht einen Verdacht?... Gut, gut, ich verlasse dieses Thema ...«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß der Fürst eine ungeduldige Handbewegung machte. »Aber ich bin in einer eigenen Angelegenheit hergekommen und möchte Ihnen in dieser Hinsicht eine ... Erklärung abgeben. Hol's der Teufel, man kann absolut nicht sterben ohne Erklärungen; es ist schrecklich, wieviel Erklärungen ich abgebe. Wollen Sie mich anhören?« »Reden Sie, ich höre.« »Ich ändere aber doch wieder meine Absicht: ich fange doch mit Ganja an. Können Sie sich vorstellen, daß auch ich heute angewiesen wurde, nach der grünen Bank zu kommen? Übrigens, ich will nicht lügen: ich selbst habe um ein Rendezvous ersucht, habe dringend darum gebeten; ich versprach, ein Geheimnis zu enthüllen. Ich weiß nicht, ob ich zu früh hinkam (wie es scheint, kam ich tatsächlich zu früh), aber kaum hatte ich meinen Platz neben Aglaja Iwanowna eingenommen, da sehe ich, daß Gawrila Ardalionowitsch und Warwara Ardalionowna erscheinen, beide Arm in Arm, als ob sie spazierengingen. Sie mochten wohl beide sehr überrascht sein, mich dort zu finden; das hatten sie nicht erwartet, sie wurden ganz verlegen. Aglaja Iwanowna wurde dunkelrot und, mögen Sie es nun glauben oder nicht, kam sogar aus der Fassung, ob nun deswegen, weil ich da war, oder einfach, weil sie Gawrila Ardalionowitsch sah, der ja ein sehr schöner Mann ist. Jedenfalls wurde sie dunkelrot und brachte die Sache in einem Augenblick auf sehr komische Art zum Abschluß: sie stand auf, erwiderte Gawrila Ardalionowitschs Verbeugung und Warwara Ardalionownas schmeichlerisches Lächeln und sagte kurz: ›Ich bin nur deshalb hergekommen, um Ihnen meine persönliche Befriedigung über Ihre aufrichtigen freundschaftlichen Gefühle gegen mich auszusprechen, und wenn ich derselben bedürfen sollte, so seien Sie überzeugt...‹ Hier machte sie ihnen eine Abschiedsverbeugung, und beide gingen weg, ich weiß nicht, ob mit dem Gefühl, zum Narren gehalten zu sein, oder mit einem Gefühl des Triumphes; Ganja jedenfalls mit dem ersteren; er verstand überhaupt nichts und wurde rot wie ein Krebs (er hat manchmal einen ganz wunderlichen Gesichtsausdruck!); aber Warwara Ardalionowna hatte wohl verstanden, daß sie sich möglichst schnell davonmachen mußten und von Aglaja Iwanowna nichts mehr zu erwarten hatten, und zog den Bruder mit sich fort. Sie ist klüger als er und triumphiert jetzt, davon bin ich überzeugt. Ich meinerseits war zu dem Gespräch mit Aglaja Iwanowna hingegangen, um mit ihr alles wegen ihrer Zusammenkunft mit Nastasja Filippowna zu verabreden.« »Mit Nastasja Filippowna!« rief der Fürst. »Aha! Jetzt, scheint es, verlieren Sie Ihre Kaltblütigkeit und fangen an, sich zu wundern? Ich freue mich sehr, daß Sie endlich einem Menschen ähnlich sehen wollen. Zum Lohn dafür will ich Ihnen auch etwas Interessantes erzählen. Das hat man davon, wenn man jungen, hochmütigen Mädchen Dienste erweist: ich habe heute von ihr eine Ohrfeige bekommen!« »Eine... eine moralische?« fragte der Fürst unwillkürlich. »Ja, nicht im physischen Sinne. Ich glaube, gegen einen solchen Menschen wie mich kann niemand die Hand aufheben; nicht einmal eine Frau wird jetzt nach mir schlagen; nicht einmal Ganja würde es tun! Obwohl ich gestern eine Zeitlang dachte, er würde sich auf mich stürzen... Ich möchte wetten, daß ich weiß, woran Sie jetzt denken. Sie denken: ›Schlagen darf man ihn allerdings nicht, aber dafür könnte man ihn mit einem Kissen ersticken oder im Schlaf mit einem nassen Lappen... und das müßte man sogar tun...‹ Es steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, daß Sie das denken, in eben dieser Sekunde.« »Das habe ich nie gedacht!« versetzte der Fürst voll Widerwillen. »Ich weiß nicht, mir hat heut nacht geträumt, daß mich jemand... mit einem nassen Lappen erstickte... na, ich will Ihnen auch sagen wer: denken Sie sich – Rogoshin! Was meinen Sie, kann man einen Menschen mit einem nassen Lappen ersticken?« »Das weiß ich nicht.« »Ich habe gehört, daß das möglich sei. Nun gut, verlassen wir dieses Thema! Na, wieso bin ich ein Klatschmaul? Warum hat sie mich heute ein Klatschmaul gescholten? Wohlgemerkt: erst nachdem sie alles bis auf das letzte Pünktchen angehört und sogar ihrerseits Fragen gestellt hatte... Aber so sind die Weiber! Ihr zu Gefallen bin ich zu Rogoshin in Beziehung getreten, zu diesem interessanten Menschen; in ihrem Interesse habe ich eine persönliche Zusammenkunft zwischen ihr und Nastasja Filippowna arrangiert. Vielleicht trägt sie es mir nach, daß ich ihr Ehrgefühl verletzt habe, indem ich darauf hindeutete, daß sie sich an einem von Nastasja Filippowna abgenagten Knochen vergnüge. Und ich will nicht leugnen, daß ich ihr das in ihrem eigenen Interesse die ganze Zeit über klarzumachen suchte, indem ich ihr zwei Briefe dieses Inhalts schrieb und dann an dritter Stelle dieses Rendezvous mit ihr hatte... Ich habe auch bei dem Rendezvous mit ihr das Gespräch mit dem Hinweis begonnen, daß dies für sie erniedrigend sei... Und dabei rührt die Wendung vom abgenagten Knochen eigentlich nicht von mir her, sondern von einem andern; wenigstens bedienten sich bei Ganjetschka alle dieses Ausdrucks, und sogar sie selbst hat ihn in den Mund genommen. Na also, warum nennt sie mich da ein Klatschmaul? Ich sehe, ich sehe: es ist Ihnen jetzt bei meinem Anblick sehr lächerlich zumute, und ich möchte wetten, daß Sie auf mich die dummen Verse anwenden: ›Und auf mein Ende glänzt, obgleich es trübe, Vielleicht ein holder Abschiedsblick der Liebe.‹ Aus dem Gedicht ›Elegie‹ von Puschkin. Hahaha!« Er brach plötzlich in ein krampfhaftes Lachen aus und bekam einen Hustenanfall. »Beachten Sie auch«, fuhr er, noch immer hustend, mit heiserer Stimme fort, »was für ein Mensch Ganjetschka ist: er redet vom abgenagten Knochen, aber was will er sich jetzt selbst zunutzemachen?« Der Fürst schwieg lange; er war sehr erschrocken. »Sie sprachen von einer Zusammenkunft mit Nastasja Filippowna?« murmelte er endlich. »Ja, ist Ihnen denn das wirklich nicht bekannt, daß heute eine Zusammenkunft Aglaja Iwanownas mit Nastasja Filippowna stattfinden wird, zu welchem Zweck Nastasja Filippowna eigens durch Rogoshin, auf Aglaja Iwanownas Einladung hin und infolge meiner Bemühungen, brieflich aus Petersburg herberufen ist, und daß sie sich jetzt, ebenso wie Rogoshin selbst, gar nicht weit von Ihnen in ihrer früheren Wohnung befindet, bei jener Dame, Darja Alexejewna heißt sie ... einer sehr zweideutigen Dame, ihrer Freundin, und daß ebendorthin, in dieses zweideutige Haus, sich heute auch Aglaja Iwanowna zu einem freundschaftlichen Gespräch mit Nastasja Filippowna und zur Lösung verschiedener schwieriger Probleme begeben wird? Die beiden wollen sich wohl mit Mathematik beschäftigen. Das haben Sie nicht gewußt? Ehrenwort?« »Das ist unglaublich!« »Na, das ist ja schön, wenn es unglaublich ist. Übrigens, woher hätten Sie es auch wissen sollen? Allerdings, wenn hier nur eine Fliege vorbeifliegt, wird das gleich allgemein bekannt: so ein Nest ist Pawlowsk! Aber ich wollte Ihnen doch vorher davon Mitteilung machen, und Sie können mir dankbar sein. Nun, auf Wiedersehen – wahrscheinlich in jener Welt. Und noch eins: ich habe mich zwar Ihnen gegenüber gemein benommen, aber sagen Sie freundlichst selbst: warum hätte ich meine Chancen verlieren sollen? Etwa zu Ihrem Vorteil? Ich habe ihr ja meine Beichte gewidmet (wußten Sie das nicht?). Und wie hat sie diese Widmung aufgenommen! Hehe! Aber ihr gegenüber habe ich mich nicht gemein benommen, ihr gegenüber habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen; und doch hat sie mich beschimpft und verhöhnt... Übrigens habe ich mich auch Ihnen gegenüber nicht schuldig gemacht; wenn ich auch zu ihr das von dem abgenagten Knochen und noch manches in dieser Art gesagt habe, so teile ich Ihnen doch zum Entgelt jetzt Tag, Stunde und Ort der Zusammenkunft mit und decke dieses ganze Spiel auf... selbstverständlich aus Ärger und nicht aus Edelmut. Verzeihen Sie, ich bin redselig wie ein Stotterer oder wie ein Schwindsüchtiger. Seien Sie also auf der Hut, und ergreifen Sie baldigst die erforderlichen Maßnahmen, wenn Sie den Namen Mensch verdienen! Die Zusammenkunft findet heute abend statt, das ist sicher.« Ippolit ging zur Tür, aber der Fürst rief ihm nach, und er blieb in der Tür stehen. »Also Aglaja Iwanowna wird Ihrer Ansicht nach heute selbst zu Nastasja Filippowna gehen?« fragte der Fürst. Auf seinen Wangen und auf seiner Stirn traten rote Flecke hervor. »Genau weiß ich es nicht, aber wahrscheinlich wird es so sein«, antwortete Ippolit, sich halb umwendend. »Es kann ja übrigens auch nicht anders sein. Nastasja Filippowna kann doch nicht zu ihr kommen! Und bei Ganja ist es auch unmöglich; der hat ja fast einen Toten bei sich in der Wohnung. Wie geht es denn dem General?« »Schon aus dem einen Grunde ist es unmöglich!« rief der Fürst. »Wie kann sie denn dorthin gehen, selbst wenn sie es wollte? Sie kennen die Sitten in dieser Familie nicht; sie kann nicht allein zu Nastasja Filippowna gehen. Das ist Unsinn!« »Sehen Sie mal, Fürst: für gewöhnlich springt niemand aus dem Fenster, aber wenn eine Feuersbrunst ausbricht, dann springt am Ende auch der vornehmste Gentleman und die vornehmste Dame aus dem Fenster. Wenn es nötig ist, dann ist eben nichts zu machen, und unser Fräulein geht zu Nastasja Filippowna. Oder verwehrt man es etwa Ihrem Fräulein überhaupt, auszugehen?« »Nein, das meine ich nicht...« »Nun, wenn das nicht der Fall ist, dann braucht sie nur die Stufen vor der Haustür hinabzusteigen und geradewegs hinzugehen, nötigenfalls unter Verzicht auf die Rückkehr nach Hause. Es gibt manchmal Fälle, in denen man die Schiffe hinter sich verbrennt und sich die Rückkehr nach Hause versagt; das Leben besteht doch nicht allein aus Frühstücken und Diners und Männern wie Fürst Schtsch. Mir scheint, Sie halten Aglaja Iwanowna für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; ich habe darüber schon mit ihr gesprochen, und sie schien meiner Ansicht zu sein. Passen Sie um sieben oder acht Uhr auf... Ich würde an Ihrer Stelle jemand als Wache dorthin schicken, damit Sie genau den Augenblick abpassen, wo sie aus der Haustür tritt. Schicken Sie doch Kolja hin; Sie können sicher sein, daß er mit Vergnügen spionieren wird, das heißt für Sie ... denn diese moralischen Dinge haben alle nur einen relativen Wert... Haha!« Ippolit ging hinaus. Der Fürst sah keinen Anlaß, jemand zum Spionieren hinzuschicken, selbst wenn er dazu fähig gewesen wäre. Aglajas Befehl, er solle zu Hause bleiben, war jetzt beinah aufgeklärt: vielleicht wollte sie ihn abholen. Denkbar war allerdings auch, daß sie nicht wünschte, daß er durch irgendeinen Zufall dorthin geriet, und ihm deshalb befohlen hatte, zu Hause zu bleiben ... Auch das war möglich. Ihm schwindelte; das ganze Zimmer drehte sich um ihn. Er legte sich auf das Sofa und schloß die Augen. So oder so, jedenfalls kam die Sache jetzt zur Entscheidung, zum Abschluß. Nein, der Fürst hielt Aglaja nicht für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; er fühlte jetzt, daß er schon längst gerade etwas Derartiges gefürchtet hatte; aber zu welchem Zweck wollte sie mit Nastasja Filippowna zusammenkommen? Ein kalter Schauder lief ihm über den ganzen Leib; er fieberte wieder. Nein, er hielt sie nicht für ein Kind! Manche ihrer Blicke, manche ihrer Worte hatten ihn in der letzten Zeit erschreckt. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als ob sie sich zu sehr Zwang antat, sich zu sehr zurückhielt, und er erinnerte sich, daß ihn das geängstigt hatte. Allerdings hatte er sich alle diese Tage bemüht, nicht daran zu denken, hatte die bedrückenden Gedanken verscheucht, aber was lag in dieser Seele verborgen? Diese Frage hatte ihn schon lange gequält, obgleich er an diese Seele glaubte. Und nun sollte dies alles sich heute entscheiden und aufgedeckt werden! Ein entsetzlicher Gedanke! Und dann auf der andern Seite »diese Frau«! Warum hatte er nur immer die Vorstellung gehabt, daß diese Frau gerade im letzten Augenblick erscheinen und sein ganzes Schicksal wie einen mürben Faden zerreißen würde? Daß er immer diese Vorstellung gehabt hatte, das hätte er jetzt beschworen mögen, obgleich seine Gedanken fast so wirr waren wie im Fieber. Wenn er sich in letzter Zeit bemüht hatte, sie zu vergessen, so hatte er das einzig und allein getan, weil er sie fürchtete. Wie stand es: liebte er diese Frau oder haßte er sie? Diese Frage legte er sich heute kein einziges Mal vor; in dieser Hinsicht war sein Herz rein: er wußte, wen er liebte ... Er fürchtete nicht sosehr die Zusammenkunft der beiden, nicht die Seltsamkeit und den ihm unbekannten Grund dieser Zusammenkunft, nicht die Entscheidung, wie auch immer sie fallen mochte, – er fürchtete Nastasja Filippowna selbst. Er erinnerte sich sogar später, nach einigen Tagen, daß ihm in diesen fieberhaften Stunden fast die ganze Zeit über ihre Augen und ihr Blick vor der Seele gestanden hatten, daß er ihre Worte, seltsame Worte, zu hören geglaubt hatte, obgleich nach diesen fieberhaften, gramvollen Stunden ihm nachher nur sehr wenig in Erinnerung blieb. Er erinnerte sich zum Beispiel kaum daran, daß Wera ihm das Mittagessen gebracht und er gegessen hatte; er wußte nicht mehr, ob er nach dem Essen geschlafen hatte oder nicht. Er wußte nur, daß er an diesem Abend alles erst von dem Augenblick an völlig klar zu unterscheiden angefangen hatte, als Aglaja auf einmal zu ihm auf die Veranda gekommen und er vom Sofa aufgesprungen und in die Mitte des Raumes getreten war, um sie zu begrüßen: es war drei Viertel acht. Aglaja war ganz allein, sie trug einfache Kleidung, die sie anscheinend in Hast angelegt hatte, darüber einen leichten Burnus. Ihr Gesicht war blaß wie vorhin, aber ihre Augen funkelten in einem hellen, trockenen Glanz; einen solchen Ausdruck der Augen hatte er bisher nie bei ihr kennengelernt. Sie blickte ihn aufmerksam an. »Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig, »angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?« »Ja, er hat es mir gesagt ...«, murmelte der Fürst, halbtot vor Aufregung. »Nun, dann kommen Sie: Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten müssen. Ich meine, Sie sind doch wohl soweit bei Kräften, daß Sie ausgehen können?« »Ja, das bin ich, aber... ist es denn möglich?« Er stockte sofort wieder und vermochte kein Wort mehr herauszubringen. Dies war sein einziger Versuch, die Wahnsinnige zurückzuhalten, dann folgte er ihr selbst wie ein Sklave. Wie unklar auch seine Gedanken waren, so begriff er doch, daß sie auch ohne ihn dorthin gehen würde und er ihr daher unter allen Umständen folgen müsse. Er ahnte, wie stark ihre Entschlossenheit war; er war außerstande, diesen wilden Drang zu hemmen. Sie gingen schweigsam und redeten auf dem ganzen Weg kaum ein Wort. Es fiel ihm nur auf, daß sie den Weg genau kannte, und als er einen Umweg einschlagen wollte, weil da nicht so viele Menschen gingen, und ihr dies vorschlug, hörte sie, sich anscheinend zur Aufmerksamkeit zwingend, zu und antwortete kurz: »Es ist ja ganz gleich!« Als sie schon ganz nahe bei Darja Alexejewnas Haus waren (einem großen, alten Holzhaus), kam eine luxuriös gekleidete Dame in Begleitung eines jungen Mädchens aus der Haustür; beide stiegen in eine dort wartende elegante Equipage, sie lachten und redeten laut und warfen den beiden Ankömmlingen keinen Blick zu, als bemerkten sie sie gar nicht. Kaum war die Equipage weggefahren, als die Haustür sich sofort zum zweitenmal öffnete und Rogoshin, der schon gewartet hatte, den Fürsten und Aglaja hereinließ und hinter ihnen die Tür zuriegelte. »Im ganzen Haus ist jetzt niemand außer uns vieren«, bemerkte er laut und sah den Fürsten seltsam an. Im ersten Zimmer erwartete sie Nastasja Filippowna, gleichfalls sehr einfach und ganz in Schwarz gekleidet; sie stand auf und kam ihnen einige Schritte entgegen, aber sie lächelte nicht und reichte dem Fürsten nicht einmal die Hand. Ungeduldig hielt sie ihren unruhigen Blick auf Aglaja gerichtet. Beide setzten sich in einiger Entfernung voneinander – Aglaja in einer Ecke des Zimmers auf das Sofa, Nastasja Filippowna am Fenster. Der Fürst und Rogoshin setzten sich nicht und wurden auch gar nicht aufgefordert, sich zu setzen. Der Fürst blickte wieder erstaunt und, wie es schien, mit tiefem Schmerz Rogoshin an, aber dieser lächelte immer noch ganz in seiner alten Art. Das Schweigen dauerte noch einige Augenblicke. Dann trat endlich ein unheilverkündender Ausdruck auf Nastasja Filippownas Gesicht; ihr Blick wurde starr, fest und haßerfüllt; sie wandte ihn nicht einen Augenblick von ihrer Besucherin ab. Aglaja war offenbar verwirrt, aber nicht schüchtern. Beim Eintritt hatte sie ihrer Nebenbuhlerin kaum einen Blick zugeworfen und dann die ganze Zeit mit niedergeschlagenen Augen dagesessen, als wäre sie in Gedanken versunken. Ein paarmal ließ sie wie von ungefähr ihren Blick durch das Zimmer gleiten; auf ihrem Gesicht malte sich deutlich der Widerwille, den sie empfand, als ob sie sich hier zu beschmutzen fürchtete. Mechanisch brachte sie ihre Kleidung in Ordnung und wechselte sogar einmal unruhig ihren Platz, indem sie in die Sofaecke rückte. Sie war sich kaum selbst aller ihrer Bewegungen bewußt, aber gerade durch diese Unbewußtheit wurde das Beleidigende, das in ihnen lag, noch gesteigert. Endlich blickte sie Nastasja Filippowna fest und gerade in die Augen und las sogleich klar alles, was in deren nichts Gutes verheißendem Blick funkelte. Das Weib hatte das Weib verstanden; Aglaja fuhr zusammen. »Sie wissen sicher, warum ich Sie zu einer Zusammenkunft eingeladen habe«, sagte sie endlich, aber sehr leise; ja sie stockte sogar ein paarmal in diesem kurzen Satz. »Nein, ich weiß nichts«, antwortete Nastasja Filippowna kurz und trocken. Aglaja errötete. Vielleicht kam es ihr auf einmal sehr seltsam und wunderlich vor, daß sie jetzt bei dieser Frau, im Hause »dieses Weibes«, saß und auf deren Antwort wartete. Beim ersten Ton von Nastasja Filippownas Stimme ging es wie ein Zittern durch ihren Körper. Das alles bemerkte »dieses Weib« natürlich sehr genau. »Sie verstehen alles... aber Sie stellen sich absichtlich, als verstünden Sie es nicht«, sagte Aglaja so leise, daß es beinahe nur ein Flüstern war, und blickte mit finsterer Miene zu Boden. »Was könnte ich für Grund haben, das zu tun?« erwiderte Nastasja Filippowna leise lächelnd. »Sie wollen aus meiner Lage Vorteil ziehen... daß ich in Ihrem Hause bin«, fuhr Aglaja mit komischer Ungeschicklichkeit fort. »An dieser Lage sind Sie schuld und nicht ich!« fuhr Nastasja Filippowna auf einmal auf. »Nicht ich habe Sie eingeladen, sondern Sie mich, und ich weiß bis zu diesem Augenblick noch nicht warum.« Aglaja hob hochmütig den Kopf. »Halten Sie Ihre Zunge im Zaum; ich bin nicht hergekommen, mit dieser Ihrer Waffe zu kämpfen...« »Ah! Also sind Sie doch hergekommen, ›um zu kämpfen‹? Denken Sie sich, ich hatte geglaubt, Sie wären... geistreicher...« Beide blickten einander schon mit unverhohlenem Zorn an. Die eine dieser Frauen war dieselbe, die noch vor kurzem so bewegte Briefe an die andere geschrieben hatte. Und das alles war bei der ersten Begegnung und den ersten Worten wie vom Winde weggeblasen. Ja es schien, daß niemand von den vier Menschen, die sich in diesem Augenblick im Zimmer befanden, dies seltsam fand. Der Fürst, der es noch gestern nicht für möglich gehalten hätte, so etwas auch nur zu träumen, stand jetzt da, sah und hörte, als hätte er das alles schon längst vorhergesehen. Der phantastischste Traum hatte sich auf einmal in grelle, aufdringliche Wirklichkeit verwandelt. Die eine dieser Frauen empfand in diesem Augenblick für die andere bereits eine solche Verachtung und wünschte so lebhaft, ihr das zu zeigen (vielleicht war sie auch nur zu diesem Zweck gekommen, wie Rogoshin am nächsten Tag äußerte), daß, mochte auch diese andere mit ihrem zerrütteten Geist und ihrem kranken Herzen noch so phantasiebegabt sein, doch wohl keine vorher gebildete Meinung der giftigen, echt weiblichen Verachtung von Seiten ihrer Rivalin standhalten konnte. Der Fürst war überzeugt, daß Nastasja Filippowna nicht selbst anfangen würde, von den Briefen zu reden; aus ihren funkelnden Blicken konnte er entnehmen, wie sehr sie es jetzt bereuen mochte, diese Briefe geschrieben zu haben; aber er hätte die Hälfte seines Lebens dafür hingegeben, wenn Aglaja jetzt nicht von ihnen gesprochen hätte. Aber Aglaja schien sich plötzlich zusammenzunehmen und sich mit einemmal wieder in die Gewalt zu bekommen. »Sie haben mich mißverstanden«, sagte sie, »ich bin nicht hergekommen, um... mit Ihnen zu streiten, obgleich ich Sie nicht liebe. Ich... ich bin zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen menschlich zu sprechen. Als ich Sie hierherbat, hatte ich schon meinen Entschluß gefaßt, worüber ich mit Ihnen reden wollte, und von meinem Entschluß werde ich nicht abgehen, auch wenn Sie mich gar nicht verstehen sollten. Das würde Ihr Schade sein, nicht der meinige. Ich wollte Ihnen auf das antworten, was Sie mir geschrieben haben, und zwar persönlich, weil mir das zweckmäßiger schien. Hören Sie also meine Antwort auf alle Ihre Briefe! Mir hat Fürst Lew Nikolajewitsch leid getan, zum erstenmal gleich an dem Tag, an dem ich ihn kennenlernte, und dann, als ich alles erfuhr, was auf Ihrer Abendgesellschaft vorgegangen war. Er hat mir deswegen leid getan, weil er ein so gutherziger Mensch ist und in seiner Naivität glaubte, er könne mit einer Frau... die einen solchen Charakter hat... glücklich sein. Was ich für ihn befürchtet hatte, das traf dann auch ein: Sie konnten ihn nicht lieben, Sie quälten ihn und verließen ihn dann. Sie konnten ihn deswegen nicht lieben, weil Sie zu stolz sind... nein, nicht stolz, ich habe einen falschen Ausdruck gebraucht, sondern weil Sie eitel sind... auch das ist nicht das Richtige: Sie sind selbstsüchtig bis... bis zum Wahnsinn, und ein Beweis dafür sind auch Ihre Briefe an mich. Sie konnten ihn, einen so schlichten Menschen, nicht lieben und haben ihn vielleicht sogar im stillen verachtet und sich über ihn lustig gemacht; Sie konnten nichts weiter lieben als Ihre Schande und den steten Gedanken daran, daß Sie entehrt und beleidigt seien. Wäre Ihre Schande geringer oder wäre sie gar nicht vorhanden, so würden Sie unglücklicher sein...« (Es war für Aglaja ein Genuß, diese Worte zu sprechen, die jetzt eilig hervorsprudelten, die sie aber längst überdacht und sich zurechtgelegt hatte, schon damals, als sie an die jetzige Zusammenkunft noch nicht einmal im Traum gedacht hatte; mit bösem Blick beobachtete sie auf Nastasja Filippownas schmerzverzerrtem Gesicht die Wirkung dieser Worte.) »Sie erinnern sich«, fuhr sie fort, »er schrieb mir damals einen Brief; er sagt, Sie hätten von diesem Brief gewußt und ihn sogar gelesen. Durch diesen Brief habe ich alles verstanden, und richtig verstanden; der Fürst selbst hat es mir neulich bestätigt, das heißt alles, was ich Ihnen jetzt sage, sogar Wort für Wort. Nach Empfang des Briefes begann ich zu warten. Ich sagte mir richtig, daß Sie hierherkommen müßten, weil Sie ohne Petersburg nicht existieren können: Sie sind noch zu jung und zu schön, um sich in der Provinz zu vergraben... Übrigens sind auch das nicht meine Worte«, fügte sie stark errötend hinzu, und von diesem Augenblick an wich die Röte bis zum Schluß ihrer Rede nicht mehr von ihrem Gesicht. »Als ich den Fürsten wiedersah, ging mir sein Schicksal tief zu Herzen. Lachen Sie nicht; wenn Sie darüber lachen, sind Sie nicht wert, es anzuhören...« »Sie sehen, daß ich nicht lache«, versetzte Nastasja Filippowna traurig und finster. »Übrigens ist es mir ganz gleich, lachen Sie, soviel Sie wollen! Als ich ihn selbst fragte, sagte er mir, er liebe Sie schon längst nicht mehr, schon die bloße Erinnerung an Sie sei ihm eine Qual, aber Sie täten ihm leid, und sooft er an Sie denke, sei es ihm, als habe er einen Stich ins Herz bekommen, der lebenslänglich blute. Ich muß Ihnen noch sagen, daß ich noch nie in meinem Leben einem Menschen begegnet bin, der ihm an edler Schlichtheit und grenzenlosem Vertrauen gleichkäme. Aus allem, was er sagte, konnte ich entnehmen, daß ihn jeder, der es will, betrügen kann und daß er jedem, der ihn betrogen hat, nachher verzeihen wird, und das war der Grund, weshalb ich ihn liebgewann...« Aglaja hielt einen Augenblick inne, sie schien erschrocken zu sein und ihren eigenen Ohren nicht zu glauben, daß sie ein solches Wort hatte aussprechen können; aber zu gleicher Zeit funkelte ein grenzenloser Stolz in ihrem Blick auf; es machte den Eindruck, als sei ihr jetzt alles gleich; mochte selbst »dieses Weib« über das ihr soeben entschlüpfte Bekenntnis lachen. »Ich habe Ihnen alles gesagt, und jetzt haben Sie gewiß verstanden, was ich von Ihnen will?« »Vielleicht habe ich es verstanden; aber sprechen Sie es selbst aus!« antwortete Nastasja Filippowna leise. Der helle Zorn flammte in Aglajas Gesicht auf. »Ich wollte von Ihnen erfahren«, sagte sie fest und deutlich, »mit welchem Recht Sie sich in seine Gefühle für mich einmischen. Mit welchem Recht haben Sie es gewagt, an mich Briefe zu schreiben? Mit welchem Recht erklären Sie alle Augenblicke ihm und mir, daß Sie ihn lieben, und das, nachdem Sie ihn selbst verlassen haben und ihm in so beleidigender und... schmachvoller Weise weggelaufen sind?« »Ich habe weder ihm noch Ihnen erklärt, daß ich ihn liebe«, sagte Nastasja Filippowna mit sichtlicher Anstrengung. »Und... Sie haben recht darin, daß ich ihm weggelaufen bin...,« fügte sie kaum hörbar hinzu. »Wie können Sie sagen, Sie hätten es weder ihm noch mir erklärt?« rief Aglaja. »Und Ihre Briefe? Wer hat Sie gebeten, bei uns die Rolle der Heiratsvermittlerin zu übernehmen und mir zuzureden, daß ich ihn nehmen soll? Ist das nicht eine deutliche Erklärung Ihrer eigenen Empfindungen? Warum drängen Sie sich uns auf? Ich dachte zuerst schon, Sie wollten im Gegenteil dadurch, daß Sie sich in unsere Angelegenheiten einmischten, bei mir eine Abneigung gegen ihn erwecken, damit ich mich von ihm abwandte, und erst nachher habe ich verstanden, was dahintersteckte: Sie bildeten sich einfach ein, daß Sie mit all diesen Narrenspossen eine große Heldentat vollführten... Aber konnten Sie ihn denn überhaupt lieben, wenn Sie in Ihre eigene Eitelkeit so sehr verliebt sind? Warum sind Sie nicht einfach von hier fortgereist, statt mir lächerliche Briefe zu schreiben? Warum heiraten Sie jetzt nicht den edlen Mann, der Sie so liebt und Ihnen die Ehre erwiesen hat, Ihnen seine Hand anzubieten? Der Grund ist nur zu klar: wenn Sie Rogoshin heiraten, wo bleibt dann die Ihnen angetane Schmach? Man erweist Ihnen sogar zuviel Ehre! Jewgenij Pawlowitsch hat von Ihnen gesagt, Sie hätten zuviel Gedichte gelesen und seien ›zu gebildet für Ihre... Stellung‹; Sie seien ein gelehrtes Frauenzimmer und eine Müßiggängerin; nehmen Sie noch Ihre Eitelkeit hinzu, da haben Sie all Ihre Motive...« »Und Sie sind keine Müßiggängerin?« Gar zu rasch und gar zu offen war das Gespräch zu dieser unerwarteten Tonart gelangt, unerwartet insofern, als Nastasja Filippowna noch auf der Fahrt nach Pawlowsk von einem glücklichen Ausgang geträumt hatte, obwohl sie natürlich eher Schlechtes als Gutes erwartete. Aglaja aber hatte sich in einem Augenblick von ihrem Affekt völlig hinreißen lassen, wie wenn sie von einem steilen Berge hinabfuhr, und konnte der süßen Lockung, sich zu rächen, nicht widerstehen. Für Nastasja Filippowna war es eine seltsame Überraschung, Aglaja in einem solchen Zustand zu sehen; sie betrachtete sie, als traute sie ihren Augen nicht, und wußte sich im ersten Augenblick überhaupt nicht zurechtzufinden. Mochte ihr nun, wie Jewgenij Pawlowitsch meinte, die Lektüre von Gedichten den Kopf ein bißchen verdreht haben, oder mochte sie, wovon der Fürst überzeugt war, einfach eine Irrsinnige sein: jedenfalls war diese Frau, obwohl sie manchmal so zynische, dreiste Manieren herauskehrte, in Wirklichkeit weit schamhafter, zartfühlender und vertrauensvoller, als man es von ihr hätte denken sollen. Allerdings waren Bücherwissen, ein Hang zur Träumerei, eine große Verschlossenheit und eine zügellose Phantasie hervorstechende Eigenschaften an ihr, aber dafür besaß sie auch eine bedeutende seelische Kraft und Tiefe... Der Fürst hatte dafür Verständnis; sein Gesicht verriet, wie sehr er litt. Aglaja bemerkte dies und zitterte vor Haß. »Wie können Sie sich erdreisten, so mit mir zu reden?« rief sie in Erwiderung auf Nastasja Filippownas Bemerkung in unbeschreiblich hochmütigem Tone. »Sie haben sich gewiß verhört«, versetzte Nastasja Filippowna erstaunt. »Wie soll ich denn mit Ihnen geredet haben?« »Wenn Sie eine ehrenhafte Frau sein wollten, warum haben Sie sich dann von Ihrem Verführer Tozkij nicht einfach losgesagt... ohne alles Komödienspielen?« sagte Aglaja auf einmal ohne äußeren Anlaß. »Was wissen Sie von meiner Lage, daß Sie über mich zu Gericht zu sitzen wagen?« rief Nastasja Filippowna zusammenfahrend; sie war erschreckend blaß geworden. »Ich weiß soviel davon, daß Sie nicht arbeiten gegangen, sondern mit dem reichen Rogoshin davongefahren sind, um den gefallenen Engel zu spielen. Ich wundere mich nicht, daß Tozkij sich um des gefallenen Engels willen erschießen wollte!« »Hören Sie auf damit!« erwiderte Nastasja Filippowna voll Abscheu und wie in tiefem Schmerz. »Sie haben für mich ebensoviel Verständnis wie... Darja Alexejewnas Stubenmädchen, das neulich mit seinem Bräutigam vor dem Friedensrichter prozessierte. Und die hätte noch eher Verständnis...« »Wahrscheinlich ist sie ein ehrbares Mädchen, das von seiner Arbeit lebt. Warum reden Sie von einem Stubenmädchen mit solcher Geringschätzung?« »Meine Geringschätzung gilt nicht der Arbeit, sondern Ihnen, wenn Sie von der Arbeit reden.« »Wenn Sie hätten ehrbar leben wollen, dann wären Sie Wäscherin geworden.« Beide standen auf und blickten einander mit bleichen Gesichtern an. »Aglaja, halten Sie ein! Sie sind ungerecht!« rief der Fürst fassungslos. Rogoshin lächelte nicht mehr, sondern hörte mit zusammengepreßten Lippen und verschränkten Armen zu. »Da, seht sie an!« sagte Nastasja Filippowna, zitternd vor zorniger Erregung. »Seht dieses Fräulein an! Und ich hatte sie für einen Engel gehalten! Sind Sie denn ohne Gouvernante zu mir gekommen, Aglaja Iwanowna? ... Aber wenn Sie wollen... wenn Sie wollen, so werde ich Ihnen sofort geradeheraus, ungeschminkt sagen, warum Sie zu mir gekommen sind. Sie haben Angst gehabt, darum sind Sie gekommen!« »Angst vor Ihnen?« fragte Aglaja, ganz außer sich vor naivem, hemmungslosem Erstaunen darüber, daß die andere so mit ihr zu reden wagte. »Allerdings, vor mir! Wenn Sie sich entschlossen, zu mir zu kommen, so geschah das aus Furcht. Und wen man fürchtet, den verachtet man nicht. Nein, wenn ich jetzt daran denke, daß ich Sie hochgeschätzt habe, sogar noch bis zu diesem Augenblick! Und wollen Sie wissen, warum Sie vor mir Angst haben und welches jetzt Ihre Hauptabsicht ist? Sie wollten persönlich feststellen, wen von uns beiden er mehr liebt, mich oder Sie, denn Sie sind schrecklich eifersüchtig...« »Er hat mir bereits gesagt, daß er Sie haßt...«, flüsterte Aglaja kaum vernehmbar. »Vielleicht; vielleicht bin ich seiner nicht wert, nur... nur glaube ich, Sie haben gelogen! Er kann mich nicht hassen, und er hat das nicht sagen können! Ich bin übrigens bereit, Ihnen... in Anbetracht Ihrer Lage zu verzeihen... aber ich habe doch eine bessere Meinung von Ihnen gehabt; ich glaubte, Sie wären klüger... und auch schöner, bei Gott!... Nun, dann nehmen Sie Ihren Schatz hin... da ist er, er blickt nach Ihnen hin und kann sich gar nicht fassen; nehmen Sie ihn für sich, aber unter einer Bedingung: machen Sie augenblicklich, daß Sie hinauskommen! Augenblicklich!« Sie sank in einen Sessel und brach in Tränen aus. Aber auf einmal leuchtete ein neuer Gedanke in ihren Augen auf; sie blickte Aglaja fest und unverwandt an und stand von ihrem Sitz auf. »Willst du, daß ich ihm jetzt gleich be-feh-le, hörst du wohl? Ich be-feh-le ihm, und er wird sich sofort von dir lossagen und für immer bei mir bleiben und mich heiraten, und du wirst allein nach Hause laufen. Willst du, willst du?« schrie sie wie eine Wahnsinnige, vielleicht ohne selbst daran zu glauben, daß sie solche Worte sprechen konnte. Aglaja stürzte erschrocken zur Tür, aber in der Tür blieb sie wie angenagelt stehen und hörte weiter zu. »Willst du, daß ich Rogoshin fortjage? Du glaubtest wohl, ich würde mich dir zuliebe schon mit Rogoshin trauen lassen? Gleich diesen Augenblick werde ich in deiner Gegenwart rufen: ›Mach, daß du wegkommst, Rogoshin!‹ und zum Fürsten werde ich sagen: ›Denkst du noch an das, was du mir versprochen hast?‹ O Gott, warum habe ich mich nur so vor ihnen allen erniedrigt? Und du, Fürst, hast du mir nicht beteuert, du würdest an meiner Seite bleiben, was auch mit mir geschehen möge, und mich niemals verlassen, und du hättest mich lieb und würdest mir alles verzeihen und würdest mich a... achten...? Ja, auch das hast du gesagt! Und ich bin damals von dir weggelaufen, nur um dir deine Freiheit wiederzugeben, aber jetzt will ich nicht mehr! Warum hat sie mich auch wie eine Dirne behandelt? Frag Rogoshin, ob ich eine Dirne bin, er wird es dir sagen! Was wirst du jetzt tun, wo sie mich beschimpft hat und noch dazu in deiner Gegenwart? Wirst auch du dich von mir abwenden, ihr deinen Arm bieten und sie mit dir fortnehmen? Dann sollst du verflucht sein, denn du bist der einzige Mensch gewesen, an den ich geglaubt habe. Geh weg, Rogoshin, dich kann ich nicht brauchen!« schrie sie fast besinnungslos; sie preßte die Worte mit Anstrengung hervor; ihr Gesicht war verzerrt, ihre Lippen trocken. Offenbar glaubte sie selbst nicht im geringsten an einen Erfolg ihrer Prahlerei, wünschte aber doch, diese Situation noch um einen Augenblick zu verlängern und sich selbst zu täuschen. Ihre Erregung war so stark, daß sie vielleicht den Tod zur Folge haben konnte, wenigstens glaubte das der Fürst. »Da steht er! Sieh hin!« rief sie endlich Aglaja zu und wies mit der Hand auf den Fürsten. »Wenn er nicht sofort zu mir herantritt und mich nimmt und dich verläßt, dann kannst du ihn behalten; ich trete ihn dir ab, ich kann ihn nicht brauchen...« Sie sowohl wie Aglaja standen nun schweigend da, wie wenn sie auf etwas warteten, und blickten beide wie geistesgestört nach dem Fürsten hin. Aber der verstand die ganze Bedeutung dieser Herausforderung vielleicht nicht; ja man kann sogar sagen: er verstand sie gewiß nicht. Er sah nur das verzweifelte, irrsinnige Gesicht vor sich, das, wie er sich einmal Aglaja gegenüber ausgedrückt hatte, bei ihm immer die Empfindung hervorrief, als ob ihm das Herz von einem tiefen Stich blute. Er konnte diesen Anblick nicht länger ertragen, wandte sich an Aglaja und sagte, auf Nastasja Filippowna weisend, im Ton vorwurfsvoller Bitte: »Wie ist es nur möglich! Sie ist doch... so unglücklich!« Aber kaum hatte er das gesagt, als er unter Aglajas furchtbarem Blick verstummte. In diesem Blick lag so viel Schmerz und gleichzeitig ein so grenzenloser Haß, daß er die Hände zusammenschlug, aufschrie und zu ihr hinstürzte, aber es war bereits zu spät. Sie hatte auch den kurzen Augenblick seines Schwankens nicht ertragen können, schlug die Hände vor das Gesicht, rief: »Ach, mein Gott!« und stürzte aus dem Zimmer. Rogoshin eilte ihr nach, um ihr die Haustür aufzuriegeln. Auch der Fürst lief ihr nach, aber als er zur Schwelle gelangt war, umfingen ihn zwei Arme. Nastasja Filippownas gramvolles, entstelltes Gesicht blickte ihn starr an, die bläulichen Lippen bewegten sich und fragten: »Willst du ihr nach? Willst du ihr nach?« Sie fiel ihm bewußtlos in die Arme. Er hob sie auf, trug sie ins Zimmer, legte sie auf einen Lehnsessel und stand über sie gebeugt in stumpfer Erwartung da. Auf einem Tischchen stand ein Glas mit Wasser; der zurückkehrende Rogoshin ergriff es und spritzte ihr Wasser ins Gesicht; sie schlug die Augen auf und war eine Weile noch völlig verständnislos; aber auf einmal blickte sie um sich, zuckte zusammen, schrie auf und stürzte zum Fürsten hin. »Mein! Mein!« schrie sie. »Ist das stolze Fräulein weg? Hahaha!« lachte sie krampfhaft. »Hahaha! Ich habe ihn diesem Fräulein abtreten wollen! Aber warum? Wozu? Ich Wahnsinnige!... Geh weg, Rogoshin! Hahaha!« Rogoshin blickte die beiden starr an, ohne ein Wort zu sagen, nahm seinen Hut und ging hinaus. Zehn Minuten darauf saß der Fürst neben Nastasja Filippowna, blickte sie unverwandt an und streichelte ihr mit beiden Händen Kopf und Gesicht wie einem kleinen Kind. Er lachte mit ihr und war bereit, Tränen zu vergießen, wenn sie weinte. Er sprach nicht, sondern hörte geduldig ihr leidenschaftliches, glückseliges, unzusammenhängendes Gestammel an, verstand kaum etwas davon, lächelte aber leise, und sobald es ihm schien, als wolle sie wieder anfangen, traurig zu werden oder zu weinen, Vorwürfe zu erheben oder sich zu beklagen, begann er sogleich wieder, ihr den Kopf zu streicheln und zärtlich die Hände über ihre Wangen zu führen und ihr wie einem Kinde tröstend zuzureden. IX Nach dem Ereignis, das wir im letzten Kapitel erzählt haben, waren zwei Wochen vergangen, und die Situation der handelnden Personen unserer Erzählung hatte sich dermaßen verändert, daß es uns außerordentlich schwer wird, ohne besondere Erläuterungen an die Fortsetzung zu gehen. Und doch fühlen wir, daß wir uns auf eine einfache Darlegung der Tatsachen beschränken müssen, unter möglichster Vermeidung besonderer Erläuterungen, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: weil wir selbst in vielen Fällen in Verlegenheit sind, wie wir die Vorgänge erklären sollen. Ein solches Bekenntnis unsererseits muß dem Leser notwendigerweise sonderbar und unverständlich erscheinen, denn wie kann man etwas erzählen, wenn man selbst keine klare Vorstellung davon und keine persönliche Meinung darüber hat? Um uns nicht in eine noch schiefere Lage zu bringen, wollen wir lieber versuchen, das Gesagte an einem Beispiel klarzumachen; vielleicht wird dann der wohlgeneigte Leser verstehen, worin für uns eigentlich die Schwierigkeit liegt, und dieses Verfahren empfiehlt sich um so mehr, als dieses Beispiel keine Abschweifung, sondern im Gegenteil die unmittelbare, direkte Fortsetzung der Erzählung sein wird. Zwei Wochen waren vergangen, das heißt, der Juli hatte bereits begonnen, und während dieser beiden Wochen war die Geschichte unseres Helden und besonders das letzte Ereignis dieser Geschichte allmählich in allen Straßen, die in der Nachbarschaft der Landhäuser Lebedews, Ptizyns, Darja Alexejewnas und der Familie Jepantschin lagen, kurz gesagt, fast im ganzen Ort und sogar in dessen Umgegend bekannt geworden und hatte dabei eine seltsame, sehr erheiternde, beinah unglaubliche und gleichzeitig beinah zum Greifen anschauliche Fassung erhalten. Fast die ganze Gesellschaft, Einheimische, Sommerfrischler, Residenzler, die zu den Konzerten herauskamen, alle erzählten ein und dieselbe Geschichte, aber mit tausend Variationen: ein Fürst habe in einer ehrenwerten, bekannten Familie einen Skandal herbeigeführt, sich von einer Tochter dieser Familie, die schon seine Braut gewesen sei, losgesagt, sich von einer bekannten Dame der Halbwelt betören lassen, alle seine früheren Beziehungen abgebrochen und beabsichtige nun, ohne sich um etwas zu kümmern, trotz aller Drohungen und trotz der allgemeinen Entrüstung des Publikums, sich in nächster Zeit mit dem ehrlosen Frauenzimmer hier in Pawlowsk in aller Öffentlichkeit, erhobenen Hauptes und allen gerade ins Gesicht blickend trauen zu lassen. Dieses Geschichtchen wurde durch skandalöse Züge dermaßen ausgeschmückt, und es wurden so viele bekannte, bedeutende Persönlichkeiten hineingemischt und so viele mannigfache phantastische und rätselhafte Details hinzugetan, und es stützte sich andrerseits auf so unwiderlegliche, feststehende Tatsachen, daß die allgemeine Neugier und die entstehenden Klatschereien gewiß sehr entschuldbar waren. Die feinste, schlauste und gleichzeitig am wahrscheinlichsten klingende Interpretation wurde diesem Geschichtchen durch einige Klatschmäuler männlichen Geschlechts zuteil; diese »ernsten, verständigen« Leute, die eine besondere Schicht bilden, haben immer, in jeder Gesellschaft, nichts Eiligeres zu tun, als den andern dieses und jenes Ereignis zu kommentieren, und sie finden darin ihren Beruf und häufig auch ihr Vergnügen. Sie stellten die Sache folgendermaßen dar: Ein junger Mensch aus guter Familie, ein Fürst, beinah reich zu nennen, ein Dummkopf, aber ein Demokrat und in den modernen Nihilismus, wie ihn Herr Turgenjew geschildert habe, vernarrt, kaum des Russischen mächtig, habe sich in eine Tochter des Generals Jepantschin verliebt und in der Familie als Bräutigam Aufnahme gefunden. Aber dann habe er es ähnlich gemacht wie jener französische Seminarist, von dem soeben ein Geschichtchen durch die Zeitungen gegangen sei, der sich eigens habe zum Geistlichen weihen lassen, der eigens um die Weihen gebeten, alle Zeremonien, Kniebeugungen, Küsse, Gelöbnisse und so weiter ausgeführt habe, um gleich am folgenden Tag seinem Bischof öffentlich in einem Brief zu erklären, daß er, da er nicht an Gott glaube, es für ehrlos halte, das Volk zu täuschen und sich von ihm ohne Gegenleistung ernähren zu lassen, und daß er daher die am vorhergehenden Tage ihm verliehene Würde wieder niederlege und seinen Brief in fortschrittlichen Zeitungen abdrucken lasse. Ähnlich diesem Atheisten habe auch der Fürst in seiner Weise ein falsches Spiel getrieben. Sie erzählten, er habe absichtlich eine bei den Eltern seiner Braut stattfindende festliche Abendgesellschaft abgewartet, auf der er sehr vielen hervorragenden Persönlichkeiten habe vorgestellt werden sollen, um laut und in Gegenwart aller seine Anschauungsweise darzulegen, hochachtbare Würdenträger zu beschimpfen, sich von seiner Braut öffentlich und in beleidigender Form loszusagen und im Handgemenge mit den ihn hinausbringenden Dienern eine schöne chinesische Vase zu zerschlagen. Um die modernen Sitten zu charakterisieren, fügten sie noch hinzu, der unvernünftige junge Mann habe seine Braut, die Generalstochter, wirklich geliebt, sich aber von ihr einzig und allein aus Nihilismus und wegen des zu erwartenden Skandals losgesagt, um sich nicht das Vergnügen zu versagen, vor den Augen der ganzen Welt eine Gefallene zu heiraten und dadurch zu beweisen, daß es in seiner Ideenwelt weder gefallene noch tugendhafte Frauen gebe, sondern nur einzig und allein die freie Frau, und daß er die herkömmliche, übliche Einteilung nicht anerkenne, sondern ausschließlich die »Frauenfrage« auf den Schild erhebe. Ja die gefallene Frau stehe in seinen Augen sogar noch etwas höher als die nicht gefallene. Diese Darstellung erschien sehr glaubwürdig und wurde von der Mehrzahl der Sommerfrischler akzeptiert, um so mehr, als sie durch die Ereignisse, die nun jeder weitere Tag brachte, ihre Bestätigung fand. Allerdings blieb eine Menge von Dingen unaufgeklärt: es wurde erzählt, das arme Mädchen habe ihren Bräutigam – oder nach anderen: ihren »Verführer« – so innig geliebt, daß sie gleich am nächsten Tag, nachdem er sich von ihr losgesagt habe, zu ihm hingelaufen sei, als er sich gerade bei seiner Geliebten befunden habe; andere behaupteten dagegen, er selbst habe sie absichtlich zu seiner Geliebten hingelockt, lediglich aus Nihilismus, um sie zu beschimpfen und zu beleidigen. Wie dem nun auch sein mochte, das Interesse an diesem Ereignis wuchs von Tag zu Tag, zumal nicht der geringste Zweifel aufkommen konnte, daß die skandalöse Hochzeit wirklich stattfinden würde. Und wenn uns nun jemand eine Erklärung abverlangte, nicht hinsichtlich der nihilistischen Färbung, die man dem Ereignis verliehen hatte, o nein, sondern nur darüber, inwieweit die in Aussicht genommene Hochzeit den wirklichen Wünschen des Fürsten entsprochen habe, worin eigentlich in diesem Augenblick seine Wünsche bestanden hätten, wie eigentlich der Seelenzustand unseres Helden im vorliegenden Zeitpunkt zu charakterisieren sei, und über andere Punkte dieser Art – dann müßten wir bekennen, daß wir uns in großer Verlegenheit befinden, was wir darauf antworten sollen. Wir wissen nur das eine, daß die Hochzeit wirklich angesetzt wurde und daß der Fürst selbst Lebedew, Keller und einem Bekannten Lebedews, den letzterer ihm bei dieser Gelegenheit vorstellte, Vollmacht gab, alle erforderlichen Besorgungen sowohl kirchlicher als auch wirtschaftlicher Art zu erledigen; daß sie angewiesen wurden, dabei nicht mit Geld zu sparen; daß Nastasja Filippowna zur Hochzeit drängte und sie zu beschleunigen wünschte; daß zum Bräutigamsmarschall des Fürsten Keller auf seine eigene dringende Bitte ernannt wurde und zu Nastasja Filippownas Brautmarschall Burdowskij, der dieses Amt mit Begeisterung übernahm, und daß der Hochzeitstag auf Anfang Juli festgesetzt wurde. Aber außer diesen durchaus sicheren Details sind uns noch einige Tatsachen bekannt, die uns entschieden wieder irremachen, nämlich deswegen, weil sie den vorhergehenden widersprechen. Wir hegen zum Beispiel starken Verdacht, daß der Fürst, nachdem er Lebedew und die andern mit der Erledigung aller Geschäfte betraut hatte, gleich am selben Tag die erfolgte Ernennung eines Zeremonienmeisters und der beiden Marschälle und das Bevorstehen der Hochzeit fast ganz vergaß und daß, wenn er die Sache durch Überlassung der Geschäfte an andere möglichst schnell ordnete, er es einzig und allein in der Absicht tat, nun selbst nicht mehr daran denken zu müssen und dies alles vielleicht sogar so schnell wie möglich ganz zu vergessen. Woran dachte er aber in diesem Falle selbst, woran wollte er sich erinnern und wonach strebte er? Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß ihm hierbei keinerlei Gewalt angetan wurde (etwa von seiten Nastasja Filippownas). Nastasja Filippowna hatte allerdings den dringenden Wunsch, daß die Hochzeit möglichst bald stattfinden möge, und sie war es, die sich den Plan mit der Hochzeit ausgedacht hatte, und nicht der Fürst; aber der Fürst hatte doch aus freien Stücken eingewilligt, freilich etwas zerstreut und wie wenn man von ihm etwas ganz Alltägliches verlangte. Solche merkwürdigen Tatsachen liegen uns in beträchtlicher Zahl vor, aber weit entfernt, zur Aufhellung zu dienen, verdunkeln sie vielmehr unserer Ansicht nach die Erklärung des Hergangs, auch wenn wir ihrer noch so viele beibringen würden; aber doch wollen wir hier noch ein Beispiel anführen. Es ist uns genau bekannt, daß während dieser beiden Wochen der Fürst ganze Tage und Abende mit Nastasja Filippowna zusammen verbrachte; daß sie ihn zum Spaziergang und zu den Konzerten mitnahm; daß er täglich mit ihr in der Equipage ausfuhr; daß er anfing, sich ihretwegen zu beunruhigen, wenn er sie nur eine Stunde lang nicht gesehen hatte (er liebte sie also nach allen Anzeichen aufrichtig); daß er mit einem stillen, sanften Lächeln stundenlang, fast ohne selbst ein Wort zu sagen, zuhörte, ganz gleich worüber sie zu ihm redete. Aber wir wissen auch, daß er in diesen selben Tagen mehrmals, ja sogar recht oft, plötzlich zu Jepantschins ging, ohne dies vor Nastasja Filippowna geheimzuhalten, worüber diese beinah in Verzweiflung geriet. Wir wissen, daß er bei Jepantschins, solange sie noch in Pawlowsk blieben, nicht empfangen und eine Unterredung mit Aglaja Iwanowna ihm ständig verweigert wurde; daß er, ohne ein Wort zu sagen, wegging, aber gleich am nächsten Tage wieder hinkam, als hätte er die vorhergehende Abweisung ganz vergessen, und selbstverständlich eine neue Abweisung erfuhr. Es ist uns auch bekannt, daß, nachdem Aglaja Iwanowna von Nastasja Filippowna weggelaufen war, der Fürst eine Stunde darauf, vielleicht sogar noch etwas früher, bei Jepantschins war, natürlich in der Überzeugung, Aglaja dort vorzufinden, und daß sein Erscheinen damals in der Familie Jepantschin die größte Bestürzung und Angst hervorrief, weil Aglaja noch nicht nach Hause zurückgekehrt war und sie von ihm zum erstenmal hörten, daß sie mit ihm zu Nastasja Filippowna gegangen sei. Man erzählte, Lisaweta Prokofjewna, die Töchter und sogar Fürst Schtsch. wären damals zu dem Fürsten sehr hart und streng gewesen und hätten ihm gleich damals in scharfen Ausdrücken alle Bekanntschaft und Freundschaft aufgekündigt, zumal Warwara Ardalionowna plötzlich zu Lisaweta Prokofjewna gekommen sei mit der Mitteilung, Aglaja Iwanowna befinde sich schon seit einer Stunde bei ihr zu Hause, und zwar in einem schrecklichen Zustand, und scheine nicht wieder nach Hause zurückkehren zu wollen. Diese Nachricht erschreckte Lisaweta Prokofjewna am allermeisten und war vollkommen zutreffend: als Aglaja von Nastasja Filippowna fortgegangen war, wäre sie tatsächlich lieber gestorben, als daß sie sich ihren Angehörigen gezeigt hätte, und war darum zu Nina Alexandrowna gestürzt. Warwara Ardalionowna aber war ihrerseits sofort der Ansicht gewesen, Lisaweta Prokofjewna müsse unverzüglich von alledem in Kenntnis gesetzt werden. So eilten denn die Mutter und die Töchter alle zusammen sofort zu Nina Alexandrowna, gefolgt vom Oberhaupt der Familie, Iwan Fjodorowitsch selbst, der soeben nach Hause zurückgekehrt war, und hinter ihnen schlich auch Fürst Lew Nikolajewitsch her, trotz der gekündigten Freundschaft und der harten Worte; aber auf Warwara Ardalionownas Anordnung wurde er auch dort nicht zu Aglaja gelassen. Die Sache endete übrigens damit, daß Aglaja, als sie sah, wie die Mutter und die Schwestern um sie weinten und daß sie ihr keinerlei Vorwürfe machten, sich in ihre Arme warf und sogleich mit ihnen nach Hause zurückkehrte. Man erzählte, obgleich diese Gerüchte nicht sehr zuverlässig waren, Gawrila Ardalionowitsch habe auch diesmal sehr wenig Glück gehabt; er habe, als Warwara Ardalionowna zu Lisaweta Prokofjewna gelaufen und er mit Aglaja allein geblieben sei, die Gelegenheit benutzen wollen und angefangen, von seiner Liebe zu reden; als Aglaja das gehört habe, sei sie trotz all ihres Kummers und ihrer Tränen auf einmal in lautes Gelächter ausgebrochen und habe ihm die seltsame Frage vorgelegt, ob er wohl zum Beweis seiner Liebe auf der Stelle seinen Finger über einer Kerze verbrennen wolle. Gawrila Ardalionowitsch sei über dieses Ansinnen ganz verdutzt und fassungslos gewesen und habe ein so verblüfftes Gesicht gemacht, daß Aglaja über ihn krampfhaft gelacht, ihn stehengelassen habe und zu Nina Alexandrowna nach oben gelaufen sei, wo ihre Eltern sie dann vorgefunden hätten. Diese Geschichte gelangte am darauffolgenden Tag durch Ippolit zur Kenntnis des Fürsten. Da Ippolit nicht mehr vom Bett aufstand, ließ er den Fürsten eigens zu sich rufen, um ihm diese Nachricht mitzuteilen. Wie dieses Gerücht zu Ippolits Ohren gelangt war, ist uns unbekannt, aber als der Fürst die Geschichte von der Kerze und dem Finger hörte, mußte er so lachen, daß sogar Ippolit sich wunderte, aber dann fuhr er auf einmal zusammen und brach in Tränen aus... Überhaupt befand er sich in diesen Tagen in großer Unruhe und in einer außerordentlichen, undefinierbaren und qualvollen Verwirrung. Ippolit behauptete geradezu, er sei von Sinnen, aber darüber ließ sich noch nichts Sicheres sagen. Wenn wir all diese Tatsachen anführen, es jedoch ablehnen, sie zu erklären, beabsichtigen wir nicht, unsern Helden in den Augen unserer Leser zu rechtfertigen. Wir sind im Gegenteil durchaus bereit, die Entrüstung zu teilen, die er sogar bei seinen Freunden durch sein Verhalten erweckte. Selbst Wera Lebedewa war eine Zeitlang über ihn empört; sogar Kolja war empört, desgleichen Keller, solange er noch nicht zum Bräutigamsmarschall erwählt war, ganz zu schweigen von Lebedew selbst, der sogar gegen den Fürsten zu intrigieren anfing, und zwar ebenfalls aus Empörung, die sogar ganz aufrichtig war. Aber davon werden wir noch später zu reden haben. Allgemein gesehen sind wir völlig und in höchstem Grade mit einigen sehr kräftigen und in psychologischer Hinsicht sogar sehr tiefsinnigen Bemerkungen einverstanden, die Jewgenij Pawlowitsch offen und ohne Umschweife dem Fürsten gegenüber in einem freundschaftlichen Gespräch aussprach, und zwar am sechsten oder siebenten Tag nach dem Vorfall bei Nastasja Filippowna. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß nicht nur Jepantschins selbst, sondern auch alle, die direkt oder indirekt mit der Familie in Verbindung standen, es für notwendig hielten, alle Beziehungen zum Fürsten vollständig abzubrechen. Fürst Schtsch. zum Beispiel wandte sich sogar weg, als er dem Fürsten begegnete, und erwiderte seinen Gruß nicht. Aber Jewgenij Pawlowitsch fürchtete nicht, sich dadurch zu kompromittieren, daß er den Fürsten besuchte, obwohl er selbst wieder angefangen hatte, täglich bei Jepantschins zu verkehren, und dort mit sichtlich erhöhter Freundlichkeit aufgenommen wurde. Er kam zum Fürsten gleich an dem Tage, nachdem die Jepantschins alle aus Pawlowsk abgereist waren. Als er bei dem Fürsten eintrat, kannte er bereits alle im Publikum verbreiteten Gerüchte, ja er hatte vielleicht selbst teilweise bei ihrer Verbreitung mitgewirkt. Der Fürst freute sich sehr über sein Kommen und begann sogleich von Jepantschins zu reden; dieses schlichte, offenherzige Verhalten löste auch dem Gast die Zunge, so daß auch er ohne Umschweife geradewegs zur Sache kam. Der Fürst wußte noch nicht, daß Jepantschins abgereist waren; er war überrascht und wurde blaß; aber einen Augenblick darauf nickte er verwirrt und nachdenklich mit dem Kopf und gestand, daß es wohl habe so kommen müssen; dann erkundigte er sich schnell danach, wohin sie denn abgereist seien. Jewgenij Pawlowitsch beobachtete ihn unterdessen aufmerksam, und alles, was er wahrnahm, das heißt die Schnelligkeit der Fragen, ihre Direktheit, die Verwirrung des Fürsten und gleichzeitig eine gewisse sonderbare Offenherzigkeit, Unruhe und Aufregung, alles dies versetzte ihn in nicht geringe Verwunderung. Er machte übrigens in liebenswürdiger Weise dem Fürsten von allem eingehende Mitteilung; dieser wußte vieles noch nicht, und sein Besuch war der erste Bote, der von jener Familie zu ihm kam. Jewgenij Pawlowitsch bestätigte, daß Aglaja tatsächlich krank gewesen sei und drei Nächte hintereinander fast gar nicht geschlafen, sondern immer gefiebert habe; jetzt gehe es ihr besser, und sie befinde sich außer aller Gefahr, aber in einem nervösen, hysterischen Zustand. Ein Glück sei nur, daß in der Familie der vollste Friede herrsche. Aglajas Angehörige seien darauf bedacht, alle Andeutungen über das Geschehene zu vermeiden, sogar wenn sie unter sich seien, nicht nur in Aglajas Gegenwart. Die Eltern hätten schon miteinander über eine Reise ins Ausland gesprochen, die im Herbst, gleich nach Adelaidas Hochzeit, stattfinden solle; Aglaja habe die ersten Mitteilungen darüber schweigend entgegengenommen. Er, Jewgenij Pawlowitsch, werde vielleicht ebenfalls ins Ausland reisen. Sogar Fürst Schtsch. habe vor, dies mit Adelaida zusammen für ungefähr zwei Monate zu tun, wenn seine Geschäfte es ihm erlauben sollten. Der General selbst werde in Petersburg bleiben. Jetzt seien sie alle nach ihrem Gut Kolmino, etwa zwanzig Werst von Petersburg, übergesiedelt, wo sich ein herrschaftliches Gutshaus befinde. Die alte Bjelokonskaja sei noch nicht nach Moskau zurückgereist und, wie es scheine, sogar absichtlich noch dageblieben. Lisaweta Prokofjewna habe energisch erklärt, es sei nach allem Vorgefallenen unmöglich, in Pawlowsk zu bleiben; er, Jewgenij Pawlowitsch, habe ihr täglich von den im Ort umlaufenden Gerüchten Mitteilung gemacht. Nach ihrem auf der Jelagin-Insel gelegenen Landhaus überzusiedeln, hätten sie ebenfalls nicht für möglich gehalten. »Na ja, und in der Tat«, fügte Jewgenij Pawlowitsch hinzu, »das müssen Sie selbst zugeben: war das etwa auszuhalten?... Zumal man wußte, was bei Ihnen hier in Ihrem Hause stündlich vorging, Fürst, und Sie, trotz der Zurückweisung, dort täglich einen Besuch machten ...« »Ja, ja, ja, Sie haben recht, ich wollte Aglaja Iwanowna sprechen...«, erwiderte der Fürst und nickte wieder mit dem Kopf. »Ach, lieber Fürst«, rief Jewgenij Pawlowitsch mit großer Lebhaftigkeit und Betrübnis, »wie konnten Sie nur damals zulassen, daß das alles geschah? Gewiß, gewiß, das kam für Sie alles so unerwartet... Ich gebe zu, daß Sie die Geistesgegenwart verlieren mußten und... außerstande waren, das von Sinnen gekommene Mädchen zurückzuhalten, das ging über Ihre Kräfte. Aber das mußten Sie doch begreifen, wie ernst und stark die Empfindungen dieses Mädchens Ihnen gegenüber waren. Sie wollte nicht mit einer andern teilen, und Sie... und Sie haben einen solchen Schatz weggeworfen und zerstört!« »Ja, ja, Sie haben recht; ja, ich habe mich schuldig gemacht«, sagte der Fürst wieder in tiefem Kummer. »Aber wissen Sie: sie war die einzige, Aglaja war die einzige, die so über Nastasja Filippowna urteilte... Alle übrigen Menschen urteilten anders über sie.« »Ja, das ist ja eben das Empörende, daß gar nichts Ernstes vorlag!« rief Jewgenij Pawlowitsch, der ganz in Eifer geriet. »Verzeihen Sie mir, Fürst, aber... ich... ich habe darüber nachgedacht, Fürst, habe viel darüber nachgedacht; ich weiß genau, was früher vorgegangen ist; ich weiß alles, was vor einem halben Jahre geschehen ist, alles, und... all das war nichts Ernstes! All das war nur ein leichter Rausch, eine phantastische Laune, ein verwehender Rauch, und nur die ängstliche Eifersucht eines ganz unerfahrenen Mädchens konnte das für etwas Ernstes halten!...« Und nun ließ Jewgenij Pawlowitsch ganz ungeniert seiner Entrüstung freien Lauf. Verständig und klar und – wir wiederholen es – sogar mit außerordentlicher psychologischer Einsicht entwarf er dem Fürsten ein Bild der gesamten früheren Beziehungen desselben zu Nastasja Filippowna. Jewgenij Pawlowitsch hatte von jeher die Gabe des Wortes besessen; jetzt aber bewies er geradezu ein hohes Rednertalent. »Die Beziehungen zwischen Ihnen beiden«, begann er, »begannen gleich von Anfang an mit einer Unwahrhaftigkeit, und was mit Unwahrhaftigkeit anfängt, das muß auch mit Unwahrhaftigkeit enden; das ist ein Naturgesetz. Ich erkläre mich nicht einverstanden, wenn manche – na, dieser und jener tut es – Sie einen Idioten nennen, ich bin sogar empört darüber; Sie sind zu verständig für eine solche Bezeichnung; aber Sie haben doch so viel Seltsames an sich, daß Sie nicht so sind wie alle Menschen, das müssen Sie selbst zugeben. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß die Grundlage alles Geschehenen sich aus folgenden Momenten zusammensetzt: erstens aus Ihrer sozusagen angeborenen Unerfahrenheit (beachten Sie wohl diesen Ausdruck, Fürst: ›angeborenen‹!), dann aus Ihrer ungewöhnlichen Gutmütigkeit, ferner aus Ihrem phänomenalen Mangel an Gefühl für das rechte Maß (was Sie schon mehrmals selbst zugegeben haben) und endlich aus einer gewaltigen Masse von Resultaten des Denkens, die Sie bei Ihrer außerordentlichen Ehrlichkeit noch bis jetzt für echte, natürliche, unmittelbare Überzeugungen halten! Sie müssen selbst zugeben, Fürst, daß in Ihren Beziehungen zu Nastasja Filippowna gleich von Anfang an etwas relativ Demokratisches (ich bediene mich der Kürze wegen dieses Ausdrucks), sozusagen der zauberhafte Reiz der »Frauenfrage« (um es noch kürzer auszudrücken) lag. Ich kenne genau jene ganze Skandalszene, die sich bei Nastasja Filippowna abgespielt hat, als Rogoshin ihr sein Geld brachte. Wenn Sie wollen, werde ich Sie vor Ihren eigenen Augen sezieren, ich werde Ihnen einen Spiegel vorhalten, so genau weiß ich, wie die Sache zusammenhing und warum sie diese Wendung genommen hat! Sie, ein Jüngling, sehnten sich in der Schweiz nach der Heimat, Sie strebten nach Rußland wie nach einem unbekannten verheißenen Land, lasen viele Bücher über Rußland, Bücher, die vielleicht an sich vortrefflich, aber für Sie schädlich waren; Sie kamen mit dem ersten heißen Drang nach Tätigkeit her und stürzten sich sozusagen in die Tätigkeit! Und siehe da, gleich an demselben Tag teilt man Ihnen die traurige, herzergreifende Geschichte einer entehrten Frau mit – Ihnen, einem ritterlich denkenden, keuschen Menschen diese Geschichte einer Frau! An demselben Tag sehen Sie diese Frau; Sie sind bezaubert von ihrer Schönheit, einer phantastischen, dämonischen Schönheit (ich gebe ja zu, daß sie schön ist). Nehmen Sie Ihre Nervosität hinzu, Ihre Epilepsie, unser Petersburger die Nerven schwächendes Tauwetter; nehmen Sie hinzu, daß Sie diesen ganzen Tag in einer Ihnen bisher unbekannten, für Sie beinah märchenhaften Stadt zubrachten, mit allerlei Menschen zusammenkamen, die verschiedensten Szenen erlebten, unerwartete Bekanntschaften machten, einer ganz unerwarteten Wirklichkeit gegenübertraten, die drei schönen Fräulein Jepantschin und darunter Aglaja kennenlernten; nehmen Sie Ihre Ermüdung und Ihr Schwindelgefühl hinzu; nehmen Sie Nastasja Filippownas Salon und den dort herrschenden Ton hinzu, und... was meinen Sie: was konnten Sie von sich selbst in einem solchen Augenblick erwarten?« »Ja, ja; ja, ja«, sagte der Fürst, nickte wieder mit dem Kopfe und begann zu erröten, »ja, so ist das ungefähr gewesen, und wissen Sie, ich hatte wirklich die ganze vorhergehende Nacht im Zug nicht geschlafen und ebenso die zweitletzte nicht und war sehr zerstreut...« »Nun ja, gewiß, das ist es ja eben, worauf ich hinauswill«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch eifrig fort. »Es ist klar, daß Sie sozusagen in einem Wonnerausch sich auf die Möglichkeit stürzten, öffentlich eine hochherzige Anschauung zu äußern, nämlich die, daß Sie, ein geborener Fürst und ein reiner Mensch, eine nicht durch eigene Schuld, sondern durch die Schuld eines abscheulichen, vornehmen Wüstlings entehrte Frau nicht für ehrlos halten. O Gott, das ist ja so begreiflich! Aber darum handelt es sich nicht, lieber Fürst, sondern darum, ob dieses Ihr Gefühl wahr und echt und natürlich oder nur ein auf einem Denkprozeß beruhendes Entzücken war. Was meinen Sie: im Tempel ist einst einer Frau verziehen worden, einer ebensolchen Frau, aber es wurde ihr nicht gesagt, daß sie recht handle und aller Ehren und aller Achtung wert sei. Hat Ihnen selbst denn nicht nach drei Monaten Ihr gesunder Verstand zugeflüstert, wie die Sache zusammenhing? Mag sie jetzt auch schuldlos sein (behaupten werde ich das nicht, denn soweit will ich nicht gehen), aber kann denn alles, was ihr widerfahren ist, ihren unerträglichen, dämonischen Stolz und ihren frechen, gierigen Egoismus rechtfertigen? Verzeihen Sie, Fürst, ich lasse mich hinreißen; aber...« »Ja, alles das ist vielleicht richtig; vielleicht haben Sie recht...«, murmelte der Fürst wieder. »Sie ist wirklich sehr reizbar, und Sie haben recht, gewiß, aber...« »Sie verdient Mitleid? Das wollten Sie sagen, lieber Fürst? Aber durften Sie denn aus Mitleid mit ihr und zu ihrem Vergnügen ein anderes hochgesinntes, reines Mädchen schmählich kränken und vor den Augen jener hochmütigen, haßerfüllten Nebenbuhlerin erniedrigen? Da geht denn doch das Mitleid zu weit! Das ist denn doch eine arge Übertreibung! Durften Sie denn ein Mädchen, das Sie liebten, so vor seiner eigenen Rivalin demütigen und sich um der andern willen und vor den Augen ebendieser andern von ihm abwenden, nachdem Sie ihm schon selbst einen ehrlichen Antrag gemacht hatten... und das hatten Sie doch getan, und zwar in Gegenwart der Eltern und Schwestern! Gestatten Sie die Frage, Fürst: sind Sie bei einer solchen Handlungsweise noch ein ehrenhafter Mensch? Und haben Sie nicht das herrliche Mädchen betrogen, als Sie ihr versicherten, daß Sie sie liebten?« »Ja, ja, Sie haben recht, ich fühle, daß ich eine Schuld auf mich geladen habe!« sagte der Fürst in unbeschreiblichem Gram. »Aber genügt denn das?« rief Jewgenij Pawlowitsch ganz entrüstet. »Genügt denn das, einfach auszurufen: ›Ach, ich habe eine Schuld auf mich geladen!‹ Sie sind schuldig und bleiben dabei doch hartnäckig! Und wo hatten Sie denn damals Ihr Herz, Ihr ›christliches‹ Herz? Sie haben ja ihr Gesicht in jenem Augenblick gesehen: was meinen Sie, hat sie etwa weniger gelitten als jene andere, um derentwillen Sie sich von ihr trennten? Wie konnten Sie nur das alles mit ansehen und zugeben? Wie war es nur möglich?« »Aber... ich habe es ja gar nicht zugegeben...«, murmelte der unglückliche Fürst. »Wie meinen Sie das?« »Ich habe bei Gott nichts zugegeben. Ich weiß bis auf den heutigen Tag noch nicht, wie das alles gekommen ist... ich... ich lief damals Aglaja Iwanowna nach, und Nastasja Filippowna fiel in Ohnmacht, und nachher hat man mir bis jetzt den Zutritt zu Aglaja Iwanowna verwehrt.« »Ganz gleich! Sie hätten hinter Aglaja herlaufen sollen, wenn auch die andere in Ohnmacht lag!« »Ja... ja, das hätte ich tun müssen... aber sie wäre gestorben! Sie hätte sich das Leben genommen, Sie kennen sie nicht, und... ich wollte ja doch nachher Aglaja Iwanowna alles erzählen, und ... Sehen Sie, Jewgenij Pawlowitsch, ich sehe, daß Sie doch wohl nicht alles wissen. Sagen Sie, warum läßt man mich nicht zu Aglaja Iwanowna? Ich würde ihr alles erklären. Sehen Sie: die beiden haben damals gar nicht über den richtigen Punkt gesprochen, gar nicht über den richtigen Punkt, darum hat ihre Zusammenkunft auch diesen Ausgang genommen... Ich kann Ihnen das nicht erklären, aber ich würde es vielleicht Aglaja erklären können... Ach, mein Gott, mein Gott! Sie sprechen von ihrem Gesicht in jenem Augenblick, als sie weglief... o mein Gott, ich erinnere mich!... Kommen Sie, kommen Sie!« rief er, indem er eilig aufsprang und Jewgenij Pawlowitsch am Ärmel mitzog. »Wohin?« »Gehen wir zu Aglaja Iwanowna, gehen wir jetzt gleich!...« »Aber sie ist ja gar nicht in Pawlowsk, ich habe es Ihnen ja schon gesagt, und wozu sollten wir auch hingehen?« »Sie wird es verstehen, sie wird es verstehen!« murmelte der Fürst und faltete wie betend die Hände. »Sie wird verstehen, daß das alles sich nicht so verhält, sondern ganz, ganz anders!« »Wieso ganz anders? Sie wollen ja doch jene Frau heiraten? Also bleiben Sie hartnäckig... Wollen Sie sie heiraten oder nicht?« »Nun ja, ich werde sie heiraten; ja, ich werde sie heiraten!« »Also wie können Sie dann sagen, es verhielte sich nicht so?« »O nein, es verhält sich nicht so, es verhält sich nicht so! Daß ich sie heirate, ist ganz unerheblich, das hat nichts zu bedeuten!« »Wie kann denn das unerheblich sein und nichts zu bedeuten haben? Das sind doch keine Lappalien? Sie heiraten eine geliebte Frau, um sie glücklich zu machen, und Aglaja Iwanowna sieht und weiß das; also wie kann das unerheblich sein?« »Um sie glücklich zu machen? O nein! Ich heirate einfach; sie will es so, und was liegt auch daran, daß ich sie heirate: ich... Nun, das ist ja ganz unerheblich! Aber sie würde sonst sicherlich sterben. Ich sehe jetzt, daß diese Ehe mit Rogoshin ein Wahnsinn war! Ich habe jetzt alles verstanden, was ich früher nicht verstand, und sehen Sie: als die beiden Frauen damals einander gegenüberstanden, da konnte ich Nastasja Filippownas Gesicht nicht ertragen... Sie wissen nicht, Jewgenij Pawlowitsch« (hier dämpfte er seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern), »ich habe das noch nie zu jemandem gesagt, auch zu Aglaja nicht: aber ich kann Nastasja Filippownas Gesicht nicht ertragen... Sie hatten vorhin ganz recht mit dem, was Sie über den damaligen Abend bei Nastasja Filippowna sagten; aber da war noch ein Moment, das Sie ausgelassen haben, weil Sie nichts davon wissen: ich habe ihr Gesicht angeschaut! Schon an jenem Vormittag auf dem Bild hatte ich es nicht ertragen können... Sehen Sie, Wera, Wera Lebedewa, die hat ganz andere Augen; ich... ich fürchte mich vor ihrem Gesicht!« fügte er in großer Angst hinzu. »Sie fürchten sich?« »Ja; sie ist wahnsinnig!« flüsterte er erbleichend. »Sie wissen das bestimmt?« fragte Jewgenij Pawlowitsch höchst interessiert. »Ja, bestimmt; jetzt weiß ich es bereits bestimmt; jetzt, in diesen Tagen, bin ich mir darüber völlig klargeworden!« »Aber was tun Sie sich denn da an?« rief Jewgenij Pawlowitsch erschrocken. »Also heiraten Sie aus Angst? Das ist ja gar nicht zu begreifen... Vielleicht lieben Sie sie auch gar nicht einmal?« »O doch, ich liebe sie von ganzem Herzen! Sie ist ja ein Kind, jetzt ist sie ein Kind, ganz und gar ein Kind! Oh, Sie wissen nur nichts davon!« »Und gleichzeitig haben Sie Aglaja Iwanowna Ihre Liebe beteuert?« »Ja, ja!« »Wie ist das möglich? Also wollen Sie alle beide lieben?« »Ja, ja.« »Ich bitte Sie, Fürst, was reden Sie! Kommen Sie zur Besinnung!« »Ich kann ohne Aglaja nicht leben... ich muß unbedingt mit ihr sprechen! Ich... ich werde bald im Schlaf sterben, ich dachte schon, ich würde in dieser Nacht im Schlaf sterben. Oh, wenn Aglaja es wüßte, alles wüßte, das heißt unbedingt alles. Denn hierbei muß man alles wissen, das ist die erste Bedingung! Warum können wir niemals alles über einen andern erfahren, wenn es doch nötig ist, wenn der andere sich schuldig gemacht hat!... Ich weiß übrigens nicht, was ich rede; ich bin ganz verwirrt; Sie haben mich furchtbar aufgeregt... Hat sie denn wirklich auch jetzt noch ein solches Gesicht wie damals, als sie weglief? O ja, ich habe eine Schuld auf mich geladen! Höchstwahrscheinlich bin ich an allem schuld. Ich weiß noch nicht inwiefern, aber ich bin schuld. Es liegt da etwas vor, was ich Ihnen nicht erklären kann, Jewgenij Pawlowitsch, ich finde nicht die richtigen Ausdrücke, aber ... Aglaja Iwanowna wird es verstehen! Oh, ich habe immer geglaubt, daß sie es verstehen wird.« »Nein, Fürst, sie wird es nicht verstehen! Aglaja Iwanowna hat wie eine Frau, wie ein Mensch geliebt, und nicht wie... wie ein abstrakter Geist. Wissen Sie was, mein armer Fürst: das wahrscheinlichste ist, daß Sie weder die eine noch die andere jemals geliebt haben!« »Ich weiß es nicht... vielleicht haben Sie in vielem recht, Jewgenij Pawlowitsch. Sie sind ein sehr verständiger Mensch, Jewgenij Pawlowitsch; ach, ich bekomme wieder Kopfschmerzen, lassen Sie uns zu ihr gehen! Um Gottes willen, um Gottes willen!« »Aber ich sage Ihnen ja, daß sie nicht in Pawlowsk ist, sie ist in Kolmino.« »Dann wollen wir nach Kolmino fahren, gleich, gleich!« »Das ist un-mög-lich!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch gedehnt und stand auf. »Hören Sie, ich werde einen Brief schreiben; bringen Sie den Brief hin!« »Nein, Fürst, nein! Verschonen Sie mich mit solchen Aufträgen, ich kann sie nicht ausführen!« Sie trennten sich. Jewgenij Pawlowitsch ging mit sonderbaren Eindrücken fort: auch er war zu der Überzeugung gekommen, daß der Fürst nicht ganz bei Sinnen sei. Und was hatte es eigentlich mit diesem Gesicht auf sich, das er fürchtete und das er so liebte? Und gleichzeitig würde er vielleicht wirklich ohne Aglaja sterben, so daß Aglaja vielleicht niemals erfahren würde, wie sehr er sie geliebt hatte! Haha! Und wie konnte er zwei zugleich lieben? Etwa mit zwei verschiedenen Lieben? Interessant... Der arme Idiot! Und was sollte nun aus ihm werden? X Der Fürst starb jedoch nicht vor seiner Hochzeit, weder im Wachen noch »im Schlaf«, wie er es im Gespräch mit Jewgenij Pawlowitsch prophezeit hatte. Vielleicht schlief er wirklich schlecht und hatte schlimme Träume; aber bei Tage, im Verkehr mit Menschen, schien er gesund und sogar zufrieden zu sein, nur manchmal sehr nachdenklich, aber dies nur, wenn er allein war. Mit der Hochzeit hatte man es eilig; sie sollte etwa eine Woche nach Jewgenij Pawlowitschs Besuch stattfinden. Bei solcher Eile hätten selbst die besten Freunde des Fürsten, wenn er solche gehabt hätte, sich in ihren Bemühungen, den unglücklichen Verrückten zu »retten«, getäuscht gesehen. Es ging ein Gerücht, Jewgenij Pawlowitschs Besuch sei teilweise von dem General Iwan Fjodorowitsch und seiner Gattin Lisaweta Prokofjewna veranlaßt worden. Aber wenn sie auch beide in ihrer maßlosen Herzensgüte wünschen mochten, den bedauernswerten Irren vom Abgrund zurückzuhalten, so mußten sie sich natürlich doch auf diesen schwachen Versuch beschränken; weder ihre Lage noch auch vielleicht ihre Herzensstimmung (was nur natürlich war) konnten sie zu ernsthafteren Anstrengungen anregen. Wir haben erwähnt, daß sogar die Personen aus der nächsten Umgebung des Fürsten sich teilweise gegen ihn erklärten. Wera Lebedewa beschränkte sich übrigens darauf, im stillen für sich zu weinen und mehr als früher in ihrer eigenen Wohnung zu sitzen und weniger zum Fürsten hereinzukommen. Kolja verlor in dieser Zeit seinen Vater; der Alte war infolge eines zweiten Schlaganfalles acht Tage nach dem ersten gestorben. Der Fürst nahm großen Anteil an dem Kummer der Familie und brachte in der ersten Zeit täglich einige Stunden bei Nina Alexandrowna zu; er war auch bei der Beerdigung und in der Kirche. Vielen fiel es auf, daß das in der Kirche anwesende Publikum das Erscheinen und Weggehen des Fürsten mit unwillkürlichem Geflüster begleitete; dasselbe geschah auch oft auf der Straße und im Park: wenn er vorbeiging oder vorbeifuhr, fing man an, von ihm zu reden, nannte seinen Namen und zeigte auf ihn; auch Nastasja Filippownas Name war aus diesen Gesprächen herauszuhören. Auch bei der Beerdigung sahen sich die Leute nach ihr um, aber sie war nicht anwesend. Auch die Hauptmannsfrau war nicht bei der Beerdigung; es war Lebedew gelungen, sie rechtzeitig zurückzuhalten. Die Seelenmesse machte auf den Fürsten einen starken, ergreifenden Eindruck; er flüsterte Lebedew in Erwiderung auf eine an ihn gerichtete Frage noch in der Kirche zu, daß dies fast die erste rechtgläubige Seelenmesse sei, der er beiwohne; er erinnere sich nur, einmal in seiner Kindheit bei einer Seelenmesse in einer Dorfkirche zugegen gewesen zu sein. »Ja, es kommt einem vor, als ob da im Sarg gar nicht derselbe Mensch vor einem läge, den wir noch vor kurzem zu unserm Vorsitzenden ernannt haben, erinnern Sie sich?« flüsterte Lebedew dem Fürsten zu. »Wen suchen Sie denn?« »Ich sehe mich nur so um, mir schien ...« »Suchen Sie Rogoshin?« »Ist er etwa hier?« »Ja, er ist in der Kirche.« »Darum war mir auch, als ob seine Augen auftauchten«, murmelte der Fürst in starker Verwirrung. »Aber... warum ist er denn hier? Ist er eingeladen worden?« »Das ist niemandem in den Sinn gekommen. Er ist ja mit der Familie überhaupt nicht bekannt. Hier sind ja allerlei Leute, ein buntes Publikum. Aber warum wundern Sie sich darüber so? Ich treffe ihn jetzt häufig; in der letzten Woche bin ich ihm schon ungefähr viermal hier in Pawlowsk begegnet.« »Ich habe ihn seitdem noch nicht ein einziges Mal gesehen«, murmelte der Fürst. Da auch Nastasja Filippowna ihm nicht mitgeteilt hatte, daß sie Rogoshin »seitdem« gesehen hatte, gelangte der Fürst jetzt zu der Ansicht, daß Rogoshin sich aus irgendeinem Grunde absichtlich nicht zeige. Diesen ganzen Tag über war er sehr nachdenklich, während Nastasja Filippowna den ganzen Tag und den ganzen Abend sich in überaus heiterer Stimmung befand. Kolja, der sich mit dem Fürsten noch vor dem Tod seines Vaters versöhnt hatte, schlug ihm, da die Sache nötig und unaufschiebbar war, als Marschälle Keller und Burdowskij vor. Er verbürgte sich dafür, daß Keller sich anständig benehmen und vielleicht sogar »von Nutzen« sein würde; von Burdowskij brauchte man gar nicht erst zu reden; der war ein stiller, bescheidener Mensch. Nina Alexandrowna und Lebedew bemerkten dem Fürsten, wenn die Hochzeit nun einmal beschlossene Sache sei, warum sie dann gerade in Pawlowsk und noch dazu in der Hochsaison der Sommerfrische so öffentlich gefeiert werden solle? Ob es nicht besser sei, sie in Petersburg und zu Hause zu veranstalten? Dem Fürsten war es durchaus klar, worauf all diese Befürchtungen hinzielten, aber er antwortete kurz und schlicht, dies sei Nastasja Filippownas dringender Wunsch. Am nächsten Tag erschien bei dem Fürsten auch Keller, der benachrichtigt worden war, daß er Hochzeitsmarschall sein solle. Bevor er eintrat, blieb er in der Tür stehen, hob, sobald er den Fürsten erblickte, die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe und rief, als leiste er einen Eid: »Ich werde nicht trinken!« Dann trat er an den Fürsten heran, schloß ihn kräftig in die Arme, schüttelte ihm beide Hände und erklärte, er habe allerdings zu Anfang, als er von der Sache gehört habe, eine feindliche Stellung dagegen eingenommen und das auch beim Billard ausgesprochen, und zwar aus keinem andern Grunde, als weil er dem Fürsten keine andere als die Prinzessin de Rohan zugedacht und mit der Ungeduld eines Freundes täglich auf die Verwirklichung dieses Planes gewartet habe; aber jetzt sehe er selbst, daß der Fürst eine mindestens zwölfmal so edle Gesinnung habe als sie »alle zusammengenommen«! Denn er strebe nicht nach Glanz, nicht nach Reichtum, nicht einmal nach äußerer Ehre, sondern nur nach der Wahrheit! Die Herzensneigungen hochgestellter Persönlichkeiten würden eben durchschaut, und der Fürst stehe durch seine Bildung zu hoch, als daß man ihn, allgemein gesagt, nicht zu den hochgestellten Persönlichkeiten rechnen müßte! »Aber der Pöbel und dieses ganze Gesindel urteilen anders; in der Stadt, in den Häusern, in den Gesellschaften, in den Villen, beim Konzert, in den Trinkstuben und beim Billard hört man über nichts anderes reden und spektakeln als über das bevorstehende Ereignis. Ich habe gehört, daß man Ihnen sogar unter den Fenstern eine Katzenmusik machen will, und zwar in der Hochzeitsnacht! Wenn Sie, Fürst, die Pistole eines ehrenhaften Mannes nötig haben, so bin ich bereit, ein halb Dutzend Schüsse mit diesem Volk zu wechseln, bevor Sie sich noch am nächsten Morgen vom Hochzeitslager erheben.« Er riet auch, um dem großen Andrang Neugieriger entgegenzuwirken, bei der Rückkehr von der Kirche auf, dem Hof eine Feuerspritze bereitzuhalten, aber Lebedew protestierte dagegen: »Wenn wir die Feuerspritze in Gang setzen, schlagen sie mir das ganze Haus zusammen.« »Dieser Lebedew intrigiert gegen Sie, Fürst, bei Gott! Man will Sie unter staatliche Vormundschaft stellen, können Sie sich das denken? Sie mit allem, was drum und dran ist, mit Ihrem freien Willen und mit Ihrem Geld, das heißt mit den beiden Dingen, durch die sich ein jeder von uns von einem Vierfüßler unterscheidet! Ich habe es gehört, aus zuverlässiger Quelle gehört! Es ist die reine Wahrheit!« Der Fürst erinnerte sich, selbst schon etwas Derartiges gehört zu haben, hatte es aber selbstverständlich nicht weiter beachtet. Auch jetzt lachte er nur darüber und vergaß es sofort wieder. Lebedew war wirklich eine Zeitlang in dieser Richtung tätig gewesen; die Spekulationen dieses Menschen gingen immer sozusagen aus einer plötzlichen Eingebung hervor, komplizierten sich dann infolge seines Übereifers, verzweigten sich und entfernten sich von dem ursprünglichen Ausgangspunkt nach allen Seiten; das war der Grund, weshalb ihm in seinem Leben nur so wenig gelang. Als er dann, erst kurz vor dem Hochzeitstag, zum Fürsten beichten kam (er hatte die feststehende Gewohnheit, immer demjenigen zu beichten, gegen den er intrigierte, namentlich wenn seine Intrige nicht glückte), da erklärte er ihm, er sei ein geborener Talleyrand, und es sei unbegreiflich, weshalb er nur ein Lebedew geblieben sei. Dann deckte er ihm sein ganzes Spiel auf, wodurch er das lebhafte Interesse des Fürsten erweckte. Nach seiner Mitteilung hatte er mit dem Versuch begonnen, sich die Protektion hochstehender Persönlichkeiten zu verschaffen, um sich im Notfall auf diese zu stützen, und war zum General Iwan Fjodorowitsch gegangen. General Iwan Fjodorowitsch war erstaunt gewesen; er wünsche, sagte er, dem »jungen Mann« alles Gute, aber trotz seines »lebhaften Wunsches, ihn zu retten«, sei es doch für ihn »nicht passend, hierbei mitzuwirken«. Lisaweta Prokofjewna wollte ihn weder sehen noch hören; Jewgenij Pawlowitsch und Fürst Schtsch. beschränkten sich auf abweisende Handbewegungen. Aber Lebedew verlor nicht den Mut, sondern befragte einen klugen Juristen, einen achtenswerten alten Mann, der mit ihm befreundet und beinah sein Wohltäter war; dieser war der Meinung, die Sache ließe sich sehr wohl durchführen, wenn sich kompetente Zeugen für die geistige Zerrüttung und völlige Gestörtheit fänden; die Hauptsache sei dann noch Protektion seitens hochgestellter Personen. Auch jetzt verzagte Lebedew nicht und brachte einmal sogar einen Arzt zum Fürsten, ebenfalls einen achtenswerten alten Mann, einen Sommerfrischler mit dem Anna-Orden am Hals, einzig und allein, damit dieser sozusagen das Terrain rekognosziere, den Fürsten kennenlerne und ihm vorläufig nicht offiziell, sondern sozusagen freundschaftlich seine Meinung über den Fall mitteile. Der Fürst erinnerte sich an diesen Besuch, den ihm der Arzt gemacht hatte; er erinnerte sich, daß Lebedew schon am Abend vorher ihm nachdrücklich gesagt hatte, er sei krank, und als er, der Fürst, sich entschieden weigerte, Medizin einzunehmen, dann auf einmal mit dem Arzt angekommen war, unter dem Vorwand, sie kämen beide soeben von Herrn Terentjew, dem es sehr schlecht gehe, und der Arzt habe dem Fürsten eine Mitteilung über den Kranken zu machen. Der Fürst lobte Lebedew und empfing den Arzt mit großer Liebenswürdigkeit. Sie kamen sogleich in ein Gespräch über den kranken Ippolit; der Arzt bat den Fürsten, ihm eingehend die damalige Selbstmordszene zu erzählen, und fühlte sich durch seine Schilderung und die Kommentare zu dem Vorfall sehr gefesselt. Sie sprachen dann weiter vom Petersburger Klima, von der eigenen Krankheit des Fürsten, von der Schweiz und von Schneider. Durch die Darlegung der Schneiderschen Kurmethode und durch seine Erzählungen erregte der Fürst das Interesse des Arztes in einem solchen Maße, daß dieser zwei Stunden lang bei ihm saß; er rauchte dabei die vorzüglichen Zigarren des Fürsten, und Lebedew stiftete einen sehr schmackhaften Likör, den Wera hereinbrachte, wobei der Arzt, ein verheirateter Mann und Familienvater, sich vor Wera in eigenartigen Komplimenten erging, durch die er ihre höchste Entrüstung erregte. Sie schieden als Freunde. Als der Arzt das Zimmer des Fürsten verlassen hatte, fragte er Lebedew, wenn man solche Leute alle unter Vormundschaft stellen wolle, was für Menschen man dann noch zu Vormündern nehmen solle. Und als Lebedew pathetisch auf die in Bälde bevorstehende Hochzeit hinwies, schüttelte der Arzt schlau und listig den Kopf und bemerkte endlich, ganz zu schweigen davon, daß unzählige Männer seltsame Ehen eingingen, besitze diese verführerische Person, soviel er wenigstens gehört habe, außer ihrer hervorragenden Schönheit, die schon allein einen vermögenden Mann locken könne, auch Kapitalien von Tozkij und Rogoshin sowie Perlen und Brillanten, Schals und Möbel, und daher bekunde die vorliegende Wahl von Seiten des teuren Fürsten sozusagen nicht nur keine besondere, in die Augen springende Dummheit, sondern sie zeuge sogar von einem feinen Verständnis für materielle Dinge und gutem Rechentalent und führe somit zu einer entgegengesetzten und für den Fürsten sehr günstigen Schlußfolgerung ... Dieser Gedanke hatte auch für Lebedew etwas Einleuchtendes; bei dieser Anschauung verblieb er nun und bemerkte dem Fürsten gegenüber am Ende seiner Beichte: »Jetzt werden Sie von mir nichts anderes zu sehen bekommen als Ergebenheit und Bereitschaft, mein Blut für Sie zu vergießen; deswegen bin ich hergekommen.« Auch Ippolit trug in diesen letzten Tagen dazu bei, die Aufmerksamkeit des Fürsten von dessen eigenen Angelegenheiten abzulenken; er ließ ihn sehr oft zu sich rufen. Sie wohnten nicht weit entfernt in einem kleinen Häuschen; die kleinen Kinder, Ippolits Bruder und Schwester, freuten sich wenigstens insofern über die Sommerfrische, als sie sich vor dem Kranken in den Garten retten konnten; die arme Hauptmannsfrau aber hatte er sich gänzlich Untertan gemacht und zum Opfer seiner Launen erkoren: der Fürst hatte täglich genug zu tun, die Streitenden auseinanderzubringen und zu versöhnen; der Kranke nannte ihn immer noch wie früher seine Kinderfrau, wagte dabei jedoch nicht, über ihn wegen seiner Vermittlerrolle zu spötteln. Er war auf Kolja sehr schlecht zu sprechen, weil dieser fast gar nicht zu ihm kam, da er in der ersten Zeit bei seinem im Sterben liegenden Vater und dann bei seiner verwitweten Mutter blieb. Schließlich machte er die nahe bevorstehende Hochzeit des Fürsten mit Nastasja Filippowna zum Ziel seiner Spöttereien, wodurch er zuletzt den Fürsten tief kränkte und gegen sich aufbrachte; dieser hörte denn auch auf, ihn zu besuchen. Zwei Tage darauf kam morgens die Hauptmannsfrau zu dem Fürsten geschlichen und bat ihn unter Tränen, doch zu ihnen zu kommen; sonst quäle jener sie zu Tode. Sie fügte hinzu, er wünsche, dem Fürsten ein großes Geheimnis mitzuteilen. Der Fürst ging hin. Ippolit wollte sich mit ihm versöhnen, fing an zu weinen, wurde nach den Tränen selbstverständlich noch boshafter, wagte aber nicht, seine Bosheit zum Ausdruck zu bringen. Es ging ihm sehr schlecht, und an allen Anzeichen war zu sehen, daß er jetzt bald sterben würde. Ein Geheimnis hatte er gar nicht mitzuteilen; er sprach nur in dringendem Ton, sozusagen atemlos vor Aufregung (die aber vielleicht gekünstelt war), die Bitte aus, der Fürst möge sich »vor Rogoshin in acht nehmen«. »Das ist ein Mensch, der von seinem Recht niemandem etwas abtritt; der ist von anderer Art, Fürst, als Sie und ich; wenn der etwas will, schrickt er vor nichts zurück...«, und so weiter und so weiter. Der Fürst fing an, eingehendere Fragen zu stellen, und wünschte, irgendwelche Tatsachen zu hören; aber Tatsachen waren keine vorhanden, nur persönliche Gefühle und Empfindungen Ippolits. Zu seiner großen Genugtuung gelang es Ippolit schließlich, den Fürsten in große Angst zu versetzen. Anfangs wollte der Fürst auf einige besondere Fragen des Kranken nicht antworten und lächelte nur über seine Ratschläge, davonzugehen, nötigenfalls sogar ins Ausland; russische Geistliche gebe es überall, und man könne sich auch dort trauen lassen. Zum Schluß aber sprach Ippolit folgenden Gedanken aus: »Ich fürchte ja nur für Aglaja Iwanowna; Rogoshin weiß, wie Sie sie lieben; eine Liebe ist der andern wert; Sie haben ihm Nastasja Filippowna weggenommen; er wird Aglaja Iwanowna töten; obgleich sie jetzt nicht mehr die Ihrige ist, wird das doch für Sie ein großer Schmerz sein, nicht wahr?« Er erreichte damit seine Absicht: der Fürst war, als er von ihm wegging, wie von Sinnen. Diese Warnungen vor Rogoshin erfolgten am Vorabend der Hochzeit. Diesen Abend war der Fürst zum letztenmal vor der Trauung mit Nastasja Filippowna zusammen; aber Nastasja Filippowna war nicht imstande, ihn zu beruhigen, und steigerte sogar im Gegenteil in dieser letzten Zeit seine Unruhe mehr und mehr. Früher, das heißt einige Tage vorher, hatte sie beim Zusammensein mit ihm alle Anstrengungen gemacht, um ihn aufzuheitern, da seine traurige Miene ihr Angst machte; sie hatte sogar versucht, ihm etwas vorzusingen; am häufigsten aber hatte sie ihm aus ihren Erinnerungen allerlei Komisches erzählt. Der Fürst stellte sich dann immer so, als ob er lache, und lachte auch manchmal wirklich über ihren glänzenden Verstand und den frischen Affekt, mit dem sie manchmal erzählte, wenn sie sich hinreißen ließ, und sie ließ sich oft hinreißen. Wenn sie den Fürsten lachen sah und wahrnahm, welchen Eindruck ihre Erzählungen auf ihn machten, geriet sie in Entzücken und wurde stolz auf sich selbst. Jetzt aber wuchs ihre Traurigkeit und Nachdenklichkeit fast mit jeder Stunde. Sein Urteil über Nastasja Filippowna stand bereits fest; sonst wäre ihm natürlich alles an ihr jetzt rätselhaft und unbegreiflich erschienen. Aber er glaubte aufrichtig, daß sie noch gleichsam eine Auferstehung durchmachen könne. Er hatte ganz wahrheitsgemäß zu Jewgenij Pawlowitsch gesagt, daß er sie aufrichtig und herzlich liebe, und in seiner Liebe zu ihr lag wirklich eine Zuneigung wie zu einem bedauernswerten, kranken Kind, das man schwer oder geradezu unmöglich sich selbst überlassen kann. Er legte niemandem seine Gefühle für sie dar und mochte selbst dann nicht davon sprechen, wenn ein solches Gespräch sich nicht ganz vermeiden ließ. Wenn er mit Nastasja Filippowna selbst zusammen war, redeten sie niemals »von ihren Gefühlen«, gerade als hätten sie sich beide das Wort darauf gegeben. An ihrem gewöhnlichen, heiteren und lebhaften Gespräch konnte jeder teilnehmen. Darja Alexejewna erzählte später, es sei ihr diese ganze Zeit eine Freude und ein Genuß gewesen, die beiden anzusehen. Aber dieses sein Urteil über Nastasja Filippownas seelischen und geistigen Zustand befreite ihn zum Teil auch von vielen andern Zweifeln. Jetzt war sie eine ganz andere Frau als jene, die er vor drei Monaten gekannt hatte. Er dachte zum Beispiel jetzt nicht mehr darüber nach, warum sie damals vor der Ehe mit ihm unter Tränen, Verwünschungen und Vorwürfen geflohen war und jetzt selbst auf eine baldige Hochzeit drang. Der Fürst meinte, sie fürchte also nicht mehr wie damals, daß die Ehe mit ihr ihn unglücklich machen werde. Ein so schnell wieder erwachtes Selbstvertrauen konnte seiner Ansicht nach bei ihr nicht natürlich sein. Andrerseits konnte dieses Selbstvertrauen nicht allein aus Haß gegen Aglaja hervorgehen: Nastasja Filippowna vermochte doch etwas tiefer zu empfinden. War es etwa die Furcht vor ihrem Schicksal an Rogoshins Seite? Mit einem Wort: hier mochten alle diese Ursachen, mit noch andern vereint, zusammenwirken; aber ganz klar war ihm, daß hier gerade dasjenige Übel vorlag, das er schon lange geahnt hatte, ein Übel, dem die arme, kranke Seele keinen Widerstand mehr leisten konnte. All dies befreite ihn zwar bis zu einem gewissen Grade von Zweifeln, vermochte ihm aber in dieser ganzen Zeit nicht zu seelischer Ruhe und Erholung zu verhelfen. Manchmal bemühte er sich, an nichts zu denken; die Ehe schien er tatsächlich als eine unwichtige Formalität zu betrachten; auf sein eigenes Schicksal legte er dabei sehr wenig Wert. Was Erörterungen und Gespräche von der Art anlangte, wie er sie mit Jewgenij Pawlowitsch gehabt hatte, so hätte er dabei schlechterdings nichts zu antworten gewußt und fühlte sich dazu völlig unfähig; er ging daher allen derartigen Gesprächen aus dem Weg. Er hatte übrigens bemerkt, daß Nastasja Filippowna sehr wohl wußte und verstand, was Aglaja für ihn bedeutete. Sie sprach nicht darüber, aber er sah, welchen Ausdruck ihr Gesicht annahm; wenn sie ihn manchmal, noch in der ersten Zeit, in dem Augenblick überraschte, wo er sich fertigmachte, um zu Jepantschins zu gehen. Als Jepantschins abreisten, strahlte sie ordentlich. Wie unaufmerksam und achtlos er auch war, so hatte ihn doch der Gedanke beunruhigt, Nastasja Filippowna könne absichtlich einen Skandal herbeiführen, um Aglaja aus Pawlowsk zu vertreiben. Das Gerede und Geklatsch über die Hochzeit in allen Landhäusern war sicherlich zum Teil von Nastasja Filippowna selbst genährt, um ihre Nebenbuhlerin zu reizen. Da es schwer war, der Familie Jepantschin auf der Straße zu begegnen, so ließ Nastasja Filippowna einmal den Fürsten zu sich in den Wagen steigen und gab Befehl, unmittelbar an den Fenstern des Jepantschinschen Landhauses vorbeizufahren. Das war für den Fürsten eine höchst peinliche Überraschung; er merkte es nach seiner Gewohnheit erst, als sich schon nichts mehr daran ändern ließ und der Wagen bereits dicht vor den Fenstern vorbeifuhr. Er sagte nichts, war aber nachher zwei Tage lang krank; Nastasja Filippowna wiederholte dieses Experiment dann nicht zum zweitenmal. In den letzten Tagen vor der Hochzeit wurde sie sehr nachdenklich; sie überwand schließlich jedesmal ihre Traurigkeit und wurde wieder heiter; aber es war eine stillere Heiterkeit, nicht so laut und glückselig wie zuvor und noch vor kurzem. Der Fürst verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Auffallend war ihm, daß sie mit ihm nie von Rogoshin sprach. Nur einmal, etwa fünf Tage vor der Hochzeit, schickte Darja Alexejewna plötzlich zu ihm, er möchte sofort kommen, Nastasja Filippowna befinde sich sehr schlecht. Er fand sie in einem Zustand, der mit völliger Geistesstörung Ähnlichkeit hatte: sie schrie und zitterte und rief, Rogoshin habe sich im Garten bei ihrem Haus versteckt, sie habe ihn soeben gesehen, er werde sie in der Nacht ermorden... ihr den Hals abschneiden! Den ganzen Tag konnte sie sich nicht wieder beruhigen. Aber als an demselben Abend der Fürst auf einen Augenblick zu Ippolit ging, erzählte ihm die Hauptmannsfrau, die soeben von Petersburg zurückgekehrt war, wo sie verschiedene Geschäfte zu erledigen gehabt hatte, es sei dort an diesem Tage Rogoshin zu ihr in die Wohnung gekommen und habe sie über Pawlowsk ausgefragt. Auf die Frage des Fürsten nach der genaueren Zeit, zu welcher Rogoshin bei ihr gewesen sei, gab die Hauptmannsfrau fast dieselbe Stunde an, zu welcher Nastasja Filippowna ihn am gleichen Tage in ihrem Garten gesehen zu haben glaubte. Die Sache erwies sich also als eine einfache Sinnestäuschung: Nastasja Filippowna ging selbst zu der Hauptmannsfrau, um sie genauer zu befragen, und fühlte sich außerordentlich beruhigt. Am Tage vor der Hochzeit befand sich Nastasja Filippowna, als der Fürst sie verließ, in sehr angeregter Stimmung: aus Petersburg war von der Modistin der Hochzeitsstaat für den nächsten Tag eingetroffen, das Hochzeitskleid, der Kopfschmuck und so weiter und so weiter. Der Fürst hatte gar nicht erwartet, daß der Putz auf sie eine so belebende Wirkung ausüben Würde; er selbst lobte alles, und sein Lob erhöhte noch ihre Glückseligkeit. Aber dabei sagte sie etwas mehr, als sie eigentlich gewollt hatte: sie habe bereits gehört, daß im Ort Entrüstung herrsche und wirklich von einigen Taugenichtsen eine Katzenmusik vorbereitet werde, mit eigens für diesen Zweck gedichteten Spottversen, und daß alles dies auch von der übrigen Gesellschaft gutgeheißen werde. Und nun habe sie gerade Lust, den Kopf vor all diesen Leuten noch höher zu tragen und alle durch den Geschmack und Reichtum ihrer Toilette in den Schatten zu stellen, – »mögen sie schreien, mögen sie pfeifen, wenn sie es wagen!« Bei dem bloßen Gedanken daran funkelten ihre Augen. Sie hatte noch eine geheime Hoffnung, sprach sie aber nicht laut aus: sie hoffte, Aglaja oder wenigstens ein Abgesandter von ihr werde ebenfalls inkognito unter dem Publikum in der Kirche sein und die Trauung mit ansehen, und sie bereitete sich darauf im stillen vor. Sie trennte sich gegen elf Uhr abends vom Fürsten, ganz mit diesen Gedanken beschäftigt; aber es hatte noch nicht zwölf geschlagen, als ein Bote von Darja Alexejewna zum Fürsten gelaufen kam: er möchte schnell hinkommen; es stehe sehr schlecht. Als der Fürst hinkam, hatte sich seine Braut im Schlafzimmer eingeschlossen und weinte verzweifelt und krampfhaft; sie wollte lange Zeit nicht auf das hören, was man ihr durch die verschlossene Tür sagte; endlich öffnete sie, ließ nur den Fürsten herein, schloß hinter ihm die Tür wieder zu und fiel vor ihm auf die Knie. (So stellte es wenigstens Darja Alexejewna nachher dar, die einiges hatte erspähen können). »Was tue ich! Was tue ich! Was tue ich dir an!« rief sie, indem sie krampfhaft seine Füße umklammerte. Der Fürst blieb eine ganze Stunde bei ihr; wir wissen nicht, wovon sie miteinander gesprochen haben. Darja Alexejewna erzählte, sie hätten sich nach einer Stunde in beruhigter, glücklicher Stimmung voneinander getrennt. Der Fürst schickte noch einmal in dieser Nacht hin, um sich zu erkundigen, aber Nastasja Filippowna war bereits eingeschlafen. Am Morgen, noch ehe sie aufgewacht war, erschienen noch zwei Boten vom Fürsten bei Darja Alexejewna, und erst der dritte Abgesandte erhielt den Auftrag, zu melden, Nastasja Filippowna sei jetzt von einem ganzen Schwarm von Modistinnen und Friseuren aus Petersburg umgeben, von der gestrigen Aufregung sei auch nicht die Spur mehr vorhanden, sie sei mit ihrer Toilette beschäftigt, wie nur eine so schöne Frau vor der Trauung beschäftigt sein könne, und jetzt, gerade in diesem Augenblick, finde eine wichtige Beratung darüber statt, was von Brillanten angelegt werden solle und wie. Der Fürst beruhigte sich vollständig. Der ganze nachstehende Bericht über diese Hochzeit ist den Erzählungen von Leuten entnommen, die über diese Ereignisse Bescheid wußten, und scheint zuverlässig zu sein. Die Trauung war auf acht Uhr abends angesetzt; Nastasja Filippowna war schon um sieben Uhr fertig. Schon von sechs Uhr an begannen sich allmählich Scharen von Gaffern um Lebedews Landhaus zu sammeln, besonders aber bei Darja Alexejewnas Haus; von sieben Uhr an fing auch die Kirche an, sich zu füllen. Wera Lebedewa und Kolja waren in großer Angst um den Fürsten; indes hatten sie zu Hause viel zu tun: sie arrangierten in der Wohnung des Fürsten alles für den Empfang und die Bewirtung. Übrigens war nach der Trauung fast gar keine Gesellschaft in Aussicht genommen; außer denjenigen Personen, die bei der Eheschließung notwendig zugegen sein mußten, hatte Lebedew noch Ptizyns, Ganja, den Arzt mit dem Anna-Orden und Darja Alexejewna eingeladen. Als der Fürst ihn verwundert fragte, wie er denn darauf gekommen sei, den Arzt einzuladen, der ihnen ja fast ganz unbekannt sei, antwortete Lebedew selbstgefällig: »Er hat einen Orden am Halse, ist ein respektabler Herr, eine schöne Dekoration«, und brachte dadurch den Fürsten zum Lachen. Keller und Burdowskij sahen in Frack und Handschuhen sehr anständig aus; nur setzte Keller immer noch den Fürsten und seine Vertrauten durch seine unverhohlene Kampfeslust in Verlegenheit und warf den Gaffern, die sich um das Haus gesammelt hatten, feindselige Blicke zu. Endlich, um halb acht, begab sich der Fürst im Wagen nach der Kirche. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß er selbst absichtlich nichts von den herkömmlichen Sitten und Gebräuchen unterlassen wollte; alles vollzog sich in voller Öffentlichkeit und »wie es sich gehört«. In der Kirche schritt er mit Mühe durch die Volksmenge unter ununterbrochenem Geflüster und lauten Bemerkungen des Publikums, geleitet von Keller, der drohende Blicke nach rechts und links richtete; dann verschwand der Fürst für einige Zeit im Altarraum. Keller aber begab sich fort, um die Braut zu holen, und fand vor Darja Alexejewnas Haustür eine Menschenmenge, die nicht nur zwei- oder dreimal so dicht war wie bei dem Fürsten, sondern vielleicht auch dreimal so ausgelassen. Als er die Stufen vor der Haustür hinanstieg, hörte er solche Bemerkungen, daß er sich nicht beherrschen konnte und sich bereits zum Publikum umwandte mit der Absicht, eine kräftige Ansprache zu halten; aber zum Glück hielten Burdowskij und Darja Alexejewna selbst, die die Stufen hinuntergelaufen kam, ihn noch davon zurück; sie faßten ihn an und zogen ihn mit Gewalt in die Wohnung hinein. Keller befand sich in gereizter Stimmung und drängte zur Eile. Nastasja Filippowna erhob sich, blickte noch einmal in den Spiegel, bemerkte »mit einem schiefen Lächeln«, wie Keller nachher erzählte, daß sie »leichenblaß« aussehe, verbeugte sich andächtig vor dem Heiligenbild und trat aus der Haustür. Ein dumpfes Gemurmel begrüßte ihr Erscheinen. Im ersten Augenblick erscholl Gelächter, Beifallklatschen, vereinzeltes Pfeifen; einen Augenblick darauf ließen sich auch mündliche Äußerungen vernehmen: »So eine Schönheit!« wurde in der Menge gerufen. »Sie ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein!« »Der Brautkranz deckt alles zu, ihr Dummköpfe!« »Nein, so eine Schönheit kann man lange suchen, hurra!« riefen die Nächststehenden. »Eine Fürstin! Um einer solchen Fürstin willen würde ich meine Seele verkaufen!« schrie ein Kanzlist. »Mein Leben gäbe ich hin für eine Nacht!...« Nastasja Filippowna war, als sie heraustrat, wirklich bleich wie Leinwand; aber ihre großen schwarzen Augen funkelten die Menge an wie glühende Kohlen; diesem Blick konnte die Menge nicht widerstehen; die Entrüstung verwandelte sich in ein enthusiastisches Geschrei. Schon war der Wagenschlag geöffnet, schon bot Keller der Braut den Arm, als sie plötzlich aufschrie und sich von den Stufen vor der Haustür gerade in die Volksmenge hineinstürzte. Alle ihre Begleiter standen starr vor Staunen, die Menge trat vor ihr auseinander, und fünf oder sechs Schritte von der Haustür entfernt erschien plötzlich Rogoshin. Sein Blick war es gewesen, den Nastasja Filippowna in der Menge aufgefangen hatte. Sie lief wie ein Wahnsinnige zu ihm hin und ergriff seine beiden Hände. »Rette mich! Schaffe mich weg! Wohin du willst, sofort!« Rogoshin nahm sie beinahe auf die Arme und trug sie fast zum Wagen hin. Darauf zog er in einem Augenblick aus seinem Portemonnaie einen Hundertrubelschein und reichte ihn dem Kutscher hin. »Nach dem Bahnhof, und wenn du noch zum Zuge hinkommst, bekommst du noch einen Hunderter!« Damit sprang er selbst hinter Nastasja Filippowna in den Wagen und warf den Schlag zu. Der Kutscher überlegte nicht einen Augenblick und schlug auf die Pferde los. Keller schob nachher alles auf das Überraschende des Vorgangs: »Noch eine Sekunde, und ich hätte mich gefaßt gehabt, dann hätte ich es nicht geschehen lassen!« erklärte er, als er über das Geschehene berichtete. Er nahm sich schnell mit Burdowskij einen andern Wagen, der zufällig dort stand, und machte sich an die Verfolgung, aber unterwegs änderte er seine Absicht. »Es ist jedenfalls zu spät!« sagte er. »Mit Gewalt kann man sie nicht wiederholen!« »Auch der Fürst würde es nicht wollen!« bemerkte der tief ergriffene Burdowskij. Rogoshin und Nastasja Filippowna kamen noch rechtzeitig zum Bahnhof. Nachdem sie aus dem Wagen ausgestiegen waren, fand Rogoshin, fast schon im Begriff, in den Zug zu steigen, doch noch Zeit, ein vorübergehendes Mädchen in einem alten, aber anständigen, dunklen Umhang und einem Kopftuch anzuhalten. »Wollen Sie mir für fünfzig Rubel Ihren Umhang überlassen?« fragte er, indem er dem Mädchen das Geld hinhielt. Während das Mädchen noch staunte und vergeblich den Zusammenhang zu begreifen suchte, hatte er ihr schon einen Fünfzigrubelschein in die Hand geschoben, ihr den Umhang nebst dem Tuch abgenommen und beides Nastasja Filippowna über die Schultern und den Kopf geworfen. Ihre allzu prächtige Toilette fiel in die Augen und würde im Eisenbahnwagen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, und erst nachher verstand das Mädchen, warum ihr jemand ihre alten, wertlosen Kleidungsstücke mit solchem Profit für sie abgekauft hatte. Das Gerücht von dem merkwürdigen Ereignis gelangte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der Kirche. Als Keller zum Fürsten kam, stürzten eine Menge ihm ganz unbekannter Leute auf ihn zu, um ihn auszufragen. Man redete laut über die Sache, schüttelte den Kopf und lachte sogar; niemand verließ die Kirche; alle warteten sie darauf, wie der Bräutigam die Nachricht aufnehmen würde. Er wurde etwas blaß, hörte aber die Mitteilung mit Ruhe an und sagte kaum hörbar: »Befürchtungen hatte ich; aber ich hatte doch nicht gedacht, daß gerade dies...« Und dann fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu: »Übrigens ... bei ihrem Zustand... ist das durchaus erklärlich.« Eine solche Äußerung nannte nachher Keller selbst »beispiellos philosophisch«. Der Fürst verließ die Kirche anscheinend ruhig und gefaßt; wenigstens hatten viele diesen Eindruck und erzählten es nachher. Wie es schien, war ihm vor allem darum zu tun, nach Hause zu kommen und möglichst bald allein zu sein; aber dieses letztere vergönnte man ihm nicht. Hinter ihm traten mehrere der Eingeladenen ins Zimmer, unter anderm Ptizyn, Gawrila Ardalionowitsch und mit ihnen auch der Arzt, der ebenfalls noch nicht fortzugehen gedachte. Außerdem war das Haus von einer Schar von Müßiggängern buchstäblich belagert. Als der Fürst noch in der Veranda war, hörte er, wie Keller und Lebedew in heftigen Streit mit einigen ganz unbekannten, aber anscheinend dem Beamtenstand angehörenden Leuten gerieten, die um jeden Preis in die Veranda einzudringen suchten. Der Fürst trat zu den Streitenden hin, erkundigte sich, um was es sich handle, schob Lebedew und Keller höflich beiseite, wandte sich liebenswürdig an einen schon grauhaarigen, behäbigen Herrn, der auf den Stufen der Freitreppe an der Spitze mehrerer Neugieriger stand, und lud ihn ein, ob er nicht die Güte haben und ihm die Ehre seines Besuches erweisen wolle. Der Herr wurde verlegen, trat aber doch näher; ihm folgte ein zweiter und ein dritter. Aus dem ganzen Haufen fanden sich sieben bis acht Menschen, die zu einem Besuch Lust hatten und eintraten, wobei sie sich Mühe gaben, es möglichst ungeniert zu tun; aber weiter bekundete niemand mehr Verlangen, und in der Menge selbst begann man bald, die Vorwitzigen zu tadeln. Die Eingetretenen wurden gebeten, Platz zu nehmen, ein Gespräch kam in Gang, es wurde Tee gereicht: alles vollzog sich in sehr anständigen, gesitteten Formen, zur größten Verwunderung der Eindringlinge. Allerdings wurden von diesen einige Versuche unternommen, dem Gespräch eine heitere Wendung zu geben und es auf das »richtige Thema« zu bringen; auch wurden einige indiskrete Fragen gestellt und einige »kühne« Bemerkungen gemacht. Aber der Fürst antwortete allen so schlicht und freundlich und gleichzeitig in so würdevoller Weise, mit solchem Vertrauen auf die Anständigkeit seiner Gäste, daß die unbescheidenen Fragen ganz von selbst verstummten. Allmählich begann das Gespräch beinah einen ernsten Charakter anzunehmen. Ein etwas streitsüchtiger Herr beteuerte plötzlich mit großer Entrüstung, er werde sein Gut jetzt nicht verkaufen, was auch immer geschehen möge; er werde vielmehr den richtigen Zeitpunkt abpassen, Unternehmungen seien besser als Geld: »Sehen Sie, mein Herr, darin besteht meine wirtschaftliche Methode, ich mache kein Geheimnis daraus.« Da er sich mit seiner Bemerkung an den Fürsten gewandt hatte, spendete dieser ihm lebhaften Beifall, obwohl Lebedew ihm ins Ohr flüsterte, daß dieser Herr weder Haus noch Hof besitze und niemals ein Gut gehabt habe. So war beinah eine Stunde vergangen, der Tee war ausgetrunken, und nun wurde es den Gästen doch endlich peinlich, noch länger dazubleiben. Der Arzt und der grauhaarige Herr nahmen von dem Fürsten bewegt Abschied, und auch alle andern empfahlen sich freundlich und geräuschvoll. Gute Wünsche wurden ausgesprochen sowie Ansichten folgender Art: »Deswegen braucht man den Kopf noch nicht hängen zu lassen, vielleicht ist es so auch am besten«, und so weiter. Es wurden allerdings auch Versuche gemacht, Champagner zu verlangen, aber die älteren unter den Gästen hielten die jüngeren zurück. Als alle weggegangen waren, beugte sich Keller zu Lebedew hin und sagte zu ihm: »Wir beide, du und ich, hätten ein großes Geschrei erhoben, eine Schlägerei veranstaltet, uns unwürdig benommen und uns die Polizei auf den Hals geholt; aber er, siehst du wohl, hat sich neue Freunde erworben, und noch dazu was für welche; ich kenne sie!« Lebedew, der ziemlich »fertig« war, seufzte und erwiderte: »Er hat es den Weisen und Klugen verborgen und den Kindlein offenbaret; das habe ich schon früher über ihn gesagt, und jetzt füge ich hinzu: Gott hat auch dieses Kindlein selbst bewahrt und vom Abgrund errettet. Er und alle seine Heiligen!« Endlich, um halb elf, ließen alle den Fürsten allein; der Kopf tat ihm weh; als letzter ging Kolja weg, nachdem er ihm noch behilflich gewesen war, den Hochzeitsanzug mit der Hauskleidung zu vertauschen. Sie nahmen voneinander sehr herzlich Abschied. Kolja redete nicht über das Geschehene, versprach aber, morgen recht früh wiederzukommen. Er bezeugte später, der Fürst habe ihm bei diesem letzten Abschied nichts angedeutet, also auch vor ihm seine Absichten geheimgehalten. Bald war im ganzen Hause fast niemand mehr zurückgeblieben: Burdowskij war zu Ippolit gegangen; Keller und Lebedew hatten sich zusammen irgendwohin begeben. Nur Wera Lebedewa blieb noch einige Zeit in den Zimmern und brachte sie schleunigst aus dem festtäglichen wieder in ihren gewöhnlichen Zustand. Als sie wegging, blickte sie zum Fürsten hinein. Er saß am Tisch, auf beide Ellbogen gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie trat leise an ihn heran und berührte ihn an der Schulter; der Fürst blickte sie verständnislos an und schien sich eine ganze Weile zu besinnen; als er dann aber zu sich kam und sich an alles erinnerte, geriet er plötzlich in große Erregung. Das Ende war übrigens, daß er Wera dringend bat, sie möchte doch morgen früh zum ersten Zug um sieben Uhr an seine Tür klopfen. Wera versprach es; der Fürst bat sie inständig, niemandem etwas davon mitzuteilen; sie versprach auch dies, und zuletzt, als sie schon die Tür geöffnet hatte, um hinauszugehen, hielt der Fürst sie noch ein drittes Mal zurück, ergriff ihre beiden Hände, küßte sie, küßte dann auch Wera selbst auf die Stirn und sagte mit einem »ganz besonderen« Gesichtsausdrucke zu ihr: »Bis morgen!« So wenigstens berichtete Wera nachher. Sie ging in großer Angst um ihn fort. Am Morgen fühlte sie sich einigermaßen beruhigt, als sie um sieben Uhr der Verabredung gemäß an seine Tür geklopft und ihn benachrichtigt hatte, daß der Zug nach Petersburg in einer Viertelstunde abgehe; es schien ihr, er habe, als er die Tür öffnete, ganz frisch ausgesehen und sogar gelächelt. Er hatte sich in der Nacht fast gar nicht ausgekleidet, aber doch geschlafen. Er äußerte, möglicherweise werde er noch am gleichen Tag zurückkommen. Somit war sie die einzige, der er in diesem Augenblick für möglich und notwendig befunden hatte mitzuteilen, daß er nach der Stadt fahre. XI Eine Stunde darauf war er bereits in Petersburg, und zwischen neun und zehn Uhr klingelte er bei Rogoshin. Er hatte das Haus durch den Haupteingang betreten, und es wurde ihm lange nicht geöffnet. Endlich öffnete sich die Tür zur Wohnung der alten Rogoshina, und es erschien die alte, würdig aussehende Dienerin. »Parfen Semjonowitsch ist nicht zu Hause«, meldete sie, in der Tür stehend. »Zu wem wollten Sie?« »Zu Parfen Semjonowitsch.« »Er ist nicht zu Hause.« Die Dienerin betrachtete den Fürsten mit sonderbarer Neugier. »Sagen Sie mir wenigstens, ob er die Nacht über zu Hause gewesen ist! Und... ist er gestern allein zurückgekommen?« Die Dienerin fuhr fort, ihn anzusehen, gab aber keine Antwort. »War nicht gestern ... gegen Abend ... Nastasja Filippowna mit ihm zusammen hier?« »Gestatten Sie die Frage, wer Sie selbst sind!« »Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, wir sind sehr gut miteinander bekannt.« »Er ist nicht zu Hause.« Die Dienerin schlug die Augen nieder. »Und Nastasja Filippowna?« »Davon weiß ich nichts.« »Warten Sie, warten Sie! Wann wird er denn wiederkommen?« »Das weiß ich auch nicht.« Die Tür schloß sich. Der Fürst beschloß, nach einer Stunde wiederzukommen. Als er in den Hof hineinschaute, fand er dort den Hausknecht. »Ist Parfen Semjonowitsch zu Hause?« »Jawohl.« »Wie kommt es denn, daß mir soeben gesagt wurde, er wäre nicht zu Hause?« »Ist Ihnen das in seiner Wohnung gesagt worden?« »Nein, es war die Dienerin seiner Mutter; bei Parfen Semjonowitsch habe ich geklingelt, aber es wurde nicht geöffnet.« »Vielleicht ist er auch ausgegangen«, meinte der Hausknecht. »Er meldet das nicht an. Manchmal nimmt er auch den Schlüssel mit, dann bleibt die Wohnung drei Tage lang verschlossen.« »Daß er gestern zu Hause war, weißt du bestimmt?« »Ja, er war zu Hause. Manchmal kommt er vom Haupteingang her; dann sieht ihn unsereiner gar nicht.« »Und Nastasja Filippowna war gestern nicht bei ihm?« »Das weiß ich nicht. Sie geruht nicht oft zu kommen; man würde es doch wohl wissen, wenn sie gekommen wäre.« Der Fürst ging hinaus und wanderte eine Weile in Gedanken versunken auf dem Gehsteig hin und her. Die Fenster der von Rogoshin bewohnten Zimmer waren sämtlich geschlossen; die Fenster der von seiner Mutter bewohnten Seite standen fast alle offen. Es war ein heller, heißer Tag; der Fürst ging quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig, stellte sich dort hin und blickte noch einmal nach den Fenstern: sie waren nicht nur geschlossen, sondern es waren auch fast bei allen die weißen Vorhänge heruntergelassen. Er stand ein Weilchen da, und – seltsam – auf einmal schien es ihm, als ob der Rand eines Vorhangs ein wenig zur Seite geschoben und Rogoshins Gesicht sichtbar würde und in demselben Augenblick wieder verschwände. Er wartete noch eine kurze Zeit und wollte schon hingehen und noch einmal klingeln, änderte aber dann seine Absicht und verschob es um eine Stunde: ›Wer weiß, vielleicht ist es mir nur so vorgekommen...‹ Vor allen Dingen eilte er jetzt zum Ismailowskij Polk, nach der Wohnung, die Nastasja Filippowna noch unlängst innegehabt hatte. Es war ihm bekannt, daß sie, als sie auf seine Bitte vor drei Wochen aus Pawlowsk weggezogen war, sich im Ismailowskij Polk bei einer früheren guten Bekannten von ihr einquartiert hatte, einer Lehrerwitwe, einer achtbaren und kinderreichen Dame, die einen Teil ihrer Wohnung gut möbliert weitervermietete und davon fast ganz lebte. Das wahrscheinlichste war, daß Nastasja Filippowna, als sie wieder nach Pawlowsk übersiedelte, die Wohnung behalten hatte; wenigstens war sehr wahrscheinlich, daß sie jetzt in dieser Wohnung, in die sie gestern wohl von Rogoshin gebracht worden war, übernachtet hatte. Der Fürst nahm eine Droschke. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß er hier hätte anfangen sollen, da es unwahrscheinlich sei, daß sie in der Nacht direkt zu Rogoshin gefahren wäre. Dabei mußte er auch an die Bemerkung des Hausknechts denken, daß Nastasja Filippowna nicht häufig ins Haus gekommen sei. Wenn sie überhaupt nur selten hinkam, aus welchem Grund sollte sie dann gerade jetzt bei Rogoshin eingekehrt sein? Sich mit diesen Tröstungen ermutigend, gelangte der Fürst endlich mehr tot als lebendig zum Ismailowskij Polk. Zu seiner großen Überraschung hatte man bei der Lehrerwitwe weder am vorhergehenden noch an diesem Tage etwas von Nastasja Filippowna gehört, aber alle kamen herausgelaufen, um ihn wie ein Wundertier anzustaunen. Die ganze zahlreiche Familie der Lehrerwitwe, lauter Mädchen, immer ein Jahr auseinander, im Alter von fünfzehn bis zu sieben Jahren, kam hinter der Mutter her und umringte ihn mit offenem Mund. Hinter ihnen erschien auch ihre hagere, gelbe Tante mit einem schwarzen Kopftuch, und endlich die Großmutter der Familie, eine alte Dame mit einer Brille. Die Lehrerwitwe bat ihn dringend, einzutreten und sich zu setzen, was der Fürst auch tat. Er merkte sofort, daß ihnen durchaus bekannt war, wer er war, und daß sie genau wußten, daß gestern seine Hochzeit hatte sein sollen, und nun den brennenden Wunsch hatten, ihn sowohl nach der Hochzeit zu fragen als auch eine Erklärung des wunderlichen Umstandes zu erhalten, daß er sich jetzt bei ihnen nach derjenigen erkundigte, die jetzt nirgends sonst als in Pawlowsk mit ihm hätte zusammensein sollen, daß aber ihr Taktgefühl sie von diesen Fragen zurückhielt. In kurzen Zügen befriedigte er ihre Neugier hinsichtlich der Hochzeit. Nun fingen sie an, ihr Erstaunen zu äußern und »ach!« und »oh!« zu rufen, so daß er sich genötigt sah, auch fast alles übrige zu erzählen, natürlich mit Beschränkung auf die Hauptpunkte. Endlich kam der Rat der weisen, aufgeregten Damen zu dem Schluß, der Fürst müsse unter allen Umständen und vor allen Dingen sich den Zutritt zu Rogoshin erzwingen und sich von ihm über alles positive Auskunft geben lassen. Wenn Rogoshin nicht zu Hause sei (was zuverlässig festgestellt werden müsse) oder nichts sagen wolle, so müsse der Fürst zum Semjonowskij Polk fahren, zu einer deutschen Dame, einer Bekannten von Nastasja Filippowna, die dort mit ihrer Mutter wohne: vielleicht habe Nastasja Filippowna in ihrer Aufregung und in dem Wunsch, sich verborgen zu halten, bei denen übernachtet. Der Fürst erhob sich in sehr bedrückter Stimmung; die Damen erzählten später, er sei »furchtbar blaß« geworden; tatsächlich konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Endlich hörte er aus dem schrecklichen Stimmengewirr heraus, daß sie sich verabredeten, ihm behilflich zu sein, und ihn nach seiner Adresse in der Stadt fragten. Eine Adresse, unter der er zu erreichen gewesen wäre, hatte er gar nicht, und so rieten sie ihm denn, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen. Der Fürst überlegte ein Weilchen und gab ihnen dann die Adresse seines früheren Gasthauses an, desselben, wo er vor fünf Wochen den Anfall gehabt hatte. Dann begab er sich wieder zu Rogoshin. Dieses Mal wurde nicht nur bei Rogoshin nicht geöffnet, sondern auch die Tür zur Wohnung der alten Mutter blieb geschlossen. Der Fürst begab sich zum Hausknecht und fand ihn mit Mühe auf dem Hof; der Hausknecht war irgendwie beschäftigt und antwortete kaum, er sah den Fürsten sogar kaum an, aber er erklärte doch mit Bestimmtheit, Parfen Semjonowitsch sei ganz früh weggegangen, er sei nach Pawlowsk gefahren und werde heute nicht mehr nach Hause kommen. »Ich werde warten; vielleicht kommt er am Abend?« »Vielleicht bleibt er auch eine Woche weg, wer kann das wissen?« »Also hat er doch heute hier übernachtet?« »Übernachtet hat er hier schon ...« All dies war verdächtig und unheimlich. Sehr möglich, daß der Hausknecht in der Zwischenzeit neue Instruktionen erhalten hatte: vorhin war er geradezu redselig gewesen, und jetzt wandte er sich einfach vom Fürsten ab. Aber der Fürst beschloß, nach zwei Stunden noch einmal wiederzukommen und, wenn nötig, sogar bei dem Haus Wache zu halten; jetzt aber blieb noch die Hoffnung auf die Deutsche, und er fuhr eiligst zum Semjonowskij Polk. Aber bei der Deutschen fand er überhaupt kein Verständnis für seine Wünsche. Aus einigen flüchtigen Andeutungen konnte er sogar entnehmen, daß die schöne Deutsche sich vor ungefähr vierzehn Tagen mit Nastasja Filippowna überworfen hatte, so daß sie alle diese Tage von ihr nichts gehört hatte und jetzt ausdrücklich zu verstehen gab, es interessiere sie gar nicht, wieder von ihr zu hören, »und wenn sie alle Fürsten der Welt heiratet«. Der Fürst beeilte sich, wieder wegzugehen. Es kam ihm unter anderm der Gedanke, sie sei vielleicht wie damals nach Moskau gefahren und Rogoshin selbstverständlich hinter ihr her, vielleicht aber auch mit ihr zusammen. ›Wenn man wenigstens irgendwelche Spuren finden könnte!‹ dachte er. Er erinnerte sich jedoch, daß er in dem Gasthaus Quartier nehmen mußte, und eilte nach der Litejnaja-Straße; dort wies man ihm sogleich ein Zimmer an. Der Kellner fragte ihn, ob er etwas essen wolle; er bejahte in seiner Zerstreutheit und war, als er dann seine Gedanken gesammelt hatte, sehr ärgerlich auf sich selbst, weil das Essen ihn unnötigerweise eine halbe Stunde aufhielt; erst nachher fiel ihm ein, daß ihn ja nichts gehindert hätte, das bestellte Essen im Stich zu lassen. Eine sonderbare Empfindung bemächtigte sich seiner in diesem halbdunklen, heißen Korridor, eine Empfindung, die qualvoll danach strebte, sich in einen Gedanken zu verwandeln; aber er konnte absolut nicht erraten, worin dieser neue, sich aufdrängende Gedanke eigentlich bestand. Als er endlich das Gasthaus verließ, war er kaum bei Sinnen; ihn schwindelte, aber wohin sollte er fahren? Er eilte wieder zu Rogoshin. Rogoshin war nicht zurückgekehrt; auf sein Klingeln wurde nicht geöffnet; er klingelte bei der alten Rogoshina; es wurde geöffnet und ihm gesagt, Parfen Semjonowitsch sei nicht da und werde vielleicht drei Tage wegbleiben. Auffällig war dem Fürsten, daß die Dienerin ihn wie früher mit einer seltsamen Neugier musterte. Den Hausknecht fand er diesmal überhaupt nicht. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ging er wie das vorige Mal auf den gegenüberliegenden Gehsteig, sah nach den Fenstern und wanderte in der drückenden Hitze eine halbe Stunde, vielleicht auch noch länger, auf und ab; aber dieses Mal bewegte sich nichts; die Fenster öffneten sich nicht; die weißen Vorhänge waren unbeweglich. Er sagte sich endgültig, daß es ihm gewiß auch vorhin nur so vorgekommen sei und daß die Fenster allem Anschein nach so trübe und so lange nicht geputzt seien, daß man es schwer erkennen könne, wenn wirklich jemand durch die Scheiben sähe. Erfreut über diesen Gedanken, fuhr er wieder zum Ismailowskij Polk zu der Lehrerwitwe. Dort erwartete man ihn bereits. Die Lehrerwitwe war schon an drei, vier Stellen gewesen und sogar selbst zu Rogoshin gefahren, hatte aber nicht die geringste Spur gefunden. Der Fürst hörte schweigend zu, trat ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte alle an, als verstünde er gar nicht, wovon sie redeten. Sonderbar: bald war er außerordentlich aufmerksam, bald wurde er auf einmal wieder in unglaublichem Maße zerstreut. Die ganze Familie erklärte später, er sei an diesem Tag »ein ganz erstaunlich sonderbarer Mensch« gewesen, so daß sich vielleicht damals schon alles bei ihm »angedeutet« habe. Er stand schließlich auf und bat, man möchte ihm die früher von Nastasja Filippowna bewohnten Zimmer zeigen. Dies waren zwei große, helle, hohe, sehr anständig möblierte Zimmer, deren Mietspreis ziemlich hoch war. Alle diese Damen erzählten später, der Fürst habe in den Zimmern jeden Gegenstand betrachtet, er habe auf einem Tischchen ein aufgeschlagenes Buch aus der Leihbibliothek gesehen, den französischen Roman »Madame Bovary«, habe an der aufgeschlagenen Stelle die Ecke eines Blattes umgebogen, um die Erlaubnis gebeten, das Buch mitnehmen zu dürfen, und ohne auf den Einwand zu hören, daß es Eigentum der Leihbibliothek sei, es sofort in die Tasche gesteckt. Er habe sich an das offene Fenster gesetzt und, als er den mit Kreide vollgeschriebenen Spieltisch bemerkt habe, gefragt, wer da gespielt habe. Sie hätten ihm erzählt, Nastasja Filippowna habe jeden Abend mit Rogoshin Schafskopf, Préférence, Müller, Whist, Eigentrumpf und alle möglichen Spiele gespielt, das Kartenspielen sei bei ihnen erst in der letzten Zeit, nach der Übersiedlung von Pawlowsk nach Petersburg, aufgekommen, denn Nastasja Filippowna habe immer geklagt, sie langweile sich, und Rogoshin sitze die ganzen Abende schweigend da und wisse über nichts zu reden, und sie habe sogar häufig darüber geweint; da habe Rogoshin eines Abends auf einmal ein Spiel Karten aus der Tasche gezogen; Nastasja Filippowna habe laut aufgelacht, und sie hätten angefangen zu spielen. Der Fürst fragte, wo die Karten seien, mit denen sie gespielt hätten. Aber die Karten waren nicht zu finden; die Karten hatte Rogoshin immer selbst in der Tasche mitgebracht, jeden Tag ein neues Spiel, und dann wieder mit fortgenommen. Die Damen rieten ihm, noch einmal zu Rogoshin zu fahren und noch einmal möglichst stark zu klingeln und zu klopfen, aber nicht sogleich, sondern erst am Abend: »Vielleicht findet er sich doch noch ein.« Die Lehrerwitwe erbot sich, inzwischen selbst vor Abend nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna zu fahren, ob dort irgend etwas bekannt sei. Sie baten den Fürsten, jedenfalls um zehn Uhr abends noch einmal zu ihnen zu kommen, damit sie für den nächsten Tag Verabredungen treffen könnten. Obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten und ihm Hoffnung zu machen suchten, hatte sich doch völlige Verzweiflung der Seele des Fürsten bemächtigt. In unbeschreiblichem Kummer ging er zu Fuß nach seinem Gasthaus zurück. In dem sommerlichen, staubigen, stickigen Petersburg fühlte er sich wie in einem Schraubstock; er drängte sich zwischen grobem oder betrunkenem Volk durch, blickte ziellos in allerlei Gesichter und machte vielleicht einen weiten Umweg; es war schon beinahe Abend, als er im Gasthaus in sein Zimmer trat. Er beschloß, sich ein Weilchen zu erholen und dann wieder zu Rogoshin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach. Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Ihm fiel Wera Lebedewa ein; dann dachte er, daß Lebedew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoshin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoshin selbst: an dessen Anwesenheit neulich bei der Seelenmesse, dann an die Begegnung im Park, dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als Rogoshin sich in dem Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf. Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoshin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen würde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoshin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoshin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen würde, ihn hier zu finden... wenn er ihn sehr brauchte. Und wie konnte man wissen, vielleicht brauchte er ihn wirklich schon sehr nötig. So dachte er, und dieser Gedanke schien ihm durchaus möglich. Er wäre, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen, manche Fragen befriedigend zu beantworten: ›Warum soll Rogoshin mich plötzlich so dringend brauchen, und warum ist es sogar ausgeschlossen, daß wir nicht schließlich zusammenkommen?‹ Aber der Fürst sagte sich in sehr bedrückter Stimmung weiter: ›Wenn es ihm gut geht, wird er nicht kommen; eher wenn es ihm schlecht geht, und es wird ihm gewiß schlecht gehen...‹ Bei dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoshin zu Hause, im Hotelzimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen, er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. ›Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?‹ ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging durch das Tor, trat auf den Gehsteig hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr: »Lew Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich brauche dich.« Es war Rogoshin. Sonderbar: der Fürst begann auf einmal, vor Freude stammelnd und die Worte kaum zu Ende sprechend, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe. »Ich war dort«, erwiderte Rogoshin zu seiner Überraschung. »Komm mit!« Der Fürst wunderte sich über diese Antwort, aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoshin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt voraus, er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus. »Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht... wenn du doch im Gasthaus warst?« fragte der Fürst auf einmal. Rogoshin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, als verstünde er die Frage nicht: »Weißt du was, Lew Nikolajewitsch, geh du hier geradeaus bis dicht an unser Haus, verstehst du? Ich gehe auf der anderen Seite. Aber paß auf, daß wir nicht auseinanderkommen!...« Nach diesen Worten ging er quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig hinüber, sah sich um, ob der Fürst auch weitergehe, und als er bemerkte, daß dieser stehengeblieben war und mit weitgeöffneten Augen nach ihm hinblickte, machte er ihm mit der Hand ein Zeichen nach der Gorochowaja-Straße zu und ging dann weiter, indem er sich alle Augenblicke nach dem Fürsten hinwandte und ihn zum Nachkommen aufforderte. Er war augenscheinlich beruhigt, als er sah, daß der Fürst ihn verstanden hatte und nicht von dem andern Gehsteig zu ihm herüberkam. Dem Fürsten ging der Gedanke durch den Kopf, daß Rogoshin wohl nach jemand Ausschau halten und ihn nicht auf der Straße unbemerkt vorbeigehen lassen wolle und darum nach dem andern Gehsteig hinübergegangen sei. ›Aber warum hat er denn nicht gesagt, nach wem er Ausschau hält?‹ fragte er sich. So gingen sie etwa fünfhundert Schritte, und auf einmal begann der Fürst aus irgendeinem Grund zu zittern; Rogoshin sah sich immer noch um, wenn auch jetzt seltener; der Fürst konnte seine Angst nicht mehr ertragen und winkte ihm mit der Hand. Der kam sofort über die Straße zu ihm herüber. »Ist Nastasja Filippowna etwa bei dir?« »Ja, sie ist bei mir.« »Hast du vorhin hinter dem Vorhang nach mir durchs Fenster gesehen?« »Ja...« »Warum hast du denn ...« Aber der Fürst wußte nicht, was er weiter fragen und wie er seine Frage schließen sollte; auch schlug ihm das Herz so heftig, daß ihm das Sprechen schwerfiel. Rogoshin schwieg ebenfalls und blickte ihn wie früher an, das heißt wie in Gedanken versunken. »Nun, dann werde ich wieder gehen«, sagte er auf einmal, indem er sich anschickte, wieder hinüberzugehen, »und du geh für dich! Wir wollen auf der Straße getrennt gehen... es ist besser so... auf verschiedenen Seiten... du wirst schon sehen.« Als sie endlich auf den zwei verschiedenen Gehsteigen in die Gorochowaja-Straße einbogen und sich dem Haus Rogoshins näherten, wurden dem Fürsten wieder die Beine so schwach, daß er nur mit großer Mühe weitergehen konnte. Es war schon gegen zehn Uhr abends. Die Fenster in der Wohnungshälfte der alten Mutter standen wie vorhin offen, in der Rogoshinschen Hälfte waren sie geschlossen, und in der Abenddämmerung waren die heruntergelassenen weißen Vorhänge noch auffälliger. Der Fürst näherte sich dem Haus auf dem gegenüberliegenden Gehsteig; Rogoshin trat von seinem Gehsteig auf die Stufen vor der Haustür und winkte ihm mit der Hand. Der Fürst ging zu ihm hinüber und stieg die Stufen hinan. »Daß ich nach Hause zurückgekommen bin, weiß jetzt nicht einmal der Hausknecht. Ich habe ihm vorhin gesagt, ich führe nach Pawlowsk, und bei meiner Mutter habe ich es ebenfalls gesagt«, flüsterte er mit einem schlauen, selbstzufriedenen Lächeln. »Wenn wir hineingehen, wird es niemand hören.« Er hatte schon den Schlüssel in der Hand. Während er die Treppe hinaufstieg, drehte er sich um und machte dem Fürsten eine drohende Gebärde, er solle leiser gehen, schloß leise die Tür zu seiner Wohnung auf, ließ den Fürsten hinein, folgte ihm vorsichtig, schloß die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. »Komm!« sagte er flüsternd. Schon von dem Gehsteig in der Litejnaja-Straße an hatte er im Flüsterton gesprochen. Trotz all seiner äußeren Ruhe befand er sich in tiefer innerer Erregung. Als sie in den vor seinem Arbeitszimmer gelegenen Saal traten, ging er ans Fenster und winkte den Fürsten geheimnisvoll zu sich heran. »Als du vorhin bei mir klingeltest, dachte ich mir gleich, daß du es selbst wärest; ich ging auf den Zehen an die Tür und hörte, daß du mit der alten Pafnutjewna sprachst. Aber ich hatte der schon ganz früh am Morgen aufgetragen: wenn du oder irgendein Abgesandter von dir oder sonst jemand bei mir klopfen sollte, dann soll sie mich unter allen Umständen verleugnen, und besonders wenn du selbst kämst und nach mir fragtest und ihr deinen Namen angäbest. Aber als du dann weggegangen warst, kam mir der Gedanke: wie, wenn er jetzt dasteht und hersieht oder auf der Straße Wache hält? Ich ging zu ebendiesem Fenster hier, schob den Vorhang ein wenig zurück, sah hinaus, und da standest du und sahst mich gerade an ... So ist das gewesen.« »Wo ist aber ... Nastasja Filippowna?« fragte der Fürst, nur mühsam atmend. »Sie ist... hier«, erwiderte Rogoshin langsam, nachdem er einen Augenblick mit der Antwort gezögert hatte. »Wo denn?« Rogoshin hob die Augen zum Fürsten und blickte ihn fest an. »Komm...« Er sprach immer flüsternd und ohne sich zu beeilen, langsam und wie früher seltsam nachdenklich. Selbst als er die Geschichte von dem Vorhang erzählte, machte es den Eindruck, als wolle er mit seiner Erzählung trotz aller Mitteilsamkeit etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen. Sie gingen in das Arbeitszimmer. In diesem Zimmer hatte sich, seit der Fürst darin gewesen war, eine gewisse Veränderung vollzogen: quer durch das ganze Zimmer war ein grünseidner Vorhang gezogen, mit zwei Eingängen, je einem an jedem Ende; er teilte von dem Zimmer einen Alkoven ab, in dem Rogoshins Bett stand. Der schwere Vorhang war heruntergelassen und die Eingänge geschlossen. Aber im Zimmer war es sehr dunkel; die »weißen« Petersburger Sommernächte begannen schon dunkler zu werden, und wäre nicht Vollmond gewesen, so hätte man in Rogoshins Wohnung mit den heruntergelassenen Vorhängen nur schwer etwas erkennen können. Allerdings konnte man noch die Gesichter unterscheiden, wenn auch nicht gerade deutlich. Rogoshins Gesicht war blaß wie gewöhnlich; die Augen blickten den Fürsten fest an, sie glänzten stark, waren aber unbeweglich. »Willst du nicht Licht anzünden?« fragte der Fürst. »Nein, das ist nicht nötig«, antwortete Rogoshin, faßte den Fürsten bei der Hand und zog ihn auf einen Stuhl nieder; er selbst setzte sich ihm gegenüber, indem er seinen Stuhl so heranzog, daß seine Knie fast gegen die des Fürsten stießen. Zwischen ihnen stand, etwas seitwärts, ein kleines rundes Tischchen. »Setz dich! Wir wollen ein Weilchen sitzen«, sagte er, als müßte er ihm zureden. Etwa eine Minute lang schwiegen sie. »Ich wußte, daß du dich in diesem selben Gasthaus einquartieren würdest«, begann er, wie manchmal die Leute zu Beginn eines bedeutsamen Gespräches mit unwichtigen Details anfangen, die in keinem direkten Bezug zur Sache stehen. »Als ich auf den Korridor kam, da dachte ich: ›Vielleicht sitzt auch er jetzt da und wartet auf mich, wie ich auf ihn, in diesem selben Augenblick.‹ Bist du bei der Lehrerwitwe gewesen?« »Ja, ich war dort«, versetzte der Fürst; er konnte vor starkem Herzklopfen kaum reden. »Ich habe auch daran gedacht. ›Es wird noch ein Gerede geben‹, dachte ich ... und dann dachte ich noch: ›Ich werde ihn zum Übernachten hierherbringen, damit wir diese Nacht zusammen ...‹« »Rogoshin! Wo ist Nastasja Filippowna?« flüsterte der Fürst und stand, an allen Gliedern zitternd, auf. Auch Rogoshin erhob sich. »Dort«, flüsterte er und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Vorhang. »Schläft sie?« flüsterte der Fürst. Rogoshin blickte ihn wieder starr an wie vorher. »Wollen wir hingehen?... Aber du... Na, gehen wir!« Er hob die Portiere in die Höhe, blieb stehen und wandte sich wieder zum Fürsten. »Geh hinein!« sagte er, mit dem Kopf auf die Portiere deutend und ihn zum Vorangehen einladend. Der Fürst ging unter dem Vorhang durch. »Es ist hier dunkel«, sagte er. »Man kann schon sehen!« murmelte Rogoshin. »Ich sehe kaum ... das Bett.« »Tritt nur näher heran!« forderte ihn Rogoshin leise auf. Der Fürst trat noch näher, einen Schritt, einen zweiten, dann blieb er stehen. Er stand da und blickte eine oder zwei Minuten lang hin; beide schwiegen während der ganzen Zeit, wo sie an dem Bett standen; dem Fürsten klopfte das Herz so, daß er meinte, es müßte im Zimmer bei der herrschenden Totenstille zu hören sein. Aber seine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er das ganze Bett erkennen konnte; auf ihm schlief jemand, ganz ohne sich zu rühren; man hörte nicht das leiseste Rascheln, nicht das leiseste Atemholen. Der Schlafende war bis über den Kopf mit einem weißen Leinentuch zugedeckt, aber die Glieder hoben sich nur undeutlich ab; man sah nur an der Erhöhung, daß da lang ausgestreckt ein Mensch lag. Ringsherum war auf dem Fußende des Bettes, auf den beim Bett stehenden Sesseln, sogar auf dem Fußboden die abgelegte Kleidung unordentlich hingeworfen: ein reiches weißseidenes Kleid, Blumen, Bänder. Auf einem kleinen Tischchen am Kopfende blitzten die abgelegten und durcheinandergeworfenen Brillanten. Am Fußende waren Spitzen zu einem Klumpen zusammengeknüllt, und auf den weißen Spitzen wurde, unter dem Leinentuch hervorschauend, eine nackte Fußspitze sichtbar; sie sah wie aus Marmor gemeißelt aus und war von einer erschreckenden Regungslosigkeit. Der Fürst blickte hin und fühlte, daß, je länger er hinblickte, die Totenstille im Zimmer immer drückender wurde. Auf einmal fing eine erwachte Fliege zu summen an, flog über das Bett hin und verstummte am Kopfende. Der Fürst fuhr zusammen. »Gehen wir!« sagte Rogoshin, indem er seine Hand berührte. Sie gingen hinaus und setzten sich wieder auf dieselben Stühle, wieder einander gegenüber. Der Fürst zitterte immer stärker und wendete seinen fragenden Blick nicht von Rogoshins Gesicht ab. »Du zitterst ja, wie ich sehe, Lew Nikolajewitsch«, sagte Rogoshin endlich. »Fast wie in den Zeiten, wo du schwer leidend warst, erinnerst du dich, es war in Moskau? Oder wie einmal vor einem Anfall. Und ich weiß gar nicht, was ich mit dir jetzt anfangen sollte...« Der Fürst strengte beim Zuhören alle seine Kräfte an, um das Gesagte zu verstehen, sein Blick hatte noch immer denselben fragenden Ausdruck. »Hast du das getan?« sagte er endlich, mit dem Kopf nach der Portiere deutend. » Ja ... ich habe es getan...«, flüsterte Rogoshin und schlug die Augen nieder. Sie schwiegen etwa fünf Minuten lang. »Denn«, fuhr Rogoshin fort, als hätte er seine Rede nicht unterbrochen, »denn wenn du deine Krankheit und einen Anfall bekämest und zu schreien anfingest, dann könnte es womöglich jemand von der Straße oder vom Hof aus hören, und man würde merken, daß Leute in der Wohnung übernachten; man würde anklopfen und hereinkommen... denn sie denken alle, daß ich nicht zu Hause bin. Ich habe auch kein Licht angesteckt, damit man es von der Straße oder vom Hof aus nicht bemerkt. Denn wenn ich nicht hier bin, nehme ich auch die Schlüssel mit, und es kommt in meiner Abwesenheit drei, vier Tage lang niemand herein, auch nicht zum Reinmachen; so habe ich das angeordnet. Also damit sie nicht merken, daß wir die Nacht über hier sind...« »Warte«, unterbrach ihn der Fürst, »ich habe vorhin sowohl den Hausknecht als auch die alte Frau gefragt, ob Nastasja Filippowna die Nacht hier zugebracht hätte. Also wissen sie es schon.« »Ich weiß, daß du danach gefragt hast. Ich habe der alten Pafnutjewna gesagt, Nastasja Filippowna sei gestern mit hergekommen und gleich gestern nach Pawlowsk gefahren, sie habe sich bei mir nur zehn Minuten aufgehalten. Sie wissen also nicht, daß sie die Nacht über hiergewesen ist, niemand. Gestern sind wir ebenso hereingekommen wie heute du und ich, ganz leise. Ich dachte noch unterwegs im stillen, sie würde nicht leise hereinkommen mögen, aber nein! Sie flüsterte, ging auf den Zehenspitzen, raffte das Kleid hoch, damit es nicht raschelte, hielt es mit der Hand fest und drohte mir auf der Treppe selbst mit dem Finger solche Angst hatte sie vor dir. Im Zug war sie rein wie eine Wahnsinnige vor lauter Furcht und sprach selbst den Wunsch aus, hier in meiner Wohnung die Nacht über zu bleiben; ich hatte anfangs daran gedacht, sie in ihre alte Wohnung zu der Lehrerwitwe zu bringen, aber nein! ›Da wird er mich gleich frühmorgens suchen‹, sagte sie; ›aber du wirst mich verstecken, und morgen bei Tagesanbruch wollen wir nach Moskau‹, und dann wollte sie weiter nach Orjol. Auch beim Hinlegen redete sie immerzu davon, daß wir nach Orjol fahren wollten ...« »Warte, was willst du denn jetzt tun, Parfen, was hast du vor?« »Siehst du, ich habe Sorge deinetwegen, weil du immer so zitterst. Die Nacht wollen wir hier zusammen verbringen. Betten sind außer dem da hier nicht vorhanden, ich habe gedacht, ich wollte von den beiden Sofas die Kissen herunternehmen und hier bei dem Vorhang für uns beide, für dich und mich, eine Lagerstatt herrichten, so daß wir nebeneinander liegen können. Denn wenn sie hereinkommen und anfangen, sich umzusehen oder zu suchen, werden sie sie gleich sehen und forttragen. Sie werden mich befragen, und ich werde erzählen, daß ich es gewesen bin, und sie werden mich sofort abführen. Also mag sie jetzt hier liegenbleiben, neben uns, neben mir und dir ...« »Ja, ja!« stimmte ihm der Fürst lebhaft zu. »Also wir wollen jetzt nichts verraten und sie nicht forttragen lassen.« »Um keinen Preis!« versetzte der Fürst. »Ja nicht, ja nicht!« »Das war auch meine Meinung, daß wir das um keinen Preis tun und sie niemandem herausgeben wollten! Die Nacht wollen wir hier ganz still verbringen. Ich bin heute nur eine Stunde lang von Hause weggewesen, am Vormittag; die übrige Zeit war ich immer bei ihr. Und dann ging ich am Abend fort, um dich zu holen. Ich fürchte nun noch, daß es bei der Hitze riechen wird. Spürst du einen Geruch oder nicht?« »Vielleicht spüre ich etwas, ich weiß es nicht, aber morgen früh wird es gewiß riechen.« »Ich habe sie mit Wachstuch zugedeckt, mit gutem amerikanischem Wachstuch, und über dem Wachstuch mit einem Leinentuch, und vier offene Flaschen mit Shdanowscher Flüssigkeit habe ich danebengestellt, die stehen jetzt noch da.« »Du hast das genauso gemacht wie ... wie der in Moskau?« »Weil man es riechen wird, Bruder. Aber wie sie daliegt... Am Morgen, wenn es hell wird, dann sieh sie dir an! Was ist mit dir? Du kannst wohl gar nicht aufstehen?« fragte Rogoshin erstaunt und ängstlich, als er sah, daß der Fürst so zitterte, daß er nicht imstande war, sich zu erheben. »Die Beine sind mir schwach«, murmelte der Fürst. »Das kommt von der Angst, ich kenne das ... Wenn die Angst vorübergeht, werde ich wieder aufstehen können ...« »Warte noch, ich werde inzwischen das Lager für uns zurechtmachen, dann kannst du dich hinlegen... und ich werde mich zu dir legen... und dann wollen wir hören... denn, mein Junge, ich weiß noch nicht... ich weiß jetzt noch nicht alles; das sage ich dir im voraus, damit du alles darüber im voraus weißt...« Während Rogoshin diese unklaren Worte murmelte, begann er, die Lagerstatt herzurichten. Offenbar hatte er sich eine solche schon vorher im stillen ausgedacht, vielleicht schon am Morgen. In der vorhergehenden Nacht hatte er selbst auf dem Sofa gelegen. Aber zwei Personen konnten nicht nebeneinander auf dem Sofa liegen, und er wollte jetzt durchaus zwei Lager nebeneinander herrichten; deshalb schleppte er jetzt mit großer Anstrengung von den beiden Sofas allerlei verschieden große Kissen durch das ganze Zimmer bis dicht an den einen Eingang des Vorhanges. Es wurde eine leidliche Lagerstatt; er trat zum Fürsten, faßte ihn zärtlich und behutsam unter den Arm, half ihm auf und führte ihn zu dem Lager; es stellte sich heraus, daß der Fürst auch allein gehen konnte; denn »die Angst war vorübergegangen«; aber er zitterte doch noch immer. »Weißt du, Bruder«, begann Rogoshin auf einmal, nachdem er den Fürsten sich auf das linke, bessere Lager hatte legen lassen und sich selbst, ohne die Kleider abzulegen, rechts von ihm hingestreckt und beide Hände hinter den Kopf gelegt hatte, »es ist heute heiß, und da wird es natürlich riechen... Die Fenster zu öffnen, fürchte ich mich; aber meine Mutter hat Töpfe mit Blumen, viele Blumen, und die duften sehr schön; ich habe daran gedacht, sie herüberzuholen, aber die alte Pafnutjewna würde etwas merken, denn sie ist sehr neugierig.« »Ja, das ist sie«, bestätigte der Fürst. »Soll ich vielleicht Blumen kaufen und sie ganz mit Sträußen bedecken? Aber ich glaube, sie würde mir gar zu leid tun, wenn sie so unter den Blumen daläge!« »Hör mal...«, begann der Fürst, als wäre er verwirrt und überlegte, wonach er eigentlich fragen wollte, und vergäße es immer gleich wieder. »Hör mal, sage mir doch: womit hast du sie getötet? Mit einem Messer? Mit eben jenem Messer?« »Ja, mit eben jenem...« »Warte noch! Ich will dich noch etwas fragen, Parfen... ich werde dich noch nach vielem fragen, nach allem... aber sage mir lieber zuerst, zuallererst, damit ich das weiß: wolltest du sie vor meiner Hochzeit töten, vor der Trauung, an der Kirchentür, mit dem Messer? Wolltest du das oder nicht?« »Ich weiß nicht, ob ich es wollte oder nicht...«, antwortete Rogoshin trocken, als wäre er sogar über die Frage einigermaßen verwundert und verstünde sie nicht. »Hast du das Messer niemals nach Pawlowsk mitgenommen?« »Nein, niemals. Ich kann dir über dieses Messer nur soviel sagen, Lew Nikolajewitsch«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »ich habe es heute früh aus einem verschlossenen Schubkasten herausgenommen, denn die ganze Sache geschah heute morgen zwischen drei und vier Uhr. Es hat bei mir immer in einem Buch gelegen... Und... und... und da ist noch etwas, was mir wunderbar vorkommt: das Messer ist anderthalb oder sogar zwei Werschok tief eingedrungen ... dicht unter der linken Brust... aber Blut ist nur so etwa ein halber Eßlöffel voll auf das Hemd herausgelaufen, nicht mehr ...« »Das, das, das«, stammelte der Fürst und richtete sich in furchtbarer Erregung auf, »das, das kenne ich, das habe ich gelesen... das nennt man innere Verblutung... Es kommt vor, daß kein einziger Tropfen herausfließt. Das ist so, wenn der Stoß gerade ins Herz gegangen ist...« »Halt, hörst du?« unterbrach ihn auf einmal Rogoshin hastig und setzte sich erschrocken auf dem Lager aufrecht. »Hörst du?« »Nein!« erwiderte ebenso hastig und erschrocken der Fürst und sah Rogoshin an. »Es geht jemand! Hörst du? Im Saal...« Beide begannen zu horchen. »Ich höre es«, flüsterte der Fürst in festem Ton. »Geht jemand?« »Ja.« »Wollen wir die Tür zuschließen oder nicht?« »Wir wollen sie zuschließen....« Sie schlossen die Tür zu und legten sich beide wieder hin. Sie schwiegen lange. »Ach ja!« flüsterte der Fürst auf einmal aufgeregt, hastig wie vorhin, als hätte er wieder einen Gedanken erhascht und befürchtete ängstlich, ihn wieder zu verlieren; er richtete sich sogar auf seinem Lager hastig ein wenig in die Höhe. »Ja... ich wollte ja ... diese Karten! Die Karten! Ich höre, du hast mit ihr Karten gespielt?« »Ja, das habe ich getan«, erwiderte Rogoshin nach einigem Stillschweigen. »Wo sind denn... die Karten?« »Die Karten sind hier...«, versetzte Rogoshin, nachdem er noch länger geschwiegen hatte. »Da ...« Er zog ein gebrauchtes, in Papier gewickeltes Spiel Karten aus der Tasche und reichte es dem Fürsten. Dieser nahm es, aber mit einer Art von Befremden. Ein neues, trauriges, trostloses Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen; er wurde sich auf einmal bewußt, daß er in diesem Augenblick und schon längst immer nicht von dem redete, wovon er reden mußte, und immer nicht das tat, was er tun mußte, und daß dies Kartenspiel, das er in den Händen hielt und über das er sich so freute, jetzt zu nichts helfen konnte, zu gar nichts. Er stand auf und schlug die Hände zusammen. Rogoshin lag da, ohne sich zu rühren, und schien seine Bewegung weder zu hören noch zu sehen; aber seine Augen leuchteten hell durch die Dunkelheit und waren weit geöffnet und starr. Der Fürst setzte sich auf einen Stuhl und begann ihn angstvoll anzusehen. So verging etwa eine halbe Stunde; auf einmal fing Rogoshin an, laut und stoßweise zu schreien und zu lachen, als hätte er vergessen, daß sie nur flüsternd reden durften: »Den Offizier, den Offizier ... erinnerst du dich, wie sie den Offizier beim Konzert mit dem Spazierstöckchen ins Gesicht schlug, erinnerst du dich? Hahaha! Und wie der Leutnant hinzusprang ... Der Leutnant... der Leutnant...« Der Fürst sprang in neuem Schrecken vom Stuhl auf. Als Rogoshin verstummt war (und das geschah plötzlich), beugte sich der Fürst leise zu ihm herab, setzte sich neben ihn und begann ihn mit stark klopfendem Herzen und nur mühsam atmend zu betrachten. Rogoshin drehte den Kopf nicht zu ihm hin und schien seine Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Der Fürst sah ihn an und wartete; die Zeit verging, es begann hell zu werden. Rogoshin fing mitunter plötzlich an zu murmeln, laut, scharf und unzusammenhängend; er schrie und lachte; der Fürst streckte dann seine zitternde Hand nach ihm aus und berührte leise seinen Kopf und sein Haar, streichelte dieses und streichelte seine Wangen... mehr vermochte er nicht zu tun! Er selbst begann wieder zu zittern, und seine Beine waren auf einmal wieder wie gelähmt. Eine ganz neue Empfindung quälte sein Herz mit grenzenlosem Schmerz. Unterdessen war es ganz hell geworden; er legte sich endlich ganz kraftlos und verzweifelt auf das Kissen und schmiegte sein Gesicht an das blasse, regungslose Gesicht Rogoshins. Tränen strömten aus seinen Augen auf Rogoshins Wangen, aber vielleicht bemerkte er damals schon seine eigenen Tränen nicht mehr und wußte nichts mehr von ihnen ... Als viele Stunden nachher die Tür geöffnet wurde und Leute hereinkamen, fanden sie den Mörder in voller Bewußtlosigkeit und in starkem Fieber. Der Fürst saß, ohne sich zu rühren, neben ihm auf dem Lager und fuhr jedesmal, wenn der Kranke aufschrie oder zu phantasieren begann, ihm mit zitternder Hand eilig über das Haar und die Wangen, als wollte er ihn liebkosen und beruhigen. Aber er verstand nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte nicht mehr die Leute, die hereingekommen waren und ihn umringten. Und wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, um sich seinen ehemaligen Schüler und Patienten anzusehen, so würde er in Erinnerung an den Zustand, in dem sich der Fürst manchmal im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz befunden hatte, jetzt eine verzweifelte Handbewegung gemacht und wie damals gesagt haben: »Ein Idiot!«